Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/73

Deutscher

Stenografischer Bericht

73. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- René Röspel (SPD) ...... 6879 B neten Dr. ...... 6873 A (BÜNDNIS 90/ Wahl der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch DIE GRÜNEN) ...... 6881 B und als Mitglieder des Ver- waltungsrates der Kreditanstalt für Wie- Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) ...... 6884 A deraufbau ...... 6873 B (DIE LINKE) ...... 6886 B Wahl der Abgeordneten Dr. Andreas (Peine) (SPD) ...... 6887 A Schockenhoff und Elvira Drobinski-Weiß als Mitglieder des Verwaltungsrates des (CDU/CSU) ...... 6889 B Deutsch-Französischen Jugendwerkes . . . . 6873 B (SPD) ...... 6891 B Wahl des Abgeordneten Norbert Müller Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) ...... 6892 B (Potsdam) als Schriftführer ...... 6873 B (SPD) ...... 6894 D Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung...... 6873 C Absetzung des Tagesordnungspunktes 6 . . . . . 6874 B Tagesordnungspunkt 5: Aufhebung einer Ausschussüberweisung . . . . 6874 B a) Antrag der Abgeordneten , , Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Tagesordnungspunkt 4: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Solidari- tät zeigen – Aufnahme von syrischen a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Die neue Hightech-Strategie – Innova- und irakischen Flüchtlingen ausweiten tionen für Deutschland Drucksache 18/3154 ...... 6895 C Drucksache 18/2497 ...... 6874 C b) Beratung der Großen Anfrage der Abge- b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: ordneten Luise Amtsberg, Beate Walter- Bundesbericht Forschung und Innova- Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, wei- tion 2014 terer Abgeordneter und der Fraktion Drucksache 18/1510 ...... 6874 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Situation unbegleiteter minderjähriger Flücht- c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: linge in Deutschland Gutachten zu Forschung, Innovation Drucksache 18/2999 ...... 6895 D und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2014 Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ Drucksache 18/760 (neu) ...... 6874 D DIE GRÜNEN) ...... 6895 D Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMBF ...... 6874 D BMI ...... 6897 C Dr. (DIE LINKE) ...... 6877 C (DIE LINKE) ...... 6899 B II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Aydan Özoğuz, Staatsministerin Tagesordnungspunkt 33: BK ...... 6900 B a) Zweite und dritte Beratung des von der (CDU/CSU) ...... 6902 B Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vor- (DIE LINKE) ...... 6904 A schriften zur Durchführung unions- Christina Kampmann (SPD) ...... 6905 B rechtlicher Vorschriften zur Durchset- zung des Verbraucherschutzes Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 18/3253, 18/3448 ...... 6927 C DIE GRÜNEN) ...... 6907 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des (CDU/CSU) ...... 6908 A Ausschusses für Arbeit und Soziales Rüdiger Veit (SPD) ...... 6909 D – zu dem Antrag der Abgeordneten (CDU/CSU) ...... 6911 C , Diana Golze, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Ab- Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ geordneter und der Fraktion DIE DIE GRÜNEN) ...... 6912 C LINKE: Bundesteilhabegesetz zügig (CDU/CSU) ...... 6913 B vorlegen – Volle Teilhabe ohne Ar- mut garantieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 9: Corinna Rüffer, Kerstin Andreae, Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Markus Kurth, weiterer Abgeordneter desregierung eingebrachten Entwurfs eines und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Gesetzes zur weiteren Entlastung von Län- GRÜNEN: Fünf Jahre UN-Behin- dern und Kommunen ab 2015 und zum dertenrechtskonvention – Sofortpro- quantitativen und qualitativen Ausbau der gramm für Barrierefreiheit und ge- Kindertagesbetreuung gen Diskriminierung Drucksachen 18/2586, 18/3008, 18/3443 . . . . 6915 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Alois Rainer (CDU/CSU) ...... 6915 B Corinna Rüffer, Beate Müller- Gemmeke, Doris Wagner, weiterer Susanna Karawanskij (DIE LINKE) ...... 6916 C Abgeordneter und der Fraktion Manuela Schwesig, Bundesministerin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schluss BMFSFJ ...... 6918 A mit Sonderwelten – Die inklusive Gesellschaft gemeinsam gestalten Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 6919 D Drucksachen 18/1949, 18/977, 18/2878, 18/3208 ...... 6927 D (CDU/CSU) ...... 6920 D c)–j) Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ Beratung der Beschlussempfehlungen des DIE GRÜNEN) ...... 6922 C Petitionsausschusses: Sammelübersich- Ulrike Gottschalck (SPD) ...... 6923 C ten 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126 und 127 zu Petitionen Christina Schwarzer (CDU/CSU) ...... 6925 B Drucksachen 18/3338, 18/3339, 18/3340, 18/3341, 18/3342, 18/3343, 18/3344, 18/3345 ...... 6928 B Tagesordnungspunkt 32: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Zusatztagesordnungspunkt 3: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Bundesbeamten- a) Beschlussempfehlung und Bericht des gesetzes und weiterer dienstrechtlicher Ausschusses für Wirtschaft und Energie Vorschriften zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Drucksache 18/3248 ...... 6927 B Bulling-Schröter, , Dr. , weiterer Abgeordneter und der b) Antrag der Abgeordneten , Fraktion DIE LINKE: Energiewende (Köln), , weite- durch Kohleausstiegsgesetz absichern rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Drucksachen 18/1673, 18/2904...... 6929 B NIS 90/DIE GRÜNEN: Entwicklung einer zivilgesellschaftlich ausgerichteten b) Beschlussempfehlung und Bericht des Präventions- und Deradikalisierungs- Ausschusses für Wirtschaft und Energie strategie im Bereich des gewaltbereiten zu dem Antrag der Abgeordneten Islamismus , , Drucksache 18/3417 ...... 6927 B Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 III

der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (CDU/CSU) ...... 6952 A NEN: Kohleausstieg einleiten – Überfäl- (CDU/CSU) ...... 6953 B ligen Strukturwandel im Kraftwerks- park gestalten (DIE LINKE) ...... 6954 B Drucksachen 18/1962, 18/2906 ...... 6929 B

Tagesordnungspunkt 8: Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der ckau), , weiterer Abgeordneter Bundesregierung zum Erreichen der Kli- und der Fraktion DIE LINKE: Statt Rente maschutzziele 2020 ...... 6929 C erst ab 67 – Altersgerechte Übergänge in die Rente für alle Versicherten er- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ leichtern DIE GRÜNEN) ...... 6929 C Drucksache 18/3312 ...... 6955 D Dr. (CDU/CSU) ...... 6930 D b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 6932 A gesetzliche Rentenversicherung, insbe- Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin sondere über die Entwicklung der BMUB...... 6932 D Einnahmen und Ausgaben, der Nach- haltigkeitsrücklage sowie des jeweils (CDU/CSU) ...... 6935 A erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren (Renten- (DIE LINKE) ...... 6936 A versicherungsbericht 2014) Dr. (SPD) ...... 6937 A Drucksache 18/3260 ...... 6956 A c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Dr. (BÜNDNIS 90/ Zweiter Bericht der Bundesregierung DIE GRÜNEN) ...... 6938 B gemäß § 154 Absatz 4 des Sechsten Bu- (CDU/CSU) ...... 6939 B ches Sozialgesetzbuch zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre (SPD) ...... 6940 C Drucksache 18/3261 (neu)...... 6956 A Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) ...... 6942 B in Verbindung mit (SPD) ...... 6943 C Thomas Bareiß (CDU/CSU) ...... 6944 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die ge- Tagesordnungspunkt 7: setzliche Rentenversicherung, insbeson- dere über die Entwicklung der Einnahmen – Zweite und dritte Beratung des von der und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrück- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs lage sowie des jeweils erforderlichen Bei- eines Gesetzes zur besseren Vereinbar- tragssatzes in den künftigen 15 Kalender- keit von Familie, Pflege und Beruf jahren (Rentenversicherungsbericht 2014) Drucksachen 18/3124, 18/3157, 18/3449 . 6946 A Drucksache 18/3260 ...... 6956 B – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß hier: Gutachten des Sozialbeirats zum § 96 der Geschäftsordnung Rentenversicherungsbericht 2014 Drucksache 18/3450 ...... 6946 A Drucksache 18/3387 ...... 6956 B Manuela Schwesig, Bundesministerin Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 6956 C BMFSFJ ...... 6946 B Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 6958 A Pia Zimmermann (DIE LINKE) ...... 6947 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Astrid Timmermann-Fechter (CDU/CSU) . . . 6948 C DIE GRÜNEN) ...... 6959 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ Dr. (SPD) ...... 6960 C DIE GRÜNEN) ...... 6949 C Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 6961 D Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 6950 C (Wetzlar) (SPD) ...... 6963 A Pia Zimmermann (DIE LINKE) ...... 6951 A Matthäus Strebl (CDU/CSU) ...... 6964 A IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Tagesordnungspunkt 15: – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Julia – Zweite und dritte Beratung des von der Verlinden, Annalena Baerbock, weiteren Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Abgeordneten und der Fraktion BÜND- eines Gesetzes zur Anpassung der Ab- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- gabenordnung an den Zollkodex der wurfs eines Gesetzes zur zweiten Ände- Union und zur Änderung weiterer steu- rung des Gesetzes für den Ausbau erlicher Vorschriften erneuerbarer Energien Drucksachen 18/3017, 18/3158, 18/3441 . 6965 B Drucksachen 18/3234, 18/3440 ...... 6983 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Dirk Becker (SPD) ...... 6984 A § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/3442 ...... 6965 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 6985 A Fritz Güntzler (CDU/CSU) ...... 6965 C Thomas Bareiß (CDU/CSU) ...... 6986 A Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 6967 D Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ Dr. Jens Zimmermann (SPD) ...... 6969 A DIE GRÜNEN) ...... 6987 C (BÜNDNIS 90/ Hubertus Heil (Peine) (SPD) ...... 6988 B DIE GRÜNEN) ...... 6970 B (SPD) ...... 6989 B Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) ...... 6971 C Dr. (CDU/CSU) ...... 6990 A (SPD) ...... 6973 A Tagesordnungspunkt 12: Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeord- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- neten Britta Haßelmann und der Fraktion schusses für Wirtschaft und Energie zu dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Änderung Antrag der Abgeordneten Dr. , der Geschäftsordnung des Deutschen Bun- Christian Kühn (Tübingen), Oliver Krischer, destages – hier: Ausschussöffentlichkeit weiterer Abgeordneter und der Fraktion Drucksache 18/3045 ...... 6992 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Energie- wende durch Energieeffizienz voranbrin- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 6992 B gen – EU-Energieeffizienzrichtlinie unver- Bernhard Kaster (CDU/CSU) ...... 6993 B züglich umsetzen Drucksachen 18/1619, 18/2716 ...... 6974 B Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Dr. (SPD) ...... 6974 C DIE GRÜNEN) ...... 6994 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 6975 D (SPD) ...... 6995 A Dr. (CDU/CSU) ...... 6976 C Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) ...... 6996 D Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 6978 B Tagesordnungspunkt 13: (SPD) ...... 6979 B – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- Christian Kühn (Tübingen) brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 6980 B besserung der Rechtsstellung von asylsu- Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ chenden und geduldeten Ausländern DIE GRÜNEN) ...... 6981 A Drucksachen 18/3144, 18/3444 ...... 6997 D Hansjörg Durz (CDU/CSU) ...... 6982 A – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ eines Gesetzes zur Verbesserung der DIE GRÜNEN) ...... 6982 B Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern Drucksachen 18/3160, 18/3444 ...... 6997 D Tagesordnungspunkt 11: Andrea Lindholz (CDU/CSU) ...... 6998 A – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 6999 D brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Rüdiger Veit (SPD) ...... 7000 B derung des Erneuerbare-Energien-Ge- setzes Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 18/3321, 18/3440 ...... 6983 D DIE GRÜNEN) ...... 7002 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 V

Tagesordnungspunkt 14: Wegbereiter für ein neues globales Kli- maabkommen und eine nachhaltige glo- a) Antrag der Abgeordneten Agnieszka bale Entwicklung nutzen Brugger, Annalena Baerbock, Marieluise Drucksache 18/3411 ...... 7009 A Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (SPD) ...... 7009 B GRÜNEN: Neue Dynamik für nukleare Abrüstung – Der Humanitären Initia- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 7010 D tive beitreten Andreas Jung (CDU/CSU) ...... 7011 D Drucksache 18/3409 ...... 7003 B Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ b) Antrag der Abgeordneten Agnieszka DIE GRÜNEN) ...... 7012 C Brugger, Annalena Baerbock, (Bremen), weiterer Abgeordneter Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU) ...... 7013 D und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: VN-Resolution zu Uranmu- nition zustimmen Tagesordnungspunkt 16: Drucksache 18/3410 ...... 7003 B Erste Beratung des von den Abgeordneten c) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, (Havelland), , Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- Sabine Zimmermann (Zwickau), weiteren rer Abgeordneter und der Fraktion DIE Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE LINKE: In UN-Generalversammlung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur der Uranwaffen-Resolution zustimmen Verbesserung des Schutzes gegen Diskrimi- Drucksache 18/3407 ...... 7003 C nierungen aufgrund des Gesundheitszu- standes (BÜNDNIS 90/ Drucksache 18/3315 ...... 7014 D DIE GRÜNEN) ...... 7003 C Robert Hochbaum (CDU/CSU) ...... 7004 D Tagesordnungspunkt 19: Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) ...... 7005 D Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) ...... 7006 C der Beteiligung bewaffneter deutscher Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ Streitkräfte an der NATO-geführten Ope- DIE GRÜNEN) ...... 7007 B ration ACTIVE ENDEAVOUR im Mittel- meer Julia Bartz (CDU/CSU) ...... 7007 D Drucksache 18/3247 ...... 7015 A Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . 7008 C Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin AA ...... 7015 B Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) ...... 7016 A Tagesordnungspunkt 17: (SPD) ...... 7017 B a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ zes zu der Entscheidung der Konferenz DIE GRÜNEN) ...... 7018 B von Doha vom 8. Dezember 2012 zur Änderung des Protokolls von Kyoto Julia Bartz (CDU/CSU) ...... 7019 B vom 11. Dezember 1997 zum Rahmen- übereinkommen der Vereinten Natio- nen über Klimaänderungen (Doha-Än- Tagesordnungspunkt 18: derung des Protokolls von Kyoto) Drucksache 18/3123 ...... 7008 D Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, b) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE SPD: Klimakonferenz in Lima zum Er- LINKE sowie den Abgeordneten Tabea folg führen Rößner, Dr. , Renate Drucksache 18/3406 ...... 7009 A Künast, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- c) Antrag der Abgeordneten Annalena ten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung Baerbock, Bärbel Höhn, des Achten Gesetzes zur Änderung des Ur- (Augsburg), weiterer Abgeordneter und heberrechtsgesetzes (Leistungsschutzrechts- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aufhebungsgesetz – LSR-AufhG) NEN: Klimakonferenz von Lima als Drucksache 18/3269 ...... 7020 A VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Tagesordnungspunkt 20: Tagesordnungspunkt 24: a) Zweite und dritte Beratung des von der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Beirat für nachhaltige Entwicklung: Stellung- eines Gesetzes zur Änderung der Abga- nahme des Parlamentarischen Beirates für benordnung und des Einführungsgeset- nachhaltige Entwicklung zum Bericht des zes zur Abgabenordnung Peer Review 2013 zur Nationalen Nachhal- Drucksachen 18/3018, 18/3161, 18/3439 . 7020 B tigkeitsstrategie „Sustainability – Made in “ b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Drucksache 18/3214 ...... 7022 A nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Klaus Ernst, Dr. André Hahn, Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU) ...... 7022 B Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Straffreiheit (DIE LINKE) ...... 7023 B bei Steuerhinterziehung durch Selbst- anzeige abschaffen Carsten Träger (SPD) ...... 7024 B Drucksachen 18/556, 18/1035 ...... 7020 C Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7025 D

Tagesordnungspunkt 21: Andreas Jung (CDU/CSU) ...... 7026 D – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Tagesordnungspunkt 25: eines Fünften Gesetzes zur Verbesse- rung rehabilitierungsrechtlicher Vor- Erste Beratung des von der Bundesregierung schriften für Opfer der politischen Ver- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu folgung in der ehemaligen DDR dem Übereinkommen vom 10. März 2009 Drucksachen 18/3120, 18/3251, 18/3445 . 7021 A zwischen den Mitgliedstaaten der Europäi- schen Union über die zentrale Zollabwick- – Zweite und dritte Beratung des von den lung hinsichtlich der Aufteilung der natio- Abgeordneten Halina Wawzyniak, nalen Erhebungskosten, die bei der Dr. Dietmar Bartsch, Jan Korte, weiteren Bereitstellung der traditionellen Eigenmit- Abgeordneten und der Fraktion DIE tel für den Haushalt der Europäischen LINKE eingebrachten Entwurfs eines Union einbehalten werden Fünften Gesetzes zur Verbesserung re- Drucksache 18/3125 ...... 7027 D habilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR Nächste Sitzung...... 7028 C Drucksachen 18/3145, 18/3445 ...... 7021 A – Berichte des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung Anlage 1 Drucksachen 18/3446, 18/3447 ...... 7021 A Liste der entschuldigten Abgeordneten...... 7029 A

Tagesordnungspunkt 22: Anlage 2 Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten wurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkom- Hubertus Heil (Peine) (SPD) zu den Abstim- men des Europarats vom 25. Oktober 2007 mungen über zum Schutz von Kindern vor sexueller – den von den Fraktionen der CDU/CSU Ausbeutung und sexuellem Missbrauch und SPD eingebrachten Entwurf eines Ge- Drucksachen 18/3122, 18/3437 ...... 7021 C setzes zur Änderung des Erneuerbare- Energien-Gesetzes Tagesordnungspunkt 23: – den von den Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Julia Verlinden, Annalena Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Baerbock, weiteren Abgeordneten und der desregierung eingebrachten Entwurfs eines Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur 2012/17/EU in Bezug auf die Verknüpfung zweiten Änderung des Gesetzes für den von Zentral-, Handels- und Gesellschafts- Ausbau erneuerbarer Energien registern in der Europäischen Union Drucksachen 18/2137, 18/3438 ...... 7021 D (Tagesordnungspunkt 11) ...... 7029 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 VII

Anlage 3 Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 7041 B Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ Richard Pitterle und Halina Wawzyniak (beide DIE GRÜNEN) ...... 7042 A DIE LINKE) zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenord- Anlage 7 nung und des Einführungsgesetzes zur Abga- benordnung (Tagesordnungspunkt 20 a)...... 7030 A Zu Protokoll gegebene Reden zum Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Verbesserung re- habilitierungsrechtlicher Vorschriften für Op- Anlage 4 fer der politischen Verfolgung in der ehemali- gen DDR (Tagesordnungspunkt 21) ...... 7043 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung Dr. Stefan Heck (CDU/CSU) ...... 7043 A des Schutzes gegen Diskriminierungen auf- (CDU/CSU)...... 7044 A grund des Gesundheitszustandes (Tagesord- nungspunkt 16) ...... 7030 C Dr. (SPD) ...... 7045 A Dr. (CDU/CSU). . . . . 7030 C Halina Wawzyniak (DIE LINKE) ...... 7045 D Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 7031 C Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 7046 B Dr. Matthias Bartke (SPD)...... 7032 B Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . 7033 B Anlage 8 Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7034 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Überein- kommen des Europarats vom 25. Oktober Anlage 5 2007 zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Ta- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung gesordnungspunkt 22)...... 7046 D des Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Achten Gesetzes zur Änderung des Urhe- Alexander Hoffmann (CDU/CSU) ...... 7046 D berrechtsgesetzes (Leistungsschutzrechtsauf- (SPD) ...... 7048 B hebungsgesetz – LSR-AufhG) (Tagesord- nungspunkt 18) ...... 7035 A Halina Wawzyniak (DIE LINKE) ...... 7049 B Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE (CDU/CSU) ...... 7035 A GRÜNEN) ...... 7050 B (CDU/CSU) ...... 7036 A Christian Flisek (SPD)...... 7036 D Anlage 9 Halina Wawzyniak (DIE LINKE)...... 7037 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung DIE GRÜNEN) ...... 7038 C der Richtlinie 2012/17/EU in Bezug auf die Verknüpfung von Zentral-, Handels- und Ge- sellschaftsregistern in der Europäischen Anlage 6 Union (Tagesordnungspunkt 23)...... 7051 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: (CDU/CSU) ...... 7051 A – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Dr. (SPD) ...... 7052 A Abgabenordnung und des Einführungsge- Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 7052 C setzes zur Abgabenordnung (BÜNDNIS 90/ – Antrag: Straffreiheit bei Steuerhinterzie- DIE GRÜNEN) ...... 7053 A hung durch Selbstanzeige abschaffen (Tagesordnungspunkt 20) ...... 7039 B (CDU/CSU)...... 7039 B Anlage 10 (CDU/CSU)...... 7040 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Überein- Andreas Schwarz (SPD) ...... 7040 D kommen vom 10. März 2009 zwischen den VIII Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Mitgliedstaaten der Europäischen Union über Uwe Feiler (CDU/CSU) ...... 7054 A die zentrale Zollabwicklung hinsichtlich der Aufteilung der nationalen Erhebungskosten, Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 7054 D die bei der Bereitstellung der traditionellen Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 7055 C Eigenmittel für den Haushalt der Europäi- schen Union einbehalten werden (Tagesord- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ nungspunkt 25) ...... 7054 A DIE GRÜNEN) ...... 7055 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6873

(A) (C)

73. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : mit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Dann ist das so vereinbart. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Interfraktionell gibt es eine Vereinbarung, die verbun- begrüße Sie alle herzlich und beginne mit dem wichtigen dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- geführten Punkte zu erweitern: Hinweis, dass der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber am vergangenen Montag seinen 79. Geburtstag gefeiert hat. ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Recht und Verbrau- (Beifall) cherschutz (6. Ausschuss) gemäß § 93 a Ab- Er ist ja das wandelnde Beispiel dafür, wie ein lebendi- satz 3 der Geschäftsordnung zu dem ger Parlamentarismus auch die Person vital erhält. Des- Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- wegen erübrigen sich beinahe die guten Wünsche für das schen Parlaments und des Rates zur Ände- (B) neue Lebensjahr, die ich hiermit gleichwohl im Namen rung der Verordnung (EG) Nr. 861/2007 des (D) des ganzen Hauses herzlich übermittle. Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäi- (Beifall) schen Verfahrens für geringfügige Forderun- gen und der Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 Wir müssen noch einige Wahlen durchführen. des Europäischen Parlaments und des Rates Die Fraktion Die Linke schlägt vor, die Kollegin vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Dr. Gesine Lötzsch für eine weitere Amtszeit als Mit- Europäischen Mahnverfahrens glied des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wie- KOM(2013) 794 endg.; Ratsdok. 16749/13 deraufbau zu wählen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Drucksachen 18/419 Nr. A.48, 18/2647, Grünen schlägt für dasselbe Gremium vor, die Kollegin 18/3385, 18/3427 Kerstin Andreae für das turnusmäßig ausscheidende Mitglied Jürgen Koppelin als Mitglied zu berufen. Sind ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? – Das ist of- DIE LINKE: fenkundig der Fall. Ich höre keinen Widerspruch. Dann Pläne zur künftigen Gestaltung des Solidari- sind die Kolleginnen Lötzsch und Andreae als Mitglie- tätszuschlags der des Verwaltungsrates gewählt. (siehe 72. Sitzung) Darüber hinaus schlägt die Fraktion der CDU/CSU ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aus- vor, als ordentliches Mitglied des Verwaltungsrates des sprache Deutsch-Französischen Jugendwerkes den Kollegen (Ergänzung zu TOP 33) Dr. zu wählen. Die SPD-Frak- tion schlägt für dasselbe Gremium vor, die Kollegin a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Elvira Drobinski-Weiß als stellvertretendes Mitglied zu richts des Ausschusses für Wirtschaft und berufen. – Auch hierzu gibt es offensichtlich Zustim- Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab- mung. Dann sind die genannte Kollegin und der ge- geordneten Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, nannte Kollege gewählt. Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wir müssen auch noch eine Schriftführerwahl durch- Energiewende durch Kohleausstiegsgesetz ab- führen. Die Fraktion Die Linke schlägt vor, für die Kol- sichern legin Susanna Karawanskij den Kollegen Norbert Müller als Schriftführer zu wählen. Sind Sie auch da- Drucksachen 18/1673, 18/2904 6874 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: (C) richts des Ausschusses für Wirtschaft und a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab- gierung geordneten Annalena Baerbock, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Die neue Hightech-Strategie – Innovationen Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für Deutschland Kohleausstieg einleiten – Überfälligen Struk- Drucksache 18/2497 turwandel im Kraftwerkspark gestalten Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Drucksachen 18/1962, 18/2906 Technikfolgenabschätzung (f) Finanzausschuss ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Ausschuss für Wirtschaft und Energie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Haltung der Bundesregierung zum Erreichen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union der Klimaschutzziele 2020 Ausschuss Digitale Agenda b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- ZP 5 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung gierung Bundesbericht Forschung und Innovation Bericht der Bundesregierung über die gesetz- 2014 liche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausga- Drucksache 18/1510 ben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des Überweisungsvorschlag: jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) künftigen 15 Kalenderjahren Sportausschuss (Rentenversicherungsbericht 2014) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 18/3260 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss hier: Gutachten des Sozialbeirats zum Ren- Ausschuss für Gesundheit tenversicherungsbericht 2014 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Drucksache 18/3387 Reaktorsicherheit Ausschuss Digitale Agenda (B) Überweisungsvorschlag: (D) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gierung Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun- Gutachten zu Forschung, Innovation und tech- gen, soweit erforderlich, abgewichen werden. nologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2014 Der Tagesordnungspunkt 6 wird abgesetzt. Darüber Drucksache 18/760 (neu) hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste darge- stellten weiteren Änderungen des Ablaufs. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Schließlich mache ich noch auf die Aufhebung einer Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft aufmerksam: Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die am 28. November 2014 gemäß § 80 Absatz 3 der Ausschuss für Gesundheit Geschäftsordnung vorgenommene Überweisung der nach- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur folgenden Unterrichtung an die Ausschüsse wird aufge- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit hoben: Ausschuss Digitale Agenda Unterrichtung durch die Bundesregierung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Vierter Bericht der Bundesregierung über die diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisen- stelle ich Ihr Einvernehmen fest. prävention, Konfliktlösung und Friedenskon- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst solidierung“ die Bundesministerin Frau Professor Wanka. (Berichtszeitraum: Juni 2010 bis Mai 2014) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Drucksache 18/3213, 18/3363 Nr. 1.5 Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen ein- und Forschung: verstanden sind? – Das ist der Fall. Dann ist das so be- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und schlossen. Herren! Heute vor 90 Jahren gab es nicht weit von hier Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6875

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) – 8 Kilometer Luftlinie entfernt – ein besonderes Ereig- und weil es jetzt neue Herausforderungen gibt, die an- (C) nis: Damals, am 4. Dezember 1924, hat die 1. Große ders sind als die 2006. Deutsche Funkausstellung in Berlin ihre Pforten geöff- net, und damals hat der erste Röhrenrundfunkempfänger Was ist jetzt neu? Was ist jetzt anders? Warum ma- fasziniert. Mittlerweile ist das 90 Jahre her. In dieser chen wir das so? Wir haben die Konzentration auf we- Branche sind seither Tausende von Arbeitsplätzen ent- nige Themenfelder – sechs an der Zahl – beibehalten. standen. Noch heute ist es so, dass die funkgetragene Das ist ein Grundpfeiler der Hightech-Strategie. Diese Kommunikation große Innovationsschübe hervorbringt. sechs Themenfelder sind für die Zukunft Deutschlands, Das ist ein Beispiel, wie wichtig Innovation für den für uns alle und für unseren Wohlstand zwingend not- Wirtschaftsstandort Deutschland ist und wie wirkungs- wendig. Sie unterscheiden sich nicht grundlegend von mächtig sie über viele Generationen hinweg sein kann. denen des Jahres 2006, aber es wird doch auf die Ent- wicklung eingegangen. Die sechs Themenbereiche sind: Wir sind heute beim Export von forschungsintensiven digitale Wirtschaft und Gesellschaft, nachhaltiges Wirt- Gütern nicht nur in der Weltspitze. Der Beitrag der Me- schaften und Energie, innovative Arbeitswelt, gesundes dium- und Hightechgüterexporte zur Handelsbilanz liegt Leben, intelligente Mobilität und zivile Sicherheit. in Deutschland bei 9,2 Prozent. Wissen Sie, wie hoch dieser Wert im EU-Durchschnitt ist? 1,3 Prozent. Das Wir stehen aktuell vor großen Herausforderungen: heißt, Deutschland hat an dieser Stelle eine Sonderstel- Wir haben eine hohe Innovationskraft. Wir haben, Herr lung. Auch aus diesem Grund haben wir im November Riesenhuber, fast das 3-Prozent-Ziel erreicht. Aber wo- die höchste Beschäftigungsquote in Deutschland, die wir her kommen diese Erträge? Den Hauptteil liefern in je hatten. Deutschland drei Branchen, nämlich Fahrzeugbau, Elek- trotechnik und Maschinenbau. Deshalb ist es ganz wich- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tig, die Basis auf andere Branchen zu erweitern, sie ge- nauso stark zu machen. Die Hightech-Strategie bietet Mittlerweile sind wir ein Magnet für Wissenschaftler Chancen für Wachstumsbranchen wie zum Beispiel Bio- und Forscher aus aller Welt. Wir haben die Zahl derer, ökonomie und Mikroelektronik – mit großen Anstren- die nach Deutschland kommen, seit 2006 um 60 Prozent gungen nicht nur vonseiten der Bundesregierung, son- gesteigert. Vor kurzem ist es uns gelungen, einen Profes- dern auch vonseiten Sachsens und auf EU-Ebene –, sor von der Harvard-Universität nach Halle zu holen. (Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ (Zuruf des Abg. Dr. [CDU/ CSU]) CSU]) beinhaltet die Förderung von Schlüsseltechnologien und, Was ist die Ursache dafür? Jetzt denken Sie: Sie er- und, und. (B) zählt bestimmt wieder, dass es das Geld ist und die jähr- (D) liche Steigerung der Mittel für diesen Bereich seit 2005, Ich will kurz anhand einzelner Punkte aufzeigen, was seit Bundeskanzlerin ist. – Das stimmt. wir neu gemacht haben: Aber das alleine reicht nicht. Entscheidend ist, wie das Erster Punkt. Im Bereich „nachhaltiges Wirtschaften Geld angelegt bzw. wofür es ausgegeben wird. Es gibt und Energie“ ist ein Schwerpunkt die Energieforschung. zum Beispiel den Pakt für Forschung und Innovation, Wir alle wissen, die Energiewende funktioniert nicht der den Wissenschaftsorganisationen Planungssicher- ohne entsprechende Forschungsergebnisse. heit, Verlässlichkeit, aber auch Freiheitsgrade – die ha- ben wir insbesondere in den letzten Jahren eingeräumt – ( [CDU/CSU]: So ist es!) bietet. Unser Nobelpreisträger Hell sagt, dass er geblie- ben ist wegen der Freiheitsgrade und wegen der Mög- Wir alle zusammen haben im letzten Frühjahr mit dem lichkeiten, die man in Deutschland hat, Forschungsforum Energiewende einen Dialogprozess gestartet. Wir sind jetzt so weit, dass wir Ihnen Anfang (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) des neuen Jahres – denn es gibt eine Vielzahl von Din- gen in der Forschung, die man berücksichtigen muss – die und wegen der Hightech-Strategie. Die Hightech-Strate- grundlegenden prioritären Aufgaben – eins, zwei, drei – gie ist schon etwas Besonderes. Jetzt können Sie denken: präsentieren können, auf die wir in den nächsten Jahren Jedes Land hat irgendeine Förderstrategie, die bei uns alle Mittel konzentrieren, um dort Ergebnisse zu er- eben Hightech-Strategie heißt. Das ist keine einfache zielen. Wir wollen eine Prioritätensetzung für die Förderstrategie mit einzelnen Programmpunkten und 180 Hochschulen, die im Bereich der Energieforschung Aktionsfeldern. Das ist eine Strategie, die für die Inno- tätig sind, ermöglichen. Wir sind jetzt so weit, dass wir vationskraft in Deutschland von grundlegender Bedeu- die Ergebnisse Anfang des Jahres präsentieren können. tung ist, die Besonderheiten hat, die zu kopieren ver- sucht wird und bei der andere Länder Anregungen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nehmen. Ein zweiter Punkt. Ein erfolgreiches Format im Rah- Seit Anfang September haben wir die neue Hightech- men der Hightech-Strategie war der Spitzencluster-Wett- Strategie. Sie werden jetzt sagen: Wenn es gut funktio- bewerb, waren die Spitzencluster. Ein Cluster wurde ge- niert, warum gibt es dann eine neue Hightech-Strategie, bildet, wenn klar war, dass man in einem Bereich in warum behalten wir nicht die, die wir 2006 zum ersten wenigen Jahren Weltmarktführer werden kann, gefördert Mal aufgelegt haben? Ganz einfach, weil sich die Bedin- mit 40 Millionen Euro vom Bund und – das ist wesent- gungen ändern, weil wir im globalen Wettbewerb sind lich mehr geworden – 40 Millionen Euro von privater 6876 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) Seite. Die 15 Spitzencluster funktionieren exzellent. Gesundheit im Lebensverlauf. Wir haben vor kurzem (C) Weil unsere Chancen in Europa liegen, wollen wir diese das 50-jährige Jubiläum des Deutschen Krebsforschungs- Cluster jetzt zu Clustern in Europa werden lassen. Des- zentrums in Heidelberg gefeiert und entschieden – es wegen läuft jetzt gerade eine erste Ausschreibung. Es war nicht einfach –, viel Geld für das Nationale Centrum geht darum, wie sich diese Spitzencluster mit den für Tumorerkrankungen einzusammeln – Partnerstandort zweien oder dreien in Europa vernetzen können, die in ist das Institut für Radioonkologie in Dresden – und dem jeweiligen Themenfeld führend sind. seine Mittel langfristig und unbefristet aufzustocken. Damit gehören wir zu den drei Weltbesten. Die Ameri- Dritter Punkt. Ich hatte es hier schon erwähnt: US- kaner und die Briten versuchen, aufzuholen. Deswegen Präsident Obama hat gefragt, warum die Deutschen so können wir Gelder nicht nur mit der Gießkanne verteilen gut sind, und hat umfangreiche Papiere erstellen lassen. – das machen wir sowieso nicht –, sondern müssen Spit- Die Erkenntnis war: Bei der Revolution sind die Deut- zenförderung betreiben. Das Nationale Centrum für Tu- schen nicht so gut; sie machen nicht so viel auf der grü- morerkrankungen ist im Bereich der Gesundheitsfor- nen Wiese, reißen nicht immer alles ein; schung eine ganz große Chance, die wir in Deutschland (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: haben. Ich denke, da haben wir richtig entschieden. Bei der friedlichen Revolution sind wir gut!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aber die absolute Stärke der Deutschen ist, dass sie in neten der SPD) den Branchen, in denen sie gut sind, in der Lage sind, Die Erhaltung der Schöpfung ist uns ein besonderes über Jahrzehnte hinweg immer wieder Innovationen zu Anliegen. Nachhaltiges Wirtschaften ist eine zentrale schaffen und in der Weltspitze zu bleiben. Das ist die Kompetenz, ein zentrales Interesse gerade auch unserer Stärke der Deutschen. Partei. Hier habe ich vor wenigen Tagen gemeinsam mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Hendricks die Forschungsagenda für den Bereich neten der SPD) Green Economy vorgestellt. Diese Forschungsagenda ist mit der Wirtschaft und mit den Verbänden entwickelt Der nächste Innovationsschub, den wir jetzt in den worden und hat eine große Akzeptanz, weil unsere Wirt- klassischen Branchen, in denen wir gut sind, brauchen, schaft pfiffig ist und weiß, dass sie in dem Bereich wett- geht von der Digitalisierung aus. In der alten Hightech- bewerbsfähig sein muss, dass dort Ökonomie und Öko- Strategie betraf die Digitalisierung in sehr starkem Maße logie wettbewerbsfähig verbunden werden müssen. Fragen der IKT, also der Informations- und Kommuni- kationstechnologien. Das reicht heute nicht mehr aus. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Der digitale Wandel im Forschungs- und Entwicklungs- wie des Abg. [SPD]) (B) bereich ist außerordentlich wichtig; das Thema muss (D) Um an dieser Stelle eine Zahl zu nennen: Dafür stehen breit angelegt werden. Wir haben in diesem Jahr zwei 350 Millionen Euro bereit. große Kompetenzzentren für Big Data eingerichtet. Wir haben das Forum Privatheit und selbstbestimmtes Leben Wir haben Probleme und Herausforderungen. Die in der Digitalen Welt mit vielen Playern aus dem priva- Stärke Deutschlands ist der Mittelstand. Wir geben dort ten Bereich gestartet. viel Geld aus; wir fördern diesen Bereich jährlich mit 1,4 Milliarden Euro. Ein Problem ist: Die Ergebnisse Ich sagte es schon: Es gibt richtig Geld für den Be- zeigen, dass wir zwar viele Hidden Champions haben, reich Mikroelektronik. Sie ist eine Schlüsseltechnologie, aber die Innovationsausgaben im Mittelstand, bei den und wir haben dort Chancen. Insgesamt müssen wir hin kleinen und mittleren Firmen, in der Summe nicht ge- zu einem breiteren Verständnis von Forschung und Ent- stiegen sind, zum Teil gar gesunken sind. Deswegen ist wicklung. Es geht nicht nur um technologische Entwick- dies ein ganz zentraler Punkt der neuen Hightech-Strate- lungen, um Geld für Forschung, sondern vor allen Din- gie: Was kann man machen, damit die Gelder dort effek- gen auch um Veränderungen in der Arbeitswelt. Wir tiver genutzt werden und um anzuregen, dass in dem Be- haben das große Programm „Innovationen für die Pro- reich mehr ausgegeben und geforscht wird? Die duktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“ mit ei- Steigerung der Innovationsdynamik im Mittelstand ist nem Umfang von 1 Milliarde Euro in den nächsten Jah- für mich ein zentrales Anliegen. Diese braucht jedoch ren gestartet. Das ist keine Idee, die wir uns einfach Unterstützung. Dies ist vielleicht nicht so populär, als ausgedacht oder mit einigen wenigen diskutiert haben. wenn man sich mit dem Chef eines Großunternehmens Es wurde eine breite Debatte mit Gewerkschaften, mit präsentiert. Daher ist es wichtig – und das ist die Politik Arbeitgebern geführt; beide waren gemeinsam an einem dieser Großen Koalition –, für Innovationen in kleinen Tisch. Was ich im Bereich der Arbeitsforschung nicht und mittelständischen Unternehmen Sorge zu tragen. will – dafür stehe ich mit diesem Programm –, sind neue dicke Bücher; wir brauchen sie nicht. Wir haben in der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Arbeitsforschung schon sehr viele Ergebnisse. Ich möchte, Zwei Einsprengsel dazu, wie wir das machen wollen. dass jedes Mal, wenn wir im Rahmen der Hightech-Stra- Ein Punkt betrifft Pilotanlagen, die bislang bei der För- tegie Geld für Arbeitsforschung ausgeben, ein oder meh- derung immer herausgefallen sind. Wenn das Wirt- rere Mittelständler gesucht werden, die probieren, die schaftsministerium die Wirtschaft fördert, dann betrifft Ergebnisse umzusetzen und Transfer zu betreiben. das an vielen Stellen nicht Pilotanlagen. Deswegen ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- jetzt für uns wichtig, dass wir Pilotanlagen fördern. Da- neten der SPD) mit können die zur Bank gehen und dort leichter Geld Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6877

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) zur Finanzierung bekommen. Sunfire ist ein Beispiel für Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): (C) eine Pilotanlage, die wir jetzt im Rahmen der Hightech- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja Strategie fördern, meine Damen und Herren. zurzeit in Mode, dass die Großkoalitionäre immer ge- Kompetenzaufbau. Es funktioniert nur mit Fachkräf- genseitig den Koalitionsvertrag zitieren, um sich daran ten. Fachkräfte sind unsere Stärke, sie sind Träger der zu erinnern. Das würde ich auch ganz gern einmal tun. Innovation. Ich will jetzt gar nicht auf die einzelnen Ich zitiere: Pakte, die wir beschlossen haben – Stichworte „berufli- Die Hightech-Strategie werden wir zu einer umfas- che Bildung“, „akademische Bildung“ –, eingehen. Ich senden ressortübergreifenden Innovationsstrategie will nur sagen, dass der Bedarf an neuen Qualifikatio- für Deutschland weiterentwickeln. nen, den man zum Beispiel bei Industrie 4.0 sieht, ein Feld ist, auf dem wir schnell sein müssen. Wir haben im Das ist nun wirklich eine ganz tolle Zielstellung. Die Rahmen des IT-Gipfels in der Arbeitsgruppe, die von ei- ist immerhin nur acht Jahre alt und stand bereits in der nem Mitglied des Vorstands von SAP geleitet wurde, Erstauflage der Hightech-Strategie 2006. Ich frage mich beschlossen, eine Initiative zur Systematisierung beste- nun: Wenn Sie in Zukunft Innovationspolitik aus einem hender Angebote und zur Strukturierung neuer Qualifi- Guss entwickeln wollen, was, bitte, haben Sie dann in kationsformen für die berufliche Bildung und für die den letzten acht Jahren gemacht? Offenbar zu wenig. akademische Bildung zu starten. Das sind aber keine Ar- Damit haben Sie auch tapfer – so ganz nebenbei gesagt – beitsgruppen, in denen man nur darüber redet, sondern die Kritik der Opposition ausgesessen. es geht darum, mit einem großen Unternehmen oder mit zwei, drei großen Unternehmen dies in der Praxis auszu- Nach meinen jüngsten Erfahrungen muss ich auch sa- probieren und damit auch Anregungen zu geben und gen, dass ich so meine Zweifel daran habe, dass das je- Vorbild für andere Bereiche zu sein. des Ressort, jeder Minister schon begriffen hat, dass sie jetzt gemeinsam handeln müssen. Ich will dazu auch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gern ein Beispiel geben. Ich sagte vorhin, dass wir attraktiv sind für Forscher Sie haben sich in dieser Hightech-Strategie sechs Zu- und Wissenschaftler aus aller Welt. Das EFI-Gutachten, kunftsaufgaben gestellt. Darunter befindet sich – selbst- um das es ja heute auch geht, bestätigt, wie wichtig dies verständlich; deshalb rede ich auch hier – die Zukunfts- ist. Dort wird aber auch kritisch angemerkt, dass da noch aufgabe „Digitale Wirtschaft und Gesellschaft“. Dies viel Entwicklungspotenzial ist. Das Gutachten beruht je- war auch Thema des IT-Gipfels, was Sie auch miteinan- doch auf alten Zahlen. Die haben die Zahlen aus Publi- der verbunden haben. Das ist insgesamt auch gut so. Ob kationen von 1996 bis 2011 genommen. Die Zahlen, die das nun in der Zukunftsaufgabe steht oder nicht, Fakt ist: (B) wir jetzt haben, sehen ganz anders aus. Nur ein Beispiel: Die Digitalisierung hat schon jetzt alle Lebensbereiche (D) Bei der Max-Planck-Gesellschaft sind rund 50 Prozent verändert. aller Doktoranden und 86 Prozent aller Postdoktoranden sowie jeder dritte Abteilungsleiter aus dem Ausland. Das (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) heißt, wir sind an der Stelle erfolgreich, aber wir brau- Immerhin: In Informatik-, Technik- und Wirtschafts- chen auch dort Verstetigung, Instrumente, Strategien. Ich wissenschaften werden dazu zahllose Projekte beforscht. denke, mit der Strategie zum Europäischen Forschungs- Was aber seit Jahren fehlt, sind Reflektionen aus geistes- raum, aber auch mit der Internationalisierungsstrategie wissenschaftlicher bzw. gesellschaftswissenschaftlicher sind wir an dieser Stelle gut aufgestellt. Perspektive. Bizarrerweise ist es lediglich das von Ich denke, wir haben viel erreicht. Aber wir müssen Google finanzierte Humboldt-Institut, das sich seit meh- aufpassen. Einen Vorsprung kann man gerade dann, reren Jahren genau dieser Problematik stellt. Öffentliche wenn es Innovationsschübe gibt – und diese gibt es über- Gelder, beispielsweise aus der Hightech-Strategie, gab all auf der Welt –, ganz schnell verspielen. Deswegen es insgesamt immer nur in homöopathischen Dosen. Das wollen wir, dass Deutschland den ersten Platz einnimmt, kann unmöglich so bleiben. was Innovation und Wettbewerbsfähigkeit sowie Welt- marktfähigkeit anbetrifft, und dass wir auch die Talente (Beifall bei der LINKEN) aus allen Ländern mit unserer Attraktivität anziehen. Da stellen sich schon Fragen wie: Welche Folgen hat Deswegen haben wir die Hightech-Strategie zu einer die Digitalisierung für die Gesellschaft wirklich? Dazu umfassenden Innovationsstrategie weiterentwickelt. Die wurde eine ganze Enquete-Kommission eingerichtet, de- beiden dicken Dokumente, die hier heute zur Diskussion ren Vorschläge in Ihre Hightech-Strategie kaum Eingang stehen, bestätigen das. gefunden haben. Welche neuen sozialen Ideen entstehen Danke schön. denn durch das Internet? Wenn Güter wie Wissen grund- sätzlich überall für alle frei zugänglich werden können, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dann ist ihre künstliche Verknappung bzw. eine Zu- gangsbeschränkung am Ende ein gesellschaftliches Pro- Präsident Dr. Norbert Lammert: blem. Damit muss man sich doch beschäftigen. Oder: Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Sitte für die Was muss geschehen, damit medienkompetente Nutze- Fraktion Die Linke. rinnen und Nutzer in unserem Land endlich lebenslang mit dem Internet oder mit den neuen Medien umgehen (Beifall bei der LINKEN) können? 6878 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Petra Sitte (A) Es ist gut und richtig, dass das Forschungsministe- sammen: „Wenn die Politik so weitermacht, verschläft (C) rium diese Lücke jetzt schließen will. sie den Wandel komplett.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vergleicht man die dafür eingeplanten Summen mit den großen Technologiefördertöpfen, dann muss ich schon Was war dann folgerichtig die erste gemeinsame Ak- sagen: Diese Fördergelder können Sie mit dem Teelöffel tion der Digitalminister des künftigen weltweiten Inno- wegtragen. vationsleaders Deutschland? Sie ahnen es: Sie schrieben einen Brief, (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, Sie sollten Ihre Ziele (Heiterkeit der Abg. Tabea Rößner [BÜND- schon ernster nehmen, sonst wird es nämlich nix mit der NIS 90/DIE GRÜNEN]) weltweiten Innovationsführerschaft im Bereich der Digi- und diesen Brief faxten sie an die EU-Kommission. talisierung, die Sie sich so mutig auf Ihr Trikot gedruckt haben. Ich sehe die Jungs und Mädels aus den Teams im (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kalifornischen Silicon Valley schon vor Deutschland zit- NEN]: Das ist ja unglaublich!) tern. Die Digitalminister faxten! Inhalt: Was muss die Euro- (Heiterkeit der Abg. Tabea Rößner [BÜND- päische Union in Sachen Netzpolitik, Breitbandausbau, NIS 90/DIE GRÜNEN] – Michael Grosse- Urheberrechte, Datenschutz und Technologieförderung Brömer [CDU/CSU]: Schön wär’s!) leisten? Eine ressortübergreifende Innovationsstrategie müsste (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es war nicht al- sich konsequent zunächst an den notwendigen Voraus- les schlecht! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ setzungen abarbeiten. Dazu muss beispielsweise die un- CSU]: Machen Sie mal keine Faxen hier!) terdurchschnittliche Breitbandausstattung beseitigt wer- Nun frage ich mich: Wenn Sie diese Hightech-Strategie den, dazu müssen Datenschutz- und Urheberrechte auf ernst nehmen, wieso fangen Sie zunächst damit an, For- den Stand der Zeit gebracht werden, und nicht zuletzt derungen gegenüber der EU aufzustellen? Sie müssten müssten Sie sich auch mit etablierten Konzernen aus der doch als Erstes bei sich anfangen. Chemie-, aus der Maschinenbau- oder der Fahrzeugin- dustrie auseinandersetzen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) (B) Ich komme aus Halle in Sachsen-Anhalt. (D) Die Interessen der klassischen deutschen Industrie und ihrer Beschäftigten sollen nicht gegen die von Start- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gibt es ups, kleinen und mittelständischen Unternehmen und da eigentlich schon Fax?) Creative Industries ausgespielt werden. Aber genau so sieht bis heute die Mittelverteilung aus. Es gibt wieder Wir zitieren gerne „olle“ Luther. Luther sagte – das ist kein zusätzliches öffentliches Geld für den Breit- bei diesem Thema durchaus treffend –: „Auf fremdem bandausbau. Es gibt immer noch kein bildungs- und wis- Arsch ist gut durchs Feuer reiten.“ senschaftsfreundliches Urheberrecht, trotz einer Veran- (Heiterkeit bei der LINKEN sowie bei Abge- kerung im Koalitionsvertrag. Es gibt keine neuen ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Förder- und Kreditprogramme für innovative Gründun- NEN) gen. Das bleibt eine Leerstelle. Für mich sieht ressort- übergreifende Politik anders aus. Apropos Luther: Er hat bekanntermaßen gemeinsam mit seiner lebensklugen Frau viel darüber diskutiert, was die (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Welt bewegt. Übertragen auf unser Thema heißt das, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass die Expertise von Frauen für Wissenschaft und Nicht weniger als drei Minister – von jeder Regie- Innovation nachgewiesenermaßen unverzichtbar ist. rungspartei einer – haben die Digitale Agenda vorge- Man sollte also erwarten, dass die Bundesregierung sich stellt, und jeder stellte seine Variante vor. Eine Gemein- diese Expertise nicht entgehen lässt, insbesondere weil samkeit gab es aber doch: Sie hatten nichts Konkretes im sie weltweit Innovationsführer werden möchte. Köcher. Frau Wanka als Forschungsministerin, federfüh- ( [CDU/CSU]: Deshalb ha- rend bei der Hightech-Strategie, war überhaupt nicht da- ben wir eine Ministerin!) bei. Das ist ein völlig absurder Vorgang. In der letzten Legislaturperiode hat die Linke gemein- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sam mit SPD und den Bündnisgrünen mehrfach hierzu neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Anträge eingebracht und Initiativen gestartet. Was uns Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- angeht, kann die SPD immer noch fest darauf bauen. NEN]: Keine Kooperation!) (Beifall bei der LINKEN) Professorin Gesche Joost, Designforscherin und ei- gens von der Regierung benannte Internetbotschafterin Im jüngsten Bericht der Expertinnen- und Expertenkom- Deutschlands, fasste das Schauspiel folgendermaßen zu- mission Innovation und Forschung liest sich das so: Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6879

Dr. Petra Sitte (A) Die akademische und die industrielle Forschung (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) und Entwicklung profitieren gleichermaßen von Gibt es digital!) neuen Ideen, unterschiedlichen Sicht- und Herange- hensweisen. aber man kann sich den Bericht herunterladen. In diesem Bericht stellen die Bundesregierung, aber auch die Re- Das gilt eben auch und gerade für die Integration von gierungen der Bundesländer dar, was an Forschung und Frauen in Innovationsprozesse. In der Hightech-Strate- Entwicklung in Deutschland alles betrieben wird. Wenn gie vermisst man diese Genderdimension fast durchgän- man in diesen Bericht schaut, erfährt man viel darüber gig. und man erkennt vor allen Dingen, dass Deutschland ein Abschließend will ich sagen: Auch im Hinblick auf wirklich hervorragender Standort für Wissenschaft und eine geschlechterkompetente Wissenschafts- und Inno- Forschung ist. vationspolitik wirkt diese Koalition verstaubt, wie von (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gestern, (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) Damit habe ich 700 Seiten schnell abgearbeitet; das muss ich sagen. und das ausgerechnet bei einem Thema, bei dem es um die Zukunft geht. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da nicht drin!) Ich danke Ihnen. – Bitte? – Doch, das ist eine Conclusio, die man ziehen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten kann. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Damit sich die Regierungen nicht allzu häufig loben Präsident Dr. Norbert Lammert: – das wäre nicht gut –, gibt es einen ganz vernünftigen Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege René Mechanismus in Deutschland. Uns wird nämlich auch Röspel das Wort. immer der Bericht der Expertenkommission Forschung und Innovation, EFI genannt, vorgelegt. Dieser Bericht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hält der Bundesregierung, aber auch der deutschen Poli- der CDU/CSU) tik insgesamt immer so ein bisschen den Spiegel vor: Ich mache Sie gleich zu Beginn darauf aufmerksam, Wie sieht es eigentlich aus? Wie steht es um die techno- dass ich keine Aussicht sehe, das Material, das Sie mit- logische Leistungsfähigkeit in Deutschland? Viel von bringen, auch nur annähernd vollständig vorzutragen, der Kritik, die in den letzten Jahren darin geäußert wor- (B) Herr Kollege. den ist, war berechtigt. Diese Kritik hat, glaube ich, die (D) Politik weitergebracht. Wir haben die Kritik in den Dis- (Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordne- kussionen aufgenommen und sie in Teilen umgesetzt. ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der An einer Stelle möchte ich vertieft auf den Bericht SPD) von 2014 eingehen – Frau Wanka sprach das auch schon an –: Im EFI-Bericht 2014 steht, dass wir in Deutschland René Röspel (SPD): im Saldo einen Verlust an Wissenschaftlern hätten. Das Herr Lammert, ich habe befürchtet, dass Sie mir die heißt, wenn man Zugänge und Abgänge von Wissen- Eingangspointe nehmen. – Herr Präsident! Meine sehr schaftlern betrachtet, verliert Deutschland laut der Bot- verehrten Damen und Herren! Nein, ich werde das nicht schaft der EFI gute Wissenschaftler ans Ausland. Das ist alles vorlesen. Der Vorlesetag war vor zwei Wochen. Da eine falsche Botschaft. war ich – ich hätte jetzt fast gesagt: in einem anderen (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Genau so ist Kindergarten – es!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Diese Aussage wird vielleicht verständlich, wenn man in einem Kindergarten. Das hat wirklich Spaß gemacht. sich vor Augen führt, welchen Zeitraum die Gutachter Das Material, das ich vor mir liegen habe, ist Gegen- betrachtet haben. Sie haben den Zeitraum zwischen 1996 stand dieser anderthalbstündigen Beratung. Das ist wirk- und 2011 betrachtet, also einen Zeitraum von 15 Jahren. lich viel Papier. Weil es hier ein bisschen „nach ver- Bezogen auf diesen gesamten Zeitraum mag die Aussage branntem Hintern riecht“, Kollegin Sitte, der EFI stimmen, bezogen auf die letzten Jahre stimmt sie sicherlich nicht. Es ist gut, wenn man ein gutes Ar- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) chiv hat. Ich habe noch den Bundesforschungsbericht um bei Luther zu bleiben, sage ich: Vielleicht hilft es, 2000 zu Hause. das eine oder andere wirklich einmal zu lesen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau!) Du musst mal dein Arbeitszimmer aufräu- men!) Das kann ich auch den Zuhörerinnen und Zuhörern nur empfehlen. Man muss die 700 Seiten des Bundesberichts Darin stehen ein paar Zahlen mehr. An diesen Zahlen Forschung und Innovation 2014 nicht ausdrucken – da- sieht man, dass Deutschland zwischen 1993 und 1998 mit rettet man das Leben eines Baumes –, ein stagnierendes System war. 6880 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

René Röspel (A) Herr Riesenhuber, Sie haben, wenn ich mich richtig Preise. Das sind keine technisch zu lösenden Probleme, (C) erinnere, 1993 das Amt des Forschungsministers abge- sondern gesellschaftliche und politische. geben. Leider ist danach wenig passiert. Ein anderes Beispiel mag sein, dass für Gesundheit (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ und moderne Medizin Technik natürlich unerhört wich- CSU) tig ist. Mindestens gleichbedeutend sind aber eben die Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass der Etat für Bildung Antworten auf die Fragen, wie Pflege stattfindet, wie und Forschung immer um 10 Milliarden D-Mark herum Menschen und insbesondere Kranke versorgt werden schwankte. Erst 1998 – das geben die Zahlen eindeutig und welchen Umgang sie erleben. Das ist ein nichttech- her – hat sich die Situation verändert. Mit einer neuen nischer Ansatz, den wir für richtig halten. Regierung hat es nicht nur mehr Investitionen in Bildung Deswegen, Frau Sitte, ist die Weiterentwicklung der und Forschung gegeben, sondern es gab auch eine an- Hightech-Strategie zu einer Hightech- und Innovations- dere Einschätzung und eine andere Wertschätzung von strategie, wie sie im Koalitionsvertrag steht, tatsächlich Bildung und Forschung. auf den Weg gebracht worden, und sie ist gelungen. Ich glaube, es war 2003, dass ich auf einer der ersten Wenn Sie dort hineinschauen, dann sehen Sie: Wir sagen GAIN-Tagungen in Boston war. Diese Veranstaltung ausdrücklich, dass wir Deutschland beispielsweise zu ei- wurde damals eingerichtet, um junge deutsche Wissen- nem internationalen Modell für nachhaltiges Wirtschafts- schaftler wieder für unser Land zu interessieren und zu wachstum und zum Spitzenreiter im Bereich der grünen sagen: Kommt doch zurück, wir haben etwas zu bieten. Technologien machen wollen. Ich finde, das ist ein ho- Ich habe damals das erste Mal gemerkt, dass die jungen hes Ziel, aber das haben wir uns gesetzt, und das können Wissenschaftler, die in den 90er-Jahren in die USA ge- Sie nachlesen. gangen waren, um bessere Bedingungen zu haben, wahr- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nahmen: „Da passiert etwas in Deutschland, da bewegt CDU/CSU) sich etwas“, und sich gesagt haben: Wir würden gerne zurückkommen und tun das vielleicht auch. Das gilt genauso für viele andere Bereiche, die Sie 2005 hat es, übrigens noch unter einer sozialdemokra- angesprochen haben. Zum Beispiel steht auch die Open- tischen Bildungs- und Forschungsministerin, tatsächlich Access-Strategie darin, durch die wissenschaftliche Ver- zwei ganz wichtige Initiativen gegeben, nämlich die öffentlichungen freier und offener gemacht werden sol- Exzellenzinitiative und den Pakt für Forschung und len. Innovation, die noch einmal eine richtige Dynamik in Wir brauchen natürlich Zeit, um das umzusetzen, aber Deutschland ausgelöst haben: Deutschland ist wieder ein (B) wir sind hier auf dem richtigen Weg. Am Ende dieser (D) attraktiver Standort für Wissenschaftler. Die Menschen, Regierungszeit werden Sie uns daran noch einmal mes- die gut forschen wollen, wissen, dass Deutschland ein sen; aber das Ganze dauert eben seine Zeit. guter Standort ist, und sie kommen wieder nach Deutschland. Es ist gut, dass alle Regierungen seit 2005 Innerhalb dieser Hightech- und Innovationsstrategie den Weg, Deutschland zu einem attraktiven Wissen- sind wir auch noch ein paar andere wichtige Punkte an- schaftsstandort zu machen, fortgesetzt haben. Das ist ein gegangen, die neu und für uns wichtig sind, zum Bei- Lob, das wir uns an dieser Stelle fast alle einmal an die spiel die Innovationen in den Bereichen Dienstleistun- Brust heften dürfen. gen, Produktion und Arbeit. Warum ist das wichtig? Die Digitalisierung der Welt – das haben Sie und auch Frau (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wanka gesagt – schreitet voran. Um nach vorne zu schauen: Im Jahre 2006 ist in der ersten Großen Koalition die Hightech-Strategie auf den In der kleineren Nachbarstadt meines Wahlkreises, in Weg gebracht worden. Es gab damals die richtige Überle- Dortmund, wurde das Internet der Dinge erfunden. gung, die Hightechforschung in den unterschiedlichen Wenn Sie dort in das Fraunhofer-Institut für Material- Bundesministerien zu bündeln, sie zu einer ressortüber- fluss und Logistik gehen, dann sehen Sie ein Lager, das greifenden Strategie zusammenzufassen und Hightech komplett automatisiert ist. zu fördern. (Willi Brase [SPD]: Sehr richtig!) Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Die Computer erhalten dort eine Meldung, und dann haben das zugegebenermaßen immer ein bisschen zu werden Waren über Roboter verschoben, die selbststän- technikzentriert gesehen, dig fahren. Der Warenein- und -ausgang wird digital ge- (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ steuert, und der Mensch ist nicht mehr dabei. DIE GRÜNEN]) Das ist eine ungeheure Herausforderung und Chance. weil ziemlich sicher ist, dass wir die Energiewende tech- Wir müssen hier aber weiter forschen und die Entwick- nisch bewältigen können. Die eigentlichen Probleme bei lung so gestalten, dass sie auch zum Nutzen der Gesell- der Umsetzung der Energiewende sind aber eher im poli- schaft und des Menschen ist; denn als Produktionsstand- tischen und gesellschaftlichen Bereich sowie – jedenfalls ort brauchen wir auch eine moderne Produktion. Die kurzfristig – im finanziellen Bereich zu sehen. Langfris- meisten Unternehmen haben das Ziel und sind bereits in tig lohnt sich die Energiewende, aber kurzfristig schauen der Lage, energieeffizient, ressourcenschonend und kos- die Unternehmen und die Verbraucher natürlich auf die teneffizient zu produzieren. Da ist im System noch eine Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6881

René Röspel (A) ganze Menge Potenzial; aber dazu braucht es gute und strumenten unterlegt werden oder verbale Superlative (C) breitangelegte Forschung. einfach nur von inhaltlichen Defiziten ablenken sollen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Fabrik der Zukunft kann auch so aussehen, dass Die neue Hightech-Strategie hätte nach einem Jahr Menschen nicht mehr vorhanden sind oder nicht mehr Regierungszeit und neun Jahren CDU-Forschungsminis- benötigt werden. Ich glaube das zwar nicht, aber darauf terinnen als Chance zu einem echten Neustart genutzt müssen wir uns einstellen. werden können. Die Koalition hätte die Möglichkeiten für einen Aufbruch zu einer nachhaltigkeitsorientierten Am Rande: Wer jemals in einer Gesenkschmiede oder Innovationspolitik aus einem Guss gehabt. Sie könnten in einer Stahlbude war – oder sogar da hat arbeiten müs- sich auch ehrlich machen, dass Sie weiter vordringlich sen –, weiß, welch ein Segen moderne Technologie oder auf wachstums- und auf industriegetriebene Felder set- Automatisierung sein kann. zen. Weil Sie all das aber unterlassen, springen Sie zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der kurz. CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer da vielleicht länger gearbeitet hat, weiß, dass eine Rente nach 45 Versicherungsjahren kein Geschenk ist, Wirklich neu wäre etwas anderes gewesen: ein klarer sondern ein richtiges Verdienst. Fokus auf ökologische Nachhaltigkeit und gesellschaftli- chen Aufbruch, der sich in der Umsetzung dann auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) durchgängig wiederfinden müsste. Ihrer Hightech-Stra- tegie fehlt aber eine klare Stärken-Schwächen-Analyse, Weil am Ende der Mensch für uns wichtig ist, will ich ihr fehlt eine Entrümpelung, und ihr fehlt eine konsis- noch sagen: In meinem Wahlkreis, in Hagen, hat ein tente Ausrichtung auf Nachhaltigkeitsaspekte. Doch Konzern seine neue Zentrale eröffnet. Dort gehen die dazu fehlen Ihnen die Kraft und der Mut. Das finden wir Arbeitnehmer morgens an ein Schließfach, holen ihren unzureichend. Alukoffer raus, suchen sich einen der leeren Schreibti- sche aus, bauen ihr Material auf, nehmen das Headset (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und arbeiten; abends wird alles wieder zusammenge- räumt, und das Büro sieht völlig leer aus, die Schreibti- Heraus gekommen ist ein Programm mit uneindeuti- sche auch. Das ist das Büro der Zukunft – oder auch gen und auch widersprüchlichen Zielen. Die sogenannten nicht. Das ist eine spannende Entwicklung. „Ist das gut prioritären Zukunftsaufgaben, die Sie sich als Regierung oder schlecht?“, dazu bedarf es eben auch der Arbeits- forschungspolitisch vornehmen, sind so weit gefasst, (B) forschung. Wir wollen, dass Menschen lange gesund und dass hierunter alles fällt, was Sie eh immer schon ge- (D) zufrieden arbeiten können und sich auf neue Situationen macht haben. Statt Klima/Energie heißt es jetzt „Nach- im digitalen Zeitalter einstellen können. Deswegen för- haltiges Wirtschaften und Energie“, statt Gesundheit/Er- dern wir die Arbeitsforschung stärker als bisher. Es gab nährung heißt es jetzt „Gesundes Leben“, statt Mobilität in den 70er- und 80er-Jahren ein Programm „Humanisie- „Intelligente Mobilität“, statt Sicherheit „Zivile Sicher- rung der Arbeit“; das ist ein zentrales Thema. Wir wol- heit“, und statt Kommunikation heißt es jetzt „Digitale len mit diesen Maßnahmen dazu beitragen, dass der Wirtschaft und Gesellschaft“. nächste BUFI nicht nur dicker wird, sondern wir insge- (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- samt besser werden im wissenschaftlichen Bereich und NEN]: Kreativ!) eine vernünftigere Gesellschaft bekommen. Neu ist das alles nun wirklich nicht. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) der CDU/CSU) Viel wichtiger wäre die klare Auskunft darüber gewesen, wo genau Ihre Prioritäten bei den jeweiligen Rahmen- Präsident Dr. Norbert Lammert: und Forschungsförderprogrammen denn nun liegen. Das Wort hat nun der Kollege Kai Gehring für die Das, liebe Frau Wanka, sollten Sie hier nicht verschwei- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. gen. Sonst bleibt Ihre Hightech-Strategie ein diffuses Sammelsurium. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten Richtig ist, dass es auch einzelne neue Aspekte gibt. heute über die dritte Hightech-Strategie der Bundesre- gierung, die Sie mit dem Signalwort „neu“ versehen ha- (Beifall des Abg. Dr. ben. Weil das Prädikat „neu“ anscheinend noch nicht [SPD]) ausreicht, wird der Titel Ihrer Vorlage auch noch mit Es gibt die neue Zukunftsaufgabe namens innovative dem Anspruch „Innovationen für Deutschland“ verse- Arbeitswelt und eine Stärkung der Dienstleistungsfor- hen. Nun ist es nicht Aufgabe der Opposition, Ihnen ehr- schung. Das finden wir gut. geizige Ziele auszureden. Wir werden vielmehr kritisch prüfen, ob die wohlklingenden Worte mit sinnvollen In- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 6882 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Kai Gehring (A) Es gab den Agenda-Prozess „Green Economy“, den Ich sage Ihnen: Ihr auf Technik verengtes Innova- (C) wir begrüßen und den wir kaum hätten besser machen tionsverständnis hat ausgedient. Ihr altes ressourcenin- können. tensives und energieverschwendendes Wachstumsmo- dell hat erst recht ausgedient. Hören Sie auf die Enquete- (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ [SPD]) der vergangenen Wahlperiode! Wir haben nur einen Pla- Es gibt die Initiative FONA und die „Nationale Platt- neten und keinen Ersatz hierfür. form Zukunftsstadt“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das alles reicht aber nicht aus, um eine Strategie neu Wir brauchen eine bessere Förderung von Forschung und nachhaltig zu nennen. Sie tun so, als gebe es plötz- und Entwicklung und eine Modernisierung des Wissen- lich auf breiter Front eine Interdisziplinarität der An- schaftssystems, um deren Expertise und Potenziale für sätze. Wenn alte Programme überwiegen, besteht das Ri- die sozialökonomische Erneuerung unseres Landes aus- siko, dass neue Impulse wegen Beharrungskräften des zuschöpfen. Alten ins Leere laufen. In Ihrer Hightech-Strategie steht Nachhaltigkeit je- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doch unverbunden neben einer Reihe anderer Ziele. Al- sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE len voran stehen Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum, LINKE]) Wachstum, Wachstum. Hier überwiegt die reine Wert- schöpfungsorientierung. Das ist überholt. Bisherige Wie stark diese alten Beharrungskräfte sein können, Förderschwerpunkte bekommen von Ihnen einfach nur zeigt die Behandlung der neuen Energien. Das EFI-Gut- andere Namensschilder umgehängt: „green, smart, sus- achten verkennt völlig die positive Dynamik sowie die tainable“. Der Inhalt bleibt jedoch überwiegend gleich. ökologische und ökonomische Relevanz der erneuerba- Gutes Wording und Framing reichen aber nicht. Echte ren Energien. Diese waren Jobmotor, Modernisierungs- Zukunftsorientierung geht anders. faktor und Innovationstreiber in Deutschland, bis sie durch eine planlose, von alten Interessen dominierte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Politik gedrosselt wurden. René Röspel [SPD]: Wir sind wenigstens eine Partei, die nach einem Inhalt benannt ist und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht nach einer Farbe! – Heiterkeit bei der SPD) Wirtschaftsminister Gabriel stellt sich schützend vor fossile Dinosaurier, vor die ältesten Kohlekraftwerke Wir wollen dagegen, dass wegweisende Ansätze wie (B) dieser Republik. Aus Ihrem Forschungsetat, liebe Frau das Rahmenprogramm „Forschung für nachhaltige Ent- (D) Wanka, werden atomare Altlasten finanziert. Allein bis wicklungen“ und die Forschungsagenda „Green Eco- 2017 fließen knapp 1 Milliarde Euro in den Rückbau nomy“ strukturbildend für die gesamte Hightech-Strategie kerntechnischer Anlagen. Beides ist Antiinnovations- wirken, damit nicht nur die Verpackung grün aufge- politik. hübscht ist. Wir wollen auch, dass einzelne Programme nicht nur nebeneinander herlaufen, sondern dass es zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einem echten Transfer und zur Interdisziplinarität zwi- Beides ist staubgraue und riskante statt grüne und krea- schen Technik- und Sozialwissenschaften kommt. tive Ökonomie. Damit muss Schluss sein, steuern Sie Leider gibt es in der Hightech-Strategie bisher kein endlich um! Indikatorensystem für mehr Nachhaltigkeit. Damit könn- ten wir die Prinzipien der Nachhaltigkeit für forschungs- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wollt ihr keinen politische Lösungen der großen ökologischen, ökonomi- Rückbau?) schen und gesellschaftlichen Herausforderungen nutzen, Ein Misserfolg zeichnet sich auch beim Zukunfts- zum Beispiel bei der Mobilität, beim Klimaschutz, bei markt Elektromobilität ab. Hier zeigt sich exemplarisch: der Energieversorgung, bei der Ernährung, bei der digi- Leitentscheidungen werden schlichtweg nicht getroffen talen Revolution bis hin zur Industrie 4.0. und Innovationsprozesse verlangsamt. Ein neuer Grün- Davon abgeleitet müsste eine Forschungs- und Inno- dergeist wird so nicht entfacht. Das schadet unserem In- vationsstrategie entwickelt werden, die im Kern danach dustrie- und Innovationsstandort Deutschland. So dro- fragt: Was leisten und was verkraften ökologische, öko- hen Sie, Chancen zu verspielen. Wir brauchen mehr nomische und soziale Systeme? Für diese Fragen müsste Elektromobilität. Alles andere ist fatal für das Klima. sich die Koalition mit ihren Forschungsförderprogram- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men endlich stärker öffnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Leider ist keine Besserung in Sicht. Über neue res- sortübergreifende Abstimmungsformate zur besseren Ein weiteres Problem Ihrer Hightech-Strategie ist die Steuerung schweigt sich diese Hightech-Strategie aus. mangelnde Budgettransparenz und damit auch die politi- Wenn Ihr Selbstlob stimmt und alles so viel anders und sche Steuerbarkeit. Jetzt erklären Sie mir doch einmal so viel besser im Vergleich zu früher wäre, dann hätten den Unterschied zwischen den beiden Schwerpunkten Sie ja einen Großteil Ihrer Fördertöpfe auch umkrempeln „Cybersicherheit“ einerseits und „IT-Sicherheit“ ande- müssen. rerseits. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6883

Kai Gehring (A) (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wettbewerb zurückfallen. Wir fordern Sie daher seit Jah- (C) SES 90/DIE GRÜNEN) ren auf, sich endlich auf das 3,5-Prozent-Ziel für For- schungsinvestitionen zu konzentrieren, um den großen Offensichtlich ist der Unterschied nur der, dass unter- Herausforderungen gerecht zu werden. schiedliche Häuser Ihrer Bundesregierung dafür zustän- dig sind. Ihre Strategie referiert oft nur die Interessen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mehrerer Ministerien und schafft neue Redundanzen. Wir fordern einen integrierten Ansatz. Eine Bundes- Wenn Sie aber Zukunftsinfrastrukturen und -investitio- regierung muss vernetzt denken und auch vernetzt han- nen vernachlässigen, weil Sie im Haushalt des Ministe- deln können. riums für Bildung und Forschung den Mangel der globa- len Minderausgabe verwalten, dann wird sich das bitter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rächen. Unsere politische Aufgabe ist nicht Feinsteuerung, Unser Wissenschafts- und Innovationssystem braucht sondern die Gewährleistung von Pluralität und For- mehr Verlässlichkeit, das gilt besonders für die Beschäf- schungsfreiheit in gesellschaftlicher Verantwortung. Das tigten im Wissenschaftsbetrieb. Es ist großartig, dass wir heißt, es geht bei Forschung auch um größtmögliche inzwischen, gerade auch im Wissenschaftssystem, das Transparenz und um Technikfolgenabschätzung. Es geht Einwanderungsland schlechthin sind und weltweit auf darum, Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen. Platz drei stehen. Aber es geht eben auch um die prekä- Eine fundamentale Voraussetzung dafür ist es, für eine ren Beschäftigungsverhältnisse an unseren Hochschulen. kluge Wissenschaftsarchitektur und eine auskömmliche Das muss besser werden, vom wissenschaftlichen Nach- Grundfinanzierung der Hochschulen als Herzstück des wuchs bis zur Tenure-Track-Professur. Wissenschaftssystems zu sorgen. Notwendig sind bessere Arbeitsbedingungen, mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Vielfalt, mehr Weltoffenheit, Geschlechtergerechtigkeit Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Deswegen ge- und Familienfreundlichkeit. Wir haben dazu längst Ini- ben wir 1,17 Milliarden Euro an die Länder tiativen vorgelegt. Von Ihnen kommen bisher nur warme und übernehmen die BAföG-Kosten!) Worte. Legen Sie dem Parlament endlich etwas vor, um Gut ist, dass Sie ein Paket der Wissenschaftspakte auf Wissenschaft als Beruf attraktiver zu machen. Wir wol- den Weg gebracht haben. Aber das reicht nicht. len faire Karrieren statt prekäre Befristungen. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Was machen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denn Ihre Länder? Herr Gehring, was machen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) die Grünen in den Ländern?) Forschung geht im Übrigen nicht ohne Bürgerschaft. (D) Wir erwarten, dass Sie die neue Verfassungsrealität ab Für echte Bürgerpartizipation im Forschungsprozess ha- dem 1. Januar 2015 mit Leben erfüllen, mit der dauer- ben Sie aber kein stimmiges und verbindliches Konzept. hafte institutionelle Kooperationsmöglichkeiten in der Welche Reichweite und welche Beteiligungsformate Wissenschaft ermöglicht werden. Das gilt es – bitte wollen Sie eigentlich? Was geschieht mit den Ergebnis- schön – dann auch zu nutzen. Im Bundeshaushalt 2015 sen? Wer stellt die entscheidenden Forschungsfragen? fehlt davon jede Spur. Da muss mehr kommen. Welche Rückwirkungen haben Sie auf die Weiterent- wicklung der Hightech-Strategie? Auch hierzu ist im (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Was machen Haushalt 2015 nichts abzulesen. Wir brauchen deutlich die Grünen in den Ländern?) mehr Citizen Science und weniger Überschriften. Wer eine Tür öffnet, der muss auch hindurchgehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sowie bei Abgeordneten der LINKEN) René Röspel [SPD]: Das ist ein falscher An- Seit neun Jahren wird das Forschungsressort von der satz!) Union verantwortet. Seitdem vernachlässigen Sie kleine – Wir wollten das Kooperationsverbot für Bildung und und mittlere Unternehmen, die oft wichtige Quellen und Wissenschaft abschaffen. Ihr geht halbherzig vor. Die Treiber für Innovationen sind. Im Rahmen von Förder- Kooperation im Bereich der Wissenschaft ist jetzt mög- programmen werden ein paar Schräubchen gedreht. Was lich. Also, los geht’s. den KMU aber fehlt, ist eine steuerliche Forschungsför- derung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt viel zu tun, etwa den Pakt für den wissenschaftli- chen Nachwuchs. All das gilt es auf den Weg zu bringen, Wir wollen Entwicklungsvorhaben von KMU durch eine sonst bleibt diese Verfassungsänderung folgenlos. Es 15-prozentige Steuergutschrift auf Sach- und Personal- bringt doch nichts, wenn sie nur auf dem Papier steht, kosten unterstützen. Greifen Sie diesen Vorschlag end- auch wenn es die Verfassung ist. lich auf. Er ist definitiv zielgerichteter als die skurrilen Patentboxen, über die Herr Schäuble sinniert. Forschung ist für unsere wissensbasierte Ökonomie zentrale Zukunftsvorsorge. Mit nur 3 Prozent des Brutto- inlandsprodukts für Forschung und Entwicklung werden Präsident Dr. Norbert Lammert: wir als Wissensnation im internationalen Innovations- Herr Gehring, achten Sie auf Ihre Redezeit? 6884 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine baden-württembergische Heimat nimmt übri- (C) Ich komme zum Schluss. gens innerhalb Europas mit über 5,1 Prozent FuE-Inten- sität den Spitzenplatz ein. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie schön. Eine ganz starke Landesregierung!) Dies ist zweifellos ein Hauptgrund für unsere wirtschaft- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): liche Stärke im Südwesten. Die Forschungs-, Wissenschafts- und Innovations- Auch der aktuelle Forschungs- und Innovationsbe- politik muss sich viel stärker zum Anliegen der gesam- richt, über den wir heute diskutieren, bestätigt, dass der ten Bundesregierung entwickeln. Sie hat mehr Tatkraft Standort Deutschland in den letzten Jahren weiter an At- verdient, um die großen Herausforderungen vom demo- traktivität gewonnen hat; die Ministerin hat es bereits er- grafischen Wandel bis zur Digitalisierung zu schultern. wähnt. Knapp 600 000 Menschen sind in Deutschland in Dafür, liebe Koalition, braucht es mehr Substanz und Forschung und Entwicklung tätig. Allein zwischen 2005 mehr Mittel statt wohlklingender Worte. und 2012 sind in diesem Bereich – unter anderem dank der Exzellenzinitiative – 114 000 neue Arbeitsplätze ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) standen.

Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stefan Kaufmann ist der nächste Redner für die CDU/ Fünf der zehn forschungsstärksten Unternehmen Euro- CSU-Fraktion. pas kommen heute aus Deutschland. Beim Export von forschungsintensiven Gütern bildet Deutschland mit ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nem Anteil von rund 12 Prozent am Welthandelsvolu- neten der SPD) men hinter China die Weltspitze, noch vor den USA und Japan. Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Bei den transnationalen Patentanmeldungen ist Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland führend in Europa und liegt weltweit an Meine Damen und Herren! Lieber Kai Gehring, nach- dritter Stelle. Die gegenwärtig gute Stellung vor allem dem von Ihnen ein grünes Zerrbild von Deutschland ge- innerhalb Europas und der Wohlstand Deutschlands kön- zeichnet wurde, will ich zu dem zurückkommen, was uns nen aber angesichts des sich weiter verschärfenden glo- eigentlich heute beschäftigt, nämlich die Forschungs- balen Wettbewerbs nur mit einer breiten Wissens- und (B) (D) und Innovationspolitik. Innovationsbasis behauptet und ausgebaut werden. Ge- nau hier setzt die Hightech-Strategie an, und zwar mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- drei Zielrichtungen: neten der SPD) Erstens bündeln wir zentrale Handlungsfelder zur Ich war vor kurzem zu Besuch in Israel, und ich war Förderung von Forschung und Innovation innerhalb der beeindruckt von der Innovationskraft und dem Gründer- Bundesregierung. Zweitens setzen wir Prioritäten in aus- geist dort. Das Weizmann-Institut ist eines der innova- gewählten Bereichen, und drittens verfolgen wir neue tivsten der Welt. Die Konkurrenz – das sieht man dort Ansätze in der Querschnittsförderung von Innovationen. sehr deutlich – schläft also nicht. Aber auch wir sind im harten internationalen Wettbewerb gut aufgestellt, und Hightech ist also zukünftig eine Querschnittsaufgabe. mit der neuen Hightech- und Innovationsstrategie, die Das entbindet uns aber nicht von der Herausforderung, wir heute diskutieren, wird es noch besser, meine Damen klar zu sagen, wer am Ende bei der Umsetzung den Hut und Herren. aufhat. Wie ist die Ausgangslage? Wir stehen bei ganz vielen Was wollen wir konkret mit der neuen, auf der erfolg- Parametern hervorragend da. Viele Staaten kopieren die reichen Hightech-Strategie aufbauenden, ressortübergrei- deutsche Hightech-Strategie, sei es Frankreich mit Un- fenden Innovationsstrategie erreichen? Wirtschaft und terstützung der Fraunhofer-Gesellschaft oder die USA Wissenschaft werden mit Unterstützung der Bundesregie- mit ihrer gigantischen Advanced Manufacturing rung in zahlreichen Projekten zusammenarbeiten, zum Strategy. Mit unserem fortgesetzten Commitment zur Beispiel zur Förderung der Elektromobilität oder der digi- Forschung haben wir das 3-Prozent-Ziel der Europa- talen Fertigungsprozesse, Stichwort „Industrie 4.0“. 2020-Strategie bereits 2012 erreicht, lieber Kai Gehring. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zusammengenommen haben Staat, Wirtschaft und Wis- Bei der Elektromobilität fährt der Zug doch senschaft in Deutschland ihre Ausgaben für Forschung gerade ab!) und Entwicklung sogar auf den Rekordwert von mehr als 79 Milliarden Euro im Jahr 2012 gesteigert. Damit liegt Wichtig ist in diesem Kontext, dass die Industrieunter- Deutschland im europäischen Vergleich in der Spitzen- nehmen in der vorwettbewerblichen Phase enger zusam- gruppe. menarbeiten. Die anbrechende Konnektivität der Ferti- gungsbereiche durch Industrie 4.0 erfordert eine kreative (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kooperation der Unternehmen innerhalb des „Industrie- der SPD) clusters Deutschland“. Ziel ist es, durch Hochtechnolo- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6885

Dr. Stefan Kaufmann (A) gie und innovative Geschäftsmodelle auf den etablierten Die Union steht – ich betone das gerne – weiterhin (C) Technologien aufzubauen. zur Spitzenforschung. Wir müssen dagegenhalten, wenn deutsche Unternehmen ihre FuE-Aktivitäten im Bereich Zugleich sollen in dieser Legislaturperiode neue In- der Spitzentechnologien immer mehr ins Ausland verla- strumente eingesetzt werden, um den Transfer von Ideen gern, wie es im EFI-Bericht nachzulesen ist. Klar ist in Produkte weiter zu verbessern. Hierin, in der Innova- – darüber sind wir uns im Hause einig –: Spitzenfor- tionsumsetzung und im Transfer von der starken Grund- schung braucht die besten Köpfe. lagenforschung zum marktfähigen Produkt, liegen nicht nur meines Erachtens die größten Defizite und damit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch die größten Herausforderungen für uns. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Es ist deshalb richtig, dass die Max-Planck-Gesellschaft Willi Brase [SPD]) und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung wie auch die Das ist im Übrigen nicht nur eine Frage der Kultur, Deutsche Forschungsgemeinschaft ihre Arbeit darauf Stichworte „Gründermentalität“, „Umgang mit Risiken“, konzentrieren, die besten Köpfe nach Deutschland zu „Verfügbarkeit von Wagniskapital“ und vieles mehr. All holen oder hier zu halten. Es ist deshalb richtig, dass Ex- das konnte ich bei meinem eingangs erwähnten Besuch zellenz weiterhin wichtigstes Kriterium bei der Vergabe in Israel hautnah erleben. von Geldern aus deutschen oder europäischen Förder- töpfen an Forscher oder Institute ist. Es ist deshalb rich- Apropos Risikofinanzierung. Warum tun wir uns hier tig, dass wir den außeruniversitären Forschungseinrich- eigentlich so schwer? Geld gibt es hierzulande genug. Es tungen im Pakt für Forschung und Innovation jährliche muss eben nur aktiviert werden. Ja, Innovation und Etatsteigerungen zugesagt haben und die DFG jetzt mit Technologietransfer brauchen auch die richtigen finan- der erhöhten Programmpauschale unterstützen. ziellen Rahmenbedingungen. Dazu gehören zum Beispiel Anreize für den Einsatz von Wagniskapital, innovations- Ein weiteres wichtiges Feld ist die Standardisierung. fördernde Regelungen beim Crowdfunding oder Verbes- Wer die Standards setzt, hat die Kontrolle. Hier muss serungen bei der Innovationsfinanzierung kleiner und sich die deutsche Wirtschaft international noch viel mehr mittlerer Unternehmen; Kollege Riesenhuber wird dazu einbringen als bisher. Ich befürchte, dass die Bedeutung noch einiges ausführen. der Standardisierung und standardessenzieller Patente dort noch nicht richtig angekommen ist. Das ist übrigens Die Umsetzung der neuen Hightech-Strategie soll von auch eine Erkenntnis aus dem EFI-Bericht, die wir ernst einem neuen Hightechforum begleitet werden, in dem nehmen müssen. Gerade im Bereich der IKT hängt der zentrale Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesell- Geschäftserfolg maßgeblich von Standards ab, die man (B) schaft vertreten sind. Diesem Hightechforum kommt eine selbst mitgestaltet. (D) enorm wichtige Rolle zu. Es muss schlank und schlag- kräftig sein, damit es effektiv zur Vernetzung aller inno- Was müssen wir noch tun? Wir sollten darüber nach- vatorischen Kräfte beitragen kann. Zum Erfolg wird die denken, ob und wie wir unsere Hochschulausbildung an- Strategie dann werden, wenn wir bewusst unsere Stärken passen müssen, beispielsweise bei der Einrichtung neuer stärken. Studiengänge wie Data Engineering. Da wir schon bei den Hochschulen sind – ich weiß, dass das seit Jahren Was heißt das nun? Erstens. Wir müssen unser leis- wiederholt wird –: Wir müssen die MINT-Fächer noch tungsfähiges differenziertes Wissenschaftssystem mit weiter stärken; denn MINT ist die Grundlage aller Inno- starken Hochschulen angemessen ausstatten. Das sage vation. Hier bereitet mir eine Entwicklung große Sorge. ich vor allem auch an die Adresse der Länder. Zweitens. Nach Ergebnissen einer Untersuchung der Vodafone- Wir müssen auf unserem robusten industriellen Funda- Stiftung und dem Allensbach-Institut von letzter Woche ment aufbauen und Cluster bilden von exportorientier- haben trotz vielerlei öffentlich geförderter Programme ten, forschungsstarken Unternehmen, Hochschuleinrich- nur 6 Prozent der Schüler Interesse an Computerberufen. tungen und außeruniversitären Forschungsinstituten, Jetzt kommt’s: Bei Schülerinnen sind es noch weniger, eine klassische Win-win-win-Situation. nämlich 0,5 Prozent. So wird die Frauenquote weder in Im Prinzip ist es das, was die Fraunhofer-Gesellschaft der Wissenschaft noch in der Wirtschaft auf absehbare mit ihren nationalen Leistungszentren vorhat: die Profil- Zeit erfolgreich sein. Wir brauchen aber gerade Frauen und Exzellenzbildung an Forschungsstandorten um the- in diesen zukunftsträchtigen und zukunftsfähigen Berei- matische Cluster herum und am Ende die Verbindung chen. mehrerer Cluster zu einem leistungsfähigen, interna- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und tional sichtbaren Forschungsraum. Zwei Beispiele: das der SPD) DRESDEN-concept zur Funktionsintegration mikro- und nanoelektronischer Systeme oder das Freiburger Es bleibt also einiges zu tun, und das möglichst Cluster zum Thema Nachhaltigkeit. schnell. Bauen wir auf unsere im internationalen Ver- gleich sehr gute Infrastruktur, auf die Rechtssicherheit in (Beifall bei der CDU/CSU) unserem Land und auf unsere sehr gut ausgebildeten jun- Die beteiligten Cluster können übrigens neue Cluster gen Leute! Gerade in der Verzahnung unserer starken sein oder solche, die beispielsweise bereits im Rahmen dualen Berufsausbildung mit der Hochschulbildung liegt des Spitzenclusterwettbewerbs der alten Hightech-Stra- eine unserer größten Stärken für den Innovationsstand- tegie entstanden sind. ort. Es gibt daher guten Grund, wie wir es ja auch hier 6886 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Stefan Kaufmann (A) regelmäßig tun, die berufliche Bildung hochzuhalten ler Initiativen, aller Cluster, aller Portale, aller Agenden, (C) und für die berufliche Bildung zu streiten. aller Kompetenzzentren, aller Zukunftsprojekte usw. usf. Sie haben so lange gebündelt, bis keiner mehr weiß, was (Beifall bei der CDU/CSU) in dem Bündel drin ist. Lassen Sie mich ein Fazit ziehen und dabei abschlie- (Beifall bei der LINKEN) ßend noch einmal die Gesellschaft in den Blick nehmen. Innovationen gedeihen in einer Gesellschaft, die Chan- Allerdings kommt das Wort „Friedensforschung“ in cen ergreift, nicht in einer Gesellschaft, die sich in Risi- Ihren langen Texten nicht vor, dafür an allzu vielen Stel- kovermeidung ergeht. Nur eine der Zukunft zugewandte len das Wort von der Verwertungslogik. Ich finde, wer Gesellschaft bietet Raum für Innovationen, Raum, der die Erotik am Kreativen so auf Verwertung reduziert, der sich durch die Dynamik der Digitalisierung in einem un- hat von Erotik nicht viel verstanden. geahnten Maße erweitert. Angesichts des demografi- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – schen Wandels in diesem Land sehen wir uns da einer Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und was kommt doppelten Herausforderung gegenüber. Unseren Wohl- jetzt? Kriegen wir jetzt eine Belehrung?) stand können wir jedenfalls nur mit Qualität und Hoch- technologie verteidigen. Das müssen wir jeden Tag aufs Wirtschaftsverbände, Wissenschaftsexperten fällen Neue auch öffentlich sagen. Ich habe es schon gesagt: ihr Urteil, das in der Kurzfassung lautet: Die Regierung Heute Morgen im Morgenmagazin war alles, was wir lobt sich für Milliardenausgaben für Hightech, Unter- heute im Bundestag diskutieren, Thema – nur nicht die nehmen sind enttäuscht, Investitionen haben nicht ge- Hightech-Strategie. Auch das ist bezeichnend. zündet; gefördert werden nur die üblichen Verdächtigen. – Sie haben Ihren Plan vom Glück „Strategie“ genannt und Den Kampf um die billigsten Produkte – den werden sich damit in eine Falle begeben. Das Wort „Strategie“ wir verlieren. Den Kampf um die besten Produkte – den kommt bekanntlich aus dem Griechischen, stratēgós wollen wir aber gewinnen. – ursprünglich die Kunst der Kriegsführung –; heute (Beifall bei der CDU/CSU) verstehen wir unter Strategie: Deshalb ist diese Hightech-Strategie so wichtig. Vor die- Strategie beschreibt einen angestrebten Zielzustand sem Hintergrund unterstütze ich ausdrücklich die um- und den Weg dorthin. fangreichen Aktivitäten der Bundesregierung im Rah- men der Hightech-Strategie. 11 Milliarden Euro pro Ziele und Wünsche beschreiben Sie in Menge. Den - Jahr, das ist ein Wort. Lassen Sie uns gemeinsam weiter Weg dorthin bleiben Sie schuldig. Ganze eineinhalb Sei ten am Abspann mit dem Titel „Umsetzung“, das er- hart an der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und der scheint so, als wäre Ihnen aufgefallen: Hoppla, da fehlt (B) Zukunft unseres Landes arbeiten. (D) doch noch was. Herzlichen Dank. Was Sie hier Strategie nennen, ist ein folgenloses (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sammelsurium von wohlklingenden, aber inhaltsleeren neten der SPD) Wünschen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Der Kollege Roland Claus ist der nächste Redner für Tucholsky würde wohl sagen: Man kann getrost für die Fraktion Die Linke. diese wissenschaftliche Revolution stimmen, mit dieser Regierung kommt sie bestimmt nicht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da war Roland Claus (DIE LINKE): mir Luther lieber!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- desregierung hat also einen Plan. „Die neue Hightech- Während Sie hier über die Zukunft schwadronieren, Strategie“, das klingt sehr selbstbewusst. Aber ich muss holt Sie die Gegenwart ein. Die Staatsanwaltschaft Mün- Ihnen auch sagen: Zwischen Selbstbewusstsein und An- chen machte vor zwei oder drei Tagen eine Razzia we- maßung liegt manchmal nur ein schmaler Grat. gen Korruptionsverdachts bei einem Ihrer vielgeförder- ten Musterschüler, nämlich bei der militärischen Sparte (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das merkt man von Airbus, der Airbus Defence and Space GmbH. Diese bei euch!) GmbH ist ein mindestens siebenfacher Zuwendungs- Ihr Text sagt: „Deutschland auf dem Weg zum welt- empfänger des Bundesministeriums für Bildung und weiten Innovationsführer“; Ihr Text sagt: Deutschland Forschung. Das ruft doch nach Aufklärung, meine Da- als „führende Wirtschafts- und Exportnation“. Mit Ver- men und Herren, auch in Ihrem Ministerium. laub, meine Damen und Herren: Hier ist die Grenze zwi- Deshalb, Frau Ministerin: Sie können sich nicht in die schen Selbstbewusstsein und Anmaßung weit überschrit- Zukunft flüchten, solange Sie hier und heute Ihre För- ten. Das ist doch Anmaßung pur. derpolitik nicht im Griff haben. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Albert Rupprecht Die Vorlage sammelt so ziemlich alle Schlagworte, [CDU/CSU]: Was war das für ein unterirdi- die wir kennen, Schlagworte aller Gipfel, aller Pakte, al- scher Beitrag?) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6887

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: schaft entstanden sind: ökologische Probleme, die (C) Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Hubertus Knappheit von Ressourcen, der Klimaschutz. Ich glaube, Heil das Wort. dass wir mit der Energieforschung, die wir auf den Weg bringen, nicht nur einen Beitrag dazu leisten können, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dass wir in Deutschland im Rahmen der Energiewende eine bessere Energieversorgung bekommen. Wir können Hubertus Heil (Peine) (SPD): die Lösung, die wir hier haben, auch exportieren. Die Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Weltbevölkerung wächst. Es wird ein Riesenenergiehun- ren! Lieber Herr Claus, es geht aber um etwas anderes. ger auf der Welt da sein. Wenn wir deutsche Produkte, Es geht um drei Vorlagen, die wir heute diskutieren, Verfahren und Dienstleistungen exportieren und so mit- nämlich um den Bundesbericht Forschung und Innova- helfen können, dass es ökologischere, wirkungsvollere tion, das Gutachten der Expertenkommission und die Verfahren auf der Welt gibt, dann leisten wir mit deut- neue Hightech-Strategie der Bundesregierung. Wenn Sie scher Forschung und Anwendung tatsächlich einen Bei- fragen, welchen Innovationsbegriff wir zugrunde legen, trag dazu, dass wir dieses Menschheitsproblem angehen dann sage ich Ihnen: Schauen Sie bitte in die Papiere, können. und verbreiten Sie nicht so ein Zeug! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Ganz klar ist, dass wir spätestens seit Joseph Meine Damen und Herren, neben Demografie, Digi- Schumpeter wissen, dass Invention und Innovation zwei talisierung, knappen Ressourcen geht es auch um die verschiedene Dinge sind, die aber zusammenhängen. Frage, welchen Beitrag Wissenschaft und Forschung in Das heißt, es geht nicht allein darum, Dinge zu erfinden Deutschland leisten können, wenn es darum geht, der In- oder Prototypen auf den Weg zu bringen; es geht auch ternationalisierung von Politik und Wirtschaft etwas Gu- darum, dass daraus tatsächlich Produkte, Verfahren und tes abzugewinnen. Ich meine da durchaus auch geistes- Dienstleistungen werden und – ich füge das hinzu – dass wissenschaftliche Forschung. Wir erleben bei den aus technischem und wirtschaftlichem Fortschritt auch internationalen Konflikten, die es im Moment auf der gesellschaftlicher und sozialer Fortschritt wird. Das ist Welt gibt, dass es wichtig ist, dass wir Konfliktfor- unser Innovationsbegriff, und der findet sich auch in der schung, Friedensforschung, zivile Forschung miteinan- Hightech-Strategie wieder. der voranbringen. Herr Claus, das können Sie nicht leug- nen: Seit Sozialdemokraten da mitmachen, kommt das (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) auch wieder ein Stück weit stärker voran; das erkennen Sie, wenn Sie in den Haushalt gucken. Darauf sind wir (B) Wir müssen dann fragen, ob wir gut sind und ob wir (D) gut aufgestellt sind, was unsere Hightech-Strategie, un- durchaus stolz. sere Forschung und Entwicklung betrifft, um auch die (Beifall bei der SPD – Roland Claus [DIE großen Fragen unserer Zeit zu beantworten. Wenn es da- LINKE]: Aber das kommt nicht vor in dem rum geht, mit wissenschaftlichem und technischem Fort- Papier!) schritt gesellschaftliche Probleme, wenn Sie so wollen, Menschheitsprobleme anzugehen, dann liegen vor allen Wo stehen wir heute? Da ist Licht und Schatten; das Dingen vier große Fragen vor uns, beispielsweise die ist richtig. Dafür gibt es den EFI-Bericht. Aber grund- Frage, was wir tun können, um mit technischem Fort- sätzlich – darauf haben die Kollegen der Koalition hin- schritt in Deutschland den demografischen Wandel posi- gewiesen – steht Deutschland gut da. Wir sind beim tiv zu begleiten, oder die Frage, was wir tun können, um Innovationsindex der Europäischen Union an der Spitze. zu erreichen, dass aus Digitalisierung – das Stichwort ist Wir haben ein Wachstum der Mittel. Was das 3-Prozent- hier schon mehrfach gefallen – Positives wird, etwa Ziel angeht, so sind wir inzwischen – um genau zu sein – wenn es um Datensicherheit geht. Die Frage ist aber bei 2,98 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das sind auch: Was ist Arbeit 4.0? Der Kollege Röspel hat am massive Steigerungen. In dieser Zeit gab es bei For- Beispiel der Fraunhofer-Institute in Dortmund darauf schung und Entwicklung tatsächlich einen Rekordauf- hingewiesen. Dort gibt es übrigens nicht nur schlaue wuchs, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Be- Techniker und Logistiker, sondern auch Wissenschaftler, reich. Wir haben in diesem Land auch eine gute die mit Arbeitssoziologen zusammenarbeiten wollen, Grundstruktur, nämlich innovative Unternehmen, vor al- um zu erforschen: Was heißt „Arbeit 4.0“? Welche Qua- len Dingen mittelständische Unternehmen, die berühm- lifikationsanforderungen brauchen wir in dieser neuen ten Hidden Champions, die auf den Märkten der Welt Welt, bei dieser industriellen Revolution? Ich finde, dass nicht mit den billigsten, sondern mit den besten Produk- wir da auf dem richtigen Weg sind, auch mit der High- ten und Verfahren erfolgreich sind, weil sie eben mehr in tech-Strategie. Forschung und Entwicklung investieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dazu gehören übrigens auch ein leistungsfähiges Sys- der CDU/CSU) tem forschender Unternehmen und von Hochschulen und – darum beneiden uns einige in der Welt – sehr Es geht auch um die Frage, wie wir mit technischem, starke außeruniversitäre Forschungseinrichtungen mit naturwissenschaftlichem und wissenschaftlichem Fort- klaren Aufgabenschwerpunkten. Die außeruniversitäre schritt mithelfen können, mit Mitteln der Industriegesell- Forschungslandschaft, die wir in Deutschland haben, schaft Probleme zu lösen, die aus der Industriegesell- wird mittlerweile weltweit kopiert. Man muss nur ein- 6888 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Hubertus Heil (Peine) (A) mal – wir waren vor kurzem dort – mit Verantwortlichen (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) in China oder in Vietnam sprechen. Sie fragen uns: Wie Und was ist mit dem Befristungsunwesen an macht ihr das mit Max Planck, Helmholtz, Leibniz, DFG den Hochschulen?) und Fraunhofer? Wie kommt ihr eigentlich bei Grundla- genforschung und anwendungsorientierter Forschung – Ja, wir werden auch das Wissenschaftszeitvertragsge- zurecht? Wie habt ihr das auf die Beine gestellt? – Das setz ändern. Wir müssen auch mehr für den wissen- ist nicht unser Problem. schaftlichen Nachwuchs tun. Aber im Sinne der Fairness fände ich es anständig, wenn auch die Opposition aner- Ich füge aber, Herr Gehring, hinzu: Zu einem guten kennen würde, dass diese Regierung in einem Jahr wirk- Forschungs- und Wissenschaftssystem gehört, dass wir lich eine ganze Menge auf den Weg gebracht hat, meine das Herzstück, nämlich die Universitäten, die Hochschu- Damen und Herren. len in diesem Land, stärken, auch was die Forschung be- trifft. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. [CDU/CSU]) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Das EFI-Gutachten bringt zum Ausdruck, wo Licht und Schatten ist und wo noch Aufgaben zu bewältigen Das heißt, wir müssen die Qualität der außeruniversitä- sind. Beispielsweise ist es, wie ich finde, kein gutes ren Forschung halten, den Aufwuchs, den wir auf den Signal, dass deutsche Unternehmen dreimal mehr im Weg gebracht haben, verstetigen und gleichzeitig dafür Ausland als in Deutschland in Forschung und Entwick- sorgen, dass unsere Hochschulen vorankommen. Da lung investieren. Darüber müssen wir uns unterhalten: werden wir im nächsten Jahr noch eine ganze Menge zu Was sind die Standortfaktoren für Forschungs- und Ent- tun haben. Wir haben allerdings schon eine ganze Menge wicklungsinvestitionen? Es ist nicht schlecht, wenn auf den Weg gebracht, beispielsweise mit dem Hoch- große oder mittelständische deutsche Unternehmen, die schulpakt. international aufgestellt sind, auch in anderen Ländern (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – das ist ja marktnäher – Forschung und Entwicklung Aber nichts anderes habe ich doch gesagt!) aufbauen. Aber wir müssen im Interesse der Investitio- nen in Deutschland auch über die Rahmenbedingungen Es wird nächstes Jahr auch um die Exzellenzinitiative von Investitionen bei uns reden. Dabei geht es nicht im- gehen. Auch dieses Thema wird die Koalition miteinan- mer nur um Steuersätze und monetäre Anreize, sondern der angehen, meine Damen und Herren. es geht an dieser Stelle auch um Offenheit, um die Ak- zeptanz von Innovationen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) (D) der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ Hier schließt sich der Kreis: Wir werden die Akzep- DIE GRÜNEN]: Hauen Sie doch rein! Auf tanz für technischen, für industriellen Fortschritt nur geht’s! Dann machen Sie es doch!) dann hinbekommen, wenn klar ist, welche Chancen und – Ja, auf geht’s! Ich meine, es kann ja nicht sein, Kai Risiken es gibt; denn es gibt keinen Fortschritt ohne Ri- Gehring, dass ihr sagt: Nicht immer nur Wachstum, siko. Hier muss eine Abwägung vorgenommen werden. Wachstum, Wachstum. – Das habe ich vorhin gehört. Ich Es muss auch immer ganz klar sein, welchen sozialen frage mich, was denn eure Alternative ist. „Schrumpfen, Fortschritt Forschung oder Entwicklung bzw. der indus- schrumpfen, schrumpfen“ kann es ja auch nicht sein. trielle Fortschritt mit sich bringen. Das ist der Zusam- menhang. Deshalb ist es richtig, dass es keine reine (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Hightech-Strategie mehr ist, sondern im besten Sinne SPD) des Wortes eine Innovationsstrategie, auch im Hinblick auf sozialen Fortschritt, meine Damen und Herren. Aber ganz ernsthaft: Wenn ich höre: „Das ist ja alles ganz gut, aber noch nicht genug“, dann kommt mir das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch ein bisschen wie Tonnenideologie vor. der CDU/CSU) Wir haben in dieser Großen Koalition in einem Jahr Da kommen dann vermeintlich weiche und harte Fak- im Bereich Bildung und Forschung mehr auf den Weg toren zusammen, beispielsweise im Hinblick auf Unter- gebracht, als in den vier Jahren zuvor erreicht wurde. nehmensgründungen. In dieser Stadt, in Berlin, kann Darauf bin ich stolz. man übrigens beobachten, dass sich die berühmte Theo- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rie des Ökonomen Richard Florida, nach der man Ta- der CDU/CSU) lente, Technologie und Toleranz braucht, um tatsächlich eine Gründungskultur zu etablieren, bestätigt. Diese Wir haben nicht nur den Artikel 91 b des Grundgesetzes Stadt Berlin ist weltoffen, und hochattraktiv. Wir haben geändert, sondern wir haben auch den Hochschulpakt hier inzwischen eine hochspannende Gründerszene. auf den Weg gebracht. Wir haben tatsächlich einen Pakt Junge Menschen – nicht nur aus Skandinavien, sondern für Forschung und Innovation geschlossen. Wir haben auch aus Israel und vielen anderen Teilen der Welt –, im Rahmen der BAföG-Reform Milliarden von Euro zur gute Köpfe, kommen hierher, weil Berlin eine weltof- Verfügung gestellt; diese Mittel können die Länder in fene, spannende Stadt ist – mit viel Kultur. Gleichzeitig Bildung investieren. Wir haben außerdem das Grundge- verbindet sich das mit Technologie und mit Talenten. setz geändert. Das gehört zusammen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6889

Hubertus Heil (Peine) (A) Wenn wir es in den nächsten Jahren schaffen, auch für Stephan Albani (CDU/CSU): (C) die notwendigen harten Bedingungen zu sorgen – hier Hightech, genau, und man hat sie verstanden. Das geht es nicht nur um Wagnis- und Gründungskapital im nennt man intuitive Hightech. Allgemeinen, sondern vor allen Dingen auch um Wagnis- kapital im Hinblick auf das Wachstum von Start-ups –, (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Genau! Da dann, glaube ich, sind wir auf dem richtigen Weg. Ich muss man aber auch die Gefühle haben! – Hei- gebe aber zu, dass wir uns da beeilen müssen; denn Tat- terkeit) sache ist, dass die Digitalisierung ein Megatrend ist. – Genau. Wenn wir in Deutschland zwar eine Wertschöpfungs- kette von klassischen Grundstoffindustrien über produ- „Wer nichts im Boden hat, der muss was in der Birne zierende Unternehmen bis zu kleinen Hightechschmie- haben“ – so der Kollege Bosbach. Es wurde – auch den haben, aber die Ausrüster der Digitalisierung alle heute – viel Merkwürdiges in diesem Hause gesagt. Dass eher in Amerika oder anderswo sitzen, dann ist es dieser Ausspruch mehr als würdig ist, ihn sich zu mer- höchste Zeit für gemeinsame Initiativen von Wirtschaft, ken, zeigt die heutige Diskussion; denn er beschreibt Finanzwirtschaft und Politik, um beispielsweise im Be- treffend, warum wir heute über die deutsche Hightech- reich der Wachstumsfinanzierung voranzukommen. Strategie sprechen. Ich füge als Nichtlandwirt und Phy- siker hinzu: Wenn die Birne dann auch noch leuchtet, Aber es ist nicht so, liebe Kolleginnen und Kollegen haben wir etwas richtig gemacht. von der Opposition, dass da nichts passiert. Unterhalten Sie sich einmal darüber – wir haben vorhin Kerstin (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh!) Andreae in den Verwaltungsrat der KfW gewählt –, was die KfW inzwischen auf den Weg gebracht hat, um als Dass wir etwas richtig gemacht haben, zeigt auch die Ankerinvestor für Wachstumsfinanzierung voranzukom- weitere Entwicklung. Eine Hightech-Strategie setzt sich men. aus zwei Faktoren zusammen: zum einen aus der Weiter- entwicklung bewährter Instrumente und zum anderen (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: natürlich aus neuen Ansätzen. Die Erfolge der bisheri- Das ist doch nicht für kleine Start-ups!) gen Instrumente kennen wir, und wenn dann die Opposi- tion zu den neuen Ansätzen sagt: „Das hätten wir kaum Präsident Dr. Norbert Lammert: besser machen können“, dann, denke ich, sind wir auf Herr Kollege Heil. dem richtigen Weg. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das war der Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herr Gehring! Ich habe das nicht gesagt! – Kai (B) (D) Ich denke, damit muss man sich nur ein wenig aus- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das einandersetzen. war die Opposition!) Zum Schluss, Herr Präsident, Folgendes: Ich denke, – Ist doch gut, dass Sie sich davon distanzieren; denn er dass wir finanziell und konzeptionell mit der Hightech- hat es ja richtig gesagt. Strategie auf einem guten Weg sind, und ich füge hinzu: Für uns gehören wissenschaftlicher und technischer (Heiterkeit der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE Fortschritt und auch sozialer Fortschritt dazu. Dies wird LINKE] – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Da einen Beitrag dazu leisten, dass unser Land erfolgreich lege ich Wert drauf!) bleibt. Denn kaum ein anderes innovationspolitisches Thema ist Herzlichen Dank. von so zentraler Bedeutung. Schließlich verantworten forschungsintensive Produkte und Dienstleistungen rund (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 45 Prozent der deutschen Wertschöpfung. Warum das so ist und worauf es in der weiteren Entwicklung ankommt, Präsident Dr. Norbert Lammert: stelle ich Ihnen analog zum Dreiklang „High, Tech und Das Wort erhält nun der Kollege Stephan Albani für Strategie“ in drei Punkten vor. die CDU/CSU-Fraktion. Erstens. Die Hightech-Strategie ist eine politische Er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- folgsgeschichte. neten der SPD) Zweitens. Wissenschaft und Forschung stehen im Dienste der Gesellschaft. Stephan Albani (CDU/CSU): Und drittens. Wissenschaftstransfer muss auch ver- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und mittelt und verstanden werden. Kollegen! Meine Damen und Herren! – Kann man das Pult ein bisschen herunterfahren? Beginnen wir beim ersten Punkt: Erfolgsgeschichte. Dass man gesetzte Ziele nur mit der passenden Strategie Präsident Dr. Norbert Lammert: erreicht, ist, ehrlich gesagt, klar und eine Binsenweis- Das können Sie selbst. heit. Doch meist wirken Strategien häufiger im Verbor- genen, und sie werden im Erfolgsfall sogar rückwirkend (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Hightech!) neu geschrieben. 6890 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Stephan Albani (A) Anders hier und anders auch bei Unternehmen: Sie Punkt zwei: Wissenschaft und Forschung stehen im (C) müssen nicht nur Strategien haben, sondern diese jedem Dienst der Gesellschaft. Wer sich auf seinen Lorbeeren erläutern, der potenziell in ihre Ideen investieren soll. ausruht – auch das kennen Sie aus diesem Hause –, trägt Nur so kann dieser abschätzen, ob Aussicht auf Erfolg sie an der falschen Körperstelle. Mancher Wirt- besteht. schaftsprophet glaubt heute schon, Volkswirtschaften zu kennen, die bemüht sind, uns die Lorbeeren unter In dieser Form ist Politik eher selten verpflichtet; aber dem Sitzmuskel wegzuzerren. Die Motivation dabei ist: ihr Planungshorizont ist mit vier Jahren in der Regel Wissenschaft und Forschung orientieren sich ähnlich auch wesentlich knapper bemessen. Die Hightech-Strate- wie wir alle hier im Saal an einem Auftraggeber: dem gie ist daher in ihrer Form innovativ und fast revolutionär. Wähler, dem Menschen, der Gesellschaft an sich. Dieser Seit 2006 bündelt sie ressortübergreifend die notwendigen Auftraggeber gibt daher die Ziele vor. Technologien sind Kompetenzen, um die deutsche FuE-Landschaft aufblü- Mittel zum Zweck. Sie helfen uns. Schließlich soll nicht hen zu lassen. Eine ressortübergreifende Strategie sollte mein Smartphone oder, kurzum, die Technologie defi- dabei nicht als eine geteilte Verantwortung in Summe, nieren, wer wir sind, sondern wir definieren uns, und die sondern als eine gemeinsame Verantwortung verstanden Technik steht in unserem Dienste. Daher sind natürlich und gelebt werden. auch die Geistes- und Sozialwissenschaften gleichbe- Die dafür aufgebrachten Fördermillionen werden nicht deutend neben die Hightech-Strategie zu stellen. Beide nach dem Gießkannenprinzip verteilt, sondern punktge- zielen auf die Gesellschaft als Ganzes ab. Die sechs The- nau entsprechend der Strategie in zukunftsorientierte men der neuen Hightech-Strategie definieren daher die Projekte investiert. Das – und nur das – führt zu messba- gesellschaftlich relevanten Herausforderungen und grei- ren Erfolgen. fen diese programmatisch auf. Drittens: Wissenschaftstransfer muss vermittelt und Und sie sind messbar. Aktuell: Platz eins bei den verstanden werden. Das ist der Punkt, der mir am wich- Innovationsrahmenbedingungen, Platz zwei bei den In- tigsten ist. Wissenschaft und Forschung, die im Dienste novationsfähigkeiten und Platz vier bei den Wettbe- der Gesellschaft stehen, brauchen Wissenschaftler und werbsfähigkeiten. Klare Zeugnisse und einfache Konse- Forscher, die ihre Arbeit erklären und die sich für die quenzen: Platz eins halten, Platz zwei verbessern, vier Verwertung im Sinne der Gesellschaft verantwortlich dito. fühlen. Dabei ist ganz klar: Ohne Grundlagenforschung (Beifall bei der CDU/CSU) geht es nicht. 60 Jahre Grundlagenforschung am interna- tionalen Kernforschungszentrum CERN schufen die wis- Deutschland ist hinter den USA das zweitwichtigste senschaftliche Basis für nuklearmedizinische Diagnostik (B) Zielland für FuE-Investitionen. Kürzlich wurde der Bun- ebenso wie nebenbei für das Internet, so wie wir es heute (D) deshaushalt 2015 beschlossen, der zum zehnten Mal in kennen. Angewandte Forschung fußt auf Grundlagenfor- Folge eine deutliche Mittelsteigerung für Forschung und schung. Am Ende steht dabei der Transfer. Aber hier Bildung festschreibt. Diese Innovationen sind unser haben wir ein nicht unerhebliches Problem: Ein ausge- Sprungbrett, unser Ticket in die Hightechzukunft. Von bildeter Wissenschaftler, eine ausgebildete Wissenschaft- Hightech profitiert vor allem der forschende Mittelstand. lerin haben während ihres Werdegangs – weder im Kin- Deshalb wurden Forschungskooperationen zwischen dergarten, in der Schule noch in der Uni – je gelernt, den Wissenschaft und Mittelstand im vergangenen Jahr res- Nutzen ihrer Ideen, die praktische Umsetzung, die wirt- sortübergreifend mit der Rekordsumme von 1,4 Milliar- schaftliche Verwertung als etwas Normales und im Rah- den Euro gefördert. Das sind 30 Prozent mehr als 2009. men der Prozesskette Notwendiges zu verstehen und zu lernen. So kommen angehende Akademiker bestenfalls (Beifall bei der CDU/CSU) erst am Ende ihrer Ausbildung, zum Beispiel seit einigen Das trägt Früchte: 900 Innovationen, 300 Patente und Jahren im Rahmen eines BMBF-Projektes, in die Verle- 40 Unternehmensausgründungen hat zum Beispiel das genheit, einmal einen Businessplan zu erstellen, der dann Instrument Spitzencluster-Wettbewerb als Teilinstrument häufig als notwendiges Übel empfunden wird. Hier müs- der Hightech-Strategie bereits hervorgebracht. Jeder sen wir besser werden. Hier brauchen wir einen Kultur- Euro öffentlicher Förderung löst dabei eine Folgeinvesti- wandel. tion von ungefähr 1,40 Euro seitens der Unternehmen (Beifall bei der CDU/CSU) aus. Resultat: zum Beispiel individualisierte Krebsmedi- kamente, patientenspezifische Kunstgelenke und druck- Wenn die Gesellschaft den Nutzen der Erkenntnis bare organische Elektronik made in Germany. Die Inter- aber nicht versteht bzw. nicht verstehen kann, dann wird nationalisierung der Spitzencluster, die Stärkung von es schwierig; denn was wir nicht verstehen, lehnen wir Kooperationen zwischen Unternehmen und Fachhoch- ab. So sind wir evolutionär programmiert. Das kennen schulen, weitere Förderprojekte für marktnahe Entwick- wir: Wat de Buer nich kennt, dat frät he nich, und kennt lung, all diese Instrumente verkürzen den Weg von einer he nix, frät he auch nix. Der Drang zur irrationalen Neu- wissenschaftlichen Erkenntnis zu einer marktfähigen gier, eine Art Hunger des Geistes, ist heute unsere Schlüs- Anwendung. Das stärkt den Mittelstand, den Standort selkompetenz zum wissenschaftlichen Fortschritt. Freude Deutschland und dient dabei den Menschen unmittelbar. am Experimentieren, Freude am Forschen, Freude auch am Umsetzen mit dem Mut dazu, scheitern zu können, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Freude am Fortschritt schlechthin ist das, was wir in die- Gabriele Katzmarek [SPD]) sem Hause befördern müssen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6891

Stephan Albani (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. der rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen. (C) Gabriele Katzmarek [SPD]) Dass dies allein nicht ausreicht, ist uns klar. Wir können uns zwar freuen, doch es ist notwendig, weiterhin zu Auch hier setzt die neugefasste Hightech-Strategie an, handeln. Das tun wir mit der Hightech-Strategie, die seit etwa mit neuen Initiativen im MINT-Bereich. Innova- 2006 aufgelegt ist und heute eine weitere Fortsetzung er- tionspolitik gehört in die Mitte der Gesellschaft, und das fährt. 2014 wurde sie um das Themenfeld „innovative von Kindesbeinen an. Industrie 4.0, hier schon mehrfach Arbeitswelt“ erweitert. All denjenigen, die heute kriti- erwähnt, ist da wieder ein aktuelles und schönes Bei- siert haben, dass das noch ein Stück weit fehlt, kann ich spiel. Befragt man hierzu zehn verschiedene Experten nur sagen: Lesen hilft in dieser Frage. oder Personen, die sich damit beschäftigen, erhält man, oh Wunder, zehn verschiedene Definitionen. Das ver- (Beifall bei der SPD) wirrt und überzeugt nicht zwingend. Neben dem fehlen- Der Mensch steht stärker als zuvor im Mittelpunkt der den einheitlichen Grundverständnis und Grundwissen Innovationsförderung. Demografie und Klimawandel, haben viele dann bei diesen Zukunftsthemen im Unter- nachhaltige Energie- und Rohstoffversorgung, ein zuver- bewusstsein Ressentiments. Der eine sieht düstere Bilder lässiges Gesundheitssystem, soziale Gerechtigkeit, das weltbeherrschender Maschinennetzwerke, andere füh- sind die großen Herausforderungen unserer Zeit, die nur len sich gar von ihrem Kühlschrank bevormundet, wenn mit Innovationen zu bewältigen sind. Neben technischen der sie daran erinnert, Milch zu kaufen. Zu wenige sehen Innovationen müssen wir auch soziale Innovationen in dabei die Chancen. den Blick nehmen. Innovationen entstehen in Systemen, Industrie 4.0 vernetzt Menschen und Prozesse, lässt im Zusammenspiel von Universtäten, Hochschulen und sie miteinander kommunizieren. Das ist nur folgerichtig; Unternehmen, von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Ge- denn auch in unserem Gehirn kommunizieren alle Berei- werkschaften, von Patienten, Kunden, Bürgerinnen und che miteinander. Analog gilt dafür, so wie für das, was Bürgern. wir anstreben: Bereiche, die nicht miteinander kommu- Deutschland ist in nahezu allen internationalen Ran- nizieren, sterben ab. Wir sollten in diesem Hause mit gu- kings, die sich mit Innovationsfähigkeit beschäftigen, zu tem Beispiel vorangehen. Der Tag, an dem ich das Tablet Recht in Spitzenpositionen. Diese Spitzenpositionen, nicht mehr im Fach eins der Postmappe, die ansonsten meine Damen und Herren, wollen wir behalten. Zu den wohlgefüllt ist, sehe, an dem wir über flächendeckendes wichtigen und historisch gewachsenen Stärken unserer WLAN verfügen, an dem wir alle mit einem Ja zu diesen Wirtschaft gehört die intensive und höchst produktive neuen Techniken tagtäglich unser Büro in Gestalt des Kooperation zwischen Unternehmen und den zahlrei- Tablets in der Hand tragen, ist ein Tag, an dem ich weiß, chen exzellenten Forschungseinrichtungen. Diese Ver- dass wir mit gutem Beispiel vorangehen. (B) bindung von Wirtschaft und Wissenschaft ist das zen- (D) (Beifall bei der CDU/CSU) trale Element der Hightech-Strategie. Dass das Thema „digitale Wirtschaft und Gesellschaft“ – darunter unter Ich komme zum Schluss: Erstens. Die Hightech-Stra- anderem die Themen: Industrie 4.0, intelligente Dienst- tegie, langfristige Strategien, insbesondere in Bildungs- leistung, Big Data und Cloud Computing – als prioritäre und Forschungspolitik, sind die Grundlage zu Planbar- Zukunftsaufgabe im Hinblick auf Wertschöpfung und keit und zukünftigem Erfolg. Zweitens. Wissenschaft Lebensqualität identifiziert wurde, begrüße ich aus- und Forschung werden von Menschen und für Menschen drücklich. gemacht. Menschen müssen sie verstehen können. Froh bin ich als Sozialdemokratin darüber, dass die Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, wir haben Bundesregierung die Bereiche Innovation und gute Ar- uns verstanden. beit als zusammengehöriges zentrales Themenfeld auf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- greift. Eine innovative Arbeitswelt hat faire, sichere und neten der SPD) gesunde Arbeitsbedingungen und gerechte Bezahlung als Grundlage; denn es geht uns immer um Wertschöp- fung und Lebensqualität. Präsident Dr. Norbert Lammert: Gabriele Katzmarek hat nun für die SPD-Fraktion das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wort. Ein weiterer zentraler Aspekt ist das Thema „gesun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Leben“. Gesundheit ist ein kostbares Gut. Sie beein- der CDU/CSU) flusst persönliches und gesellschaftliches Wohlbefinden ebenso wie Leistungsfähigkeit, Produktivität und Wachstum. Gabriele Katzmarek (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben in den und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Reden der Opposition gehört, die Hightech-Strategie sei Studie von Ernst & Young 2014 zur Attraktivität des eu- zu verstaubt, nicht neu genug, unkonkret und enthalte ropäischen Wirtschaftsraums belegte Deutschland als In- nur Ankündigungen. Dem möchte ich gerne hier in dop- vestitionsziel innerhalb Europas den ersten und weltweit pelter Hinsicht widersprechen. Zum einen ist eine Strate- den vierten Platz. Besonders gute Noten erhält Deutsch- gie per Definition eine grundsätzliche, langfristig ge- land derzeit für das Qualifikationsniveau der Arbeits- plante Verhaltensweise und kein Aktionsplan, kein kräfte, das soziale Klima und vor allem für die Stabilität Instrumentenkorb und auch kein Sofortmaßnahmenkata- 6892 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Gabriele Katzmarek (A) log. Doch zum anderen beinhaltet die Hightech-Strategie Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) selbstverständlich zahlreiche konkrete Aspekte. Ich Das war jetzt leichtsinnig. sagte gerade: Man muss es lesen. Hier einige Beispiele: Wir wollen die Mittelstandsförderung stärken. Ich denke Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): da zum Beispiel an das ZIM, das wir umbauen werden. Herr Claus hat hier in freundlicher Weise darauf hin- Es geht um vereinfachte Antragsverfahren. Das ist ins- gewiesen, es sei eine Anmaßung der Bundesregierung, besondere für kleine und mittlere Betriebe wichtig. darüber zu sprechen, auf dem Weg zur Spitze zu sein; er (Beifall des Abg. [SPD]) hat es in schönen Varianten ausformuliert. Herr Claus, Churchill hat einmal vor längerer Zeit gesagt: Setzt Es geht uns um die Energieforschung, und zwar um den keine kleinen Ziele! They do not have the magic to stir Bereich der Batteriesysteme und um Power to Gas. Es the people’s minds. – Sie haben nicht die Magie, die geht uns aber auch um Fachkräfte. Als letztes Beispiel Herzen der Menschen zu bewegen. – Wenn wir also lassen Sie mich die Förderinitiative zur Medizintechnik keine großen Ziele setzen, werden wir nur Kleines errei- erwähnen; auch dazu finden Sie einiges. chen. Insofern sage ich: Wir sind auf dem richtigen Weg. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Die Hightech-Strategie ist ein lebendiger und lernender Prozess. Ich lade Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen Der Wille, wirklich gut zu sein und sich der Konkurrenz der Opposition, gerne dazu ein, in den Diskurs einzustei- der Besten zu stellen, ist die Voraussetzung dafür, dass gen man überhaupt eine Chance hat, voranzukommen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wir sind mittendrin!) Dr. Hans-Joachim Schabedoth [SPD]) Insofern wünsche ich der Linken einen fröhlichen Geist und sich nicht nur hinzustellen und zu sagen: Es reicht voller Tatkraft, Mut und Unternehmungsfreude und eine nicht, es ist alt, es ist schlecht, es ist nur daneben. – fröhliche Entschlossenheit, das Beste für unser Land zu (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: erreichen. Sammelsurium!) (Roland Claus [DIE LINKE]: Das können wir Mitarbeiten hilft manchmal, meine Damen und Herren. mal annehmen! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Wir fangen in Thüringen an!) Für uns Sozialdemokraten gilt immer ein besonderer Wie haben wir die Hightech-Strategie angelegt? Las- (B) Spruch: Nicht das Bewahren macht den Fortschritt aus, (D) sondern das Weitergehen und das Weiterentwickeln. Mit sen Sie uns einen Moment über das Geld reden; denn dieser Hightech-Strategie gehen wir weiter; nun erarbei- Geld ist in gewisser Weise die Voraussetzung für den Er- ten wir Vorschläge zu ihrer konkreten Umsetzung. Da- folg. Seit 2006 haben wir die Jahresausgaben für For- mit sind wir auf dem richtigen Weg. schung um 60 Prozent gesteigert; heute liegen sie bei 14,5 Milliarden Euro. So eine Steigerung gab es noch Herzlichen Dank. nie, und sie hat uns gutgetan. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nun sagt hier Frau Sitte, die Geisteswissenschaften der CDU/CSU) seien im Rahmen der HT-Strategie ein bisschen unter- finanziert. Liebe Frau Sitte, Denken ist erstaunlich billig, gell? Präsident Dr. Norbert Lammert: Heinz Riesenhuber erhält nun das Wort für die CDU/ (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Abge- CSU-Fraktion. ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wenn ich es damit vergleiche, was es kostet, das CERN neten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: oder eine Raumstation zu errichten, dann komme ich zu Jetzt wird’s spannend! – Hubertus Heil [Peine] dem Schluss, dass man mit wenig Geld weit kommt, [SPD]: Happy Birthday to You! – Tabea wenn man die richtigen Köpfe und die angemessene Be- Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn geisterung hat. Daran wollen wir arbeiten. Claudia da wäre, würden wir jetzt singen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – – Das haben wir jetzt hinter uns. – Bitte. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Dann können Sie die Leute auch angemessen bezahlen!) Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Insofern ist die Hightech-Strategie eine kluge Integra- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und tion aus den unterschiedlichen Welten der technischen Herren! Vielen Dank für die freundliche Gratulation; Entwicklung, der Betrachtung der gesellschaftlichen aber die Musikalität ist nicht die beste Eigenschaft des Folgen, der Integration in ein Gesamtsystem, aber auch Parlaments. ein erstaunlich harmonisches Zusammenspiel der ver- schiedenen Ministerien, die durchaus in Eigenständig- (Heiterkeit – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/ keit – einer hat darauf hingewiesen –, aber in dem glei- DIE GRÜNEN]: Oh!) chen Geist, der unsere Bundesregierung auszeichnet, mit Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6893

Dr. Heinz Riesenhuber (A) der gleichen Strategie und mit dem gleichen Verständnis Dabei sind wir uns natürlich alle darüber im Klaren, (C) unserer Zukunft und der Aufgaben, die auf uns zukom- dass wir hier – das ist eine wichtige Debatte – durchaus men, die Arbeit anlegen. noch Bereiche haben, bei denen wir enorme Potenziale zu heben haben. Frau Wanka wies selbst darauf hin, dass Wir haben seit 2006 ungefähr 50 Milliarden Euro, die Forschungsleistungen der mittelständischen Unter- wenn man alles einbezieht, in die Maßnahmen der High- nehmen nicht so gewachsen sind, wie man es angesichts tech-Strategie investiert. Das war vernünftig investiertes der Unterstützung erwarten konnte. Beim Mittelstand Geld, wie die Erfolge zeigen, die ich jetzt im Einzelnen gibt es aber auch Erfreuliches. So ist die Zahl der mittel- nicht beschreiben will; denn da sind wir uns alle einig. ständischen Unternehmen, die mit Universitäten, mit Unsere Wirtschaft schlägt sich tapfer, die technikgepräg- Hochschulen zusammenarbeiten, im Rahmen der ZIM- ten Bereiche sind erfolgreich, die wissensbasierten Förderung von 17 Prozent auf 43 Prozent gestiegen. Dienstleistungen werden stärker, auf den Weltmärkten Hier entwickeln sich Strukturen. Das geht mir nicht stehen wir gut da. Das heißt, wir haben hier eine gute schnell genug. Wir arbeiten schon lange daran. Das ist Lage. der Wandel einer Kultur. In den Universitäten muss man In dieser Lage ist die HT-Strategie eben die Zusam- noch genauer lernen – darauf ist hingewiesen worden; menfassung. Die HT-Strategie war bis etwa 2010 ein He- ich glaube, Herr Albani sprach darüber –, wie man mit raussuchen der zukunftsfähigsten, marktfähigsten Berei- Erfindungen umgeht. che und hatte das Ziel, diese zu fördern und der Freunde, die Hochschulen haben im letzten Jahr Wirtschaft zu helfen – eine gute Sache. Seit 2010 bis 620 Patente angemeldet, die deutsche Wirtschaft insge- heute ist das weiterentwickelt worden. Jetzt denken wir samt 47 000 Patente. Wir haben hier noch Potenzial nach mehr vom Ziel her. oben. Relativ gerechnet liegt der Anteil der Hochschul- Die Hightech-Strategie ist nicht alles. Wir haben die patente in den USA bei einer anderen Zehnerpotenz. Das Grundlagenforschung; sie läuft außerhalb und unabhän- heißt also: Wir haben Chancen, es gibt Entwicklungs- gig von der Hightech-Strategie. Sie ist nicht getragen möglichkeiten. Daran arbeitet das Programm SIGNO, von Zielen, sondern von der Neugierde, von der Leiden- das Sie, Frau Wanka, auf den Weg gebracht haben, daran schaft der Forscher. Die Grundlagenforschung ist ein arbeiten die TechnologieAllianz und die Patentverwer- starkes Element, das wir mit steigenden Raten gefördert tungsagenturen. Aber es geht doch auch um die Frage haben. der Entwicklung einer Kultur, der Entwicklung einer Leidenschaft für eine Wirklichkeit jenseits dessen, was Aber die Hightech-Strategie denkt jetzt von den Zie- man hier als primäre und unmittelbare wissenschaftliche len her: Was brauchen wir, damit für eine wachsende Aufgabe sieht. Menschheit ein humanes Leben möglich wird? Was (B) brauchen wir, damit unsere Natur erhalten bleibt? Was Wir haben zu wenig Mädels, die in der Oberstufe (D) brauchen wir, damit in den Städten Wohnen und Arbei- Physik als Wahlfach nehmen; die EFI weist darauf hin. ten zusammenpassen, damit wir eine klimaneutrale Stadt (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: entwickeln? Damit definieren wir die Fragen, die wir an- Immerhin gibt es mehr Abiturientinnen als gehen aus dem unendlichen Sternenhimmel des Wissens Abiturienten!) heraus, aus dem wir das heraussuchen, was diesen Zielen dient, Es gibt zu wenige Frauen, die MINT-Fächer studieren. Der Unterschied bei den Einkommen von Frauen und (Zuruf von der SPD: Aha!) Männern wird sich dann ändern, wenn mehr Frauen als und zu einer Strategie zusammenführen, begleitet von Ingenieure arbeiten und weniger in einem anderen wich- den leidenschaftlich engagierten Geisteswissenschaft- tigen Beruf. lern, die uns immer sagen, was gut sei. Bei der Gründung von Unternehmen können wir noch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- riesige Potenziale heben. In den letzten Jahren ist das ein neten der SPD) bisschen vor sich hingedümpelt. In den letzten Jahren gab es besonders im Hightechbereich nicht die Dyna- Daraus entsteht eine Strategie, die weit über eine klas- mik, die wir hätten haben können. sische Forschungsstrategie hinausgeht. Es entsteht der Entwurf einer neuen Wirklichkeit, der sich immer wie- Wir stellen die Zuschüsse für Business Angels steuer- der zurückkoppelt an die gesellschaftliche Diskussion, frei. Gut, wir haben zwar enorme Fonds, die spezifisch an die Diskussion mit den Wissenschaftlern, an die Dis- unterschiedlich sind – den High-Tech Gründerfonds, kussion mit der Wirtschaft, mit den Gewerkschaften, mit EXIST, GO-Bio –, aber jetzt müssen wir schauen – im den unterschiedlichen Organisationen. Natürlich koppelt Koalitionsvertrag haben wir uns vorgenommen, gesetzli- er sich auch zurück an die Diskussionen im Bundestag; che Rahmenbedingungen für Wagniskapital zu verbes- denn das ist die hervorragendste Quelle von geistiger sern –, dass wir die privaten Wagniskapitalgeber dazu Prägekraft und machtvoller Entschlossenheit des Wis- bringen, in junge Unternehmen, in junge Technik zu in- sens, von Verständnis für die Wirklichkeit, des Zusam- vestieren; denn die Privaten kämpfen für ihr Geld, gell? menführens der unterschiedlichen Tendenzen zu einer Nichts ist so reizvoll, als erfahren zu müssen, dass das einzigen entschlossenen Strategie. Dazu ist diese De- Geld gleich weg ist, gell? batte ein glanzvoller Beitrag. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist eigentlich der SPD) nicht reizvoll!) 6894 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Heinz Riesenhuber (A) Dann kämpft man. In einer solchen Situation wird auch sen, dass das, was wir machen, vernünftig ist, mit fröhli- (C) der beste Beamte tendenziell entspannter sein. chem Geist und der Entschlossenheit für das Ziel, und wenn wir dann jenseits jeder Strategie gemeinsam auf- (Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen brechen, dann werden wir in einem fröhlichen Volk er- Hause – Beifall bei Abgeordneten der CDU/ folgreich arbeiten. CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es liegen viele Aufgaben vor uns: im Bereich Inter- net, Datenschutz, in Bezug auf das neue Telekommuni- kationsgesetz. Die Frage ist: Inwieweit werden wir Netz- Präsident Dr. Norbert Lammert: neutralität ermöglichen können, damit das Internet offen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird Ihnen mög- für Innovationen bleibt? Es gibt viele konkrete Möglich- licherweise ähnlich gegangen sein wie mir: Ich habe keiten, Deutschland noch weiter voranzubringen. Aber zwischenzeitlich gedacht, wir könnten viel Redezeit spa- ein Punkt scheint mir sehr wichtig. Es hat mich gefreut, ren, wenn wir bei bestimmten Tagesordnungspunkten dass es in der HT-Strategie ein Kapitel gibt, das die den Kollegen Riesenhuber bäten, diesen Punkt zu erläu- schöne Überschrift trägt: „Transparenz und Partizipa- tern, mögliche Einwände als gut begründet, aber erfreu- tion“. Also, die Überschrift gefällt mir nicht so gut. licherweise gegenstandslos darzustellen, Denn das ist ziemlich lateinisch, und wir sollten eigent- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD – lich in Menschensprache sprechen, wenn wir um Ver- Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: trauen bei den Menschen werben wollen, gell? Wie bitte?) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der um am Ende dem Parlament eine glanzvolle Debatte zu CDU/CSU) bestätigen.

Präsident Dr. Norbert Lammert: (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Herr Kollege. CDU/CSU und der SPD) Das vielleicht auch als Anregung an die Parlamentari- Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): schen Geschäftsführer für die Gestaltung weiterer Tages- Aber immerhin steht dahinter eine Idee, nämlich die ordnungspunkte. Idee, dass wir überhaupt nur dann erfolgreich sein wer- Nun bekommt als krönender Höhepunkt dieser De- den – nicht, wenn wir viel Geld in die Hand nehmen, batte der Kollege Rainer Spiering das Wort. nicht, wenn wir rein statistisch in technischer Hinsicht (B) im internationalen Vergleich immer besser werden; nein –, (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der (D) wenn wir die Menschen mitnehmen können, wenn die CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Menschen verstehen und Freude an Technik haben, Rainer, die Latte liegt jetzt hoch!) wenn die Wissenschaftler so reden, dass die Menschen daran glauben, dass das, was gesagt wird, nicht nur ver- Rainer Spiering (SPD): nünftig ist, sondern vielleicht sogar wahr. Sehr geehrter Herr Präsident! Sie machen mich verle- gen. Ich möchte aber gerne an Ihre Worte, Herr Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Riesenhuber, anknüpfen. Es ist mir eine Ehre, nach Herr Kollege Riesenhuber, könnten Sie gelegentlich Ihnen sprechen zu dürfen. Sie haben Ihren Enthusiasmus einen Blick auf die Uhr werfen? für die Sache, für die Sie kämpfen, in dieses Haus getra- gen. Dafür herzlichen Dank. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Warum denn? Er macht es doch gut!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es hat Vor- und Nachteile, als Letzter reden zu dürfen. Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Der große Vorteil ist, dass man die Bandbreite der Dis- Das irritiert mich nur. kussion mitbekommt. Gestatten Sie mir einen Hinweis (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) an die Damen und Herren der Opposition: Bei Ihrer Dar- stellung der Situation in Deutschland habe ich gelegent- lich gedacht, ich sei im Zeitalter der Entwicklung der Präsident Dr. Norbert Lammert: Dampfmaschine und nicht am Beginn des 21. Jahrhun- Das habe ich mir wohl gedacht. derts. Ich glaube, das kann man auch anders darstellen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Nach diesem zarten Hinweis des Präsidenten, den ich Die Hightech-Strategie ist eine Vorwärtsstrategie, und an diesem festlichen Tag in einer harmonischen Debatte sie ist eine kluge Gesamtkonzeption. Sie greift die der- aufnehme, möchte ich eines festhalten: Wenn wir die zeitige Situation in Deutschland auf und zeigt die Ziele Menschen in der gleichen Fröhlichkeit mitnehmen, mit auf, die wir erreichen wollen. Ich möchte versuchen, das der wir heute über alle Parteien hinweg im Deutschen an einer Entwicklung deutlich zu machen, die ich selbst Bundestag mit unterschiedlichen Standpunkten, aber mit erlebt habe: Als zehnjähriger Junge vom Lande saß ich dem gleichen Ziel, das Beste für Deutschland zu errei- auf einem Traktor. Ich werde Ihnen jetzt nicht verraten, chen, diskutieren, wenn wir sie mitnehmen in dem Wis- wie lange das her ist; aber es ist sehr lange her. Es gab Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6895

Rainer Spiering (A) Traktoren mit 12 oder 15 PS. Daran hing ein Ein- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) scharpflug. Der Traktor hatte einen extrem hohen Kraft- Sie reden über die Kohle, und wir reden über stoffverbrauch. In der Zwischenzeit hat sich ganz viel die Zukunft!) geändert. der hat nur noch die Vergangenheit. Ich glaube, hier ist Ich möchte Ihren Blick auf einen Teilbereich der die Hightech-Strategie, über die wir heute sprechen, ein deutschen Wirtschaft lenken, der eine extrem gute Er- sehr vernünftiger Ansatz, weil sie die wissenschaftlichen folgsquote aufweist und an dem man sehr gut ablesen Erkenntnisse dieses Landes ressourcenübergreifend bün- kann, was Effizienzsteigerung bedeutet. Es geht um die delt und, wie ich hoffe, in Zukunft so umsetzt, dass das Landmaschinentechnik. Schauen Sie sich einen moder- gesamte Land damit eine vernünftige Zukunft und auch nen Schlepper an: Getriebe- und Motortechnik zeigen, eine Ausstrahlkraft auf Europa und vor allen Dingen auf dass darin ganz viel geistige Intelligenz steckt. An einem die Länder hat, in die wir unsere Güter exportieren kön- modernen Schlepper können Sie erkennen, welches Maß nen. an Digitalisierung in Deutschland heute möglich ist. Im Herzlichen Dank. Landmaschinenbereich wird ein Umsatz von ungefähr 8,5 Milliarden Euro erwirtschaftet, und die Exportquote (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) in diesem Bereich liegt bei – deswegen ist dieser Bereich so wichtig – weit über 70 Prozent. Das heißt, im Land- Präsident Dr. Norbert Lammert: maschinenbereich wird eine Vorwärtsstrategie verfolgt, Ich schließe die Aussprache. und man ist erfolgreich damit. Darum geht es bei der Hightech-Strategie. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 18/2497, 18/1510 und 18/760 (neu) Zum Thema Effizienzsteigerung, die man an der an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Landmaschinentechnik sehr gut darstellen kann, möchte vorgeschlagen. – Damit sind Sie offensichtlich einver- ich einen sanften Hinweis geben, weil mich das schon standen. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. lange umtreibt. Hier wird häufig suggeriert, dass Kohle schlichtweg schlecht ist. Ich glaube das nicht. Schauen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: wir uns die Entwicklung der Kohleverstromung an: In a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise den letzten 30, 40 Jahren gab es auch in diesem Bereich Amtsberg, Omid Nouripour, Dr. Franziska eine unglaubliche Effizienzsteigerung. Bevor ich einen Brantner, weiterer Abgeordneter und der Frak- fossilen Brennstoff völlig verloren gebe, lohnt es sich, tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wie ich finde, im Rahmen der Hightech-Strategie da- rüber nachzudenken, ob man die Effizienz der Kohlever- Solidarität zeigen – Aufnahme von syrischen (D) (B) stromung nicht noch deutlich weiter steigern kann, und irakischen Flüchtlingen ausweiten (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Drucksache 18/3154 Überweisungsvorschlag: wodurch man einem Land wie Nordrhein-Westfalen eine Innenausschuss (f) faire Zukunftschance geben könnte. Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Und b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Sachsen!) Luise Amtsberg, Beate Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter Der Wirtschaftsminister hat sehr deutlich gemacht, und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass der Bereich der Energieeffizienz mit allem, was da- zugehört, wahrscheinlich einen größeren Spielraum bie- Situation unbegleiteter minderjähriger Flücht- tet als der Bereich der regenerativen Energien. Auch ich linge in Deutschland glaube sehr fest daran. Ob wir über Gebäudesanierung Drucksache 18/2999 oder über Gebäudesteuerung energetischer Art sprechen – das geht alles über Computertechnik und Di- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch gitalisierung. Da ist noch ganz viel Musik drin. Wenn für diese Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre wir diesen Ansatz auf unsere Energiewirtschaft übertra- keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. gen, stellen wir fest, dass auch da eine Menge Musik Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der drin ist. Daran glaube ich. Kollegin Luise Amtsberg für die Fraktion Bündnis 90/ Ich sage hier auch einmal: Kohle ist ein heimischer Die Grünen. Wertstoff, mit dem wir umgehen können, und im Ver- trauen auf deutsche Zukunftstechnologien würde ich ihn Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht einfach aufgeben. Ich glaube, es lohnt sich. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Dienstag informierte das Welternährungsprogramm der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Vereinten Nationen, dass es die Hilfen für syrische CDU/CSU) Flüchtlinge einstellen muss, weil einige Geberländer Lassen Sie mich Folgendes abschließend sagen: Wer ihre Zahlungsversprechen nicht eingelöst haben. Bereits die Zukunft nicht gestalten will – dieses Gefühl hatte ich im Oktober hatte die Organisation über mangelnde Fi- bei Anmerkungen aus der Opposition teilweise –, nanzierung geklagt. 1,9 Millionen Menschen sind damit 6896 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Luise Amtsberg (A) akut von Hunger und Kälte und somit auch ihres Lebens (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) bedroht. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Die chronische Unterfinanzierung solcher Organisa- tionen, die das Leben von geflüchteten Menschen unmit- Um einem Einwand, den Sie gebetsmühlenartig vorbrin- telbar sichern, ist beschämend. Dass Zahlungsverspre- gen, zuvorzukommen: Ja, Deutschland leistet viel. Ja, chen gemacht, aber nicht gehalten werden, ist aus Deutschland leistet mehr als andere EU-Staaten. Ja, unserer Sicht absolut inakzeptabel, Deutschland kann und muss Vorbild sein. Das ist alles richtig. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Deutschland (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die historische Verpflichtung hat, Flüchtlingen zu helfen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Zur Wahrheit gehört, dass Deutschland die viertstärkste und ich bin froh und dankbar, dass Außenminister Wirtschaftsnation der Welt ist. Zu dieser Wahrheit ge- Frank-Walter Steinmeier gestern 40 Millionen Euro für hört, dass Deutschland seine Wirtschaftskraft der Ein- die Hunger- und Winterhilfe auf den Weg gebracht hat. wanderung zu verdanken hat. Und zu dieser Wahrheit Diese Reaktion verdient Respekt, und sie ist genau das, gehört auch, dass aufgrund der Demografie und des was wir Grüne uns unter der humanitären Verantwortung Fachkräftemangels in Deutschland Einwanderung zwin- Deutschlands vorstellen. gend notwendig ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Wir wissen natürlich, dass das keine direkte Reaktion auf die Vorkommnisse von gestern bzw. die Worte des Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass es Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen wa- eine starke UN braucht, ein starkes Europa und ein hand- ren, aber dennoch: Das Geld ist dort richtig angelegt. lungsstarkes Deutschland, um den Menschen in Syrien und im Irak und auch in den Nachbarländern zu helfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, 13 Millionen Men- Hilfe besteht nicht nur in der Aufnahme von Flüchtlin- schen sind in der Region mittlerweile auf der Flucht. Es gen, sondern auch in einer engagierten Friedens- und Ent- gibt 7 Millionen Binnenvertriebene in Syrien und 3 Mil- wicklungspolitik, in humanitärer Hilfe für die Region, in lionen Vertriebene im Libanon, in Jordanien und in der einer zukunftsgewandten Außenpolitik. An dieser Stelle Türkei. Fast 2 Millionen Iraker fliehen seit Jahresbeginn erinnere ich daran, dass wir auch einmal Rücknahme- vor dem Terror des IS, und insgesamt 7 Millionen Kin- abkommen mit Machthabern wie Assad hatten, dass wir der sind entwurzelt und von Gewalt und prekären Lebens- Schutzsuchende, Regimegegner zurück in die Verfol- (B) umständen betroffen. Ihnen fehlt der Zugang zu eigentlich gung oder gar den Tod geschickt haben. Eine zukunfts- (D) allem, was man zum Überleben braucht. An eine Rück- gewandte Außenpolitik ist also vonnöten. Hilfe besteht kehr zur Normalität, zu einem Leben in Sicherheit, ist auch aus der Aufnahme – und guten Behandlung – von längst nicht mehr zu denken. Flüchtlingen in Deutschland. Vor Ort helfen allein reicht nicht. Bundeskanzlerin Merkel hat in ihrer Regierungserklä- rung zur Entscheidung von Waffenlieferungen in den Deswegen haben wir uns in unserem Antrag auf die Nordirak zugesagt, dort zu helfen, wo Menschen auf- Feinheiten in der Sache konzentriert; denn manchmal grund der Gewalt des IS in Not sind – auch durch die zu- können auch kleine Schritte Großes bewirken. Wir for- sätzliche Aufnahme von Flüchtlingen. Genau darum und dern in unserem Antrag ein neues Kontingent. Das alte um nichts anderes geht es heute in unserem Antrag. Die ist zwar noch nicht ausgeschöpft; das muss es aber auch Worte der Kanzlerin dürfen keine Lippenbekenntnisse nicht sein, um zu wissen, dass ein weiteres im nächsten zur Beruhigung des eigenen Gewissens sein. Wir erwar- Jahr dringend notwendig sein wird. Dass unsere Forde- ten von der Kanzlerin, dass sie die Flüchtlingspolitik rung mit dem Argument abgewehrt wird, dass das alte aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz zur Chefsache Kontingent noch nicht ausgeschöpft sei, ist extrem tech- macht. nisch und zeigt, dass man sich vor dem eigentlichen Pro- blem wegduckt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) KEN) Sie selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, Da ich in dieser Debatte die erste Rednerin bin, kann sagen doch, dass der, der kommt, auch bleiben darf. Das ich schlecht auf die Argumente reagieren, die noch kom- ist mitnichten eine wohltätige Geste, sondern das Recht, men. Ich hoffe ausdrücklich, dass wir die Debatte nicht, das jedem politisch Verfolgten verfassungsmäßig zusteht wie beim letzten Mal, auf das Gegeneinander-Ausspie- in Deutschland. len von Flüchtlingsgruppen verengen. Heute geht es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht um den Westbalkan und auch nicht um die von Ih- nen so definierte Gruppe der angeblichen Wirtschafts- Es ist eine realitätsvergessene Haltung, diesen Kreis ein- flüchtlinge. Heute geht es um den Nahen Osten, es geht engen zu wollen. „Wer es nach Deutschland schafft“, konkret um eine Gruppe von Schutzsuchenden, die – ich was ist das für eine Formulierung? Was glauben Sie hoffe, da sind wir uns einig – ohne Wenn und Aber ein denn, wie diese Menschen hierherkommen? Dass sie Anrecht auf Asyl hier in Deutschland haben müssen. vom Himmel fallen und weich gebettet hier landen? Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6897

Luise Amtsberg (A) Nein, die, die nicht über Kontingente kommen, kommen dert allerdings nichts daran, dass auch wir besser werden (C) in Booten über das Mittelmeer und riskieren ihr Leben können. Ich glaube, unser Antrag trägt dazu bei, innen- dabei; manche verlieren es auch. Kontingente sind ein politisch besser zu werden. Deshalb bitte ich Sie mit Weg der legalen Zuwanderung. Diesen sollten wir stär- Nachdruck, ihn zu unterstützen. ken; das fordert unser Antrag. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) LINKE]) Vizepräsidentin Claudia Roth: Unser Antrag fordert auch, dass es schon aus der Re- Vielen Dank, liebe Kollegin. – Schönen guten Mor- gion heraus möglich sein soll, eine Familienzusammen- gen an Sie alle und die Gäste auf der Tribüne. führung zu beantragen. Natürlich braucht es dann auch eine personelle Aufstockung der deutschen Vertretungen Nächster Redner in der Debatte ist Dr. Ole Schröder vor Ort. Auch das fordert unser Antrag. Wir wollen, dass für die Bundesregierung. Menschen im Libanon bei der Botschaft in Beirut ein Vi- sum zur Einreise erhalten, wenn sie Familie in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU) land haben. Bisher kann man Familienasyl nur von Deutschland aus beantragen; der Weg über das Mittel- Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- meer – mit all seinen Risiken – ist somit eine Notwen- minister des Innern: digkeit. Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Da- men und Herren! Der hier vorliegende Antrag der Frak- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und tion Bündnis 90/Die Grünen betrifft ein Thema, dem auch von der SPD – vor allen Dingen aber von der sich die Bundesregierung seit Ausbruch der Krise in Sy- Union –, Sie heben doch an vielen Stellen immer wieder rien intensiv widmet. Es ist nicht übertrieben, wenn ich die Bedeutung der Familie hervor und dass Ihnen der sage, dass sich Deutschland der Sache der syrischen Schutz der Familie wichtig sei. Ich verstehe nicht, wa- Flüchtlinge annimmt wie kaum ein anderes Land außer- rum das offensichtlich nicht gelten soll, wenn es sich um halb der Krisenregion. Das gilt sowohl für die dringend Flüchtlingsfamilien handelt. notwendige und daher vorrangige Hilfe vor Ort als auch Weil wir Grünen den Schutz der Familien sehr wohl für die Flüchtlingsaufnahme. Unsere Experten im Bun- für wichtig erachten, desinnenministerium, im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, beim THW, im Auswärtigen Amt sowie in (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist, den betroffenen deutschen Botschaften tun alles, damit (B) gelinde gesagt, Unsinn!) die Unterstützung für die von dem schrecklichen Krieg (D) fordern wir in unserem Antrag, dass es keine Rückfüh- betroffenen Menschen in Syrien, im Irak und in der ge- rungen mehr im Rahmen des Dublin-Abkommens in an- samten Krisenregion so effektiv wie möglich ist und die dere EU-Staaten geben soll. Hilfe auch wirklich ankommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland wird allen Betroffenen in der Krisenre- und bei der LINKEN) gion weiterhin helfen. Schwerpunkt dieser Hilfe wird auch künftig die konkrete Unterstützung der Bemühun- Es macht keinen Sinn, dass ein junger Mann, der mit gen der Erstaufnahmestaaten und der internationalen Or- dem Boot in Italien angelandet ist, wegen Dublin ge- ganisationen vor Ort sein. Derzeit liegen die deutschen zwungen ist, in Italien zu bleiben, auch wenn er Familie Hilfsleistungen für die Hilfe vor Ort bei 800 Millionen in Kiel oder Altötting-Mühldorf hat. Das ist in unseren Euro. Deutschland ist damit eine der Nationen, die mit Augen das Gegenteil vom Schutz der Familie. am meisten geben. Eine weitere Hürde ist die sogenannte Verpflichtungs- Seit Ausbruch des Konflikts sind rund 60 000 syri- erklärung, die hier lebende Syrerinnen und Syrer abge- sche Staatsbürger als Asylbewerber nach Deutschland ben müssen, wenn sie Mitglieder ihrer Familie in Sicher- gekommen und haben bei uns Schutz gefunden. Jeden heit bringen wollen. Diese Verpflichtungserklärungen Monat werden es mehr. Daneben nimmt Deutschland sollen übrigens auch dann bestehen bleiben, wenn mit humanitären Aufnahmeprogrammen aktiv Men- Schutzsuchende einen dauerhaften Aufenthaltsstatus in schen aus Syrien und der Region auf. Mit den gesamten Deutschland erhalten und ein eigenständiges Leben auf- Aufnahmekapazitäten dieses Aufnahmeprogramms stellt bauen wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist Deutschland drei Viertel aller Plätze zur Verfügung. Ins- doch absurd, das macht doch keinen Sinn. Wir fordern, gesamt haben seit Ausbruch des Konflikts rund diese Verpflichtungserklärungen ersatzlos zu streichen. 75 000 syrische Staatsangehörige Schutz in Deutschland (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gefunden, meine Damen und Herren. und bei der LINKEN) Natürlich werden jetzt vielfach höhere Aufnahme- Natürlich kann Deutschland die Flüchtlingskrise nicht quoten gefordert. Auch wenn es gut gemeint ist, ist es allein lösen – dafür braucht es Partnerinnen und Partner mit der Ankündigung von Kontingenten nicht getan. Die in Europa. Aber es ist die deutsche Bundesregierung, die Flüchtlinge müssen in einem überschaubaren Zeitraum auch die Macht und Durchschlagskraft hat, die anderen und einem nachvollziehbaren Verfahren ausgewählt und europäischen Staaten zum Handeln zu zwingen. Das än- aufgenommen werden. Die Aufnahme in Deutschland 6898 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder (A) kann nur dann einen echten Mehrwert bedeuten, wenn Deutschland. Das Bewerbungsverfahren läuft; die ersten (C) wir diejenigen finden, die unseren Schutz am meisten Stipendiaten sollen im Frühjahr 2015 ihr Studium auf- brauchen. Zudem müssen sich Menschen entscheiden, nehmen. diese Region zu verlassen und einen völlig neuen Kul- turkreis zu betreten. Wer die Krisenregion einmal bereist Meine Damen und Herren, wir dürfen eines nie ver- hat, der weiß, dass viele diesen Schritt scheuen. Die gessen: Trotz aller Anstrengungen, die wir im Rahmen meisten wollen vor Ort bleiben. Das gilt übrigens auch der Aufnahmeprogramme auf uns nehmen, erreichen wir für zahlreiche Personen, die von ihren Verwandten für die Masse der Flüchtlinge nur in der Region selbst. Wir die Aufnahme in Deutschland angemeldet wurden. Das können deren Leid nur dann wirklich lindern, wenn wir ist eine Erfahrung aus den laufenden Verfahren. vor Ort helfen. Wenn wir hier einen qualitativen Mehrwert erzielen (Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit wollen, müssen wir mit Bedacht vorgehen. Familien mit [SPD]: Beides!) Kindern, Menschen, die eine spezielle medizinische Be- Dort können wir mit dem Geld am meisten tun. Alles an- handlung benötigen, Menschen, die bereits Bindungen dere, etwa die Aufnahmeprogramme, können nur für be- nach Deutschland haben oder sonst in besonderem Maße sonders Schutzbedürftige gelten und für solche Men- von einer Aufnahme profitieren, müssen wir ausfindig schen, die besondere Beziehungen nach Deutschland machen. Ich glaube, bisher ist uns das recht gut gelun- haben. gen. Unsere Programme finden jedenfalls auf internatio- naler Ebene allergrößte Beachtung und Lob, meine Da- Wichtig ist die Hilfe vor Ort. So hilft beispielsweise men und Herren. das Technische Hilfswerk bilateral in den Flüchtlingsla- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gern in Jordanien und Nordirak bei der Sicherstellung neten der SPD – Luise Amtsberg [BÜND- der Wasserversorgung und der Abwasserentsorgung und NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr davon!) beim Errichten weiterer Infrastruktur. Auch andere EU- Partner helfen. Aber hier sollte viel mehr geschehen. Im Am 9. Dezember, also am kommenden Dienstag, fin- Rahmen des EU-Katastrophenschutzverfahrens kann er- det endlich die durch den Bundesminister des Innern heblich mehr an Hilfe geleistet werden. Die Europäische erstmals im März 2013 und in der Folge immer wieder Kommission hat angekündigt, aufgrund neuer Bedarfs- eingeforderte Pledging-Konferenz des Hohen Flücht- erhebungen erneut an die Mitgliedstaaten heranzutreten. lingskommissars der Vereinten Nationen zugunsten syri- Es geht auch darum, beim Wiederaufbau zu helfen. Im scher Flüchtlinge statt. Wir haben in den vergangenen Nordirak gibt es Binnenvertriebene, die in ihrem Hei- Wochen und Monaten keine Gelegenheit ausgelassen, matland Schutz finden und sobald wie möglich in ihre (B) unsere Partner inner- und außerhalb Europas immer wie- alten Wohngebiete zurückkehren wollen. Die Hilfsorga- (D) der darauf aufmerksam zu machen, dass das notwendig nisationen wie auch die Bundesregierung konzentrieren ist. Wir brauchen diese Pledging-Konferenz, um ausrei- sich hier auf die Hilfe vor Ort. Flüchtlingsaufnahmen in chend Plätze zur Verfügung zu stellen, damit es zu einer Deutschland kommen daher lediglich in besonders gela- wirklichen Entlastung in der Region kommt; gerten Einzelfällen in Betracht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wenn wir über Flüchtlingsschutz sprechen, geht es der SPD) darum, dass die Menschen Schutz in einem sicheren denn das fördert auch die Bereitschaft der Anrainerstaa- Staat finden. Wer bereits in Europa um Asyl nachgesucht ten, ihre Tore für weitere Flüchtlinge aus Syrien offen zu hat, fällt unter die in Europa geltenden Regeln. Das gilt lassen. auch für Syrer und Iraker. Es ist nicht nachvollziehbar, hier Ausnahmen vorsehen zu wollen. Im Rahmen des Der UNHCR wirbt darum, verschiedene Zugangs- Dublin-Verfahrens wird das Vorhandensein familiärer wege in Staaten außerhalb der Krisenregion für syrische Bindungen für alle Asylbewerber gleichermaßen berück- Flüchtlinge zu eröffnen, um die Zahl derjenigen, die die sichtigt. Region verlassen können, auch außerhalb des klassi- schen Resettlements oder der schnelleren humanitären (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist ein Tropfen Aufnahmeverfahren zu erhöhen. Deutschland vollzieht auf den heißen Stein!) diesen Schritt bereits. Neben dem humanitären Aufnah- Insofern, liebe Frau Amtsberg, ist der Vorwurf, den Sie meprogramm des Bundes mit 20 000 Aufnahmeplätzen hier erhoben haben, dass dies im Dublin-Verfahren nicht haben die Bundesländer durch ihre Programme bereits berücksichtigt wird, nicht richtig; das entspricht nicht mehr als 10 000 Aufnahmeplätze geschaffen, und die der Praxis. Programme laufen weiter. Ferner hat Deutschland jüngst ein mehrjähriges Maß- (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nahmenpaket für syrische Studierende aufgelegt. In die- Dann können Sie ja auch zustimmen!) sem Rahmen werden dem DAAD insgesamt 7,8 Millio- Ich will damit nicht sagen, dass Behörden keine Fehler nen Euro für Stipendiaten zur Verfügung gestellt, mit machen. dem syrische Studierende ihr Studium in Deutschland absolvieren oder fortsetzen können. Das Programm trägt (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Namen „Leadership for Syria“ und richtet sich an NEN]: Es geht nicht um Fehler! Es geht da- syrische Flüchtlinge sowohl in der Region als auch in rum, denen das zu sagen!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6899

Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder (A) Wir müssen darauf achten, dass die familiären Bindun- die aktuelle Situation hierzulande etwas grundsätzlicher (C) gen berücksichtigt werden. Aber das geben die gesetzli- werden. chen Regelungen bereits her. Die Amadeu-Antonio-Stiftung und Pro Asyl haben (Beifall bei der CDU/CSU) dokumentiert: In den ersten drei Quartalen 2014 wurden bundesweit 29 gewalttätige Übergriffe auf Flüchtlinge, Auch die Forderung nach einer Erleichterung des Fa- 23 Brandanschläge auf Unterkünfte, 27 Sachbeschädi- miliennachzugs wird zu einem beträchtlichen Teil durch gungen an Unterkünften sowie 194 flüchtlingsfeindliche unseren Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Kundgebungen und Demonstrationen registriert. Diese Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung bereits er- erschreckenden Zahlen dürften im vierten Quartal dieses füllt sein. Wir werden den Status für subsidiär Schutzbe- Jahres noch anschwellen. Im statistischen Schnitt findet rechtigte erheblich aufwerten und ihn an die Regelungen täglich eine fremdenfeindliche Aktion statt. Die Mobili- für die Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskon- sierung dazu wird immer unverhohlener. Wir erleben vention anpassen. Insofern ist dieser Punkt berücksich- zunehmend Pogromstimmungen wie Anfang der 1990er- tigt. Diese Personen können dann selbstverständlich ihre Jahre. Darauf müssen wir, muss die Bundespolitik end- Familien nachholen. Das ist uns sehr wichtig. lich reagieren. Für die durch das Bundesaufnahmeprogramm berück- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- sichtigten Personen gilt das bereits. Wir legen natürlich NIS 90/DIE GRÜNEN) größten Wert darauf, dass die gesamte Familie, nicht nur ein Teil davon, nach Deutschland kommt. Wo das nicht Es kursieren Aufrufe gegen Asylsuchende und gegen gewährleistet ist, weil die Familie sich nicht zusammen eine vermeintliche Islamisierung Deutschlands. Es gehe an einem Ort aufhält, berücksichtigen wir das im Nach- um nicht weniger als die Verteidigung der Zivilisation. hinein. Wir sind da sehr flexibel und ermöglichen in Zu- Die Hintermänner dieser Hetzkampagnen sind zumeist sammenarbeit mit der Botschaft, dass die Familien zu- bekannte Nazis. Sie geben sich als besorgte Bürger, und sammenbleiben können. Daran haben wir selbst ein sie bekommen Zulauf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, großes Interesse. ja, es geht wirklich um die Zivilisation, begonnen bei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Artikel 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, und zwar die Würde aller Menschen. Was den Abschiebestopp betrifft, ist es, denke ich, auch eine Selbstverständlichkeit, dass wir nicht nach Sy- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- rien abschieben. In Einzelfällen ist in den Nordirak – in NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. sichere Herkunftsgebiete – abgeschoben worden. Es ist Dr. Eva Högl [SPD] – Michael Grosse-Brömer (B) (D) klar: Das muss in besonderen Ausnahmefällen möglich [CDU/CSU]: Das ist eine Selbstverständlich- sein, insbesondere, wenn es sich um Kriminelle handelt. keit!) Das ist geltende Rechtslage. Davon wollen wir auch im Deshalb muss auch die Würde der Menschen in Not, der Fall des Irak nicht Abstand nehmen. Unsere Gesetze Flüchtlinge, endlich einen höheren Stellenwert bekom- nehmen den besonderen humanitären Schutz in den men als bisher. Blick. Im Land Berlin hat die Linke diese Woche Leitlinien Meine Damen und Herren, die Bundesregierung zeigt für eine neue Flüchtlingspolitik vorgelegt; sie sind im In- Solidarität und stellt sich ihrer internationalen Verant- ternet abrufbar. Ein Autor dieses Konzepts ist der lang- wortung in der aktuellen Flüchtlingskrise. Was wir ma- jährige Integrationsbeauftragte des Berliner Senats, Günter chen, ist nicht nur gut gemeint, sondern ist auch im Voll- Piening, übrigens Mitglied der Partei Bündnis 90/Die zug gut gemacht. Dafür danke ich allen Beteiligten, die Grünen. hier, aber vor allen Dingen auch vor Ort Verantwortung übernehmen. (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) – Ich würde Beifall für das gesamte Konzept und dieses Zusammenwirken vorschlagen.

Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und Danke, Herr Dr. Schröder. – Nächste Rednerin ist des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Petra Pau für die Linke. Zwei Gedanken ziehen sich durch das Konzept: Ers- (Beifall bei der LINKEN) tens. Menschenwürdige Flüchtlingspolitik betrifft alle Ressorts und darf nicht auf die Innen- und Rechtspolitik beschränkt werden. Zweitens. Sie kann nur gelingen, Petra Pau (DIE LINKE): wenn Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik miteinan- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der und eng mit der Zivilgesellschaft kooperieren. Zum Thema Flüchtlingspolitik liegen ein Antrag und eine Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nen vor. Meine Kollegin Ulla Jelpke wird für die Linke neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE später näher darauf eingehen. Ich möchte mit Blick auf GRÜNEN) 6900 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Petra Pau (A) In diesem Sinne muss die Bundespolitik dringend revi- im Irak, in Afghanistan und Eritrea schaut – wenn ich (C) diert werden. den Blick weiterschweifen lassen würde, könnte ich noch mehr Staaten aufzählen –, dann ist unbestritten, Wir sollten aber auch vor Folgendem nicht die Augen dass wir uns mittelfristig auf mehr Asylsuchende einstel- verschließen: Es gibt an vielen Brennpunkten längst len und den bevorstehenden Herausforderungen gerecht Willkommensinitiativen, die Willkommenskultur leben werden müssen. Wer aus purer Not wegen Krieg, Terror und organisieren, auch in meinem Wahlkreis. oder Verfolgung flieht, muss bei uns Schutz finden. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: In mei- nem auch!) (Beifall im ganzen Hause) Zugleich mehren sich aber Beispiele, die belegen, dass Er muss menschenwürdig behandelt werden, muss seine die Aktiven dieser Initiativen mit Gewalt und Morddro- Fluchtgeschichte darlegen können und gegebenenfalls hungen von Nazis überzogen werden. Ich könnte drasti- auch dauerhaften Schutz erhalten. sche Beispiele aufzählen; ich unterlasse das aus Zeitgrün- Ich empfinde die heutige Debatte als sehr angenehm. den. Umso dringender ist es allerdings, dass die Polizei Ich möchte aber daran erinnern, dass das im Deutschen solche Bedrohungen endlich ernster nimmt und dass das Bundestag nicht immer so gewesen ist. Wir haben lange Willkommensengagement mehr gewürdigt wird. Jahre anders gesprochen. Wir haben über Asylrecht und (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie Asylmissbrauch gesprochen, und zwar auch in Fällen, in bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE denen das nicht gerechtfertigt war. Es wurden Gesetze GRÜNEN) verschärft und Arbeitsverbote verhängt. Die Unterbrin- gung in Sammelunterkünften wurde sogar vorgeschrie- Wie es auf gar keinen Fall geht, zeigt ein weiteres Berli- ben; denn das erklärte Ziel war, den Schutzsuchenden ner Beispiel. Der Senat hat Areale für Flüchtlingscontai- eben nicht hier eine Heimat zu bieten, sie hier nicht hei- nerdörfer festgelegt, ohne vorherige Information der misch werden zu lassen. Wir haben nicht gesagt: Kommt Bürgerinnen und Bürger, ohne Einbeziehung der Flücht- zu uns! – Ja, wir lernen aus der Vergangenheit. Wir tun lingsinitiativen, ohne Konsultation der zuständigen Bür- gut daran und sollten deutlich zum Ausdruck bringen, germeister. Eine solche Politik ist selbstherrlich, kurz- dass jeder, der hier Schutz für sich, seine Familie und sichtig und obendrein gefährlich. seine Kinder sucht, eine Perspektive erhält. Es ist also (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten richtig, den betreffenden Menschen sehr früh die Zu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gänge zu unserer Gesellschaft zu öffnen, zu Arbeit und Beschäftigung, zu Sprachkursen und Schulen. Dann Ich will mit einem nicht minder unglaublichen Bei- können aus Flüchtlingen tatsächlich neue Nachbarn wer- (B) spiel schließen. In Sachsen-Anhalt haben jüngst Zehn- den. (D) bis Zwölfjährige eine Menschenhatz auf Romafamilien veranstaltet. Kinder noch und schon rassistisch verhetzt! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Türkische Gemeinde in Deutschland fordert seit DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der langem einen Rassismusgipfel. Auch der NSU-Untersu- CDU/CSU) chungsausschuss im Bundestag hat belegt: Rassismus grassiert inmitten unserer Gesellschaft. Wir sollten das Ich bin dankbar für die große Hilfsbereitschaft und endlich ernster nehmen, bevor sich Pogrome wie seiner- Solidarität in unserer Bevölkerung. Die Kirchen, Flücht- zeit in Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder anderswo lingsinitiativen, insbesondere die vielen Ehrenamtlichen wiederholen. – das habe ich hier schon einmal erwähnt – leisten in diesen Wochen und Monaten Großartiges. Wir müssen Danke schön. dieses Engagement noch stärker wertschätzen, und wir (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- müssen es auch unterstützen. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ten der SPD) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Der Grund dafür, dass ich dieser Debatte ausnahms- Vielen Dank, Kollegin Petra Pau. – Nächste Rednerin weise nicht bis zum Ende folgen kann, ist – ich sage es in der Debatte ist Staatsministerin Aydan Özoğuz. bewusst an dieser Stelle –: Ich habe schon vor Wochen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Flüchtlingsinitiativen und Ehrenamtliche genau zu 11 Uhr der CDU/CSU) ins Bundeskanzleramt eingeladen, (Dr. Eva Högl [SPD]: Das schaffst du nicht Aydan Özoğuz, Staatsministerin bei der Bundes- mehr!) kanzlerin: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und um mit ihnen gemeinsam zu erörtern, was wir tun kön- Kollegen! Meine Damen und Herren! Es wurde schon nen, um sie zu unterstützen, um sie besser zu vernetzen. einige Male zu Recht gesagt, Frau Amtsberg: Deutsch- Sie waren natürlich sofort einverstanden, dass ich hier land und Europa stehen als große Wirtschaftskräfte vor noch meine Rede halte. Ich bitte um Verständnis dafür, großen flüchtlingspolitischen Herausforderungen. Wenn dass ich wegen dieser Einladung heute etwas früher man auf die Menschenrechtskrisen in Syrien, aber auch gehe. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6901

Staatsministerin Aydan Özoğuz (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des hatte ich übrigens auch in meinem zehnten Bericht zur (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lage der Ausländerinnen und Ausländer gefordert. Die Verbesserungen beim Arbeitsmarktzugang sind wichtig; Wenn wir über die Große Anfrage und den Antrag der er ist nun nach 15 Monaten Aufenthalt zum Teil sogar Grünen debattieren – meine Kolleginnen und Kollegen ohne Vorrangprüfung möglich. Das Asylbewerberleis- werden noch darauf eingehen –, dann müssen wir auch tungsgesetz passierte final den Bundesrat. Damit ist die festhalten, dass unser Land über Bundeskontingente be- Zusage verbunden, dass der Bund die Länder mit bis zu reits 20 000 syrische Staatsangehörige aufgenommen hat. 1 Milliarde Euro entlastet. Hoffentlich kommt diese Ent- Es sind mittlerweile, seit 2011, 70 000 syrische Staatsan- lastung am Ende auch bei den Kommunen an. – Ohne gehörige hier. Bund und Länder handeln gemeinsam, er- die Unterstützung der Grünen wären viele der genannten freulicherweise in großem Einvernehmen und über Par- Punkte nicht möglich gewesen; das möchte ich an dieser teigrenzen hinweg. Das Auswärtige Amt hat die Mittel Stelle noch einmal deutlich sagen. für humanitäre Hilfe in der Region gestern noch einmal um 40 Millionen Euro erhöht – Frau Amtsberg hat das Gestern haben wir im Bundeskabinett die stichtagsun- erwähnt –; denn wir wissen alle, dass einige Millionen abhängige Bleiberechtsregelung für Geduldete verab- Menschen in der Region – in der Türkei, in Jordanien, schiedet. Für diesen Teil des Gesetzes haben viele hier im Libanon – auf der Flucht sind. im Haus Jahre und Jahrzehnte gekämpft, übrigens ge- meinsam mit Kirchen und Sozialverbänden. Wir dürfen aber auch unsere europäischen Partner nicht aus der Verantwortung entlassen, für die Flücht- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der linge und Vertriebenen des syrischen Bürgerkrieges ein- CDU/CSU) zustehen. Das parlamentarische Verfahren steht noch an. Deswe- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr gen müssen wir die Diskussion darüber nicht heute füh- richtig!) ren. Auch als ich zur Europäischen Grundrechtecharta reden Die Residenzpflicht wird ebenfalls abgeschafft. Dazu durfte, wurde mir klar: Es reicht nicht, zu hören, dass möchte ich nur sagen: Sie wissen, dass ich am 18. De- Deutschland und Schweden eine tolle Arbeit machen. zember 2014, am von den Vereinten Nationen ausgerufe- Das wird immer wieder gesagt, und dafür wird auch ge- nen Internationalen Tag der Migranten, einen Empfang dankt. Wir müssen schon sagen, dass auch von anderen gebe. Ich bin all denen von Ihnen sehr dankbar, die je- EU-Staaten ähnliche Anstrengungen erwartbar sind. weils eine Person angemeldet haben, die sich besonders für Flüchtlinge engagiert. Die Veranstaltung ist mittler- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie weile voll; das haben die gemerkt, die mit ihrer Anmel- (B) (D) bei Abgeordneten der LINKEN und des dung zu spät kamen. Es ist eine schöne Sache, wie ich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) finde, dass zufällig – das konnte man nicht vorausse- Der Zustand, dass in der EU fünf Staaten 75 Prozent der hen – gleichzeitig eine weitere Syrien-Konferenz im Schutzsuchenden aufnehmen, kann uns nun nicht dazu Auswärtigen Amt tagt. Wir sind guter Dinge, dass wir verleiten, von einer europäischen Solidarität zu spre- dort allen wirklich ein sehr schönes Dankeschön sagen chen. Sagen wir es einmal positiv: Die Solidarität ist können. ausbaufähig. Es wurden auch einige angemeldet, die selber Flücht- (Rüdiger Veit [SPD]: Das ist milde ausge- linge sind, aber schon lange im Land leben und der Resi- drückt!) denzpflicht unterliegen. Nun muss ich allen Ernstes Briefe schreiben des Inhalts, dass das hier eine ordentli- Insofern überzeugt es nicht, wenn wir mit Blick auf Ita- che Veranstaltung ist und doch bitte die Residenzpflicht lien die dortigen Registrierungsdefizite als größtes Pro- für diese Menschen aufgehoben wird. Die Absurdität blem des gemeinsamen europäischen Schutzsystems wird da einfach noch einmal besonders deutlich. Ich bin ausmachen. Wir müssen da einfach zu mehr Verantwor- froh, dass wir das nun bald hinter uns lassen werden. tung aufrufen. Klar ist auch: Wir müssen in Europa alles tun, damit die Asyldiskussion nicht und niemals mehr (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem auf dem Rücken der Schutzsuchenden ausgetragen wird. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zu guter Letzt möchte ich die Aufmerksamkeit noch auf eine Gruppe lenken, nämlich auf die unbegleiteten Die Große Koalition hat bereits im ersten Jahr viele minderjährigen Flüchtlinge. Sie sind, wie es naheliegt, Maßnahmen umgesetzt. Einige sind schon genannt wor- ohne Erziehungsberechtigte eingereist. Wir dürfen, glaube den; deswegen mache ich es ganz kurz: Das Personal des ich, nicht vergessen, dass es sich bei den Beweggründen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurde aufge- für das Verlassen der Heimat um sogenannte kinderspe- stockt. Es reicht immer nicht – das wissen wir alle –; zifische Fluchtgründe handelt. Solche Begriffe sagen ei- aber 300 Leute einzuarbeiten, das geht nicht in drei Mo- gentlich wenig über das aus, was dahintersteht: drohende naten. Das muss man ein bisschen realistisch sehen. Die Zwangsrekrutierung als Kindersoldat, Gefahr von Ent- Asylverfahren werden mit Blick auf Asylsuchende mit führung, bei Mädchen die anstehende Genitalverstüm- hohen Anerkennungschancen optimiert. Aussichtsrei- melung oder Zwangsverheiratung. Wir alle kennen das. che Verfahren sollen vorgezogen werden können. Das Deswegen sind wir in der Pflicht, dem Kindeswohl und 6902 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Staatsministerin Aydan Özoğuz (A) den besonderen Bedürfnissen dieser jungen Menschen schen in Not sind, werden wir helfen – auch durch die (C) – es sind zum Teil stark traumatisierte Minderjährige – zusätzliche Aufnahme von Flüchtlingen.“ Mit diesen gerecht zu werden. Worten hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Grund- sätze unserer Flüchtlingspolitik auf den Punkt gebracht. Ja, es gibt auch Kriminalität bei einigen; das will ich Dass wir diesen Worten auch Taten folgen lassen, haben überhaupt nicht verhehlen. Nur, was mich nach wie vor wir – das können auch die Grünen und die Linken nicht ärgert, ist: Wenn das einmal vorkommt, dann entsteht bestreiten – bereits mehrfach gezeigt. das Bild, alle seien so oder latent so. Dabei gibt es die anderen, die nun gerade darum kämpfen, etwas Besseres Rund drei Viertel aller syrischen Flüchtlinge in Eu- zu machen. Wir wissen, wie viele ihre Chance wahrneh- ropa sind in Deutschland aufgenommen worden. Seit men, hier ein geregeltes Leben zu führen, eine Ausbil- Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011 sind wir dung zu machen. Wir haben soeben die Ausbildungsför- das Hauptaufnahmeland für syrische Flüchtlinge in Eu- derung auch für diese Gruppe viel schneller möglich ropa. Bund und Länder haben zügig humanitäre Aufnah- gemacht. Gerade für diejenigen müssen wir einfach meprogramme geschaffen und diese immer wieder auf- deutlich machen: Wir wollen, dass sie ein halbwegs fai- gestockt, um vor allem die besonders Schutzbedürftigen res und gutes Leben führen können und nicht immer mit wie Schwerkranke, Schwangere oder Menschen mit Be- den anderen unter einen Generalverdacht gestellt wer- hinderung, die in den Flüchtlingslagern in den Nachbar- den. ländern Syriens keine Chance hätten, nach Deutschland zu holen. Statt immer nur höhere Kontingente zu for- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dern, sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Leistung auch einmal anerkennen. GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Luise Amtsberg Wir wissen, dass die Zahlen kontinuierlich zugenom- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Habe ich ge- men haben und dass wir auch noch eine Debatte darüber macht!) führen müssen, wie wir das Kindeswohl im Blick behal- ten und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir die Regelun- – Frau Amtsberg hat das vorhin in Teilen getan. gen, die bestehen und die in meinen Augen dem Kindes- wohl nicht gerecht werden – ich denke an den Fall, dass Vor allem das ehrenamtliche Engagement der vielen sich furchtbar viele an einem Ort tummeln –, verändern. Bürgerinnen und Bürger vor Ort in den Kommunen, die den Menschen aus Syrien mit ganz alltäglichen Dingen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- helfen, um sich in einem völlig fremden Land zurechtzu- SES 90/DIE GRÜNEN) finden, verdient unseren größten Respekt. Gleiches gilt auch für das beträchtliche Engagement, das in der Kri- (B) Wenn Sie es mir erlauben, möchte ich als Beauftragte (D) an dieser Stelle noch einen Satz sagen, der gar nichts senregion geleistet wird. Dort, in den Nachbarländern oder fast nichts mit diesem Thema zu tun hat. Es ist mir Syriens, wo die Not am größten ist, liegt der Schwerpunkt ein Bedürfnis, heute Morgen hier einmal den Namen unserer Hilfe. Dies gilt auch und gerade, weil jeder Euro, Tugce Albayrak zu nennen, der dort den Menschen zugutekommt, das Doppelte und Dreifache bewirkt wie hier bei uns in Deutschland. (Beifall im ganzen Hause) Allein in den vergangenen beiden Jahren hat Deutsch- den Namen der Frau, die für unsere Werte eingestanden land Gelder in Höhe von rund 800 Millionen Euro für ist und so Furchtbares erlebt hat. Der Familie, die wirk- die Hilfe in der Krisenregion bereitgestellt. Auf der in- lich unermessliches Leid erfahren hat, möchte ich hier ternationalen Syrien-Konferenz vor wenigen Wochen in unser Mitgefühl aussprechen. Berlin – im Übrigen auch eine Initiative der Bundesre- Vielen Dank. gierung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo- sition – hat Deutschland weitere 500 Millionen Euro an (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Hilfsmitteln zugesagt. Wir reden also mittlerweile über BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- insgesamt rund 1,3 Milliarden Euro. Deutschland gehört geordneten der LINKEN) damit zu den international größten humanitären Gebern bei der Bewältigung der syrischen Flüchtlingskatastro- Vizepräsidentin Claudia Roth: phe. Auch das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten Vielen Dank, Frau Staatsministerin. Danke auch für Sie anerkennen. das Erinnern an den Mut und die Zivilcourage von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Tugce! neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Nicht vergessen werden darf darüber hinaus das En- Nächste Rednerin in der Debatte: Nina Warken für die gagement vieler deutscher Hilfsorganisationen. So leistet CDU/CSU-Fraktion. etwa das THW einen beträchtlichen Beitrag in den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens und im (Beifall bei der CDU/CSU) Irak, wenn es darum geht, für die Menschen zu bauen, sanitäre Einrichtungen zu schaffen oder die Lager win- Nina Warken (CDU/CSU): terfest zu machen. Das alles wird in ganz großen Teilen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und ehrenamtlich geleistet. Man kann dafür, auch von dieser Kollegen! Meine Damen und Herren! „… dort, wo Men- Stelle aus, nicht häufig genug Danke sagen, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6903

Nina Warken (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Hinzu kommt die Situation in den Ländern und Kom- (C) munen, die bereits heute an ihrer Leistungsgrenze ange- Danke für das, war hier geleistet wird, und dafür, dass kommen sind. Freiwillige mit ihrem Einsatz in den Krisengebieten dazu beitragen, die Situation der Menschen vor Ort zu (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE verbessern und menschliches Leid zu lindern. GRÜNEN]: Genau! Helfen Sie denen!) Meine Damen und Herren, wir wissen, dass wir als Auch sie können und wollen wir nicht noch mehr belas- Deutsche, die in unserem Land so gut und sicher leben ten. Wir brauchen deshalb keine Rufe nach immer mehr. können, eine Verpflichtung gegenüber den Menschen Was wir brauchen, ist eine überlegte Strategie der umfas- haben, denen es in ihrer Heimat nicht so gut geht, die un- senden Hilfe. seren Schutz und unsere Hilfe brauchen. Dieser Ver- pflichtung wollen wir gerecht werden, und dieser Ver- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Jetzt bin ich aber pflichtung werden wir auch gerecht. Deutschland trägt gespannt!) mit seinem vielfältigen Engagement auf den verschie- Sehr geehrte Damen und Herren, es ist ja keinesfalls densten Ebenen dazu bei, dass Menschen in Not gehol- so, dass die Koalition nicht bereit wäre, die Mittel für die fen wird. Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen aufzu- stocken. Im Gegenteil: Erst vor einer Woche haben sich Auch Ihre weiteren Forderungen, sehr geehrte Kolle- Bund und Länder darauf geeinigt, dass der Bund im ginnen und Kollegen, werden dem, was Deutschland für kommenden Jahr 500 Millionen Euro bereitstellen wird, die Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak tut, nicht ge- um vor allem den Landkreisen und Kommunen zu hel- recht. Sie fordern, dass der Abschiebestopp nach Syrien fen, die die Kosten für die Aufnahme und Unterbringung verlängert und auf den Irak ausgeweitet wird. Dabei der vielen Flüchtlinge kaum mehr bewältigen können. steht derzeit überhaupt nicht zur Debatte, dass jemand, Sollte es notwendig sein, wird der Bund im Jahr 2016 solange der Konflikt andauert, nach Syrien abgeschoben die gleiche Summe nochmals zur Verfügung stellen. werden soll. Diese Einigung zeigt einmal mehr, dass Deutschland sei- Ähnlich verhält es sich mit dem Irak. 7 500 Menschen ner humanitären Aufgabe in der Welt gerecht wird und aus dem Irak haben in diesem Jahr in Deutschland einen alle staatlichen Ebenen ihren Beitrag dazu leisten. Asylantrag gestellt. Die Schutzquote beträgt dabei mehr Auf die Große Anfrage zum Thema „unbegleitete als 66 Prozent. Bedingt durch die abscheulichen Taten minderjährige Flüchtlinge“, die ebenfalls zu diesem Ta- der Terrormiliz „Islamischer Staat“ hat das Bundesamt gesordnungspunkt gehört, möchte ich im Hinblick auf für Migration und Flüchtlinge seit Mitte Juni dieses Jah- die noch ausstehende Beantwortung nicht detailliert ein- (B) res keinen Asylantrag mit dem Herkunftsland Irak nega- (D) gehen. Nur so viel: Aufgrund der gestiegenen Zahl unbe- tiv entschieden. Es wird also niemand, dem Gefahr für gleiteter minderjähriger Flüchtlinge beraten Bund und Leib und Leben droht, von der Bundesregierung heute in Länder derzeit darüber, wie eine bessere Verteilung in den Irak oder nach Syrien abgeschoben. Deutschland erfolgen kann, die den besonderen Bedürf- (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nissen von Minderjährigen Rechnung trägt. NEN]: Das stimmt einfach nicht!) Fest steht aber bereits jetzt: In Deutschland sind unbe- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf gleitete minderjährige Flüchtlinge gut versorgt. Ohne das Thema Familiennachzug eingehen. Auch hier wird Ausnahme werden sie zunächst vom zuständigen Ju- die bisherige Praxis im Antrag kritisiert. Für den Fami- gendamt in Obhut genommen, unabhängig davon, ob ein liennachzug wurden neben dem Bundesaufnahmepro- Asylantrag gestellt wird oder nicht. Zudem werden sie gramm Programme der Länder eingerichtet, um in ausschließlich bei Pflegefamilien oder in geeigneten Deutschland lebenden Syrern die Möglichkeit zu geben, Einrichtungen untergebracht. In meinen Augen ist das ihre Verwandten aus dem Kriegsgebiet bei sich aufzu- genau der richtige Weg; denn dogmatisch an dem nehmen. Die Programme der Länder sind in den meisten Grundsatz festzuhalten, dass unbegleitete Minderjährige Fällen zahlenmäßig nicht begrenzt, sodass noch viele dort bleiben müssen, wo sie aufgefunden werden, dient Menschen aus Syrien bei uns Schutz finden werden. Vie- nicht dem Kindeswohl, wenn vor Ort keine geeigneten lerorts übernehmen die Länder und damit der deutsche Unterbringungsmöglichkeiten vorhanden sind. Wenn statt- Steuerzahler die Gesundheitskosten. Für weitere Aufwen- dessen mit einer Reise von wenigen Stunden erreicht dungen muss die Familie in Deutschland aufkommen. Die werden kann, dass die Minderjährigen in einer kinder- Grünen fordern nun erneut, dass auf die Verpflichtungs- und jugendgerechten Unterkunft wohnen können, han- erklärungen durch die aufnehmenden Familien verzich- deln wir im Interesse der Kinder und Jugendlichen. tet wird und damit die meisten Kosten vom Steuerzahler Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen: getragen werden sollen. Deutschland will helfen, und Deutschland hilft – mit Sehr geehrte Damen und Herren, derzeit herrscht in Maß und Mitte und Verstand. Das alles ist im Antrag der Deutschland große Solidarität mit den Flüchtlingen. Da- Grünen nicht zu erkennen. Lassen Sie uns diesen daher für sollten wir dankbar sein. Diese Solidarität ist essen- mit breiter Mehrheit ablehnen. ziell für die Akzeptanz unserer gesamten Flüchtlings- Vielen Dank. politik. Aber es gibt auch Ängste; auch damit müssen wir sorgsam umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU) 6904 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: hat man sowohl das Assad-Regime als auch die Dschiha- (C) Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin in disten herausgedrängt. Vor allen Dingen in dieser Re- der Debatte: Ulla Jelpke für die Linke. gion werden viele Flüchtlinge versorgt. Ich will hier aber noch einmal deutlich sagen: Weil die Türkei die Grenzen (Beifall bei der LINKEN) dort dichtgemacht hat, kommt auch dort keine humani- täre Hilfe an. Wenn nicht mit in den Blick genommen Ulla Jelpke (DIE LINKE): wird, dass auch seitens der Menschen in Rojava, die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Flüchtlinge aufgenommen haben, Solidarität besteht, Tat spitzt sich die Lage für die Flüchtlinge in Syrien und dann wird die nächste Flüchtlingswelle anstehen, bei der im Irak dramatisch zu. Am Montag hat n-tv gemeldet, die Menschen millionenfach in die Türkei gehen bzw. dass 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge in der Region nach Europa drängen. Insofern brauchen wir auch an keine Lebensmittelkarten und Gutscheine mehr erhalten. dieser Stelle von Deutschland und Europa Druck, dass Dem Welternährungsprogramm der UN fehlt einfach das humanitäre Hilfe nach Rojava kommt. Geld. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Ein weiteres Problem ist der Winter. 2,4 Millionen Rüdiger Veit [SPD]) Menschen brauchen Kleidung, Decken, ja, sie brauchen vor allem winterfeste Unterkünfte. Viele leben wirklich Zweifellos ist die Situation so, dass die Türkei viele in schlimmen Behausungen. Gesundheit und Leben die- Flüchtlinge aufnimmt. Das ist schon mehrfach betont ser Menschen sind bedroht, deshalb muss dringend ge- worden. Aber es gibt in der Türkei eine Zweiklassen- handelt werden. Liebe Mitglieder der Regierungspar- flüchtlingshilfe. Arabische Flüchtlinge aus Syrien bei- teien, wenn man sich nur in Selbstlob ergeht und spielsweise sind in vergleichsweise guten Flüchtlingsla- überhaupt nicht mehr die aktuelle Lage und was momen- gern untergebracht. Ich habe mir selbst davon ein Bild tan ansteht, zur Diskussion stellt, dann frage ich mich: gemacht. Es gibt dort Supermärkte, Werkstätten, Schu- Was ist das eigentlich für eine Ignoranz gegenüber der len und alles, was man zum Leben braucht. Das ist auch aktuellen Lage, die Sie hier zum Ausdruck bringen? Das gut so. Andererseits gibt es aber auch Hunderttausende ist wirklich nicht hinnehmbar, von Flüchtlingen in der Türkei – die Jesiden, die Kur- den –, die von der Türkei überhaupt keine staatliche Un- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten terstützung bekommen und die zurzeit vor allen Dingen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von der kurdischen Bevölkerung versorgt werden. Dort herrscht wirklich das humanitäre Grauen: Die Menschen und das vor dem Hintergrund – wir haben es bereits ge- leben unter freiem Himmel. Es gibt keine winterfesten hört –, dass die Nachbarstaaten Syriens und Iraks die Unterkünfte. Zum Teil müssen die Leute in irgendwel- (B) größte Last tragen. Allein im Libanon leben über 1 Mil- (D) chen Garagen leben. Es kann einfach nicht sein, dass die lion Flüchtlinge aus Syrien. Aber die Hilfsbereitschaft Türkei mit diesem Problem alleingelassen wird. Auch lässt auch dort nach. Im Libanon und in Syrien sind die hier muss ganz klar gesagt werden: Es muss mehr Hilfe Grenzen dichtgemacht worden, Flüchtlinge werden so- geleistet werden. Vor allen Dingen müssen mehr Men- gar nach Syrien zurückverwiesen. schen in Europa und in Deutschland aufgenommen wer- Die Bundesregierung hat gestern zwar 40 Millionen den. Man kann sich nicht ständig darauf zurückziehen, Euro zusätzlich für die Welthungerhilfe zugesagt, dass bei uns 40 000 Flüchtlinge angekommen sind. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hört! (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Luise Hört!) Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dennoch müssen wir uns als so reiches Land wie Ich will hier aber auch noch einmal deutlich sagen Deutschland fragen: Ist das wirklich genug? Nein, das ist – es wird ja immer von Fluchtursachen gesprochen –: nicht genug. Wir müssen mehr tun und unsere Möglich- Der Westen ist nicht ganz unschuldig. Wenn wir diese keiten ausschöpfen, um den Gesamtbedarf zusammenzu- Hilfe einklagen, dann tun wir das nicht nur, weil wir sa- bekommen. Hier ist wirklich nicht nur Deutschland gen: „Es ist wichtig, die Flüchtlinge zu versorgen“, son- gefragt, sondern alle EU-Staaten. Alle reichen Länder dern auch, weil es eine Mitverantwortung für die Situa- dieser Welt müssen zur Kasse gebeten werden. Ich finde tion gibt, die im Mittleren und Nahen Osten entstanden es wirklich eine Schande, dass reiche Industriestaaten ist. Ich will daran erinnern, dass beispielsweise die USA nicht in den UN-Fonds eingezahlt haben und die Flücht- mit ihrem völkerrechtswidrigen Krieg vor zehn Jahren lingsorganisationen weltweit damit alleinlassen. Das kann maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Kräfte wie der ja wohl nicht sein. „Islamische Staat“, die Dschihadisten stark geworden (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. sind, die heute mit ihrem barbarischen Krieg einen we- Rüdiger Veit [SPD]) sentlichen Anteil an der Vertreibung aus dem Irak und aus Syrien haben. Dieser Verantwortung muss der Wes- Meine Damen und Herren, im Sommer hat der Vor- ten gerecht werden; denn es hat nicht gerade einen sehr marsch der Terrorbanden des „Islamischen Staates“ wei- starken Druck auf die USA gegeben, diesen Krieg nicht tere 2 Millionen Menschen zur Flucht aus dem Irak und zu führen, sondern es wurde im Gegenteil immer auf aus Syrien gezwungen. Einige von ihnen kamen in das Dschihadisten und Rebellen verwiesen. Auch Europa hat Gebiet Rojava im Norden Syriens, wo eine selbstverwal- im Grunde genommen solche Kräfte mit stark gemacht tete, demokratische Struktur besteht. Aus dieser Region und ist deswegen mitverantwortlich, jetzt nach Lösun- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6905

Ulla Jelpke (A) gen zu suchen. Man darf nicht einfach nur zuschauen Ich bin irgendwann dorthin gefahren und habe mit den (C) und keinen Druck ausüben. Die Türkei hat einen maß- Kindern gesprochen und gesagt, dass ich darauf relativ geblichen Anteil an dem Krieg in Syrien. Wenn man wenig Einfluss habe, dass ich aber das Gefühl habe, dass Fluchtursachen wirklich bekämpfen will, dann muss es zwischen Peer Steinbrück und Angela Merkel gerade man auf jeden Fall dafür sorgen, dass keine Waffen mehr relativ gut läuft. geliefert werden und dass die Menschen humanitäre Hilfe bekommen. Man muss vor allen Dingen die Soli- Der erste Wunsch, den die Kinder formuliert haben, darität in den reichen Ländern einklagen, dass, wie ge- war – ich zitiere –, dass die Kinder aus Syrien zu uns sagt, eben nicht nur einzelne Länder etwas tun. dürfen, bis der Krieg aufgehört hat. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Rüdiger Veit [SPD]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wenn wir also die konkrete Aufstockung eines humani- tären Flüchtlingsprogramms fordern, dann muss das Diese Forderung war damals genauso aktuell wie heute. spürbar sein und die Aufnahme vor allen Dingen wirken. Der Krieg wird bleiben. Er wird nicht heute und nicht morgen zu Ende sein. Niemand weiß, wie viele Men- Sie haben heute von Familienzusammenführung ge- schen noch sterben müssen. Niemand weiß, wie viele sprochen. Ich kann Ihnen viele Menschen aus Syrien noch flüchten werden, um das eigene Leben zu retten. nennen, die seit Jahren nicht mehr mit ihren Familien zusammengekommen sind, weil in Deutschland eine Aber was können wir tun, um den Menschen in, um unglaubliche Bürokratie existiert, wenn es um die Auf- und aus Syrien zu helfen? Es sind vor allem zwei nahme syrischer Flüchtlinge geht. Schauen Sie sich ein- Punkte. Zum einen müssen wir Menschen, die aus mal an, seit wann Ihre Programme laufen! Über zwei Syrien zu uns flüchten, aufnehmen, ihnen Schutz und Si- Jahre dauert es, bis 20 000 Flüchtlinge aus dem Libanon cherheit, Nahrung, Bildung und medizinische Versor- überhaupt hier ankommen. Es kann ja wohl nicht wahr gung anbieten. Wir haben bereits die Aufnahme von sein, dass man da nicht schneller und unbürokratischer 20 000 Flüchtlingen zugesagt; das wurde schon mehr- hilft. Die Möglichkeiten, die Deutschland hat, wären bei fach gesagt. Mehr als 60 000 haben Schutz im Rahmen weitem größer, um vor allen Dingen Familienzusam- deutscher Asylverfahren erhalten. 15 Bundesländer ha- menführung zu ermöglichen. ben eigene Aufnahmeprogramme zugesagt. Das heißt, wir haben schon viel getan. Gerade das, was Länder und Vizepräsidentin Claudia Roth: Kommunen in den vergangenen Wochen und Monaten Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit. geleistet haben, kann man nicht hoch genug schätzen, (B) liebe Kolleginnen und Kollegen. (D) Ulla Jelpke (DIE LINKE): (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Ich denke dran. Ich komme zum Schluss. – Zum bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Schluss will ich sagen, dass die materielle Hilfe und die GRÜNEN) verstärkte Aufnahme besonders hilfsbedürftiger Flücht- linge absolut nötig sind. Wir sollten vor allen Dingen Fest steht aber auch – hier gebe ich Ihnen recht, Frau den Libanon entlasten, denn dieses Land kollabiert in- Jelpke –, dass wir uns darauf nicht ausruhen dürfen. Des- zwischen. Ich glaube, wir werden auch dort mehr Kon- halb bin ich dafür dankbar, dass er flikte bekommen, wenn nicht wirklich geholfen wird. sich am Wochenende dafür ausgesprochen hat, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, und betont hat, wie wichtig es Ich danke Ihnen. vor allem für Kinder ist, dass sie schnell in die Schule gehen und eine gute Ausbildung bekommen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Claudia Roth: der CDU/CSU) Vielen Dank, Frau Kollegin Jelpke. – Nächste Redne- Bei einem Krieg, der so lange dauert und so viele Men- rin in der Debatte ist Christina Kampmann für die SPD. schenleben gekostet hat, reicht es nicht aus, einmal zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten helfen und dann wegzuschauen. Bei einem Krieg wie der CDU/CSU) dem in Syrien muss es eine konstante Unterstützung ge- ben, für die wir uns gemeinsam starkmachen müssen. Christina Kampmann (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und der CDU/CSU) Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich vor etwa einem Jahr in den Bundestag gekommen Die SPD bekennt sich deshalb zu ihrer humanitären bin, hat mir eine 3. Klasse aus meinem Wahlkreis einen Verantwortung. Wir wollen und wir werden weiter Brief mit Wünschen und Forderungen zugeschickt, die helfen; denn immer dann, wenn Menschen in Not gera- ich hier zu erledigen habe. Ein Wunsch bezog sich ten sind, ist das nicht nur unsere politische, sondern vor darauf, dass Peer Steinbrück und Angela Merkel sich allem auch unsere menschliche Pflicht. endlich vertragen sollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) der CDU/CSU) 6906 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Christina Kampmann (A) Wir wissen aber auch – diese Erkenntnis ist ebenso Antrag an keiner Stelle vor –: Eine gute Flüchtlingspoli- (C) bitter wie wahr –, dass das, was wir angesichts einer tik ist nur zusammen mit den Kommunen möglich. Am Zahl von 2,8 Millionen Kriegsflüchtlingen, die Syrien Ende sind es die Kommunen, die winterfeste und men- seit Beginn des Krieges verlassen haben, tun können, schenwürdige Unterbringungsmöglichkeiten bereitstel- niemals genug sein wird. Wir werden nicht jedem Men- len müssen. Am Ende sind es die Kommunen, in denen schen die Unterstützung zukommen lassen können, die sich entscheidet, ob Integrationsgeschichten Erfolgsge- er verdient hat. Wir werden nicht überall dort helfen schichten werden. können, wo Hilfe eigentlich nötig wäre. Deshalb ist die Forderung aus dem Antrag richtig: Auch andere europäi- Dabei müssen wir uns eines eingestehen: Die Men- sche Länder müssen sich stärker zu ihrer humanitären schen, die aus Syrien und dem Irak zu uns kommen, Verantwortung bekennen. Es kann nicht sein, dass wir werden nicht heute und nicht morgen in ihre Heimat zu- Tausende aufnehmen, während andere nur 200 aufneh- rückkehren können; diese Menschen werden bleiben. men. Die Flüchtlinge von heute sind unsere Nachbarn, Kolle- gen, Freunde und Mitbürger von morgen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben uns in Europa zu gemeinsamen Werten be- der CDU/CSU – Dr. Franziska Brantner kannt. Werte sind aber nicht dazu da, um in den Mund [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von heute!) genommen zu werden, weil sie sich so schön anhören; Werte sind da, um gelebt zu werden. Genau an solchen – Von heute auch. – Viele Menschen werden bleiben, Fragen, bei denen es darum geht, dass Menschen vertrie- und es ist gut, dass sie bleiben, nicht nur, weil wir gut ben werden und um ihr Leben fürchten müssen, genau ausgebildete Arbeitskräfte dringend brauchen, um dem an solchen Fragen menschlichen Leids entscheidet sich, demografischen Wandel zu begegnen, sondern auch, ob wir es mit einem Europa der Werte und der Mensch- weil wir ihnen hier etwas bieten können, was für uns so lichkeit tatsächlich ernst meinen. selbstverständlich ist, was aber bei den Menschen aus Syrien und dem Irak ständig bedroht war: Schutz und (Beifall bei der SPD) Sicherheit und ein funktionierender Rechtsstaat. Ich möchte, dass Flüchtlingsgeschichten Erfolgsgeschich- Denn bei all diesen unvorstellbar großen Zahlen – die ten werden – Erfolgsgeschichten einer Integration, von Zahl von 2,8 Millionen Flüchtlingen ist für uns alle, der, wie ich überzeugt bin, alle profitieren werden. glaube ich, nicht wirklich vorstellbar – müssen wir uns immer wieder klarmachen: Hinter jeder Zahl verbirgt Die zweite und nicht minder wichtige Bedingung für sich ein menschliches Schicksal, dessen Ausmaß an Leid eine gute Flüchtlingspolitik ist die Akzeptanz und das (B) und Not kaum zu erfassen ist. Verständnis der Menschen in unserem Land. Da erlebe (D) ich an ganz vielen Stellen eine unglaublich stark aus- Das Zweite, das wir tun müssen, ist, Solidarität mit geprägte Bereitschaft, zu helfen und solidarisch zu sein. den Aufnahmeländern in der Region zu zeigen. Denn Egal ob es um Spenden, um Hausaufgabenbetreuung, wenn diese an Stabilität verlieren, dann werden wir über um Sprachunterricht oder auch einfach um Zuhören ganz andere Probleme nicht nur in der Region reden, als geht: Das, was viele Menschen gerade an vielen Orten in wir es heute tun. Der Libanon, Jordanien, die Türkei, der Deutschland ehrenamtlich leisten, verdient Respekt, An- Irak und Ägypten gehören zu diesen Ländern; sie haben erkennung und vor allem ein ganz großes Dankeschön. mehr als 3 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Deshalb ist es gut, dass wir Ende Oktober die Syrien- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Flüchtlingskonferenz veranstaltet haben. Frank-Walter bei Abgeordneten der LINKEN) Steinmeier hat zusammen mit Entwicklungsminister Müller für die Zeit bis 2017 500 Millionen Euro zusätz- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kinder der lich für humanitäre Hilfe versprochen. Gestern kam die 3. Klasse in meinem Wahlkreis wissen vielleicht nicht so Meldung – das wurde heute auch schon gesagt –, dass genau, warum es diesen Krieg in Syrien eigentlich gibt weitere 40 Millionen Euro für diesen Winter zur Verfü- und was Menschen antreibt, anderen Menschen Gewalt gung gestellt werden. anzutun. Sie haben aber sehr wohl verstanden, dass wir denen, die zu uns kommen, um das eigene Leben zu (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE retten, alle Hilfe und Unterstützung zukommen lassen GRÜNEN]: Die sind nicht zusätzlich!) sollten, die wir zu leisten imstande sind. Frank-Walter Steinmeier hat auch recht, wenn er sagt, Deshalb dürfen wir in unserer Unterstützung nicht dass wir uns eine verlorene Generation syrischer Kinder nachlassen – nicht weil das der Anspruch ist, den andere und Jugendlicher nicht leisten dürfen; an uns haben, sondern weil das der Anspruch sein muss, den wir als Menschen an uns selbst haben. (Beifall bei der SPD) Danke schön. denn dort, wo einer ganzen Generation eine Perspektive genommen wird, wird es auch nach dem Krieg nicht (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) möglich sein, politische Stabilität zu erreichen. Bei allem, was wir uns im Bund vornehmen, ist aber Vizepräsidentin Claudia Roth: eines klar – das dürfen wir nicht vergessen; es kommt im Vielen herzlichen Dank, liebe Christina Kampmann. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6907

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Als Gäste möchte ich Vertreter der Berufsfeuerwehr Durchreise nach Deutschland. Was bedeutet das für (C) aus Hagen begrüßen, die auch oft Menschen in Not hel- diese Kinder? Ist das im Kindeswohl? Ich glaube, ein- fen. Herzlich willkommen hier in unserem Haus! deutig nicht. (Beifall) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Nächste Rednerin in der Debatte ist Dr. Franziska Brantner für Bündnis 90/Die Grünen. In der Dublin-II-Verordnung – jetzt komme ich zu Ih- nen, Herr Schröder – wird das Kindeswohl sowohl in Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Erwägungsgründen genannt als auch in Artikel 6 NEN): Absatz 1 festgelegt: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Das Wohl des Kindes ist in allen Verfahren, die in Liebe Kollegen! Liebe Gäste! Frau Kampmann, wenn dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige ich Sie in Ihrer Rede eben richtig verstanden habe, dann Erwägung der Mitgliedstaaten. werden Sie unserem Antrag zustimmen, oder? Deswegen haben Sie recht: Das EU-Recht gibt das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) genau vor. Das, was wir in Deutschland brauchen, sind Die Interessen der Kinder, das Kindeswohl spielen deswegen nicht neue Gesetze, sondern Durchführungs- eine nachrangige Rolle. Die Kinder werden nur sel- verordnungen und Verwaltungsvorschriften mit klaren ten als eigenständige Träger von Rechten wahr- Regelungen zur Beachtung und Umsetzung des Kindes- genommen. Dies ist zum einen häufig mit einer wohls. Das brauchen wir dringend. Das erwarte ich von Missachtung der Rechte dieser Kinder verbunden. Ihnen. Zum anderen wird die fehlende Wahrnehmung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kinder durch Behörden, Politik und Gesellschaft und bei der LINKEN) der oftmals wichtigen Rolle, die Kinder in ihren Fa- milien übernehmen, nicht gerecht. In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie festgelegt, im Asylverfahren endlich die Altersgrenze auf 18 Jahre an- Das ist das wortwörtliche Zitat aus der UNICEF-Studie zuheben. Wann kommt das denn endlich einmal? Wann aus dem Herbst dieses Jahres zum Thema „Kinderflücht- ist es denn so weit? Es steht im Koalitionsvertrag. Dazu linge in Deutschland“. Ich wiederhole es: Kindeswohl haben Sie aber immer noch keine Vorlage eingebracht. spielt eine nachrangige Rolle. Die Rechte werden miss- Das wäre so ein wichtiger Schritt für die Jugendlichen. achtet. Und das in unserem Land, in Deutschland, im 21. Jahrhundert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (B) Rüdiger Veit [SPD]: Das wird bald kommen!) (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) – Ich zähle auf Sie, dass es bald kommt. Der VN-Kinderrechtsausschuss kam übrigens zu (Rüdiger Veit [SPD]: Das können Sie!) Beginn dieses Jahres zum gleichen Ergebnis; denn nach der UN-Kinderrechtskonvention, deren 25. Jahrestag wir Ich will noch einen Bereich ansprechen, nämlich die morgen feiern, haben Kinder, egal woher sie kommen, Bildung. Im Asylverfahren haben Menschen keinen An- egal wo sie geboren sind, genau die gleichen Rechte in spruch auf Integrationskurse. Man geht davon aus, dass Deutschland, aber das haben sie eben de facto in die Kinder in der Schule Deutsch lernen. Aber dort feh- Deutschland momentan nicht. Das ist ein Unding. len häufig Zusatzangebote. Diese Leistungen werden oft ehrenamtlich erbracht. – Dafür an dieser Stelle ein Dan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keschön. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Aber das fehlt eben, und das Schlimme ist, dass die 16- bis 17-Jährigen, die keine Schulpflicht mehr haben, Wir haben zu dieser Problematik eine Große Anfrage komplett herausfallen. Die gehen nicht in die Schule, eingebracht. Wir arbeiten darin die Defizite heraus. Es und die haben kein Anrecht auf Integrations- und ist gut, zu wissen, dass Frau Özoğuz da auf unserer Seite Sprachkurse. Das ist eine Generation von Jugendlichen, steht und diese Defizite auch benannt hat. die bei uns keine Zukunft hat. Das ist auch ein Unding, Ich gebe ein Beispiel aus dem Bericht: Im Jahr 2013 das wir dringend beheben müssen. wurden 1 136 Minderjährige nach Polen zurückgebracht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im Jahr 2012 waren es 90 Minderjährige. Das entspricht einer Steigerung um mehr als das Zehnfache. Ob das Vorletzte Woche besuchte ich eine Einrichtung in Kindeswohl bei diesen Entscheidungen berücksichtigt meinem Wahlkreis, wo mir ein Betreuer von einem so- wurde? malischen Jungen berichtete, dem sie erfolgreich einen Ausbildungsplatz vermittelt hatten, und der dann doch Was bedeutet die Abschiebung häufig nach einem abgeschoben wurde. Dazu kann man nur sagen – Herr Jahr oder mehr für diese Kinder? Während dieses Jahres Schweitzer vom DIHK hat total recht –: Stoppen Sie waren sie bei uns in der Schule, haben Deutsch gelernt, endlich diesen Irrsinn! haben Freunde gefunden, und dann müssen sie zurück in ein Land, dessen Sprache sie nicht sprechen, das sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN noch nie gesehen haben, außer einmal kurz auf der und bei der LINKEN) 6908 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Franziska Brantner (A) Die Angebote der Jugendhilfe, die Möglichkeiten der Aus gutem Grund wurde die deutsche Flüchtlings- (C) Hilfe zur Erziehung, die Maßnahmen der Jobcenter, die politik vom UN-Flüchtlingskommissar Guterres und vom Maßnahmen der Arbeitsagenturen – all diese Dinge EU-Kommissar für Migration und Inneres, Avramopoulos, müssen allen Kindern und Jugendlichen, egal woher sie als vorbildlich für Europa gelobt. kommen, zur Verfügung gestellt werden, bzw. es muss ihnen ermöglicht werden, sie eins zu eins in Anspruch zu (Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE nehmen; das ist unser Ansatz. In Deutschland darf es LINKE]: Noch mehr auf die Schulter klop- keine Kinder zweiter Klasse geben. Die größere Verant- fen!) wortung Deutschlands, von deren Wahrnehmung auf in- Doch trotz dieses großen Engagements reicht die ternationaler Ebene wir ständig sprechen, beginnt hier. Hilfe insgesamt angesichts der katastrophalen Lage nicht Wenn wir hier nicht entsprechend handeln, dann brau- aus. Laut den Vereinten Nationen sind die kurzfristig nö- chen wir über mehr Verantwortung gar nicht erst zu re- tigen Hilfsmaßnahmen innerhalb Syriens und in den An- den. rainerstaaten nur knapp zur Hälfte finanziert. Es fehlen insgesamt rund 2,6 Milliarden Euro, um die Flüchtlings- Ich danke Ihnen. versorgung in der Region bis Ende des Jahres sicherzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellen. Daher, meine sehr geehrten Damen und Herren, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) müssen wir unsere begrenzten Mittel auch effektiv ein- setzen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Es reicht nicht aus, dass wir über Sonderkontingente Vielen Dank, liebe Kollegin Franziska Brantner. – immer wieder Menschen zu uns holen. Mit Sonderkontin- Nächste Rednerin in der Debatte: Andrea Lindholz für genten konzentrieren wir die Mittel auf einige Härtefälle. die CDU/CSU-Fraktion. Mit dem Geld für die Antragsbearbeitung, den Transport, die Unterbringung und die Versorgung eines einzelnen (Beifall bei der CDU/CSU) Flüchtlings in Deutschland können vor Ort wesentlich mehr Familien unterstützt werden. Verantwortungsvolle Andrea Lindholz (CDU/CSU): Hilfe darf die begrenzten Mittel nicht selektiv verwen- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten den. Es ist daher richtig, dass wir unseren Fokus auf die Damen und Herren! Laut den Vereinten Nationen sind Hilfe vor Ort richten. weltweit über 50 Millionen Menschen auf der Flucht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ein Zentrum dieser Katastrophe ist Syrien. Rund Rüdiger Veit [SPD]) 10,8 Millionen Syrer befinden sich auf der Flucht. Es (B) gibt aktuell wenig Hoffnung, dass sich die Situation in Angesichts der dramatischen Lage in Syrien dürfen (D) absehbarer Zeit bessern wird. Doch auch wenn die Lage wir auch nicht die Katastrophen in anderen Teilen der hoffnungslos erscheint: Deutschland und seine Partner Welt vergessen: In Eritrea, Somalia, Myanmar oder Sri dürfen diese Katastrophe nicht einfach akzeptieren. Die Lanka leiden ebenfalls unzählige Menschen unter Hun- Bundesregierung tut das auch nicht. Im Gegenteil: Sie ger, Not und Krieg. trägt auf vielfältige Weise zur Verbesserung der Lage (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei. So hilft Deutschland den Opfern des Bürgerkrieges NEN]: Wir wollten Sie nicht überfordern! wie kaum ein anderes Land. Aber Sie haben natürlich recht: Da sieht es In den letzten zwei Jahren hat Deutschland rund auch schlimm aus!) 800 Millionen Euro für die Hilfe vor Ort bereitgestellt. Die Bundesregierung kann diese Krisen nicht alleine lö- Hinzu kommen rund 1,1 Milliarden Euro von der EU. sen. Deutschland, sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Auch dazu leistet Deutschland als größter Nettozahler gen, ist aber sehr solidarisch. Die Solidarität fängt bei einen wesentlichen Beitrag. Für die nächsten drei Jahre der Bundesregierung an, geht über die Länder bis hin zu hat die Bundesregierung weitere 500 Millionen Euro an den Kommunen und den vielen, vielen Ehrenamtlichen, bilateraler Hilfe zugesagt – im Rahmen einer Syrien- die sich um die Unterbringung und Versorgung der Konferenz, die von der Bundesregierung ausgerichtet Flüchtlinge kümmern. Es gibt vor Ort großartige Initiati- wurde. ven von Landräten und Bürgermeistern, die in ihren Seit Kriegsbeginn wurden 75 000 syrische Flücht- Gemeinden Großartiges leisten, von sich aus Flücht- linge in Deutschland aufgenommen. Seit drei Jahren gilt lingsunterkünfte bereitstellen und für uns alle diese Ver- für Syrien ein Abschiebestopp. 20 000 besonders Schutz- antwortung tragen. Diese Hilfsbereitschaft wächst seit bedürftige werden im Rahmen von drei Sonderprogram- Monaten. Der Deutsche Spendenrat erwartet, dass 2014 men hierhergeholt. Und die Bundesregierung stellt drei ein neues Rekordjahr beim privaten Spendenaufkommen Viertel der humanitären Aufnahmeplätze für Syrien. in Deutschland wird. Gestern hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf ver- Aber – auch darauf ist Frau Pau vorhin eingegangen – abschiedet, der unter anderem das Programm zur Neuan- trotz aller Hilfsbereitschaft müssen wir auch die öffentli- siedlung von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen che Akzeptanz für unser Asylsystem erhalten. Deutsch- verstetigen soll. Damit wird eine dauerhafte Aufnahme- land ist zu einem Einwanderungsland geworden und auf möglichkeit geschaffen. Pro Jahr gewährt Deutschland den Ausgleich seiner schwachen Geburtenzahlen durch über dieses Programm in 300 Härtefällen besonderen Migration angewiesen. Es gibt Menschen in Deutsch- Schutz. land – das merkt man immer wieder –, die sich mit der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6909

Andrea Lindholz (A) Zuwanderung schwertun, die Ängste und Sorgen haben. deswohl entsprechende Unterbringung und Versorgung (C) Es gibt vielleicht auch den einen oder anderen Extrem- vornehmen wollen. fall, zum Beispiel den, den Frau Pau geschildert hat. Ich kann aus meiner eigenen Kommune, in der wir vor drei (Beifall bei der CDU/CSU) Wochen im Gemeinderat beschlossen haben, auf einem Deshalb hat Bayern einen Antrag und einen Gesetzent- Grundstück der Kirche eine Flüchtlingsunterkunft zu er- wurf vorgelegt, über den der Bundesrat am 19. Dezem- richten, berichten, dass das große Ängste hervorgerufen ber 2014 abstimmen soll. Ziel ist es, die minderjährigen hat, dass das mit Leserbriefen, Flugblättern und E-Mails unbegleiteten Flüchtlinge gemäß dem Königsteiner an die Gemeinderäte einherging. Schlüssel auf die Bundesländer gleichmäßig und gerecht Wir müssen diese Ängste ernst nehmen. Wir müssen aufzuteilen. den Menschen erklären, warum es wichtig ist, dass wir Wir brauchen mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung die Menschen in unserem Land aufnehmen. Wir müssen innerhalb Deutschlands und innerhalb Europas. Ich gebe auch erklären, welche Chancen damit verbunden sind. den Kolleginnen, die vor mir gesprochen haben, recht. Und das ist nicht allein Aufgabe der Politik, sondern Es reicht nicht aus, immer nur zu sagen: Deutschland tut eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Nur so wird es viel, Schweden tut viel. – Nachdem ich hier so oft Unter- uns gelingen, fremdenfeindliche Aktionen und fremden- feindliche Gedanken aus diesem Land fernzuhalten. Das stützung durch Europa angemahnt habe, wünsche ich ist notwendig; denn das gefährdet den sozialen Zusam- mir nun, dass es uns in den nächsten zwölf Monaten ge- menhalt in diesem Land. meinsam gelingt, mehr Druck in Europa auszuüben, da- mit auch die anderen Staaten ihrer Verantwortung ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. recht werden; denn Europa – liebe Christina Kampmann, [SPD]) da hast du völlig recht – darf keine Einbahnstraße sein. Daher muss die Einwanderung nach Deutschland klaren Das ist eine gesamteuropäische Aufgabe. Ich hoffe, dass Regelungen folgen. Asyl dient weder der Fachkräftege- es uns gelingt, eine Lösung zu finden. winnung noch der Entwicklungshilfe. Asyl dient aus- Vielen Dank. schließlich dem Schutz von verfolgten Menschen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU – Luise Amtsberg neten der SPD) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Unter den fast 11 Millionen syrischen Flüchtlingen Vielen Dank, Frau Kollegin Lindholz. – Nächster befinden sich über 5 Millionen Kinder. Auch aus diesem (B) Redner in der Debatte: Rüdiger Veit für die SPD-Frak- (D) Grund ist es wichtig, dass wir uns bei der Flüchtlings- tion. hilfe vor Ort massiv engagieren. In Deutschland werden aktuell immer mehr unbegleitete Minderjährige in staat- (Beifall bei der SPD) liche Obhut genommen. Eine aussagekräftige Statistik darüber gibt es nicht; denn bundesweit werden nur die Rüdiger Veit (SPD): Kinder gezählt, die einen Asylantrag gestellt haben. Und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das wiederum bedeutet, dass ihr Alter und ihre Identität Aus dem letzten Beitrag und dem von der Kollegin festgestellt werden können. Für Bayern rechnet der Lan- desbeauftragte in 2014 mit rund 3 000 Inobhutnahmen Brantner ist deutlich geworden, warum wir uns heute von Minderjährigen. Das sind sechsmal so viele Fälle auch mit der Situation minderjähriger unbegleiteter wie im Vorjahr. Flüchtlinge befassen. Das zentrale Problem ist, dass sich der Großteil der Ich persönlich habe zuerst nicht ganz verstanden, wa- Inobhutnahmen auf bestimmte grenznahe Jugendämter rum Sie Ihre umfangreiche Anfrage auch zum Gegen- konzentriert; denn nach § 87 SGB VIII ist das Jugend- stand der heutigen Debatte gemacht haben. Ich konze- amt zuständig, in dessen Bereich der Minderjährige zu- diere aber ausdrücklich, dass die von Ihnen gestellten erst aufgefunden worden ist. Eine Verteilung, also ein Fragen – 239 an der Zahl, zum Teil auch noch mit Unter- Zuständigkeitswechsel, kann aktuell erst nach Abschluss fragen – einen sensiblen Komplex beleuchten sollen, des Asylverfahrens erfolgen. Das führt in der Praxis und bin gespannt auf die Antworten. Nach den Antwor- dazu, dass die Jugendämter und die Kommunen an den ten der Bundesregierung würde ich dann gerne auch über Hauptflüchtlingsrouten völlig überlastet sind. In Bayern die Konsequenzen diskutieren. Da, liebe Kollegin gilt das für Rosenheim, München und Passau. Und die Lindholz, wäre ich ein kleines bisschen vorsichtiger hin- Jugendlichen können aus Platzmangel eben nicht so un- sichtlich der Übernahme des Vorschlages aus Bayern, tergebracht werden, wie dies im Idealfall sein sollte, son- Jugendliche ohne Weiteres auch nach dem Königsteiner dern sie müssen teilweise in Notunterkünften und Sport- Schlüssel auf die Bundesländer zu verteilen; denn das ist hallen untergebracht werden. unter Beachtung des Kindeswohls im Einzelnen viel- leicht nicht immer machbar. Hier muss man sehr sorgfäl- Allein in München werden bis Jahresende 1 500 Inob- tig und vorsichtig sein. hutnahmen erwartet. Die Jugendämter vor Ort leisten Großartiges; aber sie stoßen an ihre Grenzen. Hier be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten steht dringender Handlungsbedarf, wenn wir – das ist der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE von allen richtig angesprochen worden – eine dem Kin- GRÜNEN) 6910 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Rüdiger Veit (A) Insgesamt kann ich dieser Debatte, soweit es um die Jetzt ist die Frage: Was? Wir haben zur Kenntnis zu (C) Aufnahme syrischer Flüchtlinge geht, eigentlich nur be- nehmen, dass es auch für Flüchtlinge aus Syrien drei scheinigen – wenn Sie mir dieses Urteil erlauben –, dass verschiedene Wege gibt, nach Deutschland zu gelangen wir uns lediglich in Nuancen unterscheiden. Ein Beispiel und hier Schutz zu erhalten: Erstens ist es die Flucht über dafür ist die Anwendung von Artikel 17 der Dublin-III- das Mittelmeer oder auf anderen verschlungenen und Verordnung. Des Weiteren muss man die Überlegung, nicht selten sehr gefährlichen Pfaden, um hier einen Asyl- syrische Flüchtlinge an den Grenzen auch in andere EU- antrag zu stellen; das macht die größte Zahl aus. Zwei- Staaten abzuschieben, sicherlich noch einmal genau be- tens sind das die Landesprogramme: Etwa 10 000 Men- leuchten und gucken, ob das Bundesamt für Migration schen sind im Rahmen dieser Landesprogramme zu uns und Flüchtlinge unter Berücksichtigung familiärer Ge- gekommen. Drittens sind das die Bundesprogramme. sichtspunkte im Einzelfall nicht noch wesentlich großzü- Weil diese drei verschiedenen Pfade zu verschiedenen giger entscheiden kann; ich würde mir das wünschen. Zielen, zu unterschiedlichen Rechtsstatus führen, müs- sen wir uns einmal überlegen, was eigentlich das richtige In der Quintessenz ist eigentlich nur ein wesentlicher Instrument ist. Dazu will ich ein paar Gedanken beitra- Unterschied festzustellen: Sie, Frau Kollegin Warken – so gen und auch schildern, wie die Lage ist. richtig das war, was Sie sonst alles gesagt haben –, ha- ben uns aufgefordert, dem Antrag der Grünen möglichst Zunächst einmal zur Asylfrage. Wenn denn sowieso in der Breite des ganzen Hauses nicht zuzustimmen. Ich klar ist, dass diejenigen, die den Weg hierher zu uns muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn ich mir das Elend schaffen, Flüchtlingsschutz bekommen, eine Anerken- in der Region, von der wir reden, anschaue – auch und nung nach § 3 Asylverfahrensgesetz, muss man sich gerade das Elend von Kindern –, dann denke ich spontan doch die Frage stellen: Warum erwarte ich dann, dass – jugendliche Spontanität ist auch in meinem Lebensal- diese Menschen zunächst einmal ihr Leben und das ihrer ter manchmal noch erlaubt –: Familie riskieren, indem sie unter schwierigsten Bedin- gungen und Umständen versuchen müssen, überhaupt (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der erst einmal zu uns zu kommen? CDU/CSU) Gelegentlich wird ja gesagt, das BAMF, das Bundes- Es gibt in dem Antrag der Grünen kaum einen Punkt, amt für Migration und Flüchtlinge, das wir mit zusätzli- dem man nicht zustimmen kann. chen Mitteln und Stellen ausgestattet haben, müsse sich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- darauf konzentrieren, diejenigen, die aus den drei jetzt SES 90/DIE GRÜNEN) für sicher erklärten Westbalkanstaaten kommen, mög- lichst wieder zurückzuführen. Denen, die dieses fordern, Ich will Ihnen aber auch sagen: Wir müssen gemeinsam will ich einmal sagen, wie die Lage in der größten Stadt (B) (D) versuchen – mein Appell ist „Gemeinsamkeit“ –, zu ei- meines Wahlkreises aussieht, wo sich Hessens Erstauf- ner Position zu kommen, die auch wirklich hilft. nahmeeinrichtung für Flüchtlinge befindet: Wir haben Ich erlaube mir jetzt einmal, aus einem Lagebericht dort und zum Teil bereits vorab verteilt in Städten und des Auswärtigen Amtes zu zitieren: Gemeinden insgesamt über 3 000 Flüchtlinge, rund 1 000 davon allein aus Syrien. Ich bin froh und dankbar Seit den zunächst friedlichen Protesten ab März – und würde das gerne hier hervorheben –, dass die Au- 2011 und im Zuge der militärischen Eskalation hat ßenstelle des Bundesamtes nicht nur dort, sondern gene- sich die Menschenrechtslage in Syrien dramatisch rell, bundesweit, dazu übergegangen ist, Flüchtlingsan- verschlechtert. Der Konflikt hat Oppositionsschät- gelegenheiten von denjenigen Menschen, bei denen zungen zufolge bereits mehr als 190 000 Todes- ziemlich klar ist, dass sie hierbleiben können, prioritär opfer gefordert. Mehr als 3 Mio. Syrer sind in zu bearbeiten. Es macht doch keinen Sinn, den ganzen Nachbarländern als Flüchtlinge registriert. Fast die Aufwand, die ganze seelische Belastung und die ganzen Hälfte der ca. 22 Mio. Syrer ist auf Hilfe ange- Kosten aufzuwenden für Verfahren, die Monate dauern, wiesen, darunter 6,5 Mio. Binnenflüchtlinge. Ca. wenn von vornherein klar ist: Sie können dableiben. 6,6 Mio. Kinder in Syrien und in den Nachbarlän- Deswegen bin ich stolz darauf, dass die Außenstelle des dern sind vom Konflikt betroffen und benötigen hu- Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bei der Erst- manitäre Hilfe, 10 000 haben bereits ihr Leben ver- aufnahmeeinrichtung in Gießen – ich habe mir die Zah- loren. len heute noch mal durchgeben lassen – in den letzten 14 Tagen insgesamt für 294 dieser 1 000 Flüchtlinge aus In diesem Bericht geht es mit wirklich erschütternden Syrien Anerkennungen ausgesprochen hat und 588 Ak- Schilderungen darüber weiter, wie auch und gerade Kin- ten angelegt worden sind. der und Jugendliche getötet werden, verschleppt werden, missbraucht werden und gefoltert werden und ver- Man geht übrigens im Rahmen der Verwaltungsver- schwinden. Das, meine sehr verehrten Damen und Her- einfachung dazu über, die entsprechenden Anhörungen ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nichts, was uns auch gestützt auf Fragebögen durchzuführen, damit das alle kaltlassen kann. Deswegen bin ich froh und dankbar, alles schneller geht. Das ist begrüßenswert, und ich dass die Bundeskanzlerin – das wurde schon zitiert –, finde, auch da sind mehr Personal, mehr Manpower, und der Außenminister – das wurde schon zitiert –, unser mehr Sachmittel richtig eingesetzt. Ich danke dem Bun- Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann – das wurde desinnenminister ausdrücklich – Herr Dr. Krings, ich schon zitiert – und auch Sie, Herr Kauder, übereinstim- wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihm das ausrichten –, dass mend sagen: Da muss man etwas tun. durch Erlass des Bundesinnenministeriums vom 7. No- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6911

Rüdiger Veit (A) vember, wenn ich richtig informiert bin, ausdrücklich Familienverband in ihrer Heimat haben aufgenommen (C) klargestellt worden ist, dass Flüchtlingsangelegenheiten werden können, und auch alleinstehende Frauen mit von Syrern vorrangig zu bearbeiten sind. Kindern, die sich ebenfalls in einer schwierigen und noch verzweifelteren Lage befinden als andere. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich wäre sehr dankbar, wenn wir gemeinsam – ich be- Daneben haben wir die Landesprogramme mit den tone: gemeinsam – zu dem Ergebnis kommen könnten, bereits erwähnten Problemen bei der Verpflichtungser- dass Deutschland an dieser Stelle ein gutes Beispiel gibt, klärung. Da ist es in der Tat so, dass die Bundesländer insbesondere in Anbetracht des jahreszeitlichen Zusam- unterschiedliche Maßstäbe ansetzen. Das führt zu großer menhangs. Ich wäre dankbar, wenn wir die Gemeinsam- Verwirrung, übrigens auch bei Betroffenen. keiten, die in der heutigen Debatte zum Ausdruck ge- Schließlich haben wir das Bundesprogramm – wiede- kommen sind, bewahren und nicht einfach einen Antrag rum mit anderen Rechtsfolgen –, bei dem jetzt von dem ablehnen. beschlossenen Kontingent von 20 000 überhaupt erst Ich habe noch die Hoffnung, dass wir zu einer ge- 10 000 hier sind. Aus dem Kontingent von 20 000 sind meinsamen Position kommen können. Ich habe den im Übrigen 16 000 entsprechende Übernahmeanordnun- Wunsch, dass Sie diese Hoffnung nicht zu einer leeren gen oder Übernahmeerlaubnisse erteilt worden. Das Illusion werden lassen. heißt, wir haben da keine Eile. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Warum geht das so langsam?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Die Frage ist völlig berechtigt. Aber mittlerweile lau- fen die Verfahren. Es hat am Anfang sehr lange gedauert, Vizepräsidentin Claudia Roth: bis überhaupt die Abläufe in Ordnung gekommen sind. Vielen herzlichen Dank, Rüdiger Veit. – Nächste Red- Jetzt ist es gelegentlich so, dass die Leute technische nerin in der Debatte: Erika Steinbach für die CDU/CSU- Schwierigkeiten haben, hierherzukommen. Nur mal ein Fraktion. Beispiel: Wenn etwa jemand, der unmittelbar aus Syrien stammt, ein Einreisevisum für Deutschland bekommen (Beifall bei der CDU/CSU) will, dann muss er, weil er das in Syrien nicht erhalten kann, da raus. Wenn er dann die Übernahmeanordnung, Erika Steinbach (CDU/CSU): die Erlaubnis, hierherzukommen, hat, muss er versu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! chen, in irgendein Flugzeug zu steigen und dann auch al- (B) Die heutige Debatte über die Flüchtlinge aus dem Irak (D) lein hierherzukommen – soweit das nicht anderweitig or- und aus Syrien macht eines deutlich: Es gibt keinen Dis- ganisiert ist. Das alles dauert – Tom Koenigs, da bin ich sens hinsichtlich des Mitgefühls, das wir den Flüchtlin- mit dir völlig einer Meinung – unendlich lange. Aber gen entgegenbringen sollten. Über die Fraktionsgrenzen jetzt haben sich die Dinge einigermaßen eingefahren, hinweg ist erkennbar, dass alle sehen, dass Hilfe nötig jetzt geht es auch schneller. ist, und zwar vor Ort und hier im Lande. Das ist ein er- Es gibt übrigens auch Leute – so habe ich gehört –, freulicher Tatbestand. die eine entsprechende Erlaubnis haben, hierher zu kom- Warum ist das so? Ich glaube, es gibt eine gute Erklä- men, zum Beispiel auf Betreiben ihrer Verwandten, dann rung dafür, weshalb Deutschland so viele Flüchtlinge aber letztendlich gar nicht erschienen sind, weil sie sich und mehr Flüchtlinge als andere in Europa aufnimmt: Es entschieden haben, in Syrien oder in den Nachbarstaaten gibt Millionen Menschen in Deutschland, die dieses zu bleiben. Schicksal am eigenen Leib erfahren haben und genau Kurzum: Das alles sind Hinderungsgründe, die man wissen, was es bedeutet, Flüchtling bzw. Vertriebener zu überwinden kann. Das Verfahren läuft bereits besser. sein. Lassen Sie uns deswegen nicht darüber streiten, wie die Ich erinnere mich noch daran, wie wir, als ich drei Probleme gelagert sind, sondern darüber, wie man noch Jahre alt war, in Schleswig-Holstein ein Jahr in einer mehr tun kann. Ich will Ihnen offen sagen: Da am 9. De- 4 Quadratmeter großen Kammer zu dritt in einem Bett zember die Pledging-Konferenz auf europäischer Ebene genächtigt haben. Der Bauer sagte damals zu meiner stattfindet und anschließend, am Donnerstag/Freitag Mutter: Ihr seid ja schlimmer als die Kakerlaken. So et- nächster Woche, die Innenministerkonferenz in Köln was muten wir heute keinem Flüchtling zu. Es gibt zu stattfindet, habe ich die Hoffnung, dass sich da etwas be- viele Erfahrungen, die zeigen, was das bei den Men- wegt. Ich will mich da auf gar keine Zahl festlegen. schen hinterlässt. Kein Flüchtling in Deutschland soll so leben. Ich möchte hier aber angesichts der abgelaufenen Re- dezeit noch kurz einen Gedanken erwähnen. Wir sollten, Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass die Bun- liebe Kolleginnen und Kollegen – das meine ich sehr desregierung ausreichend Mittel zur Verfügung stellt und ernst –, überlegen, wie wir Zureisemöglichkeiten bzw. auch immer wieder zusätzliche Mittel bereitstellt, um Aufnahmemöglichkeiten vor allen Dingen für die Ver- Hilfestellungen zu geben. Weil Deutschland ein Land ist, letzlichsten, für die sogenannten vulnerablen Personen, in dem es viel Mitgefühl für solche Schicksale gibt, ist schaffen können. Dabei habe ich vor allen Dingen im die Anziehungskraft unseres Landes für Menschen in Blick Kinder, die zu Waisen geworden sind, die nicht im Not und für Menschen, die eine bessere Zukunft suchen, 6912 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Erika Steinbach (A) gewaltig. Zudem ist auch unsere Aufnahmebereitschaft und denen wir das Gefühl geben wollen und müssen, (C) gewaltig. dass wir solidarisch an ihrer Seite stehen. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nein!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin Steinbach, erlauben Sie eine Zwischen- Nach der neuesten OECD-Studie, nach dem Interna- frage oder Bemerkung von Luise Amtsberg? tionalen Migrationsausblick 2014 ist Deutschland gleich nach Amerika Ziel von Flüchtlingen und Zuwanderern. Erika Steinbach (CDU/CSU): Wir rechnen allein in diesem Jahr mit 200 000 Asylbe- Gerne. werbern. Wir haben mehr Asylbewerber als das Zuwan- derungsland Kanada oder gar Australien. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Danke schön. GRÜNEN]: Wir sind ein bisschen näher am Konflikt dran!) Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin Steinbach, vielen Dank, dass Sie die Die Grünen fordern heute aufgrund der anhaltenden Zwischenfrage zulassen. – Sie haben die Abschiebungs- islamischen Gewalt, weitere syrische und irakische quoten angesprochen. Was sind denn die Gründe dafür, Flüchtlinge aufzunehmen. dass nicht abgeschoben wird? Darüber werden Sie sicher (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Erkenntnisse haben. NEN]: Habe ich das richtig gehört? Sie haben Unsere Erkenntnisse sind, dass ein ganz großer Teil gesagt: „islamische Gewalt“?) der Menschen aus humanitären Gründen nicht abgescho- Mehrfach wurden seitens der Bundesregierung die Auf- ben werden kann, etwa wegen Schwangerschaft, Trau- nahmekontingente erhöht. Ich erinnere mich: Vor eini- matisierungen, ungeklärten Status oder deswegen, weil gen Jahren habe ich mich bei dem damaligen Innen- die Entscheidung bei der Bearbeitung des Asylantrags zu minister Schäuble persönlich dafür eingesetzt, dass wir restriktiv gefällt wurde und die Situation im Heimatland ein Kontingent für 10 000 irakische Flüchtlinge schaf- nicht so ist, dass man jemanden zurückschicken kann. fen. Das war das erste Mal nach langer Zeit, dass das Das sind unsere Erkenntnisse. Was sind Ihre? überhaupt wieder gelungen ist. Mehrfach wurden inzwi- schen Aufnahmekontingente erhöht. Erika Steinbach (CDU/CSU): Diese Fälle gibt es. Sie sind aber schon aus den (B) (D) Ich empfehle aber dringend, sich die Situation vor Ort 70 Prozent herausgerechnet. Diejenigen, die ein Bleibe- in unseren Städten und Dörfern anzusehen, die Flücht- recht erhalten, gehören zu den 30 Prozent derjenigen, die linge aufzunehmen haben. Die Kollegin Lindholz hat das Land nicht verlassen müssen. Mit den 70 Prozent das treffend geschildert. Wir müssen mit großer Sensibi- sind diejenigen gemeint, bei denen erkennbar kein lität vorgehen und werbend mit unseren Mitbürgern Grund vorhanden ist, hier im Lande zu bleiben. Vor die- sprechen. Die Kapazitäten vor Ort sind zum Teil voll- sem Hintergrund müssen wir uns auf die konzentrieren, ständig ausgelastet oder gar überlastet. Eine Erweiterung die wirklich verfolgt sind, die wirklich der Hilfe bedür- kann man nicht von heute auf morgen erreichen. Das fen, und nicht auf die, die aus anderen Gründen kom- kann man nicht von einer Stunde auf die andere schaf- men. Natürlich sind das zum Teil verständliche Gründe, fen. Das ist auch nicht von einem Tag auf den anderen etwa wenn jemand sagt: Hier finde ich einen Arbeits- möglich. platz, hier könnte ich mein Leben besser leben als woan- ders. – Das kann ich verstehen. Aber dafür sind unser Wir stellen natürlich fest – und wer davor die Augen Asylrecht und unser Bleiberecht nicht gemacht. – Danke verschließt, gießt Wasser auf die Mühlen der Rassisten; für die Frage. das dürfen wir nicht wollen –, dass bei unseren Bürgern dann das Verständnis aufhört, wenn abgelehnte Asylbe- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Franziska werber – immerhin 70 Prozent derer, die hierherkom- Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: men, erhalten kein Bleiberecht – nicht konsequent zu- Dann schaffen Sie legale Wege!) rückgeschickt werden. Durch die Haltung der Länder, die nicht konsequent (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- abschieben, wird die Akzeptanz für die wirklich Verfolg- NEN]: Auch wenn sie schwanger und krank ten im Lande gemindert. Diese Akzeptanz – das ist ja ge- sind?) schildert worden – ist ja nicht so, dass wir nicht gegen- halten und nicht Verständnis für die Flüchtlinge wecken Es ist im Grunde genommen ein Skandal, wenn zum müssten. Beispiel das Land Bremen nur ganze 0,7 Prozent derer, die das Land verlassen müssen, weil sie nicht politisch Es wurde richtigerweise auch gesagt: Die meisten verfolgt sind, abschiebt. Das darf nicht sein; denn es Menschen aus Krisengebieten wollen in der Nähe der mindert die Akzeptanz unserer Bürger für die wirklich Heimat bleiben. Wenn sie schon nicht in ihrer Heimat politisch Verfolgten, die wir in unserem Land haben sein können, dann wollen sie wenigstens in der Nähe, in der Region bleiben, wo sie das Gefühl haben, sie können (Beifall bei der CDU/CSU) bald wieder nach Hause zurückkehren. Daher ist es rich- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6913

Erika Steinbach (A) tig, dass die Bundesregierung mit humanitärer Hilfe Angesichts der Situation in unserem Land, die meine (C) – diese wird auch ausgebaut – vor Ort hilft. Vor diesem Kollegin, Frau Steinbach, gerade beschrieben hat, sage Hintergrund, glaube ich, tut man den Menschen etwas ich: Wir als Politiker haben auch eine große Verantwor- Gutes, wenn man ihnen die Zuversicht gibt: Ihr habt zu tung dafür, essen, ihr habt zu trinken, ihr habt ein Dach über dem Kopf, sodass ihr den Winter überstehen könnt. Da liegen (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aber die Probleme. Die größten Probleme liegen nicht NEN]: Ja! Da haben Sie eine große Verantwor- bei uns im Lande. Die größten Probleme finden sich vor tung! Wir auch!) Ort, dort, wo die Menschen zum Teil jetzt noch unter dass es im Land nicht zu einer Polarisierung kommt, wie freiem Himmel nächtigen. Wir müssen dort versuchen, auf der deutschen Landkarte am Sonntagabend sehr zu helfen, wie auch immer wir helfen können. deutlich und meiner Ansicht nach angstmachend zu se- Aber eines muss man auch sehen: Wenn ich mir den hen war. Das, was Sie gesagt haben, Frau Pau, macht Globus anschaue und ich mir Deutschland anschaue, ist auch mir Angst. Aber es sind schon lange nicht mehr al- klar: Alleine können wir das nicht stemmen. Da ist die lein rassistische und faschistische Kräfte, die auf die ganze Europäische Union gefragt, und da sind die ande- Straße gehen, sondern aus der Mitte der Bürger selbst hat ren Länder der Welt genauso wie wir auch gefragt. sich eine Bewegung entwickelt. Ich erinnere nur daran, was in Dresden unter dem Namen „PEGIDA“ passiert (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE ist. Dort gehen Bürger, die völlig unbescholten sind GRÜNEN]: Die nehmen alle mehr!) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Der Anführer Erfreulich ist für mich bei dieser Debatte, dass wir schon mal nicht!) diesen Menschen Mitgefühl entgegenbringen und dass wir alle miteinander helfen wollen. Dass wir dabei unter- und nie im Verdacht standen, rassistische und faschisti- schiedliche Gewichtungen haben, liegt in der Natur der sche Tendenzen zu vertreten, auf die Straße und sagen: Sache. Aber ich glaube, wir sind insgesamt auf einem So geht es nicht mehr weiter. guten Weg. Ich erinnere an die Wahlerfolge der AfD. Als Politi- (Beifall bei der CDU/CSU) ker haben wir die Verantwortung dafür, in unserem Land den sozialen Frieden zu verwirklichen. Unsere Verant- Vizepräsidentin Claudia Roth: wortung besteht nicht darin, das, was wir persönlich für Vielen Dank, Frau Kollegin Steinbach. – Letzter Red- richtig und gut halten, den Menschen aufzudrängen. ner in dieser Debatte: Martin Patzelt für die CDU/CSU- Das, was die deutsche Regierung in den letzten Wo- (B) Fraktion. chen getan hat, zeigt ein hohes Maß an Engagement und (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Verantwortlichkeit. Alle Zahlen, die genannt wurden, sind ein nachdrücklicher Beleg dafür, dass wir uns nicht ausgeruht haben, sondern dass wir, weil, wie Frau Martin Patzelt (CDU/CSU): Merkel es immer ausdrückt, Politik die Kunst des Mach- Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Meine Damen und baren und nicht des Wünschenswerten ist, versucht ha- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fällt nach ben, auf diesem Weg voranzugehen. Die gesetzlichen einer so langen Debatte schwer, noch einmal das zu be- Änderungen sind ein guter und großer Schritt dahin. kräftigen, was hier schon gesagt wurde. Es bringt auch nichts, hier Zahlen zu referieren. Sie selber, Frau Brantner, und auch Staatssekretär Schröder haben festgestellt, dass es noch lange nicht so (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Sie können doch weit ist, dass wir die bestehenden Gesetze und Ausfüh- Ihre Minuten zurückgeben! – Özcan Mutlu rungsbestimmungen tatsächlich ausfüllen. Ein guter Teil [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können der Bestimmungen wird von den Kommunen und Län- doch auf Ihre Minuten verzichten!) dern noch lange nicht mit Leben erfüllt. Wir wissen, dass – Nein, ich will Ihnen trotzdem etwas mit auf den Weg es dafür unterschiedliche, insbesondere finanzielle, geben. Warten Sie es doch bitte ab. Gründe gibt. Die Bundesregierung hat das erkannt und will die Kommunen bei der Unterbringung der Flücht- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte linge zunächst mit 500 Millionen Euro und 2016 mit [DIE LINKE]: Na denn! – Dr. Gesine Lötzsch weiteren 500 Millionen Euro unterstützen. Dann muss [DIE LINKE]: Dann ist es die falsche Ent- man weitersehen. Es darf nicht aus finanziellen Gründen scheidung!) scheitern. – Das ist Ihre Beurteilung. Warten Sie es ab. – Frau Es gibt aber auch noch sehr viele andere Erschwer- Dr. Brantner, ich würde Ihrem Antrag so gerne zustim- nisse, zum Beispiel Bürokratie, mangelnde Empathie men, wenn ich nicht ein großes Problem hätte: Ich bin und kommunale Mitarbeiter mit einem Amtsverständnis, kein Gutmensch, sondern ich bin Politiker. das sich nicht nach den Bedürfnissen der zu uns gekom- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte menen Menschen, insbesondere der Minderjährigen, [DIE LINKE]: Was ist das denn? – Rüdiger richtet, sondern das Dienst nach Vorschrift und nach den Veit [SPD]: Das schließt sich nicht immer aus! – Buchstaben des Gesetzes in den Mittelpunkt rückt. Das Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir kenne ich aus meiner kommunalen Erfahrung sehr gut. sind beides!) Für sie sind es nicht in erster Linie Menschen, die vor ih- 6914 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Martin Patzelt (A) nen stehen, sondern Asylbewerber, denen mit Klischees Wir müssen unterstellen, dass sich diese jungen (C) und Vorurteilen begegnet wird. Menschen auf ihrer Flucht Kompetenzen erworben ha- ben. Sie haben sich nicht nur durch fremde Länder – oft Artikel 16 a des Grundgesetzes gilt ungemindert. Da- ausgebeutet, prostituiert sowie auf Baustellen und Plan- rüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Mein Anliegen tagen schuftend – bis in das Land ihrer Sehnsucht durch- ist vielmehr, dass dieses Grundgesetz in den Herzen und geschlagen. Sie haben während ihrer Flucht auch ein re- Köpfen der Menschen in unserem Land verankert ist, gelrechtes Überlebenstraining absolviert. Wenn sie dann dass es Mehrheiten findet und dass die Menschen sagen: hierherkommen und mit einer Situation konfrontiert Ja, es ist gut, dass wir dieses Grundgesetz haben, und wir sind, die so gar nicht ihrer Vorstellung vom gelobten wollen es einhalten. – Es darf nicht sein, dass sie sich Land entspricht, tauchen sie ab. aufgrund der Ängste, die sie bewegen, und des Ein- drucks angesichts steigender Flüchtlingszahlen und einer Die Zahlen aus Berlin und Hamburg sind alarmie- medialen Diskussion darüber, dass die Regierung das rend. Wir müssen regelrecht Sorge haben, dass die Poli- Problem nicht mehr meistern kann, nicht mehr den Men- zei kapituliert. Es gibt jugendliche Banden, die sich mit schen zuwenden, sondern in politischen Gleichschritt Raub und Diebstahl über Wasser halten. Sie werden oft mit anderen Kräften unserer Gesellschaft verfallen, was von anderen Kriminellen aufgrund ihrer Jugend und ih- wir durchaus befürchten müssen. Das ist meine große rer nicht vollen Strafmündigkeit ausgenutzt. Ich möchte Sorge. die Aufmerksamkeit auf die von mir beschriebene Wegkreuzung lenken. Hier müssen wir als Gesellschaft Deswegen wiederhole ich, was ich schon im Sommer reagieren. Wir müssen die Potenziale, die wir haben, gesagt habe: Ich persönlich glaube, dass wir unbedingt ausschöpfen. einen Schulterschluss zwischen Politik und Zivilgesell- schaft brauchen. In der Debatte ist deutlich gemacht Da die Zeit knapp wird, sage ich nur noch eines – hier worden, dass die Menschen in unserem Land vielfach geht es um die Mitverantwortung der Bürgergesell- – nicht nur aus den Kirchen heraus, sondern auch aus schaft –: Wir können Gesetze machen und Geld geben. anderen Initiativen heraus – selber aktiv geworden und Ich erinnere daran, dass es sich dabei um das Geld der mit Sensibilität und dem, was sie vermögen, auf die Steuerzahler und nicht um unser Geld handelt. Die Men- Flüchtlinge zugegangen sind. schen im Land werden immer fragen: Wofür gibt die Re- gierung denn unser Geld eigentlich aus? – Auch hier Deshalb ist es für uns in der Politik immer wichtig, zu müssen wir Mehrheiten erwerben, und zwar parteiüber- unterscheiden. Wir können nicht alle Menschen aufneh- greifend. men, die eine wirtschaftliche Verbesserung ihres Lebens erwarten. Ich würde sie zwar aufnehmen, aber ich kann Entscheidend wird sein, ob die Flüchtlinge und insbe- (B) es nicht, und unser Land als Ganzes kann es ebenfalls sondere die jungen Menschen, die zu uns geflohen sind, (D) nicht. Deswegen müssen wir umso mehr dafür Sorge tra- das Maß an Verständnis, Ermutigung, Begleitung und gen – daher kann ich Ihrem Antrag nicht zustimmen –, Unterstützung erfahren, das sie brauchen. Können ei- dass zunächst einmal die Flüchtlinge und die unbegleite- gentlich der Gesetzgeber, eine Behörde oder eine Ver- ten Minderjährigen die Hilfe bekommen, die sie unbe- waltung den Menschen die Begleitung geben, die sie dingt brauchen. brauchen? Die jungen Menschen, die hierhergekommen sind, ha- Von einem freundlichen Gesicht auf der Straße bis hin ben zum Teil schwere Jahre hinter sich. Frau Özoğuz hat zur Aufnahme von Pflegekindern in die eigene Familie, vorhin deutlich gemacht, aus welchen Gründen sie kom- das ist eine breite Spanne. Ich ermuntere Sie und auch men. Sie hat einen Grund nicht genannt, den ich nun mich immer wieder aufs Neue nach dem alten Lied, das nachtragen möchte. Es gibt viele Minderjährige, die ge- wir früher als Kinder oft gesungen haben: „Wenn jeder flohen sind, weil sie von ihrer Familie getrennt wurden gibt, was er hat, dann werden alle satt.“ Abgewandelt be- oder weil ihre Familienangehörigen tot sind. Für diese deutet das: Ein jeder tut, was er kann, und steckt den an- jungen Menschen haben wir eine besondere Verantwor- deren an. – Das ist die größte Glaubwürdigkeit. Ich weiß tung. Insofern sind die geltenden gesetzlichen Regelun- aus vielen Zuschriften, dass die Menschen im Land gen, soweit ich sie kenne, erst einmal gut. Gelegentlich schauen, was wir Politiker machen, und sich fragen: Ge- muss eine Umverteilung vorgenommen werden, wenn hen Politiker eigentlich voran, wenn es um Akzeptanz die Kapazitäten vor Ort – die Jugendämter, die Bera- geht, oder stellen Sie nur Forderungen an die Verwal- tungsstellen und die Unterbringungsmöglichkeiten – tung? nicht mehr ausreichen, um tatsächlich zum Kindeswohl beizutragen. Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Ich erin- nere Sie nur daran, dass bald Weihnachten ist. Wenn Wenn die jungen Menschen hierherkommen, dann Jesus Christus damals als Asylbewerber in Ägypten stehen sie an einer Wegkreuzung. Dann ist es sehr ent- keine Unterstützung gefunden hätte, dann wäre die Welt- scheidend, wie wir ihnen begegnen, ob wir ihnen mit Be- geschichte ein bisschen anders verlaufen. ratung, Begleitung, Ermutigung und Bildung begegnen und ihnen eine Perspektive eröffnen oder ob wir sie in (Beifall bei der CDU/CSU) einer Massenunterkunft unterbringen und ihnen damit deutlich machen, dass wir sie nur aufbewahren, und das Vizepräsidentin Claudia Roth: ausgerechnet in so wichtigen Jahren ihres Lebens. Es ist Vielen Dank, Herr Kollege Patzelt. – Erlauben Sie dann kein Wunder, dass sie untertauchen. mir eine Bemerkung zu dem, was Sie zu Beginn Ihrer Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6915

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Rede gesagt haben. Ich glaube nicht, dass ein guter nen haben wollen, dann brauchen sie eigene Gestal- (C) Mensch zu sein im Widerspruch zum Politikerdasein tungsmöglichkeiten bei Einnahmen und Ausgaben. steht. Ich sehe hier viele gute Menschen im Saal, und zwar in allen Fraktionen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rüdiger Veit Die bestehende Ordnung unserer Bund-Länder- [SPD]: Das ist zumindest eine widerlegbare Finanzbeziehungen folgt diesem Prinzip leider nicht im- Regelvermutung!) mer. Viele Aufgaben werden im föderalen Streit häufig vermischt und vermengt. Außerdem wird das System oft Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf falsch ausgelegt und wiedergegeben. So werden teil- Drucksache 18/3154 an die in der Tagesordnung aufge- weise auch einmal von Ländervertretern Dinge verspro- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- chen, die eigentlich Aufgabe des Bundes sind. Deshalb verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung ist es umso wichtiger, dass die Mittel, die außerhalb des so beschlossen. föderalen Systems anfallen, auch so eingesetzt werden, wie sie tatsächlich festgesetzt wurden. Dann rufe ich jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möchten wir Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- den Kommunen zum einen, wie wir es schon in der letz- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- ten Wahlperiode taten, unter die Arme greifen, und zum zes zur weiteren Entlastung von Ländern und anderen gehen wir damit auf unsere Forderung im Koali- Kommunen ab 2015 und zum quantitativen tionsvertrag ein, die da heißt, dass wir die Gemeinden, und qualitativen Ausbau der Kindertagesbe- Städte und Landkreise in Deutschland weiterhin finan- treuung ziell entlasten werden. Diese Unterstützung leisten wir Drucksachen 18/2586, 18/3008 aus voller Überzeugung. Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich durfte haltsauschusses (8. Ausschuss) 18 Jahre Bürgermeister sein. In dieser Zeit konnte ich miterleben, wie hier in Berlin ein Paradigmenwechsel Drucksache 18/3443 stattfand. Es ist nämlich keine Selbstverständlichkeit, dass der Bund die Kosten für die Grundsicherung im Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Alter mit übernommen hat und damit die Kommunen die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- kräftig und dauerhaft entlastet hat, und es ist auch keine nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (B) Selbstverständlichkeit, dass der Bund ein gutes Kita- (D) Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an Kol- programm aufgelegt hat, für das wir heute noch einmal legen Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion. einige hundert Millionen Euro zur Verfügung stellen werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Alois Rainer (CDU/CSU): neten der SPD) Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Die Entlastung der Kommunen zählt zu den prioritä- und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Erst ren Maßnahmen dieser Großen Koalition. Mit dem letzte Woche haben wir nach intensiven Beratungen den vorliegenden Gesetzentwurf hält diese Koalition ihre Bundeshaushalt für das Jahr 2015 beschlossen. Mit die- Zusage ein, die Kommunen zu stärken, und erweist sich sem Haushalt zeigen wir auf, wie nachhaltige Politik be- als verlässlicher Partner. Im Rahmen des Bundesteilha- trieben wird; das heißt, dass wir unserer Verantwortung begesetzes sollen die Kommunen mit 5 Milliarden Euro gerecht werden. Wir tragen Verantwortung gegenüber jährlich ab 2018 entlastet werden. Geplant war hier den Menschen und den nachfolgenden Generationen in ursprünglich, Teile der Kosten der Eingliederungshilfe unserer Republik. Darüber hinaus sind wir damit ein zu übernehmen. Mir ist bewusst, dass es aufgrund der Vorbild für viele andere Länder in Europa. Vielfalt der Länder in Deutschland nicht einfach ist, die Summe von 5 Milliarden Euro über die Eingliederungs- Deutschland ist ein wirtschaftlich und sozial stabiles hilfe zu verteilen. Deshalb ist der Verteilungsmechanis- Land mit einer soliden finanziellen Basis. Damit dies mus noch offen. Aber ich hoffe – da bin ich guter Dinge –, auch so bleibt, wollen wir die Voraussetzungen für dass hier eine gerechte Lösung gefunden wird und dass Investitionen in die Zukunft auf einer weiterhin soliden diese große Summe gerecht auf die Kommunen in finanziellen Grundlage schaffen. Eine wichtige Voraus- Deutschland verteilt wird. setzung dafür ist die nachhaltige Konsolidierung der öf- fentlichen Haushalte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Doch ist gerade bei dieser Debatte das föderale System ins Gedächtnis zurückzuholen. Unser föderales Der vorliegende Entwurf greift dem bereits ab 2015 System ist eine Stärke der Demokratie und ein wichtiger vor und entlastet die Kommunen bis 2017 jährlich um Grund für die Leistungsfähigkeit Deutschlands. Ein le- 1 Milliarde Euro. Geschehen wird dies zur Hälfte über bendiger Föderalismus lebt unter anderem durch seine die Kosten der Unterkunft und zur Hälfte über eine hö- Kommunen. Wenn wir in Deutschland starke Kommu- here Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer. 6916 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Alois Rainer (A) So haben wir im Mai dieses Jahres mit den Ländern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) unter anderem besprochen, dass das Sondervermögen neten der SPD) „Kinderbetreuungsausbau“ in den Jahren 2016 bis 2018 um weitere 550 Millionen Euro aufgestockt wird. Vizepräsidentin Claudia Roth: Damit wird die Unterstützung für die Länder und Ge- Herzlichen Dank, Herr Kollege Rainer. – Jetzt fragen meinden beim Ausbau der Kinderbetreuung für unter sich natürlich alle, wo Sie Bürgermeister waren, Herr Dreijährige weiter erhöht. Dies ist ein starkes Signal an Kollege. In Haibach? die Familien in Deutschland. Mit den zusätzlichen Mit- teln stellt der Bund die Errichtung von weiteren Betreu- (Alois Rainer [CDU/CSU]: Ja!) ungsplätzen für Kinder unter drei Jahren sicher. Daher – Sehen Sie: Das ist der Exbürgermeister aus Haibach in ist es gut und gleichzeitig auch der richtige Weg, dass Bayern. wir uns weiter dafür einsetzen, dass für jedes Kind bzw. jede Familie in Deutschland, sofern sie es denn möchte, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ein guter Kitaplatz zur Verfügung steht. Nächste Rednerin in der Debatte: Susanna Karawanskij (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) für die Linke. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt wer- (Beifall bei der LINKEN) den, dass der Bund seine Beteiligung an den Betriebs- kosten der Kinderbetreuung in Höhe von 845 Millionen Susanna Karawanskij (DIE LINKE): Euro in den Jahren 2017 und 2018 um jeweils 100 Mil- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- lionen Euro erhöht. Mit dieser Kostenbeteiligung unter- legen! Liebe Gäste! Die Politik der Bundesregierung stützt der Bund die Länder und die Kommunen entschei- bleibt Mosaikwerk. Sie fügen ein Steinchen hinzu, fügen dend beim nachhaltigen Ausbau der Kinderbetreuung. ein weiteres hinzu und hoffen, dass es passt, dass es ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hübsches Bild ergibt. Aber es bleibt dann doch nur Farb- neten der SPD) brei. Zum Abschluss meiner Ausführungen möchte ich So ist es auch beim Kitaausbau. Sie erkennen zwar, nochmals betonen: Wir stehen zu unseren Zusagen und dass die Kindertagesbetreuung ausgebaut werden muss, bleiben weiterhin ein verlässlicher Partner für die Kom- und Sie erkennen ebenfalls, dass finanziell etwas aufge- munen in Deutschland. Wir wissen, dass die Kommunen stockt werden muss, aber letztendlich sind Sie, meine einen wichtigen Beitrag zur dauerhaften Sicherung von Damen und Herren von der Regierungsbank, nicht in der (B) Wachstum und Beschäftigung und damit Wohlstand in Lage, das wichtige Mosaikteilchen hinzuzufügen, wenn (D) unserem Land leisten. Dennoch, meine sehr verehrten es nämlich um den qualitativen Ausbau der Kinderbe- Damen und Herren, müssen wir darauf achten, dass die treuung geht. Das vernachlässigen Sie aufs Sträflichste. Mittel, die zur Verfügung gestellt werden, nicht zweck- Das ist tatsächlich skandalös. entfremdet werden. Ferner brauchen wir eine klare Auf- gabentrennung zwischen Bund, Ländern und Kommu- Ich möchte die Punkte hier benennen: Es geht um das nen. Stichwort „Betreuungsschlüssel“, um die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern und um die Weiterbil- Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass jede dungsmöglichkeiten. Wenn die Vorgaben der Organisa- Ebene die Mittel zur Verfügung bekommt, die sie benö- tion für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- tigt, um ihre Aufgaben adäquat erledigen zu können. Al- lung eingehalten werden sollen, dann haben wir hier lerdings – und ich sage es gern noch einmal – müssen einen Finanzierungsbedarf von 9 Milliarden Euro. Das die Mittel auch dort ankommen, wo sie tatsächlich benö- Problem ist doch, dass die armen Kommunen im Hin- tigt werden. blick auf die qualitativen Standards je nach Kassenlage entscheiden werden. Aber auch der qualitative Ausbau ( [CDU/CSU]: Ja, das ist das der Kindertagesbetreuung muss ein Teil der Pflichtauf- Problem!) gaben der Kommunen sein; denn Kinder in ärmeren Es kann und darf nicht das Ziel sein, dass die Gelder zur Kommunen dürfen nicht Kinder zweiter Klasse sein. Sanierung von Länderhaushalten verwendet werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ich komme zum zweiten Punkt, an dem es noch Leer- stellen gibt. Sie erkennen zu Recht, dass viele Kommu- Deshalb erwarten wir auch – da spricht der ehemalige nen finanzieller Entlastungen bedürfen. In Anbetracht Bürgermeister –, dass die Länder die den Kommunen der chronischen Unterfinanzierung der Kommunen hät- zugedachten Mittel auch entsprechend weiterleiten. ten wir uns tatsächlich gewünscht, dass es, wie es in Ih- Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass der Gesetz- rem Koalitionsvertrag zu lesen ist, zu einer Soforthilfe entwurf im Ergebnis den richtigen Weg aufzeigt. Ich kommt, und zwar jetzt und nicht erst 2015. Das, was hier freue mich, dass der Bund die Kommunen weiterhin fi- geschieht, kann man meines Erachtens nicht mehr „So- nanziell unterstützt. forthilfe“ nennen. In Ihrem Gesetzentwurf fehlen vor al- lem die Bestandteile, die die Kommunalfinanzen lang- Vielen Dank. fristig auf ein stabiles Fundament stellen. Die Höhe der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6917

Susanna Karawanskij (A) Entlastung, also die geplante 1 Milliarde Euro für alle Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (C) Kommunen, ist da nur ein Tropfen auf den heißen Stein. übernommen werden, bis dieses abgeschafft ist. An genau dieser Stelle liest sich Ihr Gesetzentwurf er- (Beifall bei der LINKEN – schreckend unzeitgemäß. Ihre Politik bleibt Stückwerk [CDU/CSU]: Oh, wie toll! Und das Geld reg- und wird leider immer wieder von der Realität eingeholt. net vom Himmel, ja?) Das wird beispielsweise an der aktuellen Debatte zur Meine Damen und Herren, um ein harmonisches Ge- Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen und samtbild zu erhalten, dürfen wir uns natürlich nicht nur Asylsuchenden deutlich. Auf Kommunen und Länder die Ausgabenseite anschauen, sondern wir müssen vor kommen dadurch Kosten zu, die sie mit den dafür bis- allen Dingen auch für stabilere, kontinuierliche Einnah- lang zur Verfügung stehenden Finanzmitteln kaum be- men der Kommunen sorgen. Auch dazu haben wir einen wältigen bzw. schultern können. Hier muss schnellstens Antrag eingereicht, nämlich den Antrag, die Gewerbe- für eine menschenwürdige und sozial integrierte Unter- steuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuent- bringung, Betreuung und Versorgung in den Städten und wickeln. Wir wollen also eine Kommunalsteuer, in deren Gemeinden gesorgt werden. Rahmen die Last der Gewerbesteuer auf breitere Schul- Dabei geht es einerseits darum, vor Ort mit den Men- tern verteilt wird, schen, mit der Bevölkerung zu sprechen, diese zu inte- (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Oh, wie grieren und zu beteiligen; ein gegenseitiges Kennenlernen schön! Steuererhöhungen!) hilft immer dabei, Vorbehalte abzubauen. Andererseits bedarf es allerdings auch der entsprechenden Rahmenbe- nämlich auf alle unternehmerisch Tätigen, die eine Ge- dingungen, die geschaffen werden müssen. Es ist unser winnerzielungsabsicht haben, und bei der die Bemes- aller gemeinsame Aufgabe, humanitäre Hilfe zu leisten, sungsgrundlage verbreitert wird, wobei natürlich ent- wenn Menschen aus Kriegsgebieten aus Angst um ihr sprechende Freibeträge für Kleinunternehmer und Leben die Heimat verlassen, flüchten und dann um un- Existenzgründer vorzusehen sind, um die Steuerlast zu sere Hilfe ersuchen. Der Bund darf sich nicht länger aus senken dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zurückziehen und sich hier aus der Verantwortung stehlen. Wir müssen (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Was? Sie vor allen Dingen verhindern, dass es zu einer Abwehr- wollen die Steuern doch erhöhen!) haltung der Menschen kommt bzw. dass diese zunimmt. und zu verhindern, dass es zu einer Substanzbesteuerung Das heißt, wir brauchen bei der Bewältigung dieser Auf- kommt. Das alles – ich wiederhole es – ist eine Weiter- gabe Herz und Verstand, aber auch Geld. entwicklung der Gewerbesteuer zur Gemeindewirtschaft- steuer. Die Einnahmen daraus sollen dann auch bei den (B) Jüngst war zu lesen, dass Sie Geld aus dem Fonds für (D) die Fluthilfe zugunsten der Flüchtlingsunterbringung Kommunen landen. umwidmen wollen. Doch auch hier sorgen Sie eher für Natürlich braucht es einen solidarischen und aufga- eine temporäre statt für eine strukturelle Lösung, erst bengerechten Länderfinanzausgleich, der vor allem, wie recht, wenn 500 Millionen Euro im kommenden Jahr im Grundgesetz beschrieben ist, für gleichwertige Le- und weitere 500 Millionen Euro erst im Jahr 2016 zur bensverhältnisse sorgt. Auch dazu liegt ein Konzept von Verfügung gestellt werden. Soforthilfe muss auch hier uns vor, das wir im Übrigen nicht am Bundestag vorbei- anders aussehen. diskutieren, sondern bei dem wir uns Ihren Nachfragen (Beifall bei der LINKEN) bzw. Anfragen nicht verschließen. Dieses Konzept sieht vor, dass das gesamte kommunale Steueraufkommen Sie haben es ja gerade selbst zugegeben: Es bleibt einbezogen wird und nicht, wie bisher, nur ein Anteil auch weiterhin fraglich bzw. unklar, ob die Länder das von 64 Prozent. Wir fordern einen solidarischen Alt- Geld tatsächlich an die Kommunen weitergeben. Um ein schuldenfonds, damit die Kommunen von der Zinslast, gutes Gesamtbild ohne Lücken zu schaffen, müssen die die sich aufgrund ihrer Schulden ergibt, befreit werden Kommunalfinanzen umfassend und nachhaltig gestärkt oder diese zumindest in den Altschuldenfonds fließt, so- werden. So bekommen die Kommunen wieder Hand- dass hier neue Handlungsmöglichkeiten geschaffen wer- lungsspielräume, und so werden sie bei den sozialen den. Ausgaben entlastet. Schlussendlich wollen wir einen Solidarpakt III für ( [CDU/CSU]: Das ist doch wirtschaftsschwache Regionen in Ost, West, Nord und Aufgabe der Länder! Übrigens auch da, wo ihr Süd, um die strukturellen Mängel, die vor allem auch in mitregiert!) der Infrastruktur vorhanden sind, zu beseitigen. Wir Linke haben entsprechende Forderungen erho- Für Sie, meine Damen und Herren auf der Regie- ben. In schnellen Schritten wollen wir die komplette rungsbank, möchte ich noch einmal sagen: Damit den Übernahme der Kosten der Unterkunft Kommunen und vor allem den darin lebenden Menschen dauerhaft geholfen wird, damit die Kommunalfinanzen (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: In den Län- langfristig stabil sind und sozusagen ein Gesamtbild ent- dern umsetzen! – Norbert Barthle [CDU/ steht, braucht es mehr Mosaiksteine. Wir brauchen keine CSU]: Machen! In den Ländern!) Minimalstrategie – wie sie jetzt vorhanden ist –, die vor – zu den Ländern komme ich gleich – durch den Bund allem darauf abzielt, dass Stück für Stück immer wieder erreichen. Zuvor müssen vom Bund natürlich auch die nachgebessert werden muss, sondern wir fordern eine 6918 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Susanna Karawanskij (A) nachhaltige Kommunalpolitik mit einer dauerhaft guten gibt. Aber sie brauchen natürlich finanzielle Unterstüt- (C) Finanzausstattung für unsere Städte und Gemeinden. zung. Das beschließen wir heute. Vielen Dank. In meiner Heimatstadt wurde in der letzten Woche die zweite 24-Stunden-Kita eröffnet. Die Kinder gehen nicht (Beifall bei der LINKEN) 24 Stunden am Tag in eine Kita; das will ich vorausschi- cken. Diese Kita hat rund um die Uhr an allen Tagen im Vizepräsidentin Claudia Roth: Jahr geöffnet. Das ist gerade für Eltern, die im Schicht- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin in dienst arbeiten, sehr wichtig, weil sie sich die Arbeitszei- der Debatte: Bundesministerin Manuela Schwesig. ten nicht aussuchen können. Die Notfallaufnahme im Krankenhaus beispielsweise muss bereitstehen, da muss (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die Ärztin Schichtdienst machen. Bei dieser Kita bewer- ben sich Paare um einen Platz, die Polizisten oder Alten- Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie, pfleger sind, also aus Dienstleistungsbereichen kommen, Senioren, Frauen und Jugend: in denen Randzeiten abgedeckt werden müssen. Diese Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Kita ist unter anderem auch aus Bundesmitteln gefördert und Herren Abgeordnete! Wie Familien in unseren Städ- worden. Wir wissen, dass wir mehr solcher Ganztags- ten und Gemeinden leben, entscheidet sich vor Ort: ob es kitas – nicht mit einer Betreuung rund um die Uhr, aber überhaupt einen Kitaplatz gibt, ob es einen guten Kita- mit einer Ganztagsbetreuung – im Land brauchen. Des- platz gibt, ob es gute Ganztagsschulen sowie Freizeitan- halb ist es gut, dass der Bund mit dem heutigen Gesetz gebote gibt, wie es mit der Schwimmhalle aussieht, ob auch das Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“ sie baufällig ist oder vielleicht gerade saniert wurde. für diese Legislatur auf 1 Milliarde Euro aufstockt, um weitere Kitaplätze, vor allem Ganztagsplätze, zu schaf- Wir alle wissen aus unserer eigenen politischen Tätig- fen. keit vor Ort, dass es viele Kommunen schwer haben. Deshalb ist es gut und richtig, dass die Bundesregierung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mit diesem Gesetz eine große Finanzspritze für die Ich werde Ihnen in der nächsten Zeit den Fünften Kommunen gibt: auf der einen Seite eine Entlastung um Zwischenbericht zum Kinderförderungsgesetz vorlegen 1 Milliarde Euro und auf der anderen Seite zusätzliche und darf Ihnen heute schon sagen: Aus den Daten geht Hunderte Millionen Euro für den weiteren Kitaausbau. hervor, dass 90 Prozent der Eltern mit der Betreuung 1 Milliarde Euro, sehr geehrte Abgeordnete, ist keine ihrer Kinder und dem Angebot in Kitas zufrieden sind. Kleinigkeit, sondern eine wichtige Geldspritze, und je- Das ist eine gute Zahl. 25 Prozent der Eltern finden aller- (B) der von uns, der die Not vor Ort kennt, weiß, dass die dings, dass es in Kitas bessere Lernangebote geben (D) Kommunen dringend darauf warten. Deshalb ist es gut, sollte. Wir wissen von den Jugendämtern auch, dass dass wir das jetzt zügig auf den Weg bringen. noch nicht jedem Elternteil sofort ein Kitaplatz zur (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Verfügung gestellt werden kann, obwohl es einen Rechtsanspruch darauf gibt. So schrieb mir zum Beispiel Wie Herr Abgeordneter Alois Rainer sagte, über- eine 62-jährige Frau über ihre beiden Töchter, dass beide nimmt der Bund die Kosten für die Grundsicherung im studiert haben, beide gute Jobs haben, und beide jetzt Alter vollständig. Natürlich gibt es immer noch weitere Kinder haben. Die Mutter ist, wie ich finde, zu Recht Forderungen, aber ich finde, man muss die Kirche im stolz: Die beiden haben alles richtig gemacht. Aber sie Dorf lassen. Ich habe zehn Jahre lang Kommunal- und bekommen keine Ganztagsplätze für ihre Kinder. Jetzt Landespolitik gemacht. Was jetzt der Bund an Entlastun- springen Oma und Opa ein. Sie geben frühzeitig ihren gen auf den Weg bringt – heute eine Finanzspritze von Job auf, um die Betreuung der Enkel zu übernehmen. Ich 1 Milliarde Euro und Aufstocken des Sondervermögens glaube, dass wir einerseits gar nicht wollen, dass Leute „Kinderbetreuungsausbau“ nach Bereitstellung von deswegen vorzeitig aus ihrem Job aussteigen – für die 4 Milliarden Euro für die Grundsicherung im Alter und Leute nicht, aber auch wegen des Fachkräftemangels 1 Milliarde Euro pro Jahr für Bildungsausgaben –, das nicht. Andererseits wissen wir: Nicht jeder hat Oma und sind doch keine Peanuts, sondern das sind richtig große Opa, die das leisten können. An diesem Beispiel sehen Beträge, die wir aus dem Bundeshaushalt „ausschwit- Sie, dass es eben nicht so ist, wie einige denken: „Wir zen“ müssen, ohne neue Schulden zu machen. Das ist haben doch so viel für den Kitaausbau getan, das muss kein Mosaiksteinchen, sondern ein Gesamtpaket der Ge- doch jetzt genug sein“, sondern dass es weiterhin Bedarf nerationengerechtigkeit: Investitionen in Kinder und Bil- in unserem Land gibt, dass junge Mütter und junge Väter dung und auf der anderen Seite schuldenfreier Haushalt. mehr Kitaplätze, vor allem Ganztagsplätze, brauchen. Das bringen wir heute auf den Weg mit dem neuen Kita- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gesetz. In meiner Heimatstadt Schwerin – übrigens eine sehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verschuldete Kommune – gibt es keine Zwei-Klassen- der CDU/CSU und des Abg. Richard Pitterle Kitas, sondern es gibt für alle Kinder gute Kitas. Das [DIE LINKE]) kann ich bestätigen, weil mein Sohn in die Kita ging und nun ziemlich relaxed den Schulübergang geschafft hat. Das Kitagesetz ermöglicht eine bessere Vereinbarkeit Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, dass es in von Beruf und Familie. Wir leisten damit auch ganz kon- Kommunen, die wenig Geld haben, Kitas zweiter Klasse krete Armutsbekämpfung; denn gerade die alleinerzie- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6919

Bundesministerin Manuela Schwesig (A) henden Frauen, die langzeitarbeitslos sind, können oft Dialogs warten, sondern wir wollen parallel etwas tun. (C) deshalb nicht arbeiten und ein eigenes Einkommen Der Bund wird ab 2015 den dauerhaften Betrieb – hier haben, weil ihnen ein Ganztagsplatz fehlt. Unsere Ge- geht es um die laufenden betrieblichen Kosten – mit samtevaluation der Familienleistungen hat gezeigt: Mitteln in Höhe von jährlich 845 Millionen Euro unter- Durch ein gutes Kitaangebot wird die Armutsquote um stützen. So viel Geld haben wir noch nie dafür bereit- bis zu 7 Prozent reduziert. Insofern ist das alles wichtig gestellt. Dann kommen noch die 100 Millionen Euro für für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, für die Ar- 2017 und 2018 on top drauf. Der Bund hat sich noch nie mutsbekämpfung, aber eben auch für die frühkindliche so stark an laufenden Kosten und damit an den Kosten Bildung von Kindern; denn hier wird auch ein Sprach- für Personal und Qualität beteiligt. Das ist ein wichtiges förderungsangebot gemacht, das für die Kinder wichtig Signal und gut angelegtes Geld. ist. Das ist ein Gesetz, in dem eine ganze Menge Wert- volles für unsere Kinder steckt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Chancengleichheit für Kinder ist ein Punkt, der für (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mich ganz besonders wichtig ist. Diese Chancengleich- Es wird zu Recht angesprochen, dass neben der Zahl heit fängt auch in der Kita an. Deshalb ist es gut und der Plätze, die es geben muss, auch die Qualität stimmen richtig, dass der Bund mit jährlich über 100 Millionen muss. Deshalb ist es gut, dass wir erstmalig in einem Ge- Euro die Sprachförderung unterstützt, insbesondere auch setz auch qualitative Standards setzen. Wir ermöglichen in Brennpunktkitas. Ich bin froh, dass wir neben den er- zum Beispiel, dass mit diesem Geld Ganztagsplätze ge- wähnten Mitteln dieses Geld noch zusätzlich zur Verfü- schaffen werden, aber auch Ausstattungsinvestitionen gung stellen, sodass die Sprachförderung, die schon gut getätigt werden können. So können zum Beispiel vor Ort läuft – ich weiß, dass sich viele Abgeordnete da- Küchen gebaut werden, um eine gesunde Ernährung an- für einsetzen –, weiter stattfinden kann. Das ist eine bieten zu können. Wir stellen Geld zur Verfügung für wichtige Unterstützung; denn alle Kinder sollen unab- Sprachförderung, und wir wollen den Ganztagsausbau hängig von der familiären und der finanziellen Situation vor allem auch vor dem Hintergrund der Inklusion vo- die beste Bildung bekommen. Die Bildung fängt in den ranbringen. Das alles ist ganz wichtig. Kitas an. Ich bin sehr froh, dass Professor Rauschenbach, der Vielen Dank. Direktor des Deutschen Jugendinstituts, erst kürzlich be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) stätigt hat, dass die Qualität unter dem Kitaausbau nicht gelitten hat. Die Untersuchung des Deutschen Jugendin- stituts besagt sogar, dass der Personalschlüssel sich Vizepräsident : (B) leicht verbessert hat und auch das Qualifikationsniveau Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- (D) des Personals nicht gesunken ist. Dennoch ist es wichtig, ordneten Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen. dass wir uns, so wie es auch im Koalitionsvertrag veran- kert ist, weiter Gedanken über qualitative Verbesserun- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen machen, weil die Herausforderungen im Kitabereich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich immer weiter steigen. möchte mich im Wesentlichen auf die Entlastung der Kommunen konzentrieren. Auf die Kitaqualität wird Deshalb bin ich froh, dass es erstmalig gelungen ist, gleich noch meine Kollegin Katja Dörner eingehen. dass alle Länder und der Bund sich gemeinsam zu einem Qualitätsdialog verabredet haben. Wir wollen gemein- Aber eines, Frau Ministerin, muss ich dazu doch sam beschreiben, was wichtige Qualitätsziele sind und sagen: Das, was Sie jetzt beschrieben haben, ist eine wie sie finanziert werden können. Das ist ein Prozess, Mogelpackung. der jetzt begonnen hat. Etwas Vergleichbares – ich habe es selbst fünf Jahre lang als Landesministerin erlebt – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gab es bisher nicht. Da die Grünen vermutlich gleich in Das, was Sie glauben, was dort drin ist, ist nicht drin. Sie das gleiche Horn blasen werden: Es gibt ein Land, das reden über Qualität. Sie haben einen Gipfel für mehr dieses Kommuniqué nicht unterschrieben hat, das ist Qualität veranstaltet. Heraus kam ein Arbeitskreis, nicht ausgerechnet Hessen, wo Sie an der Regierung beteiligt mehr und nicht weniger. All das, was Sie an warmen sind. Wenn Sie also bei den Vorschlägen zu Qualitätsver- Worten finden, steht nicht in diesem Gesetzentwurf. Das besserungen glaubwürdig sein wollen, dann tun Sie auch sind leere Versprechungen. Machen Sie es einmal kon- selber etwas. kret, dann können wir darüber reden, aber mit solchen Sätzen verkaufen Sie die Menschen für dumm. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich will an dieser Stelle sagen: Ich bin sehr dankbar, Ulrike Gottschalck [SPD]: Sie müssen den Ge- dass alle Länder mitziehen und dass auch die Kommu- setzentwurf lesen! Wer lesen kann, ist klar im nen mit an Bord sind. Ich glaube, das ist eine gesamt- Vorteil!) gesellschaftliche Aufgabe, die man nur auf allen drei Ebenen gemeinsam stemmen kann. Es ist wichtig, dass Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden diesen wir in unserem Land mit dem Ausbau guter Ganztags- Gesetzentwurf dennoch nicht ablehnen. Eine Entlastung kitas weiter vorankommen, Kitas, die qualitativ stim- der Kommunen in Höhe von 1 Milliarde Euro ist richtig. men. Wir wollen auch nicht auf die Ergebnisse dieses Hier haben Sie recht, und wir müssen die Kommunen in 6920 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Ekin Deligöz (A) diesem Punkt unterstützen. Es wäre aber besser gewe- dass sie so hohe Defizite haben, dass sie auf Kassen- (C) sen, wenn man das gemacht hätte, was man sich vorge- kredite zurückgreifen müssen. Dazu haben Sie einen nommen hat, nämlich die Kommunen mit sozialen großen Beitrag geleistet. Brennpunkten zu entlasten. Dann hätte man die gesamte (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: In Nieder- Milliarde über die Erstattung der Kosten der Unterkunft sachsen waren es die Grünen, die es kaputtge- herausgeben müssen und dies nicht auch über eine Um- macht haben! – Ulrike Gottschalck [SPD]: Das verteilung der Umsatzsteueranteile regeln dürfen. Dann war auch Rot-Grün! Das waren wir alle!) hätte man besser zur Lösung dieses Problems beitragen können. Sie haben jetzt einen Kompromiss gemacht: Darüber sollten wir auch mal reden. Ihr Gesetz aus der Hälfte-Hälfte. Ziel verfehlt. Etwas mehr Entschlossen- letzten Wahlperiode, das Wachstumsbeschleunigungs- heit hätte den Kommunen an dieser Stelle wirklich gut gesetz, hat die Kommunen in diesem Land sage und getan. schreibe 1,5 Milliarden Euro gekostet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Märchen! Mär- chen! – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Und Was mich noch mehr schockiert, ist der zweite Teil, sie hatten dadurch erhebliche Gewerbesteuer- den es eigentlich geben sollte. Es sollten noch 5 Milliar- mehreinnahmen!) den Euro für Kosten der Eingliederungshilfen fließen. Davon verabschieden sich die Bundesregierung und Ich könnte diese Liste fortsetzen. Weil Sie die Kommu- auch der Finanzminister im Moment wieder. Noch deut- nen in diese Situation gebracht haben, sind Sie in der licher kann man den Missmut gegenüber einem solchen Pflicht, für die Kommunen Geld auszugeben. Damit Gesetzentwurf nicht zum Ausdruck bringen. Die Bun- sollten Sie sich nicht rühmen; denn das sind Ihre Haus- dessozialministerin Nahles geht immer noch davon aus, aufgaben. dass die 5 Milliarden Euro kommen. Ich betone das des- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) halb so deutlich, weil gestern an dieser Stelle ganz viele warme Worte für Menschen mit Benachteiligungen und Die Kommunen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Behinderungen gefunden wurden. Jetzt jedoch stehen sind eine tragende Säule in diesem Land. Sie sichern die genau die Mittel für Entlastungen nach dem Bundesteil- Daseinsvorsorge. Sie tragen die sozialen Kosten. Die so- habegesetz zur Disposition. So geht das nicht. Das wer- zialen Kosten werden steigen. Da müssen wir Verant- den wir so auch nicht durchgehen lassen. wortung übernehmen. Wir dürfen die Kommunen nicht im Regen stehen lassen; das ist unsere Verpflichtung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dafür brauchen wir mehr als nur leere Versprechungen. (B) und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (D) Schauen Sie sich den Bereich Flüchtlingspolitik an. Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Dafür brau- Sie reden jetzt darüber, dass es 500 Millionen Euro für chen wir diese Bundesregierung!) die Kommunen geben soll. Bei Bedarf soll es weitere 500 Millionen Euro geben. Leider reden wir nicht über Vizepräsident Peter Hintze: eine verlässliche und verstetigte langfristige Entlastung. Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- ordneten Ingbert Liebing, CDU/CSU-Fraktion. Die Grünen haben den Vorschlag gemacht, die Flüchtlinge mit in die gesetzliche Krankenversicherung (Beifall bei der CDU/CSU) aufzunehmen. Das müsste natürlich nicht über Beiträge, sondern über Steuern finanziert werden. Es hätte den Ingbert Liebing (CDU/CSU): Vorteil, dass wir an diesem Punkt wirklich die Kommu- Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen nen entlasten würden. Eine solche Entlastung wäre lang- und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute fristig und verlässlich. Vor allem wäre es menschlich ge- beschließen, hält die Koalition Wort. Wir lösen eine wesen, hier dem humanitären Bedarf gerecht zu werden. Zusage aus dem Koalitionsvertrag ein, indem wir die So weit konnten, so weit wollten Sie aber nicht gehen. Kommunen in den Jahren 2015, 2016 und 2017 jeweils Deshalb zweifele ich daran, ob Sie die Kommunen wirk- um 1 Milliarde Euro entlasten – insgesamt 3 Milliarden lich entlasten wollen. Euro zusätzlich für die Kommunen. Das sind keine lee- ren Versprechungen; das ist eine gute Botschaft für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Städte und Gemeinden in unserem Land. Ich finde das sehr bedauerlich; denn damit hätten wir in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dem Bereich wirklich etwas erreicht. neten der SPD) Frau Ministerin, Sie sagen jetzt, Sie hätten so viel für Nun kann man sicherlich kräftig darüber streiten, wie die Kommunen in die Wege geleitet. Die Frage ist doch dieses Geld verteilt wird, Frau Deligöz; aber wir haben nicht nur, wie wir die Kommunen entlasten; die Frage ist uns um einen fairen Kompromiss bemüht. Indem die auch, wie es erst so weit kommen konnte, dass die Kom- Hälfte der jährlichen Entlastung über eine höhere Bun- munen so verlassen waren, desbeteiligung an den Kosten der Unterkunft zustande kommt – 500 Millionen Euro – und die andere Hälfte (Ulrike Gottschalck [SPD]: Das ist aber mü- über einen höheren kommunalen Anteil an der Umsatz- ßig!) steuer, ist allen Kommunen in Deutschland geholfen: Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6921

Ingbert Liebing (A) sowohl denjenigen mit besonderer sozialer Belastung Es gibt nur wenige – hier grün eingezeichnete – Länder (C) – über die höhere Beteiligung an den KdU – als auch den wie Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg anderen Kommunen, die auch ihre Aufgaben zu finan- und Hessen, in denen die Eingliederungshilfe vollstän- zieren haben und bei denen es auch um die Stärkung der dig von den Kommunen finanziert wird, während diese Finanzkraft und der Investitionskraft geht. Aufgabe im Saarland und in Sachsen-Anhalt vollständig vom Land finanziert wird und es in allen anderen Län- (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dern eine Mischfinanzierung gibt. NEN]: Das war aber nicht der Ausgangspunkt! Der Ausgangspunkt war, die Kommunen mit Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist unabhängig sozialen Brennpunkten zu entlasten, wegen der von der Eingliederungshilfe. Darauf legen wir ausdrück- Disparität!) lich Wert. Es erfolgt im Vorgriff auf die Reform der Ein- gliederungshilfe. Deswegen ist dies ein fairer Kompromiss, den wir hier vorlegen. (Zuruf von der SPD: Genau!) Deswegen ist der Beschluss des Bundesrates zu die- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sem Gesetzentwurf auch so unverständlich, in dem emp- neten der SPD) fohlen wird, statt einer höheren Bundesbeteiligung an Es kommt hinzu, dass beide Instrumente – sowohl die den Kosten der Unterkunft eine höhere Bundesbeteili- Entlastung bei den KdU als auch die höhere Beteiligung gung an den Kosten der Eingliederungshilfe vorzusehen. an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer – dazu führen, Die Absicht hinter dieser Stellungnahme des Bundesra- dass das Geld direkt bei den Kommunen landet und nicht tes ist klar: Die Länder, die sich an den Kosten der Ein- in die Landeshaushalte fließt. Das macht deutlich, dass gliederungshilfe finanziell beteiligen, wollen die Bun- wir uns darum kümmern, dass das Geld, das wir im Bun- desmittel nicht den Kommunen zur Verfügung stellen, deshaushalt für die Kommunen bewegen, tatsächlich in sondern in die Landeskasse umleiten. den Kassen der Städte und Gemeinden ankommt. (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Genau so ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- es!) wie des Abg. Sönke Rix [SPD]) Das ist nicht unsere Absicht. Das ist im Koalitionsver- trag nicht vereinbart. Deswegen legen wir Wert darauf, Meine Damen und Herren, damit knüpfen wir an die dass dieses Geld tatsächlich bei den Kommunen an- kommunalfreundliche Politik an, die wir unter der Füh- kommt. Auch dazu dient dieser Verteilungsmaßstab. rung der Union in der vergangenen Wahlperiode bereits geleistet haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (B) Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Alles andere (D) (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist wahr! – ist unverschämt!) Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Richtig!) Ich bin der Bundesregierung ausdrücklich dankbar für Man kann es nicht oft genug sagen: In diesem Jahr tritt die Gegenäußerung zu dieser Stellungnahme des Bun- die dritte Stufe der Entlastung bei der Grundsicherung in desrates, weil auch darin noch einmal die Absicht deut- Kraft – noch einmal 1,1 Milliarden Euro zusätzlich aus lich gemacht wird, dass das Geld bei den Kommunen an- dem Bundeshauhalt für die Kommunen in Deutschland, kommt. insgesamt eine Entlastung in der Größenordnung von 5 Milliarden Euro. Nie zuvor hat es eine so starke Politik Dass wir hier nicht irgendeine Phantomdiskussion für die Kommunen in Deutschland gegeben wie in dieser führen, zeigt die Situation in den einzelnen Bundeslän- Koalition und unter Führung der Union in der vergange- dern. Auch im Bereich der Kosten der Grundsicherung, nen Wahlperiode. bei den 5 Milliarden Euro, haben wir es leider erlebt, dass einzelne Bundesländer, die sich in der Vergangen- (Beifall bei der CDU/CSU – Bernhard Kaster heit an diesen Kosten finanziell beteiligt haben, die Mit- [CDU/CSU]: Das gab es noch nie! – Andreas tel zur beabsichtigten Entlastung der Kommunen in die Mattfeldt [CDU/CSU]: Das ist eine Hausnum- Landeskasse umgeleitet haben. Ein Beispiel dafür erlebe mer! – Sönke Rix [SPD]: In dieser Koalition, ich in meinem Heimatland Schleswig-Holstein, Frau nicht in der letzten!) Deligöz. Die grüne Finanzministerin, Frau Heinold, Das heute vorliegende Gesetz ist der erste Schritt zur (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weiteren Stärkung der Kommunen in dieser Wahl- NEN]: Gute Frau!) periode. Wir haben uns einen zweiten Schritt vorgenom- hat etwa ein Viertel der Bundesmittel in die Landeskasse men, der dann 2018 im Rahmen der Reform der Einglie- umgeleitet, dort einkassiert, obwohl dieses Geld eigent- derungshilfe folgt, wiederum mit einer Entlastung in der lich bei den Städten und Gemeinden ankommen soll. Größenordnung von 5 Milliarden Euro. Nun wissen wir – darauf hat mein Kollege Alois Rainer bereits hinge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wiesen –, dass dies nicht einfach ist, weil die Eingliede- der SPD – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: rungshilfe in den einzelnen Bundesländern sehr unter- Ungeheuerlich! Unverschämtheit! – Sönke schiedlich organisiert und finanziert wird. Ich habe eine Rix [SPD]: Wahrscheinlich, weil sie so einen Karte mitgebracht: schlechten Haushalt vorgefunden hat! – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer (Der Redner hält ein Schaubild hoch) hat das erst heruntergewirtschaftet?) 6922 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Ingbert Liebing (A) Diese Politik ist brandgefährlich, liebe Kolleginnen desregierung und der Koalition für die Kommunen in (C) und Kollegen. Denn wer soll denn, wenn wir jetzt über Deutschland. Wir stimmen heute über die Beschluss- die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen empfehlung zu diesem Gesetz ab. Deswegen ist heute diskutieren – dabei sprechen wir ja genau darüber, wel- ein guter Tag für die Kommunen in Deutschland. ches das richtige Instrument ist, um mit den 5 Milliarden Euro tatsächlich die Kommunen zu erreichen –, hier in Vielen Dank. diesem Haus tatsächlich noch Entscheidungen zugunsten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der Kommunen treffen, wenn einzelne Landesregierun- gen diese kommunalfreundliche Politik unterlaufen und Vizepräsident Peter Hintze: die Gelder, die eigentlich für die Kommunen vorgesehen Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- sind, in die Landeskasse umleiten? Deswegen ist diese ordneten Katja Dörner, Bündnis 90/Die Grünen. Politik auch so brandgefährlich, weil es die Akzeptanz für eine kommunalfreundliche Politik hier im Bund ge- fährdet. Denn die eigentlich Verantwortlichen für die Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kommunalfinanzen, für eine aufgabengerechte Finanz- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! ausstattung der Kommunen, sind die Bundesländer. Liebe Kollegen! Wir haben es eben wieder gehört: Der vorliegende Gesetzentwurf wird uns als ein Gesetz zur (Beifall bei der CDU/CSU – Andreas Qualitätsverbesserung in Kitas verkauft. Es wird darauf Mattfeldt [CDU/CSU]: Das kann gar nicht oft verwiesen, dass man jetzt den Bau von Küchen finanzie- genug gesagt werden in diesem Haus!) ren kann und auch der behindertengerechte Ausbau ge- Aus dieser Verantwortung werden wir die Länder nicht fördert wird. Ich muss wirklich sagen: Ich kenne keine entlassen. Kita, die in den letzten Jahren gebaut wurde und keine Küche inklusive hatte. Ich komme aus Nordrhein-West- Für den Bund ist das, was wir tun – das gilt auch für falen. Laut Landesgesetz ist es überhaupt nicht mehr er- diesen Gesetzentwurf –, eine freiwillige Leistung. Alles laubt, ein öffentliches Gebäude nicht behindertengerecht das, was wir hier tun, ist keine originäre Bundesaufgabe. zu bauen bzw. auszustatten. Das zeigt: Der Titel dieses Das gilt im Übrigen auch für die Finanzierung der Kin- Gesetzes ist reiner Etikettenschwindel. Dass Sie diesen dertagesstätten oder für die U-3-Förderung. Es war Aus- Etikettenschwindel nötig haben, das zeigt, wie blank Sie druck eines fairen Kompromisses und eines fairen Ent- beim Thema Kitaqualität tatsächlich sind. gegenkommens gegenüber den Kommunen, dass wir die Mittel für diese Aufgaben aus dem Bundeshaushalt zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verfügung stellen. Aber die eigentliche Verantwortung und bei der LINKEN) (B) für diese Themen und für die aufgabengerechte Finanz- Wir haben von der Ministerin und von den Kollegin- (D) ausstattung der Kommunen liegt nach unserer Verfas- nen und Kollegen der Regierungsfraktion gehört, wie sungsordnung eindeutig bei den Ländern. wichtig Kitaqualität ist. Das stimmt ja auch; denn die Aber warum tun wir dann trotzdem etwas für die Kitas können für mehr Chancengerechtigkeit sorgen. Sie Kommunen? Wir tun es, weil wir ein Interesse daran ha- können insbesondere Kinder unterstützen, die in ihren ben, dass die kommunale Selbstverwaltung funktioniert, eigenen Familien wenig mitbekommen. Gerade weil das weil wir ein Interesse daran haben, dass die Kommunen so ist, ärgert es mich umso mehr, dass diese Bundesre- ihre Aufgaben wahrnehmen können. Denn die Kommu- gierung in dieser Legislaturperiode faktisch nichts zu- nen sind das Gesicht der Politik für die Menschen. sätzlich für die Kitaqualität tut. Nirgendwo sonst erleben die Menschen die Politik so (Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜND- hautnah wie im eigenen Lebensumfeld, im eigenen Er- NIS 90/DIE GRÜNEN]) fahrungsbereich, zu Hause in ihrer Gemeinde, in ihrem Dorf, in ihrer Stadt. Deswegen ist es uns nicht egal, wie Das ärgert uns ganz besonders deshalb, weil das so zu- die Kommunen ihre Aufgaben wahrnehmen. kunftsvergessen ist. Wir tun dies auch, weil wir die Investitionskraft der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kommunen stärken wollen. 60 Prozent der öffentlichen Investitionen erfolgen durch die Kommunen; die restli- Vor einem Monat hat der Kitagipfel stattgefunden, bei chen 40 Prozent teilen sich der Bund und alle 16 Länder. dem es um bundeseinheitliche Qualitätsstandards in den Wenn wir darüber sprechen, dass wir die Investitions- Kitas gehen sollte. Der Gipfel ist in der Öffentlichkeit kraft des Staates, der öffentlichen Hand, stärken wollen, kaum wahrgenommen worden. Das wundert mich auch dann geht das nirgendwo so gut wie über die Stärkung nicht: Er hatte nämlich keine relevanten Ergebnisse vor- der Finanzkraft unserer Kommunen. Auch dazu, zur zuweisen. Stärkung der Finanzkraft und der Investitionen in Es wurde jetzt eine Arbeitsgruppe eingerichtet, und Deutschland, leistet dieser Gesetzentwurf mit jährlich die Ministerin – wir haben es gehört – findet das auch 1 Milliarde Euro zusätzlich ab dem kommenden Jahr für ganz besonders toll. Ich muss sagen: Die Ministerin hat die Kommunen einen wichtigen Beitrag. offensichtlich ein sehr kurzes Gedächtnis. Ich möchte (Zuruf von der CDU/CSU) Sie daran erinnern: Im August letzten Jahres hat die da- malige Familienministerin Kristina Schröder genau das Deswegen ist dieses Gesetz gar nicht hoch genug zu vorgeschlagen, nämlich die Einrichtung einer Arbeits- werten. Es ist eine große Leistung des Bundes, der Bun- gruppe, um gemeinsam mit den Ländern über bundes- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6923

Katja Dörner (A) einheitliche Qualitätsstandards zu sprechen. Die dama- so gut wie ausgegeben waren, werden schwuppdiwupp (C) lige Sozialministerin Mecklenburg-Vorpommerns, die eingerechnet, damit dieses sehr magere Ergebnis der heutige Familienministerin Manuela Schwesig, bezeich- Verhandlungen für die Kitas nicht ganz so offensichtlich nete damals die Einrichtung einer Arbeitsgruppe als wird. Das ist Augenwischerei zulasten der Kinder und – Zitat – „spärlichen Notnagel“; alle Vorschläge lägen Familien. Wir kritisieren das sehr scharf. Aus unserer auf dem Tisch, daher sei das nicht mehr nötig. Die Sicht gibt es dazu keine Alternative. Ministerin kritisierte also vor etwas mehr als einem Jahr Vielen Dank. eine Arbeitsgruppe als „spärlichen Notnagel“ und richtet sie heute selber ein. Daran sieht man: Sie sind blank, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN was die Kitaqualität angeht. Ich finde, das muss man sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Vizepräsident Peter Hintze: Sönke Rix [SPD]: Die grün regierten Länder Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- machen doch auch mit!) ordneten Ulrike Gottschalck, SPD-Fraktion. Wir wissen: Das Qualitätsgesetz stand im Entwurf des (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Koalitionsvertrags drin. Es ist aber auf den letzten Me- tern aus dem Koalitionsvertrag herausgeflogen. Und wa- Ulrike Gottschalck (SPD): rum? Weil der Bund nicht bereit ist, ernsthaft in die Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Kitaqualität zu investieren. Das ist völlig falsch, das ist ren! Ich finde Ihre Aussagen schon erstaunlich, Frau zukunftsvergessen. Dörner. Offensichtlich gibt es keine Verantwortung der (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Vor allen Länder mehr. An allem ist der böse Bund schuld. Dingen ist das Aufgabe der Länder!) (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Genau! Den – Nein, das ist nicht Aufgabe der Länder. Das ist eine ge- Eindruck konnte man haben, ja! – Wider- samtgesellschaftliche Aufgabe von Bund, Ländern und spruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kommunen. Alle sind gefragt, weil wir nur so bei dem Ich finde den Gesetzentwurf, den wir heute vorgelegt wichtigen Thema Kitaqualität weiterkommen. haben, sehr gut. Ich bin mir sicher, dass unsere Kommu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen, also die Städte, Gemeinden und Landkreise, sehr dankbar sind für diesen Gesetzentwurf; denn er entlastet Wir Grüne wollen bundesweit verbindliche Stan- die Kommunen richtig, konkret und direkt, und der Kita- dards. Es ist für uns selbstverständlich, dass der Bund ausbau wird forciert. (B) bei der Finanzierung mit im Boot ist; denn – ich habe (D) eben darauf hingewiesen – die Kitaqualität ist nicht nur (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die Aufgabe der Kommunen und der Länder. Unsere Regierungsbilanz kann sich sehen lassen, ins- (Sönke Rix [SPD]: Was sagen denn die rot- besondere im Hinblick auf die Kommunen. Einige Bei- grün regierten Länder dazu?) spiele: Es gibt eine 100-prozentige Übernahme der Kos- ten der Grundsicherung durch den Bund. Die Mittel für Was die Kitaqualität angeht: Frau Schwesig macht die Städtebauförderung wurden auf 700 Millionen Euro leider da weiter, wo Frau Schröder aufgehört hat. aufgestockt. Der Bund übernimmt die Kosten für das (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sie sollten BAföG. Wir sorgen bis 2018 für eine flächendeckende eine Grundgesetzänderung anstreben!) Grundversorgung mit schnellem Internet. Es gibt finan- zielle Unterstützung für Kommunen, die von Armuts- Sie macht sich bei der Qualitätsfrage faktisch einen wanderung betroffen sind. Es gibt – darüber haben wir schlanken Fuß und schiebt den Ländern den Schwarzen vorhin debattiert – zusätzliche Hilfen für die Flüchtlinge. Peter zu. Wir finden das nicht akzeptabel, liebe Kolle- Alle diese Maßnahmen bedeuten zwei Dinge: ginnen, liebe Kollegen. Erstens. Wir entlasten die Kommunen wirklich ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – deutig und nachhaltig. Klammer auf: Das ist auch drin- Sönke Rix [SPD]: Welche Rolle spielen denn gend nötig. die Länder? – Ulrike Gottschalck [SPD]: Zu- ständigkeiten!) (Beifall bei der SPD) Die Kitas sind sowieso die Verlierer in dieser Koali- Das sagen alle, auch diejenigen, die vorher hier in Regie- tion. Jenseits des Etikettenschwindels „Qualität“ betrifft rungsverantwortung standen, und zwar jeglicher Cou- das den Platzausbau, für den es zusätzliche Mittel nur in leur. homöopathischen Dosen gibt. Zweitens. Diese Maßnahmen kosten richtig viel Geld. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Vielleicht Alle Maßnahmen schmälern den Handlungsspielraum in sollten Sie die Länder abschaffen!) unserem Haushalt. Mickrige 550 Millionen Euro sind bis 2017 zusätzlich (Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist das!) vorgesehen, also mitnichten 1 Milliarde Euro zusätzlich, Das müssen wir einfach einmal so festhalten. von der auch die Ministerin heute gesprochen hat. 450 Millionen Euro, die im Haushalt längst verplant und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 6924 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Ulrike Gottschalck (A) Trotzdem ist das gut angelegtes Geld, in den Ländern, in denen sie mitregieren, genau darauf (C) zu achten, dass das so gemacht wird. (Beifall des Abg. Sönke Rix [SPD]) (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU], an BÜND- weil den Kommunen wirklich die Luft ausgeht, und wir NIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Da könnt ihr brauchen Kommunen, die Luft zum Atmen haben. euch nicht aus der Verantwortung stehlen!) Einige Kollegen haben es schon vor mir gesagt: So Liebe Ekin Deligöz, ich mache mit Hessen ein weite- kommunalfreundlich wie diese war keine Regierung zu- res Negativbeispiel auf. Hessen nimmt jedes Jahr vor aufgestellt. Ich denke, darauf können wir wirklich 345 Millionen Euro vorneweg aus dem kommunalen Fi- ordentlich stolz sein. nanzausgleich, und die Kommunen stehen da und müs- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sen bluten. Das ist auch gut so; denn die Menschen erfahren in den (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gemeinden ganz konkret, ob die Gemeinschaft funktio- NEN]: Hessen muss echt ein Trauma sein für niert, ob die Infrastruktur und öffentliches Leben funk- Sie!) tionieren. Sie merken, ob marode Straßen oder Turnhal- Ich denke: Guckt mal genau hin, was die Länder, in de- lendächer endlich repariert werden können oder nen ihr mitregiert, treiben. Hallenbäder, die von der Schließung bedroht waren, weiterbetrieben werden können. Das ist wirklich wich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tig. der CDU/CSU) Ich denke, auch mit Blick auf unsere Demokratie ist Mit einem weiteren Baustein – einem unserer wich- das wichtig. In den Kommunen erleben die Menschen tigsten – werden wir die Kommunen bei der Finanzie- nämlich, ob das Leben funktioniert oder nicht. Langsam rung von Kinderkrippen und Kitas weiter unterstützen. wird es in den Kommunen schwierig, geeignete Gemein- Das bestehende Sondervermögen wird ausgebaut. Liebe devertreterinnen oder Gemeindevertreter zu finden, weil Kolleginnen und Kollegen von den Linken und den Grü- die nichts mehr bewegen können, weil sie nur noch den nen, 550 Millionen Euro sind für mich keine Peanuts, Mangel verwalten können. Deshalb müssen wir die sondern das ist richtig viel Geld, das den Kommunen bei Kommunen so stützen, dass sie eine ordentliche Politik der Förderung der frühkindlichen Bildung wirklich hilft. vor Ort machen können und sich Politiker nicht von ih- rem Nachbarn am Zaun beschimpfen lassen müssen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der weil das Schwimmbad geschlossen wird. Ich denke, das CDU/CSU) (B) ist auch mit Blick auf unser Demokratieverständnis ganz Daneben stellen wir in 2017 und 2018 weiteres Geld (D) wichtig. für die Betriebskosten in den Ländern zur Verfügung, (Beifall bei der SPD) nämlich zweimal 100 Millionen Euro, insgesamt also 200 Millionen Euro. Peu à peu sorgen wir dafür, dass die Kommunen wie- der mehr Handlungsspielräume bekommen. Deshalb ist Wir wissen doch alle, wie wichtig eine qualitativ heute ein guter Tag. Weitere Bausteine folgen: Wir ent- hochwertige Kinderbetreuung für die Vereinbarkeit von lasten die Städte, Gemeinden und Kreise mit jährlich Familie und Beruf ist. Wir wissen insbesondere aber 1 Milliarde Euro. Das sind keine Peanuts, das ist auch auch, dass die frühkindliche Bildung für jedes einzelne kein popeliger, kleiner Mosaikstein, sondern das ist ein kleine Persönchen die besten Startchancen ins Leben dicker Brocken. 1 Milliarde Euro muss man erst einmal bietet, und das ist doch auch volkswirtschaftlich sinn- im Haushalt haben, und zwar jährlich. Die Entlastung er- voll. Deshalb ist es gut, dass der Bund hier unterstützt. folgt im Vorgriff auf das Bundesteilhabegesetz. Ich erinnere an dieser Stelle ausdrücklich wieder an Ich finde schon, dass das erfolgreiches Regierungs- die Verantwortung der Länder. Es ist eine gesamtgesell- handeln ist. Ich würde mir jedoch wünschen, dass es im schaftliche Aufgabe, eine qualitativ hochwertige Betreu- Gegenzug auch in den Ländern gutes und faires Regie- ung unserer Kinder zukunftsfest zu gestalten. Das ma- rungshandeln gäbe. chen die Kommunen, und wir beteiligen uns daran, obwohl wir gar nicht so gefordert sind wie die Länder. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wir müssten Wir erwarten, dass unser gutes Bundesgeld auch wirk- das gar nicht!) lich zur Erreichung der vereinbarten Ziele eingesetzt wird: zur Entlastung der Kommunen und zur Stärkung Deshalb ist es einfach ein Unding, dass die Grünen hier der frühkindlichen Bildung. die Qualität kritisieren, während ihr Land Hessen das einzige Land ist, (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das war das Grundkonzept!) (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Etwas anderes als Hessen haben Sie – Das ist das Grundkonzept. – Da ist jeder von uns ge- nicht?) fordert. Auch die Grünen sind gefordert, das eine Vereinbarung über die verbindlichen Qualitäts- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) standards, Frau Dörner, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6925

Ulrike Gottschalck (A) (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hat sich gar nicht aufgeregt! Sie müssten sie (C) NEN]: Das haben Sie nicht auf der Platte! mal erleben, wenn sie sich aufregt!) Spärlicher Notnagel, sage ich nur!) – Jetzt müssen Sie mir auch zuhören. nicht mitunterzeichnet hat. Vielleicht hinterfragen Sie das einmal. Der Ausbau der Kindertagesbetreuung ist sowohl ge- sellschaftlich als auch volkswirtschaftlich eine bedeu- Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: Das Wort tende Aufgabe für unser ganzes Land: „zukunftsvergessen“ kann ich aus dem Mund der Grü- nen nicht mehr hören. Sie haben es heute allein dreimal Gesellschaftlich ist er das deswegen, weil unsere ge- gesagt, und in den letzten Debatten war das auch so. samte Gesellschaft vor dieser Aufgabe steht. Die Fami- lien brauchen Wahlfreiheit – der Kollege Rainer hat das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heute schon angedeutet –, und damit meine ich echte der CDU/CSU – Dr. Franziska Brantner Wahlfreiheit. Die Politik darf den Eltern kein bestimmtes [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es Betreuungsmodell für ihre Kinder vorschreiben. Wir wehtut! – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE müssen es ihnen aber ermöglichen, einen guten Betreu- GRÜNEN]: Dann ist das ja das richtige Wort!) ungsplatz zu erhalten, wenn sie ihn benötigen. Ich finde, wir betreiben wirklich eine nachhaltige Politik Volkswirtschaftlich ist er das nicht etwa deswegen, und müssen uns das nicht sagen lassen. weil es sich schlicht um haushalterische Ausgaben in Abschließend lege ich Ihnen noch einmal die Zustän- den Kommunen und Ländern sowie um den Etat von digkeit der Länder ans Herz. Ich lege Ihnen aber auch Minister Schäuble handelt, sondern er ist es deshalb, den Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, noch einmal weil die Investition in eine gute Betreuung unserer Kin- ans Herz. Liebe Opposition, lassen Sie Ihre kleinkarierte der eine Investition in die Zukunft ist. Mäkelei! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): neten der SPD) Oh!) Der Bund und wir haben das erkannt. Das zeigt vor Stimmen Sie zu! Ich finde, das ist ein guter Tag für die allem auch der Gesetzentwurf, über den wir in wenigen Kommunen und für die jungen Familien in unserem Minuten abstimmen werden, mit Entlastungen von Land. 1 Milliarde Euro pro Jahr in den Jahren 2015 bis 2017 für Länder und Kommunen. Dazu kommen natürlich Vielen Dank. noch die uns allen bestens bekannten 6 Milliarden Euro (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) für Kitas, Schulen und Hochschulen. Ganz abgesehen (D) von dem Anteil, der für den Bereich Kita vorgesehen ist, Vizepräsident Peter Hintze: geht es auch beim BAföG um sehr viel Geld: Allein mit Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich das der vollständigen Übernahme der Finanzierung des Wort der Abgeordneten Christina Schwarzer, CDU/ BAföG zum Jahresbeginn 2015 entlastet der Bund die CSU-Fraktion. Länder jährlich um 1,2 Milliarden Euro. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich erinnere aber noch mal gern an die letzte Legisla- turperiode: Christina Schwarzer (CDU/CSU): (Sönke Rix [SPD]: Ungern!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Der Bundestag hat damals die größte finanzielle Entlas- Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Hoffentlich tung der Kommunen in der Geschichte unseres Landes sind auch ein paar Ministerpräsidenten vor den Bild- beschlossen, nachdem Rot-Grün die entsprechenden Be- schirmen, die diese Debatte heute verfolgen. lastungen seinerzeit auf die Kommunen abgewälzt hatte. (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Ja, hier ist ja Durch die vollständige Übernahme der Kosten der keiner von denen!) Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sparen Länder und Kommunen zwischen 2012 und 2017 – Die haben anderes Wichtiges zu tun. rund 25 Milliarden Euro. Ich gehörte damals zwar noch Ich bin sehr stolz, jetzt gerade hier zu stehen, weil ich nicht dem Deutschen Bundestag an, war aber in meiner glaube, heute ist ein ganz besonderer Tag für die Fami- Heimatkommune Berlin-Neukölln politisch verantwort- lienpolitik. Wir beschließen nachher nicht nur ein Gesetz lich. Daher kann ich mich besonders gut daran erinnern, zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Be- welchen positiven Stellenwert diese Entlastung für die ruf, sondern wir tun heute auch wieder etwas für die Kommunen hatte. Neben den fiskalischen Vorteilen war Kindertagesbetreuung und den Kitaausbau. Das ist uns sie vor allem auch ein Zeichen: ein Zeichen dafür, dass und mir persönlich ganz wichtig. Deswegen ist heute ein wir die Kommunen bei ihren vielfältigen Aufgaben un- guter Tag für die Familienpolitik. – Liebe Katja Dörner, terstützen. Genau das hat der Bund nie so stark getan wie ich hoffe, du hast dich wieder ein bisschen beruhigt. Das in diesen Jahren. hat mir Sorgen gemacht. Ich erinnere auch an die 5,4 Milliarden Euro für den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Ekin Ausbau der U-3-Kinderbetreuung, die Finanzierung des Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie Bildungs- und Teilhabepaketes, die Unterstützung der 6926 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Christina Schwarzer (A) Kommunen bei der frühkindlichen Bildung und auch die – Das ist erschreckend. – Deswegen freue ich mich, dass (C) Hilfe bei der Bewältigung der Flutschäden im Jahr 2013. wir heute dieses Gesetz auf den Weg bringen. Auch wenn für eine auskömmliche Finanzausstattung der Kommunen die Länder zuständig sind, lässt der Aber auch bei der Qualität schaffen wir ein Novum: Bund die Kommunen nicht allein. Unser gemeinsames Erstmals legt ein Bundesgesetz hier Anforderungen fest. Ziel muss es sein, die Kommunen finanziell dauerhaft Wir wollen beispielsweise, dass es in der Kita ein gesun- und nachhaltig auszustatten. des Mittagessen gibt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht; aber für mich hat auch das etwas mit Qualität zu tun. Unsere Politik zeigt Wirkung: Im Jahr 2013 belief (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sich der Überschuss der kommunalen Ebene auf insge- der SPD) samt 1,7 Milliarden Euro. Für 2014 und 2015 rechnen wir mit einem Überschuss der Kommunen zwischen Auch das Thema Sprachförderung hat für mich mit 2 und 3 Milliarden Euro. Qualität zu tun. Als Abgeordnete einer Kommune, die Einwohner aus über 160 Nationen beheimatet, kann ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – sagen, dass Sprachförderung mancherorts sogar das Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Gut, dass das wichtigste Qualitätskriterium ist. Eine halbe Milliarde mal gesagt wird!) Euro stellen wir in dieser Legislatur dafür zur Verfü- gung. – Gern. – Dass die Entlastungen wirken, kann man auch an den gestiegenen Investitionen der Kommunen sehen: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Im vergangenen Jahr hat sich diese Quote um 8,4 Pro- zent erhöht. Da ich weiß, dass ganz viele Kollegen hier Wenn es um die Qualität geht, muss auch bedacht in diesem Haus noch in der Kommunalpolitik aktiv sind, werden, dass einzelne Länder, sogar einzelne Kommu- bin ich mir sicher, dass unsere Herzen heute auch für die nen innerhalb eines Landes völlig unterschiedlichen He- Kommunalpolitik schlagen. rausforderungen gegenüberstehen. Das fängt zum Beispiel beim Personalschlüssel an. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Um den gleichen Qualitätsstandard sicherzustellen, kann Ich glaube allerdings, man muss im Detail sehr auf- eine Kita in meinem Bezirk in Berlin-Neukölln, mögli- passen, wer was bezahlt; denn Länder und Kommunen cherweise einen völlig anderen Erzieher-Kind-Schlüssel müssen ebenfalls ihren Beitrag leisten, unter anderem benötigen als eine Kita im Taunus oder in der Ucker- dadurch, dass sie die bereitgestellten Mittel verab- mark. Womöglich gibt es auch völlig unterschiedliche redungsgemäß und bedarfsgerecht einsetzen. Als ehema- Anforderungen an die Sprachförderung oder andere indi- (B) lige Kommunalpolitikerin weiß ich, dass hier große Ver- viduelle Förderbedarfe, die ausschlaggebend für die (D) suchungen bestehen, anders zu verfahren; aber wir hier Qualität der Betreuung sind. im Deutschen Bundestag müssen darauf achten, dass die Unser föderales System hat das gut geregelt. Die Verabredungen eingehalten werden. Wichtig ist außer- gemeinsam von Bund und Ländern entwickelten Quali- dem, dass das Geld bei den Kommunen ankommt. Ich tätsstandards sind sinnvoll. Die Ausgestaltung und bin diesbezüglich ganz bei den kommunalen Spitzenver- Anpassung müssen aber im Verantwortungsbereich der bänden und verspreche den Kommunen, dass wir das im Länder und der Kommunen bleiben und damit auch die Blick haben und es auch einfordern werden. Es kann finanzielle Verantwortung. nicht sein, dass schon jetzt einzelne Länder das Geld lie- ber für die Sanierung des Landeshaushalts nutzen möch- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ten, anstatt es an die Kommunen weiterzugeben. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben die Länder und Kommunen in den vergan- genen Jahren an vielen Stellen entlastet, und wir entlas- Ziel dieses Gesetzes ist ganz klar, die Handlungsfähig- ten sie weiter. Dazu haben wir uns entschieden, weil wir keit der Kommunen zu verbessern; das haben wir schon dies für den richtigen Weg gehalten haben. Dann darf im Koalitionsvertrag versprochen. man aber auch einmal einen Blick darauf werfen, wie die Länder diese Entlastungen nutzen. Wir sprechen im vorliegenden Gesetzentwurf von den Faktoren Qualität und Quantität. Zum Thema Quantität Der Kollege bringt in diesem habe ich schon einiges gesagt: Hier müssen Länder und Zusammenhang gern ein Beispiel aus seiner Heimatstadt Kommunen die finanzielle Mehrausstattung bedarfs- Hamburg vor. In der Hansestadt ist seit dem 1. August gerecht einsetzen. Das Geld des Bundes sollte genau 2014 die fünfstündige Grundbetreuung in Kita und dort für den Ausbau von Kitaplätzen eingesetzt werden, Kindertagespflege von der Geburt bis zur Einschulung wo der Bedarf ist. Wir wollen, dass dort neue Kitaplätze beitragsfrei, und zwar für alle, für die alleinerziehende entstehen, wo sie von den Familien gebraucht werden. Mutter aus Hamburg, aber auch für den Bundestags- Ich kann Ihnen von Erfahrungen aus Berlin berichten, abgeordneten Marcus Weinberg. wo man sich um einen Kitaplatz bewirbt, wenn man im (Zurufe von der CDU/CSU) vierten Monat schwanger ist. Nun ist es nicht so, dass ich dem Kollegen diese Ent- (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das ist er- lastung nicht gönne. Aber man kann sich schon einmal schreckend!) fragen, ob es nicht ein besserer Weg gewesen wäre, die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6927

Christina Schwarzer (A) finanziellen Mittel in den Ausbau der Betreuungsplätze Entwicklung einer zivilgesellschaftlich ausge- (C) oder gar in die Qualität der Betreuung zu stecken. richteten Präventions- und Deradikalisie- rungsstrategie im Bereich des gewaltbereiten Qualität ist in diesem Zusammenhang übrigens ein Islamismus gutes Stichwort. Hamburg ist eines der Länder mit dem schlechtesten Betreuungsschlüssel. Der Betreuungs- Drucksache 18/3417 schlüssel ist zwar nicht das einzige Kriterium für Quali- Überweisungsvorschlag: tät in der Betreuung, aber ein wichtiges Kriterium. Innenausschuss (f) Gerade vor diesem Hintergrund sehe ich die Nutzung der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe entlastenden Mittel des Bundes in Hamburg sehr kri- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union tisch. Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Als letzte Rednerin kann ich mich darauf freuen, dass ten Verfahren ohne Debatte. wir jetzt – hoffentlich mit großer Mehrheit – diesem Ge- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an setzentwurf zustimmen. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 j sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die Vizepräsident Peter Hintze: Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus- Ich schließe die Aussprache. sprache vorgesehen ist. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Tagesordnungspunkt 33 a: desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen ab 2015 und a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinder- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- tagesbetreuung. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in zes zur Änderung von Vorschriften zur seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3443, Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck- zur Durchsetzung des Verbraucherschutzes sachen 18/2586 und 18/3008 in der Ausschussfassung Drucksache 18/3253 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält schusses für Recht und Verbraucherschutz (B) sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung (6. Ausschuss) (D) mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD- Drucksache 18/3448 Fraktion bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Dritte Beratung che 18/3448, den Gesetzentwurf der Bundesregierung, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Drucksache 18/3253, anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihrem Platz die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält der Stimme? – Der Gesetzentwurf ist damit mit den sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden. bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke und der Dritte Beratung Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b auf: zu erheben. – Wer dagegen stimmt, möge jetzt aufste- hen. – Wer sich enthält, möge aufstehen. – Niemand. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen aller Frak- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- tionen auch in dritter Lesung angenommen. rung des Bundesbeamtengesetzes und weite- rer dienstrechtlicher Vorschriften Tagesordnungspunkt 33 b: Drucksache 18/3248 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Überweisungsvorschlag: richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Innenausschuss (f) (11. Ausschuss) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Werner, Diana Golze, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irene Fraktion DIE LINKE Mihalic, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Bundesteilhabegesetz zügig vorlegen – NIS 90/DIE GRÜNEN Volle Teilhabe ohne Armut garantieren 6928 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Vizepräsident Peter Hintze (A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (C) Rüffer, Kerstin Andreae, Markus Kurth, wei- hält sich? – Die Sammelübersicht 120 ist mit den Stim- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- men aller Fraktionen angenommen worden. NIS 90/DIE GRÜNEN Tagesordnungspunkt 33 d: Fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonven- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tion – Sofortprogramm für Barrierefrei- tionsausschusses (2. Ausschuss) heit und gegen Diskriminierung Sammelübersicht 121 zu Petitionen – zu dem Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Beate Müller-Gemmeke, Doris Drucksache 18/3339 Wagner, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Die Sammelübersicht 121 auf Drucksache Schluss mit Sonderwelten – Die inklusive 18/3339 ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion Gesellschaft gemeinsam gestalten und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Drucksachen 18/1949, 18/977, 18/2878, 18/3208 Grünen angenommen worden. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 33 e: Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1949 mit dem Ti- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tel „Bundesteilhabegesetz zügig vorlegen – Volle Teil- tionsausschusses (2. Ausschuss) habe ohne Armut garantieren“. Wer stimmt für die Be- Sammelübersicht 122 zu Petitionen schlussempfehlung des Ausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Drucksache 18/3340 lung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und Wer stimmt für diese Sammelübersicht? – Wer stimmt der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- 122 ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der nen angenommen worden. SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen wor- lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- den. nen auf Drucksache 18/977 mit dem Titel „Fünf Jahre Tagesordnungspunkt 33 f: (B) UN-Behindertenrechtskonvention – Sofortprogramm für (D) Barrierefreiheit und gegen Diskriminierung“. Wer Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da- tionsausschusses (2. Ausschuss) gegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der Sammelübersicht 123 zu Petitionen SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Drucksache 18/3341 Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- nommen worden. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 123 mit den Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- Stimmen aller Fraktionen angenommen worden. stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- Tagesordnungspunkt 33 g: sache 18/2878 mit dem Titel „Schluss mit Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Sonderwelten – Die inklusive Gesellschaft gemeinsam tionsausschusses (2. Ausschuss) gestalten“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- Sammelübersicht 124 zu Petitionen schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU- Drucksache 18/3342 Fraktion und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak- tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- angenommen worden. hält sich? – Die Sammelübersicht 124 auf Drucksa- che 18/3342 ist angenommen mit den Stimmen der Tagesordnungspunkte 33 c bis 33 j. Wir kommen jetzt CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion zu den Beschlussempfehlungen unseres Petitionsaus- Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ schusses. Die Grünen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 c auf: Tagesordnungspunkt 33 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 120 zu Petitionen Sammelübersicht 125 zu Petitionen Drucksache 18/3338 Drucksache 18/3343 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6929

Vizepräsident Peter Hintze (A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Kohleausstieg einleiten – Überfälligen Struk- (C) hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 125 ange- turwandel im Kraftwerkspark gestalten nommen mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der Drucksachen 18/1962, 18/2906 SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke; keine Ent- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- haltungen. lung auf Drucksache 18/2906, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1962 abzu- Tagesordnungspunkt 33 i: lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- tionsausschusses (2. Ausschuss) empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak- tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak- Sammelübersicht 126 zu Petitionen tion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Drucksache 18/3344 Die Linke angenommen worden. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Damit sind wir mit diesen Abstimmungen am Ende. hält sich? – Dann ist die Sammelübersicht 126 angenom- Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf: men mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bünd- Aktuelle Stunde nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Linke. GRÜNEN Tagesordnungspunkt 33 j: Haltung der Bundesregierung zum Erreichen Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- der Klimaschutzziele 2020 tionsausschusses (2. Ausschuss) Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Sammelübersicht 127 zu Petitionen Abgeordnete Bärbel Höhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Drucksache 18/3345 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 127 ange- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die nommen worden mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak- UN-Klimakonferenz hat schon begonnen. Nächste Wo- tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der che wird die Bundesumweltministerin daran teilnehmen, (B) Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die aber auch wir als für die Klimapolitik zuständige Mit- (D) Grünen. glieder des Umweltausschusses. Zusatzpunkt 3 a: Das Ziel der Konferenz ist, dass die Erderwärmung um nicht mehr als 2 Grad ansteigt. Was die einzelnen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Länder, zum Beispiel Deutschland, dafür tun, um dieses richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- Ziel zu erreichen, ist von entscheidender Bedeutung. gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- Deutschland war lange Zeit Vorreiter, und alle blicken neten Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, auch weiterhin auf Deutschland. Deshalb ist es absolut Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und notwendig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das der Fraktion DIE LINKE Ziel der CO2-Reduktion um 40 Prozent bis 2020 erreicht Energiewende durch Kohleausstiegsgesetz ab- wird. sichern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drucksachen 18/1673, 18/2904 Wenn es scheitert, hätte das verheerende Folgen, weil Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- die anderen Länder dann natürlich fragen würden: Wenn lung auf Drucksache 18/2904, den Antrag der Fraktion nicht einmal Deutschland es schafft, seine Klimaziele zu Die Linke auf Drucksache 18/1673 abzulehnen. Wer erreichen, warum sollten wir das dann tun? stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da- Auch die Bundesregierung hat erkannt, dass bisher zu gegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung wenig gemacht worden ist und dieses Ziel mit den bishe- ist angenommen mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak- rigen Maßnahmen nicht erreichbar ist. Sie hat deshalb tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak- nachgesteuert und gestern im Kabinett einen Klima- tion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion Bünd- schutzaktionsplan vorgelegt. Das Ergebnis ist allerdings nis 90/Die Grünen. enttäuschend. Denn dieser Aktionsplan enthält viele Zusatzpunkt 3 b: Prüfaufträge, vage Ankündigungen und Doppelbuchun- gen, kurzum: Versprechungen, die auf dem Prinzip Hoff- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nung beruhen, und viel heiße Luft. So geht es nicht, richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- meine Damen und Herren. gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- neten Annalena Baerbock, Oliver Krischer, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Das stimmt Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doch gar nicht!) 6930 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Bärbel Höhn (A) Mit diesem Plan werden wir das Ziel, bis 2020 die Energien sei zu teuer; er wird mit hohen Preisen gela- (C) CO2-Emissionen um 40 Prozent zu reduzieren, nicht er- belt. Dabei wird vergessen, dass Kohle mit Arbeitsplät- reichen. So wird es nicht machbar sein. Warum? Eine zen gelabelt wird. Oft wird Klimaschutz als teuer und ar- Reduzierung um 40 Prozent ist sehr ambitioniert. Wir beitsplatzvernichtend gelabelt. Das ist unverantwortlich. müssen in den nächsten Jahren dreimal so ambitioniert Klimaschutz schafft Arbeitsplätze und vernichtet nicht sein wie in den Jahren zuvor. Das heißt, jeder Bereich Arbeitsplätze. muss einen Beitrag leisten. Wir müssen von heute bis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie 2020 den CO2-Ausstoß noch um insgesamt 200 Millio- nen Tonnen reduzieren. Der Energiebereich stellt davon bei Abgeordneten der LINKEN) einen Block von 40 Prozent. Wer wie die Bundesregie- Mit dem beschlossenen Programm lässt sich das Ziel rung und insbesondere der Wirtschaftsminister behaup- einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 40 Prozent tet, der Energiebereich erbringe nur einen minimalen nicht erreichen, weil die Kohlekraftwerke keinen Beitrag Anteil von 22 Millionen Tonnen bzw. 10 Prozent, wird erbringen müssen. So sollen die Energieeffizienz und die dieses Ziel nicht erreichen können. Wir müssen auch den Elektroautos den notwendigen Beitrag erbringen. Das ist Kohlebereich einbeziehen. Sonst wird es nicht gelingen. ein Sammelsurium. Wir müssen mehr Geld in die Hand (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nehmen. Aber Herr Schäuble will die schwarze Null und will kein Geld für ein Investitionsprogramm für die Zu- Viele sagen, 40 Prozent seien total viel; das sei doch kunft bereitstellen. Dann wird es nicht funktionieren. viel mehr, als die anderen erbringen. Wir sollten uns ver- Was wir jetzt nicht erreichen, müssen wir den Menschen gegenwärtigen, dass momentan in Deutschland mit später viel stärker und schlimmer zumuten. Das heißt, 9,4 Tonnen pro Kopf mehr CO2 ausgestoßen wird als wir verlieren nur Zeit, wenn wir uns nicht rechtzeitig um durchschnittlich in der EU mit 8,6 Tonnen pro Kopf. Wo den Klimaschutz kümmern. entstehen die meisten Emissionen? Dort, wo Kohle ver- brannt wird. Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat Ich sage daher ganz deutlich: Wir alle, der Bundestag einen Pro-Kopf-Ausstoß von 16 Tonnen CO . Es ist ent- und der damalige Umweltminister Gabriel, haben ge- 2 meinsam die Zielvorgabe einer CO -Reduktion von scheidend, dass wir auch die Kohle einbeziehen. Das 2 macht auch die Bundesregierung. In ihrem Projektions- 40 Prozent beschlossen. Diese Bundesregierung muss bericht, den der Wirtschaftsminister gestern erwähnt hat, endlich Verantwortung übernehmen und entsprechend sagt die Bundesregierung – das, was 2013 gesagt wurde, wirksame Maßnahmen umsetzen. Das bedeutet, dass die wurde dieses Jahr bestätigt –, dass der Energiebereich al- Kohle einbezogen werden muss. Sonst wird es nicht ge- lein mithilfe der alten Maßnahmen eine Reduzierung lingen. (B) von 71 Millionen Tonnen bis 2020 erbringen muss. Danke schön. (D) 71 Millionen Tonnen! Zusätzlich fordert der Wirt- schaftsminister 22 Millionen Tonnen. Aber gestern war (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) er nicht in der Lage, zu beschreiben, wie die fehlenden 70 Millionen Tonnen erbracht werden sollen. Null Maß- Vizepräsident Peter Hintze: nahmen, null Ideen! Als nächster Rednerin erteile ich das Wort Dr. Anja (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion. Professor Schellnhuber hat gestern im Umweltaus- (Beifall bei der CDU/CSU) schuss noch einmal deutlich gemacht: Zwei Drittel der fossilen Energien müssen in der Erde bleiben, wenn wir Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): das 2-Grad-Ziel noch erreichen wollen. Das bedeutet, Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! dass die Kohle langfristig keine Zukunft hat. Wir müssen Wir haben in diesem Haus schon einige Male darüber den Betroffenen die Wahrheit sagen. Die Wahrheit ist, diskutiert, wie Deutschland seine Klimaziele erreichen dass wir nicht abrupt, wohl aber peu à peu aus der Kohle wird. Heute kann ich sagen: Wir übernehmen diese Ver- aussteigen müssen. Die Betroffenen wollen Planungssi- antwortung. Wir haben geliefert. – Allen Unkenrufen cherheit. Diese sollten die Politik und insbesondere der zum Trotz hat das Bundeskabinett gestern die Aktions- Bundestag ihnen geben. programme zum Klimaschutz und zur Energieeffizienz beschlossen. Damit zeigen wir, dass wir klar hinter unse- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rem nationalen Klimaziel stehen, und das ist auch gut so. Wir brauchen also die politische Kraft, hier etwas zu (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zu- tun. Sogar Eon hat bemerkt, dass die erneuerbaren Ener- ruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE gien die Zukunftsenergien sind und Arbeitsplätze schaf- GRÜNEN]) fen. Eon sollte nicht schneller als der Wirtschaftsminis- ter sein. Dieser hat gestern auf einer Pressekonferenz Sehr geehrte Frau Höhn, Klimaschutz und Wirt- gesagt, er investiere 1 Milliarde Euro in den Gebäudebe- schaftswachstum, ja, das sind keine Widersprüche, son- reich, was erhebliches privates Kapital akquirieren und dern sie können und müssen Hand in Hand gehen. Man schließlich zu neuen Arbeitsplätzen führen werde. Dazu kann mit Klimaschutz auch Arbeitsplätze schaffen und kann ich nur sagen: Richtig, das führt zu neuen Arbeits- keine vernichten; aber dafür muss man es richtig ma- plätzen. Klimaschutz führt zu Arbeitsplätzen. Sonst ist chen. Mit dem neuen Aktionsprogramm setzen wir des- immer die Rede davon, der Ausbau der erneuerbaren halb auf Anreize, auf Information, auf Beratung, auf Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6931

Dr. Anja Weisgerber (A) Technologieoffenheit und nicht auf Zwang, und das ist hat er, hat der Bund das jetzt gemacht. Nun sind die Län- (C) der richtige Weg. der am Zug. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ neten der SPD) DIE GRÜNEN]: Das hat bisher auch nicht funktioniert!) Ich kann nur ganz klar an die Länder appellieren: Be- wegt euch! Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg Denn ordnungsrechtliche Maßnahmen auf nationaler und Rheinland-Pfalz, alle haben landeseigene Klima- Ebene wirken nicht nur wettbewerbsverzerrend für un- schutzgesetze oder -programme verabschiedet. Liebe sere Unternehmen, sondern sie helfen dem Klima unter Landesfürsten dieser Bundesländer, lassen Sie sich eines dem Strich auch nicht. Es ist nämlich so: Wenn wir in sagen: Sie werden Ihre Ziele nicht erreichen, wenn Sie Deutschland durch nationale Gesetzgebung in den Berei- bei der steuerlichen Förderung nicht mitziehen und wei- chen CO2 reduzieren, die dem Emissionshandel ohnehin terhin kneifen. unterliegen, dann werden Emissionszertifikate frei, und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Preis sinkt noch weiter. Diese dann noch billigeren Emissionszertifikate werden dann von anderen europäi- neten der SPD) schen Staaten billig gekauft, und CO2 wird dort in die Bayern hat am Dienstag im Ministerrat beschlossen, Luft geblasen. eine entsprechende Bundesratsinitiative auf den Weg zu bringen. Wir brauchen jetzt ein positives Signal aus den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bundesländern. Also lassen Sie uns keine Zeit verlieren Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und das endlich machen. Dies bringt nicht nur den Kli- NEN]: Aus dem Markt nehmen! – Bärbel maschutz ein gewaltiges Stück voran, sondern es wäre Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Des- auch ein effizientes Investitionsprogramm für unser hei- halb mehr tun! „Aus dem Markt nehmen!“ misches Handwerk und den Mittelstand. sagt die Kollegin!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deshalb müssen wir auf nationaler Ebene konsequent der SPD) auf den Bereich setzen, der nicht vom Emissionshandel erfasst ist, und das ist vor allem der Gebäudebereich, der Jeder Euro, der in Sanierungsmaßnahmen investiert Bereich der Gebäudesanierung. wird, löst mindestens 8 Euro an Folgeinvestitionen aus, wenn nicht sogar noch mehr. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau rich- tig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) neten der SPD) (D) Hierzu enthalten die Aktionsprogramme konkrete Maß- nahmen, wie die steuerliche Förderung der energetischen Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Aktions- Sanierung, die Aufstockung und Verstetigung des CO2- programm müssen alle Sektoren einen angemessenen Bei- Gebäudesanierungsprogramms und die Weiterentwick- trag leisten, nicht nur der Gebäudebereich, sondern auch lung der bestehenden Energieberatung sowie viele wei- die Energiewirtschaft, die Industrie, die Kreislaufwirt- tere konkrete Maßnahmen. schaft, der Verkehr und die Landwirtschaft. Dieses Paket ist eine gute Grundlage, auf der wir aufbauen können. Den größten Anreiz schaffen wir mit der steuerlichen Förderung von energieeffizienten Gebäudesanierungs- Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, na- maßnahmen; denn in diesem Bereich liegt ein erhebli- türlich ist klar, dass Sie „immer höher, weiter, besser“ ches Einsparpotenzial. sein wollen. Aber ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie einmal mit einem Satz anerkannt hätten, dass es ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lungen ist, genau zum richtigen Zeitpunkt – vor dem Kli- Es gibt Berechnungen, die besagen, dass eine Erhö- magipfel in Lima – diese Aktionsprogramme zu verab- hung der Gebäudesanierungsquote von derzeit 0,8 Pro- schieden. zent auf 3 Prozent pro Jahr bis 2020 ein Einsparpotenzial Ich möchte an dieser Stelle nur noch eines sagen: von sage und schreibe 46 Millionen Tonnen CO bringen 2 Jürgen Trittin und die damalige Bundesregierung haben würde. Diesen Hebel müssen wir so weit wie möglich sich im Herbst 2000 ein nationales Klimaschutzziel nutzen. Ich bin daher sehr froh, dass unser Herzensanlie- – 25 Prozent Treibhausgasreduktion bis 2005 – gesetzt. gen, die steuerliche Förderung der energetischen Gebäu- Dieses Ziel wurde 2005 verfehlt. Wir setzen nun alles desanierung, in beide Programme aufgenommen wurde. daran, dass uns das nicht passiert. Der Bund hat sich damit klar zur steuerlichen Förderung bekannt und hat sich für eine Förderung nicht nur der Vielen Dank. Komplettsanierung, sondern auch einzelner Maßnahmen ausgesprochen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, in sämtlichen letzten De- Vizepräsident Peter Hintze: batten zu diesem Thema hat es von Ihrer Seite immer Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- wieder Zwischenrufe gegeben, dass Finanzminister ordneten Eva Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke. Schäuble sich bewegen und sich klar zur steuerlichen Förderung bekennen soll. Mit den Aktionsprogrammen (Beifall bei der LINKEN) 6932 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): damit auf jeden Fall geholfen; denn jeder Tag, an dem (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das die Kohleschlote nicht qualmen, ist ein gewonnener Tag Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 ist schon ein star- fürs Weltklima. kes Stück, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich meine, das ist schon verrückt: Die zwei Kohle- der SPD – Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Ja, kraftwerke Neurath und Niederaußem in Nordrhein- finden wir auch!) Westfalen verpesten zusammen mit dem Kraftwerk nicht nur was die Dramatik der letzten Wochen, sondern Jänschwalde in Brandenburg die Luft so stark wie die auch die Vorstellung des Regierungsprogramms gestern Schweiz und Ecuador zusammen. Hier müssen wir ran; betrifft. Wir haben lange hin und her überlegt, gerechnet sonst nimmt uns in Lima und Paris wirklich niemand und abgewogen. Ob Sie es nun glauben oder nicht: ernst! (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Nein!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wir finden, dass der heimliche Coup dieses Maßnah- Auf keinen Fall darf das Klimaschutzprogramm ein menpakets – es geht darum, die Lücke bei den deutschen reines Propagandainstrument im Vorfeld der UN-Klima- Klimaschutzzielen bis 2020 zu schließen – die Summe konferenz sein. Frau Ministerin, so geht das natürlich an Einsparungen im Kraftwerksbereich ist. Wenn es also nicht: sich international abfeiern lassen und die angekün- wirklich stimmt, was sich rechnerisch aus dem Aktions- digten Errungenschaften dann zu Hause nicht umsetzen. programm Klimaschutz 2020 ergibt, nämlich die Gesamt- Wir wollen, dass Sie Wort halten. emissionen der Energiewirtschaft in den kommenden Jah- Noch ein Wort zu den übrigen Maßnahmen bei der ren bis 2020 auf 284 Millionen Tonnen Effizienz und im Verkehr. Da müssen die meisten Res- herunterzufahren: Hut ab! Dann haben Sie uns entgegen sorts ihren Beitrag noch leisten. Die Frage ist nun, was unseren Bedenken wirklich überrascht; denn das wäre am Ende hinten rauskommt; das ist klar. Im konkreten eine Verdreifachung im Tempo der bisherigen CO2-Ein- Fall heißt das: Lässt sich mit dem Aktionsprogramm tat- sparung in diesem so schmutzigen Sektor – und das in sächlich das 40-Prozent-Minderungsziel erreichen, nur fünf Jahren. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Ja!) (Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!) und zwar volkswirtschaftlich sinnvoll und sozial ge- Lassen Sie uns für das Protokoll jetzt festhalten: Die recht? SPD-geführten Ministerien planen, im Energiesektor 93 Millionen Tonnen einzusparen, bezogen auf 2012. – (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Ja!) (B) Ich finde, dafür kann man ruhig mal applaudieren. Da schaut es weniger toll aus. Denn es handelt sich bei (D) (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie den meisten übrigen Maßnahmen um solche, die die der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]) Bundesregierung nicht wirklich in der Hand hat. Sie set- zen auf Freiwilligkeit, und zwar ganz. Jetzt an Sie, Frau Hendricks, die Frage: Können Sie – Sie reden ja gleich – hier noch einmal ausdrücklich be- Zum Schluss noch zur sozialen Komponente des Ak- stätigen, dass Sie den Kraftwerkspark auf 93 Millionen tionsprogramms. Es wird von uns Linken ja erwartet, Tonnen Einsparung bis 2020 verpflichten wollen? dass wir auch dazu etwas sagen. Da findet man etwas im Bereich Gebäudesanierung, beim Stromspar-Check und ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bei der Stromsparinitiative. Allerdings wird hier überall Frau Hendricks, wollen schon, aber machen nur geprüft, unter anderem, ob Zuschüsse für Energie- nicht!) spargeräte bei einkommensschwachen Haushalten mit Dann hoffen wir, dass den großen Ansagen auch Taten Hartz IV verrechnet werden müssen. Das ist für mich ein folgen. Skandal. Wenn so die soziale Absicherung der Energie- wende ausschauen soll, dann gute Nacht! Gestern hat Herr Gabriel gegenüber der Presse gesagt, diese Bundesregierung werde im ersten Quartal 2015 (Beifall bei der LINKEN) eine gesetzliche Grundlage schaffen, nicht nur für die 71 Millionen Tonnen Einsparung, die sowieso vorgese- Vizepräsident Peter Hintze: hen sind, sondern auch für die 22 Millionen Tonnen zu- Für die Bundesregierung erteile ich das Wort Frau sätzlich, also für das gesamte Paket von 93 Millionen Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks. – Bitte schön. Tonnen CO2-Einsparung der Energieindustrie. Dafür hat die Regierung gestern auch schon ein verhaltenes Lob (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) von Greenpeace erhalten. Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um- Es wird gemunkelt, dass der nationale Kohleausstieg, welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: den die Linke seit längerem fordert, wenn auch über an- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich dere Mechanismen, etwa über die Reform des Strom- habe mich gefragt, ob die Grünen wohl heute noch markts, eingeleitet werden soll; Stichwort: Kapazitätsre- glücklich sind, dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt serve. Schmutzige Kohlekraftwerke gehen vom Netz haben. und stehen für Zeiten bereit, in denen wir für Netzstabili- tät und Versorgungssicherheit schnell und zuverlässig (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE konventionelle Energien benötigen. Dem Klima wäre GRÜNEN]: Ja! – Steffi Lemke [BÜND- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6933

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind wir! – Oliver (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir Bitte? Also wirklich, Frau Hendricks! – Katrin sind zutiefst traurig über das komische Maß- Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nahmenpaket!) NEN]: Da haben Sie wohl was verpasst!) Ich habe dann gedacht: Möglicherweise nutzen sie sie schreibt heute: als Chance, um aus dem nörgelnden Abseits herauszu- kommen, in das sie sich seit gestern begeben haben. Denn bei aller Kritik im Detail hat die Große Koali- tion wesentlich mehr zustande gebracht, als viele (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Ja, genau!) Klimaschützer ihr zugetraut hätten. Bedauerlicherweise haben Sie das nicht vor. Und: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dennoch ist die Art und Weise, in der die Opposi- tion die Pläne verteufelt, nicht gerechtfertigt. Ihre Rede hat mich wirklich enttäuscht, Frau Höhn, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal, wie die 70 Millionen er- Die Süddeutsche Zeitung schreibt heute: bracht werden sollen, Frau Hendricks!) Insofern ist das Klimapaket dieser Bundesregierung zumal ich Sie fachlich und als Mensch durchaus schätze. kein schlechter Anfang. Es enthält viele kleine Umso mehr erstaunt es mich, dass Sie wider besseres Ideen, Wissen erneut das vortragen, was Sie schon gestern vor- getragen haben. Offenbar haben Sie in den vergangenen (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 24 Stunden nicht die Chance genutzt, sich unser Kli- NEN]: Ja, kleine Ideen! Genau! Ganz kleines maaktionsprogramm einmal gründlich anzusehen. Karo ist das! – Weitere Zurufe vom BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) von der Überprüfung alter Heizungen bis zur Ener- Offenbar sind Sie auch nicht bereit, das zu akzeptie- gie-Selbsthilfegruppe in der Industrie. Es sind Kle- ren, was der Bundeswirtschaftsminister gestern hier in ckerles-Ideen nur, aber sie summieren sich – in Be- der Befragung der Bundesregierung dem deutschen Par- reichen, in denen sich die Dinge nur zäh verändern lament gesagt hat, lassen. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE „Sie summieren sich“; viele kleine Dinge summieren (B) GRÜNEN]: Stimmt, dazu sind wir nicht be- sich: Das dürfte auch Ihnen aus der Mathematik bekannt (D) reit! Das ist richtig! Weil er Quatsch erzählt sein. hat!) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei mit der Verbindlichkeit, die die Aussage eines Mitglieds Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der der Bundesregierung vor dem deutschen Parlament hat. CDU/CSU: Na ja, man darf aber auch nicht zu (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Wi- viel erwarten!) derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Und es klotzt dort, wo ein schnellerer Umbau nötig NEN – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und möglich ist: bei der Stromerzeugung. NEN]: Sie sollen es nicht sagen, sondern machen!) Bei der Stromerzeugung! Seine Aussage war, dass er die Umsetzung bei der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stromerzeugung noch im ersten Halbjahr des nächsten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ Jahres gesetzlich regeln wird. Das ist auch die Antwort DIE GRÜNEN]: Wo denn?) für Sie, Frau Kollegin Bulling-Schröter: Das ist diesem Parlament gestern vom zuständigen Wirtschafts- und – Ich werde das jetzt nicht noch einmal sagen. Energieminister mitgeteilt worden. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) GRÜNEN]: Aber vielleicht können Sie uns ja mal sagen, warum Sie die ganze Zeit nur aus Die International New York Times hat heute auf der der Zeitung vorlesen!) ersten Seite eine Überschrift, die sinngemäß lautet: Deutschland verdoppelt seine Anstrengungen bei der Die zusätzlichen 22 Millionen stehen in diesem Pro- Bekämpfung des Klimawandels. – Das wird sogar in gramm. Dabei geht man von der Projektion der alten New York wahrgenommen. Aber Ihnen ist das nicht ge- Bundesregierung aus. Der Wirtschaftsminister hat es lungen; Sie sind vielleicht ein bisschen zu nah dran. hier gestern ausdrücklich und mehrfach erläutert; genau so ist es. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜND- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: NIS 90/DIE GRÜNEN) Ich weiß nicht, wie er das erbringen soll! 70 Millionen mal eben! Hallo! – Gegenruf der die tageszeitung, die normalerweise nicht im Verdacht Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Dann steht, den Grünen sehr fern zu stehen, machen Sie doch mal einen Plan!) 6934 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) – Tja, es ist in der Tat nicht so einfach. Wir müssen un- Wenn wir also von einem Anteil von 80 Prozent er- (C) sere Anstrengungen mehr als verdoppeln. Denn in der neuerbarer Energien im Jahr 2050 ausgehen, sieht diese Vergangenheit haben wir für den Klimaschutz bzw. zur unsere Zielprojektion einen Anteil von 20 Prozent aus Erreichung des CO2-Minderungsziels von 40 Prozent fossiler Energie vor; ich weiß jetzt nicht, ob aus Kohle tatsächlich nicht genug getan. oder Gas; das kann man mit den heutigen Methoden nicht vorhersagen. Das hängt auch davon ab, wie sich (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Markt entwickelt. Aber das bedeutet doch, dass es Exakt!) völlig selbstverständlich ist – es ist ein System kommu- In den 90er-Jahren hatten wir etwa 14 Prozent Minde- nizierender Röhren –: In dem Maße, wie die Strompro- rung. Das ist im Wesentlichen durch den industriellen duktion aus erneuerbaren Energien zunimmt, nimmt die Abbau in der ehemaligen DDR entstanden. Das war Stromproduktion aus fossiler Energie ab; denn wir haben nicht im eigentlichen Sinne Klimaschutzpolitik, sondern uns in unserem Wirtschaften – trotz Wirtschaftswachs- das ist so geschehen – im Wesentlichen. tum – von der Stromproduktion abgekoppelt: Wir ver- brauchen weniger Energie, obwohl wir Wirtschafts- (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Genau, ja!) wachstum haben. Also gehen wir davon aus, dass wir nicht sehr viel mehr Strom brauchen werden als heute. In den Jahren von 2000 bis heute haben wir etwa 11 Pro- Das wird man annehmen können; denn bisher ist es uns zentpunkte Minderung hinbekommen. Wir sind jetzt bei ja gelungen, das voneinander abzukoppeln. Das wird 25 Prozent – das haben Sie in der vorigen Woche richtig auch unsere Zielrichtung bleiben, dem dienen auch alle erkannt, Frau Kollegin Höhn –, und wir würden ohnehin, Effizienzstrategien. Das liegt auf der Hand und ist auch wenn wir nichts weiter tun würden, im Jahr 2020 zwi- im Interesse der deutschen Wirtschaft – aus Kostengrün- schen 32 und 35 Prozent erreichen. Diese Lücke von den und um bei der Technologie weiter voranzukom- 5 bis 8 Prozent schließen wir jetzt. Diese „Sowieso-Er- men. reichung“ umfasst unter anderem natürlich auch die Pro- jektion der alten Bundesregierung. Es dürfte Ihnen be- Wenn dies also so ist, dann haben wir doch ein ge- kannt sein, dass die EVU ungefähr 50 Kraftwerksblöcke meinsames Interesse daran, im Sinne der Arbeitneh- zur Stilllegung angemeldet haben – eben weil sich der merinnen und Arbeitnehmer und der Unternehmen, die Energiemarkt so entwickelt, wie er sich entwickelt. in der Energieversorgung tätig sind, diesen Pfad so zu beschreiben, dass es nicht zu Brüchen kommt – weder (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aus der Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer NEN]: Und neue gehen ans Netz! Das ist ein oder deren Unternehmen noch bei der Versorgungssi- Nullsummenspiel, Frau Hendricks! Das ist cherheit. Mathematik!) (D) (B) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn 50 Kraftwerksblöcke zur Stilllegung angemeldet Je mehr Zeit wir dafür haben, umso besser! werden, wird das doch irgendeine Art von Auswirkung Nicht zu spät damit anfangen!) auf den CO -Ausstoß haben; das können doch selbst Sie, 2 Darum geht es doch: diese nächsten 35 Jahre gemeinsam Herr Krischer, nicht leugnen. Das wird doch wohl so ins Blickfeld zu nehmen. sein. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es geht nicht darum, heute aus der Stromproduktion Natürlich kommt es darauf an, die Energiewende zum mithilfe fossiler Energien auszusteigen; denn auch 2050 Erfolg zu bringen. Die Energiewende ist ja dazu da, das gehen wir immer noch von mindestens 20 Prozent fossi- Klima zu schützen. Wir wollten natürlich alle gemein- ler Energie in der Stromproduktion aus. Vielmehr geht es sam aus der Atomenergie aussteigen – aus vielen guten darum, gemeinsam einen vernünftigen Pfad zu beschrei- Gründen, aber gerade nicht wegen des Klimas; deswe- ben und ihn auch gesetzgeberisch auf den Weg zu brin- gen hätten wir es nicht tun müssen. gen, und dies hat der Bundesminister für Wirtschaft und (Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Ja, das Energie gestern in diesem Parlament angekündigt. stimmt! – Katrin Göring-Eckardt [BÜND- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!) ruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Und wie!) Deswegen ist es doch völlig klar, dass die erneuerba- ren Energien an erster Stelle den nicht mehr produzierten Nehmen Sie doch einfach zur Kenntnis: Es hat in den Atomstrom klimafreundlich ersetzen. Wir sind im Mo- vergangenen Jahren hier in Deutschland Versäumnisse ment bei 28,5 Prozent Stromproduktion aus erneuerba- gegeben, was den Klimaschutz anbelangt. ren Energien, und es wird, wie wir alle wissen, nach (Dirk Becker [SPD]: So ist das! Jawohl!) 2022 keine Atomstromproduktion in Deutschland mehr geben. Wir haben uns aber alle vorgenommen, im Jahr Auch heute noch haben wir in Deutschland einen höhe- 2050 80 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien zu ren Pro-Kopf-Ausstoß an CO2 als China. Es ist klar: Das produzieren. Mit anderen Worten: Den Atomstrom den- wird bei denen mehr, weil die Chinesen ein höheres ken wir uns dann mal weg; denn er hört ja 2022 auf, also Wirtschaftswachstum haben als wir. Deswegen müssen müssen wir ihn im Jahr 2050 nicht mehr in Rechnung sie natürlich besonders viel tun, weil sie ja zusammen stellen. mit den Vereinigten Staaten für fast 50 Prozent der welt- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6935

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) weiten Emissionen verantwortlich sind. Aber wir sind, digt wurde, im nächsten Halbjahr ein Gesetz umgesetzt (C) was den Pro-Kopf-Ausstoß angeht, noch keine Muster- wird, das sicherstellt, dass das kommt, was erwartet schüler, sondern, wie gesagt, noch etwas schlechter als wird, und dass das obendrauf kommt, was jetzt verein- die Chinesen. Das müssen wir also auch international ins bart wurde. Dann werden wir diesen Reduktionsbeitrag Blickfeld nehmen. Es ist unsere Aufgabe, darauf zu ach- der Energiewirtschaft erreichen. Und so muss es kom- ten, dass wir das hier ohne Brüche sozialverträglich hin- men. bekommen. Sie sollten bereit sein, zu akzeptieren, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) man für den Klimaschutz in der Bundesrepublik Deutschland die Zustimmung der Menschen auch auf Natürlich wissen wir, dass es nicht nur, aber auch um Dauer braucht, und nicht nörgelnd im Abseits verharren. die Kohle geht und dass das Ganze nicht funktionieren wird, ohne dass der Anteil der Kohle ganz erheblich zu- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – rückgeführt wird. Es wird deshalb jetzt die Frage ge- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: stellt: Ist das der Einstieg in den Ausstieg aus der Kohle? Das machen Sie gerade kaputt mit solchen Re- Ich weise dazu auf zwei Beschlüsse hin, die wir hier mit den!) einer ganz großen Mehrheit getroffen haben. Vizepräsident Peter Hintze: Das eine ist der Beschluss, dass erneuerbare Energien Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- die tragende Säule der Energieversorgung werden – ordneten Andreas Jung, CDU/CSU-Fraktion. nicht mehr Kernenergie, nicht Kohle, auch nicht Fra- cking, nein, erneuerbare Energien. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Andreas Jung (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Das Zweite ist der Beschluss, den wir heute Abend dem gestrigen Beschluss zum Aktionsprogramm Klima- mit der Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der schutz 2020 und zum Nationalen Aktionsplan Energieef- Koalitionsfraktionen zur Konferenz in Lima wiederho- fizienz macht die Bundesregierung eines sehr deutlich: len werden, dass wir die CO2-Emissionen in Deutsch- Wir stehen zu der deutschen Verantwortung im Klima- land bis zum Jahr 2050 gegenüber 1990 um 80 bis schutz. Wir halten an dem Ziel einer Reduktion der CO2- 95 Prozent zurückführen. Beides zusammen beschreibt, Emissionen bis 2020 um 40 Prozent, das Bärbel Höhn zu dass wir nicht von heute auf morgen und über Nacht aus Recht als ein ambitioniertes Ziel bezeichnet hat, fest. der Kohle aussteigen können. Aber es geht jetzt darum, Dieses Ziel gilt, und daran wird nicht gerüttelt. Es wer- Schritt für Schritt einen immer geringeren Anteil der (B) den Maßnahmen umgesetzt, um die Lücke, die es noch Kohle an unserem Energiemix zu erreichen. Das müssen (D) gibt, zu schließen, um das Ziel zu erreichen, um die Stel- wir angehen: sozial verträglich, wirtschaftlich vernünf- lung Deutschlands im Klimaschutz zu verfestigen. Das tig, aber vor allem auch mit Nachdruck und Verlässlich- wird gemacht. Darauf zählen wir. Als Beauftragter der keit. Union für Klimaschutz sage ich: Für all das hat die Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) desregierung unsere Unterstützung und darüber hinaus – dessen bin ich sicher – auch eine breite Unterstützung Es ist Energieeffizienz angesprochen worden. Ich bin im Deutschen Bundestag. froh, dass wir mit dem Aktionsplan endlich ein Pro- gramm haben, das beschreibt, wie wir es schaffen, den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schlafenden Riesen Energieeffizienz – so bezeichnen wir Es sind in dieser Debatte schon einige Fragen zu die- das seit vielen Jahren – aufzuwecken und mit diesen sem Aktionsprogramm aufgeworfen worden. Ich will Maßnahmen so viel Emissionen einzusparen, wie Bre- darauf eingehen. Eine Frage war: Welches ist der Beitrag men und Thüringen zusammen ausstoßen. Das ist ein im Bereich Strom, im Bereich der Energiewirtschaft? großer Wurf, den es umzusetzen gilt. Im Aktionsplan Dazu macht dieses Programm eine ganz klare Ansage. sind die Ausschreibung im Bereich der Energieeffizienz Diese Ansage lautet: Es muss bis zum Jahr 2020 ein zu- sowie die Aufstockung des Gebäudesanierungspro- sätzlicher Reduktionsbeitrag von 22 Millionen Tonnen gramms vorgesehen. CO erbracht werden. Es wird genauso deutlich, schwarz 2 (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auf weiß, dargelegt, was „zusätzlich“ heißt. Zusätzlich Alles ungedeckte Schecks!) heißt: Es wird Bezug genommen auf den Projektionsbe- richt der Bundesregierung, der besagt: Bis zum Jahr Sie weisen zu Recht darauf hin: Nicht alles kann die 2020 ist ohnehin, auch ohne dieses Programm, mit ei- Bundesregierung allein machen. – Für manches brau- nem Rückgang der durch die Energiewirtschaft verur- chen wir die Länder. Sie von der Grünenfraktion haben sachten CO2-Emissionen um 71 Millionen Tonnen zu im Bundestag gesagt: Steuerliche Förderung und Gebäu- rechnen. Das steht auf Seite 14 im Aktionsplan. desanierung werden am Bundesfinanzminister schei- tern. – Es ist nicht an ihm gescheitert. Der Vorschlag der (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ge- Bundesregierung liegt jetzt auf dem Tisch, und damit nau! Das habe ich gestern zitiert!) liegt der Ball bei Ihnen, bei den Länderregierungen, auch Wenn Sie beides zusammenrechnen, dann kommen Sie und gerade bei denen, die grün und rot geführt sind. Ich auf eine CO2-Einsparung in Höhe von 93 Millionen Ton- habe noch nichts von Herrn Kretschmann gehört; ich nen bis 2020. Es geht jetzt darum, dass, wie es angekün- habe noch nichts von Frau Kraft gehört. Wir warten auf 6936 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Andreas Jung (A) das Signal der Länder, dass sie sagen: Ja, das setzen wir 1990er-Jahren begonnen hat und dass es im Kern zu- (C) gemeinsam um. – Denn Klimaschutz ist keine Aufgabe nächst darum ging, zu liberalisieren. Er stellt noch ein- der Bundespolitik, sondern der Bundesrepublik. Wir ha- mal dar – das war mir gar nicht so klar –, dass der Ver- ben eine gemeinsame Verantwortung. Der müssen wir kehrssektor in Westdeutschland von 1957 bis weit in die gemeinsam gerecht werden. 1990er-Jahre sehr streng reguliert war. Es gab beispiels- weise Kontingente und Wettbewerbsbeschränkungen, Vielen Dank. die verhindert haben, dass sich eine unendliche Flut von (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Lkw auf die Straßen ergießt, dass es immer mehr Anbie- ter gab, die miteinander im Wettbewerb hätten stehen Vizepräsident Peter Hintze: können, und dass der Wettbewerb zur Schiene systema- Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- tisch organisiert wird. ordneten Sabine Leidig, Fraktion Die Linke. Er sagt, das alles – auch die Entwicklungen im Flug- (Beifall bei der LINKEN) verkehr, die Billigfluglinien, die aus dem Boden schie- ßen, die ganzen regionalen Flughäfen, die mit enormen Sabine Leidig (DIE LINKE): Summen öffentlich bezuschusst werden – sei ein Ergeb- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! nis der Liberalisierung. Er sagt, dass es inzwischen Zeit Die Anerkennung – sozusagen im Großen und Ganzen – sei, darüber nachzudenken, ob der Trend nicht umge- hat meine Kollegin Eva Bulling-Schröter gerade schon kehrt werden muss. Genau das ist aus unserer Sicht das mit Blick auf den großen Brocken Energiepolitik zum Richtige. Ausdruck gebracht. Ich möchte mich mit einem anderen (Beifall bei der LINKEN) Brocken beschäftigen, der auch nicht ganz klein ist: Das ist die Verkehrspolitik. Immerhin machen die CO2-Emis- Wir brauchen eine systematische Politik, die reguliert sionen aus dem Verkehrssektor 20 Prozent der Gesamt- und dazu führt, dass die zerstörerischen Verkehre redu- emissionen aus. Das ist die Anerkennung, die ich für die- ziert werden. Es gibt einige Maßnahmen, die da sehr sen Bereich aussprechen wollte – Sie haben sich ja einen probat sind. Eine wichtige Maßnahme wäre zum Satz gewünscht –: Sie haben in Ihrem Klimaschutzbe- Beispiel, die Kosten anzulasten. Die Umwelt- und Ver- richt immerhin festgehalten, dass es ein relevanter Be- kehrsverbände haben vor einigen Monaten eine sehr reich ist und dass er im Unterschied zu den anderen Sek- schöne Studie vorgelegt: „Klimafreundlicher Verkehr in toren eine steigende Tendenz im CO2-Ausstoß aufweist. Deutschland“. Ich will nur zwei Zahlen herausgreifen: Deshalb muss man sich mit dem Verkehrssektor ganz be- Wenn man die Dieselsubventionen abschaffen würde, (B) sonders beschäftigen. Das ist das Gute, dass Sie es fest- die den Diesel insbesondere für den Lkw-Verkehr verbil- (D) gestellt haben. ligen, würde man nur in Deutschland 6,6 Milliarden Euro einsparen, die dann für andere Maßnahmen zur Schlecht ist aber, dass es offensichtlich überhaupt Verfügung stünden – ganz zu schweigen von den vielen kein Konzept dafür gibt, wie man diesen steigenden Ten- Milliarden Euro, die jedes Jahr in Form direkter und in- denzen begegnen kann. Sie stoppeln eine ganze Reihe direkter Investitionen für den Flugverkehr aufgewendet von Maßnahmen zusammen, die ohnehin schon laufen, werden, obwohl der Flugverkehr dem Klima am meisten die halbherzig sind, die nicht mit konkreten Zielen und schadet. schon gar nicht mit konkreten Maßnahmen unterfüttert sind. Der BUND hat in seiner kurzen Bewertung ge- Würden wir diese Subventionen streichen, könnten schrieben: Mehr Lücken als Lösungen. – Ich finde, das wir locker 10 Milliarden Euro einsetzen, um den öffent- ist noch ziemlich milde ausgedrückt. lichen Nahverkehr auszubauen und systematisch zu den Es geht um sehr grundsätzliche Fragen in diesem Be- Leuten zu bringen. Wir könnten mit diesem Geld Fahr- reich. Die FAZ hat vor ungefähr 14 Tagen einen sehr le- radwege bauen und Stadtumbauprogramme finanzieren. senswerten Artikel veröffentlicht, in dem der Autor be- Es wäre aus meiner Sicht notwendig, dass so etwas im schreibt, dass das Kernproblem ist, dass die Politik Klimaschutzpaket enthalten ist. Ich hoffe sehr, dass es davon ausgeht, dass sich der Verkehrssektor einfach wei- Ihnen in dieser Debatte gelingt, die Betonköpfe im ver- terentwickelt. Die herrschenden Verkehrsprognosen ge- kehrspolitischen Bereich zu bewegen und da eine Trend- hen davon aus, dass nach wie vor der Personenverkehr wende herbeizuführen; denn sonst wird dieser Sektor mit 80 Prozent auf der Straße das Entscheidende sein vieles von dem zunichtemachen, was an anderer Stelle wird, dass der Güterverkehr bleibt, wie er ist, dass der schon auf einen guten Weg gebracht worden ist. Verkehr insgesamt zunehmen wird. Man hat keinerlei Vielen Dank. politische Vorstellungen davon, wie man von diesem Wachstum und dieser Zerstörungskraft, die mit dem Ver- (Beifall bei der LINKEN) kehr einhergeht, herunterkommt. Das betrifft nicht nur das Klima, sondern auch die Lebensqualität der Men- schen. Darauf möchte ich jetzt gar nicht eingehen. Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- Der Autor dieses Artikels hat eine interessante Über- ordneten Dr. Matthias Miersch, SPD-Fraktion. legung angestellt, die ich hier wiedergeben möchte, weil ich glaube, dass er den Kern gut erfasst hat. Er sagt, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die gemeinsame Verkehrspolitik auf EU-Ebene in den der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6937

(A) Dr. Matthias Miersch (SPD): (Zuruf von der SPD: Das kann doch wohl (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht wahr sein!) „Die Bundesregierung macht … Ernst beim Klima- Er verglich das Ganze mit den Klagen gegen den Atom- schutz.“ ausstieg. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Fuchs des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ hat schon in der letzten Legislaturperiode Verantwortung DIE GRÜNEN]) getragen. Maßgebliche Begründung für die Klagen der – Ja, Anton Hofreiter, ich wusste genau, dass du jetzt Konzerne gegen den Atomausstieg ist die Laufzeitver- lachst. – Dieses Zitat kommt nicht von Matthias längerung und dann die Rolle rückwärts. So jemand, Miersch, sondern von Tobias Münchmeyer von Green- denke ich, sollte sich mit Kritik zurückhalten. peace; er hat es gestern gesagt. Ich finde, es zeigt, dass (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem eure Kritik überzogen ist, liebe Kolleginnen und Kolle- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen. – Danke für den Applaus der Grünen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Jetzt wieder zu Ihnen. Ich finde, dass das, was wir Ich finde, in einer solchen Debatte – im Übrigen vie- gestern vorgelegt haben, genau das ist, was in den letzten len Dank, dass wir sie hier führen dürfen – ist es viel- Jahren vermisst worden ist, nämlich dass wir den leicht auch angezeigt, zu sagen, dass das berühmte Bild Konzernen auch Investitionssicherheit bieten und ihnen von dem halbvollen oder halbleeren Glas immer wieder sagen: Ihr müsst bis 2020 das, was ohnehin geplant war, auf die Politik angewendet werden kann. Wer in den einsparen, aber ihr könnt zusätzlich 22 Millionen Ton- letzten Jahren die Klimaschutzpolitik in diesem Haus nen CO2 einsparen. Das ist ein klarer Ordnungsrahmen, erlebt hat und nun auf den gestern vorgelegten Plan bli- an den sich die Konzerne zu halten haben und der auch cken kann, der weiß, dass ein Mitglied dieses Kabinetts Investitionssicherheit gibt, liebe Kolleginnen und Kolle- etwas geschafft hat, was wirklich eine Herkulesaufgabe gen. gewesen ist. An dieser Stelle möchte ich Barbara Hendricks danken. Sie hat einen wichtigen Etappensieg (Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Bärbel errungen. Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Bärbel Höhn, du sagst, das stimme doch nicht, und du der CDU/CSU) fragst, wie denn das Konzept aussehe. Dazu sage ich: Man kann das hier wahrscheinlich immer wieder herun- (B) Ich finde auch – jetzt müssen die Koalitionäre ein terbeten, aber ihr wollt es nicht hören oder wahrnehmen. (D) bisschen weghören –, es hat sich als gut erwiesen, dass Wir haben alle immer gesagt: Wie das gesetzlich veran- wir jetzt Umwelt und Wirtschaft zusammendenken kert wird, wird sich im nächsten halben Jahr entschei- können. den. Ich schlage euch vor, dass ihr regelmäßig in den Sitzungswochen weitere Aktuelle Stunden beantragt. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ Dann können wir euch das immer wieder erklären. Ich CSU]) bin mir sicher: Im Sommer werden wir euch ein Konzept Insofern gilt mein Dank auch . Aber mein vorlegen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dank gilt auch der Bundeskanzlerin; denn wenn man im (Heiterkeit bei der SPD – Beifall bei der SPD Vorfeld verfolgt hat, wie versucht worden ist, das Ganze und der CDU/CSU – Zurufe vom BÜND- wieder ins neue Jahr zu verschieben, dann weiß man, NIS 90/DIE GRÜNEN) dass es ohne sie auch nicht möglich gewesen wäre. Inso- fern ist es ein guter Tag. Aber weil bei den Aktuellen Stunden immer ganz we- nig Zeit ist, will ich nur noch eine Sache sagen, was auch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die Medien und die Politik betrifft. Jetzt höre ich aber mit dem Dank auf; denn es liegt (Zuruf der Abg. Katrin Göring-Eckardt noch vieles vor uns. Um einzuordnen, ob in der Politik [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) etwas gut oder schlecht ist, muss man immer die Re- aktionen als Parameter wählen. Ich habe die Reaktionen Das, was wir gestern vorgelegt bekommen haben, ist am gestrigen Tag sehr aufmerksam verfolgt. Da gab es das, was die Regierung geliefert hat. Daran anschließen die massive Kritik der Grünen. Es gab aber auch – das muss sich doch ein breiter Diskussionsprozess nicht nur will ich an der Stelle sagen – Kritik von einigen Kolle- innerhalb der Regierung, sondern auch innerhalb des ginnen und Kollegen der CDU/CSU zu hören. Parlaments; denn wir werden hier viele Gesetze diskutie- ren, beraten und auch entscheiden müssen. Ich habe mich – das will ich hier sagen, weil jetzt nicht alle hier im Plenum sind, die sich gestern dazu ge- (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- äußert haben – sehr über eine Aussage des stellvertreten- NEN]: Hoffentlich!) den Fraktionsvorsitzenden Michael Fuchs geärgert. Das Deswegen, glaube ich, ist das eine Vorlage, die in keiner widerlegt im Übrigen die These der Grünen, dass die Weise Anlass bietet, sich zurückzulehnen, Pläne zur Reduktion von zusätzlich 22 Millionen Ton- nen CO2 die Energiekonzerne wieder veranlassen wür- (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE den, dagegen zu klagen. GRÜNEN]: Also doch nicht so gut!) 6938 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Matthias Miersch (A) sondern sie ist Motivation für alle, die sich dem Klima- [SPD]: Wir bieten Ihnen einmal eine Rechen- (C) schutz verschrieben haben. Insofern glaube ich, dass es stunde an!) ganz entscheidend ist, auch in diesen Plan ein Monito- ring einzubauen, damit man immer wieder transparent Sie können jetzt entspannt den Kopf schütteln und pro- verfolgen kann, wie weit wir mit den jeweiligen Zielen testieren, aber an der Realität, dass 40 minus 25 15 er- gekommen sind. gibt, kommen auch Sie nicht vorbei. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Denn wir wissen alle: Ein warmer Sommer, ein kalter Sie begründen Ihre Politik – 40 minus 25 ergibt an- Winter kann alles wieder verändern. Insofern ist das ein geblich nicht 15 – damit, dass der Klimaschutz sowieso, wichtiger Schritt für mehr Klimaschutz und, wie ich von selbst, passiert. Er passiert einfach, weil eine ver- finde, ein wichtiger Schritt für mehr Glaubwürdigkeit gangene Regierung etwas gemacht hat, weil vielleicht auch auf internationalem Parkett. Barbara Hendricks, Schwarz-Gelb etwas gemacht hat oder weil, wie gerade vielen Dank für dein Engagement! angesprochen, die Winter wärmer werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Betrachten wir ganz nüchtern und entspannt, was in der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/ den letzten fünf Jahren geschehen ist. Wir haben eine DIE GRÜNEN) CO2-Reduktion von plus/minus null, das heißt, wir sind längst vom Reduktionspfad abgewichen, und zwar seit ziemlich genau fünf Jahren. Das ist die Realität. Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten (Zuruf von der CDU/CSU: Und warum?) Dr. Anton Hofreiter, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Schauen wir uns an, was bei diesem „Sowieso-Pfad“ das Wort. in den einzelnen Sektoren Realität ist. Was ist im Be- ( [SPD]: Wald- und Wiesen- reich der erneuerbaren Energien in Sachen Wärmeerzeu- philosophie hören wir jetzt! – Thomas Bareiß gung passiert? Der Anteil der erneuerbaren Energien an [CDU/CSU]: Jetzt steigt die Temperatur um der Wärmeerzeugung ist von 11 auf 9 Prozent gesunken. 2 Grad! – Gegenruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man Schauen wir uns den Bereich Elektromobilität an. Es nichts tut, wird es noch wärmer!) sollte inzwischen 1 Million Elektrofahrzeuge geben, im Moment sind nur 24 000 Elektrofahrzeuge auf der Straße. Das ist lächerlich. Das heißt: Man dümpelt vor Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sich hin. (B) NEN): (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Schauen wir uns den Bereich KWK an. Hiermit sollte Kollegen! Sehr geehrte Frau Umweltministerin! Wenn ein Beitrag zur Stromersparnis von 25 Prozent erreicht ich der SPD und inzwischen auch Teilen der CDU zu- werden. Was ist im Bereich KWK passiert? Die Kraft- höre, Wärme-Kopplung stagniert; also auch hier passiert nichts. (Dagmar Ziegler [SPD]: Das machen Sie ja leider nicht!) Schauen wir uns den Bereich Kohle an. Hier geht es doch nicht darum, die Kohlekraftwerke einfach abzu- muss ich immer an den Soziologen Ulrich Beck denken, schalten, ohne andere Kraftwerke ans Netz zu nehmen. der einmal etwas sehr Kluges zu solch einer Art von Bei der momentanen Auseinandersetzung geht es um et- Sprache gesagt hat: verbale Aufgeschlossenheit bei weit- was ganz anderes. gehender Verhaltensstarre. Die Frage ist doch: Sollen Kohlekraftwerke aus der (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Zeit Konrad Adenauers – nichts gegen Konrad Adenauer; DIE GRÜNEN) da ist spannende Wertarbeit gemacht worden –, die noch Deswegen schauen wir uns doch einmal ganz ent- wunderbar funktionieren, vom Netz genommen werden, spannt an, wie die Realität ausschaut. Die Frau Ministe- oder sollen drei, vier oder fünf Jahre alte hocheffiziente rin hat davon gesprochen, dass es in der Vergangenheit Gaskraftwerke vom Netz genommen werden? Versäumnisse gab. Nun, die Versäumnisse will man al- Ich frage Sie: Welche Investitionen wollen Sie ent- lerdings nicht zur Kenntnis nehmen; denn wir wollen, werten? Die Investitionen in alte Kohlekraftwerke der wie auch sie zugestanden hat, 40 Prozent CO2 bis zum 60er-Jahre oder die Investitionen in die hocheffizienten Jahr 2020 einsparen. Wir sind wahrscheinlich bis zum Gaskraftwerke des 21. Jahrhunderts? Sie haben sich da- Ende dieses Jahres bei minus 25 Prozent. Das heißt, es für entschieden, die hocheffizienten Gaskraftwerke zu fehlen noch 15 Prozent und nicht 5 bis 8 Prozent, von entwerten. denen immer die Rede ist. Nein, wir betrachten einfach nüchtern die Realität. Es fehlen 15 Prozent. Diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – 15 Prozent müssen wir schaffen, um das Klimaschutz- Dirk Becker [SPD]: Das ist doch Blödsinn! ziel zu erreichen. Meine Güte!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- All das zeigt: Ihr „Sowieso-Pfad“, den Sie unterstellt ha- SES 90/DIE GRÜNEN – Dagmar Ziegler ben, existiert nicht. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6939

Dr. Anton Hofreiter (A) Hier war davon die Rede, dass die erneuerbaren Ener- reichen der Klimaschutzziele sind ehrgeizig. Ich finde, (C) gien die tragende Säule werden sollen. Ja, verbal ist das sowohl in den Worten der Ministerin als auch in den richtig-verbale Aufgeschlossenheit. Aber schauen wir Worten der Koalitionsredner ist deutlich geworden, dass uns doch ganz nüchtern die Realität an, seitdem Sie, seit- wir anerkennen, dass diese Ziele ehrgeizig sind, aber dem die Große Koalition regiert, an der jetzt die SPD be- auch, dass wir sie für erreichbar halten und dass wir alles teiligt ist; vorher war es Schwarz-Gelb. Was ist seitdem tun werden, um sie zu erreichen. auf dem Markt der erneuerbaren Energien passiert? Was (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ist im Bereich Photovoltaik passiert? So wie es aussieht, haben wir auf dem Photovoltaikmarkt einen Einbruch Lieber Anton Hofreiter, wenn Sie betonen, dass die von minus 40 Prozent zu verzeichnen, und das soll die Ministerin Versäumnisse aus der Vergangenheit zugege- tragende Säule sein? ben hat, was ich absolut unterstreichen kann, dann geste- hen Sie doch endlich auch ein, dass es gerade in Ihrer (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar Regierungszeit, dass es unter Umweltminister Jürgen nicht! Das ist doch totaler Unsinn!) Trittin, Sie machen gerade den Markt für Photovoltaik in (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland kaputt, und dann reden Sie gleichzeitig da- NEN]: In meiner Regierungszeit?) von, dass er die tragende Säule sein wird. Das hat nichts mit verbaler Aufgeschlossenheit zu tun! Vielmehr dass es in der Regierungszeit von Bündnis 90/Die Grü- streuen Sie den Menschen Sand in die Augen. Sie verar- nen maßgebliche Versäumnisse gab. schen die Leute. Sie tun das Gegenteil von dem, was Sie hier behaupten. Das ist eine Frechheit. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist zehn Jahre her!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Ihre Wortwahl ist Das wäre einmal eine Anerkennung von Verantwortung. eine Frechheit!) Sie haben Ziele aufgestellt, und Sie haben sie noch in derselben Legislaturperiode ad acta gelegt. Das ist ver- Wenn Sie wirklich eine CO2-Reduktion um 40 Prozent antwortungslos. Diese Regierung handelt sehr viel ver- erreichen wollen, dann reicht es nicht, 38 Prüfaufträge antwortlicher. zu erteilen. Lassen Sie die schönen Worte weg, und han- deln Sie real! (Beifall bei der CDU/CSU) Ich muss ehrlich zugeben: Ich hätte nie gedacht, dass Ja, wir werden die Energiewende gestalten – wir haben ich einer Bundesregierung, an der die SPD beteiligt ist, große Ziele –, aber wir wollen diese Energiewende gerade (B) einmal sagen muss: Nehmen Sie sich beim Klimaschutz nicht gegen die Verbraucherinnen und Verbraucher gestal- (D) doch bitte Eon zum Vorbild. Wer hätte sich das jemals ten und auch nicht gegen die Wirtschaft. Unser Ziel ist und träumen lassen? bleibt es, die Energiewende sozialverträglich und wirt- schaftlich vernünftig zu gestalten. Wir wollen die Men- (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – schen von der Energiewende überzeugen. Wir wollen sie Dr. Matthias Miersch [SPD]: Da wäre ich vor- mitnehmen, und wir wollen ihnen dabei nichts aufzwingen. sichtig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Eon hat erkannt, dass Kohle, dass Erdgas, dass die fossi- neten der SPD) len Energien die Vergangenheit und die erneuerbaren Energien die Zukunft sind. Für eine Regierung, an der Mit dem Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz die SPD beteiligt ist, ist das wirklich armselig. legt die Bundesregierung nun ihre Effizienzstrategie für diese Legislaturperiode fest. Wichtige Elemente dabei Lassen Sie die schönen Worte. Orientieren Sie sich sind erstens die Einführung der steuerlichen Förderung nicht nur an Ulrich Beck. Handeln Sie endlich vernünf- der energetischen Gebäudesanierung, zweitens die Auf- tig! Handeln Sie endlich im Sinne des Klimaschutzes! stockung der Mittel für das CO2-Gebäudesanierungspro- Erkennen Sie endlich an, dass wir noch weitere 15 Pro- gramm und drittens die wettbewerblichen Ausschreibun- zent einsparen müssen. Tun Sie nicht so, als wäre alles gen von Energiesparprojekten mit einem angestrebten auf einem guten Weg. Tun Sie nicht so, als wäre das hier Fördervolumen im dreistelligen Millionenbereich. Das eine Heiapopeia-Veranstaltung. zeigt einmal mehr, dass die Maßnahmen der Bundesre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gierung nicht nur gut für das Klima sind, dass sie nicht nur gut für die Energieeffizienz sind, sondern dass sie auch gut sind für den Mittelstand, für das Handwerk, für Vizepräsident Peter Hintze: Arbeitsplätze in unserem Land. So müssen wir die Ener- Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- giewende verstehen und gestalten. ordneten Kai Wegner, CDU/CSU-Fraktion. Unser Land benötigt eine umfassende und ganzheitli- (Beifall bei der CDU/CSU) che Gebäudestrategie. Hierbei darf nicht nur die energe- tische Optimierung im Vordergrund stehen, sondern es Kai Wegner (CDU/CSU): muss auch um die optimale Nutzung des Gebäudes und Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und des urbanen Raums gehen. Der Energieeffizienz im Ge- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Anton bäudebereich kommt dabei eine Schlüsselstellung zu; Hofreiter, ja, die Vorgaben der Bundesregierung zum Er- denn durch fachgerechtes Sanieren und moderne Gebäu- 6940 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Kai Wegner (A) detechnik lassen sich bis zu 80 Prozent des Energiebe- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) darfs einsparen. Wenn ich mir die drastischen Steigerun- Eben nicht! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ gen der Mietzusatzkosten, der sogenannten zweiten DIE GRÜNEN]: Gerade nicht!) Miete, anschaue, dann erkenne ich hier auch viel Entlas- tungspotenzial für Mieterinnen und Mieter. Das sollten Ich lade insbesondere Sie, Herr Hofreiter, und die wir nutzen. Es gilt, dieses Potenzial zu erschließen – für Kolleginnen und Kollegen der Grünen ein: Kommen Sie die Menschen in unserem Land. aus Ihrer Schmollecke, machen Sie mit! Die Energie- wende ist wichtig. Ich lade Sie ein: Wirken Sie mit, und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gestalten Sie diese Ziele gemeinsam mit dieser Bundes- regierung. Ziel muss es sein, die Wirtschaftlichkeit von Energie- effizienzmaßnahmen und Energiesparmaßnahmen zu er- Herzlichen Dank. höhen und bestehende Hürden abzubauen. Um diese Maßnahmen noch stärker zu fördern, sind Information (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – und Beratung notwendig. Die Programme müssen noch Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE treffgenauer miteinander verknüpft werden. Auch das GRÜNEN]: War das ein Koalitionsangebot? haben wir uns als Regierung vorgenommen. Sie haben uns nichts angeboten, weil Sie vom Klima nur reden, aber nicht handeln!) Gerade für uns als Union ist es wichtig, dass niemand gezwungen wird. Für uns gelten das Freiwilligkeits- und Vizepräsident Peter Hintze: das Wirtschaftlichkeitsprinzip. Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dirk Becker, SPD-Fraktion, das Wort. NEN]: Dann sind Sie ja weit gekommen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir werden die Menschen überzeugen. Wir nehmen sie der CDU/CSU) mit. Wir legen unsere Ziele, liebe Frau Kollegin, nicht ad acta; wir wollen sie erreichen. Dirk Becker (SPD): Die Investitionsentscheidungen von heute werden die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zukunft unseres Klimas von morgen bestimmen. Ener- Frau Ministerin, ich hatte schon bei dem letzten großen gieeffizienz im Gebäudebereich und energetische Quar- Energie- und Klimaprogramm, den Meseberger Be- tiers- und Stadtentwicklung müssen daher eine herausra- schlüssen – einem Meilenstein –, die Gelegenheit, in die- gende Rolle spielen. sem Parlament dabei zu sein, und ich darf feststellen, dass Sie den Abgeordneten heute erstmalig seit dieser (B) (D) (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau!) Zeit wieder ein komplettes Paket vorlegen, an dem es Wir setzen Anreize, und wir ergreifen Maßnahmen, um uns möglich ist, abzulesen, welche Zielgrößen wir in den dies zu fördern. Besonders hervorheben möchte ich in die- einzelnen Sektoren haben und welche Maßnahmen bis sem Zusammenhang die energetische Stadtsanierung. Ge- wann beschlossen und ergriffen werden sollen, was dann fördert werden innovative Maßnahmen, um wirtschaftlich auch unsere Aufgabe ist. Dieses Instrument gibt jetzt und städtebaulich akzeptable Lösungen für die Stadtquar- aber auch der Opposition die Möglichkeit an die Hand, tiere zu finden. Auch und gerade dicht besiedelte Bereiche in der Sache zu verfolgen, ob wir Wort halten. werden davon profitieren. Das sage ich ganz besonders als (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Abgeordneter aus Berlin. Wie wichtig dieser Koalition die GRÜNEN]: Was?) Energieeffizienzförderung ist, sieht man auch daran, dass die energetische Sanierung auch Teil der Städtebauförde- – Das sollten Sie zunächst einmal auch mit Anerkennung rung ist. Deshalb soll die energetische Sanierung auch im zur Kenntnis nehmen. nächsten Jahr einen Schwerpunkt im Rahmen des Pro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gramms „Nationale Projekte des Städtebaus“ bilden. der CDU/CSU) Auch hieran wird deutlich, wie wichtig das Thema für uns ist. Wenn man Parlamentarier ist, dann weiß man, dass das Gesetzgebungsverfahren in den einzelnen Bereichen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) jetzt noch ansteht. Meine Damen und Herren, wir werden die energeti- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE sche Gebäudesanierung und die Energiewende weiter GRÜNEN]: Ich finde es tröstlich, dass Sie uns vorantreiben. Der Fokus muss dabei auf Maßnahmen lie- gestatten, das zu verfolgen!) gen, die am meisten nutzen, aber auch am wenigsten kosten. Der uns leitende Gedanke bleibt dabei, die ener- – Nachdem ich Sie hier heute gehört habe, muss ich sa- getische Gebäudesanierung nach dem Prinzip Wirt- gen: Sie sind weder des Lesens noch des Rechnens fä- schaftlichkeit und Freiwilligkeit umzusetzen. hig. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CSU]) der CDU/CSU) Mit dem Programm der Bundesregierung werden wir das Vielleicht können wir einmal Weiterbildungskurse in anspruchsvolle Ziel erreichen. Mathematik und im Lesen anbieten. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6941

Dirk Becker (A) (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE NIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie das (C) GRÜNEN]: Ich finde es, ehrlich gesagt, sehr dann gestern noch von der Kabinettssitzung großzügig, dass Sie uns erlauben, Ihre Instru- ausgeschlossen?) mente zu überprüfen! Das zeigt das Demokra- tieverständnis der Großen Koalition!) Herr Hofreiter, eine Bemerkung noch: Sie stellen sich hierhin und beschreiben ein Phänomen, das Fakt ist. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich nach den Wort- beiträgen von Eva Bulling-Schröter und den Grünen ein- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mal hierhinstellen und feststellen muss, dass die Linken NEN]: Ja, nämlich 38 Prüfaufträge!) in Bezug auf eine realistische klimapolitische Betrach- – Hören Sie doch erst einmal zu. tung an den Grünen vorbeigezogen sind. Das finde ich bemerkenswert. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Fakt!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Was der Mann hat, will ich jetzt nicht sagen. Die Grünen sind in der Schmollecke, was man den Linken oftmals vorwirft. Frau Bulling-Schröter hat ganz (Heiterkeit bei der SPD) klar anerkannt, dass wir ambitionierte Dinge planen Jeder hat eine andere Kinderstube genossen. Wenn mir – Matthias Miersch hat gesagt, dass auch Umweltver- einer etwas sagt, dann höre ich erst zu und meckere bände dies anerkennen –, und erklärt, dass man uns jetzt dann. Sie meckern erst und hören dann zu – oder auch kritisch begleiten will. Ja, das müssen Sie. Auch wir nie. Ich weiß auch nicht, wie das funktioniert. werden kritisch darauf achten; denn wir wollen doch die 40 Prozent erreichen. Das hat Andi Jung auch gesagt. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fakt ist eines: Ineffiziente Kraftwerke drängen mo- der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜND- derne Kraftwerke gegenwärtig aus dem Markt. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch logisch! (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das sind doch Ihre Braunkohlefreunde aus NEN]: Ja!) Brandenburg!) Das hat keiner hier bestritten. Wir alle können energie- Aber Sie machen immer nur Klamauk. Ihre eigene Basis politische Vorgänge nachvollziehen. Aber, lieber Kol- fasst sich doch wegen dieses ständigen Klamauks an den lege Hofreiter, ich weiß nicht, was Sie zwischen den Sit- Kopf! zungswochen und zwischen den Aktuellen Stunden, die (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sie wöchentlich beantragen, sonst so treiben – um Ener- (D) giepolitik kümmern Sie sich da anscheinend nicht. Denn Ich versuche jetzt nicht zum dritten Mal, zu erklären, sonst wüssten Sie, dass wir ein Grünbuch haben und an wie es mit den CO2-Minderungszielen aussieht, weil Sie einem Weißbuch arbeiten, um den Strommarkt zu refor- das nicht verstehen wollen. Sie wissen das besser, aber mieren, um genau da Abhilfe zu schaffen. das passt Ihnen nicht in Ihre grüne Marketingstrategie. Das ist das Problem. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habt ihr vertagt! Vorbei!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht mit diesem Klimaprogramm – das ist Was haben Sie denn für eine schlechte Laune?) eine Frage des Strommarktes; doch das begreifen Sie schlichtweg nicht. Ich möchte noch einige Punkte erwähnen. Frau Ministerin, ich will eine ausgesprochen große Zustim- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mung zu einigen Punkten der Konkretisierungen im Pro- der CDU/CSU) gramm – gerade auch für den Kraftwerksbereich – deut- Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist mir wichtig, lich machen. Ja, es ist sehr gut, dass Sie beim Thema noch einmal auf die Frage einzugehen: Wie bewertet KWK auch die Anregungen aus dem Parlament aufge- man klimapolitische Instrumente? Auch ich habe mich nommen haben. Es steht jetzt die eindeutige Zusage im geärgert über Darstellungen der letzten Tage, die wieder Programm, dass die KWKG-Novelle vorgezogen und zu zu dem Ergebnis kamen, dass Klimapolitik, dass Ener- Beginn der Debatte über das Grünbuch beraten wird. gieeffizienzmaßnahmen per se eine Bedrohung der Wirt- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaft seien, per se Arbeitsplätze infrage stellten. Wer NEN]: Warum haben Sie das dann gestern im nicht endlich begreift, dass Energieeffizienz, dass Kli- Kabinett abgesetzt?) maschutz neue Wirtschaftsbereiche, Exportmöglichkei- ten gerade für deutsche Unternehmen erschließt, der ist Bis zum Sommer des nächsten Jahres wird es eine in einer Wirtschaftspolitik des letzten Jahrhunderts ste- KWKG-Novelle geben, woraus neue Potenziale der hen geblieben. CO2-Verminderung erschlossen werden. Das alles steht darin. Wenn man das lesen wollte und lesen würde, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wüsste man das. der CDU/CSU und der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Kaster, Sie mögen es mir verzeihen: Ich weiß, man der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜND- darf nicht eine gesamte Fraktion für Einzelmeinungen 6942 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dirk Becker (A) ständig in Mithaftung nehmen. Darum sage ich es zum was eine Regierungserklärung machen! Wa- (C) Schluss, damit nicht schon vorher ein Aufschrei kommt. rum machen Sie das nicht?) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE – Herr Krischer, wir haben es beim letzten Mal auspro- GRÜNEN]: Dann hätten Sie gar keine Klat- biert: Ich hatte mir in meiner letzten Rede ein bisschen scher mehr!) was Hübsches für Sie aufgehoben. Sie können sicher sein: Das soll heute nicht anders sein. Vizepräsident Peter Hintze: (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Das mit dem Schluss war gut. und der SPD – Oliver Krischer [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe noch nicht Dirk Becker (SPD): geredet! So ist es aber auch nett!) Wenn Herr Ramsauer sagt, dass dieses Paket die An- Ich will auf einen Bereich noch zu sprechen kommen, leitung zur Bevormundung und Umerziehung sei und es der heute angesprochen worden ist, nämlich den Ver- besser sei, Kohlekraftwerke nach China zu liefern, an- kehrsbereich, und einige wichtige Maßnahmen hervor- statt diese Dinge zu machen, heben. Zum einen geht die Bundesregierung sehr forciert (Zuruf von der LINKEN) voran, ist es, glaube ich, notwendig, ihm noch einmal zu erklä- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren, warum wir nationale Maßnahmen ergreifen müssen. NEN]: Sie geht sehr forciert voran?) Ich sage ganz ehrlich: So etwas wie das, was er vorge- schlagen hat, kann man nicht machen. was den Bereich der Elektromobilität angeht. Ich will außerordentlich würdigen, dass wir im Bereich der Son- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der derabschreibungen für E-Mobile einen großen Schritt LINKEN) nach vorne machen. Es wird uns damit gelingen, die Zweitverwertung und dann eben auch die private An- Das geht auch an der Sache vorbei. Er schädigt doch un- wendung von Elektromobilität in die Breite zu tragen. sere eigene Regierung, die Regierung, die wir tragen. Das ist wichtig. Von daher – ich hätte ihm das gerne selbst gesagt; aber er ist leider nicht da –: Da müssen wir wirklich zu einer an- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und deren Sprachregelung finden. der SPD) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ein zweiter wichtiger Baustein ist – wir sind stets (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten technologieoffen –, dass wir uns heute schon darüber (D) der CDU/CSU) Gedanken machen, das Steuerprivileg für Fahrzeuge mit alternativen Antrieben fortzuschreiben. Da wird es im nächsten Jahr große Bewegung geben – auch das halte Vizepräsident Peter Hintze: ich für richtig –, insbesondere unter dem Gesichtspunkt Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- der Verminderung der Treibhausgasemissionen. ordneten Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion. Meine Damen und Herren, ich will die Gelegenheit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nutzen – Sie wissen, das liegt mir sehr am Herzen –, hier noch einmal zu skizzieren, dass wir gestern einen beson- Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): ders guten Tag für die Energieeffizienz hatten, und ei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer nige Meilensteine hervorheben. Ich finde an drei Punk- Aktuellen Stunde und bei knapper Redezeit muss man ten ganz bemerkenswert, was gestern auf den Weg die Dinge ein bisschen zuspitzen. Deswegen will ich gebracht worden ist: meine Rede einmal wie folgt einleiten: Der 3. Dezember Zum einen ist da die energetische Gebäudesanierung. 2014 war ein exquisit guter Tag für den Klimaschutz und Da liegen enorme Potenziale. Damit ist die Energie- ein besonders guter Tag für die Energieeffizienz. Dafür, wende tatsächlich handhabbar für jeden Bundesbürger. meine Damen und Herren, danken wir dieser Bundesre- Damit können wir die Menschen mobilisieren. Die ener- gierung besonders intensiv. getische Gebäudesanierung ist nichts anderes als ein (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) enormes Investitionsprogramm für den Mittelstand und das Handwerk, und das liegt uns als Union stets am Her- Es geht mir wie vielen anderen Kolleginnen und Kol- zen. legen hier: Ich bin mir ein bisschen unsicher darüber, ob wir tatsächlich im Wochenabstand ein bis zwei Aktuelle (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dirk Stunden zu diesem Thema brauchen, weil diese Aktuel- Becker [SPD]: Auch der SPD!) len Stunden von den Grünen leider sehr häufig dazu missbraucht werden, der Bevölkerung Kohlestaub in die – Daran habe ich im Moment keinen großen Zweifel; wir Augen zu streuen, und das der Sache nicht dient. haben ja eine vernünftige Kanzlerin, die da die Leitlinien vorgibt. – Meine Damen und Herren, es ist doch einfach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und klug, in regionale Wertschöpfung zu investieren, anstatt der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE das Geld für den Einkauf von Kohle, Gas und Öl auszu- GRÜNEN]: Normalerweise würde man zu so geben. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6943

Carsten Müller (Braunschweig) (A) Ich will allerdings auch sagen – deswegen nutze ich die Offensichtlich ist die ganze energie- und klimapolitische (C) Gelegenheit, mich an die Grünen zu wenden, gerne –: Es Debatte an einer Ihrer Vorkämpferinnen komplett vor- liegt jetzt tatsächlich an Ihnen. Sie sind an einer Vielzahl beigegangen. von Landesregierungen beteiligt. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich verstehe nicht, was Sie sagen wol- NEN]: Die CDU genauso!) len!) Sorgen Sie dafür, dass die Länder bei der energetischen Meine Damen und Herren von den Grünen, ich darf Gebäudesanierung nicht weiterhin auf der Bremse ste- Ihnen ermunternd zurufen: Das gibt es alles schon! Im hen. Bisher haben Sie nur geredet, aber nicht gehandelt. Übrigen laufen sie nicht nur um das Haus herum, son- So geht es nicht weiter. dern gehen sogar hinein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Dirk Becker [SPD]) der SPD) Meine Damen und Herren, ich finde es beispielhaft, Sagen Sie das bitte Frau Künast. Wenn man weniger re- dass wir im Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz det und mehr handelt, dann wird es gut. Deswegen rufe zum Ausschreibungsmodell kommen. Das ist besonders ich insbesondere der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in wichtig, um die Bevölkerung und auch unsere Unterneh- großer Fröhlichkeit zu: Willkommen in der Wirklich- men mitzunehmen. Wir gehen damit erstmals in diesem keit! Willkommen beim Thema Klimaschutz! Machen Maßstab einen besonders zukunftsweisenden Weg. Wir Sie einfach mit! Dann wird es prima. bedienen uns marktwirtschaftlicher Instrumente. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber mit viel zu wenig Geld!) Vizepräsidentin : Vielen Dank. – Nächster Redner ist Arno Klare, SPD- Ich will durchaus zugeben, dass es da noch Luft nach Fraktion. oben gibt. Ich halte es für falsch, diese Energieeffizienz- ausschreibung nur auf den Strombereich zu konzen- (Beifall bei der SPD) trieren. Ich bin der Auffassung, dass wir auch den Wär- mebereich einbeziehen müssen. Insofern bitte ich die Arno Klare (SPD): Bundesregierung, kurzfristig entsprechende Vorschläge Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nachzureichen. Meine Damen und Herren! Frau Leidig, ich fürchte, mit (B) dem, was ich gleich sagen werde, werde ich in Ihren Au- (D) (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ gen ein Betonkopf bleiben, CSU]) (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist schade!) Wir haben vorhin über die Beteiligung von Industrie und Handwerk gesprochen. Die 500 Energieeffizienz- vielleicht aber auch nicht. Wir stellen fest – das hat der netzwerke sind meines Erachtens der richtige Weg, um von mir sehr geschätzte Kollege Matthias Miersch fest- die Bewegung in die Breite zu tragen und damit eine gestellt –, dass wir im Verkehrsbereich noch ein bisschen große Mobilisierungswirkung zu erzielen. Deswegen gilt zu wenig geliefert haben. Was Beiträge zum Erreichen diesen voll und ganz meine Unterstützung. der Klimaschutzziele angeht, ist der Verkehr noch etwas schwach. Gemessen am Bezugsjahr 1990 ist der CO₂- Meine Damen und Herren, ich habe vorhin Herrn Ausstoß im Verkehrssektor nur um rund 6 Prozent zu- Krischer angekündigt – Kollege Hofreiter kann das viel- rückgegangen. Allerdings lag der Peak beim CO₂-Aus- leicht auch übernehmen; es geht um seine Vorgängerin –, stoß im Jahr 1999. Im Vergleich zum Jahr 1999 liegen noch etwas zum Stand der Klimaschutzpolitik der Frak- wir jetzt aber deutlich darunter und sehr nahe an diesem tion Bündnis 90/Die Grünen zu sagen. Ich fand es Ziel. Gleichwohl kann der Verkehr mehr leisten und äußerst bemerkenswert, dass eine Ihrer führenden Kli- muss mehr leisten. maaktivistinnen, Frau Renate Künast, sich gestern mit folgenden Worten gegenüber dem Morgenmagazin geäu- (Beifall bei der SPD) ßert hat. Sie sagte: Ich nenne ein paar Vorschläge dazu aus dem vorlie- Eine ganzheitliche Beratung, sozusagen einmal genden Aktionsplan, für den ich mich ausdrücklich be- ums Häusle laufen und überlegen, wo kann man mit danke. Ich bedanke mich ausdrücklich für das Prinzip, dem geringsten Mitteleinsatz den höchsten Effekt das dahintersteht, nämlich nicht den Versuch zu unter- haben, der ja den Geldbeutel auch entlastet, ja, also, nehmen, den ganz großen Wurf zu unternehmen und mit dieses einmal ums Haus Laufen und alle Einzelteile einem einzigen Schritt auch den letzten Schritt zu wollen betrachten, so was gibt es als geschlossene, ganz- – das ist meistens ein Schritt, der ins Leere führt –, son- heitliche Beratung bisher nicht. dern in ganz kleinen pragmatischen Schritten zu be- schreiben, wie man ein großes Ziel erreicht. Ich kann Ich dachte, das wäre eine Fernsehkonserve von Mitte der mich wirklich bei Barbara Hendricks dafür bedanken, 90er-Jahre. dass dieses Grundprinzip durchgehalten wird. (Beifall der Abg. [SPD]) (Beifall bei der SPD) 6944 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Arno Klare (A) Erster Punkt: Elektromobilität. Es ist schon angespro- (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist aber (C) chen worden: Hinsichtlich des internationalen Bench- zaghaft ausgedrückt!) marks sind wir noch nicht an dem Punkt angekommen, Da wir bald Weihnachten haben, man sich etwas wün- bei dem wir eigentlich sein wollen; das ist vollkommen schen kann und ich weiß, dass uns dieser Wunsch über klar. In Deutschland sind – Stand Juli 2014 – rund den Bundesrat erreichen wird, lassen Sie mich Folgen- 24 000 E-Kfz zugelassen und circa 4 800 öffentliche La- des sagen: Ich möchte, Kolleginnen und Kollegen, dass desäulen installiert. In den Niederlanden fahren etwa wir pro Schienenpersonennahverkehr entscheiden, wenn 38 000 E-Kfz auf der Straße, und es sind circa 3 700 La- uns dieser Wunsch im Deutschen Bundestag erreicht, desäulen installiert. Jeder weiß, dass die Niederlande un- was alsbald der Fall sein wird. Das ist dann auch pro Kli- gefähr so groß sind wie Nordrhein-Westfalen. maschutz. Was haben die Niederländer gemacht? Sie haben (Beifall bei der SPD) finanzielle Anreize gesetzt. Genau das tun wir auch. In- sofern wird dieser Hochlauf, wenn man das prozentual Ein dritter Punkt, den ich für sehr wichtig erachte: das betrachtet, bei uns genauso sein. Auf die Wirkung auf Energiesteuergesetz. Es geht darum, dass im Moment die Sekundärmärkte ist vorhin schon sehr treffend hinge- Erdgas als Treibstoff begrenzt bis 2018 steuerlich be- wiesen worden. Man muss bei den Betriebsflotten anfan- günstigt wird. Wir hatten vor kurzem ein Gespräch mit gen. Nach zwei Jahren gibt es dann auf den Gebraucht- Vertretern dieser Branche. Sie haben uns erzählt, dass wagenmärkten entsprechende Angebote, die genutzt jetzt Entscheidungen für den Kauf großer Fahrzeugflot- werden können. Insofern ist es wichtig, genau dort anzu- ten bei öffentlichen Versorgern und auch bei Speditions- setzen. Das wird mit diesem Plan erreicht. Insofern ist er unternehmen anstehen. Wir sollten daher möglichst richtig. schnell – ich spreche hier vom ersten Quartal 2015 – die Steuerbegünstigung für Erdgas über das Jahr 2018 hi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten naus verlängern. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Mir schwebt hier vor – da greife ich auf, was der Kol- CDU/CSU) lege Rimkus immer so treffend sagt –, um die E-Mobilität herum eine positive Geschichte zu erzählen. Wir müssen Abschließend kann man feststellen: Wir haben zwei sie in ein Marketingnarrativ einbetten, das die Menschen sehr gute Pläne vorliegen. Wir haben darin ehrgeizige verstehen. Es hilft allerdings wenig, wenn vonseiten der Ziele formuliert, aber eben auch realistische, weil diese Grünen, wie ich der Presse vom heutigen Tage entnom- Schritt für Schritt umgesetzt werden. Wir werden diese men habe, im Zusammenhang mit der E-Mobilität von Ziele unterstützen; daran habe ich überhaupt keinen (B) Regionalliga gesprochen wird. Das ist wieder despek- Zweifel. Wir müssen hier weiterdenken; aber das ge- (D) tierlich-kritisch. schieht ja bereits. Danke. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist echt schlimm, dass es zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zeiten der Großen Koalition die Opposition der CDU/CSU) wagt, die Regierung zu kritisieren!) Sie sollten stattdessen den Versuch unternehmen, zu be- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: greifen, dass es kein grünes, kein rotes und kein schwar- Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege zes Klima gibt, sondern nur ein gemeinsames. Thomas Bareiß, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) der CDU/CSU) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Lassen Sie uns positiv gestimmt dazu beitragen, dass Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Zum E-Mobilität funktioniert und bundesligatauglich wird. Schluss dieser Klimadebatte möchte ich die Gelegenheit Zweiter Punkt: Verbesserung des ÖPNV. Gut ist der nutzen, auf die beiden Redner der Grünen, Bärbel Höhn MIV, der nicht entsteht – mit MIV ist hier der motori- und Anton Hofreiter, einzugehen. Ich habe bei Ihnen sierte Individualverkehr gemeint; das hört sich zufällig manchmal das Gefühl, dass Sie in einem anderen Land genauso an wie das, was dabei hinten herauskommt –, leben oder die Realität bewusst nicht anerkennen. und MIV entsteht nicht, wenn Menschen multimodal und (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ elektromobil unterwegs sind. Das heißt, wenn sie S-Bah- CSU]) nen, Straßenbahnen oder E-Busse nutzen. Das ist wohl- gemerkt auch eine der tragenden Säulen des Klima- Die Debatte hat gezeigt, dass wir bei allen energie- aktionsplans. und klimapolitischen Zielen in der Welt spitze sind. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hier allerdings muss ich feststellen, dass meine Vor- NEN]: Was? Nein!) stellung von notwendiger sowie hinreichender Bundes- finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs mit der Wir setzen uns so hohe und ambitionierte Ziele wie kein aktuell beschlossenen Haushaltsrealität noch nicht voll- anderes Land dieser Welt und sind auch in der Umset- ständig in Übereinstimmung ist. zung, bei der Erreichung der Ziele spitze. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6945

Thomas Bareiß (A) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir wollen aber – das hat die Debatte der letzten Sit- (C) NEN]: Wir steigern die Emissionen in zungswoche gezeigt – neben dem Ausstieg aus der Kern- Deutschland, Herr Bareiß!) energie in den nächsten Jahren nicht auch noch einen Kohleausstieg voranbringen. Ich bitte dich, lieber Oliver Krischer, anzuerkennen, wel- che Erfolge wir in den letzten Jahren gemeinsam erzielt (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE haben. GRÜNEN]: Ach so?) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich bin dankbar, dass Sigmar Gabriel das vor zwei Wo- NEN]: Dass die Emissionen steigen, oder wie? – chen klargestellt hat. Denn damit würden wir nicht nur Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE die Versorgungssicherheit in unserem Land sträflichst GRÜNEN]: Im Schwafeln seid ihr vielleicht vernachlässigen, spitze, aber nicht im Handeln!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich kann die Erfolge gerne einmal benennen. Im Zu- NEN]: Ihr müsst 90 Millionen reduzieren! Das sammenhang mit den CO2-Emissionen haben wir uns hat Ihr Kollege gerade gesagt! 90 Millionen vorgenommen, den Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu Tonnen in fünf Jahren!) verringern. Vor zwei Jahren haben wir eine Reduktion sondern auch die Wirtschaftlichkeit unserer Energiever- von 26 Prozent melden können und haben damit die Vor- sorgung, die wir sowohl im privaten Bereich brauchen gaben des Kioto-Protokolls übererfüllt. – die Menschen verlassen sich auf günstige Energie- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- preise –, als auch in der Wirtschaft, um die Wettbewerbs- NEN]: Jetzt sind wir bei 25 Prozent! Es ist we- fähigkeit gerade im energieintensiven Bereich zu ge- niger geworden! Es ist nichts passiert!) währleisten. Auch in dieser Hinsicht haben wir eine große Verantwortung. Das haben nur fünf Länder der Europäischen Union ge- schafft. Wir werden die gerade vorgestellten Pläne um- (Beifall bei der CDU/CSU) setzen, um das 40-Prozent-Ziel bis 2020 zu erreichen. Was mir in dieser Debatte zu kurz kam, ist die euro- Wir sind auch im Bereich der erneuerbaren Energien päische bzw. globale Herausforderung, die daraus ent- in der Welt spitze. Wir haben uns ein Ziel gesetzt, das steht. Wenn wir dem Vorschlag der Grünen und anderer sich kein anderes Land dieser Welt vorgenommen hat. in diesem Hause, in den nächsten Jahren einseitig aus Wir wollen bis 2025 einen Anteil von 40 bis 45 Prozent der Kohleverstromung auszusteigen, folgen würden, erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung. In die- dann würde das den CO2-Ausstoß in Europa kein biss- sem Jahr haben wir schon 27 Prozent erreicht. Das ist für chen reduzieren; denn gleichzeitig würde der CO -Aus- (B) 2 (D) eine Industrienation wie Deutschland spitze. Ich bitte die stoß in anderen Ländern steigen. Ich glaube, das kann Grünen, auch das einmal anzuerkennen. nicht unser Ziel sein. Wir müssen gemeinsam in Europa die richtigen Weichen stellen. Ein alleiniger Ausstieg Der letzte Punkt, in dem wir spitze sind, ist die Ener- Deutschlands innerhalb Europas würde gar nichts brin- gieeffizienz, die zum Thema Klimaschutz gehört. Wir gen. wollen bis 2050 unseren Energieeinsatz halbieren und haben es – als einzige Industrienation auch in dem Be- (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer reich – schon heute geschafft, unser Wirtschaftswachs- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gleiche tum von über 30 Prozent in den letzten 20 Jahren vom Argument wie bei der Atomkraft!) Energiebedarf zu entkoppeln. Wir haben in den letzten 20 Jahren 10 Prozent weniger Energie verbraucht. Im Gegenteil: Wir würden dadurch ineffiziente Kraft- werke fördern. Deshalb brauchen wir Europa mehr denn (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- je. NEN]: Es ist nichts vorangegangen!) Wir brauchen nicht nur Europa, sondern auch die Das sind die Erfolge, die wir gemeinsam erzielt ha- Welt für den Klimaschutz. Wir brauchen vor allem die ben. Das muss man zum Schluss der Debatte noch ein- Hauptemittenten China und die USA. Es gab vor weni- mal feststellen, meine Damen und Herren. gen Tagen von den beiden Ländern eine gemeinsame Er- klärung, und es gab auch Reaktionen aus der Fraktion (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Grünen, die diese Erklärung begrüßt haben, was neten der SPD) mich etwas verwundert hat. Denn China hat in dieser Er- Die Bundesregierung hat gestern einen Plan vorge- klärung klargemacht, dass es in den nächsten 15 Jahren legt, der klar und deutlich aufzeigt, welche weiteren not- den CO2-Ausstoß weiter steigern wird. Das, was wir in wendigen Schritte wir in den nächsten Jahren unterneh- den nächsten sechs Jahren unter größter Anstrengung men werden. Wir müssen uns mehr anstrengen denn je. einzusparen versuchen, schafft China in 25 Tagen an Denn uns entgehen – auch das gehört zur Wahrheit in der Ausstoß. Diese Größenordnung müssen wir uns vor Au- Debatte – durch den früheren Ausstieg aus der Kernener- gen halten, damit wir erkennen, dass wir ein ganz kleines gie 40 Millionen Tonnen an CO2-Einsparung. Deshalb Licht sind. Deshalb trifft das, was Frau Höhn zu Beginn müssen wir in den anderen Sektoren umso mehr tun, und der Debatte gesagt hat, nicht zu. Es hängt nicht an das wird uns entsprechende Anstrengungen abverlangen. Deutschland allein, sondern an Europa und den anderen Aber wir sind gemeinsam gewillt, diese Anstrengungen Staaten der Welt. Es müssen alle mitmachen. Ein Allein- zu unternehmen. gang im Bereich des Klimaschutzes wäre auch für 6946 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Thomas Bareiß (A) Deutschland schädlich. Deshalb brauchen wir weltweit Die Hälfte der Menschen in Deutschland hat in den (C) ein gemeinsames Abkommen. Daran sollten wir gemein- letzten zehn Jahren Erfahrungen mit Pflege in der Fami- sam arbeiten, meine sehr verehrten Damen und Herren. lie gemacht. Die Mehrheit bewertet diese Erfahrungen positiv. Die Bereitschaft, zu pflegen, ist nach wie vor (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hoch. Wir haben heute eine gute Nachricht für diese Menschen. Wir wollen Familien, die jemanden pflegen, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: sich um jemanden sorgen, sich um jemanden kümmern, Vielen Dank. – Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. besser unterstützen. Das kann ein junger Mann sein, des- sen Vater nach einem Schlaganfall aus dem Krankenhaus Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: entlassen wird und nun pflegebedürftig ist. Das kann – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- eine verheiratete Frau sein, deren Kinder mittlerweile regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- groß sind und die nun spürt, dass sie die letzten Wochen zes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, mit ihrer Mutter im Hospiz verbringen will. Das können Pflege und Beruf Eltern sein, deren Kind mit Downsyndrom in einer Ein- richtung lebt und am Wochenende nach Hause kommt, Drucksachen 18/3124, 18/3157 oder es können zwei Geschwister sein, die sich gemein- sam um ihre pflegebedürftige Mutter kümmern. Ich Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- selbst habe in meiner Familie fast alle diese Fälle erlebt. schusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju- Meine berufstätige und alleinerziehende Cousine, deren gend (13. Ausschuss) behinderter Sohn in einer Einrichtung lebt, hätte sich Drucksache 18/3449 über eine bessere Unterstützung in ihrer Situation ge- freut. Meine Tante, die sich um meine 96-jährige Oma – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) kümmert, gleichzeitig berufstätig ist und einen schul- gemäß § 96 der Geschäftsordnung pflichtigen Sohn hat – die anderen beiden studieren –, Drucksache 18/3450 wird sich sehr freuen, dass wir sie mit diesem Gesetz in ihrem Lebensalltag ganz konkret unterstützen. Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Diejenigen, die in der Familie zusammenhalten, die für andere da sind, sich sorgen, kümmern und pflegen, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für haben unsere Anerkennung, unseren Respekt und unse- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen ren Dank verdient. Widerspruch. – Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die jetzt noch Besprechungen haben, bitte ich, diese außerhalb Sie haben aber auch unsere Unterstützung verdient. Wir des Saales fortzusetzen. unterstützen sie mit der Pflegereform, die Gesundheits- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bun- minister Gröhe auf den Weg gebracht hat. Wir unterstüt- desregierung Frau Bundesministerin Manuela Schwesig. zen sie mit dem Ausbau von Kurzzeit- oder Tagespflege und durch die Ausweitung der Leistungen der Pflegever- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sicherung. der CDU/CSU) Die nächste gute Nachricht kommt heute: das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Be- Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie, ruf. Es widmet sich erstmalig diesem Thema mit konkre- Senioren, Frauen und Jugend: ten staatlichen – auch materiellen – Leistungen, unter Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen anderem mit der zehntägigen Auszeit bei einem akuten und Herren Abgeordnete! Heute ist ein guter Tag für Fa- Pflegefall, wenn beispielsweise der Vater einen Schlag- milien; denn nach nicht einmal einem Jahr bringen wir anfall erlitten hat. Natürlich geht es nicht darum, den Va- das dritte Gesetz für Familien auf den Weg, das die Ver- ter in zehn Tagen gesund zu pflegen. Aber man hat in einbarkeit von Beruf und Familie in unserem Land stär- Zukunft zehn Tage Zeit, sich zu kümmern und beim ken soll. Diese Gesetze helfen berufstätigen jungen Müt- Pflegestützpunkt nachzufragen, was man tun kann, die tern und Vätern, aber auch den Berufstätigen, die sich Mobile Wohnberatung anzurufen und zu erfahren, ob die um pflegebedürftige Angehörige kümmern. Wir haben Wohnung umgebaut werden muss, oder beim Stadthaus zuerst das Elterngeld Plus beschlossen und dann heute zu erfahren, wie das alles finanziert wird. Mir ist wich- den weiteren Kitaausbau. Nun kommen wir zur dritten tig, dass es diese Auszeit, in der man sich kümmern und wichtigen Maßnahme, die zum Ziel hat, die Vereinbar- organisieren kann, wirklich für alle gibt. Die zehntägige keit von Beruf und Familie mit pflegebedürftigen Ange- Auszeit und den Lohnersatz – das ist das Herzstück des hörigen zu verbessern. Diese drei Gesetze gehören zu- Gesetzes – gibt es für alle Arbeitnehmerinnen und Ar- sammen. Sie sind ein wichtiger Schritt in eine neue Zeit beitnehmer. Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, für Familien, in eine neue Balance der Herausforderun- dass die Inanspruchnahme dieser Auszeit nicht davon gen, die Frauen und Männer spüren, die sowohl im Job abhängt, ob man Geld hat oder nicht, sondern dass sich präsent sein und ihn gut machen müssen als auch kleine diese Zeit jeder und jede leisten kann. Kinder haben, für die sie da sein wollen, und vielleicht sogar noch pflegebedürftige Angehörige. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6947

Bundesministerin Manuela Schwesig (A) Es ist zudem möglich, in eine längere Auszeit zu ge- kommt, dass wir uns ganz konkret um Familien küm- (C) hen – zum Beispiel 6 Monate in eine volle Auszeit oder mern, die füreinander Verantwortung übernehmen, um 24 Monate in Teilzeit – und in dieser Zeit einen Lohn- Familien, die sich um pflegebedürftige Angehörige vorschuss im Sinne eines staatlichen zinslosen Darle- kümmern, die einfach das tun, was für unsere Gesell- hens zu bekommen. Wir wissen, dass in der Vergangen- schaft wichtig ist, die solidarisch sind. heit kaum jemand dieses Angebot angenommen hat, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) weil diesen Lohnvorschuss der Arbeitgeber zahlen musste und die wenigsten Arbeitgeber dazu bereit wa- ren, weil damit ein Risiko verbunden ist. Dieses Risiko Vizepräsidentin Ulla Schmidt: verlagern wir auf den Staat, und das ist richtig. Es ist Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nächste Rednerin ist richtig, dass der Staat und damit die Gesellschaft mit Pia Zimmermann, Fraktion Die Linke. diesem Gesetz erstmals Verantwortung übernimmt und (Beifall bei der LINKEN) sagt: Wir lassen diese Familien nicht allein. Wir stellen ganz konkret Geld zur Verfügung für die zehntägige Auszeit und für das zinslose Darlehen. Pia Zimmermann (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Kollegen! Wir behandeln heute den Entwurf eines Ge- Auch die Möglichkeit eines 6-monatigen Ausstiegs setzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege oder einer 24-monatigen Teilzeit mit zinslosem Darlehen und Beruf. haben alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch Schauen wir zunächst einmal, welche Verbesserungen wenn hier teilweise anderes behauptet wird. Bei Arbeit- die Bundesregierung damit anstreben will: Zum einen ist nehmerinnen und Arbeitnehmern, die in kleinen Betrie- das der gesetzliche Anspruch auf zehn Tage Pflegezeit ben mit bis zu 15 bzw. 25 Mitarbeitern tätig sind, ist aber zur Organisation der Pflege, wenn plötzlich ein Pflege- Voraussetzung, dass sie das mit ihrem Arbeitgeber ab- fall in der Familie eintritt. Zum anderen ist es der gesetz- sprechen. Das hat einen guten Grund. Freunde von mir liche Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit für ei- haben einen Glasereibetrieb mit zwei Mitarbeitern. Die nen Zeitraum bis 24 Monate. Das ist dann aber auch sagen: Du glaubst doch nicht, dass ich nicht alles dafür schon alles. tue, dass wir miteinander klarkommen. Wichtig ist die staatliche Unterstützung. – Kleinbetriebe wie dieser ma- Durch meine jahrelange Erfahrung in der Pflege weiß chen ihren Mitarbeitern eher als große Betriebe Ange- ich, welch verantwortungsvolle und wichtige Aufgabe bote, weil sie sie und ihre Familien kennen. Sie haben Pflege ist. Ich weiß, wie schwierig es ist, neben einer gu- ten, qualifizierten Pflege noch erwerbstätig zu sein und (B) aber größere Schwierigkeiten, für 24 Monate einen Er- (D) satz zu finden. Deshalb habe ich schon bei Einbringung eine Familie zu organisieren, ganz zu schweigen von den des Gesetzentwurfs ins Kabinett angeboten, dass wir persönlichen Interessen. Glauben Sie im Ernst, dass sich über die Regelung mit bis zu 15 Mitarbeitern noch ein- eine plötzlich entstandene Pflegenotwendigkeit in zehn mal sprechen. Tagen organisieren lässt? Wissen Sie, wie schwer es ist, Termine bei einem Pflegestützpunkt oder den Kranken- Das haben wir getan. Ich habe diese Woche mit Ver- bzw. Pflegekassen zu bekommen? Haben Sie schon ein- tretern des Zentralverbands des Deutschen Handwerks mal ein Pflegebett beantragt und bestellt? Wissen Sie, gesprochen. Die Wirtschaft würde es gerne sehen, dass wie lange das dauert? Sie haben auch keine Antwort da- wir eine Ausnahmeregelung für Betriebe mit bis zu 50 rauf, was nach den 24 Monaten Familienpflegezeit pas- Mitarbeitern schaffen. Ich bin den Koalitionsfraktionen sieren soll, und diese Ahnungslosigkeit bringen Sie in sehr dankbar, dass sie meinem Vorschlag gefolgt sind: In Ihrem Gesetzentwurf zum Ausdruck. Kleinbetrieben mit bis zu 25 Mitarbeitern sollen sich die Betroffenen einigen – das zinslose Darlehen wird auch (Beifall bei der LINKEN) dort gezahlt –, und in allen Betrieben mit mehr Mitarbei- Schauen wir uns den Gesetzentwurf und seine Aus- tern haben Beschäftigte einen Rechtsanspruch. Ich finde, wirkungen einmal etwas genauer an: Der erste Fehler ist das ist eine gute Balance zwischen den Interessen der die falsche Richtung. Sie schieben die Pflegeverantwor- kleinen Betriebe und den Interessen der Familien. tung noch stärker in die Familien – weil es kostengünsti- ger ist –, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Weil die Menschen das wollen!) Das Ausspielen von Gegensätzen ist Politik von ges- tern. Wirtschaftspolitik und Familienpolitik gehören zu- anstatt die gesellschaftliche Verantwortung für Pflege sammen. Deshalb, sehr geehrte Damen und Herren, ist auszubauen. Natürlich wollen die meisten Menschen zu dies ein gutes Gesetz, das den Familien in unserem Land Hause gepflegt werden, helfen wird. 86 Prozent der Handwerksbetriebe machen (Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: bereits jetzt Angebote. Auch das berücksichtigen wir. Aha! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das Mit dem Beirat, der das Gesetz begleitet, haben wir stimmt!) die Möglichkeit, die Wirkung des neuen Gesetzes zu be- und das gilt es auch jedem zu ermöglichen. obachten und das Gesetz in den nächsten Jahren weiter- zuentwickeln. Wichtig ist, dass dieses Gesetz jetzt (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das tun wir!) 6948 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Pia Zimmermann (A) Das heißt aber nicht, dass jeder von Angehörigen ge- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) pflegt werden möchte. Wichtig ist doch die Entschei- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Astrid dungsfreiheit, wie Pflege sich gestalten soll. Timmermann-Fechter, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber solange Sie die Leistungen der Pflegeversicherung nicht deutlich verbessern und eine Stärkung der profes- Astrid Timmermann-Fechter (CDU/CSU): sionellen Pflege vornehmen, so lange wird es auch keine Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und individuelle Entscheidung über die Pflegebeziehungen Kollegen! Jeder von uns möchte im Fall einer Pflegesi- – und zwar unabhängig vom Geldbeutel – geben. tuation so lange wie möglich in vertrauter Umgebung bleiben, umsorgt werden von Menschen, denen man na- Das, was Sie als sensationelle Verbesserung in der fa- hesteht, denen man vertraut. Doch für viele ist die Orga- miliären Pflege verkaufen, sieht folgendermaßen aus: nisation der Pflege eines Angehörigen oftmals auch eine Sie zwingen die Menschen, sich privat zu verschulden, sehr schwierige Aufgabe, vor allem wenn man dabei ei- wenn sie die Pflege übernehmen, nicht nur über Arbeits- ner Vollzeitbeschäftigung nachgeht und noch die eigene zeitschuldkonten beim Arbeitgeber, sondern auch durch Familie, die eigenen Kinder versorgen muss. Viele Be- die Darlehensregelung für den Ausgleich der Nettolohn- rufstätige wünschen sich deshalb für die Pflege eines einbuße. Und Sie setzen noch einen drauf: Das Darlehen Angehörigen mehr Zeit, und diese wollen wir mit der muss vor Sozialleistungen in Anspruch genommen wer- Verabschiedung des neuen Gesetzes zur besseren Verein- den. In der Anhörung fiel einer Sachverständigen dazu barkeit von Familie, Pflege und Beruf künftig leichter nur noch Polemik ein – ich zitiere –: Wer zu wenig ver- ermöglichen. dient, darf aufstocken. Wer pflegt, darf das nicht und muss ein Darlehen aufnehmen. – Meine Damen und Das Gesetz ist ein weiterer Baustein, mit dem wir die Herren, so geht das nicht. Pflege insgesamt stärken – ein Schwerpunktthema der Großen Koalition in dieser Legislaturperiode. Und dafür (Beifall bei der LINKEN) haben wir nach dem ersten Pflegestärkungsgesetz nun die beiden bereits bestehenden Gesetze zur Pflegezeit Bis gestern haben Sie noch über 5 Millionen Beschäf- und zur Familienpflegezeit weiterentwickelt. So haben tigte aus Betrieben mit bis zu 15 Mitarbeiterinnen und Berufstätige neben dem bisherigen Rechtsanspruch auf Mitarbeitern aus dieser gesetzlichen Regelung ausge- Pflegezeit mit Beginn des kommenden Jahres nun auch schlossen. Und wie so oft: Kurz vor Toresschluss verän- einen Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit. Und Frau dern Sie Ihren eigenen Gesetzentwurf, reden von Betrie- Zimmermann, an dieser Stelle möchte ich erwähnen: ben mit bis zu 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Wie man das als „schlechter als schlecht“ bezeichnen (D) (B) erhöhen die Zahl der ausgeschlossenen Beschäftigten kann, erschließt sich mir an dieser Stelle nun wirklich mal eben auf über 7 Millionen und erklären diese damit nicht. zu Beschäftigten zweiter Klasse. Sie wollen die Arbeit- geber nicht nur nicht in die Pflicht nehmen; Sie machen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hier sogar noch einen Kniefall, und die sozialdemokrati- sche Fraktion macht das mit. Das ist wirklich unfassbar. Beschäftigte können ihre Arbeitszeit über einen Zeit- raum von bis zu 24 Monaten auf mindestens 15 Stunden (Beifall bei der LINKEN – Bernhard Kaster in der Woche reduzieren. Damit schaffen wir einen flexi- [CDU/CSU]: Sie kennen die Lebenswirklich- blen Rahmen, den Familien mit Pflegebedarf ganz nach ih- keit nicht!) ren eigenen Bedürfnissen in Anspruch nehmen können – ohne künftig in Sorge zu sein, aufgrund der Pflegetätig- Zudem weichen Sie den Kündigungsschutz der Kolle- keit womöglich die Berufstätigkeit ganz und gar aufge- ginnen und Kollegen, die pflegen wollen, auf – und das ben zu müssen. Genau das wollen wir nämlich mit die- aus reiner Missbrauchsvermutung. So sieht also Ihre sem neuen Gesetz verhindern. Gleichzeitig bleiben den Wertschätzung aus. Betrieben somit wertvolle Fachkräfte erhalten. Mit diesem Gesetzentwurf haben Sie gar nichts ge- Die Arbeitszeitreduzierung bedeutet oftmals aber konnt, außer dass Sie aus einem schlechten Gesetz ein auch finanzielle Einbußen. Auch hier wollen wir die Fa- noch schlechteres gemacht haben. milien nicht alleine lassen. Bereits jetzt kann für die Fa- (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei milienpflegezeit für die Hälfte des Verdienstausfalles ein der CDU/CSU) Darlehen in Anspruch genommen werden. Ab dem kom- menden Jahr kann dieses auch für die bis zu sechsmona- Meine Damen und Herren, packen Sie die Probleme tige Pflegezeit genutzt werden. Auch das bedeutet für wirklich an, zum Beispiel mit einer sechswöchigen Pfle- die Familien mehr individuelle Wahlmöglichkeiten. gezeit zur Organisation der Pflege! Nehmen Sie die soli- darische Pflege-Bürgerversicherung in Angriff, und er- Mit der gesetzlichen Neuregelung werden zudem die möglichen Sie den Familien eine individuelle Pflege- Antragsmodalitäten deutlich vereinfacht. Der Beschäf- und Assistenzorganisation zu Hause mit professioneller tigte beantragt das Darlehen direkt beim Bundesamt für Unterstützung! Und hören Sie endlich auf, die Pflegepo- Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Der Ar- litik als Stiefkind Ihrer Regierungsarbeit zu betrachten! beitgeber muss keine Wertguthaben mehr für seine An- gestellten führen. Auch müssen keine Ausfallversiche- (Beifall bei der LINKEN) rungen mehr abgeschlossen werden. Hier trägt jetzt der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6949

Astrid Timmermann-Fechter (A) Bund das Ausfallrisiko allein. Es werden also eine Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung und danke (C) Menge bürokratischer Hürden abgebaut. Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) neten der SPD) Meine Damen und Herren, oft genug tritt ein Pflege- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: fall unvermittelt, von einem Moment zum anderen, ein – Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- eine Situation, die alles im Leben verändert und in der nen spricht jetzt Elisabeth Scharfenberg. rasch gehandelt werden muss. Um solch einen plötzli- chen, akuten Pflegefall in der Familie organisieren zu Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- können, sieht das Pflegezeitgesetz für den Arbeitnehmer NEN): eine Freistellung von bis zu zehn Tagen vor. Bislang Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- mussten in solch einem Fall häufig Gehaltseinbußen hin- legen! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben für diese genommen werden. Das neue Gesetz sieht hier nun ein Debatte 38 Minuten angesetzt. Damit zeigen Sie uns Pflegeunterstützungsgeld vor. Dieses können Arbeitneh- überdeutlich Ihre Wertschätzung der Pflege. Agenda ab- mer künftig als Lohnersatzleistung in Anspruch nehmen, arbeiten, Hauptsache, es geht schnell. die zulasten der Pflegekasse des zu pflegenden Angehö- rigen abgerechnet wird. (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) In diesem Zusammenhang haben wir uns auch in den Wir haben in diesem Haus im November viereinhalb vergangenen Tagen noch darauf verständigt, die Regeln Stunden über assistierten Suizid gesprochen. Das war für die Inanspruchnahme der Freistellung dahin gehend richtig, und es war wichtig. Aber wir müssen doch auch zu konkretisieren, dass die zehntägige Auszeit in akuten über das Leben diskutieren, gerade über das menschen- Pflegesituationen nicht zusammenhängend genommen würdige Leben im hohen Alter bei Pflege- oder Hilfebe- werden muss und dass auch mehrere Angehörige sich darf. Diese vorgelagerten Debatten, genau diese The- diese zehn Tage für einen Pflegebedürftigen in weiteren men, die den Menschen Angst machen, werden hier in Akutsituationen untereinander aufteilen können. aller Kürze abgehandelt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Mit dieser Möglichkeit des Splittings haben Familien Da versagt diese Regierung, da versagen Sie, Frau auch hier jetzt mehr Möglichkeiten, einen Pflegefall Ministerin, und da versagt auch diese Große Koalition. kurzfristig flexibler zu organisieren. Darüber hinaus ha- (B) ben wir den Begriff der nahen Angehörigen erweitert, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (D) der nun unter anderem auch Stiefeltern oder Schwägerin DIE GRÜNEN und der LINKEN) und Schwager sowie lebenspartnerschaftsähnliche Ge- Das wurde dann auch mit den Änderungsanträgen zu Ih- meinschaften umfasst. Wir stärken damit die Familie als rem Gesetzentwurf noch einmal ganz deutlich. Verantwortungsgemeinschaft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Schwesig, liebe SPD, wie konnten Sie nur so neten der SPD) einknicken? Sie wollten ein Gesetz für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf machen, für Menschen, die drin- In diesem Zusammenhang bin ich auch sehr froh, dass gend darauf angewiesen sind, und dann erklärt die Ver- wir im Zuge des parlamentarischen Gesetzgebungsver- treterin der Union gestern im Familienausschuss, es fahrens auch die Betreuung eines pflegebedürftigen Kin- seien Verbesserungen für die Wirtschaft erreicht worden. des erleichtert haben. So können Eltern nämlich die Ich wusste gar nicht, dass wir hier ein Wirtschaftsförde- neuen Rechtsansprüche nutzen – sowohl für die häusli- rungsgesetz vorgelegt bekommen. che als auch für die stationäre Betreuung eines pflegebe- dürftigen Kindes. Diese Flexibilisierung ist eine wirkli- (Widerspruch bei der CDU/CSU) che Hilfe für viele Menschen in besonders schwierigen Liebe Frau Schwesig, liebe SPD, Sie glauben doch Lebenssituationen. nicht im Ernst, dass Sie sich hier einen schlanken Fuß (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) machen können? Es wurde gestern im Gesundheitsaus- schuss bereits von der SPD gesagt, dass sich die Union Meine Damen und Herren, ich persönlich habe gro- für diese Verschlimmbesserung verantworten muss. ßen Respekt davor, was pflegende Angehörige leisten. Nein, es ist auch Ihre Verantwortung. Das Gesetz kommt Es sind diese Angehörigen, die mit ihrem persönlichen aus einem SPD-geführten Haus, es ist Ihr Gesetz. Leider Einsatz dafür sorgen, dass zahlreiche Pflegebedürftige ist Ihr Rechtsanspruch, auf den Sie so stolz sind, jetzt auch weiterhin so lange wie möglich in ihrem gewohn- das Papier nicht mehr wert, auf dem er gedruckt ist. ten Umfeld bleiben können. Dafür nehmen sie oftmals sehr viele Einschränkungen in Kauf. Deshalb freue ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mich heute umso mehr, dass wir mit dem neuen Gesetz Es gilt erst für Beschäftigte in Betrieben mit mehr als zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Be- 25 Mitarbeitern. Das bedeutet, für Mitarbeiterinnen und ruf neue Rahmenbedingungen setzen, damit diese Ange- Mitarbeiter in 90 Prozent der Betriebe gilt dies nicht. hörigen bei ihrer Pflegeaufgabe künftig noch stärker ent- lastet werden. (Zuruf von der LINKEN: Genau!) 6950 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Elisabeth Scharfenberg (A) In diesen kleinen Betrieben arbeiten überwiegend Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) Frauen; und was tun all diese Frauen, wenn sie zu die- Vielen Dank. – Vielleicht noch einmal zu einem sem Personenkreis gehören, den Sie vorhin endlos auf- Punkt, damit keine Missverständnisse entstehen und gezählt haben? plötzlich die Regierung glaubt, sie hätte mehr Kompe- tenzen, als sie hat. Die Festsetzung der Redezeiten ist al- Der Rechtsanspruch gilt auch für viele andere nicht. Er lein Aufgabe des Parlamentes und erfolgt immer einver- gilt nämlich für all die nicht, die sich um demenzkranke nehmlich zwischen allen Fraktionen einschließlich der Angehörige kümmern wollen. Demenzkranke, die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. sogenannte Pflegestufe 0 haben, haben nämlich keinen Rechtsanspruch. Sie tun in Ihrem Familienpflegegesetz (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie so, als wäre das alles schon in trockenen Tüchern. Das bei Abgeordneten der LINKEN) ist es aber nicht. Wir haben dort noch immer eine Aus- grenzung. Demenzkranke werden bei der Einstufung in Zu Beginn eines jeden neuen Tagesordnungspunktes die Pflegeversicherung eben immer noch nicht berück- wird gefragt, ob jemand Einwände gegen diese einver- sichtigt, und ohne Pflegestufe haben diese Familien auch nehmliche Festsetzung hat. keinen Anspruch auf Familienpflegezeit. Sie lassen da- Nächste Rednerin ist jetzt die Kollegin Dr. Carola mit einen ganz großen Teil von pflegenden Angehörigen Reimann, SPD-Fraktion. einfach in der Luft hängen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Dr. Carola Reimann (SPD): Leider wurde beim Pflegestärkungsgesetz, das genau Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wie das Familienpflegezeitgesetz am 1. Januar 2015 in Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir verab- Kraft treten soll, das zentrale Vorhaben nicht umgesetzt: schieden heute ein Gesetz für Menschen, die in der Mitte Es gibt keinen neuen Pflegebegriff. Das ist Pech für die ihres Lebens stehen, für Männer und Frauen, die viel Demenzkranken, und es ist Pech für die Angehörigen. Verantwortung übernehmen: im Job, für Kinder und für ihre pflegebedürftigen Angehörigen. Wir sorgen jetzt da- Frau Ministerin, eine gute Pflege- und Familienpolitik für, dass sie diesen Spagat besser bewältigen können. denkt die Dinge zusammen, statt Unterpunkte des Koali- Wir wollen ihnen helfen, ihre große Verantwortung ein tionsvertrages einfach nur abzuhaken. In einer guten bisschen leichter zu tragen. Wir verbessern heute das be- Pflege- und Familienpolitik arbeiten die Ressorts und die reits bestehende Familienpflegezeitgesetz, das ist richtig, Koalitionspartner zusammen, statt sich auf Kosten des und das ist dringend erforderlich; denn das Gesetz, noch jeweils anderen zu profilieren. Sie sind eine Große Ko- (B) von der alten Regierung verabschiedet, war sicher gut (D) alition, aber man gewinnt den Eindruck, die rechte Hand gemeint, aber nicht gut gemacht. Es kam bei den Men- weiß nicht, was die linke tut. Sie demonstrieren das auch schen nicht an. Mit 135 Beschäftigten im Jahr, die die hier. Wie ich gesehen habe, ist das Gesundheitsministe- Familienpflegezeit in Anspruch genommen haben, war rium nicht einmal vertreten. Da passt nichts zusammen. es nicht einmal der berühmte Tropfen auf den heißen Wir brauchen eine Pflege- und eine Familienpolitik, die Stein. die Ängste und Bedürfnisse der Menschen ernst nimmt, statt sie zusätzlich auch noch zu belasten, und genau das (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE tun Sie. GRÜNEN]: Wir sind gespannt, ob sich das än- dern wird!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Ich bin sicher, Kollegin Scharfenberg, das wird sich Was ist denn Ihr Darlehen für Pflegende? Es ist eine verbessern. Belastung. Es gleicht den Einkommensverlust durch Pflege nur teilweise aus und muss fristgerecht zurückge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zahlt werden. Das ist eine Belastung für die Pflegenden, der CDU/CSU – Elisabeth Scharfenberg die gar nicht genau wissen, was die Zukunft bringen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir werden wird, wie lange sie pflegen werden und wie sich ihr ge- sehen!) samtes Leben überhaupt weiter gestalten wird. Nur eines Dass es nur 135 Beschäftigte waren, hat uns in der Tat wissen Sie genau: dass auch nach der Pflege das Ein- nicht überrascht; denn das alte Gesetz hatte ja gravie- kommen weiterhin geringer sein wird. rende Mängel, und wir verbessern es an diesen Stellen. Würden Sie es mit Ihrem Engagement für die Pflege, (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE für die Pflegenden und auch für die Pflegebedürftigen GRÜNEN]: Da bin ich aber gespannt!) ernst meinen, dann würden Sie sich wirklich Zeit für Ihre Reformen nehmen. Sie würden die Menschen wirk- Wir führen erstens eine zehntägige bezahlte Familien- lich in den Mittelpunkt stellen, statt blinden Aktionismus pflegezeit ein. Dafür haben wir schon seit vielen Jahren zu demonstrieren. Sie würden Ihre Reformen als Teile gekämpft und gerungen. des großen Ganzen sehen und entsprechend aufeinander (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten abstimmen. Dies geschieht hier leider nicht. der CDU/CSU) Vielen Dank. Wir geben zweitens Beschäftigten einen Rechts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) anspruch. Auch das ist seit vielen Jahren hier in diesem Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6951

Dr. Carola Reimann (A) Parlament in der Diskussion. Wir erleichtern drittens die Verbesserungen für die Pflegebedürftigen und die Ange- (C) Inanspruchnahme mit einem zinslosen Darlehen. Wir hörigen – das klang vorhin schon einmal an – nicht machen das Gesetz besser, damit es wirkt. Grund genug sind, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen, dem sei gesagt: Die bessere Vereinbarkeit von Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Pflege und Beruf macht auch wirtschaftlich Sinn. Frau Kollegin Reimann, gestatten Sie eine Zwischen- (Beifall der Abg. [SPD]) frage der Kollegin Zimmermann, Fraktion Die Linke? Das muss kein Widerspruch sein, Kollegin Scharfenberg. Dr. Carola Reimann (SPD): Es ist wirtschaftlich sinnvoll, zum einen volkswirtschaft- Ja, sehr gern. lich, weil wir ohne die Familien die Pflege in unserem Land gar nicht bewältigen könnten. 3,5 Millionen Men- schen in Deutschland pflegen informell. Müssten wir Pia Zimmermann (DIE LINKE): diese Angehörigenpflege von jetzt auf sofort durch pro- Vielen Dank, Frau Reimann, dass Sie die Zwischen- fessionelle soziale Dienstleistungen ersetzen, würde un- frage zulassen. – Ich hatte eine schriftliche Anfrage ge- ser Pflegesystem zusammenbrechen. Deshalb ist es auch stellt, und zwar ging es darin speziell um die zehn Tage volkswirtschaftlich sinnvoll, Beschäftigten die Pflege ih- zum Organisieren der Pflege. Ich habe danach gefragt, rer Angehörigen zu ermöglichen. Auch betriebswirt- wie hoch der durchschnittliche Zeitbedarf ist, um eine schaftlich macht es Sinn; denn nur der Weg über eine Pflege zu organisieren. Die Antwort war, dass es keine gute Vereinbarkeit von Pflege und Beruf führt zu mehr statistischen Angaben gibt. Im letzten Satz heißt es, zehn Fachkräften. Tage dürften nach allgemeiner Erfahrung für die Organi- sation der Pflege ausreichen. Da frage ich mich: Was (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind das denn für allgemeine Erfahrungen? Ist es nicht der CDU/CSU) vielmehr so, dass die zehn Tage nach allgemeiner Erfah- rung nicht ausreichen? Kluge Unternehmenschefs wissen das auch schon. Kluge Unternehmenschefs wissen, dass sie die Zeitkon- (Beifall bei der LINKEN) flikte ihrer Beschäftigten ernst nehmen und gemeinsam mit ihnen Lösungen erarbeiten müssen. Ich finde, die- Dr. Carola Reimann (SPD): sem Beispiel müssen wir folgen, anstatt in alte Denk- Ich gehe davon aus, dass Sie die Frage an die Regie- muster zurückzufallen und reflexartig von Belastungen rung gerichtet hatten. Meine Haltung dazu ist: Dazu, ob für die Wirtschaft zu sprechen. Moderne Wirtschafts- diese zehn Tage ausreichen, kann es natürlich keine Sta- politik sucht nach Wegen, wie wir Fachkräfte halten, si- (B) tistik geben, weil wir alle wussten: Zehn Tage ohne chern und gewinnen können. Genau das machen wir (D) Lohnersatzanspruch werden erstens sehr viele Menschen jetzt mit diesem Gesetzentwurf. gar nicht in Anspruch nehmen können. Zweitens wird das, wenn sie das tun und einfach unbezahlten Urlaub (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nehmen, ja nirgendwo registriert. Wir haben uns jetzt da- Kolleginnen und Kollegen, schauen wir einmal auf mit durchgesetzt, dass man diese zehn Tage so flexibel die guten Erfahrungen beim Elterngeld und beim Kita- wie möglich nehmen kann. Was meine ich damit? Man ausbau. Mit beiden Leistungen haben wir anerkannt, kann dieses Kontingent tageweise nehmen und es auf dass die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf kein pri- verschiedene Angehörige aufteilen. Es ist ja für die Si- vates Luxusproblem ist, sondern eine gesamtgesell- tuation gedacht, dass eine akute Krise auftritt, eine Pfle- schaftliche Aufgabe und auch eine wirtschaftliche Not- gesituation erstmalig auftritt oder sich eine bestehende wendigkeit. Das Signal, das vom Elterngeld wie vom Pflegesituation noch einmal akut verschlechtert. Da ist Kitaausbau ausgeht, ist doch: Frauen, kommt nach ei- es uns wichtig – ich glaube, da haben wir jetzt eine le- nem Jahr Babypause wieder zurück in den Beruf, bleibt bensnahe Lösung gefunden –, dass das eben flexibel ge- nicht dauerhaft zu Hause! – Die Mütter haben das Signal nutzt werden kann, dass also, wenn meine Mutter krank gehört und ihr Verhalten geändert. Sie haben es verstan- wird, ich die ersten zwei Tage übernehme, aber zu mei- den. Immer mehr Frauen kehren früh in den Beruf zu- ner Schwester sagen kann: Sollte das noch einmal vor- rück; immer mehr, mit immer mehr Stunden. kommen, bist du diejenige, die diese Tage nehmen und kurz aus dem Job rausgehen muss, um das für unsere So wird es auch jetzt sein, wenn wir Pflege und Beruf Mutter zu organisieren. – Das ist etwas, was, glaube ich, immer besser in Einklang bringen können. Mit diesem in Zukunft ganz viele in Anspruch nehmen werden, weil Gesetzentwurf senden wir auch ein Signal: Gib deinen es wie das Kinderkrankengeld – das ist ja die Blaupause Job nicht auf wegen der Pflege der Angehörigen, behalte für dieses Instrument – gut exekutiert werden kann. Das deinen Job wenigstens in Teilzeit bei, das ist besser für Kinderkrankengeld wird sehr gut angenommen. Das deine Gesundheit und übrigens auch für deinen Geldbeu- funktioniert wunderbar. Ich glaube, dass sich das auch tel! – Ich bin sicher, dass auch dieses Signal wieder rich- übertragen lässt. tig verstanden wird. Dann wird das neue Gesetz den Unternehmen nicht weniger, sondern mehr Arbeitskraft (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) bescheren. Eine weibliche Fachkraft, die wegen der Kolleginnen und Kollegen, wir haben mit diesem Pflege ihrer Mutter auf 20 Stunden reduziert, bleibt und Gesetzentwurf die Pflegebedürftigen, die pflegenden steht dem Arbeitgeber natürlich noch zur Verfügung, Angehörigen und auch die Wirtschaft im Blick. Wem die und zwar deutlich mehr, als wenn sie unter dem Spagat 6952 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Carola Reimann (A) von Pflege und Vollzeit zusammenbricht und den Job steht allerdings nicht nur der als Existenzgrundlage er- (C) ganz hinschmeißt. worbene Lohn im Vordergrund, sondern auch der sinn- stiftende Wert der Arbeit an sich. Kolleginnen und Kollegen, wir machen heute einen weiteren wichtigen Schritt zur besseren Vereinbarkeit Der demografische Wandel wird kommen, und wir von Pflege und Beruf. Mit dem Gesetzentwurf helfen haben jetzt die Möglichkeit, ihn aktiv zu gestalten. Wir wir Frauen und Männern, die ganz viel Verantwortung wollen dabei nicht nur die Sozialsysteme zukunftsfest tragen. Wir helfen aber auch den Pflegebedürftigen, die gestalten, sondern auch das gesellschaftliche Miteinan- mehrheitlich den Wunsch haben, zu Hause gepflegt zu der, also die Art und Weise, wie wir in Zukunft miteinan- werden. Wir tun auch etwas für unsere Unternehmen, in- der leben und arbeiten wollen. dem wir einen wichtigen Beitrag zur Fachkräftesiche- rung leisten. Wir kommen also einen guten Schritt vo- (Beifall bei der CDU/CSU) ran. Das wird aber nicht der letzte Schritt sein. Das Dazu gehört auch, dass wir alle gemeinsam an einem verspreche ich hier; denn Zeitpolitik werden wir weiter Strang ziehen, Politik und Gesellschaft, Jung und Alt, auf der Tagesordnung haben und dann vielleicht mit Männer und Frauen, aber auch Arbeitnehmer und Ar- noch mehr Zeit, Kollegin Scharfenberg. beitgeber. Danke für das Zuhören. Im Koalitionsvertrag haben wir gemeinsam festge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) legt, dass wir die Rahmenbedingungen für kleine und mittelständische Unternehmen verbessern wollen. Wir in der Politik sind uns im Klaren darüber, dass uns die jet- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: zige gute Konjunktur nicht von selbst bis in alle Zeit er- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Antje Lezius, halten bleibt. Weil dies so ist, müssen wir dafür sorgen, CDU/CSU-Fraktion. dass der Mittelstand als Motor dieser Volkswirtschaft am (Beifall bei der CDU/CSU) Laufen gehalten wird. Dabei wollen wir nicht nur die Rahmenbedingungen für Innovationen und Investitionen verbessern. Uns kommt es auch darauf an, Hilfestellun- Antje Lezius (CDU/CSU): gen anzubieten, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen sich mit den immer drängender werdenden Fragen der und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ge- Demografie auseinandersetzen müssen. sellschaft wird immer älter. Bedingt durch eine gute Ge- sundheitsversorgung – mit die beste der Welt – verbes- Wenn jemand von heute auf morgen in eine Pflegesi- sert sich dabei auch die Lebensqualität im Alter. Das ist tuation kommt, ist das für beide Seiten belastend. Oft- (B) (D) die gute Nachricht. Der demografische Wandel aller- mals muss dann sehr kurzfristig eine Lösung her. Dabei dings bedeutet auch, dass wir auf der anderen Seite im- ist es nicht nur von Belang, für das pflegebedürftige Fa- mer weniger Kinder bekommen und die Anzahl der Äl- milienmitglied Pflege zu organisieren. Auch derjenige, teren gegenüber den Jüngeren in Zukunft deutlich der diesen Arbeitnehmer beschäftigt, steht vor zahlrei- zunehmen wird. Das ist eine Tatsache. Was diese Tatsa- chen Fragen, die im Zusammenhang mit der Freistellung che aber bedenklich macht – und das ist die Kehrseite des Arbeitnehmers für die Pflege zu beantworten sind. der Medaille –: Im Alter treten verstärkt schwere Krank- Wir haben den vorliegenden Gesetzentwurf so gestaltet, heiten auf, wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankun- dass er einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den gen, Parkinson oder Demenz. Von den heute über 60-Jäh- berechtigten Anliegen der Arbeitnehmer und auch der rigen sind viele chronisch krank oder zumindest Arbeitgeber darstellt. beeinträchtigt. Die Mehrheit der älteren Menschen ist (Beifall bei der CDU/CSU) heute bereits in ärztlicher Behandlung oder auf Pflege angewiesen. Gerade die Pflege älterer Menschen wird Für beide Seiten wird Rechtssicherheit geschaffen. deswegen schon mittelfristig ein Thema werden, das uns alle angeht. Besonders hervorzuheben ist die deutliche Reduzie- rung des Verwaltungsaufwandes, den die Betriebe durch Der vorliegende Gesetzentwurf will sich der Schwie- die Gewährung des Darlehens an den Arbeitnehmer ha- rigkeiten annehmen, die Arbeitnehmer mit der Vereinba- ben. Wo vormals ein bürokratisches Wertguthaben ge- rung ihrer Berufstätigkeit mit der Betreuung von Angehö- führt werden musste, fällt dies nun weg. rigen haben. Hierzu schaffen wir einen Rechtsanspruch auf eine Lohnersatzleistung bei zehntägiger Pflegeaus- Die Union hat sich im Sinne der Ausgewogenheit da- zeit in akuten Pflegesituationen. Darüber hinaus werden für eingesetzt, dass der Arbeitgeber den Urlaubsanspruch wir einen Rechtsanspruch auf 24 Monate Familienpfle- des Arbeitnehmers für jeden vollen Kalendermonat der gezeit einrichten. Demnach haben pflegende Angehörige Freistellung von der Arbeit um jeweils ein Zwölftel kür- einen Anspruch darauf, ihre zu pflegenden Angehörigen zen kann. in gewohnter Umgebung zu betreuen, ohne dafür die Be- Der absolute Kündigungsschutz wird frühestens zwölf rufstätigkeit ganz aufgeben zu müssen. Sie können wei- Wochen vor Antritt der Familienpflegezeit durch den terhin für wöchentlich 15 Stunden in Teilzeit arbeiten Arbeitnehmer gelten. und erhalten zur besseren Absicherung des Lebensunter- haltes ein zinsloses Darlehen durch das Bundesamt für Die Regelung, der zufolge der Rechtsanspruch erst in Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Hierbei Firmen mit mehr als 25 Beschäftigten gilt, ist sinnvoll, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6953

Antje Lezius (A) da sie besonders für kleine und mittlere Unternehmen Meine Damen und Herren, Sie, die Grünen, haben vor (C) eine Erleichterung ist. weniger als zwei Wochen in Hamburg einen Parteitag abgefeiert, stellten sich danach vor die Presse und sag- (Beifall bei der CDU/CSU) ten: Wir sind die Wirtschaftspartei, wir sind wirtschafts- Circa 70 Prozent der Arbeitnehmer können, wenn sie freundlich. Nun kommen Sie und fragen und sagen: Was wollen, in Zukunft die Leistungen nach diesem Gesetz in machen wir hier? Wir sind doch nicht der Wirtschafts- Anspruch nehmen. ausschuss. Fraglos positiv zu bewerten ist weiterhin, dass Unter- (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE nehmen mit der Familienpflegezeit ihre bewährten Fach- GRÜNEN]: Richtig!) kräfte behalten können, die in Teilzeit weiterhin für sie Ja, da haben Sie recht. Wir sind der Familienausschuss. arbeiten. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrung als Das wissen wir. Aber diese Große Koalition verbindet ehemalige Unternehmerin sehe ich allerdings die Ein- beide Seiten, verbindet die Anliegen der Wirtschaft stellung einer Ersatzarbeitskraft, die den Arbeitsausfall – Frau Kollegin Lezius hat darauf hingewiesen –, aber des Stammarbeitnehmers kompensieren soll, als bedenk- auch die sozialen Belange, die Dinge, die die Menschen lich an – etwas, was in der Anhörung durch die beteilig- in einer Situation brauchen, in der sie für einen Famili- ten Experten bestätigt wurde. Viele Unternehmer aus enangehörigen Hilfe bieten wollen. Wir schaffen es, dies meinem Wahlkreis, der in einer sehr ländlich geprägten zusammenzubringen. Wir stellen uns nicht am Sonntag Region liegt, fragen sich bereits heute, wie sie ohne die hin – in Hamburg – und sagen: „Wir sind die Wirt- Einschränkungen einer befristeten Stelle Fachkräfte an- schaftspartei“, und sagen zehn Tage später hier im Bun- werben können. Dazu müssen sie diesen heute etwas destag: Aber um Himmels willen, wirtschaftsfreundlich bieten. Der Wettbewerb um gute Köpfe ist oft schon so dürft ihr nicht sein. hart genug. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf ist gut, weil es zeitgemäß ist und den Wofür stehen die Grünen? Erfordernissen einer Welt im Wandel Rechnung trägt. (Zuruf der Abg. Elisabeth Scharfenberg (Beifall bei der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich wünsche mir, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer Frau Scharfenberg, Sie waren in Hamburg dabei. Stellen zukünftig bewusst und verantwortungsvoll mit diesem Sie mir doch eine Frage, dann habe ich mehr Zeit. Instrument umgehen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Elisabeth (B) Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) Vielen Dank. Den Gefallen tue ich Ihnen nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Meine Damen und Herren, Sie haben ausgeführt, das neten der SPD) Darlehen ist eine Belastung. Frau Scharfenberg, das Dar- lehen schafft finanzielle Freiräume, weil ein Teil des ent- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: fallenden Lohns von staatlicher Seite quasi vorfinanziert Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord- wird. Das gibt die Möglichkeit, in der Pflegesituation nungspunkt ist der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU- den Lebensstandard zu halten, dann deutlich weniger zu Fraktion. arbeiten – 50 Prozent arbeiten, 75 Prozent Gehalt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie reden gerade von dem alten Paul Lehrieder (CDU/CSU): Gesetz!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Natürlich muss diese „Vorfinanzierung“ irgendwann, Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf wenn die wirtschaftliche Situation – – Stellen Sie mir den Tribünen! Heute ist ein guter Tag, ein guter Tag für doch endlich einmal eine Frage, Frau Scharfenberg! die Familien, ein guter Tag, weil wir Hilfe anbieten – vorhin in der Debatte über das Kitaausbaugesetz, jetzt (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- über das Familienpflegegesetz. Ich wollte eigentlich nur NEN]: Das werden Sie nicht erreichen!) Positives sagen, aber, Frau Scharfenberg, Sie zwingen – Schade. mich, auch ein paar kritische Worte anzubringen. Mehr Zeit und Hilfe, um helfen zu können, das ist Zu den 38 Minuten Redezeit, die vereinbart worden kurz zusammengefasst, wie bereits ausgeführt, das Er- ist, hat die Frau Präsidentin das Nötige gesagt. Ich darf gebnis der monatelangen Verhandlungen über den von Ihnen noch einmal bestätigen: Jawohl, es ist nicht die der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge- Ministerin, die die Redezeit festlegt, es sind die Parla- setzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege mentarischen Geschäftsführer. Mir ist nicht bekannt, und Beruf. Wir haben es uns nicht leicht gemacht, Frau dass die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen Ministerin. Wir haben viele nächtliche Stunden, Frau irgendwie an der Redezeit etwas zu mäkeln gehabt hätte. Ferner, miteinander verhandelt, bis wir die Positionen so Fragen Sie Ihre PGF, und dann wissen Sie hierüber Nä- weit zusammengebracht haben, dass dieses Gesetz die heres! Form gewinnen konnte, die es heute hat. 6954 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Paul Lehrieder (A) Im Falle eines plötzlich eintretenden Pflegefalls ist (Zuruf von der LINKEN: Oberlehrer!) (C) für berufstätige Familienangehörige der Spagat zwi- In einem Unternehmen mit 1 bis 25 Beschäftigten schen Haushalt, Familie und der Organisation der Pflege kennt der Chef in aller Regel seine Mitarbeiter, viele mit kaum zu bewältigen, es sei denn, sie treten im Job kürzer Vornamen. oder steigen für eine befristete Zeit aus dem Berufsleben aus. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Kollegin Zimmermann, nachdem Sie ausgeführt Da ist es leichter möglich, eine Lösung zu finden, die auf haben, bei der Festlegung auf Betriebe mit 15 Beschäf- die Belange des Unternehmens ganz anders zugeschnit- tigten seien nur 5 Millionen davon nicht betroffen gewe- ten ist. Da gibt es vielleicht ganz wenige auf dieser spe- sen, jetzt durch die Erhöhung der Grenze auf 25 Be- ziellen Stelle sitzende Fachkräfte, die schwer zu ersetzen schäftigte 7 Millionen, darf ich Ihnen bestätigen: Die sind, wo man vielleicht mit dem Kollegen reden muss, Erhöhung auf 25 haben wir nicht einfach aus der Luft ob er ein paar Überstunden machen kann. Bei 1 bis gegriffen. Wir haben diskutiert, wie es mit dem Hand- 25 Beschäftigten ist es leichter, hier geschwind eine be- werksbetrieb, dem Bäckermeister, der mehrere Verkaufs- triebsinterne Regelung zu finden, als in größeren Unter- filialen hat, ist. nehmen, wo natürlich der Rechtsanspruch entsprechend eingeführt werden muss. (Abg. Pia Zimmermann [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das beant- wortet meine Frage nicht!) – Die Frau Zimmermann möchte mir eine Frage stellen, Frau Präsidentin. Noch einmal: Wir haben 43 Millionen sozialversiche- rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse – bleiben Sie (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Elisabeth bitte stehen, Frau Kollegin; ich bin noch nicht fertig – in Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschland. Endlich!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Das heißt: Auch wenn 7 Millionen Beschäftigte keinen Danke, Herr Kollege Lehrieder. Ich hatte das schon Anspruch haben, so bleiben immerhin noch 36 Millio- gesehen. nen Beschäftigte, die davon profitieren. Nach Adam Riese profitieren über 80 Prozent der Beschäftigten von dem Rechtsanspruch, Frau Kollegin Zimmermann. Die Paul Lehrieder (CDU/CSU): verbleibenden rund 17 Prozent werden in den Verhand- (B) Darüber bin ich sehr froh. lungen mit den Arbeitgebern schon jetzt vernünftig be- (D) (Heiterkeit) rücksichtigt und werden auch in Zukunft berücksichtigt. Wir haben ein anderes Verständnis von der Arbeits- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: welt als die Linkspartei. Wir haben nicht nur Klassen- Deswegen frage ich Sie jetzt. Sie würden natürlich Ja kampfbegriffe im Kopf und sagen: Hier der böse Arbeit- sagen. – Bitte schön, Frau Kollegin Zimmermann. geber, da der gute Arbeitnehmer. (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Lassen Sie Pia Zimmermann (DIE LINKE): doch den Populismus weg!) Vielen Dank. – Da habe ich doch noch einmal eine Beide können miteinander reden, und das tun sie in den Frage. Denn natürlich ist es für kleine Betriebe schwie- kleinen Handwerksbetrieben in der Regel auch. rig, dann für eine solche Situation aufzukommen. Aber dennoch ist es doch so: Sie lassen erst einmal über (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. 7 Millionen Menschen ziemlich allein mit ihren Arbeit- Dr. Martin Rosemann [SPD]) geberinnen und Arbeitgebern. Aber Sie könnten das Ich wäre jetzt mit der Beantwortung der Frage fertig, Ganze doch auch, wie das zum Beispiel beim Mutter- Frau Präsidentin. schutz oder auch im Krankheitsfall organisiert ist, durch eine Umlagefinanzierung, die sich dort U 1 und U 2 (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Sie können nennt, gesetzlich regeln. Warum machen Sie das hier Fragen einfach nicht beantworten! Das ist und denn nicht genauso wie in den anderen Fällen? Warum bleibt so!) überlassen Sie das den Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Zwar konnten Berufstätige schon bisher eine Auszeit nehmern, die doch in so hoher Zahl darauf warten, weil von bis zu zehn Tagen nehmen, wenn sie Angehörige sie für diese wichtige Aufgabe und zur Vereinbarkeit von kurzfristig selbst pflegen oder Hilfe organisieren müs- Familie, Pflege und Beruf darauf angewiesen sind? sen,

Paul Lehrieder (CDU/CSU): (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Die meist nicht ausreicht! Sie haben doch von der Wirk- Frau Kollegin Zimmermann, ich muss jetzt das wie- lichkeit keine Ahnung!) derholen, was ich schon in der ersten Lesung zu Ihrer Aufklärung und Erhellung versucht habe beizutragen. Es auf ihr Gehalt mussten sie währenddessen aber verzich- ist leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. ten – bis jetzt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6955

Paul Lehrieder (A) Mit dem vorliegenden Gesetz möchten wir, dass sich Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben es uns mit (C) Pflegende ab dem 1. Januar 2015 voll und ganz auf das diesem Gesetz nicht leicht gemacht. Wir haben nach lan- Organisatorische konzentrieren können, ohne sich dabei gem Ringen eine richtige, eine gute Lösung für die Fa- Sorgen um den Lohnausfall machen zu müssen. milien gefunden. Ich bedanke mich bei allen, die konst- ruktiv mitgearbeitet haben. (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Für die meisten aber nicht ausreichend!) Liebe Grüne, noch habt ihr die Chance, zuzustimmen. Überlegt es euch noch einmal! Bei den Linken habe ich Wir werden den schon bestehenden Rechtsanspruch auf die Hoffnung aufgegeben. eine zehntägige Pflegeauszeit – die gilt im Übrigen, Frau Zimmermann, für alle, auch für die Betriebe mit bis zu (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE 25 Beschäftigten; nur zu Ihrer Information – GRÜNEN]: Die Chance haben Sie gerade ver- wirkt!) (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Sie haben doch von der Realität keine Ahnung! Reden Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und einen Sie einmal mit den Leuten!) schönen Tag noch. bei akut auftretender Pflegesituation eines nahen Ange- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hörigen mit einer Lohnersatzleistung analog zum Kin- neten der SPD) derkrankengeld ausgestalten. (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Ulla Schmidt: GRÜNEN]: Ja, das zahlt die Pflegeversiche- Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. Sie dürfen sich rung!) bei Ihren Kolleginnen bedanken, die Ihnen etwas Zeit re- serviert hatten. Sie hatten also zu Recht eine halbe Mi- Die kurzfristige Auszeit im akuten Pflegefall eines na- nute mehr Redezeit. hen Angehörigen wird also genauso behandelt, als ob berufstätige Eltern sich bis zu zehn Tage um ihr krankes Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Kind kümmern. Frau Kollegin Reimann hat schon da- Aussprache. rauf hingewiesen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Beschäftigte haben damit ab Anfang nächsten Jahres desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur besseren einen Rechtsanspruch auf Pflegeunterstützungsgeld. Da- Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf. Der Aus- bei handelt es sich um eine Lohnersatzleistung für eine schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/ (B) bis zu zehntägige Auszeit, die Beschäftigte kurzfristig (D) für die Organisation einer akut aufgetretenen Pflegesi- 3449, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf tuation eines nahen Angehörigen in Anspruch nehmen Drucksachen 18/3124 und 18/3157 in der Ausschussfas- können. Die hierfür erforderlichen Mittel im Umfang sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- von geschätzt 100 Millionen Euro werden von der Pfle- entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um geversicherung getragen. Der Beitragssatz in der gesetz- das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält lichen Pflegeversicherung steigt ab 1. Januar 2015 um sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Ko- 0,3 Prozentpunkte auf 2,35 Prozent des Bruttogehaltes. alitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und Fraktion Die Linke angenommen. Die Weiterentwicklung der Familienpflegezeit ver- bessert dann die Situation für jene, die ihre Angehörigen (Zuruf von der LINKEN: Andersherum!) in häuslicher Umgebung pflegen wollen, entscheidend. Dritte Beratung Mit dem heute in zweiter und dritter Lesung beratenen Gesetzentwurf zur besseren Vereinbarkeit von Familie, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Pflege und Beruf kommen wir dem im Koalitionsvertrag Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. verankerten Ziel der Vereinbarkeit von Pflege und Be- – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der rufsleben nach. Unser wichtigstes Ziel ist dabei, die Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der Wertschätzung der familiären Pflege zu verbessern und Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition diese Leistung insgesamt besser abzusichern. Ich spre- angenommen. che an dieser Stelle bewusst von Leistung; denn dem, was die Pflegenden Tag für Tag leisten, gebührt aller- Abstimmung über den Entschließungsantrag der höchste Anerkennung, meine sehr verehrten Damen und Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3454. Wer stimmt Herren. für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage- gen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stim- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- men der Fraktionen von CDU/CSU und SPD gegen die neten der SPD) Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Frau Präsidentin, da muss ein Fehler an der Uhr sein; demzufolge sei meine Redezeit schon abgelaufen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c sowie Zusatzpunkt 5 auf: (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – [DIE a) Beratung des Antrags der Abgeordneten LINKE]: Das ist der beste Spruch Ihrer Rede!) Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann 6956 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) (Zwickau), Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nur weil das (C) und der Fraktion DIE LINKE die Regierung so will!) Statt Rente erst ab 67 – Altersgerechte Über- – Nur, damit die Regierung nicht wieder verantwortlich gänge in die Rente für alle Versicherten er- gemacht wird. – Dann ist das so beschlossen. leichtern Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Drucksache 18/3312 Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (Beifall bei der LINKEN) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Bericht der Bundesregierung über die gesetz- Herren! Die Bundesregierung hat ihren Rentenversiche- liche Rentenversicherung, insbesondere über rungsbericht und den Bericht zur Rente erst ab 67 vorge- die Entwicklung der Einnahmen und Ausga- legt, und die Reaktionen waren verheerend. ben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Nur bei euch! – künftigen 15 Kalenderjahren Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das (Rentenversicherungsbericht 2014) stimmt aber nicht!) Drucksache 18/3260 Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 15. November 2014: „Riestern funktioniert oft nicht“. – Und Norbert Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Blüm hat vorgestern in der Saarbrücker Zeitung die Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Riester-Rente als den größten Irrweg in der jüngsten Ge- Haushaltsausschuss schichte der Rentenversicherung bezeichnet. Recht hat c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- er. gierung (Beifall bei der LINKEN) Zweiter Bericht der Bundesregierung gemäß Aber: Lassen wir es dabei. Für heute! Kommen wir § 154 Absatz 4 des Sechsten Buches Sozialge- zur Rente erst ab 67. Da haben Sie in Ihrem Rentenbe- setzbuch zur Anhebung der Regelaltersgrenze richt wieder einmal schön die ollen Kamellen herausge- auf 67 Jahre holt: Mehr Ältere würden länger arbeiten, also sei alles (B) Drucksache 18/3261 (neu) okay. Nichts ist okay. Aber Union und SPD halten sich (D) die Augen zu und an der Rente erst ab 67 fest, und das ist Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) schlecht. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall bei der LINKEN) ZP 5 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Frau Staatssekretärin, ich erinnere Sie wieder einmal gierung höflich an den Beschluss des SPD-Parteikonvents von 2012. Ich darf zitieren: Bericht der Bundesregierung über die gesetz- liche Rentenversicherung, insbesondere über Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist erst dann die Entwicklung der Einnahmen und Ausga- möglich, wenn die … 60- bis 64-jährigen Arbeit- ben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des nehmerinnen und Arbeitnehmer mindestens zu jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den 50 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt künftigen 15 Kalenderjahren sind. (Rentenversicherungsbericht 2014) Im Dezember 2013 waren es aber gerade einmal 33 Pro- Drucksache 18/3260 zent, und im Alter von 64, also kurz vor der Rente, ha- ben nur 16 Prozent einen sozialversicherungspflichtigen hier: Gutachten des Sozialbeirats zum Ren- Job, und nur mickrige 11 Prozent arbeiten in Vollzeit. tenversicherungsbericht 2014 Das ist die traurige Wahrheit. Liebe Kolleginnen und Drucksache 18/3387 Kollegen von der SPD, Sie verstoßen nicht nur klar ge- Überweisungsvorschlag: gen Ihre eigenen Beschlüsse, sondern Sie verkaufen die Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt auch noch als Erfolg Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend pur. Haushaltsausschuss (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Ist ja auch ein Ich bitte jetzt die Kolleginnen und Kollegen, die dem Erfolg!) nächsten Tagesordnungspunkt im Plenum folgen wollen, Platz zu nehmen. Damit verkaufen Sie die älteren Beschäftigten für blöd. Die Beschäftigten sind aber nicht blöd, meine Damen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für und Herren. die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6957

Matthias W. Birkwald (A) Sie wissen nämlich ganz genau: Ein Drittel Ältere mit das heißt das bei Ihnen ja immer, Herr Kollege (C) Job, das heißt umgekehrt, fast sieben von zehn Beschäf- Linnemann –, dann verdrängen wir die Jüngeren tigten im Alter von 60 bis 64 sind nicht sozialversiche- rungspflichtig beschäftigt. Und warum? Na ja, weil eine (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Da sind Sie nicht Krankenschwester im Durchschnitt mit 60 aus ihrem Job mehr auf dem aktuellen Stand!) gehen muss, weil ein Bauarbeiter im Durchschnitt und es werden erst recht keine Älteren mehr eingestellt. 57,5 Jahre alt ist, wenn er nicht mehr arbeiten kann. Die Deshalb sage ich Ihnen: Wir dürfen die Grenze zwischen beiden können aber auch nicht in die Rente ab 63 gehen, Erwerbsarbeit und Ruhestand nicht weiter auflösen. weil sie noch keine 63 sind und weil sie natürlich auch die 45 Jahre Wartezeit noch nicht geschafft haben. (Beifall bei der LINKEN) Die Älteren werden aber auch von den Arbeitgebern Die Enkel wollen wissen, wann Opa mehr Zeit für sie komplett alleingelassen. Ich bitte Sie: Schauen Sie doch hat und wann Oma nicht mehr putzen geht, sondern sie einmal in Ihren eigenen Bericht. Da steht auf Seite 57: vielleicht in den Kindergarten bringt. Opa und Oma wol- Nur 18 Prozent der Betriebe bieten überhaupt irgendeine len endlich ihren kaputten Rücken auskurieren. Sie wol- Maßnahme für Ältere an, die meisten übrigens Alters- len sich um ihr Ehrenamt kümmern, und, ja, sie wollen teilzeit. Aber Gesundheitsförderung für Ältere, altersge- vielleicht auch einmal eine Kreuzfahrt machen. rechte Arbeitsplatzgestaltung, Weiterbildung für Ältere – (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Also ich will das das alles gibt es nur in sehr, sehr wenigen Betrieben. nicht! Ich bin auch Oma! – Heiterkeit bei der Wann fangen Sie endlich damit an, die Arbeitgeber SPD) und Arbeitgeberinnen in die Pflicht zu nehmen? Die Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt. schreien doch am lautesten: „Fachkräftemangel“, „Ar- beiten bis 70“, „Rente nicht mehr bezahlbar“. Warum Wir Linken wollen nicht den arbeitenden Rentner hauen Sie nicht einmal auf den Tisch und sagen: „So, ab oder die arbeitende Rentnerin zum neuen Leitbild ma- dem nächsten Jahr führen wir Quoten für Ältere ein! Ab chen, wie viele in der Union. Wir wollen gute Arbeit bis dem nächsten Jahr wird Weiterbildung Pflicht! Ab dem zur Rente, und zwar ohne Megastress nächsten Jahr werden altersgerechte Arbeitsplätze Stan- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Rosemann dard!“? [SPD]: Bis zur Frührente!) Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, und das Ganze mit alters- und alternsgerechten Arbeits- was bieten Sie denn den Beschäftigten an? plätzen. Wenn Arbeitgeber Ältere entlassen, dann sollen (B) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Länger ar- sie die Kosten dafür tragen. (D) beiten!) Liebe Koalition, nehmen Sie die Rente erst ab 67 zu- Nichts! Ich zitiere die Frankfurter Allgemeine Zeitung: rück; „Die Koalition macht die Rente mit 70 attraktiver“. (Beifall bei der LINKEN) (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE denn mit 65 hat man sich zum Beispiel als Fliesenleger LINKE]: Genau!) oder als Altenpflegerin den Ruhestand hart verdient. Wer So hat die FAZ über Ihre Koalitionsarbeitsgruppe berich- krank ist, dem darf auch die Erwerbsminderungsrente tet, nicht mehr verwehrt werden. (Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!) Wir sagen aber auch: Nicht 45 Jahre arbeiten, sondern 40 Jahre sind genug. Nach 40 Jahren Arbeit soll man ab und das ist nicht einmal gelogen. Genau darum geht es 60 in Rente gehen können. dort. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Frühverrentung!) Sie diskutieren jetzt darüber, den Arbeitgebern Sozi- alversicherungsbeiträge zu erlassen, wenn die Beschäf- Liebe Kolleginnen und Kollegen, fragen Sie in Ihren tigten weiter arbeiten, statt „nur“ in Rente zu gehen. Wahlkreisen nach: 40 Jahre Arbeit sind genug. Spätes- tens ab 65 muss Schluss sein! (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Arbeiten bis zum Umfallen!) Herzlichen Dank. Liebe Koalition, lassen Sie die Finger davon! (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Rosemann [SPD]: Geht es noch früher?) (Beifall bei der LINKEN) – Nein. Der Sozialbeirat, das oberste Beratungsgremium in allen Rentenfragen, sieht das in seinem aktuellen Gut- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: achten genauso: Arbeiten nach der Regelarbeitsgrenze Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht werde schon heute mit Zuschlägen belohnt. – Und Hin- jetzt der Kollege Karl Schiewerling. zuverdienstgrenzen gibt es für Rentnerinnen und Rent- ner ab 65 auch keine mehr. Wenn wir Rentnerarbeit noch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- attraktiver, also für die Arbeitgeber billiger machen – neten der SPD) 6958 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Karl Schiewerling (CDU/CSU): (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe NEN]: Sie wissen doch, warum Sie es nicht Kolleginnen und Kollegen! Zu diesem Tagesordnungs- getan haben!) punkt gehört auch die Diskussion über den Rentenversi- Das zeigt, dass sich die Rentenpolitik insgesamt in einer cherungsbericht der Bundesregierung. Dieser Renten- guten Verfassung befindet. Unsere Aufgabe besteht nun versicherungsbericht gibt in einigen Punkten Anlass, mit darin, dafür zu sorgen, dass das so bleibt. Von uns hat dem, was sich in der Rentenpolitik entwickelt, sehr zu- keiner ein Interesse daran, dass das Rentenniveau durch- frieden zu sein. knallt unter 43 Prozent oder gar auf 42 Prozent. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was sagen (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 42 Prozent? Sie denn zu Blüm?) Es waren schon einmal 43 Prozent!) Ich will diese Gelegenheit gerne nutzen, daran zu er- Wir haben kein Interesse daran, sondern wollen alles innern, dass wir in dieser Woche das 125-jährige Beste- tun, dass das Rentenniveau höher bleibt. Das wird eine hen der Deutschen Rentenversicherung feiern. Dieses der großen Herausforderungen sein, vor denen wir mit- Jubiläum sollte uns in dieser Diskussion nicht gleichgül- einander stehen. tig sein; denn diese Rentenversicherung steht seit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 125 Jahren für eine gute und stabile Form der Sozialpoli- neten der SPD) tik in Deutschland. Völlig zu Recht, meine Damen und Herren, haben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) unser Kollege und unsere Kolle- gin immer wieder darauf hingewiesen, Darauf können wir miteinander stolz sein. dass – anders als Sie, Herr Kollege Birkwald, das dar- gestellt haben – unter dem Eindruck der Demografie Allerdings hat diese Rentenversicherung in ihrer Ge- die Menschen auch in der Lage sein müssen, länger zu schichte Höhen und Tiefen erlebt und ständige Verwand- arbeiten, wenn sie es denn wollen. lungen, Wandlungen und neue Anpassungen durchma- chen müssen. Diese Anpassungen haben sich immer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- durch äußere Umstände ergeben. neten der SPD) Das, was die Rentenversicherung heute beschäftigt Wir müssen die Rahmenbedingungen so setzen, dass je- und in Zukunft beschäftigen wird, sind aktuelle demo- der, der über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten grafische Entwicklungen. Vor der Demografie, meine will, auch die Möglichkeit dazu erhält. (B) (D) Damen und Herren, sind alle Alterssicherungssysteme (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das – ob umlagefinanziert oder kapitalfinanziert – gleich. Sie gibt es doch heute schon!) alle stehen vor derselben Frage: Wie können wir die Al- terssicherung für Millionen von Menschen auf Dauer ge- Die Grundlage dazu haben wir mit der Verabschie- sehen stabil gestalten? dung des Rentenpakets gelegt, als wir uns auf einige Fra- gen verständigt haben. Die weiteren Punkte diskutieren Die Union hat immer darauf Wert gelegt, dass die wir gerade in der Koalitionsarbeitsrunde. Ich sage Ihnen: Rentenversicherung, die umlagefinanzierte Rente, der Anders, als manche dies bewerten, laufen die Gespräche Kern der Alterssicherung ist, aber dabei betont, dass es gut. Sie laufen konstruktiv und sie laufen gründlich, weil auch auf private Alterssicherung und auf betriebliche Al- unser Interesse darin besteht, etwas zu schaffen, von terssicherung ankommt. Deswegen werden wir im kom- dem die Menschen hinterher etwas haben, und das ei- menden Jahr über beide Formen miteinander zu reden gentliche Ziel erreicht wird: dass die Menschen nicht so haben. Auch die Säule der betrieblichen Alterssicherung früh wie möglich in Rente gehen – wie das die Absicht muss deutlich gestärkt werden; wir müssen sehen, wie der Linken ist –, sondern so lange wie möglich im Er- wir das unterstützen können. werb bleiben können, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die neten der SPD) brauchen gute Arbeit, damit sie frei entschei- den können!) All denjenigen, die uns permanent sagen, wie schlecht es weil dies eine der zentralsten Voraussetzungen dafür ist, um die Rente stehe, will ich sagen: Wir haben eine Rück- dass wir das Rentensystem stabil halten. lage von 33,5 Milliarden Euro. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten der SPD) NEN]: Noch!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Stabilität Noch vor zehn Jahren wurde uns prognostiziert, der der Renten hängt nicht nur von der demografischen Ent- Rentenversicherungsbeitrag würde bei 19,5 Prozent lie- wicklung, sondern auch von der Prosperität der Wirtschaft gen. Tatsächlich liegt er bei 18,9 Prozent, und hätten wir ab. Dass es uns heute gutgeht, hängt damit zusammen, ihn in diesem Jahr tatsächlich abgesenkt, wie es nach ur- dass wir 42 Millionen Beschäftigte haben und davon über sprünglichen Planungen passiert wäre, läge er jetzt bei 30 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt 18,3 Prozent. sind. Hätten wir diese Rahmenbedingungen nicht, würde Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6959

Karl Schiewerling (A) es um die Rente völlig anders stehen und wir hätten man- was wir für Personen, die krank sind und das deshalb (C) che Diskussion, die wir auch im Frühjahr dieses Jahres nicht schaffen, tun können, damit sie früher in den Ruhe- miteinander geführt haben, anders geführt. Das bedeutet: stand gehen können. Wir brauchen also eine individuelle Wenn wir die Rente stabil halten wollen, müssen wir die und altersgerechte Anpassung. Wirtschaft stabil halten. Wenn wir die Rente stabil halten wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass Menschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, auch so erwerbstätig werden können, dass sie für die zu- bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias W. künftigen Generationen mitsorgen, dann müssen wir alles Birkwald [DIE LINKE]: Grüne sind für Peit- tun, dass die, die noch länger arbeiten können, auch die sche! Linke sind für Zuckerbrot!) Möglichkeit dazu erhalten, ohne dazu gezwungen zu wer- den. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Kurth, gestatten Sie – Nein. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir in der Koalition in dieser Frage auf einem guten Weg sind. Der Wille der Union ist es, dieses Rentensystem stabil zu Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): halten. Hieran sei dann auch erinnert in der 125-jährigen Hierzu gibt es drei Möglichkeiten. Geschichte der Deutschen Rentenversicherung: Die ent- Erstens. Eine menschengerechte, humane Arbeits- scheidenden Weichen zu einer neuen Rentenversiche- welt. Allein darüber könnten wir einen ganzen Vormittag rung sind 1957 von der CDU unter Konrad Adenauer ge- lang debattieren. Ich will nur einen Punkt nennen, näm- stellt worden. Sie sind gestellt worden, als es darum lich die Anti-Stress-Verordnung. Wer Ja sagt zur Rente ging, dass in Zukunft die Menschen angstfrei im Alter mit 67, der muss auch Ja sagen zu einer Anti-Stress-Ver- leben können sollten. ordnung. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gab’s noch keinen Riester!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Daran werden wir arbeiten, und dafür werden wir alles Sie schimpfen da immer über Kosten und Bürokratie. tun. Ich sage Ihnen einmal, was Kosten sind: Jedes Jahr fal- Herzlichen Dank. len zig Milliarden Euro Kosten an für die Behandlung psychischer Erkrankungen. Hinzu kommen zig Milliar- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Euro Kosten für den Arbeitsstundenausfall. Geben neten der SPD) Sie, meine Kollegen von der Union, endlich Ihren Wi- derstand gegen die Anti-Stress-Verordnung auf! (B) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (D) Vielen Dank. – Markus Kurth ist der nächste Redner (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – für Bündnis 90/Die Grünen. Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Das kommt aber nicht alles von der Arbeitswelt!) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zweitens. Eine verbesserte Erwerbsminderungsrente Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ist natürlich auch erforderlich. Wir müssen denjenigen, Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber die nachweislich aus gesundheitlichen Gründen nicht , man möchte dir die alte Indianer- mehr arbeiten können, eine Garantie bieten, dass sie eine weisheit zurufen: Wenn du merkst, dass das Pferd, wel- armutsfeste Erwerbsminderungsrente erhalten. Hierzu ches du reitest, tot ist, dann steige ab! – Die Abschaffung reicht das, was Sie mit dem Rentenpaket auf den Weg der Rente mit 67, die Anhebung der Regelaltersgrenze – gebracht haben, schlichtweg nicht aus. beides ist ein totes Pferd. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist so, dass jemand, der gesund ist und bis zu sei- sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE nem 67. Lebensjahr arbeiten kann, nicht einem, wie Sie LINKE]) es sagen, gigantischen Rentenkürzungsprogramm unter- Drittens bleibt natürlich die Frage: Was ist mit denje- liegt, sondern diese Person erwirbt durch zwei zusätzli- nigen, die zu gesund sind für die Erwerbsminderungs- che Jahre zusätzliche Rentenansprüche. Sie zahlt Bei- rente, die gleichwohl nicht mehr das Leistungsvermögen träge und bezieht deshalb eine höhere Rente. Das ist die haben, um noch mit voller Kraft bis 67 arbeiten zu kön- Wahrheit. nen? Das ist noch eine offene Baustelle, die wir angehen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, müssen. Ich will einmal skizzieren, wie ein möglicher bei der SPD und der CDU/CSU) Lösungsweg aussehen könnte, und zwar am Beispiel von Frau Klein aus Dortmund. Ich bin natürlich nicht naiv. Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die eben nicht bis 67 arbeiten können. Frau Klein arbeitet in einem Dortmunder Logistik- zentrum im Büro. Sie wird dieser Tage 60 Jahre alt. In (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!) letzter Zeit hat sie einige Bandscheibenvorfälle gehabt. Die Antwort darauf kann aber doch nicht die Abschaf- Zudem ist sie privat und beruflich psychisch belastet. fung der höheren Regelaltersgrenze sein. Vielmehr müs- Kurzum: Wenn Frau Klein so weitermacht wie bisher, sen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir Men- wird sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Dann folgen schen dabei unterstützen können, diese zu erreichen, und Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II, Zwangsverren- 6960 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Markus Kurth (A) tung, Grundsicherung und, weil das Risiko, krank zu Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) werden, bei Arbeitslosigkeit erhöht ist, wahrscheinlich Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Martin noch Behandlungskosten für die gesetzliche Kranken- Rosemann, SPD-Fraktion. versicherung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Klein könnte aber bis 67 weiter arbeiten, wenn der CDU/CSU) sie ihre Arbeitszeit auf drei Tage in der Woche reduziert und eine Teilrente in Anspruch nimmt. Dr. Martin Rosemann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ( [DIE LINKE]: Nach drei Lieber Markus Kurth, für den ersten Teil Ihrer Rede Bandscheibenvorfällen?) hätte ich Ihnen beinahe das Beitrittsformular der SPD Dazu wird sie aber wahrscheinlich sagen, dass sie sich ausgehändigt. die Abschläge nicht leisten kann. Richtig. Wenn man (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten aber die Kosten, die bei Arbeitslosigkeit entstünden, der SPD – Lachen bei Abgeordneten der zum Teil nähme, um die Abschläge wieder auszuglei- LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE chen, dann wäre das kein Nullsummenspiel, sondern GRÜNEN]: Was? – Dr. Wolfgang eine Win-win-Situation, sowohl für Frau Klein als auch Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für die öffentlichen Kassen. In diese Richtung müssten NEN]: So schlecht war es gar nicht!) Sie Gedanken entwickeln. Aber zum zweiten Teil muss ich sagen: Wir können uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – in der Sache auseinandersetzen, aber Begriffe wie „ver- Zurufe der Abg. Jutta Krellmann [DIE brannte Erde“ in diesem Zusammenhang gehen nicht. LINKE]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das haben Sie aber durch Ihr Rentenpaket unmöglich der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜND- gemacht. Ihr Rentenpaket hat doch nichts anderes hinter- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht so empfind- lassen als verbrannte Erde. Es ist überhaupt keine ver- lich!) nünftige rationale Diskussion über menschengerechte Meine Damen und Herren, der Rentenversicherungs- Altersübergänge möglich. bericht der Bundesregierung zeigt: Aktuell steht die Rentenversicherung gut da. Dank der positiven Entwick- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ lung auf dem Arbeitsmarkt haben wir die höchste Rück- CSU und der SPD) (B) lage, die es überhaupt jemals gab. Das versetzt uns in die (D) – Natürlich. – Sie haben den bitteren Beifang der Lage, eine Beitragssatzsenkung vorzunehmen, und das sogenannten Koalitionsarbeitsgruppe „Flexi-Rente“ ge- tun wir auch. macht. Sie wissen genauso gut wie ich, dass diese Ar- Gleichermaßen gilt: Wenn wir im Durchschnitt immer beitsgruppe nicht dazu dient, sachgerechte Lösungen zu älter werden, müssen wir im Durchschnitt auch länger erarbeiten. Vielmehr ist das eine Schmerztherapie des im Erwerbsleben bleiben. Das ist wichtig für die dauer- Wirtschaftsflügels der Union, hafte Sicherung unseres Rentensystems. Das ist aber ge- nauso wichtig für die Sicherung unseres Wohlstands in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einer Gesellschaft, in der die Zahl der Menschen im er- sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE werbstätigen Alter stärker sinken wird als die Gesamtbe- LINKE] – Matthias W. Birkwald [DIE völkerung. Deshalb muss das tatsächliche Rentenein- LINKE]: Wo er recht hat, hat er recht!) trittsalter in Deutschland steigen. Deshalb haben wir in und zwar keine Schmerztherapie, um der SPD Schmer- der Vergangenheit Angebote zur Frühverrentung abge- zen zuzufügen – das vielleicht aber auch, gut –, sondern schafft. Deshalb wird auch die Regelaltersgrenze in der vor allen Dingen eine Therapie, um ihren Phantom- gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2029 auf schmerz zu lindern, weil sie der Rente mit 63 fast ge- 67 Jahre steigen. schlossen zugestimmt haben. Dazu dient diese Koali- Herr Birkwald, wenn Sie so tun, als läge das Renten- tionsarbeitsgruppe. eintrittsalter schon heute bei 67 Jahren – Meine Damen und Herren, Bündnis 90/Die Grünen (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Habe wollen jedem Menschen individuell zugeschnittene, gute ich nicht gesagt!) Übergänge in den Ruhestand ermöglichen, aber eben – Sie tun so, genauso stellen Sie die Realität hier dar –, keine gigantische Rentenkürzung oder Altersarmut. Wir dann will ich Ihnen sagen: Im Moment liegt das Renten- wollen eine volkswirtschaftlich insgesamt vernünftige eintrittsalter bei gerade 65 Jahren und drei Monaten. Betrachtungsweise. Wir wollen vor allen Dingen auch dadurch Nachhaltigkeit im Arbeitsleben und im Ruhe- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Real stand erzielen. nicht! – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Ge- nau so ist es!) Vielen Dank. Entscheidend für die Beurteilung des Erfolgs dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Politik ist die Erwerbsbeteiligung von älteren Menschen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6961

Dr. Martin Rosemann (A) Ich finde, wir sind dabei auf gutem Weg. Die Erwerbstä- schaffen werden, die einen längeren Verbleib im Er- (C) tigenquote der 55- bis 64-Jährigen ist seit 2010 werbsleben gewährleisten. um 26 Prozentpunkte gestiegen, stärker als in allen an- deren europäischen Ländern. Ein Blick auf die Gruppe Wir brauchen darüber hinaus Lösungen des flexiblen der 60- bis 64-Jährigen zeigt eine Zunahme um 30 Pro- Übergangs vor allem für diejenigen Beschäftigten, die zentpunkte, gesundheitlich eingeschränkt sind, also für diejenigen, die zu krank für die Vollzeiterwerbstätigkeit, aber zu ge- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist sund für die Erwerbsminderungsrente sind. doch wohlfeil! Nur 11 Prozent haben einen (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Vollzeitjob!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) mehr als in allen anderen Altersgruppen. 50 Prozent der Dieser Personengruppe wollen wir mit dem Arbeitssi- 60- bis 64-Jährigen sind erwerbstätig, und etwa ein Drit- cherungsgeld die Möglichkeit geben, ihre bisherige Tä- tel dieser Altersgruppe ist sogar sozialversicherungs- tigkeit zumindest in Teilzeit fortzusetzen. Die Idee ist, pflichtig beschäftigt. dass das Arbeitssicherungsgeld als Leistung der Bundes- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, nur!) agentur für Arbeit den Lohnverlust durch die Teilzeit- arbeit zumindest teilweise ausgleicht. Damit könnten wir Auch die Beteiligung an Weiterbildungen ist bei Älteren Arbeitslosigkeit verhindern und eine wirkungsvolle Brü- deutlich gestiegen. cke in den Ruhestand bauen. Diesen Erfolg wollen wir durch alters- und alternsge- (Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜND- rechte Arbeitsbedingungen und durch noch mehr Einsatz NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit wem setzen Sie bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik für Ältere fortsetzen. das denn um? Haben Sie davon schon Herrn Der begonnene Paradigmenwechsel in diesem Bereich Linnemann überzeugt?) muss fortgesetzt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel als Sozi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aldemokratinnen und Sozialdemokraten ist es, Arbeit- der CDU/CSU) nehmerinnen und Arbeitnehmer bei guter Gesundheit möglichst lange im Erwerbsleben zu halten. Unsere Bot- Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ei- schaft ist: Genauso wenig, wie wir auf gut ausgebildeten nes geht nicht, nämlich die Rückkehr in die Frühverren- Nachwuchs verzichten können, kann unsere Wirtschaft tungslogik der 80er- und 90er-Jahre, wie Sie uns das in auf die Erfahrung und das Wissen älterer Arbeitneh- Anträgen immer wieder vorschlagen. Wir brauchen viel- merinnen und Arbeitnehmer verzichten. (B) mehr bedarfsgerechte Antworten, Antworten, mit denen (D) auf die unterschiedlichen Lebensläufe eingegangen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird; denn immer noch schaffen es zu wenige Menschen der CDU/CSU) bis zur gesetzlichen Altersgrenze. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Deshalb haben wir das Rentenzugangsalter für beson- Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Peter Weiß, CDU/ ders langjährig Versicherte vorgezogen, was vor allem CSU-Fraktion. den Menschen hilft, die sehr früh ins Arbeitsleben einge- stiegen sind und in der Regel lange körperlich sehr hart (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gearbeitet haben. Deshalb haben wir mit unserem Ren- neten der SPD) tenpaket Verbesserungen bei der Erwerbsminderungs- rente vorgenommen. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Deshalb haben wir auch die Arbeitsgruppe „Flexible Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Übergänge in den Ruhestand“ eingesetzt. Uns Sozialde- Kollegen! Für die im parlamentarischen Raum, aber mokratinnen und Sozialdemokraten geht es in dieser Ar- auch in der Öffentlichkeit aktiven Miesmacher und beitsgruppe vor allem darum, das insgesamt in den ren- Schlechtredner in Sachen Rente ist leider eine schlechte tennahen Jahrgängen geleistete Arbeitsvolumen durch Zeit angebrochen, flexible Ausstiegsmöglichkeiten zu erhöhen. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Meinen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie Blüm? Norbert Blüm meinen Sie, oder wen?) Das dient nämlich nicht nur der Fachkräftesicherung, sondern das führt auch zu mehr Einkommen für die älte- und zwar aus folgendem Grund: Als wir das Rentenpa- ren Menschen, und es führt damit auch zu mehr Renten- ket der Großen Koalition beschlossen haben, das seit anwartschaften. dem 1. Juli in Kraft ist, ist uns prophezeit worden, nun werde es mit den Rentenfinanzen rapide abwärtsgehen. Hierfür wollen wir die Teilrente flexibler und attrakti- Das Gegenteil ist der Fall. Die Einnahmeentwicklung ver machen und die Hinzuverdienstmöglichkeiten ver- der gesetzlichen Rentenversicherung in diesem Jahr war bessern. Wir sind auch offen dafür, die Teilrente bereits so gut, dass wir nach den gesetzlichen Vorgaben zum vor dem 63. Lebensjahr zu ermöglichen, wenn die Vorfi- 1. Januar 2015 sogar eine Senkung des Rentenversiche- nanzierungskosten im Rahmen tariflicher Lösungen rungsbeitrags von 18,9 auf 18,7 Prozent vornehmen übernommen werden und insgesamt damit Modelle ge- müssen. Um es kurz und knapp zu sagen: Alle Negativ- 6962 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Peter Weiß (Emmendingen) (A) voraussagen haben sich als falsch erwiesen. Die Rente bis 65 bzw. 67 Jahre zu arbeiten und dabei gesund zu (C) steht besser da denn je. Das ist das Ergebnis. bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Um das zu können, brauchen wir dringend mehr Fle- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- xibilität. Verehrter Herr Kollege Kurth, die Arbeits- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr, sehr kurzsichtig gruppe „Flexi-Rente“, in der Kolleginnen und Kollegen gedacht! Wir sprechen uns 2018 wieder!) aus den beiden Koalitionsfraktionen beraten, ist nicht Die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages ist zur Schmerztherapie da, sondern dafür, in unserem Al- auch deswegen richtig, weil wir wissen, dass die Wachs- terssicherungssystem mehr Flexibilität für die Arbeit- tumsprognosen für das kommende Jahr etwas bescheide- nehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen, einen flexi- ner ausfallen, als man es ursprünglich gedacht hat. Des- bleren Übergang von der Berufstätigkeit in die Rente zu wegen ist eine finanzielle Entlastung der Arbeitgeber erreichen und damit vielen Arbeitnehmerinnen und Ar- wie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein zu- beitnehmern mehr individuelle Lebensgestaltung zu er- sätzlicher Wachstumsimpuls, und die Senkung des Ren- möglichen. Es ist nicht Aufgabe des Deutschen Bundes- tenversicherungsbeitrages führt im Folgejahr zu einer tages, zu sagen, wann Schluss mit Arbeit ist, wie es die deutlich besseren Rentenanpassung, sprich: Rentenerhö- Linke will. Vielmehr ist das eine individuelle Entschei- hung für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland. dung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Jeder soll so lange arbeiten können, wie er möchte, und dann Zweiter Miesmacherpunkt. Als wir ebenfalls in einer aufhören, wann er will. Wir wollen die Freiheit der Ar- Großen Koalition von CDU/CSU und SPD im Deut- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, selbst zu entschei- schen Bundestag beschlossen haben, die Regelalters- den, vergrößern. Das ist der Sinn von mehr Flexibilität. grenze in der gesetzlichen Rentenversicherung schritt- weise bis zum Jahr 2029 auf 67 Jahre anzuheben, ist in (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. diesem Hause und in der öffentlichen Debatte gedroht Birkwald [DIE LINKE]: Sie wollen, dass sie worden: Das wird eine gigantisches Rentenkürzungspro- bis 70 arbeiten! Das ist die Wahrheit!) gramm. Der Kollege Rosemann hat das schon vorgetragen: In (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ist es rentenrechtlicher Hinsicht gibt es die Möglichkeit der doch!) Teilrente. Ein Teilrentenbezug ab dem 63. Lebensjahr ist möglich. Allerdings handelt es sich hier um eine sehr Auch wir Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU- starre Regelung. Wir wollen durch Flexibilisierung die- Fraktion und, denke ich, auch in der SPD-Fraktion haben ser Regelung einen vielgestaltigen Teilrentenbezug er- uns bang gefragt: Werden wir es schaffen, die Beschäfti- möglichen und die Hinzuverdienstgrenzen erhöhen, (B) gung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so zu damit man Geld durch eine Teilzeittätigkeit hinzuverdie- (D) verbessern, dass die Rente mit 67 überhaupt erreichbar nen kann, ohne eine Rentenkürzung hinnehmen zu müs- ist? sen. Interessant ist, dass der Sozialbeirat, in dem Vertre- Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutsch- ter von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und der land, das damals, als wir diesen Beschluss gefasst haben, Wissenschaft am Tisch sitzen, in seiner Stellungnahme nicht gerade gut dastand, was die Beschäftigung älterer unseren Vorschlag zur Flexibilisierung der Teilrente ein- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anbelangt, hat es mütig begrüßt. geschafft, die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer deutlich zu steigern. Waren (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- wir früher in Europa eher unter den Schlusslichtern, sind NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Forde- wir heute zusammen mit Schweden Spitzenreiter in der rung von uns!) Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Das heißt, wir als Große Koalition beraten derzeit über nehmer. Die Erwerbstätigenquote bei den Älteren ist deut- etwas, bei dem Sozialpartner und Wissenschaft hinter lich gestiegen. Lag sie im Jahr 2000 noch bei 20 Prozent, uns stehen. so hat sie nun die Marke von fast 50 Prozent erreicht. Kollege Karl Schiewerling hat eingangs an 125 Jahre All das, was als Miesmacherei in der öffentlichen De- Rentenversicherung erinnert. Sie ist damals gestartet mit batte zur Rente mit 67 vorgetragen wird, stimmt nicht. einer Regelaltersgrenze von 70 Jahren. Die allerwenigs- Ja, wir haben die Kehrtwende geschafft. Die Beschäfti- ten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben diese gungsquote älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Regelaltersgrenze jemals erreicht. Sie haben also von mer geht Gott sei Dank nach oben. Das ist ein großarti- ihren Rentenversicherungsbeiträgen überhaupt nichts ger Erfolg. gesehen. Was für ein Unterschied zu heute! Heute errei- (Beifall bei der CDU/CSU) chen die allermeisten Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer das Renteneintrittsalter. Das Erfreuliche ist: Eine Ich will gerne selbstkritisch hinzufügen, dass uns das steigende Lebenserwartung sorgt dafür, dass sie länger nicht reicht. Wir müssen in den kommenden Jahren Rente beziehen als jemals eine Generation zuvor. Wir selbstverständlich unsere Anstrengungen bei altersge- wollen, dass die Rente auch in Zukunft stark und kräftig rechten Arbeitsplätzen, Gesundheitsförderung und Prä- ist und für eine gute Altersversorgung in Deutschland vention verstärken. Wir werden demnächst den Entwurf sorgt. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. eines Präventionsgesetzes im Deutschen Bundestag be- raten. Wir wollen den Menschen die Perspektive geben, Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6963

Peter Weiß (Emmendingen) (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- biografien, das ist, glaube ich, der richtige Weg, den wir (C) neten der SPD) dort eingeschlagen haben. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dagmar Insofern haben wir auch – das Thema Prävention ist Schmidt, SPD-Fraktion. angesprochen worden – die Umsetzung einer Anti- Stress-Verordnung in unser Regierungsprogramm ge- (Beifall bei der SPD) schrieben, und wir warten jetzt gemeinsam auf die Er- gebnisse der Forschungen zur psychischen Gefährdung Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): am Arbeitsplatz an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Arbeitsmedizin. Wir werden, wenn die Ergebnisse und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe vorliegen, dieses Thema erneut aufgreifen. Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, Wir werden – Herr Weiß hat es angesprochen – natür- danke für die Gelegenheit, über das, was wir in diesem lich auch im Präventionsgesetz einen besonderen Wert Jahr über das Rentenpaket hinaus geleistet haben, zu re- darauf legen, die Rahmenbedingungen für die betriebli- den. Sie haben es auch geschafft, uns ein bisschen dazu che Gesundheitsförderung durch mehr Geld und bessere zu verleiten, etwas aus der Arbeitsgruppe zu den flexi- Verbindlichkeit zu verbessern. blen Übergängen zu berichten. (Beifall bei der SPD) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber wir diskutieren in der AG „Flexible Übergänge – Ihnen ist das gestern in der Fragestunde nicht so gut in den Ruhestand“ noch mehr als das. Wie Sie in Ihrem gelungen. Der Antrag der Linken war ein bisschen klü- Antrag richtig schreiben, steigen die Qualifizierungs- ger. anforderungen, und die lebenslange Beschäftigung in ei- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) nem Betrieb wird mehr und mehr zur Ausnahme. Aber uns reicht es nicht – das ist das, was Sie fordern –, die Die Lage wird richtig beschrieben. Zum einen haben Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten nur wir eine steigende Erwerbstätigkeit bei älteren Men- zu stärken. Wir wollen ein Recht auf Qualifizierung und schen – das ist gut und richtig so –; aber wir können Weiterbildung, wenn es aus Sicht der Erwerbsbiografie noch lange nicht zufrieden sein mit 30 Prozent sozialver- heraus notwendig ist. sicherungspflichtiger Beschäftigung bei Menschen zwi- schen 60 und 64 Jahren. Unser Ziel als SPD ist es, Ar- Es gibt zahlreiche Berufe – nicht nur den des Dachde- (B) beitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesund und in ckers oder des Gerüstbauers, sondern auch den der Al- (D) Vollzeit bis zur Regelaltersgrenze arbeiten zu lassen und tenpflegerin oder der Erzieherin –, die man nach vielen ihnen damit auch ein gutes Auskommen im Alter zu si- Jahren Berufstätigkeit nur noch in den seltensten Fällen chern. ohne gesundheitliche Einschränkung mit 60 ausüben kann. Aber das weiß man nicht erst, wenn man 60 ist; (Beifall bei der SPD) das weiß man bereits lange vorher. Wenn man dann 60 Unser Ziel ist es nicht, die Menschen mit 60 in Rente zu ist und die Gesundheit ramponiert ist, dann ist der Zeit- schicken, und unser Ziel ist es auch nicht, dass Men- punkt, sich noch einmal sinnvoll umzuorientieren, schen ein gutes Auskommen im Alter erst dadurch erlan- vorbei. Deswegen wollen wir auch Frau Klein aus Dort- gen, dass sie über die Regelaltersgrenze hinaus arbeiten. mund die Möglichkeit geben, bereits mit 50 die berufli- chen Weichen neu zu stellen. (Beifall bei der SPD) Die Idee – wir haben sie einmal „Ü-50-Check-up“ ge- Wir wollen durch Prävention, Arbeits- und Gesund- nannt – sieht im Detail Folgendes vor: Wir wollen ein heitsschutz, Qualifikation und Weiterbildung die Men- Recht für jeden Erwerbstätigen und jede Erwerbstätige, schen gesund ins Rentenalter bringen, und wir wollen der oder die das 51. Lebensjahr erreicht hat, eine indivi- durch Ordnung am Arbeitsmarkt und gerechte Löhne die duelle Arbeitslaufbahnprognose durch die Agentur für Voraussetzungen für ein gutes Auskommen im Alter Arbeit zu bekommen. Diese Prognose umfasst die Er- schaffen. Vieles davon – bessere Löhne, stärkere Tarif- werbsbiografie, die berufliche Qualifikation, die bisheri- bindung – haben wir bereits im Tarifpaket verwirklicht. gen psychischen und physischen Belastungen und bishe- Ich glaube, damit haben wir die richtigen Weichen ge- rige Erkrankungen genauso wie individuelle Wünsche stellt, was Auswirkungen auf die Rente haben wird. und Vorstellungen, wie sich das Arbeitsleben weiter ge- stalten kann. Aufgrund dieser Prognose werden Maß- Außerdem haben wir im Rentenpaket die richtigen nahmen vorgeschlagen, die den Erwerbsverlauf positiv Weichen gestellt. Wir haben mehr Geld in das Rehabud- beeinflussen können. Aus den vorgeschlagenen Maßnah- get gesteckt – ein wichtiger Beitrag für Gesundheits- men resultiert für den Arbeitnehmer oder die Arbeitneh- schutz und Prävention –, und wir haben mit der Rente merin ein individuelles Recht auf die entsprechende För- mit 63 für langjährig Versicherte einen Schritt getan, be- derung. sonders die Berücksichtigung und die Betrachtung der individuellen Erwerbsbiografien in den Fokus zu neh- Wie Sie sehen, gehen wir nicht den einfachen Weg men. Gesundheitsschutz, Prävention am Arbeitsplatz – ab in die Rente –, sondern den schwierigen Weg, den und die individuelle Betrachtung der einzelnen Erwerbs- Menschen passgenaue und individuelle Hilfestellung zu 6964 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (A) geben, um das Rentenalter gesund im Beruf zu errei- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die (C) chen. Goethe sagte: Möglichkeit geben!) Das Menschenleben ist seltsam eingerichtet: Nach Das hört sich im ersten Moment sehr gut an; denn es gibt den Jahren der Last hat man die Last der Jahre. Menschen, die früher in Rente gehen wollen. Wer will das nicht? Auf der anderen Seite gibt es Menschen – das Wir wollen beide Lasten mildern: gesund arbeiten bis belegen Umfragen; das ist ein nicht unbeträchtlicher Per- zur Rente und mit der Rente ein gutes Auskommen im sonenkreis –, die sogar über das 65. Lebensjahr hinaus Alter. arbeiten wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine sehr verehrten Damen und Herren, viele Unter- der CDU/CSU) nehmer haben längst erkannt, wie wichtig die Erfahrung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist – um Vizepräsidentin Ulla Schmidt: auch dieses Thema anzuschneiden –, und behalten sol- Vielen Dank. – Matthäus Strebl ist jetzt der nächste che Beschäftigten oder stellen sogar solche Menschen Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ein. In Bayern zum Beispiel – um auf mein Heimatland zu kommen – gibt es bereits 19 000 Arbeitnehmer (Beifall bei der CDU/CSU) zwischen 65 und 69 Jahren – und das, so habe ich mir berichten lassen, mit steigender Tendenz. Matthäus Strebl (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Im Koalitionsvertrag heißt es, dass immer mehr Be- Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen An- triebe ihre Belegschaften auch im höheren Alter beschäf- trag der Fraktion Die Linke, tigen wollen. Weiter heißt es darin – ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag –: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Guter Antrag!) Deswegen wollen wir, wie auch im Arbeitsmarkt, in der Rente Anreize setzen, damit möglichst viele die wieder einmal fordert, von der Rente mit 67 Ab- Menschen bei guter Gesundheit möglichst lange im schied zu nehmen. Bei der Beratung dieses Tagesord- Erwerbsleben bleiben und über ihre Steuern und nungspunktes möchte ich kurz den Blick in die jüngere Sozialbeiträge die finanzielle Basis unserer Alters- Vergangenheit richten, und zwar auf die Entwicklung sicherungssysteme stärken. des Renteneintrittsalters. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz zum Seit Beginn des Jahres 2012 konnten Beschäftigte mit flexiblen Renteneintrittsalter kommen. Auf der einen (B) Erreichen des 65. Lebensjahres bei 45 Beitragsjahren Seite können flexible Übergänge vielleicht Fachkräfte- (D) ohne die sonst fälligen Abschläge in Rente gehen. Im engpässe mindern. Auf der anderen Seite aber bergen sie Juli dieses Jahres haben wir, die Große Koalition, die die Gefahr in sich, neue Frühverrentungen zu fördern. Möglichkeit geschaffen, das bereits mit 63 Jahren zu tun. Eine Teilrente ab 60 Jahren wäre beispielsweise ange- Bis Ende Oktober lagen dazu 163 000 Anträge vor. sichts der demografischen Entwicklung ein völlig ver- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zur fehltes Signal an die Wirtschaft und die Gesellschaft. Wahrheit gehört aber auch: Es geht um Menschen, die die Wirtschaft dringend benötigt, die ihr fehlen und die Ich darf ein Wort des früheren Bundeswirtschafts- nicht zuletzt auch als Beitragszahler für die Rentenversi- ministers Wolfgang Clement zitieren, der sich im cherung ausfallen. vergangenen Jahr ausdrücklich dafür ausgesprochen hat, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tung zu koppeln. So könne, so Clement, ein Teil der hinzugewonnenen Lebensjahre aktiv am Arbeitsmarkt Inzwischen gibt es Forderungen – das möchte ich bei verbracht werden. Wolfgang Clement ist sicher ein un- dieser Diskussion auch sagen; das ist konträr zu dem An- verdächtiger Zeuge, wie Sie mir zugestehen werden. trag der Linksfraktion –, das Eintrittsalter sogar auf 70 Jahre festzulegen. In der Europäischen Union gibt es (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der ist verschiedene Vorschläge aus den verschiedensten Län- verdächtig! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn dern: 72 Jahre, 68 Jahre, 70 Jahre. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, sehr (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Arbeiten, bis verdächtig!) wir halbtot sind!) Demgegenüber stellen Sie von der Fraktion Die Linke Es gibt auch die Forderung eines EU-Kommissars. einige unhaltbare Forderungen auf, (Zurufe von der LINKEN) (Zuruf des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE]) – Ich berichte ja nur, damit Sie die Bandbreite sehen. – Es gibt zum Beispiel auch die Forderung des Bundesins- die zeigen, dass Ihre Stärken jedenfalls nicht in der Wirt- tituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. – Das schaftspolitik liegen. Sie wenden sich gegen die Teilzeit, wollen wir nicht; um das gleich vorwegzusagen. und Sie wollen schließlich Versicherten mit 40 Beitrags- jahren ab Vollendung des 60. Lebensjahres den ab- Andere – dazu zählt die Fraktion Die Linke – wollen, schlagsfreien Zugang zu einer Altersrente gewähren. – dass man ab 60 Jahre in die Rente gehen kann. So steht es auf Seite 4 Ihres Antrags. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6965

Matthäus Strebl (A) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, ja! Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist Fritz (C) Guter Antrag!) Güntzler, CDU/CSU-Fraktion. Ich frage mich da schon: Ist das eine verantwortungs- (Beifall bei der CDU/CSU) volle Politik im Angesicht der demografischen Entwick- lung? Fritz Güntzler (CDU/CSU): (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Natürlich!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute beraten wir Ich meine, das ist nicht der Fall. in zweiter und dritter Lesung den Entwurf eines Geset- Was würde das Ganze kosten? 33 Milliarden Euro zes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zoll- sind derzeit in der gesetzlichen Rentenversicherung. kodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Aufgrund der hervorragenden wirtschaftlichen Entwick- Vorschriften, das sogenannte Zollkodex-Anpassungs- lung und der hohen Zahl von Beschäftigten war das gesetz. Welch schöner Name! Früher haben wir einfach möglich. Aber man muss auch sagen: Durch Ihre Politik „Jahressteuergesetz“ gesagt. wäre dieses Guthaben schnell aufgebraucht. Neben den Änderungen der Abgabenordnung dient Es ist der Vorzug der Opposition, in diesem Fall der das Gesetz der Anpassung des Steuerrechts an Recht und Linksfraktion, unhaltbare Forderungen erheben zu kön- Rechtsprechung der Europäischen Union sowie der nen, ohne jemals in Verantwortung gebracht zu werden. Umsetzung von Rechtsanpassungen in verschiedenen Nach diesem Muster sind Sie auch hier verfahren. Sie Bereichen des deutschen Steuerrechts. Es geht dabei um werden sicherlich von mir erwarten, dass ich Ihren technische Änderungen, notwendige Klarstellungen, Antrag für die CDU/CSU-Fraktion ablehne. Ich will Sie aber auch um materielle Regelungen. nicht enttäuschen und bitte das Hohe Haus, diesen Der Regierungsentwurf sah zunächst 33 Änderungen Antrag der Linken als unrealistisch und populistisch zu- des Steuerrechts vor. Die Länder haben dann über den rückzuweisen. Bundesrat in ihrer Stellungnahme kurzfristig immerhin Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. weitere 58 Maßnahmen eingefordert, zum Teil Regelun- gen mit erheblichen steuerlichen Auswirkungen. In den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Beratungen haben wir uns mit jedem einzelnen Punkt neten der SPD) beschäftigt. Aber eine sorgfältige Prüfung aller Forde- rungen der Länder war in dieser knappen Zeit nicht mög- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: lich. Gerade in der Steuergesetzgebung muss der Grund- (B) Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. satz gelten: Sorgfalt vor Eile. (D) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (Beifall bei der CDU/CSU) den Drucksachen 18/3312, 18/3260, 18/3261 (neu) und Steuerpolitik macht man nicht im Schweinsgalopp. Die 18/3387 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- Auswirkungen der jeweiligen Gesetzesregelungen müs- schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – sen genau betrachtet werden. Schnellschüsse können Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen ziemlich danebengehen und erhebliche Schäden anrich- so beschlossen. ten. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Na ja, das war jetzt aber echt kein Schnell- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- schuss!) zes zur Anpassung der Abgabenordnung an Auch hätten die Steuerpflichtigen kaum oder eigent- den Zollkodex der Union und zur Änderung lich gar keine Zeit gehabt, sich auf die umfangreichen weiterer steuerlicher Vorschriften Rechtsänderungen einzustellen. Darum haben wir einige Drucksachen 18/3017, 18/3158 Änderungswünsche des Bundesrates nicht erfüllt. Diese Vorschläge bedürfen weiterer Beratungen und ihre Um- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- setzung eines gewissen zeitlichen Vorlaufs. ausschusses (7. Ausschuss) (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Drucksache 18/3441 So ist es!) – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Wir werden uns mit den unberücksichtigten Anträgen im gemäß § 96 der Geschäftsordnung nächsten Jahr beschäftigen. Diese Beratungen wollen Drucksache 18/3442 wir möglichst im ersten Halbjahr 2015 zum Abschluss bringen. Denn Steuergesetze sollten zeitlich möglichst Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion so beschlossen werden, dass sich sowohl die Steuer- Bündnis 90/Die Grünen vor. pflichtigen als auch deren Berater rechtzeitig auf die Än- derungen vorbereiten können. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. neten der SPD) 6966 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Fritz Güntzler (A) Meine Damen und Herren, in der Koalition haben wir haben wir die Mindestdauer auf zwölf Monate gesenkt. (C) uns nach umfangreichen Beratungen auf nunmehr Dies ist, wie ich finde, eine gute und praktikable Lösung. 16 Änderungen verständigt. Dabei sind insbesondere die zeitkritischen Forderungen des Bundesrates berücksich- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tigt worden. Aufgrund der knappen Zeit möchte ich nur Auch bei der Besteuerung von geldwerten Vorteilen einige Maßnahmen benennen: im Rahmen von Betriebsveranstaltungen haben wir den Wir stellen rückwirkend den sogenannten INVEST- Regierungsentwurf durch einen gemeinsamen Ände- Zuschuss für Wagniskapital steuerfrei. Es macht keinen rungsantrag angepasst. Hier greifen wir insbesondere die Sinn, dass Zuschüsse aus Steuermitteln als Betriebsein- im Rahmen der öffentlichen Anhörung geäußerten nahmen wiederum versteuert werden müssen und sich Bedenken und Anregungen auf. Das Wichtigste ist: Die somit im Ergebnis vermindern. Mit der Steuerfreistel- bisherige Freigrenze in Höhe von 110 Euro wird durch lung werden wir das Programm – so hoffen wir jeden- einen Freibetrag in gleicher Höhe ersetzt. Dies ist eine falls – noch attraktiver machen und mehr Beteiligungs- lang erhobene Forderung der Praxis und ein wichtiges kapital aktivieren. Meine Damen und Herren, wir Signal; denn das Thema Betriebsveranstaltungen – das brauchen einen neuen Gründergeist in Deutschland. Dies kann ich Ihnen aus meiner beruflichen Praxis erzählen – muss auch das Steuerrecht begleiten. war ständiges Streitthema in den Betriebsprüfungen, da 1 Euro mehr bei einer Freigrenze bedeutet, dass sofort (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) die volle Besteuerung einsetzt und der Fallbeileffekt eintritt. Wir sind nun zu einer moderateren Lösung, die Darum sage ich: Auch neben der Steuerfreistellung zu einer Befriedung von sehr vielen Betriebsprüfungen des INVEST-Zuschusses werden wir hinsichtlich des führen wird, gekommen. Insgesamt halte ich dies für Erhalts von Verlustvorträgen prüfen müssen, ob eine eu- eine gute Lösung, auch für die Arbeitnehmer. roparechtskonforme Lösung für junge innovative Unter- nehmen möglich ist. Darüber hinaus sollten wir – ich Im Ausschuss wurde vorgetragen, da würde ja alles weiß, das ist umstritten – auch auf die Einführung einer besteuert. – Herr Pitterle, für den Fall, dass Sie es nach- Steuerpflicht für Veräußerungsgewinne bei Streubesitz- her wieder sagen, möchte ich schon jetzt darauf hinwei- dividenden verzichten. sen, dass in fast allen Fällen pauschal besteuert wird, sodass der Arbeitnehmer überhaupt nicht betroffen ist, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sondern sich an der Betriebsveranstaltung einfach er- Dies werden wir aber, so vereinbart, bei der anstehenden freuen kann. Reform des Investmentsteuergesetzes noch einmal er- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Zu- gebnisoffen beraten. (B) ruf von der CDU/CSU: Sehr gut! Eine sehr (D) Mit der Einführung der Steuerfreiheit für Leistungen gute Lösung!) des Arbeitgebers für Serviceleistungen im Rahmen der Des Weiteren passen wir das erst im Kroatien-Gesetz Betreuung von Kindern und zu pflegenden Angehörigen eingeführte Reverse-Charge-Verfahren für Metalle an wird ein weiterer wichtiger Beitrag für die Verbesserung und führen eine Bagatellgrenze in Höhe von 5 000 Euro der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geleistet. Ne- ein. Wir haben auch den Leistungskatalog reduziert, um ben den Beratungs- und Vermittlungsleistungen kann der eine praktische Lösung zu finden. Arbeitgeber nunmehr auch die Kosten für die Betreuung von Kindern und zu pflegenden Angehörigen, die kurz- Außerdem schaffen wir einen sogenannten Schnellre- fristig aus zwingenden beruflich veranlassten Gründen aktionsmechanismus im Umsatzsteuerrecht. Er ermög- entstehen, steuerfrei ersetzen. licht es, schnell und kurzfristig auf betrügerische Handlungen zu reagieren. So kann die Umkehr der Steu- Wir haben uns weiter mit der Definition der Kriterien erschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger bei einer für die Erstausbildung in § 9 des Einkommensteuerge- Mehrzahl von Fällen des Verdachts auf Steuerhinterzie- setzes aufgrund eines BFH-Urteils beschäftigt. Bisher, hung zeitlich beschränkt erweitert werden – ein wirksa- so die BFH-Richter, war der Begriff der Erstausbildung mer Beitrag gegen den Umsatzsteuerbetrug. nicht hinreichend geklärt. Dies ist aber notwendig, da wir uns als Gesetzgeber entschieden haben, die Erstaus- Meine Damen und Herren, das waren nur einige Bei- bildung der privaten Lebensführung zuzuordnen und spiele der Neuregelungen, die wir heute mit dem Gesetz somit keinen Betriebsausgaben- bzw. Werbungskosten- treffen. Ich hatte bereits erwähnt, dass wir weitere Dinge abzug zuzulassen. Bei einer anschließenden Ausbildung beraten werden, die auch vom Bundesrat aufgerufen ist dies dann wiederum möglich. Es kam somit – wie im- worden sind. Es geht um die Neutralisierung der Effekte mer im Leben – zu Umgehungen. So wurden vor dem hybrider Gestaltung. Dazu sage ich Ihnen aber deutlich: Erststudium zum Beispiel „Ausbildungen“ als Taxifah- Wir sollten dort auf eine internationale Lösung im Rah- rer oder Skilehrer gemacht. men des BEPS-Projektes setzen und keine nationale Lösung präferieren. Von daher sollten wir uns die Zeit Es war also notwendig, eine neue Definition zu fin- nehmen, abzuwarten, was beim OECD-Verfahren he- den. Wir haben das an der Dauer der Ausbildung festge- rauskommt. macht. Der Gesetzentwurf sah zunächst eine Dauer von 18 Monaten vor. Aber um auch kürzere Ausbildungen, Wir werden, wie angekündigt, über die künftige Be- wie zum Beispiel als Helferin bzw. Helfer im Gesund- steuerung von Streubesitzdividenden und von Veräuße- heits- und Sozialwesen nicht unberücksichtigt zu lassen, rungsgewinnen aus Streubesitzbeteiligungen sprechen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6967

Fritz Güntzler (A) Wir werden uns auch über Änderungen im Bewertungs- desregierung vorgelegt werden soll. Ich bin mir sicher (C) gesetz unterhalten. – so viel Vertrauen habe ich in die Bundesregierung –, dass die entsprechenden gesetzgeberischen Initiativen ( [Heidelberg] [SPD]: Schnel- ergriffen werden, sodass Aktionismus in Bezug auf die- ler wäre besser gewesen, ehrlich gesagt!) ses Gesetz nicht notwendig ist. Insbesondere wenn das Bundesverfassungsgericht sein (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Urteil zur Erbschaftsteuer am 17. Dezember verkündet Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hat, wird es unter Umständen Änderungsbedarf geben, NEN]: Grün wirkt!) und dann werden wir uns vielleicht auch die Bewer- tungsfragen anschauen müssen. Wir werden uns auch – Lassen Sie mich zusammenfassen. das ist der Wunsch der Länder und unseres Koalitions- partners – mit dem § 20 des Umwandlungssteuergeset- Vizepräsidentin Petra Pau: zes beschäftigen. Ich bitte nur darum, dass wir das mit Kollege Güntzler, schaffen Sie das in einem Satz? Sie Augenmaß tun. Das Umwandlungssteuerrecht soll Um- sind leider weit über der Redezeit. strukturierungen von Unternehmen steuerneutral ermög- lichen, damit man auf neue Situationen reagieren kann. Wir sollten hier das Kind nicht mit dem Bade ausschüt- Fritz Güntzler (CDU/CSU): ten und eine schlechtere Lösung für die deutsche Wirt- Dann bedanke ich mich bei allen, die an diesem Ge- schaft, insbesondere auch für den Mittelstand, schaffen, setzgebungsverfahren mitgewirkt haben, sowohl bei den wie wir es ja schon beim § 50 i EStG, den ich in diesem Kolleginnen und Kollegen für die konstruktive Debatte Zusammenhang auch noch erwähnen möchte, getan ha- als auch bei den Mitarbeitern des Bundesfinanzministe- ben. Es wäre mein dringender Wunsch an den Koali- riums, die uns immer geholfen haben. tionspartner, dass wir auch über den § 50 i und die An- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. passung dieser Regelung noch einmal reden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein! Der ist gut gelungen! Den sollte man so las- sen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Richard Pitterle für die – Ja, Herr Binding, das habe ich ja befürchtet. Darum Fraktion Die Linke. habe ich es ja noch einmal aufgenommen. (Beifall bei der LINKEN) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir wol- (D) (B) len keine Schlupflöcher mehr!) Richard Pitterle (DIE LINKE): Herr Binding, ich war ja ganz froh, als ich am letzten Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- Freitag die FAZ gelesen habe, der der nordrhein-westfä- ginnen und Kollegen! Liebe Wehrpflichtige auf der Tri- lische Finanzminister Walter-Borjans gesagt hat, er sei büne! auch der Auffassung, dass eine Anpassung erfolgen (Manfred Zöllmer [SPD]: Wir haben keine müsse. Von daher hoffe ich, dass dieser Geist auch in der Wehrpflichtigen mehr!) SPD-Fraktion hier im Hohen Hause ankommt. Weihnachten steht vor der Tür. Mit dem vorliegenden (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Anpas- Gesetz haben Sie den Steuerpflichtigen auch ein Ge- sung kann auch Verschärfung heißen! Aber schenk gemacht. Es ist schön verpackt unter dem mär- wir wollen es einfach einmal so lassen!) chenhaften Titel: „Gesetz zur Anpassung der Abgaben- Wir haben jedenfalls eine überschießende Wirkung, ordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung die wir damals, als wir das sogenannte Kroatien-Gesetz weiterer steuerlicher Vorschriften“. Zu der Frage, warum beschlossen haben, nicht erkannt haben; das müssen wir Sie das nicht als Jahressteuergesetz verpacken, habe ich zugeben. Auch die Sachverständigen haben diese nicht eine Vermutung. Aber dazu komme ich später. erkannt. Es gibt reine Inlandssachverhalte, die zu einer Wenn man das Geschenk öffnet, stößt man erst auf Besteuerung führen können. Es gibt auch Sachverhalte, positive Überraschungen – Klammer auf: hätte ich Ihnen in denen es zu Erbschaften oder Schenkungen kommt gar nicht zugetraut; Klammer zu –: Gut ist zum Beispiel, und bei denen das Steuersubstrat in Deutschland bleibt, dass Sie einen Schnellreaktionsmechanismus bei der Um- die zu negativen steuerlichen Folgen führen. Von daher satzsteuer einführen, um künftig auch kurzfristig auf be- wollten wir auch den § 50 i EStG aufgreifen. trügerische Karussellgeschäfte und dergleichen reagieren Meine Damen und Herren, abschließend noch eine zu können. Gut ist auch die Änderung der Definition des kurze Anmerkung zum Entschließungsantrag der Grü- Begriffes „Geschäftsbeziehung“ im Außensteuergesetz. nen. Die Grünen fordern die Bundesregierung auf, das Grenzüberschreitende Gewinnverschiebungen, die zum steuerliche Existenzminimum für Kinder 2014 bzw. Ziel haben, einer Besteuerung zu entgehen, können nun 2015 an die verfassungsrechtlich gebotenen Anforderun- leichter bekämpft werden. Zudem ist es lobenswert, dass gen anzupassen und das Kindergeld entsprechend zu Sie ein Einsehen bei den geplanten Kriterien zur Defini- erhöhen. Bereits im Ausschuss ist von Herrn Staatsse- tion einer beruflichen Erstausbildung hatten und die kretär Meister bekannt gegeben worden, dass noch in Mindestausbildungsdauer von 18 auf 12 Monate herab- diesem Jahr ein neuer Existenzminimumbericht der Bun- gesetzt haben, sonst wäre nämlich zum Beispiel die Aus- 6968 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Richard Pitterle (A) bildung zur Krankenpflegerin oder zum Altenpfleger derzeitige Kinderfreibetrag nicht die verfassungsrecht- (C) steuerlich nicht als Erstausbildung anerkannt worden. lich gebotene steuerliche Freistellung des sächlichen Existenzminimums von Kindern. Er liegt 72 Euro darun- (Manfred Zöllmer [SPD]: Dann könnt ihr ja ter. Für Familien mit niedrigen Einkommen sind das zustimmen!) keine Peanuts. Es darf nicht sein, dass zum Beispiel Geld Damit wäre die Freude am Geschenk auch schon vor- für Schulhefte oder für ein gesundes Mittagessen fehlt. bei. Meine Vermutung ist, dass Sie die Verpackung „Jah- Das ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und gehört ressteuergesetz“ nicht gewählt haben, weil Sie verschlei- durch eine Anpassung des Betrages schnellstens geän- ern wollen, dass Sie wieder einmal viele Änderungen dert. auslassen, die ein Jahressteuergesetz eigentlich mit sich (Beifall bei der LINKEN) bringen sollte. In diesem Entwurf wäre die Gelegenheit dazu gewesen. (Dr. h. c. [CDU/CSU]: Jetzt Doch was machen Sie von der Bundesregierung? Wieder wird es aber bunt!) nichts. Sie können sich sicher sein, die Fraktion Die Ich will Ihnen einmal drei Punkte nennen, die Sie hät- Linke wird Ihnen auch weiterhin auf die Finger klopfen, ten berücksichtigen müssen. wenn Sie sich nicht endlich wenigstens an das halten, was die Verfassung unseres Landes als Minimum vor- Erstens: die Bekämpfung von Steuervermeidung. Hier gibt. wurde einiges in den Beratungen zum Gesetzentwurf an- gesprochen, zum Beispiel die sogenannten hybriden Drittens: die Altersvorsorge. Mit dem Entwurf soll Steuergestaltungen, bei denen grenzüberschreitend tätige bei der Einkommensteuer die Höchstgrenze des Absetz- Unternehmen steuerrechtliche Unterschiede zwischen betrages von 20 000 Euro für eine Basisversorgung im einzelnen Ländern nutzen, um eine Nichtbesteuerung Alter an den Höchstbeitrag zur knappschaftlichen Ren- oder einen doppelten Betriebsausgabenabzug zu errei- tenversicherung gekoppelt werden. Das entspricht der- chen. zeit einer Anhebung auf über 22 000 Euro. Damit sind zum einen Steuerausfälle in zweistelliger Millionenhöhe Oder nehmen wir die Steuerfreistellung von Veräuße- verbunden, zum anderen handelt es sich hierbei um eine rungsgewinnen aus Streubesitzbeteiligungen nach dem Steuerentlastung für wenige Besserverdienende, von der Körperschaftsteuergesetz. Hier eröffnet die unterschied- die Mehrheit der Bevölkerung nichts hat. liche Besteuerung von Dividendenerträgen auf der einen Ich bin mit der Aufzählung dessen, was in Ihrem Ent- und Veräußerungsgewinnen auf der anderen Seite steuer- wurf versäumt oder falsch gemacht wurde, noch nicht lichen Gestaltungsspielraum. Klingt alles kompliziert, ist am Ende, leider aber fast am Ende meiner Redezeit. (B) aber im Ergebnis immer denkbar einfach: Große Unter- (D) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, die nehmen nutzen Schlupflöcher und Gestaltungsmöglich- positiven Überraschungen Ihres Geschenks reichen lei- keiten, um kräftig Steuern zu sparen, während die vielen der nicht aus, um Ihren Entwurf zustimmungsfähig zu ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, wie die machen. Daher wird sich die Linke enthalten. Versicherungsangestellte oder der Bäckermeister von ne- benan, sich fragen, in welche Taschen die teils riesigen (Manfred Zöllmer [SPD]: Schade!) Gewinne der Unternehmen eigentlich wandern. Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, se- Vizepräsidentin Petra Pau: hen dabei einfach zu, und das lassen wir Ihnen so nicht durchgehen. Kollege Pitterle, die Ankündigung des Schlusses er- setzt ihn nicht. Kommen Sie bitte zum Schluss. (Beifall bei der LINKEN) Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme dazu Richard Pitterle (DIE LINKE): geraten, diese Schlupflöcher mit dem vorliegenden Ent- Sie haben bei teils guten Ansätzen leider wieder ein- wurf zu schließen. Von dringendem gesetzgeberischen mal zu viel ausgelassen, um wirklich etwas zu bewegen. Handlungsbedarf zur Vermeidung von Steuerausfällen Das scheinen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von war die Rede. Doch was machen Sie, meine Damen und den Grünen, auch so zu sehen, zumindest greift Ihr Ent- Herren von der Regierungskoalition? Nichts. Und das ist schließungsantrag einige dieser Punkte ebenfalls auf. schlecht. Diesem werden wir daher zustimmen. Mit Verlaub, es ist nicht sonderlich glaubhaft, wenn Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Sie nun an anderer Stelle mit breiter Brust behaupten, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Sie würden ja ach so entschlossen gegen Steuervermei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dung vorgehen. Ich finde, da hilft Ihnen auch Ihr ständi- ger Verweis auf die internationale BEPS-Initiative zur Bekämpfung von Steuervermeidung nichts; denn wenn Vizepräsidentin Petra Pau: es um wirksame Maßnahmen auf nationaler Ebene geht, Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Jens kommt bei Ihnen nur heiße Luft. Zimmermann das Wort. Zweitens: der Kinderfreibetrag. Laut dem Neunten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Existenzminimumbericht aus dem Jahr 2012 erfüllt der der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6969

(A) Dr. Jens Zimmermann (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und neten der SPD) Kollegen! Wir beraten heute abschließend das Jahres- Es wurde auch über die Besteuerung von Betriebsver- steuergesetz 2015. Es ist eine Herausforderung, ein anstaltungen gesprochen. Auch das ist hitzig diskutiert Gesetzgebungsverfahren mit mehr als hundert vorge- worden. Ich finde, das kann man verstehen. In vielen Be- schlagenen Maßnahmen, die inhaltlich nicht zusammen- trieben, auch hier im Deutschen Bundestag, finden mo- hängen, als Berichterstatter zu betreuen. Dennoch dürfte mentan die Weihnachtsfeiern statt. Es war nie unsere In- jedem klar sein, dass auch diese kleinen steuerlichen Än- tention oder die Intention der Bundesregierung, diese derungen und Anpassungen in der Realität große Aus- Betriebsfeiern unmöglich zu machen. Deswegen ist es wirkungen haben können. gut, dass wir von der Freigrenze zum Freibetrag gekom- Da es noch keiner gemacht hat, will ich etwas zum men sind, dass wir bei den Gemeinkosten präziser ge- Namensgeber dieses Gesetzes sagen, nämlich zur An- worden sind, dass die Reisekosten da jetzt ausgeklam- passung des Zollkodexes; ich finde, das sollte zumindest mert werden. Die Botschaft, die wir aussenden können, der Form halber geschehen. Die EU-Rahmenverord- lautet: Die Weihnachtsfeiern und alle anderen Feiern, die nung, die den Zollkodex der Union neu regelt, dient der in den kommenden Jahren in Unternehmen geplant sind, Modernisierung des EU-weiten Zollwesens. Deshalb ist können stattfinden. Das ist eine Maßnahme vor allem im es gut, dass die deutsche Abgabenordnung mit diesem Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Gesetz an den Zollkodex der Europäischen Union ange- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) passt wird. Auch in deren Interesse ist es, dass wir uns darauf ge- Der größte Teil des Gesetzes enthält eine Reihe re- einigt haben, die sogenannte 44-Euro-Freigrenze für daktioneller Änderungen quer durch das deutsche Steu- Gutscheine so beizubehalten, wie sie ist. 44 Euro sind errecht, die eigentlich politisch unstrittig sind. Schließ- für die Topmanager, über die wir heute reden und die lich werden Empfehlungen des Bundesrechnungshofs große Boni bekommen, nichts. Aber für jemanden, der berücksichtigt und viele Besteuerungsverfahren am Ende jeden Tag hart arbeitet und ein kleines Einkommen hat, vereinfacht. Ich werde nicht auf jeden Änderungsvor- sind 44 Euro etwas. Deswegen finden wir es richtig, dass schlag eingehen können, will aber trotzdem betonen: Bei es bei der Praxis bleibt, dass diese wie bisher zu den vielen dieser Maßnahmen handelt es sich um wichtige Sachbezügen gezählt werden und es da keine Verschlech- Änderungen, die den Finanzbeamtinnen und Finanzbe- terung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer amten in den Verwaltungen ihre wichtige Arbeit erleich- gibt. tern und Bürokratie abbauen werden; das muss man an (B) dieser Stelle einmal betonen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) (Beifall bei der SPD) Einen Punkt will ich herausgreifen, weil ich auch Be- richterstatter im Bereich der Geldwäscheprävention bin. Wir haben uns mit ganz vielen Änderungsvorschlägen Ich habe heute eine Petition zur Bekämpfung von Geld- intensiv beschäftigt. Als Sozialdemokraten haben wir wäsche mit 75 000 Unterschriften entgegengenommen. die vorgeschlagenen Maßnahmen da, wo es nötig war, Wir greifen mit der Änderung des § 31 b der Abgaben- vor allem im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- ordnung genau dieses Thema im Jahressteuergesetz auf. nehmer verbessert. Wir haben – ich finde, auch das ist Das ist wichtig, weil unserem Land auch hier Steuerein- sehr wichtig – die Ratschläge der Expertinnen und Ex- nahmen verloren gehen. Die Geldwäsche ist – das wird perten aus der Anhörung berücksichtigt. Ich denke, es ist viel zu häufig vergessen – auch ein Teil der organisierten ganz wichtig, dass man nach einer Anhörung der Exper- Kriminalität. ten noch einmal aktiv wird, weil es sonst am Ende eine Uns lagen auch – das ist schon erwähnt worden – jede Showveranstaltung bleibt. Menge Änderungsanträge des Bundesrates vor. Ich Ich will auf einige Beispiele konkret eingehen. Das stimme Ihnen zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von Thema der Erstausbildung ist genannt worden. Das ist der Union, dass wir in Steuerfragen ordentlich arbeiten ein wichtiger Punkt. Wir hatten Fälle, in denen Leute müssen. Aber uns muss auch klar sein, dass Zeit an die- mehr oder weniger eine Form von Scheinerstausbildung ser Stelle im wahrsten Sinne des Wortes auch Geld ist. gemacht haben – kurze und kürzeste Ausbildungen, nur Denn wenn man sich zu viel Zeit lässt, gehen dem Staat um am Ende zum Beispiel im Studium in den Genuss ei- entsprechende Steuereinnahmen verloren. nes Werbungskostenabzuges zu kommen. Diese Lücke (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- haben wir mit diesem Gesetz geschlossen. Die Frage, ob SES 90/DIE GRÜNEN) eine Ausbildung mindestens 18 Monate oder 12 Monate dauern muss, um als Erstausbildung gewertet zu werden, Ich hoffe, dass es hier nicht der Fall sein wird; aber diese haben wir intensiv diskutiert. Ich kann sagen: Für die Gefahr steht im Raum. steuerliche Behandlung ist es gar nicht entscheidend, ob (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: es zwölf Monate sind oder nicht. Aber wir senden mit Ja!) diesem Steuergesetz eine wichtige Botschaft nach drau- ßen: Wenn jemand zwölf Monate lang eine Ausbildung Wir hätten uns an der einen oder anderen Stelle schon macht, dann ist es eine Erstausbildung, nicht einfach ir- vorstellen können, ein bisschen schneller voranzugehen, gendetwas, was man mal so macht. die Initiativen des Bundesrates entsprechend zu unter- 6970 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Jens Zimmermann (A) stützen. Denn für die SPD im Bund und in den Ländern Deshalb ist klar: Es gibt keine Jahressteuergesetze mehr. (C) ist klar: Wir wollen legalen und illegalen Steuertricks ei- Deswegen haben wir eben dieses „Gesetz zur Anpassung nen Riegel vorschieben, und zwar je früher, desto besser. der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union“. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aber normalerweise müsste der Grundstandard eines DIE GRÜNEN) solchen Gesetzes sein – wir haben keine Erwartungen, In diesem Zusammenhang sind Themen wie der soge- nur eine ganz kleine Resterwartung –, dass zumindest nannte Porsche-Deal zu nennen. Das ist genau so ein verfassungswidrige Zustände korrigiert werden. Punkt, weshalb wir eigentlich Jahressteuergesetze ma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie chen. Das war nichts Illegales, was dort gelaufen ist, des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE]) sondern das war – so muss man konstatieren – eine sehr kreative Leistung von sehr findigen Beraterinnen und Das, glaube ich, sollte eigentlich ein Standard sein, auf Beratern. Aber unsere Aufgabe hier im Deutschen Bun- den wir uns hier alle gemeinsam einigen können. destag ist es, Lücken, die solche Dinge ermöglichen, die wir nicht möchten, zu schließen. Ich hoffe, dass es in Was stellen wir fest? Es gibt eine Vielzahl von Rege- der Zeit, die wir jetzt brauchen, bis wir die entsprechen- lungen – dazu haben wir jetzt schon einiges gehört –, die den Änderungen beschlossen haben, keinen zweiten verschiedensten Dinge, aber eine Sache fehlt, und zwar Porsche-Deal geben wird. die Korrektur des seit elf Monaten verfassungswidrigen Zustandes, dass das steuerfreie sächliche Existenzmini- Aber die gute Nachricht ist ja, wir sind uns in der Ko- mum für Kinder um 72 Euro zu niedrig ist. Das ist ein alition an der Stelle einig – vielleicht nicht ganz über die echter Skandal, meine Damen und Herren. Geschwindigkeit, über die Inhalte sehr wohl. Wir wer- den das Thema der hybriden Gestaltungen angehen. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN finde es keine so clevere Idee, die BEPS-Initiative ir- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) gendwie kleinzureden. Wir wissen doch, hybride Gestal- Das ist übrigens umso dreister, als das eben auch tungen sind kein nationales Problem, sondern ein inter- schon seit 2012 bekannt ist. Das ist nichts, was man jetzt nationales Problem. Deswegen müssen wir es auch ganz kurzfristig festgestellt hat. Seit 2012 ist ausweislich international angehen. Ich denke, BEPS ist dafür ein sehr des eigenen Existenzminimumberichts der Bundesregie- gutes Beispiel. rung bekannt, dass, wenn man es nicht ändert, diese (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu- Bundesregierung im Jahr 2014 – jetzt, wo wir gerade be- rufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ginnen, die Weihnachtsfeier zu planen oder durchzufüh- ren – verfassungswidrig handelt. Das wäre jetzt die Ich komme zum Schluss. Alles in allem werden wir (B) letzte Gelegenheit gewesen, das in diesem Jahr zu än- (D) als SPD-Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurf natür- dern. Sie machen das nicht. Das ist wirklich ungeheuer- lich zustimmen. Das Jahressteuergesetz enthält in der lich. Endfassung knapp 50 Maßnahmen quer durch das deut- sche Steuerrecht, die zusammengenommen eine große (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirkung haben. Wir bauen Bürokratie ab, wir entlasten und bei der LINKEN) die Beschäftigten. Ich denke, das ist so kurz vor Weih- nachten eine gute Nachricht. Was gehört außerdem dazu? Was fehlt noch? Die An- hebung des Kindergeldes um 2 Euro. Das würde zwar Vielen Dank. tatsächlich Geld kosten – das hätten wir dann letzte Wo- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) che auch im Haushalt verankern müssen –, nämlich 425 Millionen Euro. Seit 1995 wird das immer gemein- sam gemacht – diese Kopplung ist Praxis; hier vom Vizepräsidentin Petra Pau: Deutschen Bundestag beschlossen –, die notwendige Die Kollegin Lisa Paus hat für die Fraktion Bünd- Anhebung des steuerfreien Existenzminimums gemein- nis 90/Die Grünen das Wort. sam mit einer entsprechenden Kindergeldanpassung. Aber auch das haben Sie nicht gemacht. Deswegen muss Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): man heute konstatieren, dass Herr Schäuble seine Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir re- schwarze Null auch durch eine verfassungswidrige Ver- den hier heute über ein Gesetz, das vor allen Dingen zögerung bei der steuerlichen Entlastung von Familien nicht Jahressteuergesetz heißen darf. Deswegen heißt es erkauft hat, meine Damen und Herren. irgendwie anders. Warum nicht „Jahressteuergesetz“? Weil die Koalition ja im Koalitionsvertrag festgeschrie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ben hat, dass sie in dieser Legislaturperiode keine Steu- Zuruf des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach erpolitik machen will, damit auch jede Erwartung, dass [CDU/CSU]) da irgendetwas passiert, sozusagen im Kern zerstört Was fehlt noch in diesem Gesetzentwurf? Sie haben wird. in Ihrem Koalitionsvertrag versprochen – Sie haben (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch ein nichts Großes versprochen, nur kleine Dinge, die aber Wert an sich! – Dr. Thomas Gambke [BÜND- für die Betroffenen wichtig sind –, den steuerlichen Ent- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wobei es so nötig lastungsbetrag für Alleinerziehende zu erhöhen. Der wäre!) liegt seit 2004 unverändert bei 1 308 Euro, und das trotz Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6971

Lisa Paus (A) der gestiegenen Lebenshaltungskosten und der eklatan- Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): (C) ten Besserstellung von Ehen und Lebenspartnerschaften. Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- Zum Vergleich: Der Entlastungsbetrag für Alleiner- ginnen und Kollegen! Hohes Haus! Es ist schon mehr- ziehende führt zu einer maximalen Steuerersparnis von fach gesagt worden, welche Änderungen wir mit dem 600 Euro, bei Ehepaaren können allein durch das Ehe- Zollkodex-Anpassungsgesetz vornehmen wollen. gattensplitting bis zu 16 000 Euro pro Jahr gespart wer- Als ich unserem Kollegen Pitterle vorhin zugehört den. Das muss sich ändern. Aber nicht einmal diese mi- habe, war ich schon ganz euphorisch, weil ich mir ge- nimale Anhebung, wie sie seit langem gefordert wird dacht hatte, der Weihnachtsfrieden treibt ihn so weit, – und die Sie auch versprochen haben –, ist in diesem dass er dem Gesetzentwurf voll umfänglich zustimmen Gesetzentwurf enthalten. Das ist nicht in Ordnung. Noch würde. Aber ich bin schon dankbar, dass wir wenigstens besser wäre es gewesen, Sie wären unserem Vorschlag umfänglich gelobt wurden. Vielen herzlichen Dank da- gefolgt. Wir schlagen vor, dass der höhere Entlastungs- für. betrag plus eine Steuergutschrift kommen, damit auch Alleinerziehende mit geringem Einkommen erreicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – werden können. Dr. [DIE LINKE]: Das war nur am Anfang!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Durch den Gesetzentwurf werden viele steuerliche Es fehlt noch einiges. Vor allen Dingen fehlt eine Regelungen neu gefasst. Unser Steuerrecht wird an die gleichstellungsorientierte Gesetzesfolgenabschätzung. Rechtsprechung der Europäischen Union angepasst. Die Ich muss allerdings sagen: Sie fehlt nicht nur bei diesem Empfehlungen des Bundesrechnungshofes werden da- Gesetz, sondern bei fast allen Gesetzen der letzten 40, 50 durch umgesetzt und Vereinfachungsverfahren im Be- oder 60 Jahre. Es ist aber wichtig, zu betonen: Das ist ei- steuerungsverfahren durchgesetzt. gentlich Standard. In der Gemeinsamen Geschäftsord- nung der Bundesministerien wird die Bundesregierung Die Länder haben uns noch kurz vor Ende der Bera- verpflichtet, bei Gesetzentwürfen anzugeben, wie es mit tungen mit 72 Regelungen beglückt, die wir noch in die der gleichstellungsorientierten Gesetzesfolgenabschät- Beratungen einfließen lassen sollten. Wir haben das auch zung aussieht. In der Praxis passiert allerdings nichts an- umfänglich getan. Es waren teils nur technische Dinge, deres, als dass irgendjemand ein Kreuz in das Kästchen aber teils auch durchaus politisch umstrittene Fragen. „keine Auswirkungen“ macht. Wir haben den Anregungen der Länder in vielen Aspek- ten durchaus Folge geleistet, vor allem bei denen, die Es gibt aber Auswirkungen beim Thema Altersvor- uns wichtig erschienen sind und die in der Kürze der sorge. In diesem Gesetz wird eine Erhöhung des Absetz- (B) Zeit auch vernünftig und ausführlich beraten werden (D) betrages für Altersvorsorgeaufwendungen von heute konnten. 20 000 Euro auf im nächsten Jahr 22 000 Euro veran- kert. Davon profitieren diejenigen in unserem Lande, die (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr statt 1 600 Euro pro Monat 1 800 Euro pro Monat für die richtig!) Altersvorsorge zur Seite legen können. Sie haben eine ungefähre Vorstellung davon, wie viele Menschen das in Mit den anderen Forderungen der Länder werden wir unserem Lande können? In der Summe sind es 10 000. uns im kommenden Jahr sicherlich beschäftigen müssen; Sie können sich auch vorstellen, wie viele Frauen darun- denn es wurden viele Dinge genannt, die uns zum Nach- ter sind. Diese eine Maßnahme macht deutlich, dass wir denken gebracht haben und bei denen wir Änderungs- dringend handeln müssen. Wir wollen mit unserem Ent- möglichkeiten sehen. Manche Forderungen müssen wir schließungsantrag über diesen und auch andere Punkte aber aus verschiedenen Gründen ablehnen. eine Diskussion anstoßen, damit wir zumindest im nächsten Jahr zu verfassungsgemäßen und der Sache Die Vorschläge, die in der Anhörung von den Sach- entsprechenden Steuergesetzen in unserem Land kom- verständigen vorgebracht wurden, konnten in den Ge- men. setzentwurf eingearbeitet werden. Aber auch hier gilt: Die Anregungen der Sachverständigen in der Anhörung Danke schön. werden uns auch im nächsten Jahr beschäftigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Von besonderer Bedeutung – das wurde teilweise sowie bei Abgeordneten der LINKEN – schon erwähnt – war für mich neben den Änderungen im Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: 2 Euro Einkommensteuerrecht, bei der Abgabenordnung und Kindergeld pro Monat, die sind auch diskrimi- bei der Grunderwerbsteuer die Einführung der Verord- nierbar! Es ist klug, man überlegt sich da was nungsermächtigung zur Bekämpfung des Umsatzsteuer- Größeres!) betruges. Mit dieser Ermächtigungsklausel in § 13 b Umsatzsteuergesetz erhält Deutschland die Möglichkeit, Vizepräsidentin Petra Pau: schnell auf erkannte Betrugsmaschen im Bereich der Der Kollege Philipp Graf Lerchenfeld hat für die Umsatzsteuer zu reagieren. Mit diesem Schnellreak- Unionsfraktion das Wort. tionsmechanismus, der im Übrigen auf einer EU-Richtli- nie beruht, kann das Bundesfinanzministerium mit Zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stimmung des Bundesrates schnell neue Tatbestände in neten der SPD) § 13 b Umsatzsteuergesetz einfügen und damit Umsatz- 6972 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Philipp Graf Lerchenfeld (A) steuerbetrug auch in Zukunft vernünftigerweise verhin- In diesem Fall müssen sofort, wenn der Sohn längere (C) dern. Zeit im Ausland ist und kein Doppelbesteuerungsab- kommen vorhanden ist, stille Reserven aufgedeckt wer- (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE den. Das kann nicht Ziel dieser Regelung sein. Wir müs- GRÜNEN]: Aber leider ohne Beteiligung des sen hier entschieden widersprechen. Im kommenden Bundestages!) Jahr müssen wir hierfür auf jeden Fall vernünftige und Die wesentlichen Inhalte des Gesetzentwurfs und die familienfreundliche Regelungen für mittelständische vielen umfangreichen eingefügten Regelungen sind von Unternehmen zustande bringen. Das ist unsere Aufgabe. meinen Vorrednern bereits ausführlich dargestellt wor- (Beifall bei der CDU/CSU) den. Es ist zu begrüßen, dass wir während der Beratun- gen des Gesetzentwurfs verschiedene Schärfen und Darauf setze ich meine Hoffnung. Ich will dazu nur sa- Unklarheiten, die im ursprünglichen Gesetzentwurf vor- gen: Das ist notwendig, und wir sollten das durchführen. handen waren, verändern konnten. Ob es dabei um die Ich bin gerne bereit, Kollege Binding, diese Sache in Besteuerung der geldwerten Vorteile von Betriebsveran- Ruhe zu besprechen. staltungen ging, die Definition der Erstausbildung oder Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in meinem aller- die Anpassung der Förderhöchstgrenze für Beiträge zu- ersten Lehrbuch zum Steuerrecht habe ich ein wunderba- gunsten einer Basisversorgung im Alter an die knapp- res Geleitwort gefunden – ich zitiere mit Genehmigung schaftliche Rentenversicherung – diese Vorschläge wur- des Präsidiums –: den aufgenommen und umgesetzt; sie sind ja schon benannt worden. Die edelste Aufgabe der deutschen Steuergesetz- gebung ist die Erhaltung des Berufsstandes der Im Rahmen der Beratungen ist mir wieder einmal Steuerberater. aufgefallen, dass wir immer mehr dazu tendieren, Ein- zelfälle steuerlicher Art, die sicherlich oft durchaus (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der spektakulär sind – Herr Dr. Zimmermann hat das ja an- CDU/CSU und der SPD) gesprochen –, durch allgemeine Gesetzesnormen zu er- Ich kann nur mit großem Respekt sagen, dass wir hier fassen. Dabei schleichen sich leider Gottes immer wie- im Hohen Hause auch in diesem Jahr diesem hehren An- der Fehler ein. Diese Fehler in den Gesetzen werden uns spruch wieder vollumfänglich gerecht werden: erst dann bewusst, wenn wir von der Praxis nach einiger Zeit darauf aufmerksam gemacht werden. Auch hierfür (Beifall der Abg. Margaret Horb [CDU/CSU] ist der vorliegende Gesetzentwurf ein leuchtendes Bei- und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- spiel. Mit dem sogenannten Kroatien-Gesetz, das dieses NIS 90/DIE GRÜNEN]) (B) (D) Haus erst kürzlich verabschiedet hat, haben wir steuerli- Wir korrigieren unglaublich viele Vorschriften, wir lösen che Regelungen eingeführt, die hinsichtlich ihrer prakti- steuerliche Einzelfälle durch eine allgemeine Gesetzes- schen Auswirkungen auf die Besteuerung nicht in vol- norm, das Steuerrecht wird komplizierter und für den lem Umfang erkannt wurden. Deshalb müssen wir jetzt einzelnen Steuerberater und Steuerpflichtigen immer un- Änderungen vornehmen. Wir haben dabei leider nur die durchschaubarer. Chance zur Änderung des § 13 b Absatz 2 Nummer 11 Umsatzsteuergesetz ergriffen. Nicht angefasst haben wir Erlauben Sie mir dazu noch eine Bemerkung: Ich den § 50 i Einkommensteuergesetz. Ich halte diese Vor- halte es für hochbedenklich, so kurz vor Jahresende eine schrift für genauso bedeutend, für genauso wichtig wie Vielzahl von Steueränderungen zu verabschieden, die die des § 13 b Umsatzsteuergesetz. neben denen, die wir bereits verabschiedet haben, ab dem 1. Januar 2015 Geltung haben sollen. Den Steuer- (Beifall bei der CDU/CSU) pflichtigen und ihren Beratern entsteht ein erheblicher Mehraufwand, der so kurz vor dem Jahreswechsel ei- In der Praxis hat sich herausgestellt, dass durch die gentlich unzumutbar ist. Änderung des § 50 i Einkommensteuergesetz Umwand- lungen von Unternehmen im Ausland und im Inland dra- (Beifall bei der CDU/CSU – matisch erschwert werden. Faktisch werden durch diese [DIE LINKE]: Die Steuerberater brauchen Vorschrift auch Teile des Umwandlungssteuerrechts aus- wohl keine Weihnachtsferien!) gehebelt. Wirtschaftlich notwendige Umstrukturierun- Wir sollten es als Gesetzgeber im Interesse unserer Bür- gen innerhalb von Unternehmen und Übertragungen sind ger unbedingt vermeiden, Gesetzentwürfe – insbeson- in vielen Fällen nur noch unter Aufdeckung stiller Reser- dere auf dem Gebiet des Steuerrechts – so kurz vor dem ven möglich. Das trifft vor allem mittelständische Fami- Jahresende zu verabschieden. lienunternehmen. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Heutzutage absolviert ein junger Mann seine Ausbil- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dung vernünftigerweise zum Teil im Ausland. Manch ei- ner wird, wiederum vernünftigerweise, von seinem Vater Ich glaube, dass es vernünftig wäre, uns darauf zu ei- am Unternehmen beteiligt worden sein. nigen, steuerliche Regelungen nur noch in der ersten Jahreshälfte zu verändern, damit wir dann in der zweiten (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE Jahreshälfte aufgrund der Erfahrungen in der Praxis die GRÜNEN]: Das ist nicht das Problem! – Zuruf Fehler, die wir bei der ersten Verabschiedung gemacht des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) haben, korrigieren können, wie uns das nun gelingt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6973

Philipp Graf Lerchenfeld (A) Vielen herzlichen Dank für eure Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) (C) (Beifall bei der CDU/CSU) Nicht alles gelingt aber beim ersten Wurf. Wenn die Kritik, die uns erreicht, überzeugend und auch zutref- Vizepräsidentin Petra Pau: fend ist, dann ist die SPD-Bundestagsfraktion natürlich Der Kollege Andreas Schwarz hat für die SPD-Frak- auch bereit, Nachbesserungen vorzunehmen. tion das Wort. (Beifall des Abg. Philipp Graf Lerchenfeld (Beifall bei der SPD) [CDU/CSU] – Dr. [CDU/ CSU]: Das hören wir gerne!) Andreas Schwarz (SPD): Wie gesagt: Bei § 50 i des Einkommensteuergesetzes ist Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das nicht notwendig, wohl aber bei § 13 b des Umsatz- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mein Kollege steuergesetzes, genauer gesagt, bei der Reverse Charge Jens Zimmermann hat schon viel Richtiges und Wichti- für Metalllieferungen. ges gesagt, und ich möchte hier jetzt nicht mehr in epi- scher Breite nochmals zu allen Themen dieses Gesetz- Die abstruse Situation, dass man beim Kauf einer ein- entwurfs Stellung nehmen. Das gibt meine Redezeit fachen Aluminiumfolie an der Supermarktkasse oder nicht her, und ich möchte auch Frau Präsidentin nicht beim Schraubenkauf im Baumarkt plötzlich unter die verärgern. Reverse-Charge-Regelung fiel, war für uns alle nicht hinnehmbar. Dies hätte in diesen Fällen die Umkehr der (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des Steuerlast bedeutet. Konkret hätte man bei Edeka plötz- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lich eine separate Rechnung für den Kauf der Alufolie Lassen Sie mich einen kurzen Blick auf die Ge- bekommen, und die Steuerschuldnerschaft wäre auf den schichte dieses Gesetzentwurfs werfen. Dieser Gesetz- Endverbraucher übergegangen. entwurf ist nur im Kontext mit dem Kroatien-Gesetz zu verstehen, das wir schon Mitte des Jahres angegangen (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE sind, sodass wir Ihre Anregung, Graf Lerchenfeld, schon GRÜNEN]: Daran hätte man auch früher den- aufgenommen haben. ken können!) Wir hätten auch Zeit gehabt, vieles umzusetzen. Da- Diesen vollkommenen Irrsinn haben wir in diesem Ge- mals kamen von den Bundesländern ja auch schon viele setzentwurf gestoppt. Indem wir eine Bagatellgrenze Änderungswünsche. Wir haben uns damals beim Kroa- von 5 000 Euro vorsehen und die Liste der Metalle noch (B) tien-Gesetz aber darauf verständigt, vor allen Dingen einmal kritisch beleuchtet haben, haben wir eine ver- (D) technische Anpassungen vorzunehmen. Daneben haben braucherfreundliche Regelung geschaffen. wir uns darauf verständigt, weitere Veränderungen in ei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nem zweiten Gesetz zu regeln. Dies tun wir jetzt in die- der CDU/CSU) sem Entwurf des sogenannten Zollkodex-Anpassungsge- setzes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss will Zeit für die Prüfung der Länderwünsche wäre also ge- ich nochmals zur Geschichte dieses Gesetzes zurück- geben gewesen, aber wir haben sie uns einfach nicht ge- kommen. Beim Beschluss des Kroatien-Gesetzes haben nommen. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Gesetz mög- wir die Länder vertröstet, dass wir zahlreiche Anliegen lich. Hier war er eben leider nicht bis zum Ende zu im Zollkodex-Anpassungsgesetz umsetzen werden, An- erkennen. liegen übrigens, die von SPD- wie von unionsgeführten Ländern gleichermaßen formuliert wurden. (Beifall bei der SPD – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist be- Dies ist nun leider nicht der Fall. Als ich den Gesetz- schämend!) entwurf in die Hand bekam, war ich, ehrlich gesagt, von seinem sehr geringen Umfang überrascht. Nachvollzieh- Im Rückblick auf das Kroatien-Gesetz erkennen wir: barerweise fiel die Stellungnahme des Bundesrates deut- Gesetze können überaus erfolgreich sein. Sind sie es lich umfangreicher aus: Sie enthält zahlreiche Anregun- nicht, dann sind wir jedoch auch in der Lage, nachzubes- gen, die fachlich eigentlich Konsens im Hause finden. sern und nachzusteuern. Das haben wir mit dem vorlie- Trotzdem konnten wir unseren Koalitionspartner leider genden Gesetzentwurf getan. nicht überzeugen, entschieden auf die berechtigten Inte- Im Kroatien-Gesetz haben wir den § 50 i des Einkom- ressen der Länder einzugehen. Ich sage Ihnen ganz of- mensteuergesetzes sehr erfolgreich reformiert und somit fen, dass sich die SPD-Fraktion hier etwas mehr hätte wichtige bis dato legale Steuerschlupflöcher schließen vorstellen können, können. Die Experten bei der Anhörung – außer der (Beifall bei der SPD) BDI; das gebe ich zu – waren hier unserer Auffassung, ob nun im Bewertungsgesetz, bei den hybriden Gestaltun- (Dr. Georg Kippels [CDU/CSU]: Nein, das stimmt gen im Streubesitz oder dem Porsche-Deal. Aus unserer nicht! Das DIW auch nicht!) Sicht hat man hier die Chance vertan, weitere Steuer- und die von Ihnen genannten Fälle sind noch nicht real schlupflöcher zeitnah zu schließen und sinnvolle Ände- existent. rungen in unserem Steuerrecht vorzunehmen. 6974 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Andreas Schwarz (A) Ewig können wir unsere Länder mit Sicherheit nicht Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (C) vertrösten, weshalb ich jetzt sehr gespannt bin, wie der gin Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion. Bundesrat auf das Zollkodex-Anpassungsgesetz reagie- (Beifall bei der SPD) ren wird.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Dr. Nina Scheer (SPD): (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Philipp Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Murmann [CDU/CSU]) Kollegen! Der vorliegende Antrag trägt den Titel „Die Energiewende durch Energieeffizienz voranbringen – EU-Energieeffizienzrichtlinie unverzüglich umsetzen“. Vizepräsidentin Petra Pau: Wie wir in der heutigen Aktuellen Stunde bereits aus- Ich schließe die Aussprache. führlich diskutiert haben, geschieht das bereits vollum- fänglich. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur (Lachen des Abg. Oliver Krischer [BÜND- Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der NIS 90/DIE GRÜNEN]) Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschrif- – Ja, das geschieht. Es wurde gestern ein Kabinettsbe- ten. schluss gefasst, Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: empfehlung auf Drucksache 18/3441, den Gesetzent- Das ist aber noch kein Gesetz!) wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/3017 und 18/3158 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich mit dem zwei dicke Programme verabschiedet wurden, bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- die insgesamt über 100 Seiten umfassen, nämlich der schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Klimaschutzaktionsplan und der Nationale Energieeffi- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- zienzplan. Heute haben wir schon ausführlich darüber entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen diskutiert, was alles mit diesen Plänen erreicht werden der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Opposi- kann. Wir haben aber natürlich auch darüber diskutiert, tionsfraktionen angenommen. an welcher Stelle es Schwierigkeiten gibt. Wir sollten so ehrlich sein und klar benennen, in welchen Bereichen Dritte Beratung wir hierzulande Schwierigkeiten haben, bestimmte und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Strukturen zu verändern, zumal wir bis 2020 nicht mehr so viel Zeit haben. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – (B) (D) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Das CO₂-Minderungsziel bis 2020 steht fest. Das ist entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der in den zahlreichen Debatten, die wir rund um diesen SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Themenkomplex geführt haben, auch von niemandem der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. infrage gestellt worden. Insofern ist es müßig, die Grundausrichtung in diesem Hause immer wieder in- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- frage zu stellen. Der vorliegende Antrag zielt jedoch ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf darauf ab, das infrage zu stellen. Deswegen ist dieser Drucksache 18/3452. Wer stimmt für diesen Entschlie- Antrag ein Stück weit überholt. ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen Ich möchte zunächst einmal ein paar Kernpunkte be- der Koalitionsfraktionen gegen die antragstellende Frak- nennen. Wie gesagt, das ist heute schon einmal debattiert tion – Bündnis 90/Die Grünen – und die Fraktion Die worden. Ein wesentliches Element des Energieeffizienz- Linke abgelehnt. plans, der gestern im Kabinett beschlossen wurde, ist zum Beispiel, dass wir das Fördervolumen für die ener- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: getische Gebäudesanierung erhöhen möchten. Diesen Punkt haben Sie in Ihrem Antrag auch erwähnt. Deshalb Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- kann man einen Haken daran machen. Insofern hat sich richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- die Forderung erledigt, das an die Bundesregierung gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- heranzutragen. ordneten Dr. Julia Verlinden, Christian Kühn (Tübingen), Oliver Krischer, weiterer Abgeord- Gleiches gilt für die Ausweitung des Gebäudesanie- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rungsprogramms. Auch die Einführung von Ausschrei- NEN bungsmodellen ist vorgesehen. Viele Dinge in Ihrem An- trag klingen an, etwa die steuerliche Förderung der Die Energiewende durch Energieeffizienz energetischen Sanierung als zusätzlicher Anreiz. Das ist voranbringen – EU-Energieeffizienzrichtlinie Bestandteil des Nationalen Energieeffizienzplans. Auch unverzüglich umsetzen die Novellierung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes Drucksachen 18/1619, 18/2716 ist heute schon thematisiert worden. Das ist zwar nicht Bestandteil dieser Programme. Das deckt sich aber mit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dem Koalitionsvertrag und den Vorhaben, die in den die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nächsten Monaten noch zu leisten sind. Stichwort Strom- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. marktdesign. Dirk Becker hat das vorhin angesprochen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6975

Dr. Nina Scheer (A) Es ist das erklärte Ziel der Bundesregierung, in diesem (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Bereich etwas auf den Weg zu bringen. Die Kraft- NEN]: Sie machen immer nur Problembe- Wärme-Kopplung wird sogar noch vorweggenommen schreibung!) behandelt werden. Genau an diesem Punkt möchte ich dafür werben, Insofern kann man sagen, dass sich Ihr Antrag allein dass man erst einmal lobend hervorhebt, dass wir für schon aufgrund der genannten Punkte erledigt hat. Nicht eine Verstetigung von bestimmten Programmen, natür- erledigt hingegen hat sich natürlich unser gemeinsames lich auch mit Verbesserungsansätzen, eintreten, die sich Vorhaben, die von Ihnen genannten Aspekte voranzu- bewährt haben; denn wir haben gelernt, dass Verunsiche- bringen. In diesem Zusammenhang möchte ich ein paar rung das Schädlichste ist, was uns im Energieeffizienz- Punkte nennen, die eine Herausforderung sein werden, bereich passieren kann. weil natürlich auch die Punkte, die gestern im Kabinett behandelt wurden, Bereiche enthalten, bei denen es noch Auf der Grundlage der zuvor genannten Punkte der Konkretisierung bedarf. Das sollte man aber nicht möchte ich einfach darum bitten, dass wir die gesammel- nur einfach als Makel deklarieren, wie dies von Ihnen ten Erfahrungen der letzten Jahre in die Umsetzung der heute Nachmittag kritisch angemerkt wurde. Vielmehr vorliegenden Maßnahmenpakete einbringen. Dazu ge- möchte ich darauf hinweisen, dass man nicht alles mit hört auch die Erkenntnis, dass wir erneuerbare Energien einem Programm bis zum Ende durchdeklinieren kann, brauchen, dass es eine Verquickung zwischen den erneu- sondern dass man bestimmte Dinge auch entwickeln erbaren Energien und der Wärmewende gibt, dass wir muss. eine Verknüpfung zu Effizienzmaßnahmen brauchen. Die Erfahrungen, die wir gemacht haben, sollten wir da- (Beifall bei der SPD – Oliver Krischer bei berücksichtigen. Es darf nicht passieren, dass die er- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Irgendwas neuerbaren Energien einen Einbruch erleben. Damit wäre schon einmal gut!) möchte ich einen Schlusspunkt setzen. Sie als Grüne haben sich zum Beispiel sehr stark für Mir bleibt abschließend nur noch, zu sagen, dass der den Handel mit Emissionszertifikaten eingesetzt. Wir Antrag in der vorliegenden Form überholt ist – ich ver- alle wissen, dass der Handel mit Emissionszertifikaten weise auf die vorgelegten Programme und unsere Vorha- sehr krankt. Zurzeit greift dieser nicht als Anreizmo- ben – und insofern abzulehnen ist. ment, um aktiven Klimaschutz zu gewährleisten. Wir alle konnten vielleicht nicht abschätzen, wie sich der Vielen Dank. Handel mit Emissionszertifikaten entwickeln wird. Ich muss eingestehen, dass ich dabei schon immer etwas (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten skeptisch war. Viele andere waren auch skeptisch. Man der CDU/CSU) (B) (D) hat sich trotzdem darauf geeinigt. Sie waren Treiber die- ses Programms. Man muss heute feststellen, dass er Vizepräsidentin Petra Pau: möglicherweise hin und wieder auch blockiert. Wir ha- Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat für die Frak- ben aber den Handel mit Emissionszertifikaten. Jetzt tion Die Linke das Wort. müssen wir dafür sorgen, dass er funktioniert. Das ist ein Beispiel, an dem man erkennen kann, dass (Beifall bei der LINKEN) die Definition von Handlungsbedarfen nicht immer so einfach ist. Das ist gestern mit dem Kabinettsbeschluss Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): vollzogen worden. Es ist schwierig, gleichzeitig mit der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Definition von Handlungsbedarfen auch jeden Umset- Kollegen! Wenn wir über Effizienz sprechen, müssen zungsschritt mit zu definieren. Das ist schlichtweg nicht wir auch über Gebäudesanierung reden. Der Ruf der Ge- immer so einfach möglich. bäudesanierung ist zurzeit total mies. „Die Volksverdäm- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mung“ titelt Der Spiegel diese Woche ziemlich böse. Es heißt, die Wärmedämmung führe nicht zu niedrigeren Es gibt weitere Tatsachen, die man berücksichtigen Heizkosten, man hantiere mit giftigen Materialien, und muss. Wir haben eine sehr restriktive Vereinbarung wei- all das nutze nur geldgierigen Investoren, die Mieter ver- tere ordnungsrechtliche Schritte betreffend. Diese treiben. Ja, die Dämmung sei sogar brandgefährlich, so Schritte sind mit dem Koalitionspartner jetzt nicht vor- war diese Woche zu lesen. gesehen. Insofern müssen wir schauen, wie wir in den Jahren bis 2020 anderweitig zurechtkommen. Hier muss Diesen schlechten Ruf hat die Wärmedämmung zum man immer wieder überprüfen, ob wir mit dieser Verein- Teil zu Recht. Es ist einem schweren Fehler der Politik barung weiterkommen. geschuldet, dass es zum Beispiel Vermietern ermöglicht wird, große Teile von Sowiesokosten für Modernisie- Eine Tatsache ist: Es ist immer noch sehr attraktiv, rung unter dem Deckmantel der Ökologie binnen kurzer Energie zu verschwenden. Eine weitere Tatsache ist der Frist auf die Miete umzulegen. Vermieter können die Rebound-Effekt. Sprich: Es ist einfacher, in unserem Wärmedämmung zum lukrativen Geschäftsmodell ma- Land auf erneuerbare Energien zu setzen, als Energie chen und bei den Mietern absahnen. Das lehnen wir ab. einzusparen. Das ist hierzulande leider immer noch so. Diesen Tatsachen muss man ins Auge blicken, und man (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. muss sie mitberücksichtigen, wenn es um die Umset- Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ zung geht. DIE GRÜNEN]) 6976 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Eva Bulling-Schröter (A) Das ist leider tatsächlich möglich, und damit muss Zum Glück gibt es Beispiele wie Dänemark. Däne- (C) endlich Schluss sein. Die Modernisierungsumlage muss mark ist Deutschland ein paar Schritte voraus. Und wie dringend überarbeitet und unbedingt kurzfristig auf haben die Dänen das geschafft? Richtig: mit Ordnungs- 5 Prozent gesenkt werden, sonst wird es keine Akzep- recht. Im Neubau ist in Dänemark der Einbau von Öl- tanz von dringend notwendigen Sanierungsmaßnahmen und Gasheizungen seit 2013 verboten. Ab 2016 müssen geben. Der schlechte Ruf der Gebäudesanierung ist für auch Altbauten auf Gas und Öl verzichten, sofern sie an mich größtenteils lobbygesteuert; denn in unzähligen ein Fernwärmenetz angeschlossen werden können. Dä- Fällen ist die Sanierung erfolgreich und nützt den Men- nemark setzt seit vielen Jahren konsequent auf erneuer- schen und der Umwelt; das wissen wir doch alle. bare Wärme, Fernwärme und Kraft-Wärme-Kopplung. 70 Prozent der Fernwärme stammen aus erneuerbaren (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Energien oder der Müllverbrennung. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Schlüssel zum Erfolg ist ein ambitioniertes Ord- Sie von den Grünen verzeihen mir bitte, dass ich nungsrecht, also klare Vorgaben aus der Politik, die selbst- heute weniger über Ihren Antrag rede, sondern mehr verständlich sozial flankiert werden müssen. Anders wer- über den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz. Die- den wir es nicht schaffen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, ser setzt auf besonders rentable Geschäftsmodelle; eine liebe Kolleginnen und Kollegen. Vokabel, die viele Leute eher fürchten als befürworten, weil sie die Auswirkungen dieser sogenannte Geschäfts- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten modelle durch Mieterhöhungen schmerzhaft zu spüren des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bekommen haben. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich begrüße ausdrücklich, dass laut Nationalem Ak- Das Wort hat die Kollegin Dr. Herlind Gundelach für tionsplan Energieeffizienz Maßnahmen zur Gebäude- die CDU/CSU-Fraktion. sanierung und andere Effizienzmaßnahmen endlich von der Steuer abschreibbar sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Noch nicht!) Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies halte ich für einen guten Schritt. Liebe Damen und Herren auf der Tribüne! Ich glaube, es gibt kaum ein Thema, über dessen Bedeutung sich die Dieser Effizienzplan ist aber kein Ersatz für ein Ge- im Bundestag vertretenen Parteien in der Zwischenzeit samtkonzept, das unbedingt langfristig angelegt werden (B) so einig sind. Die Steigerung und Förderung der Ener- (D) muss. Angesichts des bisher Versäumten wirkt er eher gieeffizienz ist ein zentraler Bestandteil der Energie- wie eine Art Notfallplan. wende. Die Energieeffizienz ist der schlafende Riese, Aber der Kern meiner Kritik ist ein anderer: Der Na- und wir sind uns alle darüber im Klaren, dass wir diesen tionale Aktionsplan Energieeffizienz setzt allein auf schlafenden Riesen wecken müssen. Denn ohne eine si- Freiwilligkeit und Förderung. Ich habe meine Zweifel. gnifikante Steigerung der Effizienz ist die Energiewende Ich frage mich, ob er damit den gewünschten Erfolg ha- nicht zu schaffen. ben wird, oder ob sich am Ende herausstellt, dass das al- Der vorliegende Antrag, über den wir heute zum les Luftschlösser waren. Zu viele Beispiele freiwilliger zweiten Mal debattieren, reicht schon eine Weile zurück. Selbstverpflichtung sind bereits gescheitert. Wir haben Er fordert die unverzügliche Umsetzung der EU-Ener- in unserer Zeit als Parlamentarier bereits entsprechende gieeffizienz-Richtlinie. Die Umsetzungsfrist – ich nehme Erfahrungen gemacht. an, darauf werden Sie noch eingehen – ist am 5. Juni Angesichts der Dringlichkeit, die eine drohende Kli- 2014 abgelaufen. Es ist verständlich, und ich finde es maschutzlücke mit sich bringt, ist in der gegenwärtigen auch in Ordnung, dass die Grünen als Oppositionsfrak- Situation das vollständige Setzen auf freiwillige Maß- tion darauf reagiert haben. Das hätten wir an Ihrer Stelle nahmen der falsche Weg. vermutlich auch getan. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN) NEN]: Nein! Das glaube ich nicht!) Sie wollen Energieeffizienz zu einem Lifestyle-Pro- – Doch, das glaube ich schon. dukt machen wie das schnittige Auto, das neueste Smart- phone oder die italienische Kaffeemaschine. Wie soll (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: man sich das vorstellen? Dämmung als der letzte Schrei Beim Thema Energieeffizienz nicht!) für modebewusste Yuppies? Ich sehe schon Agenturen – Da sind Sie völlig falscher Auffassung. Denn wir sind daran arbeiten, die Energieeffizienz sexy zu machen, der Überzeugung, dass die Energieeffizienz ein ganz (Klaus Mindrup [SPD]: Ist das schlimm?) zentraler Bestandteil ist. Das wird gleich in meiner Rede noch an manchen Stellen deutlich. nach dem Motto „Schau mir auf die Holzhackschnitzel- heizung, Kleines“. Das ist doch ein Witz. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie regieren schon ein bisschen länger, (Beifall bei der LINKEN) und da haben Sie nichts gemacht!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6977

Dr. Herlind Gundelach (A) – Wir haben eine ganze Menge gemacht. Deswegen sind Aber Sie verfallen in die gleichen fehlerhaften Verhal- (C) wir in Europa immer noch mit die Besten, was diese tensweisen. Frage angeht. Wir setzen auf Ansporn, Freiwilligkeit und Eigenver- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- antwortlichkeit. Darauf setzt auch der Nationale Ak- NEN]: Nicht mehr!) tionsplan Energieeffizienz. Mit dem NAPE schreiben Ich kann Ihnen aber versichern, dass die Bundesregie- wir letztendlich eine Erfolgsgeschichte in Sachen Ener- rung – das ist gerade schon angeklungen – mit Hoch- gieeffizienz fort. Das ist das krasse Gegenteil von dem, druck gearbeitet hat und deshalb gestern den Nationalen was Sie gerade behauptet haben. Der NAPE setzt aber Aktionsplan Energieeffizienz und auch das Klimapaket auch erhebliche neue Akzente. Er setzt vor allem drei im Kabinett verabschiedet hat. wesentliche Pfeiler zum Marktanreiz: Energieeffizienz im Gebäudebereich voranbringen, Energieeffizienz als Energieeffizienz ist aus vielen Gründen wichtig. Zu- Geschäftsmodell etablieren und für mehr Eigenverant- nächst einmal gilt: Was nicht verbraucht wird, muss auch wortung sorgen, verbunden mit mehr Information und nicht produziert werden. Gleichzeitig leistet die Förde- Beratung. Im Bereich der Energieeffizienz lohnen sich rung der Energieeffizienz einen wesentlichen Beitrag zu die meisten Investitionen. Sie sind wirtschaftlich. Unsere anderen energiepolitischen Kernaufgaben wie die Stei- Aufgabe ist, hier verlässliche und gute Rahmenbedin- gerung der Versorgungssicherheit, die Sicherstellung der gungen zu schaffen sowie sinnvolle Anreize zu setzen. Bezahlbarkeit von Energie, die Reduzierung des Netz- ausbaubedarfs, die Unterstützung der Wettbewerbsfähig- Ich will hier nicht alle geplanten Maßnahmen des keit deutscher Unternehmen und damit auch die Schaf- NAPE wiedergeben, da sie heute schon genannt wurden; fung und Erhaltung von Arbeitsplätzen. das würde auch zu lange dauern. Die Sofortmaßnahmen wie die Aufstockung der Mittel für das CO2-Gebäude- Außerdem leistet sie einen erheblichen Beitrag zur sanierungsprogramm und die steuerliche Förderung der Erreichung der Klimaschutzziele. So reduziert sich bei- energetischen Gebäudesanierung will ich ebenfalls nicht spielsweise allein durch die energetische Sanierung des extra erwähnen. Ich möchte viel lieber auf die geplanten Gebäudebestandes in Deutschland der jährliche Ausstoß weiterführenden Arbeitsprozesse zu sprechen kommen, des Treibhausgases CO2 infolge der geförderten Bau- die der NAPE ebenfalls formuliert. Es gibt Bereiche maßnahmen um 7 Millionen Tonnen. – das ist mir wichtig –, die man zusätzlich beleuchten (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: könnte. Dazu gehört für uns zum Beispiel die Verbesse- Das ist ein Bruchteil von dem, was wir noch rung der Rahmenbedingungen für Contracting. Wir alle schaffen müssen!) haben schon viel über das Investor-Nutzer-Dilemma dis- (B) kutiert. Darüber hinaus wissen wir, dass es auch für Ei- (D) Deutschland ist in Sachen Energieeffizienz in Europa genheimbesitzer zum Teil finanziell nicht machbar oder Vorreiter; dazu gibt es hinreichend Studien. Unsere Er- nur schwer machbar ist, eine energetische Sanierung gebnisse finden weltweit Beachtung. Uns ist es als In- durchzuführen. Selbst wenn sich die Kosten amortisie- dustrienation gelungen, das Wirtschaftswachstum vom ren, fehlt oft der Anreiz oder schlicht und ergreifend das Energieverbrauch zu entkoppeln, und das schon seit vie- Geld für eine Finanzierung. Hier könnten wir zum Bei- len Jahren. Wir verzeichnen in den letzten Jahrzehnten spiel über eine Ausweitung von Mini-Contracting-Mo- – sei es das Gewerbe, der Handel oder die Industrie – er- dellen nachdenken. Durch diese Form der Finanzierung hebliche Effizienzgewinne, in Zahlen: rund 12 Prozent könnte ohne eigenes Kapital eine Modernisierung durch- jährlich. Aber durch einen unangepassten Umgang, un- geführt werden. Sogar eine vom Mieter angeregte ener- seren nach wie vor steigenden Bedarf und einige andere getische Sanierung wäre hier denkbar. Bisher sind die Faktoren wurden diese Gewinne leider fast gänzlich neu- Rahmenbedingungen für derartige Ansätze allerdings tralisiert. Deswegen war für die schwarz-rote Koalition nicht zufriedenstellend ausgestaltet. von Anfang an klar, dass wir neue Lösungen finden müs- sen, dass wir Energieeffizienz zum Teil neu denken soll- Der zweite Punkt, der mir auch persönlich sehr wich- ten, um insbesondere bisher zu wenig beachtete Fakto- tig ist, ist: Deutschland war immer ein Land der Forscher ren und Akteure stärker in den Blick nehmen zu können, und Entwickler. Um Innovationen im Bereich der Ener- und dass wir vor allem auch die Einbeziehung der Be- gieeffizienz hervorbringen zu können, müssen die Hoch- völkerung signifikant steigern wollen. schul- und Forschungseinrichtungen über ausreichend Mittel verfügen. Das ist vor allem ein Appell an die Län- Wie ich eingangs erwähnte, bin ich fest davon über- der – das sage ich als ehemalige Wissenschaftssenatorin zeugt, dass wir uns alle über die Bedeutung der Energie- ganz bewusst –, hier ihrer Verantwortung gerecht zu effizienz einig sind. Aber es gibt einen Unterschied. Wir werden. alle haben das gleiche Ziel, aber unsere Lösungswege gehen zum Teil recht weit auseinander, wie der Antrag Außerdem ist es wichtig, die Unternehmen stärker der Grünen abermals zeigt und die gestrige Regierungs- einzubeziehen, insbesondere auch die kleinen und mit- befragung erneut unter Beweis gestellt hat. Energieeffi- telständischen; das ist ein grundlegender Gedanke, der zienz funktioniert nach unserer Auffassung nur, wenn sie den NAPE durchzieht. Dann müssen wir aber auch die als Chance und Ansporn verstanden wird; das hat die Rahmenbedingungen für die Forschungs- und Entwick- Vergangenheit gezeigt. Zwang hingegen führt in der Re- lungskosten im Sinne der kleinen und mittelständischen gel zu Stillstand. Da musste auch meine Partei in einem Unternehmen anpassen; denn nicht jedes Forschungs- Bundesland durchaus schlechte Erfahrungen machen. vorhaben ist von Erfolg gekrönt. Es muss daher endlich 6978 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Herlind Gundelach (A) möglich sein, diese Kosten steuerlich geltend zu ma- Ehrlich gesagt, habe ich nicht für den Bundestag kandi- (C) chen. Sonst werden wir vermutlich auf lange Sicht inter- diert, um abzuwarten. Die Klimakrise wartet auch nicht. national abgehängt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Lösungs- Das Kabinett hat gestern den NAPE, also den Natio- ansätze für die Förderung der Energieeffizienz in nalen Aktionsplan Energieeffizienz, vorgestellt, wobei Deutschland sind vielfältig. Es gibt nicht nur die eine die Aktion aus dem Wort „Aktionsplan“ erst noch folgen ideale Lösung. Unterschiedliche Voraussetzungen und muss. Bisher sind das alles nur Ankündigungen. Sie ha- Gegebenheiten erfordern nun einmal unterschiedliche ben sich heute Mittag in der Klimadebatte gewünscht, Lösungen. Energieeffizienz ist nichts für die Gießkanne. dass wir Grüne das kritisch im Parlament begleiten. Ja, Mit der Umsetzung der EU-Effizienzrichtlinie und Sie können sich darauf verlassen, dass wir Sie daran er- der Verabschiedung des NAPE werden wir ein ganz ent- innern, dass bei der Energieeffizienzpolitik etwas passie- scheidendes Stück weiterkommen. Wir bauen Barrieren ren muss. Deswegen steht unser eigener Antrag heute und Hemmnisse ab. Wir regen an, sich mit dem Thema wieder auf der Tagesordnung. intensiv auseinanderzusetzen und dann auch die entspre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chenden Konsequenzen zu ziehen. Wir fördern Initiati- ven, und wir unterstützen auch monetär, wo es nötig ist. Im Aktionsplan Energieeffizienz stehen viele ge- Dabei steht eines für die CDU/CSU-Fraktion immer au- plante Maßnahmen und keine großen Überraschungen. ßer Frage: Energieeffizienz funktioniert am besten ohne Überrascht und auch wirklich geärgert hat mich aber, Zwang. dass die Bundesregierung nicht bereit war, diese Maßnahmen im Haushalt für 2015, der ja letzte Woche (Beifall bei der CDU/CSU) beschlossen wurde, auch mit Geld zu hinterlegen. Des- Im Übrigen kann ich mich den Ausführungen der wegen frage ich mich: Geht bei Ihnen die Energieeffi- Kollegin Scheer nur anschließen: Der Antrag von Bünd- zienzpolitik eigentlich erst 2016 los? Wollen Sie wirk- nis 90/Die Grünen ist durch die Beschlüsse des Kabi- lich noch ein Jahr warten? netts in den letzten Wochen und in den letzten Tagen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) überholt. Deswegen lehnen wir ihn ab. Mit dem Aktionsplan Energieeffizienz werden Sie das Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ziel, das Sie sich selbst gesteckt haben, selbst dann nicht erreichen, wenn all Ihren Worten darin noch Taten fol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen werden. Denn im Vergleich zum Jahr 2008 wollen neten der SPD) Sie ja 20 Prozent Energie einsparen bis 2020. Die Hälfte (B) der Zeit ist herum, und Sie haben nicht einmal 4 Prozent (D) Vizepräsidentin Petra Pau: geschafft. Wie wollen Sie also in der restlichen Zeit Ihr Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden für die Ziel noch erreichen? Die im NAPE angekündigten Maß- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. nahmen werden dazu nicht reichen; das hat Minister Gabriel gestern selbst zugegeben. Das magere Ergebnis Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bisher, die knapp 4 Prozent Energieeinsparung seit 2008, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten muss sich vor allem die Union zuschreiben; denn sie hat - Damen und Herren! Wir Grüne haben im Juni dieses ja die letzten Jahre regiert. Wenn ich dann lese, dass Ab geordnete aus der Union – auch Frau Gundelach, die hier Jahres diesen Antrag eingebracht, weil wir wollen, dass eben sprach und sagte, wie wichtig die Energieeffizienz in der Energieeffizienzpolitik endlich etwas passiert, und doch ist – den Aktionsplan Energieeffizienz sogar noch weil wir wollen, dass die EU-Energieeffizienzrichtlinie verwässern oder noch einmal verschieben wollen, dann endlich vollständig und korrekt umgesetzt wird. frage ich mich wirklich, wie ernst Sie es mit dem Ener- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gieeinsparziel und mit der Energiewende eigentlich mei- nen. In der Zwischenzeit ist ein blauer Brief aus Brüssel ge- kommen, und es ist wirklich wenig passiert. Sie erzählen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) uns immer, Sie seien die größten Freunde der Energie- Ich stehe mit meiner Kritik übrigens nicht allein da. effizienz. Aber die Frage ist doch, ob Sie auch Energie- Neben dem Aktionsprogramm Klimaschutz und dem effizienzpolitik machen. Bisher ist Ihre Liebe zur Ener- NAPE ist gestern auch der Fortschrittsbericht zur Ener- gieeffizienz eher im Verborgenen geblieben. giewende veröffentlicht worden. Ich zitiere hier jetzt aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Stellungnahme der Experten, die Sie selbst beauf- tragt haben: Ich weiß, was Sie von der SPD und der Union zum Teil schon gesagt haben und gleich wieder sagen wer- Die Expertenkommission kann nicht nachvollzie- den: Nun warten Sie doch erst einmal ab, Frau hen, wie die Regierung bei Festhalten am Effizienz- Verlinden; das kommt schon alles noch. – Das erzählen ziel ein großes Defizit feststellen kann, dann aber Sie mir nun seit einem Jahr. Aber ich sage Ihnen: Ich Maßnahmen vorschlägt, die kaum mehr als ein habe es satt, abzuwarten. Drittel des Defizits ausgleichen können. Die Exper- tenkommission hätte eine Aussage dazu erwartet, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wie mit der verbleibenden Deckungslücke umge- SES 90/DIE GRÜNEN) gangen werden soll. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6979

Dr. Julia Verlinden (A) Das hätte ich von der Bundesregierung auch erwartet, den. Wir wissen auch, dass sie auf zwei wesentlichen (C) und zwar ganz konkret. Säulen basiert: auf der Energieeffizienz und auf den er- neuerbaren Energien. Das an sich ist aber trivial. Ich will hier keine Sonntagsreden hören; ich will wis- sen, wie Sie Politik gestalten wollen, wie Sie politische Manche sprechen von einer Energierevolution; ich Maßnahmen umsetzen. Ich will hier im Parlament mit meine, wir brauchen eine Energieevolution. An dieser Ihnen über Finanzierung und konkrete gesetzliche Stelle muss man sich ehrlich machen. Keine große In- Rahmenbedingungen diskutieren. Das ist doch keine dustrienation ist vor uns diesen Weg gegangen. Wir sind Talkshow hier! Das Parlament muss gestalten! die Pioniere. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) der CDU/CSU) Das, was Sie gestern mit dem NAPE vorgelegt haben, Wenn ich den Vergleich mit Dänemark höre – nichts sind vor allem Maßnahmen für die Nachfrageseite – und gegen die Dänen; man muss von überall lernen; man das ist auch sehr wichtig, da wir den Endenergiever- muss überall gucken, was gut gemacht wird –, muss ich brauch reduzieren wollen. Der Wirtschaftsminister hat sagen: Dänemark kann man wohl eher mit Schleswig- gestern aber auch gesagt, dass er die verbliebene Lücke Holstein vergleichen als mit der gesamten Bundesrepu- zum Effizienzziel mit Einsparungen auf der Erzeugungs- blik. seite decken will – ein richtiger Ansatz; jedoch: Wirklich (Zuruf der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) konkret ist er nicht geworden. – Schleswig-Holstein bekommt eine ganze Menge hin. Wenn Sie den Strukturwandel konsequent in Richtung Aber vergleichen wir die Statistiken demnächst. eines Kohleausstiegs vorantreiben und den Ausbau der erneuerbaren Energien wieder ambitioniert in den Mit- Mein Dank geht an dieser Stelle ausdrücklich an telpunkt rücken würden, dann würde das dem Klima und Barbara Hendricks und an Sigmar Gabriel für das auch Ihrem Primärenergieeinsparungsziel nützen. Aktionsprogramm Klimaschutz und den Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz. Beides ist gestern be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schlossen worden, und das hat den heute vorliegenden Stattdessen haben Sie den Ausbau der Erneuerbaren ge- Antrag gegenstandslos gemacht. deckelt und wollen läppische 22 Millionen Tonnen CO 2 Es ist richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen von im Kraftwerkspark sparen, was in etwa 150 Petajoule den Grünen: Beide Vorlagen enthalten auch Prüfauf- entsprechen würde. Selbst wenn Sie hoffen, im Verkehr träge. Ich habe heute schon mehrere Zwischenrufe ge- noch was einsparen zu können: Sie brauchen dann im- (B) hört, in denen betont wurde, dass Prüfaufträge darin (D) mer noch 550 Petajoule, um Ihr eigenes Ziel zu errei- sind. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den chen. Ein Drittel Ihres selbst gesteckten Energieeinspar- Grünen, bei so einer komplexen Materie ist es doch rich- ziels bleibt also offen – nach all den Maßnahmen, die Sie tig: Erst prüfen, dann handeln. hier bisher angekündigt haben. Helfen würde auch, wenn Sie Ihr Ziel zur Kraft- (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wärme-Kopplung ernsthaft verfolgen würden. Aber das NEN]: Dann prüfen Sie! – Oliver Krischer Streichen des KWK-Indikators im Monitoringbericht zur [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie prüfen Energiewende lässt mich befürchten, dass Sie die KWK jetzt seit 20 Jahren!) schon abgeschrieben haben. Wenn Sie bei den Grünen es andersherum machen – erst Was lange währt, wird endlich gut? Ich weiß nicht. handeln, dann prüfen –, dann ist das Ihre Sache. Wir ma- Bei Ihrer Effizienzpolitik hat sich das leider noch nicht chen das nicht so, weil das unseriös und gefährlich ist. bewahrheitet. Wenn Sie im Parlament selbst keine Unser Motto ist: Gründlichkeit vor Hektik. Anträge zu dem Thema stellen, dann stimmen Sie doch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einfach unserem Antrag zu. Der ist überhaupt nicht über- der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜND- holt, sondern packt das Thema jetzt konsequent und kon- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Hektik?) kret an. Sowohl Barbara Hendricks als auch Sigmar Gabriel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) haben betont, dass die Ziele für den Klimaschutz und die Energieeffizienz gelten, die dieses Haus vor langer Zeit Vizepräsidentin Petra Pau: beschlossen hat. Ich weiß nicht, warum Sie das nicht zur Der Herr Kollege Klaus Mindrup hat für die SPD- Kenntnis nehmen wollen, liebe Kolleginnen und Kolle- Fraktion das Wort. gen von den Grünen. Hörgeräte zu verteilen, wird an die- ser Stelle wohl nicht helfen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Och! – Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sagen Sie doch mal konkret, Klaus Mindrup (SPD): was passiert!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle tragen hier gemeinsam eine große Große Ziele erfordern große Anstrengungen. Wenn Verantwortung. Die Energiewende muss ein Erfolg wer- man es richtig macht, bietet die Steigerung der Energie- 6980 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Klaus Mindrup (A) effizienz große Chancen für die Menschen in unserem (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Land, für den Mittelstand und für die Arbeitnehmerin- NEN]: Wir haben beantragt, dass das mehr nen und Arbeitnehmer. Gerade Effizienztechnologien wird!) werden ein Exportschlager werden. Es geht um nichts anderes als um die ökologische Modernisierung. Es geht Es gibt auch KfW-Programme, in deren Rahmen das um die Schaffung eines modernen Deutschlands, das im bereits praktiziert wird. Das befindet sich also in einer Jahr 2050 auf einer weitgehend dekarbonisierten Wirt- vernünftigen Umsetzung. schaft basieren wird. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen NEN]: Wir wollen, dass das Niveau viel grö- wir die Potenziale nutzen, vor allem in den Quartieren. ßer wird!) Die ganze Intelligenz muss in die Quartierslösungen hinein. Wir brauchen Kraft-Wärme-Kopplung als Effi- Das muss weitergeführt werden, und das wird auch wei- zienztechnologie; das wird natürlich auch schon ge- tergeführt. macht. Wir brauchen Strom- und Wärmespeicher, Solar- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – energie und Geothermie, Power to Heat, intelligente Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnologien NEN]: Sie wollten doch die Anstrengungen er- (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- höhen!) NEN]: Dass Sie das KWK-Ziel nicht errei- Aus meiner Sicht brauchen wir mehr genossenschaft- chen, ist Ihnen so peinlich, dass Sie es noch liche Lösungen. Denn da tun sich viele Menschen zu- nicht mal in den Monitoringbericht reinschrei- sammen, um etwas Wirtschaftliches und Gutes auf den ben!) Weg zu bringen. Vor allen Dingen gibt es dort, Frau – ich kann Ihre Zwischenrufe nicht verstehen; da müssen Dr. Gundelach, in der Regel kein Investor-Nutzer- Sie schon lauter rufen –, Dilemma. Da können wir also etwas tun. (Heiterkeit bei der SPD – Oliver Krischer Wir müssen natürlich auch Hürden überwinden. Mich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Pro- persönlich ärgert die steuerliche Diskriminierung von blem! Können Sie haben! – Gegenruf von der Mieterstrom. Ich hoffe, dass wir darüber noch nachden- CDU/CSU: Bitte nicht! Muss nicht sein!) ken werden. die über das Internet verbunden werden und dabei hel- Aber zurück zum Nationalen Aktionsplan Energie- (B) fen, Energie intelligent zu nutzen. effizienz. Was ich da ganz wichtig finde, ist, dass auch (D) kleinteilige Maßnahmen gefördert werden. Lieber tau- send kleine Projekte als ein Leuchtturmprojekt! Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Mindrup, ich habe die Uhr angehalten, weil (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Abgeordnete Kühn um die Möglichkeit bittet, Ihnen der CDU/CSU) eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu machen. Ich kann ein Beispiel aus Berlin erwähnen, das man bundesweit ausweiten könnte – das gibt es seit über Klaus Mindrup (SPD): 20 Jahren –: das Projekt „Fifty/Fifty“ an Schulen. Dabei Das kann er gerne machen. Bitte, bitte. geht es um verhaltensbedingte Energieeinsparung und darum, die Menschen dabei mitzunehmen und ihnen Vizepräsidentin Petra Pau: deutlich zu machen, dass ihr Verhalten sehr wichtig ist. Das Interessante ist: Man kann die Ergebnisse messen Dann haben Sie das Wort. und nachweisen, dass Energie eingespart wird.

Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE Die Überschrift des Aktionsplans Energieeffizienz GRÜNEN): „Mehr aus Energie machen“ ist richtig. Lieber Kollege Mindrup, Sie haben gerade das Hohe- lied auf das Quartier und die energetische Quartiersanie- Vizepräsidentin Petra Pau: rung gesungen. Ich frage mich, wo im NAPE Maßnah- Kollege Mindrup, Sie wurden offensichtlich erhört, men zur Erhöhung der Energieeffizienz im Quartier nicht was die Lautstärke der Zwischenrufe betrifft, enthalten sind. Wenn sie nicht im NAPE enthalten sind, wann gedenken denn die Bundesregierung und auch die (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: SPD-Fraktion sich dafür einzusetzen, dass die Energie- Tja, wer so was anfragt, kriegt es!) wende auch im Quartier ankommt? aber die Möglichkeit des Austausches. Die Kollegin Verlinden wünscht das Wort. Klaus Mindrup (SPD): Wir machen das ja bereits. Sie müssen sich nur das Programm „Energetische Stadtsanierung“ ansehen; da Klaus Mindrup (SPD): wird das bereits praktiziert. Bitte. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6981

(A) Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe ein ganz anderes Problem: Im Augenblick (C) Vielen Dank, dass Sie meine Zwischenfrage wird hier alles zerredet. Das führt dazu – die KfW merkt zulassen. – Sie haben gerade sehr viele Projekte genannt, das schon –, dass es nach bestimmten Programmen keine die es schon lange Zeit gibt und die zum Teil auch einen so große Nachfrage mehr gibt erfolgreichen Beitrag dazu geleistet haben, die Energie- einsparung voranzutreiben. Aber Fakt ist doch, dass Sie (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nach wie vor eine Lücke haben werden. Sie werden Ihr NEN]: Ist doch klar! Wenn man für 2016 was Ziel nicht erreichen, wenn Sie nicht mehr machen als ankündigt, dann würde ich jetzt auch nicht sa- das, was Sie bzw. die Union schon immer getan haben, nieren!) und zusätzlich nur die Maßnahmen umsetzen, die der – nein, es geht um die bestehenden Programme zur Ener- NAPE enthält. Das hat Ihnen doch die Expertenkommis- gieeffizienz sion ins Stammbuch geschrieben. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie nicht endlich eine Antwort auf die (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frage geben, wie Sie das letzte Drittel, das noch übrig NEN]: Ja, das macht doch keiner!) ist, einsparen wollen. und zur ökologischen Sanierung und um CO2-Pro- Klaus Mindrup (SPD): gramme –, weil hier ständig davon geredet wird – daran haben auch Sie einen Anteil –, dass das alles nichts Wenn Sie in die Zukunft sehen können und hier die bringt. Rolle der Kassandra wahrnehmen wollen, dann kann ich das an dieser Stelle nicht teilen. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was? Was soll das denn heißen? – NEN]: Nein! Das sagen die Experten! Ihre ei- Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- genen Experten sagen das!) NEN]: Wer regiert hier eigentlich, Herr Mindrup?) – Nein, nein, nein. Was die Experten geschrieben haben, haben wir gelesen. Die Regierung hat klar erklärt, Das ist ein Problem. Denn der Bürger weiß im Prinzip welche Maßnahmen notwendig sind, um das Ziel zu er- gar nicht, was er machen soll, wenn hier ständig kritisiert reichen. wird, und zwar von Ihnen und von ein paar Verirrten, die der Auffassung sind, dass man damit keinen Klima- (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schutz machen kann. NEN]: Nein, hat sie nicht!) (B) (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) – Doch. NEN]: Was? Hören Sie uns doch mal zu!) (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich finde, das ist ungünstig. Das ist schlecht für dieses NEN]: Nein!) Land. Sie müssen sich überlegen, welche Rolle Sie hier – An dieser Stelle könnten wir uns, glaube ich, ewig spielen wollen. Geht es Ihnen um den Schutz des Welt- streiten. Die Regierung hat gesagt, dass die Ziele fest- klimas, stehen, sie hat Maßnahmen aufgeführt, mit denen man (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diese Ziele erreicht, und sie hat gesagt: Wir überprüfen NEN]: Ja!) das jährlich, und wir machen uns ehrlich. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- oder wollen Sie das aktuelle politische Klima anheizen? NEN]: 500 Petajoule laut NAPE! Sie wollen Ich finde, das ist ein Problem. aber 3 500 erreichen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das muss man doch zur Kenntnis nehmen. Sie haben da der CDU/CSU) eine andere Auffassung; Sie nehmen das nicht zur Ja, es ist ein wirkliches Problem. Insofern hilft Kenntnis. Was soll ich dazu sagen? Da kommen wir manchmal ein Blick in ein altes Buch. Im Lukas-Evan- nicht zusammen. gelium steht: Im Himmel ist mehr Freude über einen reu- (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- igen Sünder als über tausend Gerechte. – Darüber sollten NEN]: Offenbar können Sie nicht rechnen!) Sie einmal nachdenken. Sie müssen wissen, ob Sie Ihre Funktion als Kassandra (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – weiterhin ausüben wollen oder nicht. Ich kann Ihnen an Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dieser Stelle nicht helfen. Machen Sie es doch konkreter, NEN]: Ist ja albern!) wenn Sie Vorschläge haben. Der Antrag, den Sie jetzt eingebracht haben, ist doch überhaupt nicht konkret. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Für die CDU/CSU-Fraktion beschließt der Kollege Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hansjörg Durz die Debatte. NEN]: Wenn man schon Gabriel verteidigen will, muss man besser sein!) (Beifall bei der CDU/CSU) 6982 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Hansjörg Durz (CDU/CSU): leicht können Sie mir erklären, woran das genau liegt; (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- denn das ist ja ein Problem. nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! „Machen Sie mal!“, Hansjörg Durz (CDU/CSU): (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Gabriel hat die Frage sehr wohl beantwortet. NEN]: Ja! Wer soll das machen?) (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- so ähnlich lauteten die Zwischenrufe der Opposition, als NEN]: Nein, hat er nicht!) wir diesen Antrag am 5. Juni hier schon einmal debat- – Aus meiner Sicht doch, das habe ich schon so verstan- tierten. In der Debatte wurden von allen Fraktionen die den. Außerdem wollen wir ja in die Zukunft blicken, und Notwendigkeit und die Vorteile von Energieeffizienz- wir wollen die Lücke, die es gibt, schließen, und dies tun maßnahmen eingehend diskutiert, und alle waren sich ei- wir mit NAPE, ganz einfach. nig, dass Energieeffizienz ein ganz entscheidender Fak- tor ist, um – wir haben es heute bereits mehrfach gehört – (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer CO2-Ziele zu erreichen, den Ausbau der Infrastruktur zu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine begrenzen, die Abhängigkeit von Importen zu reduzie- Antwort! Wir haben so viel gemacht, und es ren und Investitionen zu fördern. wird trotzdem schlechter!) Es herrscht große Einigkeit über die Wirkung und die Dennoch: Um die Energiewende zum Erfolg zu füh- Bedeutung von Energieeffizienzmaßnahmen. Die Kritik ren und die Klimaschutzziele zu erreichen – wir haben „Machen Sie doch mal!“ bezog und bezieht sich darauf, darüber bereits heute in der Aktuellen Stunde diskutiert –, dass Deutschland bei der Umsetzung der EU-Energieef- müssen wir deutlich größere Anstrengungen unterneh- fizienzrichtlinie in Teilen hinterherhinkt. Die Richtlinie men. So haben die Redner der Koalitionsfraktionen auf wurde zwar nur von ganz wenigen Ländern fristgerecht dieses „Machen Sie mal!“ am 5. Juni mit dem Hinweis umgesetzt, von Deutschland jedoch nicht. Deshalb ist reagiert, dass die Regierung an einem Aktionsplan arbei- die Kritik am zeitlichen Verzug durchaus berechtigt. tet. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gestern hat das Kabinett nun „gemacht“ und den Na- NEN]: Danke!) tionalen Aktionsplan Energieeffizienz beschlossen. Da- rin sind Maßnahmen und Ziele formuliert, die es ermög- Das bedeutet aber nicht, dass bei der Energieeffizienz lichen, die nationale Einsparverpflichtung aus der EU- in Deutschland nichts vorangegangen wäre. Deutschland Energieeffizienzrichtlinie vollständig sicherzustellen, ist die einzige Industrienation, in der Wirtschaftswachs- und das – was für uns und für die Umsetzung sehr wich- (B) tum und Energieverbrauch entkoppelt sind. Aktuelle tig ist – mit einem Programm, welches die Potenziale auf (D) Prognosen gehen davon aus, dass wir im Jahr 2014 einen der Basis von Wirtschaftlichkeit und Freiwilligkeit um etwa 5 Prozent niedrigeren Energieverbrauch haben durch Anreize und nicht durch Zwang heben wird. Wir werden. Diese Reduzierung des Verbrauchs ist nicht nur halten es für absolut richtig, dass im NAPE klar formu- mit milderen Temperaturen zu erklären, sondern spiegelt liert wurde, dass neue ordnungsrechtliche Vorgaben auch Effekte von Energieeinsparungen und Effizienz- nicht vorgesehen sind. maßnahmen wider. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stattdessen wollen wir einen Weg gehen, der Verbrau- Vizepräsidentin Petra Pau: cher, Haushalte und Unternehmen motiviert, freiwillig Kollege Durz, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- vorhandenes Effizienzpotenzial zu heben. Dabei ist eine kung der Kollegin Verlinden? Fülle von Maßnahmen und Initiativen geplant. Drei Schwerpunkte möchte ich kurz herausgreifen. Hansjörg Durz (CDU/CSU): Erstens. Die Industrie hat sich verpflichtet, in Selbst- Bitte. verantwortung 500 Energieeffizienznetzwerke aufzu- bauen, um ihre Potenziale zu heben. Dazu haben bereits gestern insgesamt 18 Verbände und Organisationen eine Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): entsprechende Vereinbarung mit der Bundesregierung Herzlichen Dank. – Sie haben eben gesagt: Es ist et- unterzeichnet. Bis zur Umsetzung ist sicher noch ein was passiert im Bereich Energieeffizienz. – Man kann Wegstück zu gehen, aber die Wirtschaft hat gestern ihre nicht bestreiten, dass etwas passiert ist. Aber ich frage Offenheit und ihre Bereitschaft, sich beim Thema Ener- mich trotzdem, warum wir bisher, seit 2008, erst bei gieeffizienz zu engagieren, deutlich dokumentiert und Prozent Einsparung der Primärenergie liegen, ob- 3,8 trägt mit diesen Netzwerken das Thema ins Land. Das ist wohl wir im Jahr 2012 immerhin bei 4,3 Prozent und allemal besser, als wenn dies durch staatliche Vorgaben 2011 bei 5,4 Prozent lagen. auferlegt wird. Das heißt, wir hatten von 2008 bis 2011, also in diesen (Beifall bei der CDU/CSU) drei Jahren, mehr geschafft und sind dann sozusagen wieder abgefallen. Diese Frage habe ich gestern Herrn Zweitens. Die besten Effizienzpotenziale sollen durch Gabriel gestellt. Er hat sie mir nicht beantwortet. Aber wettbewerbliche Ausschreibungen identifiziert und un- vielleicht weiß Herr Durz viel besser Bescheid. Viel- terstützt werden. Wir bedienen uns hier ganz bewusst der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6983

Hansjörg Durz (A) Suchfunktion des Marktes, um kostenoptimal Einspar- Sanierungen zuletzt auf der Tagesordnung standen, wur- (C) potenziale zu aktivieren, und hinterlegen diese Maßnah- den diese von einigen Ländern im Bundesrat blockiert. men mit entsprechend aufwachsenden Fördervolumina von bis zu 150 Millionen Euro im Jahr 2018 – ein inno- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vatives Instrument, das Innovationen fördern wird. NEN]: Allen!) Gestern wurden die steuerlichen Abschreibungen im Ka- Drittens. Wir werden durch verschiedene Maßnahmen binett beschlossen. Die Unionsfraktion steht hinter die- die energetische Gebäudesanierung im kommunalen, ge- sen Anreizen. Es liegt nun an den Ländern und somit werblichen und privaten Bereich bei Nichtwohngebäu- auch an den Grünen, ob wir diese Potenziale heben kön- den und bei Wohngebäuden deutlich vorantreiben. Die nen oder nicht. Ausweitung der bestehenden Gebäudesanierungspro- gramme um zusätzlich 200 Millionen Euro auf künftig (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 2 Milliarden Euro jährlich ab 2015 ist eine ganz kon- NEN]: Aber auch an den Unionsländern! Es krete Maßnahme. gibt davon ja noch ein paar!) Weitere Potenziale wollen wir durch die Möglichkeit Deshalb rufe ich Ihnen heute zu: Machen Sie mal! der steuerlichen Abschreibung aktivieren; denn durch steuerliche Anreize im Bereich der Gebäudesanierung Vielen Dank. können wir nicht nur erhebliche Fortschritte bei der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Energieeffizienz und beim Klimaschutz erreichen, son- dern auch ein Konjunkturprogramm für den Mittelstand und für das Handwerk auflegen und vor allem private In- Vizepräsidentin Petra Pau: vestitionen anreizen. Haushaltsmittel sind zwingende Ich schließe die Aussprache. Voraussetzung für den Anreiz von Maßnahmen, Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der NEN]: Ja! Genau! Und was ist letzte Woche Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die passiert?) Energiewende durch Energieeffizienz voranbringen – EU-Energieeffizienzrichtlinie unverzüglich umsetzen“. führen aber noch nicht zur Umsetzung. Ein Blick auf die Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aktuelle Situation belegt dies: Die Anzahl der geförder- auf Drucksache 18/2716, den Antrag der Fraktion Bünd- ten Wohneinheiten beim energetischen Sanieren konnte nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1619 abzulehnen. von 2012 bis 2013 zwar von 240 000 auf 275 000 gestei- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer (B) gert werden, diese Zahl wird aber 2014 nur schwer zu er- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- (D) reichen sein. Im Bundeshaushalt stehen für energetische empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und Gebäudesanierungen zwar Mittel in Höhe von 1,8 Mil- der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die liarden Euro zur Verfügung, Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: NEN]: Kein Cent mehr!) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak- allerdings wird voraussichtlich nur circa 1 Milliarde tionen der CDU/CSU und SPD eingebrach- Euro abgerufen. Dies hat drei Gründe: erstens das Zins- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung niveau, zweitens hat die Einführung der Zuschüsse zu ei- des Erneuerbare-Energien-Gesetzes nem Rückgang der Darlehen geführt, was sich auf das Drucksache 18/3321 Volumen auswirkt, und drittens – das ist die entschei- dende Komponente – wird seit einiger Zeit darüber dis- – Zweite und dritte Beratung des von den Ab- kutiert, ob es steuerliche Vergünstigungen bei der ener- geordneten Oliver Krischer, Dr. Julia getischen Sanierung geben wird. Auf diese Verlinden, Annalena Baerbock, weiteren Ab- Entscheidung warten viele Menschen. Es ist vorhin geordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ schon angeklungen: Verunsicherung ist am schlechtesten DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines für die Energieeffizienz. Gesetzes zur zweiten Änderung des Geset- zes für den Ausbau erneuerbarer Ener- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gien neten der SPD) Drucksache 18/3234 Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass eine schnelle Einigung zwischen Bund und Ländern zu steu- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- erlichen Abschreibungsmöglichkeiten zustande kommt. schusses für Wirtschaft und Energie (9. Aus- Zunächst wird dies zu Steuerausfällen bei Bund, Län- schuss) dern und Gemeinden führen. Da wir mit dieser Maß- Drucksache 18/3440 nahme aber ein Konjunktur- und Investitionsprogramm anschieben, werden diese in den Folgejahren weit über- Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU kompensiert. Eigentlich müssten dabei alle mitmachen. und SPD liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- Als die steuerlichen Abschreibungen von energetischen nis 90/Die Grünen vor. 6984 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sage: zum Glück. Wir haben eure beiden Anträge näm- (C) die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- lich noch einmal rechtlich geprüft: In beiden sind rechtli- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. che Fehler enthalten. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- SPD-Fraktion der Kollege Dirk Becker. NEN]: Das ist der Kabinettsbeschluss!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Beide hätten nicht zu dem Ergebnis geführt, das die Ko- alition jetzt herbeiführt. Es gibt einen Gesetzentwurf zur Dirk Becker (SPD): Regelung der anteiligen Direktvermarktung, und es gibt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Koali- Liebe Kollegen! Wir beraten heute eine Änderung des tionsfraktionen. Im Gesetzentwurf der Grünen zur antei- EEG, die im Wesentlichen aus drei Gründen erfolgt. Ich ligen Direktvermarktung sagen sie: Wir wollen die Än- will mich auf die Kernänderungen konzentrieren. derung rückwirkend zum 1. August vornehmen. – Dieser Hinweis fehlt im Änderungsantrag. Das heißt, die beiden Wie Sie alle wissen, haben wir im Rahmen der Bera- Punkte in eurem Änderungsantrag würden zwar für die tungen zum EEG im Sommer die Besondere Ausgleichs- Zukunft gelten, aber nicht rückwirkend in Kraft treten. regelung für die energieintensiven Unternehmen, aber Wären wir diesem Antrag gefolgt, hätte es diesen Be- auch für die Schienenbahnen neu regeln müssen. Nach standsschutz nicht gegeben. dieser Änderung und nach der Einigung, die zunächst mit der Europäischen Kommission erzielt wurde, haben Jetzt komme ich – wie gesagt, wir haben das rechtlich wir die Mitteilung erhalten, dass die Befürchtung be- überprüft – zum Gesetzentwurf. Ja, mit dem Gesetzent- steht, dass die Regelung, wie wir sie getroffen haben, wurf wird versucht, den Fehler bei der anteiligen Direkt- den Markteintritt neuer Betreiber von Schienenbahnen vermarktung rückwirkend zu korrigieren und Rechtssi- behindern könnte. Deshalb haben wir gesagt: Das wollen cherheit herzustellen. Dabei passiert ein entscheidender wir korrigieren. Das wird mit diesem Gesetzentwurf Fehler: Es wird zwar ein Fehler korrigiert; ihr vergesst auch entsprechend getan. Damit schaffen wir Rechts- aber, im Anhang die anderen Absätze zu korrigieren. sicherheit für alle Unternehmen im Bereich der Schie- Dadurch werden neue Gesetzesfehler ausgelöst. Ich sage nenbahnen, damit alle zum 1. Januar 2015 in den Genuss also bei aller Kritik: Ja, wir haben da einen Fehler ge- der Besonderen Ausgleichsregelung kommen. Das macht. Ihr sagt, das sei nur wegen der Hektik passiert; schafft Planungssicherheit auch im Hinblick auf die aber ihr hattet Monate Zeit, diesen Gesetzentwurf vorzu- Fahrpreisgestaltung. Von daher ist es richtig und wichtig, bereiten, der im Wesentlichen aus zwei Sätzen besteht, es heute in dieser Form zu tun. und schafft es, bei beiden einen Fehler einzubauen. Da- (B) her wäre an dieser Stelle ein bisschen Zurückhaltung an- (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gemessen. Der zweite Bereich. Wir haben bei der Änderung des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gesetzes Formulierungen gewählt, die sich anschließend der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜND- als problematisch herausgestellt haben. Man kann sagen: NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sind wir schuld, Es ist ein Fehler bei der Formulierung passiert. Das dass wir euch zur Änderung getrieben haben! führte insbesondere im Bereich der Biomasseanlagen zu Das ist ja wohl das Allerletzte!) Vergütungsausfällen. Das war politisch nicht beabsich- tigt, das war politisch nicht gewollt. Jetzt komme ich zum dritten Punkt. Das ist die Frage, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wie wir mit der anteiligen Direktvermarktung umgehen. NEN]: Schlechte Gesetzgebung!) So, wie es im Gesetzentwurf der Grünen steht, kann man es aus den gerade dargestellten Gründen nicht machen; Da es einen Eingriff in den Bestand darstellt, ist es auch er ist erneut fehlerhaft. Wir haben uns in der Großen Ko- richtig und wichtig, heute diesen Fehler – für den die Be- alition darauf verständigt, auch diesen Punkt noch zu treiber nichts können – rückwirkend zum 1. August zu prüfen. Es stellt sich die Frage: Ist das in der Tat ein korrigieren. Rechtsversäumnis, das einen Eingriff in den Bestands- schutz bedeutet, oder hätten die Anlagenbetreiber früher (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Alternativen gehabt? Wir werden das klären, wir werden Diese Koalition hat ohne Wenn und Aber den Mut, das das prüfen. Wenn sich herausstellen sollte, dass auch das zuzugeben und die Konsequenz zu ziehen und dies zu ein Fehler ist, werden wir das ebenso selbstverständlich korrigieren. korrigieren. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: „Ohne Wenn und Aber“, das ist aber re- NEN]: Es gibt ja schon Betroffene!) lativ!) Wie gesagt: Da gibt es gegenwärtig unterschiedliche – Jetzt kommt Oliver Krischer mit „ohne Wenn und Auffassungen. Ich finde aber, es gehört zu sauberer Poli- Aber“. Ich habe mir gestern im Ausschuss die Vorwürfe tik, anzuerkennen: Wir tun alles, um im EEG das zu be- angehört: Weil alles so schnell läuft, sind die Fehler pas- reinigen, was den Ausbau hemmt. siert. Ihr hättet gründlicher beraten müssen. – Dann sagte man auch: Nicht einmal unsere Anträge tragt ihr jetzt (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit, sondern müsst auch noch eigene machen. – Ich NEN]: Ihr tut nichts!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6985

Dirk Becker (A) Denn wir wollen die Anlagenbetreiber schützen, Investi- Damit wären weitere Fehler bereinigt worden; dann (C) tionssicherheit schaffen und den Bestandsschutz garan- müssten wir nicht immer wieder nachbessern. tieren. Das wird mit dem heute vorliegenden Gesetzent- wurf der Koalition getan. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um auf die Per- spektive der Erneuerbare-Energien-Branche einzugehen. Vielen Dank. Die Folgen des EEG 2014, aber auch schon des EEG (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 2012 für die Biogasbranche zeichnen sich als verheerend ab. Vermutlich kommt der weitere Ausbau im Biogasbe- reich komplett zum Erliegen. Das ist schlimm. Die Bran- Vizepräsidentin Petra Pau: che investiert jetzt vornehmlich im Ausland – so viel zur Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für Abwanderung von Investoren. die Fraktion Die Linke. Nun hören wir aber auch aus der Solarbranche, dass (Beifall bei der LINKEN) bereits in diesem Jahr das Ausbauziel verfehlt wird. Es wird wahrscheinlich nicht einmal 1,9 Gigawatt betragen. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Von der Bundesregierung waren 2,5 Gigawatt ange- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und strebt. Wir konstatieren: Das Ausbauziel Solar wird in Kollegen! Vier Monate nach Inkrafttreten des umkämpf- diesem Jahr bereits um 20 Prozent verfehlt. Im nächsten ten Erneuerbare-Energien-Gesetzes treten wir heute wie- Jahr sieht es nach Prognosen der Branche noch wesent- der zusammen, um im Wesentlichen handwerkliche Feh- lich schlimmer aus. Die Solarwirtschaft rechnet dann mit ler im EEG 2014 auszubessern. Sie wissen: Wir haben nur noch 1 Gigawatt. das EEG im Sommer scharf kritisiert, weil es einen Para- digmenwechsel einleitet und die erneuerbaren Energien Wenn dieses Negativszenario eintreten sollte, dann dem Marktgeschehen und den großen Investoren über- hat dies auch Auswirkungen auf das Klimaschutzziel; eignet. Wir sehen hier eine Weichenstellung, die wirk- denn ich vermute, dass Sie bei Ihren Berechnungen zum lich in die falsche Richtung führt – weg von der festen Nationalen Aktionsplan Klimaschutz davon ausgegan- Einspeisevergütung für erneuerbare Energien hin zur Di- gen sind, dass die Ausbauziele für die erneuerbaren rektvermarktung und zu Ausschreibungen. Wir haben Energien erreicht werden. Vielleicht sagen Sie nachher kritisiert, dass damit den großen Investoren, natürlich noch etwas dazu. Es gibt im gesamten Strommarkt noch auch den großen Energiekonzernen, das Feld bereitet sehr viele Unsicherheiten, zum Beispiel auch was die wird. Eon hat diese Botschaft mittlerweile verstanden Ausschreibungen im Sektor der erneuerbaren Energien und setzt künftig ganz auf die Erneuerbaren. Die Bürger- angeht. energie wird nicht mehr so leicht mitspielen können. Das (B) Weil wir in diesen Tagen vermehrt über den Wärme- (D) nehmen wir nicht hin, liebe Kolleginnen und Kollegen. markt sprechen: Die Solarthermie stagniert seit Jahren (Beifall bei der LINKEN) und ging 2012 sogar um 11 Prozentpunkte zurück. Das ist übrigens das Ergebnis des Marktanreizprogramms, Wir haben auch den übermäßigen Zeitdruck kritisiert, das Sie fortführen wollen. Man sieht daran, dass es ein- unter dem die Bundesregierung das EEG auf den Weg fach nicht funktioniert. gebracht hatte. Vermutlich werden nach und nach noch mehr Fehler bekannt, die einzelne Betriebe empfindlich (Beifall bei der LINKEN) treffen können. Die heute zu Beschluss stehenden Ände- rungen am EEG führen zu Verbesserungen im Bereich Wir können es uns nicht mehr leisten, die erneuerbaren der Schienenbahnen; insbesondere sollen ausländische Energien im Bereich der Wärme so sträflich zu vernach- Anbieter von Schienenverkehrsleistungen nicht benach- lässigen. teiligt werden und nun auch in den Genuss einer abge- Jetzt komme ich noch einmal auf Dänemark zu spre- senkten EEG-Umlage kommen. Wir begrüßen dies, ob- chen. Es tut mir leid, aber da klappt es eben. Dort ist man wohl die Linke, wie Sie wissen, grundsätzlich die mit dem Ausbau der Erneuerbaren schon viel weiter als größtenteils überzogenen Privilegien für die Industrie hierzulande, weil man von Anfang an auf Ordnungsrecht ablehnt, die das EEG vorsieht. Die Schienenbahnen sind gesetzt hat. Ich muss Ihnen das immer wieder sagen, da für uns aus ökologischen Gründen eine Ausnahme. auch wenn Ihnen das nicht gefällt. (Beifall bei der LINKEN) Bundesminister Gabriel hat gestern bei der Regie- Es gibt im EEG weitere handwerkliche Fehler, die die rungsbefragung erklärt, wir seien bei den Erneuerbaren Erzeuger erneuerbarer Energien bares Geld kosten. Des- auf Zielkurs. Ich kann da nur sagen: Es wäre schön, halb sollten sie alsbald behoben werden. Es ist bedauer- wenn dem so wäre. Die Zahlen sagen etwas anderes. lich, dass sich die Koalition gestern im Wirtschaftsaus- Also, tun Sie etwas! schuss nicht darauf einigen konnte, den Gesetzentwurf (Beifall bei der LINKEN) der Grünen zur Direktvermarktung anzunehmen. Wenn darin ein Fehler enthalten war, hätte man ihn heilen und den Gesetzentwurf dann trotzdem beschließen können; Vizepräsidentin Petra Pau: wir sind da nicht so. Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Thomas Bareiß. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – [SPD]: Seit wann seid ihr nicht so?) (Beifall bei der CDU/CSU) 6986 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Thomas Bareiß (CDU/CSU): von der Wärmenutzungspflicht befreit. Diese Befreiung (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und ist auch richtig. Biomasse-KWK-Anlagen, die sich auf- Herren! Als das EEG im Sommer dieses Jahres verab- grund der Direktvermarktung am Markt orientieren und schiedet wurde, war allen Beteiligten von vornherein damit auch ihren Strom bedarfsorientiert produzieren klar: Eine solche EEG-Novelle hat es bisher noch nicht und einspeisen müssen, können keine stetige Wärmelie- gegeben. Dass die Bundesländer schon vorzeitig ihre ferung garantieren. Ansprüche und Wünsche anmelden, war aus vorherge- henden Novellen bekannt. Aber dass jetzt auch die Ge- Mit dem EEG 2014 wurde die Direktvermarktung neu nehmigung der EU-Kommission notwendig war, war geordnet, jedoch wurde die Befreiung von der 60-pro- neu und hat die Abstimmungen bei den Vorarbeiten zum zentigen Wärmenutzung in den Übergangsregelungen Gesetzentwurf nicht gerade vereinfacht. Die EU ist auch – das war nicht gewollt; Kollege Becker hat das bereits der Grund, warum wir heute das EEG erneut beraten und gesagt – nicht fortgeschrieben. Das hat zur Folge, dass nachher hoffentlich auch verändern werden. rund 300 Biomasseanlagen keine EEG-Vergütung mehr bekommen und die Anlagen zwangsläufig vor dem Aus Lassen Sie mich kurz auf die vorliegenden hauptsäch- gestanden hätten. Deshalb ist es im Sinne des Bestands- lichen zwei Änderungspunkte im Detail eingehen. Es be- schutzes und unserer Energiepolitik, diesen Fehler zu steht ein breiter politischer Konsens – das kam gerade korrigieren, und es war ein Fehler; auch das muss am auch in den Ausführungen der beiden Vorredner zum heutigen Abend, glaube ich, gesagt werden. Ausdruck –, dass Schienenbahnen von der EEG-Umlage entlastet werden. Auch wenn der Schienenverkehr nicht Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, den wie die energieintensive Industrie im internationalen auch Kollege Becker bereits angesprochen hat. Wir wol- Wettbewerb steht, müssen wir trotzdem die Schienen- len prüfen, inwiefern die anteilige Direktvermarktung bahnen entlasten, weil sie einen ganz entscheidenden noch einmal angepackt werden muss. Wir wollen klären, Beitrag zu einem umweltfreundlichen Verkehrssystem inwiefern Rechtsunsicherheit besteht. Auch hier wollen leisten. wir in den nächsten Wochen für Klarheit sorgen. Deshalb haben wir zu Recht im Sommer beschlossen, Mit der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes dass die Schienenbahnen nicht die volle Umlage, son- haben wir im Sommer die erste große energiepolitische dern nur 20 Prozent der EEG-Umlage zahlen müssen. Maßnahme in dieser Wahlperiode beschlossen. Ziel war Heute ist deshalb eine Änderung notwendig geworden, es, den Kostenanstieg bei der Förderung der erneuerba- weil die EU-Kommission die Regelungen zur Entlastung ren Energien zu dämpfen, was uns auch, glaube ich, ge- des Schienenverkehrs – erst Anfang November dieses lungen ist, und die erneuerbaren Energien zusätzlich Jahres übrigens – als teilweise beihilferechtswidrig be- stärker in den Markt zu integrieren. (B) (D) wertet hat. Problem aus Sicht der Kommission ist es, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass neue Schienenbahnunternehmen nicht antragsbe- NEN]: Das ist Ihnen nicht gelungen! Im Ge- rechtigt sind. Damit hätten sie bei einer Ausschreibung genteil!) einen Nachteil gegenüber bestehenden Wettbewerbern. Zwei Elemente waren dabei von entscheidender Be- Mit der vorliegenden Änderung wird dieses Problem deutung: erstens die Festlegung von klaren Ausbaukorri- gelöst. Die Änderungsmöglichkeiten für neue Schienen- doren und zweitens der Umstieg aus dem EEG hin zu bahnen werden zeitlich vorverlagert, sodass Wettbe- einem Ausschreibungsmodell. Wir haben erstmals ge- werbsverzerrungen vermieden werden. Ohne diese Än- setzlich verbindliche Ausbaukorridore für die Wind-, derungen würden ab dem kommenden Jahr erhebliche Sonnen- und Bioenergie festgelegt. Wir wollen im Be- Belastungen auf die Zugfahrer in ganz Deutschland zu- reich von Wind-onshore 2 500 Megawatt pro Jahr zu- kommen. Das wollen wir mit der jetzigen Novelle ver- bauen. Im Bereich der Solarenergie/PV wollen wir eben- meiden. Sonst würde es nämlich so sein, dass deutsche falls 2 500 Megawatt pro Jahr zubauen. Im Bereich der Bahnfahrer, aber auch Straßenbahnkunden erhebliche Biomasse wollen wir 100 Megawatt pro Jahr zubauen. Ticketpreiserhöhungen in Kauf nehmen müssten. Das Im Bereich von Wind-offshore haben wir das Ziel, bis verhindern wir mit dem heutigen Änderungsantrag. Das 2020 6,5 Gigawatt auf den Markt zu bringen. Damit wollen wir auch zügig umsetzen. wurde Planungssicherheit für die Investoren im Erneuer- Wir wollen, meine Damen und Herren, mit der EEG- bare-Energien-Bereich geschaffen, die sich nun an dem Novelle einen weiteren Schritt machen. Wir haben dazu Ausbaupfad orientieren können. Das gilt auch für den im Sommer eine Reihe von grundsätzlichen Änderungen Netzausbau, der dringend mit dem Ausbau der erneuer- auf den Weg gebracht. Für uns hatte dabei die Wahrung baren Energien Schritt halten muss. Weiterhin wollen des Bestandsschutzes immer oberste Priorität. wir die weitere Planung des konventionellen Kraftwerks- parks, der für die Versorgungssicherheit höchste Priorität Auch bei der zweiten Änderung, die wir gestern im hat und den Ausgleich fluktuierender erneuerbarer Ener- Ausschuss einstimmig verabschiedet haben, geht es um gien sicherstellt. die Herstellung des Bestandsschutzes; denn im Zuge der Übergangsregelungen des EEG 2014 ist eine Gesetzeslü- Auch wurde mit dem EEG-Beschluss im Sommer der cke entstanden, von der die Kraft-Wärme-Kopplung in Ausstieg aus dem EEG eingeleitet. Unser Ziel ist es, die Biomasseanlagen betroffen ist, die unter Geltung des Förderhöhe für erneuerbare Energien spätestens ab 2017 EEG 2012 in Betrieb genommen wurden. Biomasseanla- durch Auktionen zu ermitteln. Das ist ein Schritt hin zu gen, die sich in der Direktvermarktung befinden, waren mehr Kosteneffizienz und zu mehr Markt, was im Übri- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6987

Thomas Bareiß (A) gen auch von der Europäischen Kommission gefordert Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) wird. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um eines klarzustellen: Die EEG-Novelle, die die Große Es ist wichtig, erste Erfahrungen zu sammeln. Des- Koalition im Sommer verabschiedet hat, ist eine Abriss- halb sind wir gerade in den finalen Abstimmungen zu ei- veranstaltung für erneuerbare Energien. Sie beenden den ner Verordnung, die die Pilotausschreibung für PV-Frei- Biogasausbau ganz offiziell, beim Wind produzieren Sie flächen im nächsten Jahr regeln soll. Die Ausschreibung durch die Ankündigung von Ausschreibungen eine soll in einem Nischenmarkt erprobt werden. Wir werden Schlussverkaufsmentalität, prüfen, wie das im Ausland in den letzten Jahren mit der Ausschreibung funktioniert hat, und werden diese Erfah- (Dr. [CDU/CSU]: Das ist die rungen dann in die zukünftige Ausschreibung einfließen falsche Rede!) lassen. Es werden sicherlich Fehler gemacht, aus denen und der Ausbau der Photovoltaik ist nach Ihrer Novelle wir lernen können. zusammengebrochen. Sie bleiben unter dem von Ihnen selbst festgelegten Korridor. Schon allein deshalb, weil Ich kann nur jeden Einzelnen hier auffordern: Machen der Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien Sie mit! Es ist notwendig, dass wir einen weiteren nicht so läuft, wie Sie es zugrunde gelegt haben, ist klar, Schritt im EEG vornehmen. Das EEG in seiner bisheri- dass Ihr Klimaschutzprogramm eine Luftbuchung ist. gen starren Struktur war relativ einfach aufzubauen. Es Sie selbst haben die Grundlage dafür kaputtgemacht. Ich wurde vielfach in der Welt, wie oftmals hier beschrie- finde, das muss an dieser Stelle noch einmal klargestellt ben, kopiert, wenn auch nicht mit diesem enormen Volu- werden. men und diesem enormen Kostenrahmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Der nächste Schritt wird das Marktmodell sein. Wenn Dr. [CDU/CSU]: Haben Sie das Marktmodell funktioniert, werden wir es schaffen, es nicht ein bisschen kleiner?) dass erneuerbare Energien zu einer tragenden Säule und auch wettbewerbsgerecht werden. Wenn wir das ge- Weil der Kollege Bareiß gerade die EEG-Novelle ge- schafft haben, dann wird auch unsere Energiewende ein lobt und betont hat, was damit alles gemacht wird, Exportschlager sein. möchte ich auf Folgendes hinweisen: Vor der Verab- schiedung im Ausschuss wurden uns 200 Seiten auf den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Tisch gelegt. Der Herr Großwesir, der Wirtschaftsminis- der SPD) ter, hat sich hier hingestellt und gesagt, dass man das wohl in anderthalb Stunden lesen könne, das sei wohl (B) Mit der EEG-Novelle haben wir zwar die künftige kein Problem, das sei alles richtig. Seine Worte hallten (D) Förderung des Bereichs der erneuerbaren Energien gere- noch durch den Raum, als wir eine Woche später, eine gelt, jedoch war allen Beteiligten klar, dass auch zeitnah Woche nach der Verabschiedung, die erste Korrektur wirkende Regelungen auf den Weg gebracht werden vornehmen mussten. Das, was Sie an dieser Stelle abge- müssen. Um den Ausbau des Bereichs der erneuerbaren liefert haben, ist nicht nur politischer Murks, sondern Energien und die Netzverträge zu gestalten, müssen wir auch handwerklicher Murks. einen weiteren Schritt gehen. Auch das haben wir im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Koalitionsvertrag festgelegt, und auch das wird Bestand- teil der nächsten Novellierung des EnWG und des EEG Viele haben damals gesagt, diese Fehler, die schon bei im nächsten Jahr sein. der Verabschiedung festgestellt worden sind, würden nicht die einzigen Fehler bleiben. Jetzt haben wir weitere Nach der Novelle des EEG ist vor der Novelle des auf dem Tisch. Wir debattieren jetzt hier über das ganze EEG. Das bleibt auch in Zukunft so. Da die erneuerbaren Thema nur, weil inzwischen weiterer EEG-Murks, weil Energien noch keine Marktreife erlangt haben, müssen weitere Fehler aufgefallen sind. Es ist schon unglaub- wir intensiv daran arbeiten. Die erneuerbaren Energien lich, dass Sie sich auch noch selber dafür loben, dass Sie müssen mit dem Netzausbau in Einklang gebracht wer- diese Fehler korrigieren. Es ist eine pure Selbstverständ- den, aber auch mit dem konventionellen Kraftwerkspark lichkeit, dass man das tut. abgestimmt werden. Nur so kann die Energieversorgung in Zukunft sicher und wirtschaftlich bleiben. Hier liegt (Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Wer hat den noch ein großes Stück Arbeit vor uns. Vertrauensschutz Murks denn auf den Weg gebracht?) muss dabei oberste Priorität haben. Deshalb bitte ich Sie Dafür sollte man sich entschuldigen. Man sollte sagen: heute um Zustimmung zu den zwei Änderungen, die ich „Wir haben Murks gebaut“, und sich nicht hier breitbei- vorhin beschrieben habe. nig hinstellen und sagen: Das ist alles wunderbar, was wir machen. – Das ist unanständig. Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bei Abgeordneten der LINKEN) Jetzt werde ich etwas zu den Kollegen Becker und Vizepräsidentin Petra Pau: Heil sagen, weil ich es eine Unverschämtheit finde, wie Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die das hier dargestellt wird. Wir haben vor vier Wochen ei- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. nen Gesetzentwurf zur anteiligen Direktvermarktung 6988 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Oliver Krischer (A) eingebracht. Dazu gab es die Bitte der Großen Koalition Der Punkt ist folgender: Es gibt zwei Fehler, die zu (C) in Person von Hubertus Heil – er nickt –, diesen Gesetz- korrigieren sind; denn ich finde, wenn eine Regierung entwurf zurückzustellen. Man werde sich in der Großen oder eine Regierungsfraktion Fehler macht, dann muss Koalition darauf verständigen. Darauf habe ich gewartet. man sie korrigieren. Irgendwann hörte man dann, dass das Bundeskabinett Den Fehler, den wir beim Thema Biomasse gemacht noch irgendetwas beschließen muss, dass noch eine For- haben, korrigieren wir. Darin sind wir uns auch einig. mulierungshilfe erstellt werden muss und es keine ge- Beim Thema Schienenbahnen gab es keinen Fehler, son- meinsame Initiative geben wird. Jetzt steht die Verab- dern das Problem hatte etwas mit der Notifizierung der schiedung dieses Gesetzentwurfs an. Den Fehler, der Europäischen Kommission zu tun. Hier sind wir uns in beim Thema Biomasse aufgetreten ist, korrigieren wir, der Sache auch einig. und auch den Fehler im Bereich Schienenverkehr – das ist alles Konsens –, aber bei der anteiligen Direktver- Zum Thema „anteilige Direktvermarktung“ sage ich marktung wird nicht korrigiert. Ich frage mich, da Sie Ihnen: Wir werden Ihrem Antrag heute nicht zustimmen seit vier Wochen unseren Gesetzentwurf auf dem Tisch können, weil es in der Koalition noch keine Einigkeit liegen haben: Warum, liebe Mitglieder der Großen Ko- hinsichtlich der Frage der abgeschlossenen Prüfung gibt alition, haben Sie nicht zusammengefunden? Warum ha- und weil bei der einen oder anderen Formulierung die ben Sie nicht den Mut, uns hier eine Änderung vorzule- Befürchtung besteht, dass Ihre Vorschläge zu neuen Feh- gen, wenn Sie meinen, dass unser Gesetzentwurf nicht lern führen könnten. richtig ist? Das verstehe ich überhaupt nicht. Das ist mir völlig unklar. Wenn Sie sagen, Ihre Formulierung entspreche der in der Formulierungshilfe des Kabinetts – das haben Sie ja Dann möchte ich noch eines sagen. gerade gesagt –, dann sage ich Ihnen: Auch diese ist nicht unveränderbar. Wir bleiben aber an dem Thema Vizepräsidentin Petra Pau: dran. Kollege Krischer, gestatten Sie dem Kollegen Heil Noch einmal: Ich wollte Ihnen, Oliver Krischer, gar eine Bemerkung oder Zwischenfrage? nicht widersprechen, sondern ich wollte den Sachverhalt darstellen, damit man draußen auch weiß, um es einmal Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): klar zu sagen, dass wir inhaltlich an dieser Stelle über- Gern. haupt keiner unterschiedlichen Meinung sind. Das ist der Hintergrund dieses Verfahrens. Hubertus Heil (Peine) (SPD): Ich wollte Sie nicht behumsen, als ich Sie anrief und (B) Herzlichen Dank, Herr Kollege Krischer. – Ich will gebeten habe, ein, zwei Wochen zu warten, weil wir (D) keine Zwischenfrage stellen – das muss ich auch nicht; nach einer gemeinsamen Lösung suchen, und ich wollte es gibt nach der Geschäftsordnung die Möglichkeit einer hier einmal zugeben: Wir haben keine gemeinsame Lö- Zwischenbemerkung – und Ihnen auch gar nicht wider- sung gefunden. Wir müssen das Problem aber lösen. sprechen, sondern ich will Ihnen nur der Hygiene wegen Herzlichen Dank. und damit wir hier ganz klar miteinander sind, meine persönliche Auffassung und auch die mehrheitliche Auf- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef fassung meiner Fraktion mitteilen. Göppel [CDU/CSU]) Danach ist der Fehler beim Thema „anteilige Direkt- Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vermarktung“ mit dem Fehler beim Thema Biomasse vergleichbar. Wie der Kollege Becker bestätigt hat, ha- Herzlichen Dank, Herr Kollege Heil, für diese Klar- ben wir das miteinander geprüft und festgestellt, dass stellung, weil sie eines zeigt: In der Sache gibt es null wir in der Koalition hierzu noch nicht zu einer Lösung Dissens. gekommen sind. Wir arbeiten aber nach wie vor daran; (Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Das ist auch so!) das Thema ist nicht vom Tisch. Wir haben den Änderungen bei den Themen Schie- Bei aller Auseinandersetzung, die wir hier im Plenum nenverkehr und Biogas zugestimmt. Nur einmal am führen, will ich Ihnen erst einmal ganz persönlich dafür Rande erwähnt: Zum Thema Biogas hatten wir einen danken, dass Sie eine Woche lang gewartet und Ihren Änderungsantrag eingebracht. Dem konnten Sie als Antrag nicht gestellt haben. Ich hatte wirklich die Hoff- Große Koalition aber nicht zustimmen, weil nicht nung, dass wir in diesem Punkt gemeinsam vorankom- „Union“ und „SPD“ darübersteht, weshalb Sie einen ei- men. Sie persönlich wissen aber, wie es ist, wenn man genen Änderungsantrag einreichen mussten, der iden- miteinander koaliert. Wir haben uns untereinander da- tisch mit dem ist, den wir eingebracht haben. Das alles rauf verständigt, dass wir Anträge zusammen stellen, da- ist geschenkt. mit die Regierung funktioniert. Dabei geht es nicht um eine Gewissensfrage nach Artikel 38 Grundgesetz. Sie haben aber gerade ausgeführt, dass es hier im Haus einen Konsens über das Thema „anteilige Direkt- Deshalb wollte ich noch einmal sagen: Wir werden vermarktung“ gibt. So habe ich das wahrgenommen, und Ihrem Antrag nicht zustimmen, und wir haben auch bei so interpretiere ich jetzt Ihre Äußerungen. Man kennt der einen oder anderen Formulierung das Gefühl, dass es das Thema seit Wochen, und das Kabinett hat dazu eine dadurch neue Rechtsunsicherheiten gäbe. Formulierungshilfe beschlossen, die wir eins zu eins hier Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6989

Oliver Krischer (A) einbringen. Unsere Formulierung entspricht also genau men Ausgestaltung der Besonderen Ausgleichsregelung (C) der Formulierung von Sigmar Gabriel und des Bundes- befasst. Einen Teil allerdings, die Teilbefreiung der kabinetts Angela Merkel. Sie tun hier aber so, als sei das Schienenbahnen, hatten wir noch ausgenommen. rechtsfehlerhaft. Das mag ja sein, aber dann frage ich mich: Wieso legen Sie seit Wochen nichts Eigenes vor? Die EU sieht in der derzeitigen Regelung einen Ver- stoß gegen das Wettbewerbsrecht. Sie beanstandet, dass Ich kann das nur folgendermaßen interpretieren: Sie Markteintrittsbarrieren für neu zu gründende Schienen- sind in dieser Großen Koalition offensichtlich nicht in bahnen auftreten, da diese im Vorfeld noch keine Privile- der Lage, sich über Selbstverständlichkeiten, über gierungen in Anspruch nehmen konnten und dement- Dinge, die Konsens sind, zu verständigen. Da Sie schon sprechend bei öffentlichen Ausschreibungen mit anderen nach einem Jahr Große Koalition so weit sind, dass Sie Preisen bieten müssten als bereits existente Schienen- sich über Dinge, die eigentlich Konsens und Selbstver- bahnen. ständlichkeiten sind, nicht mehr verständigen können, frage ich mich: Wie wollen Sie ein Klimaaktionspro- Diesen Nachteil räumen wir heute aus. Künftig sollen gramm umsetzen, bei dem noch ganz andere Herausfor- auch Schienenbahnbetreiber, die bisher noch nicht von derungen zu lösen sind? Nach dem Sittenbild Ihrer Ko- der Besonderen Ausgleichsregelung profitierten, bzw. alition geht es doch nur darum, wer wen an dieser Stelle neu zu gründende Unternehmen in öffentlichen Aus- in der Energiepolitik demütigt, und das kann doch nicht schreibungen mithalten können. Wir stellen sicher, dass sein. Das ist ein Unding! auch 2015 noch alle Schienenbahnbetreiber Anträge auf Privilegierung beim BAFA stellen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Andernfalls würden auf bereits existierende Schie- Ich bedauere das sehr, weil das, was Sie hier ablie- nenbahnbetreiber enorme Kosten zukommen. Allein in fern, Menschen und eine ganze Reihe konkreter Unter- meiner Heimatstadt, in München, würde das für die nehmen betrifft, die uns sagen: „Wenn die Probleme Münchner Verkehrsgesellschaft Mehrkosten von 14 Mil- beim Thema ,anteilige Direktvermarktung‘ nicht gelöst lionen Euro bedeuten. Das wäre – ich glaube, hier sind werden, dann droht eine Insolvenz“, und Sie haben hier wir uns einig – verkehrs- wie umweltpolitisch Unsinn, gerade dokumentiert, dass Sie sie nicht lösen wollen und den wir nicht wollen. können – jedenfalls nicht vor Jahresende. Damit treiben Sie Unternehmen, die Vertrauensschutz genießen sollten, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der die sich darauf verlassen haben, dass das, was eine Bun- CDU/CSU) desregierung hier beschließt, gilt, möglicherweise in die Trotz der existierenden Privilegierung der Schiene ist Insolvenz. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir es nicht so, dass die Bahn keinen Beitrag zum EEG leis- (B) in der Energiepolitik brauchen: Wir brauchen Planungs- tet: Sie bringt bei der EEG-Umlage einen Betrag von (D) sicherheit, die Menschen müssen wissen, wo es hingeht. circa 105 Millionen Euro pro Jahr auf, 75 Millionen Das, meine Damen und Herren von der Großen Koali- Euro allein im Güterverkehr. tion, ist ein absolutes Armutszeugnis. Gerade im Hinblick darauf, dass der Schienenverkehr Deshalb werden wir hier unseren Gesetzentwurf zur den wichtigsten Beitrag zur Energiewende im Verkehrs- anteiligen Direktvermarktung zur Abstimmung stellen. sektor leistet, können wir nicht zulassen, dass eine Situa- Ich kann es Ihnen nicht ersparen, hier aktiv zu sagen: tion entsteht, in der sich der Schienenverkehr im Wettbe- Nein, wir wollen das nicht, wir wollen dieses Problem werb gegenüber anderen Verkehrsmitteln nicht mehr nicht lösen. behaupten kann. Wir wollen den Schienenverkehr insge- Ihren Änderungen, die ja dem entsprechen, was wir samt stärken, sowohl den Güterverkehr als auch den Per- Ihnen vorgelegt haben beim Thema Biomasse und sonennahverkehr; denn er leistet einen wichtigen Beitrag KWK, werden wir selbstverständlich zustimmen. Das ist zur Reduktion der Treibhausgasemissionen, und wir eine Notreparatur Ihres vermurksten Gesetzes, die wir an wollen natürlich nicht, dass aufgrund eines Kostenan- der Stelle mittragen werden. stiegs auf andere Verkehrsmittel ausgewichen wird. Danke schön. Diese Auffassung schlägt sich natürlich auch in unse- rem Aktionsprogramm „Klimaschutz 2020“ nieder, wo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) durch der Güterverkehr gestärkt werden soll. Wir wer- den die Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur Vizepräsidentin Petra Pau: insgesamt erhöhen und Engpässe in der Schieneninfra- Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Florian Post struktur beseitigen, zum Beispiel durch Elektrifizierun- das Wort. gen. Großes Vertrauen habe ich hierbei, dass wir es auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 2016, 2017 und 2018 schaffen, entsprechende Haus- der CDU/CSU) haltsmittel zur Verfügung zu stellen. Natürlich soll auch der Personenverkehr klimafreund- Florian Post (SPD): licher gestaltet werden. Dabei steht der öffentliche Per- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen sonennahverkehr, insbesondere auf der Schiene, im Fo- und Kollegen! Im Sommer dieses Jahres, zum 1. August, kus. Noch größere Bedeutung hat die Schiene im ist das reformierte EEG in Kraft getreten. Wir haben uns Personenfernverkehr; auch hier werden wir von Bundes- hier insbesondere mit einer mit dem EU-Recht konfor- seite mehr Mittel zur Verfügung stellen. 6990 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Florian Post (A) Wir dürfen in der Debatte über die Energiewende den Die EEG-Umlage konnte stabilisiert werden. Im Jahr (C) Blick nicht auf den Stromsektor verengen, sondern müs- 2015 sinkt sie voraussichtlich auf 6,17 Cent pro Kilo- sen auch den Wärmesektor betrachten. Im Verkehrssek- wattstunde. tor geht es nicht nur um die vielbeschworene Elektromo- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bilität, auch der Schienenverkehr trägt zur Erreichung NEN]: Das hat aber nichts mit der EEG-No- des Zieldreiecks bei unserer Energiewende bei. Um die vellierung zu tun!) Schiene gegenüber anderen Verkehrsträgern wettbe- werbsfähig zu halten, bitte ich darum, diesem Gesetz Zahlreiche Stromversorger haben angekündigt, im nächs- heute zuzustimmen. ten Jahr ihre Strompreise zu senken. Die am 1. August in Kraft getretene Reform des EEG leistet zukünftig einen Danke für die Aufmerksamkeit. Beitrag zur langfristigen Preisstabilität. Letztlich werden diese Maßnahmen auch zur langfristigen Akzeptanz der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Energiewende beitragen. der CDU/CSU) Die Europäische Kommission hat zwar am 23. Juli das novellierte EEG mit den Besonderen Ausgleichsre- Vizepräsidentin Petra Pau: gelungen für besonders stromintensiv produzierende und Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Andreas im internationalen Wettbewerb stehende Unternehmen Lenz das Wort. genehmigt, nicht jedoch die Besonderen Ausgleichsre- gelungen für Schienenbahnen. Hierzu hat die Kommis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sion ein eigenes Notifizierungsverfahren eingeleitet. Zu- Dirk Becker [SPD]) dem fordert die Kommission Anpassungen, um die Genehmigung erteilen zu können. Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): Aus Sicht der Kommission ist die Besondere Aus- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen gleichsregelung für Schienenbahnen in ihrer ursprüngli- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bera- chen Form nicht mit europäischem Wettbewerbsrecht ten heute den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des vereinbar. Die Kommission sah für neu in den deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Mit dem Gesetzentwurf Markt eintretende Schienenverkehrsunternehmen einen stellen wir sicher, dass die Verkehrsunternehmen in Wettbewerbsnachteil. Nach der bisherigen Regelung Deutschland auch weiterhin die Besondere Ausgleichs- können am Markt neue Unternehmen keinen Antrag auf regelung für Schienenbahnen in Anspruch nehmen kön- Ermäßigung der EEG-Umlage stellen. Der Grund hierfür nen. Davon profitieren in erster Linie die Fahrgäste. ist, dass zum Nachweis der Überschreitung der Schwelle (B) (D) Deshalb ist es richtig, dass wir diese Änderung noch vor von mindestens 2 Gigawattstunden selbstverbrauchter Jahresende verabschieden. Außerdem bereinigen wir re- Strommenge bislang nur Istdaten vorgelegt werden daktionelle Fehler im Bereich der Biomasse. konnten. Vor allem ausländische Marktteilnehmer könn- ten so laut Kommission Nachteile erlangen. Zukünftig Die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im wird eine Antragstellung bereits vor Aufnahme des Juli war ein wichtiger Schritt. Wir haben damit einen Fahrbetriebs möglich sein. Die Basis der Antragstellung verlässlichen Ausbaupfad für die erneuerbaren Energien bildet der prognostizierte Stromverbrauch für das Jahr geschaffen. So wird der Anteil der erneuerbaren Ener- der Aufnahme des Fahrbetriebs. Die tatsächlich ver- gien am Bruttostromverbrauch im Jahr 2025 40 Prozent brauchte Strommenge wird nachträglich überprüft. bis 45 Prozent und im Jahr 2035 55 Prozent bis 60 Pro- zent betragen. Würden wir den Forderungen der Kommission nicht nachkommen, könnte die Kommission die Genehmi- Der gesetzliche Ausbaukorridor und die verpflich- gung der Besonderen Ausgleichsregelung für die Schie- tende Direktvermarktung bringen die erneuerbaren Ener- nenbahnen verweigern. Die Folgen wären eine massive gien weiter voran und führen sie gleichzeitig stärker an Erhöhung der Fahrpreise zum 1. Januar 2015 und eine den Markt heran. Außerdem konnten wir die Besondere Verschlechterung der Wettbewerbssituation der Bahn ge- Ausgleichsregelung für stromintensiv produzierende Be- genüber dem Straßenverkehr. Die Gesetzesänderung ist triebe, die im internationalen Wettbewerb stehen, euro- deshalb vor allem für die Fahrgäste des Schienennah- parechtskonform reformieren. Die hohen Energiekosten und -fernverkehrs notwendig. Wir wollen die Pendler haben bereits zu einer chronischen Investitionsschwäche und Bahnfahrer eben nicht mit zusätzlichen Fahrpreis- der energieintensiv produzierenden Industrie in Deutsch- erhöhungen im Jahr 2015 belasten. land geführt. Vor allem Erweiterungsinvestitionen wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den an Standorten getätigt, an denen die Energiekosten günstiger sind. Wir schaffen einen stabilen Rahmen für Außerdem berichtigen wir mit der Änderung redak- diese Unternehmen. Wir wollen Deutschland als wettbe- tionelle Fehler im Bereich der Biomasse. werbsfähigen Industriestandort erhalten. Wir schaffen so (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine verlässliche Perspektive für Tausende von hochwer- NEN]: Redaktionelle Fehler sind das nicht! tigen Arbeitsplätzen in der Grundstoffindustrie. Das sind substanzielle Fehler!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nach dem EEG 2014 waren Bioenergieanlagen, wenn neten der SPD) sie ihren Strom direkt vermarktet haben, von Mindestan- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6991

Dr. Andreas Lenz (A) forderungen hinsichtlich der Kraft-Wärme-Kopplung (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) befreit. Durch einen fehlenden Verweis in den Über- NEN]: Was ist das für eine Koalition?) gangsvorschriften des neuen EEG standen Hunderte Be- Unsere französischen Nachbarn haben uns gestern im treiber von Biogasanlagen vor der Frage, ob sie diese Ausschuss eindrucksvoll von ihren Anstrengungen be- sinnvolle Regelung weiter nutzen können. Ohne diese richtet. So will Frankreich seinen Anteil an erneuerbaren Richtigstellung hätte Anlagebetreibern der Verlust der Energien bis 2030 auf 32 Prozent steigern. Wir sind also Einspeisevergütung gedroht, obwohl sie genau das ge- mit unseren Bemühungen nicht ganz allein. macht haben, was sinnvoll ist, nämlich sich mit ihrer Stromproduktion an den Markterfordernissen zu orien- Die Reform des EEG im Juli dieses Jahres war rich- tieren. Dies wäre in vielen Fällen existenzbedrohend ge- tig. Das Richtige muss man auch richtig machen; dazu wesen. tragen wir heute bei. – Herr Krischer, wir sind der Mei- nung, das sich Ehen entwickeln und im Laufe der Zeit Außerdem wird ein redaktioneller Fehler hinsichtlich besser werden können. der Definition der Bemessungsleistung behoben. So ist für Anlagen nach dem EEG 2009 auch weiterhin die in (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das Netz eingespeiste Leistung und nicht die erzeugte NEN]: Sie können sich ja noch nicht einmal Leistung maßgebend. Diese Regelungen gelten rückwir- auf Selbstverständliches verständigen! Das ist kend zum 1. August dieses Jahres, um einen tatsächli- doch unglaublich! Da kommen formale Ausre- chen Bestandsschutz zu gewährleisten. den!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn Sie in Ihrem Leben andere Erfahrungen gemacht NEN]: Das beschließen Sie aber nur, weil wir haben, ist das Ihre Sache. das eingebracht haben! Sonst wäre das hier Ich bitte um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. nicht Thema!) Herzlichen Dank. – Auch das ist ein Unterschied zu Ihrem Antrag, in des- sen erster Version das Datum „1. August“ nicht enthalten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) war. So ärgerlich solche Fehler auch sind, so richtig ist es, Vizepräsidentin : das als richtig Erkannte nun umzusetzen. Das tun wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die heute. Wir werden die Energiewende voranbringen und Aussprache. dabei die Bürgerinnen und Bürger nicht überfordern. Wir kommen zur Abstimmung über den von den (B) Uns ist die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- (D) wichtig. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung stehen wurf eines Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare- hinter der Energiewende. Wir schaffen die Voraussetzun- Energien-Gesetzes. Ich weise darauf hin, dass hierzu gen dafür, dass das so bleibt. Die Novellierung des Er- eine Erklärung des Abgeordneten Heil gemäß § 31 der neuerbare-Energien-Gesetzes war hierfür ein erster Geschäftsordnung vorliegt.1) wichtiger Schritt. Ebenso wichtig ist der Ausbau der Übertragungs- und Verteilnetze hinsichtlich der Integra- Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt tion der erneuerbaren Energien. Wir sind auch dabei, die unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Neuausrichtung des Strommarktdesigns zu erarbeiten. Drucksache 18/3440, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3321 in der (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Ände- NEN]: Sagen Sie doch mal was zur anteiligen rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Direktvermarktung! Warum reparieren Sie den Drucksache 18/3451 vor, über den wir zuerst abstim- Fehler denn nicht?) men. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Die – Für die anteilige Direktvermarktung werden wir, wie Opposition. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition. Gibt die Kollegen der SPD schon erläutert haben, eine hand- es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist der werklich gut gemachte Regelung finden. Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition bei Zu- stimmung durch die Opposition abgelehnt. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In den Weihnachtsferien?) Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Dafür nehmen wir uns die notwendige Zeit. Dabei ver- zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – trauen wir nicht nur auf Ihre Anträge, obwohl diese na- Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetzentwurf in türlich, wenn sie der Sache dienen, berücksichtigt wer- zweiter Beratung einstimmig angenommen. den. Ich komme zur (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das war der Beschluss des Bundeska- dritten Beratung binetts! Ich verstehe überhaupt nichts mehr!) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Das Ministerium hat bereits ein Grünbuch vorgelegt, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – das jetzt intensiv diskutiert wird. All das spielt zusam- men und muss europäisch koordiniert werden. 1) Anlage 2 6992 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der ist für uns alle zu klären, was wir tun müssen, um eine (C) Gesetzentwurf einstimmig angenommen. lebendige Demokratie zu gestalten. Ich komme zur Abstimmung über den Gesetzentwurf Wir Linken wollen eine offene, bürgernahe politische der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur zweiten Ände- Kultur. rung des Gesetzes für den Ausbau erneuerbarer Ener- gien. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie emp- (Beifall bei der LINKEN) fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Wer Bevormundung verhindern und mündige, weil auch Drucksache 18/3440, den Gesetzentwurf der Fraktion informierte und engagierte Bürgerinnen und Bürger will, Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3234 abzu- muss viele Fenster öffnen. Die Mehrheiten der größten lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- Koalition in der Geschichte des Bundestages bewirken stimmen wollen, um das Handzeichen. – Die Opposi- zum Beispiel, dass Oppositionsaufgaben wie Kontrolle, tion. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition. Wer enthält Kritik der Bundesregierung und das Vorlegen alternati- sich? – Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter ver Vorschläge mehr als jemals zuvor auf eine wache Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die mediale und gesellschaftliche Öffentlichkeit angewie- Stimmen der Opposition abgelehnt. Damit entfällt nach sen sind. unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: NIS 90/DIE GRÜNEN) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra Wenn die Große Koalition ihrerseits nicht im eigenen Sitte und der Fraktion DIE LINKE sowie der Saft verschmoren will, sollte auch sie ein waches Ohr für Abgeordneten Britta Haßelmann und der Frak- die gesellschaftliche Resonanz haben. tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Grundgesetz regelt, dass der Bundestag öffent- Änderung der Geschäftsordnung des Deut- lich verhandelt. Im Plenum tun wir das, wie zum Bei- schen Bundestages spiel heute wieder. Nun fragt sich jeder, warum das nicht auch für die Ausschüsse gilt. In Landtagen wird das hier: Ausschussöffentlichkeit längst praktiziert. Drucksache 18/3045 (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Überweisungsvorschlag: NIS 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f) Der politische Prozess soll nachvollziehbar sein. Das (B) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für betont – ich zitiere –: die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegen- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. argument, öffentliche Debatte und öffentliche Dis- Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Redne- kussion sind wesentliche Elemente der parlamenta- rin Frau Dr. Sitte das Wort. rischen Demokratie. (Beifall bei der LINKEN) Bisher ist die Nichtöffentlichkeit von Ausschusssit- zungen die Regel. Wir wollen das umkehren. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Meine Damen und Herren! Frau Präsidentin! In der NIS 90/DIE GRÜNEN) vergangenen Woche hat eine ganze Reihe von uns Abge- Nicht die Öffentlichkeit, sondern die Nichtöffentlichkeit ordneten an einem Kongress des Magazins politik & ist in einer Demokratie gesondert zu begründen. Sicher- kommunikation teilgenommen. Niccolo Machiavellis lich sind Ausnahmen denkbar, beispielsweise soweit die Mechanik der Macht sollte dazu anregen, über politische Geheimschutzordnung greift oder schutzwürdige Inte- Kommunikation zu diskutieren. Die politische Macht- ressen Dritter zu wahren sind. Wir wollen auch, dass alle mechanik Machiavellis, Politik sozusagen als rein er- Beratungsgrundlagen in einem Register zusammengefasst folgsgetriebenes Geschäft frei von irgendwelchen mora- und zeitnah veröffentlicht werden. Dann bleibt beispiels- lischen Fesseln zu betrachten, sollte sich eigentlich weise Interessierten erspart, das Informationsfreiheitsge- überlebt haben, wobei ich mir da manchmal nicht ganz setz zu bemühen, um eine Information zu erhalten. sicher bin. Aber für uns in diesem Hause sind vivere politico und vivere libero durchaus wichtige Themen für Nun behaupten Abgeordnete der Koalition gelegent- eine gelingende Politik und eine gelingende Republik. lich, öffentlich könne man nicht mehr ganz so frei und offen reden; Fensterreden würden überhandnehmen, und Dabei sind sich mit der Digitalisierung die Akteure überhaupt würden Kompromisse erschwert. Da kann ich sehr nahe gekommen; sie kommunizieren sehr direkt nur fragen: Was ist das denn für ein Demokratiever- miteinander. Sie alle merken das jeden Tag an Ihrem ständnis? elektronischen Briefkasten, Ihren Smartphones etc. Jeder von uns erfährt täglich, wie sehr sich Kommunikations- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und Informationsprozesse beschleunigt haben. Deshalb NIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6993

Dr. Petra Sitte (A) Das Überdenken von Positionen oder das freie Reden Parlament und insbesondere der Bundestag zwingend (C) – auch ins Unreine – muss doch nicht gefiltert werden. Transparenz und Öffentlichkeit braucht; das ist ganz Die Bürger sind doch nicht doof. wichtig. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber?) Argument und Gegenargument sollten bei der Entschei- dungsfindung nachvollziehbar sein. Abschließende Ant- Die Feststellung in Ihrem Antrag, dass auch Abgeord- worten hat in diesem Haus ohnehin niemand. Dafür sind nete Menschen sind, ist schön. Diese teilen wir und viele Prozesse, die wir bewerten, oder Entscheidungen, erfreut uns. Es ist erfreulich, dass Sie das festgestellt die wir zu fällen haben, viel zu komplex geworden. Weil haben. sie so komplex geworden sind, finde ich, dass gerade Nun zur eigentlichen Sache. Worum geht es hier? Das politische Entscheidungsprozesse kooperativ gestaltet erklärt man am besten mit dem, was ist. Jedes Gesetz werden sollten und gestaltet werden müssen. wird in öffentlicher Sitzung in erster, zweiter und dritter (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Lesung hier im Parlament debattiert. Zudem nehmen die NIS 90/DIE GRÜNEN) Ausschüsse ihr Recht nach der Geschäftsordnung wahr und führen Ausschusssitzungen öffentlich durch, wenn Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: sie dies beschließen; das kommt häufig vor. Liebe Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kom- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men. NEN]: Nein, das kommt nicht häufig vor! Das kommt jetzt gar nicht mehr vor!) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Ergebnisse – auch die der nichtöffentlichen Aus- Gern. – Kompromisse zu finden ist nicht Ausnahme, schusssitzungen – sind ebenfalls öffentlich. Alle An- sondern Regelfall und grundgesetzliches Leitbild. Dafür hörungen der Ausschüsse, in denen oft konträr Experten- ist die Demokratie schließlich da. Das sollte für uns meinungen ausgetauscht werden, sind öffentlich. Anlass sein, einen Schritt mehr zu gehen und eine neue Ebenfalls öffentlich sind Gesetzentwürfe, Anträge, Be- politische Kultur in diesem Haus und für die gesell- schlussempfehlungen sowie Berichte aus öffentlichen schaftliche Öffentlichkeit zu schaffen. und nichtöffentlichen Ausschusssitzungen einschließlich Danke. der unterschiedlichen Fraktionsmeinungen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Kommt seit der Großen Koalition über- (B) (D) haupt nicht mehr vor!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ebenfalls öffentlich sind Änderungs- und Entschlie- Als nächster Redner hat der Kollege Bernhard Kaster ßungsanträge sowie Große und Kleine Anfragen. Diese das Wort. Liste könnte ich beliebig fortsetzen. Bei so viel Öffent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lichkeit kann man natürlich die Frage stellen, warum wir neten der SPD) den Zwischenschritt einer nichtöffentlichen Beratung brauchen. Das hat einfach etwas mit unserem parlamen- tarischen Selbstverständnis zu tun; denn unser Parlament Bernhard Kaster (CDU/CSU): hat – deswegen lasse ich Vergleiche zu anderen Parla- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen menten nicht zu – und Kollegen! Ist die Not schon so groß, dass ein solcher Schaufensterantrag gestellt werden muss? (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Warum nicht? Dem müssen Sie sich (Widerspruch bei der LINKEN) stellen!) Der Geschäftsordnung widmet man sich in diesem Haus den Charakter eines Arbeitsparlaments. In den Aus- erfahrungsgemäß immer dann – das ist bei den meisten schüssen wird im Rahmen des Berichterstattersystems Geschäftsordnungsanträgen so –, wenn sich die poli- detailliert beraten. Bekanntlich verlässt kein Gesetz den tisch-inhaltliche Kreativität dem Ende zuneigt. Dann Bundestag so, wie es in den Bundestag eingebracht geht es um Verfahren und die Geschäftsordnung. wurde. Wir möchten diesen Charakter unseres Parla- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen ments erhalten. Sie doch mal was zum Inhalt!) (Beifall bei der CDU/CSU) Man nimmt dann ein paar Schlagworte wie Transparenz Liebe Kolleginnen und Kollegen, interessanterweise und Lobbyismus, mischt sie mit ein paar Vorurteilen ge- argumentieren Sie in Ihrer langen Begründung des An- genüber der Politik und baut auf die mögliche Unkennt- trags auch damit, in nichtöffentlichen Sitzungen spiele nis der Bürgerinnen und Bürger über die tatsächlichen die Interessenvertretung eine zu große Rolle, Stichwort Abläufe im Parlament. Dann kommt ein solcher Antrag „guter und böser Lobbyismus“. Genau andersherum ist wie Ihrer dabei heraus, mit seitenlanger Begründung. es. Der Regelfall ist, dass die Abgeordneten mit einer Damit kein Missverständnis aufkommt: Es ist unbe- Vielzahl von Interessen und Wünschen konfrontiert wer- stritten – da haben Sie in Ihrem Antrag recht –, dass ein den. Die gilt es dann abzuwägen. Jeder Abgeordnete im 6994 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Bernhard Kaster (A) Ausschuss hat die freie Entscheidung, sich zu Wort zu nach Auffassung der Koalitionsfraktionen zu geschehen (C) melden, sich zu äußern. Aber bei konsequenter Öffent- hat. lichkeit – davon müssen wir bei Zulassung von Fernse- Die Realität sieht im Moment so aus, dass Ausschüsse hen, Presse, Internet-Livestream ausgehen – steigt un- so gut wie nie öffentlich tagen. zweifelhaft der öffentliche Erwartungsdruck, ob von Branchen, Sozialverbänden, Gewerkschaften oder dem (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: eigenen Wahlkreis, sich zwingend zu Wort zu melden So ist es!) und eine erwartete Haltung zu formulieren. Ich sage nicht, dass das immer so wäre; aber in jedem Fall würde Das haben Sie aus dem geltenden Grundsatz gemacht. der öffentliche Druck steigen. Hier schaue ich insbesondere meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD an: Was haben Sie Seit’ an Seit’ (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit den Grünen in der letzten Legislaturperiode gestrit- NEN]: Das ist doch gut so! Was haben Sie ten? Da war es noch üblich, dass der Sportausschuss, denn für ein Problem?) dass der Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engage- ment“, dass der Ausschuss für Kultur und Medien, dass Lassen Sie mich zum Schluss zusammenfassend drei der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Kritikpunkte zu diesem Antrag nennen: Erstens. Der Entwicklung grundsätzlich jede Woche öffentlich getagt Charakter und die Ergebnisoffenheit der Detailberatun- haben. gen würden sich verändern. Zweitens. Der Antrag sug- geriert, wie ich finde, in fataler Weise, dass jeder Form (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einer vertraulichen Beratung ein Generalverdacht der und bei der LINKEN) Unrechtmäßigkeit beiwohnt. Es ist eigentlich unmög- Die SPD war ganz eng an der Seite von Grünen und lich, so einen Eindruck aufkommen zu lassen. Drittens. Linken, um zu verhindern, dass der Sportausschuss zur Eine Ausschussöffentlichkeit stärkt nicht den einzelnen Nichtöffentlichkeit übergeht, als unter Schwarz-Gelb Abgeordneten, sondern die Parteien, die Fraktionen. Der eine entsprechende Initiative entstand. Wo sind die Ar- unverzichtbare Prozess der Kompromissfindung würde gumente? Die gehen Ihnen doch aus, Frau Steffen. Ich sich letztlich in andere Gremien verlagern. bin gespannt, wie Sie heute darlegen wollen, weshalb Wir werden diesen Antrag an den Geschäftsordnungs- das alles jetzt nicht mehr möglich ist und weshalb wir ausschuss überweisen und ihn dort gerne in öffentlicher auf jeden Fall hinter verschlossenen Türen beraten Sitzung – das liegt in der Natur der Sache – beraten. Das müssen. lässt die Geschäftsordnung zu. Dazu brauchen wir keine Sehen Sie sich doch einmal das Europaparlament an: Änderung der Geschäftsordnung. Alle Ausschüsse tagen grundsätzlich öffentlich. Alle (B) (D) Vielen Dank. Dokumente sind zugänglich. Wo führt das denn zu furchtbaren Frakturen und schrecklichen Situationen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Kaster? Nirgendwo! Reden Sie doch einmal mit neten der SPD) den Abgeordneten des Europaparlaments. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: und bei der LINKEN – Bernhard Kaster Als nächste Rednerin hat die Kollegin Britta [CDU/CSU]: Wir sprechen über den Deut- Haßelmann das Wort. schen Bundestag!)

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist Transparenz im besten Sinne. Das ist Nachvoll- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen ziehbarkeit von Entscheidungen für Bürgerinnen und und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Bürger. Zuschauertribüne! Heute reden wir über das Thema „Öf- Sie beschreiben hier die Ausschussrealität, als säßen fentlichkeit von Ausschusssitzungen“. Es ist aus Sicht wir dort alle zusammen und berieten ganz intensiv über der Grünen und der Linken absolut überfällig, darüber Vorlagen, und erst danach legten sich die Fraktionen im Deutschen Bundestag zu diskutieren. fest. Ich bitte Sie, in welchem Ausschuss ist das denn so? Ich sitze im Finanzausschuss. Ich saß im Familien- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausschuss. Ich bin stellvertretendes Mitglied im Innen- und bei der LINKEN) ausschuss. Ich kann Ihnen sagen: Da gibt es vorher Fest- Transparenz und Offenheit gegenüber Dritten, den Bür- legungen der Fraktionen, wie man am Ende über gerinnen und Bürgern, interessierten Medien, interes- Anträge abstimmt. Das gehört zur Realität. Deshalb sierten Verbänden, hatten wir schon in der Vergangen- muss es an der Stelle kein geschützter Raum sein. heit. So eingeschränkt wie jetzt war die Situation noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nie. Deshalb hat meine Kollegin Petra Sitte an dieser und bei der LINKEN) Stelle recht: Die Große Koalition erfordert ganz beson- ders, dass die Regeln von Transparenz und Offenheit Wir haben darüber hinaus in den Landesparlamenten eingehalten werden. Vonnöten ist auch eine Opposition, in Bayern, Berlin und Brandenburg die grundsätzliche die das einfordert. Wir wollen, dass die Öffentlichkeit Öffentlichkeit von Ausschusssitzungen, weil das selbst- von Ausschusssitzungen demnächst grundsätzlich gilt verständlich ist und weil wir uns gegenüber den Bürge- und nicht der umgekehrte Fall zu begründen ist, wie es rinnen und Bürgern zu erklären haben. Wir sollten froh Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6995

Britta Haßelmann (A) sein über das Interesse der Menschen, darüber, dass sie das gern fortgesetzt, sind mit diesem Anliegen aber – so (C) erfahren wollen, was wir beraten, wie wir beraten und ehrlich muss man sein – bei der Union gescheitert. über welche Dokumente wir beraten. Deshalb gibt es un- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sere Antragsinitiative an dieser Stelle. NEN]: Aha!) Kommunalparlamente machen seit über 20 Jahren Es ist nicht so, dass wir grundsätzlich im Geheimen gute Erfahrungen damit. Selbstverständlich gibt es Ge- tagen – darauf hat der Kollege Kaster schon hingewie- heimschutzinteressen; dann hat man nichtöffentliche sen –; das stimmt so nicht. Wir haben in den Ausschuss- Teile. Das alles ist in unserem Antrag aufgeführt. Das sitzungen sehr häufig öffentliche Anhörungen. Wenn es sind keine K.-o.-Argumente, was unseren Antrag angeht. um Gesetzesvorhaben geht, werden Sachverständige an- Deshalb werbe ich für unser Anliegen. Ich bin gespannt gehört. Es gibt Jahresberichte, die öffentlich vorgetragen auf die Darlegungen der SPD, warum sie eine Kehrt- werden. Es gibt auch im Petitionsausschuss – das weiß wende, eine Wende um 180 Grad, gemacht hat, nur weil ich von meiner Arbeit dort – regelmäßig öffentliche sie jetzt in der Regierung ist. Anhörungen. Ich erinnere mich gerne an die Anhörun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen zu den Hebammen, zur Finanztransaktionsteuer, zur und bei der LINKEN) Palliativmedizin und zum bedingungslosen Grund- einkommen, mit denen wir eine breite Öffentlichkeit er- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: reicht haben. Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Sonja (Dr. [CDU/CSU]: Genau!) Steffen. Die Frage ist jetzt: Wollen wir von dem Regel- (Beifall bei der SPD) Ausnahme-Prinzip, das wir im Moment haben – grund- sätzlich nichtöffentlich, ausnahmsweise öffentlich, näm- Sonja Steffen (SPD): lich dann, wenn der Ausschuss das will –, abgehen? Ich Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sage Ihnen eines: Wir befinden uns heute in der ersten Kollegen! Meine Damen und Herren! Mir kommt jetzt Beratung. Auch bei Geschäftsordnungsänderungen gibt eine schwere Aufgabe zu, Frau Haßelmann. Ich soll dar- es ein Prozedere im Parlament, und wir sind da noch legen, warum die SPD von dem Öffentlichkeitsprinzip, nicht am Ende der Fahnenstange. Wir fangen mit der das Sie hier vorgestellt haben, abweicht. Das ist im Diskussion gerade an. Ich denke, ich spreche für die Grunde genommen nicht der Fall. Ich sage Ihnen auch, SPD-Fraktion, wenn ich sage: Wir wollen in die Debatte warum. einsteigen und schauen, wohin das führt – mit offenem Ergebnis. (B) Ich will aber mit einem Satz anfangen, den wir alle (D) bisher mehr oder weniger auch so formuliert haben. Er (Beifall bei der SPD) stammt von Heiner Geißler und lautet wie folgt: Trans- Es gibt natürlich – das ist von den Kollegen der parenz schafft das Vertrauen, von dem eine Demokratie Opposition schon gesagt worden – viele Argumente für lebt. – Das hat er im Zusammenhang mit Stuttgart 21 ge- das öffentliche Tagen der Ausschüsse, beispielsweise sagt. Ich denke, da sind wir uns alle einig. – das ist schon genannt worden – die Information der Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Öffentlichkeit, aber auch die Kontrolle, die Teilhabe und Opposition, geht in diese Richtung; das ist auch richtig letztendlich auch die Akzeptanz. Es mag durchaus sein, so. Sie wollen das Regel-Ausnahme-Prinzip, das wir im dass die Akzeptanz erhöht wird, wenn man nicht mehr Moment haben, umkehren. Sie wollen künftig, dass alle hinter verschlossenen Türen, sondern zukünftig öffent- Ausschüsse grundsätzlich öffentlich tagen; darüber hi- lich tagt. Allerdings stellt sich auch die Frage – darauf ist naus wollen Sie bei allen Ausschüssen einen Livestream der Kollege Kaster in seiner Rede schon sehr ausführlich einführen, was dann heißt: Echtzeitübertragung der Aus- eingegangen –: Dient das tatsächlich auch der Funk- schusssitzungen. tionsfähigkeit des Parlaments? (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Das ist eine wichtige Frage, ja!) Die aktuelle Situation ist die – ich will das noch ein- Ich finde, dieser Pragmatismus muss an dieser Stelle mal sagen; das ist die Situation, die wir immer schon sein, ohne dass man sagt: Wir wollen die Öffentlichkeit hatten –: Nach § 69 der Geschäftsordnung tagen die in Zukunft nicht mehr. Ausschüsse grundsätzlich nicht öffentlich; aber jeder Ausschuss kann die Öffentlichkeit beschließen. Aber es besteht doch tatsächlich eine Gefahr: Wenn zukünftig alle Ausschusssitzungen öffentlich sind, wird (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es so sein – das haben Sie schon gesagt –, dass jedes NEN]: Das findet aber nicht statt!) Ausschussmitglied, das da sitzt, selbstverständlich auch In der Vergangenheit, in der Opposition, hat die SPD zu Wort kommen will. – Frau Haßelmann, auch da gebe ich Ihnen recht – mit (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Grünen und auch mit den Linken gemeinsam NEN]: Und nicht schlafen kann!) Anträge auf Öffentlichkeit gestellt, beispielsweise im Sportausschuss. Sie haben es schon gesagt: Der Sport- Alles andere würde vielleicht dazu führen, dass dann ausschuss hat sehr häufig öffentlich getagt. Wir hätten nicht nur im Wahlkreis, sondern auch an anderer Stelle 6996 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Sonja Steffen (A) gesagt würde: Na ja, dieses oder jenes Ausschussmit- Jetzt stellt sich also die Frage: Wie wägt man das ab? (C) glied macht ja überhaupt nicht mit. Er oder sie hat sich Ich habe gerade das Für und Wider genannt und gesagt: da überhaupt nicht zu Wort gemeldet. – Wozu würde das Wir sind am Beginn der Debatte. Wir wollen in diese führen? Das könnte dazu führen, dass sich die Aus- Diskussion einsteigen. Meine Fraktion ist da sehr offen. schusssitzungen – nach dem Motto „Es ist zwar schon Es gibt vielleicht wirklich Möglichkeiten. Beispiels- alles gesagt, aber noch nicht von jedem“ – ins Unendli- weise würde ich es gut finden, wenn wir überlegen wür- che hinziehen. An dieser Stelle, denke ich, hätten wir den, ob wir Ausschusssitzungen zu bestimmten Themen dann auch nichts davon. zukünftig mit einem Mindestmaß an Öffentlichkeit ver- sehen. Es ist ja so: Nicht jedes Thema ist für die Öffent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der lichkeit superinteressant. Es gibt aber sehr interessante CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE Themen. GRÜNEN]: Oh, wie toll! Dieses Argument hatten Sie letztes Mal noch nicht!) ( [DIE LINKE]: Das haben wir alles versucht! Ohne Erfolg!) Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Ich erinnere mich gerne an meinen sehr geschätzten Kollegen Anton Ich erinnere mich zum Beispiel noch sehr gut – daran Schaaf; viele von Ihnen kennen ihn noch. Er, ein sehr werde ich mich mit Sicherheit auch in Zukunft noch er- guter Redner, hat uns, als er mit uns seinen Abschied be- innern – an die Debatte zu TTIP, die wir in der letzten gangen hat, einen ziemlich guten Satz mit auf den Weg Sitzungswoche geführt haben, in der unser Wirtschafts- gegeben. Dieser Satz lautet: Rede nur, wenn du wirklich minister von seiner ursprünglich geplanten Rede völlig etwas zu sagen hast. – Das, finde ich, gilt auch für Aus- abgewichen ist und wir plötzlich eine Debatte hatten, in schusssitzungen. der das Parlament richtig lebendig wurde. Ich glaube, das ist der Zustand, den wir erreichen wollen. Das eint (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: uns alle wieder. Letztendlich geht es doch auch darum, Das sollte auch im Plenum gelten! – Oliver dass wir etwas gegen die Politikverdrossenheit der Men- Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre schen im Land tun wollen. Wenn wir etwas Positives er- Rede ist kein Beweis für diesen Satz!) reichen können, indem wir Ausschusssitzungen in dem einen oder anderen Fall öffentlich machen, dann leben Ich will Ihnen noch etwas sagen: Frau Haßelmann, wir eine lebendige Demokratie. Sie haben vorhin gesagt, in welchen Ausschüssen Sie sind und wie es da abläuft. Ich selber bin im 1. Aus- Vielen Dank. schuss und im Haushaltsausschuss. Ich sage allen Kolle- ginnen und Kollegen, die hier sitzen – ich möchte gerade (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (B) die Opposition ansprechen –: In den Ausschüssen, in de- (D) nen ich bin, ist es wirklich so, dass jeder, auch die Oppo- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: sition, zu Wort kommt, und zwar mehrmals. Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Hans-Peter Uhl das Wort. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja, sollte das denn nicht selbstverständ- lich sein? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): DIE GRÜNEN]: Im Wirtschaftsausschuss ist Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und das nicht selbstverständlich!) Kollegen! Bei diesem Thema geht es um die Frage einer sinnvollen, pragmatischen Organisationsstruktur für ein Es wird über alle Themen breit diskutiert. Es ist nicht so, Gesetzgebungsverfahren. Wir haben unser Gesetzge- Frau Haßelmann, dass ein Gesetzentwurf ins Parlament bungsverfahren als einen lernenden Prozess ausgestal- kommt, in den Ausschüssen verhandelt wird und das tet – mit Recht. Er ist transparent, hat aber auch vertrau- Parlament dann so verlässt, wie er hineingekommen ist; liche Elemente. das Struck’sche Gesetz ist schon genannt worden. In meiner Oppositionszeit, beispielsweise in meiner Zeit im Diese Kombination gewährt vor allem gute Ergeb- Rechtsausschuss, habe ich oft genug erlebt, dass im Rah- nisse in dem lernenden Prozess. Sie haben vollkommen men von Berichterstattergesprächen und Ausschusssit- recht mit dem Zitat Ihres ehemaligen Kollegen: „Melde zungen auch die Opposition ihre Meinung in die Bera- dich nur zu Wort, wenn du etwas zu sagen hast.“ In die- tung von Gesetzentwürfen einbringen konnte. sem lernenden Verfahren der Gesetzgebung haben wir oft etwas zu fragen, und dieses Fragen muss möglich (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sein. NEN]: Aber das ist doch jetzt nicht das Thema! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das kann DIE GRÜNEN]: Das ist bei Berichterstatterge- man nicht öffentlich?) sprächen auch so, ja!) Ganz unverkrampft fragen muss möglich sein, ohne sich Das ist heute noch so. Das, denke ich, sollten wir an die- dabei zu blamieren. Es tut uns allen gut, wenn man das ser Stelle nicht vergessen. ab und zu tut. Wir müssen ehrlicherweise zugeben: Wir haben auch schon Gesetze gemacht; hätten wir länger (Beifall des Abg. [CDU/ darüber nachgedacht und vorher gefragt, dann wäre das CSU]) eine oder andere Gesetz vielleicht besser geworden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6997

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Manchmal merken wir gleich nach der dritten Lesung, haben Sie keinen Anspruch, das Protokoll zu bekom- (C) dass etwas übersehen worden ist. men. Auch der Gesetzgeber braucht einen solchen Be- reich, einen Arkanbereich, in dem er laut nachdenken (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: können muss, ohne dass alles über die Medien in jedes EEG zum Beispiel! – Oliver Krischer [BÜND- Wohnzimmer getragen wird. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können wir gern noch ein drittes Mal korrigieren!) Ein Letztes: Öffentliche Sitzungen fordern natürlich von einer Fraktion und einer Partei die vorherige Festle- Ich meine, wir sollten uns in aller Ruhe überlegen, ob gung. Dies hängt mit unserem Parteiensystem zusam- unser Verfahren verbesserungsbedürftig ist oder ob wir men, mit Regierung und Opposition; und Demokratie es so belassen. Im Augenblick bin ich mit der Geschäfts- lebt von Rede und Gegenrede zwischen Regierung und ordnung, die wir haben, sehr zufrieden. Wir haben – der Opposition. Die öffentliche Festlegung muss vorher ge- Kollege Gerster hat es erwähnt – alle Möglichkeiten der schehen. Warum? Im Grundgesetz steht: „Die Parteien Transparenz, der Öffentlichkeit, und ich habe nicht den wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes Eindruck – auch wenn ich jetzt auf die Zuschauertribüne mit.“ Wenn Sie also eine öffentliche Übertragung ma- schaue; es sind mehr Abgeordnete als Zuhörer da, das ist chen und der eine Abgeordnete der CDU so sagt und der öfters so –, dass die Bevölkerung nach mehr Erkenntnis- andere so und der dritte wieder etwas anderes sagt oder sen dürstet und den Verdacht hat, wir würden ihr etwas noch fragt, ob das alles richtig ist, was wir machen, dann vorenthalten und ihr würde etwas verheimlicht. Nein, fragt sich der Zuschauer mit Recht: Was will jetzt eigent- das Gegenteil ist der Fall: Die Medienüberschwemmung lich die Partei? Der eine hat so gesagt und der andere so. sorgt dafür, dass der Bürger gar nicht mehr weiß, was wichtig und was unwichtig ist. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fragen wir uns bei Ihnen auch oft!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Der Bürger ist klüger, als Sie glauben! Das wird dann bei der Übertragung nicht mehr möglich Sie wollen die Leute also bevormunden, oder sein. Auch bei den Grünen wird es nicht mehr möglich wie?) sein; denn sie werden in der Ausschusssitzung mit einer Stimme sprechen müssen – ohne Wenn und Aber. Sie Mit noch mehr Transparenz ist das eher noch schlimmer müssen sich vorher öffentlich festlegen. Das ist schade, als besser. weil es nicht zu einem Erkenntniswert führt, da Sie ja Wenn Sie so viel Transparenz für alles und jedes im vorher bereits die Erkenntnisse festgelegt haben. Laufe des Verfahrens wollen, gebe ich eines zu bedenken: Ein wichtiger Abschnitt im Gesetzgebungsverfahren ist Das ist kein lernendes Verfahren, meine lieben Kolle- (B) nach der ersten Lesung und der Ausschussberatung das ginnen und Kollegen. Wir wollen aber ein lernendes Ver- (D) Berichterstattergespräch, meist sogar mit Vertretern der fahren, bei dem wir besser werden im Laufe des Prozes- Regierung. ses von der ersten Lesung über die – in der Regel nichtöffentliche – Ausschusssitzung bis zur zweiten und (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dritten Lesung, und dann wird alles protokolliert, veröf- NEN]: Das steht nicht in unserem Antrag!) fentlicht und über Internet abrufbar gemacht. Das ist un- ser Weg. Da werden Fragen gestellt, und es werden Antworten ge- geben, manchmal von der Regierung, manchmal von an- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- deren Kollegen. neten der SPD) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das steht nicht in unserem Antrag!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Ich habe das immer für sehr wichtig gehalten. Wenn Sie Aussprache. für Transparenz des Verfahrens sind, dann müssten Sie auch dieses Berichterstattergespräch öffentlich machen; Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/3045 an die in der Tagesordnung aufge- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- NEN]: Muss man nicht!) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung denn Sie sind ja für Transparenz. Das können Sie aber so beschlossen. nicht fordern. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Zweite und dritte Beratung des von den Frak- NEN]: Uns reicht es erst einmal, wenn es die tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ausschüsse wären! – Zuruf der Abg. Dr. Petra Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung Sitte [DIE LINKE]) der Rechtsstellung von asylsuchenden und – Warum, Frau Sitte? Es gibt nach ständiger Rechtspre- geduldeten Ausländern chung auch bei der Regierung einen Arkanbereich der Drucksache 18/3144 Geheimhaltung. Dort können Sie nicht einmal durch ei- nen Untersuchungsausschuss erfahren, was sich die Re- – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- gierung im Laufe des Prozesses der Willensbildung aus- desregierung eingebrachten Entwurfs eines gedacht hat. Obwohl dort Protokoll geführt wurde, Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstel- 6998 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) lung von asylsuchenden und geduldeten künftig um 43 Millionen Euro pro Jahr bei der Flücht- (C) Ausländern lingsversorgung. Den Löwenanteil übernimmt der Bund. Drucksache 18/3160 (Beifall bei der CDU/CSU) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Obendrein hat der Bund nun zugesagt, die Länder schusses (4. Ausschuss) 2015 um weitere 500 Millionen Euro zu entlasten. Für 2016 wurde die gleiche Summe in Aussicht gestellt. Die Drucksache 18/3444 Hälfte dieser Mittel wird als langfristiger Kredit ge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für währt. Die Mittel für die Integrationskurse wurden im die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu laufenden Haushalt um 40 Millionen Euro auf 244 Mil- keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen. lionen Euro aufgestockt, und im Haushalt 2015 wurde die Entwicklung verstetigt. Die Mittel für die individu- Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin elle Migrationsberatung wurden um 8 Millionen Euro Andrea Lindholz als erster Rednerin das Wort. aufgestockt. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf stärken wir zusätzlich Integration und Selbstständigkeit der Flücht- Andrea Lindholz (CDU/CSU): linge. Das Sachleistungsprinzip wird auf den Aufenthalt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten in der Erstaufnahmeeinrichtung beschränkt. Anschlie- Damen und Herren! Über 200 000 Asylanträge erwartet ßend sollen vorrangig Geldleistungen erbracht werden. das Bundesinnenministerium in diesem Jahr. Bund, Län- Ich halte das auch für richtig. der und Kommunen tragen gemeinsam Verantwortung (Rüdiger Veit [SPD]: Sehr richtig!) für ein funktionierendes Asylsystem, das die Unterstüt- zung der Bevölkerung erhält und den wirklich Schutzbe- Wichtig ist aber, dass Sachleistungen in Ausnahmefällen dürftigen hilft. Dazu sollte sich unsere Flüchtlingspolitik zulässig bleiben, zum Beispiel um Versorgungsengpässe an vier Eckpunkten orientieren: zu decken. Das haben wir geregelt. Die Leistungen für Unterkunft, Heizung und Hausrat können wahlweise als Erstens. Asyl dient ausschließlich dem Schutz ver- Geld- oder als Sachleistung erbracht werden. So viel folgter Menschen. Asyl ist kein Mittel gegen Armut und Handlungsspielraum sollten wir den Kommunen auch auch kein Instrument zur Fachkräftegewinnung. belassen. Zweitens. Die durchschnittliche Dauer der Asylver- (Beifall bei der CDU/CSU) (B) fahren muss auf drei Monate sinken. In diesem Zeitraum (D) muss auch geklärt werden, ob jemand Aussicht auf Die Residenzpflicht entfällt nach drei Monaten und Flüchtlingsschutz hat oder nicht. wird durch die Wohnsitzauflage ersetzt. Die Flüchtlinge können sich dann also im gesamten Bundesgebiet bewe- Drittens. Wer einen Anspruch auf Schutz hat, der gen. Sozialleistungen werden zunächst nur an dem in der sollte frühzeitig integriert werden und auch die Chance Auflage festgelegten Wohnort bezogen. Damit soll die bekommen, seinen Lebensunterhalt selbstständig zu ver- Belastung zwischen den Kommunen gerecht verteilt dienen. So verhindern wir Parallelgesellschaften und werden. Für alle, die ihren Lebensunterhalt selbstständig Abhängigkeiten vom Sozialstaat. sichern, entfällt die Wohnsitzauflage. Die Flüchtlinge können damit bundesweit eine Arbeit aufnehmen. Viertens. Wir brauchen eine faire Lastenverteilung und ein funktionierendes Asylsystem in ganz Europa; An dieser Stelle müssen wir aber genau beobachten, denn sonst können die stetig wachsenden Flüchtlings- ob es zu dem gleichen Phänomen kommt, wie es im zahlen nicht dauerhaft bewältigt werden. Zuge der Armutsmigration aus EU-Staaten festgestellt wurde; denn wenn ein Asylbewerber seinen Arbeitsplatz (Beifall bei der CDU/CSU) nach dem Umzug verliert, dann geht die Wohnsitzauf- Die Bundesregierung und die Koalition haben im Jahr lage zusammen mit der Leistungsverpflichtung auf sei- 2014 zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, um nen neuen Wohnort über. Das kann vor allen Dingen in das deutsche Asylsystem zu stabilisieren. Das Bundes- Ballungszentren zu einer wesentlichen Erhöhung der amt für Migration und Flüchtlinge hat 650 neue Stellen Zahl der leistungsberechtigten Asylbewerber führen. und 37 Millionen Euro für Dolmetscher und Sachmittel Gut ist, dass die Residenzpflicht dann wieder auflebt, bekommen. Das Gesetz zu den sicheren Herkunftsstaa- wenn die Ausweisung bevorsteht oder Straftaten und ten hilft uns, aussichtslose Asylanträge schneller zu be- Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz vorliegen. arbeiten und schneller abzuschließen; denn rund 17 Pro- Den letzten Punkt konnten wir mit einem Änderungsan- zent aller Asylanträge werden von Menschen gestellt, trag verbessern. Es freut mich, dass die Grünen nun der die aus Serbien, Mazedonien oder Bosnien-Herzegowina so geänderten Fassung zustimmen wollen. Zumindest im stammen, obwohl die Anerkennungsraten für diese Län- Bund hatten sie den Kompromiss zunächst abgelehnt. der nahe bei null liegen. Der Bund unterstützt die Kom- munen bei der Unterbringung der Flüchtlinge. Wir haben Der generelle Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt das Baurecht flexibilisiert, und Bundesimmobilien wer- für Asylbewerber und Geduldete wurde bereits von neun den den Kommunen zur Verfügung gestellt. Das Asylbe- auf drei Monate gesenkt. Mit einer Rechtsverordnung werberleistungsgesetz entlastet Länder und Kommunen wird nun zudem die Vorrangprüfung für Asylsuchende Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 6999

Andrea Lindholz (A) bei der Arbeitssuche und für Geduldete auf 15 Monate stimmte Kriterien erfüllen, die für eine gelungene Inte- (C) beschränkt. Diese Verordnung ist zunächst auf drei Jahre gration sprechen. Ihnen soll dann ein verlässlicher befristet. Der Gesetzgeber kann jetzt anhand der Ent- Aufenthaltsstatus gewährt werden. wicklung auf dem Arbeitsmarkt entscheiden, ob die Vor- Die Verbesserungen im Bleiberecht sind zu verant- rangprüfung dauerhaft in dieser Fassung bleiben kann worten, aber nur dann, wenn eine konsequente Rückfüh- oder ob sie vielleicht wieder aufleben soll. rung stattfindet. Derzeit werden bei uns nur rund 10 Pro- In meiner Rede von heute Vormittag habe ich schon zent der Ausreisepflichtigen tatsächlich abgeschoben. dargelegt, wie sich die Bundesregierung mit internatio- Dadurch wird unser Asylsystem ein Stück weit unge- naler Flüchtlingshilfe vor Ort engagiert und die Flucht- recht, es wird willkürlich, und es wird unberechenbar. ursachen bekämpft. Dieser beachtliche Maßnahmenkata- Die Länder sind hier absolut in der Pflicht, ihre Aufga- log der Bundesregierung im Asylbereich wurde im Jahr ben zu erfüllen. Der Bund alleine kann dieses Problem 2014 umgesetzt. Das zeigt, dass die Bundesregierung nicht lösen. Der Bund hilft Flüchtlingen, er hilft Län- und die Große Koalition ihrer humanitären Verpflich- dern, und er hilft den Kommunen in vielerlei Hinsicht. tung gegenüber den Flüchtlingen nachkommen und sie Wir dürfen darüber nicht die Sorgen und Ängste unse- sehr ernst nehmen. rer Bevölkerung vergessen, die vorhanden sind und sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- an vielen Stellen zeigen. Wir müssen Zuwanderung steu- neten der SPD) ern; denn sonst verlieren wir die öffentliche Akzeptanz für unser Asylsystem. Das, liebe Kolleginnen und Kolle- Unsere Verpflichtung gegenüber den deutschen Kom- gen, wäre eigentlich die größte Katastrophe. munen und unseren Bürgern vergessen wir dabei nicht; denn bei aller Hilfsbereitschaft dürfen wir die Zustim- Vielen Dank. mung der Bevölkerung zu unserem Asylsystem keines- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- falls gefährden. Daher muss Zuwanderung selbstver- neten der SPD) ständlich gesteuert werden. Zuwanderung muss auch klaren Regeln folgen. Asyl darf es nur für Verfolgte ge- ben. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke das Es fehlt daher noch ein wichtiger Baustein in unserer Wort. Strategie zur Neuordnung des deutschen Asylsystems. (Beifall bei der LINKEN) Diejenigen nämlich, die kein Recht auf Asyl haben, müssen konsequenter als bisher zurückgeführt werden. Ulla Jelpke (DIE LINKE): (B) Das ist angesichts von rund 11 Millionen syrischen Bür- (D) gerkriegsflüchtlingen auch nötig, um weitere Kapazitä- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ten zu schaffen. Bundesregierung legt heute einen Gesetzentwurf vor, um den sogenannten Asyldeal des Bundesrates umzusetzen. Die Ausweisung von Ausreisepflichtigen und straffäl- Wir erinnern uns: Im September hat der Bundesrat der lig gewordenen Ausländern funktioniert auch nicht mehr Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und richtig. Das bisherige dreistufige Ausweisungsrecht mit Serbien als sichere Herkunftsstaaten zugestimmt, und einer Kann-, einer Soll- und einer Mussregelung wurde zwar auch mit der Stimme des Ministerpräsidenten von in der Rechtsprechungspraxis quasi obsolet. Die Ge- Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Das ma- richte treffen heute fast nur noch Ermessensentscheidun- gere Ergebnis dieses Deals liegt jetzt hier vor, mit dem gen und bewerten den Einzelfall. Das bestätigen uns die sperrigen Titel „Rechtsstellungsverbesserungsgesetz“. Praktiker mit großer Mehrheit. Deswegen halten auch Es enthält unbestreitbar einige Verbesserungen; aber wir es für richtig und nötig, das Ausweisungsrecht diese Verbesserungen werden mit der Ausgrenzung einer grundlegend zu reformieren. großen Gruppe von Flüchtlingen erkauft. Im Kern geht (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu es um die Residenzpflicht und die Versorgung von Asyl- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verschärfen suchenden. heißt das!) Die Residenzpflicht soll nun nach dreimonatigem Gestern hat das Kabinett einen Gesetzentwurf verab- Aufenthalt erlöschen. Das wird das Leben vieler Flücht- schiedet, der dieses Problem lösen soll. Für mich ist das linge zweifellos erleichtern, die dann nicht mehr vor je- insgesamt ein vernünftiger Kompromiss. Mit dem Ge- der Zugfahrt bei der Behörde nachfragen müssen. Doch setzentwurf soll einerseits das Ausweisungs- und Ab- warum nach drei Monaten? Die Verletzung des Rechts schieberecht deutlich vereinfacht werden. Die Gerichte auf Bewegungsfreiheit wird nicht erträglicher, wenn sollten zukünftig abschließend entscheiden, wer ein man sie auf drei Monate verkürzt. Deswegen bleibt die Bleiberecht hat. Straftäter und Personen, denen nach Linke dabei: Die Residenzpflicht gehört gänzlich abge- gründlicher Abwägung und Prüfung kein Aufenthalts- schafft. recht zusteht, sollen auch künftig konsequenter abge- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten schoben werden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gleichzeitig wird das Bleiberecht für gut integrierte Meine Damen und Herren, warum gibt es hier wieder und schutzbedürftige Ausländer, die bisher kein Aufent- Ausnahmen? Es reicht zum Beispiel schon der bloße haltsrecht haben, verbessert, nämlich wenn sie be- Verdacht auf Besitz von Betäubungsmitteln. Ohne jeden 7000 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Ulla Jelpke (A) Beweis, ohne Gerichtsbeschluss wird den Betroffenen werden wir noch einmal reden, wenn das Gesetz dann (C) dann jahrelang die Residenzpflicht wieder auferlegt. Das letztlich hier zur Beratung vorliegen wird. ist aus unserer Sicht vollkommen unverhältnismäßig. Ein Hinweis vielleicht noch aus der Praxis – ich habe (Beifall bei der LINKEN) ja einmal auf der anderen Seite, sozusagen in der Exeku- Auch wenn – ich zitiere – „konkrete Maßnahmen zur tive, sitzen dürfen –: Die Frage, welche Abschiebungen Aufenthaltsbeendigung … bevorstehen“, soll die Resi- all derjenigen letztendlich vollzogen werden, die hätten denzpflicht wieder verhängt werden können. Schon bei vollzogen werden können, ist eine Frage, die uns nicht den Beratungen im Innenausschuss konnte mir niemand erst im Jahr 2014 begegnet, sondern die ist, soweit ich erklären, was das eigentlich in der Praxis bedeutet. Eine den Sachverhalt überblicke, mindestens so alt wie das solche Regelung, wie sie im Gesetz steht, ist völlig un- Gesetz, weil die verschiedensten Hinderungsgründe bestimmt. Auf jeden Fall sind Geduldete von dieser Aus- – manchmal sind es auch Mitmenschlichkeit, Mitleid, nahme besonders hart getroffen. In Deutschland leben und manchmal ist es auch bürgerschaftliches Engage- etwa 100 000 Menschen, die geduldet sind, das heißt, ment – dazu führen, dass viele Abschiebungen nicht mit anderen Worten, ausreisepflichtig sind. Viele von ih- vollzogen werden. nen, etwa 50 Prozent, sind seit über sechs Jahren in Aber jetzt zu diesen Gesetzen. Wir haben als Sozial- Deutschland. Gegen sie können also jederzeit Maßnah- demokraten – ich gebe übrigens unumwunden zu, dass men zur Aufenthaltsbeendigung ergriffen werden und das nicht immer ganz so einfach war, und manchmal hat damit in der Folge wieder die Residenzpflicht verhängt es auch eine Weile gedauert – im Ergebnis dann doch werden. Die angebliche Lockerung der Residenzpflicht unstreitig in unseren Reihen gesagt: Die Residenzpflicht ist gerade für diese Menschen nichts anderes als eine in der uns bekannten Form muss weg, und das Sachleis- Mogelpackung. tungsprinzip und der Zwang zur Unterbringung in Ge- Meine Damen und Herren, einen Schritt vor, einen meinschaftsunterkünften müssen es auch. Wir haben das Schritt zurück, das sehen wir auch beim Asylbewerber- im Beschluss des Parteivorstandes vom Montag letzter leistungsgesetz. Sie kündigen an, endlich den Vorrang Woche noch einmal bekräftigt. Ich bin froh, dass das hier von Geld- vor Sachleistungen festzuschreiben. Das und heute, wenn allerdings vielleicht auch nicht so stark heißt, Asylsuchende erhalten künftig keine Fresspakete, beachtet, wie man es diesem Thema eigentlich hätte zu- Einkaufsgutscheine oder Altkleiderbündel mehr, son- billigen wollen, von uns auch vollzogen wird. dern Bargeld. Das wäre auch gut so. Auch hier gibt es Ich bin froh darüber, liebe Ulla Jelpke, dass es gelun- aber wieder Ausnahmen: Erstens soll die neue Regelung gen ist, im Bundesrat, aus Anlass einer allerdings nicht in den Erstaufnahmeeinrichtungen gelten, und schwierigen, von mir auch nicht befürworteten Gesetz- (B) zweitens gibt es eine Öffnungsklausel. Dort steht: „so- gebung, zu einer solchen Vereinbarung zu kommen, wie (D) weit es nach den Umständen erforderlich ist“, kann vom sie der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Vorrang der Geldleistungen abgewichen werden. – Das schlussendlich erzielt hat. Denn uns war es in den Koali- ist der Türöffner für Länder und Kommunen, um – wie tionsverhandlungen trotz intensiven Bemühens eben zum Beispiel in Bayern – an ihrer restriktiven Praxis nicht ganz gelungen, bei der Residenzpflicht noch weiter festzuhalten. Das ist bestenfalls ein Fortschritt mit ange- zu kommen und das Sachleistungsprinzip anzufassen. zogener Handbremse, meine Damen und Herren. Insofern haben wir uns da nach dem Motto „getrennt Wir freuen uns natürlich über jede konkrete Verbesse- marschieren, vereint schlagen“ ein bisschen auf der glei- rung im Leben von Flüchtlingen, Asylsuchenden und na- chen Linie bewegt wie der Ministerpräsident des Landes türlich auch Geduldeten. Dieser Gesetzentwurf setzt die- Baden-Württemberg. Den Grünen sei zum Trost gesagt: sen Anspruch allerdings nur halbherzig um. Deswegen Nach meinem Dafürhalten ist das, was er an dieser Stelle werden wir uns hier nur enthalten. im Sinne der Flüchtlinge herausgehandelt hat, eine be- achtliche Leistung, und ich glaube, jenseits der Schmerz- Ich danke Ihnen. grenze auf der anderen Seite, bei der Union, ist auch (Beifall bei der LINKEN) wirklich nicht mehr zu erreichen gewesen. Nun kommen wir zu den einzelnen Maßnahmen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Wegfall des Vorrangprinzips ist bereits in der Beschäfti- Als nächster Redner hat der Kollege Rüdiger Veit das gungsverordnung vor etwa 14 Tagen, wenn ich mich Wort. richtig erinnere, umgesetzt worden. Wegfall der Resi- denzpflicht, jedenfalls nach drei Monaten, und des Sach- (Beifall bei der SPD) leistungsprinzips machen wir heute. Das ist deswegen ganz bedeutsam für die betroffenen Menschen, weil ich Rüdiger Veit (SPD): nicht selten den Eindruck hatte, dass viele durch die pro- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- blematischen Unterbringungsbedingungen und durch legen! Ich will jetzt, Frau Lindholz, nicht vom Bleibe- den Sachleistungsbezug genauso wie durch die Be- recht reden. Nur so viel sei gesagt: Ich bin froh – das ist schränkungen, die ihnen die Residenzpflicht auferlegt für mich das entscheidende Wort in dieser Legislatur- hat, in einer Weise – Sie entschuldigen bitte die Wort- periode –, dass an einer Stelle, was die Lebensunterhalt- wahl – nicht nur gegängelt, sondern vielleicht auch schi- sicherung angeht, aus einem „und“ wieder ein „oder“ ge- kaniert worden sind, wie das unserem Menschenbild und worden ist, so wie wir es auch vereinbart haben. Darüber unserer Position von menschenwürdiger Flüchtlingspoli- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7001

Rüdiger Veit (A) tik jedenfalls nicht immer entsprochen hat. Dass das jetzt doch bitte die Residenzpflicht abschaffen, die mache ih- (C) wegkommt, ist gut. Darüber freue ich mich. Darüber nen nämlich nur Arbeit und bringe weder für sie noch für sollten wir uns vielleicht auch alle freuen. die Sache noch für die Flüchtlinge irgendeinen vernünf- tigen Vorteil. Ich bin froh, dass das heute passiert. Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sollten uns von Praktikern aus allen Teilen unseres der CDU/CSU) Staates leiten lassen und festhalten: Jetzt haben wir um- Dann zu dem, was die einzelnen Regelungen angeht: gesetzt, was die in der Praxis schon immer als unnötig Ich persönlich – das sage ich jetzt an die Adresse von und lästig empfunden haben. Ulla Jelpke – bin durchaus der Auffassung, dass eine Was das Sachleistungsprinzip angeht: In der Geset- Zeit „bis zu“ drei Monaten in Erstaufnahmeeinrichtun- zesbegründung heißt es jetzt, für die Kommunen ent- gen und die Versorgung mit Sachleistungen dort auch stehe kein höherer Aufwand, weil die Kosten nicht höher unter humanen Gesichtspunkten der vielleicht bessere werden. Ich will Ihnen von einer persönlichen Erfahrung Weg ist, als die betroffenen Flüchtlinge, die vielleicht berichten, die jetzt schon 28 Jahre zurückliegt; ich hoffe, aus einem völlig anderen Kulturkreis kommen und sich ich muss davon hier zum letzten Mal berichten, weil es bei uns überhaupt nicht allein orientieren könnten, so dann nicht mehr relevant sein wird. Als ich damals die ohne Weiteres in die Fläche eines großen Landes zu letzte große Erstaufnahme-Gemeinschaftsunterkunft bei schicken, wo sie keinerlei Kontakt haben, keinerlei Un- uns im Landkreis zugunsten von wohnähnlicher Unter- terweisung, keinerlei Anleitung, wie man sich hier bei bringung bzw. Unterbringung in Wohnungen zugemacht uns zurechtfinden kann. Ich persönlich jedenfalls halte habe, haben wir als Landkreis gespart. Als das Land diese Zeit für vernünftig, für richtig, auch und gerade im Hessen seine Kostenerstattung auf Pauschalen umstellte, Interesse der Flüchtlinge, liebe Kolleginnen und Kolle- hatten wir in unserer Kreiskasse – ich weiß das noch gen. ganz genau – über 900 000 D-Mark. Aber wir hatten na- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten türlich nicht lange etwas davon. Wir sollten nämlich der CDU/CSU) nichts verdienen; das hat der damalige Ministerpräsident Eichel auch erkannt. Wenn jetzt kritisiert wird, wir hätten an einer Stelle da noch einmal eine Verschärfung angebracht, will ich zum Lassen Sie mich zum guten Schluss auf die kommu- allgemeinen Trost auch Folgendes sagen dürfen: In dem nalen Finanzen zu sprechen kommen. Liebe Kolleginnen Bundesratsbeschluss – das kann man nicht sagen –, in und Kollegen, wir sind heute in der, wie ich finde, glück- der Vereinbarung steht, dass derjenige sozusagen wieder lichen Lage, dass die Flüchtlinge, die bei uns Schutz in die Residenzpflicht zurückfällt, von dem bekannt ge- suchen, in der Bevölkerung auf große Akzeptanz stoßen. (B) worden sei, er habe etwas mit Betäubungsmitteln zu tun Vor 22 Jahren, Anfang der 90er-Jahre, war das eher um- (D) gehabt. Das ist ja nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, gekehrt. Damals aber hatten wir vonseiten des Staates – eine noch schwächere Kategorisierung als etwa ein An- und das war nicht nur in Hessen so – wenigstens das fangsverdacht, der zur Einleitung eines Ermittlungsver- Geld, um diese Aufgabe vor Ort vernünftig regeln zu fahrens führt. Von daher gesehen war die Formulierung können. Ich halte es für außerordentlich problematisch – im ursprünglichen Gesetzentwurf mit dem „hinreichen- deswegen haben wir jetzt mit der Bereitstellung von zu- den Tatverdacht“, der nach der Definition der Strafpro- sätzlich 500 Millionen Euro die ersten richtigen Schritte zessordnung voraussetzt, mit mindestens 50-prozentiger getan – Wahrscheinlichkeit ist nach Anklageerhebung eine Ver- urteilung zu erwarten, sozusagen fast das andere Ex- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: trem.Wir haben nun einen Mittelweg gefunden, von dem Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. ich glaube, dass er im Ergebnis ganz vernünftig ist. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: „Auf Verdacht“! Rüdiger Veit (SPD): Unglaublich!) – jawohl –, wenn heute Städte, Gemeinden und Land- Nicht einfach nur einmal so, irgendetwas Vages, vom kreise auf den Kosten für die Unterbringung und für die Hörensagen her oder wie auch immer – sondern wir Versorgung von Flüchtlingen sitzen bleiben. setzen schon ein bisschen mehr voraus. Das halte ich im ( [Altötting] [CDU/CSU]: In Ergebnis für richtig. Bayern nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Das darf nicht sein. Daran sollten wir arbeiten, und zwar Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]) auf allen staatlichen Ebenen zugunsten der kommunalen Ich will noch ein Wort des Trostes an die vielleicht Seite. Es wäre schön, wenn wir so in der Frage einer ver- immer noch verzweifelten Anhänger der Residenzpflicht nünftigen und akzeptablen Flüchtlingspolitik ein weite- und des Sachleistungsprinzips richten. Ich erinnere mich res Stück vorankommen würden. an ein Parlamentsseminar mit Mitarbeitern von Auslän- Ihnen vielen Dank für die Geduld und der Frau Präsi- derbehörden aus der ganzen Bundesrepublik. Diese ha- dentin auch. ben uns gesagt – übrigens zu meiner Überraschung, das hatte niemand bestellt –: Wenn wir als Gesetzgeber in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Berlin etwas Vernünftiges tun wollten, dann sollten wir der CDU/CSU) 7002 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: wie vor soll es möglich sein, Sachleistungen den Geld- (C) Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin leistungen vorzuziehen. Hier hätte ich mir eine klarere Luise Amtsberg das Wort. Positionierung gewünscht. Neben der Feststellung, dass ein Schritt nach vorne Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): unternommen wird, geht es natürlich auch um eine poli- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie soll tische Bewertung dieses Gesetzentwurfes. Ich finde, an man den vorliegenden Gesetzentwurf bewerten? Da- diesem Gesetzentwurf sieht man an verschiedenen Stel- rüber, dass das Gesetz eine Verbesserung für die Rechts- len, wie schwer der Bundesregierung dieser lange über- stellung von Flüchtlingen darstellt – das sagt ja schon fällige Schritt zur Abschaffung von Schikanen nach wie der Name –, gibt es hier im Hause keine Uneinigkeit. vor fällt. Das sieht man beispielsweise daran, dass sich Die Frage ist eher: Wie ist es dazu gekommen, und wel- geduldete Ausländer, die ihren zugewiesenen Wohnort cher Preis wurde dafür gezahlt? Das ist der Dissens, der für mehr als drei Tage vorübergehend verlassen wollen, hier besteht und über den wir bereits an anderer Stelle weiterhin vorher bei der Ausländerbehörde abmelden ausreichend diskutiert haben. Gucken wir uns also an, müssen. Das ist völlig unnötig. was konkret in dem vorliegenden Gesetzentwurf steht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) Erstens. Die sogenannte Residenzpflicht, also die räumliche Beschränkung von Asylbewerbern und Ge- Von Bürokratieabbau keine Spur. Das ist ein Gesetzent- duldeten, wird ab dem vierten Monat nach Aufenthalts- wurf, der nach wie vor von Misstrauen geprägt ist. Ich nahme für das gesamte Bundesgebiet abgeschafft. Die verstehe das nicht. Ich finde, dafür gibt es überhaupt Menschen können sich also künftig im gesamten keinen Anlass. Bundesgebiet frei bewegen und damit auch Verwandte, Bekannte und Freunde in anderen Bundesländern besu- Die Länder, in denen die Grünen mitregieren, haben chen. Das ist selbstverständlich eine große Erleichterung im Sinne der Liberalisierung, der Vereinfachung und des im Alltag der Flüchtlinge. Denn die Residenzpflicht Bürokratieabbaus mit der Bundesregierung verhandelt. verbietet bislang den Betroffenen das Reisen innerhalb Dass diese Gespräche geführt wurden, war gut und rich- Deutschlands unter Strafandrohung – eine gravierende, tig. Richtig war auch der Druck der Grünen beim Weg- europaweit auch einmalige Schikane, gegen die wir ge- fall der Vorrangprüfung; denn wir wissen, dass diese im- meinsam, also die meisten der hier im Hause vertretenen mer einem realistischen Zugang zum Arbeitsmarkt im Fraktionen, mit NGOs und den Betroffenen zu Recht seit Wege stand. Ich glaube, ich spreche für annähernd die Jahren bekämpft haben. Mehrheit im Hause, wenn ich sage: Es ist gut, dass die (B) Vorrangprüfung wegfällt, (D) Das Recht auf Bewegungsfreiheit soll nach der Neu- regelung jedoch – und das ist das Bedauerliche – nicht (Rüdiger Veit [SPD]: Wohl wahr!) uneingeschränkt gelten. Es ist nämlich vorgesehen weil wir es so und nur so möglich machen können, dass – liebe Ulla, du hast es angesprochen –, dass die Resi- Flüchtlinge tatsächlich den Schritt in den Arbeitsmarkt denzpflicht bei Geduldeten im Einzelfall eben doch an- und somit in ein selbstbestimmtes Leben schaffen. gewandt werden kann, etwa wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen konkret bevorstehen. Wir alle wissen, wie Zu mehr Zugeständnissen war die Bundesregierung lange so eine Duldung dauern kann. Wir wissen auch, traurigerweise nicht bereit. Dennoch ist dieser Gesetz- dass es sehr große Unterschiede hinsichtlich der Bewer- entwurf ein Schritt in die richtige Richtung. Wir werden tung durch die Ausländerbehörden in Deutschland gibt. ihm selbstverständlich zustimmen und hoffen, dass viel- Insofern kann man wahrscheinlich davon ausgehen, dass leicht auch ohne Schubser der Grünen weitere Schritte von der Residenzpflicht in der Bundesrepublik in unter- folgen; die sind nämlich notwendig. Ich freue mich, dass schiedlichem Maße weiter Gebrauch gemacht wird. Das ich von der Kollegin von der Union gehört habe, dass ist bedauerlich. auch die Union viel Sinnvolles und Gutes in diesen Än- derungen sieht. Das lässt für künftige Debatten zum Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die Thema Flüchtlinge hoffen und zeigt: Wenn man die Aufhebung des Sachleistungsprinzips. Hier gibt es das- ideologische Brille einmal abnimmt, selbe Phänomen: Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht bislang einen Vorrang für Sachleistungen, zum Beispiel (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kleidung und Lebensmittel, vor. In Zukunft wird es ei- nen Vorrang für Geldleistungen geben. Das ist gut. Auch muss man vielleicht zugestehen, dass auch das politische dafür haben wir lange gekämpft. Die Selbstbestimmung Gegenüber – wir haben diese Dinge ja immer gefordert; von Flüchtlingen im Alltag wird damit entscheidend ge- das wissen Sie – nicht ganz unrecht hat und nicht nur stärkt werden. Die Abschaffung des Vorrangs des Sach- Schwachsinn erzählt. Vielleicht müssen wir Sie künftig leistungsprinzips ist ein Fortschritt; denn damit wurde nicht mehr so viel schubsen, vielleicht gehen Sie in Zu- Menschen nach wie vor ihre eigene Mündigkeit entzo- kunft diese Sachen auch alleine an. gen: Dinge des täglichen Bedarfs durften sie nicht selber Vielen Dank. aussuchen, sondern mussten Fehlendes, so privat es auch sein mochte, erfragen. Dass das geändert wird, ist gut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber auch hier geht man den Weg nicht zu Ende: Nach sowie des Abg. Rüdiger Veit [SPD]) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7003

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge (C) Ich schließe die Aussprache. Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak- tionen der CDU/CSU und SPD sowie der Bundesregie- In UN-Generalversammlung der Uranwaffen- rung eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Ver- Resolution zustimmen besserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und Drucksache 18/3407 geduldeten Ausländern. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3444, Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) die Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSU und Verteidigungsausschuss SPD auf Drucksache 18/3144 sowie der Bundesregie- Ausschuss für Gesundheit rung auf Drucksache 18/3160 zusammenzuführen und in Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte jetzt dieje- Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt Entwicklung dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da- mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die Grünen die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. worden. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin erhält Ich komme zur die Kollegin Agnieszka Brugger das Wort.

dritten Beratung Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem NEN): Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor ein Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der paar Jahren war die Euphorie für die Vision einer atom- Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition und des waffenfreien Welt spürbar und greifbar, und nun scheint Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion diese verflogen zu sein. Die Überprüfungskonferenz Die Linke angenommen worden. zum Nichtverbreitungsvertrag, der das wirkmächtigste Regime in der internationalen nuklearen Abrüstungs- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 c auf: politik ist, sollte eigentlich ein Ereignis sein, dem alle Abrüstungspolitikerinnen und Abrüstungspolitiker welt- (B) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnieszka (D) Brugger, Annalena Baerbock, Marieluise Beck weit mit freudiger Erwartung entgegensehen. Wer aber (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- auf die Überprüfungskonferenz im nächsten Jahr schaut, tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der tut dies mit Bauchschmerzen und Pessimismus. Neue Dynamik für nukleare Abrüstung – Der Noch 2010 hat sich die Staatengemeinschaft auf eine Humanitären Initiative beitreten gemeinsame Linie verständigt und einen umfangreichen Aktionsplan verabschiedet. Wir alle haben das groß als Drucksache 18/3409 Erfolg gefeiert. Unterm Strich muss man vier Jahre Überweisungsvorschlag: später aber ernüchtert und enttäuscht feststellen: Kaum Auswärtiger Ausschuss (f) etwas davon ist umgesetzt worden, und es ist auch nicht Verteidigungsausschuss mehr viel zu erwarten. Das einzige kleine Hoffnungszei- Ausschuss für Gesundheit chen ist, dass die Atomverhandlungen mit dem Iran Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit nicht gescheitert sind. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Meine Damen und Herren, gerade weil die Rahmen- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bedingungen für die Abrüstungspolitik insgesamt derzeit nicht besonders gut sind – auch nicht erst seit der b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnieszka Ukraine-Krise –, dürfen wir nicht verzagen und müssen Brugger, Annalena Baerbock, Marieluise Beck wir hier mutig vorangehen. (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) VN-Resolution zu Uranmunition zustimmen Auch wenn die Verhandlungen im Rahmen des Nicht- verbreitungsvertrages schwierig sind, muss man neue Drucksache 18/3410 Ideen unterstützen und neue Wege begehen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Für eine neue Dynamik sorgt eine Initiative, die von Verteidigungsausschuss einer Reihe von Staaten und von einer lebendigen Zivil- Ausschuss für Gesundheit gesellschaft ausgeht und sich mit den verheerenden Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes ausein- Reaktorsicherheit andersetzt. Sie bietet die Chance, dem Ziel einer atom- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und waffenfreien Welt langfristig über ein Verbot von Nu- Entwicklung klearwaffen näherzukommen. 155 Staaten unterstützen 7004 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Agnieszka Brugger (A) mittlerweile die damit verbundene Erklärung, die einen andererseits um den Schutz von Zivilistinnen und Zivi- (C) Einsatz dieser Massenvernichtungswaffen unter allen listen geht, enthalten Sie sich. Das ist einfach wirklich Umständen verbietet. Die Bundesregierung aber will nicht richtig. dieser Erklärung nicht beitreten. Sie verweigert sich hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und verweist dabei auf ihre NATO-Mitgliedschaft. Das sowie der Abg. [DIE ist wenig überzeugend, da andere NATO-Mitgliedstaaten LINKE]) wie Norwegen, Island und Dänemark trotzdem dabei sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sorgen Sie hier für einen Kurswechsel; denn die deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sche Nichtzustimmung zu dieser wichtigen Resolution In der nächsten Woche findet in Wien die dritte Kon- ist ein falsches und fatales Signal. ferenz zu den humanitären Folgen des Einsatzes von Nu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN klearwaffen statt. Wir fordern Sie an dieser Stelle daher sowie bei Abgeordneten der LINKEN) auf: Hören Sie auf, sich hier herauszuwinden! Unterstüt- zen Sie vielmehr von deutscher Seite aus endlich diese Meine Damen und Herren, wir Grüne lassen an dieser wichtige Erklärung! Stelle nicht locker. Mit den beiden Anträgen, die wir heute hier einbringen, geben wir Ihnen wichtige Anre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gungen mit auf den Weg, die Sie aufgreifen sollten. Wa- Meine Damen und Herren, die deutsche Abrüstungs- chen Sie endlich aus Ihrer Lethargie auf! Laufen Sie politik leidet nicht nur unter Ihrer Zögerlichkeit, sondern nicht rückwärts, sondern schreiten Sie mutig voran – für sie ist auch wenig glaubwürdig. Es ist miteinander unver- mehr Frieden, Sicherheit und Abrüstung! einbar, auf dem internationalen Parkett für internationale (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Abrüstung einzutreten und gleichzeitig daran festzuhalten, dass US-amerikanische Atomwaffen in Deutschland sta- tioniert sind, Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Robert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hochbaum das Wort. und es ist ein längst überfälliger und wichtiger Schritt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für den Abzug dieser Waffen einzutreten. neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Robert Hochbaum (CDU/CSU): Stattdessen billigt die Bundesregierung die Moderni- (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (D) sierung dieser Massenvernichtungswaffen und will auch Kollegen! Die Aussage unseres Außenministers Frank- noch einmal Geld obendrauf legen, damit die Tornados, Walter Steinmeier zu Global Zero: „Das ist keine Vision, die Trägersysteme dieser Waffen, modernisiert werden. sondern eine Notwendigkeit“, kann gar nicht oft genug Meine Damen und Herren von der Koalition, stoppen unterstrichen werden. Sie diese Aufrüstung, und verabschieden Sie sich ein für alle Mal von diesen falschen Modernisierungsplänen! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich glaube, wir sind uns hier und heute fast alle einig, dass eine Welt ohne Atomwaffen unser Ziel ist und auch Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in den unser Ziel bleiben muss. Doch an der Frage, wie wir die- letzten Jahren, als Sie noch in der Opposition waren, ha- ses Ziel erreichen, scheiden sich wie so oft die Geister. ben wir Außenminister Westerwelle und die schwarz- Dies erkennt man auch deutlich an dem zur Debatte ste- gelbe Regierung gemeinsam kritisiert. Man könnte jetzt, henden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Weltweite wo Sie mitregieren, erwarten, dass es tatkräftig voran- nukleare Abrüstung kann eben mal nicht mit einem geht. Man hört von Ihnen aber nichts zu den Modernisie- Handstreich vollzogen werden. Es ist wie bei vielen Din- rungsplänen, man hört von Ihnen auch nichts mehr zum gen ein weiter Weg zum Ziel, vor allem ein Weg der vie- Abzug der Atomwaffen. len kleinen Schritte. Ich habe noch ein weiteres trauriges Beispiel: Unter Einer dieser Schritte ist zum Beispiel das stete Ein- Schwarz-Gelb hat Deutschland im Rahmen der Verein- wirken Deutschlands auf alle Nuklearstaaten, konkrete ten Nationen der Resolution zur Uranmunition immer Lösungen im Bereich der bilateralen Abrüstung zu erar- zugestimmt. Sie ist ja auch sehr sanft und vorsichtig for- beiten. So ist es unter anderem dem Betreiben von muliert. Nun hat sich unter Schwarz-Rot erstmalig eine Deutschland zu verdanken, dass vom NATO-Gipfel in deutsche Bundesregierung entgegen einer breiten Mehr- Wales bei der nuklearen Abrüstung die Botschaft der heit von 143 Staaten enthalten. ausgestreckten Hand auch weiterhin ausgeht – ich (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zitiere –: und von der LINKEN: Oh!) Das Bündnis ist entschlossen, eine sicherere Welt Das ist inkonsequent: Einerseits werden die eigenen Sol- für alle anzustreben und die Bedingungen für eine datinnen und Soldaten durch die Vorschriften vor den Welt ohne Kernwaffen in Übereinstimmung mit den Gefahren durch Uranmunition geschützt. Wenn es aber Zielen des Vertrags über die Nichtverbreitung von Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7005

Robert Hochbaum (A) Kernwaffen zu schaffen, und zwar in einer Art und Gutachten mit einzubeziehen, neue Gutachten zur Ent- (C) Weise, die die internationale Stabilität fördert … scheidung heranzuziehen und – das war ganz wichtig – die Argumente der deutschen Delegation in die Schluss- Ich glaube, dies ist ein klares Votum, dem man eigentlich erklärungen mit zu übernehmen. nur zustimmen kann. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wichtig ist dabei natürlich auch die Aussage, dass nu- Was ist jetzt mit der Enthaltung?) kleare Abrüstung die internationale Stabilität fördern muss. Das heißt, sie kann auf gar keinen Fall einseitig Da dies bisher aber in keinem dieser Fälle geschehen ist, erfolgen, sonst könnte sie im Extremfall sogar bewaff- hat man dieses Mal beschlossen, sich zu enthalten, also nete Konflikte begünstigen, und das wollen wir sicher – ich weise darauf hin –, sich zu enthalten, nicht, dage- alle nicht. gen zu stimmen. Man sieht also, dass Erfolge auf diesem Gebiet nur im Sehr geehrte Damen und Herren, in den vorliegenden gegenseitigen Dialog zu erreichen sind. Sichtbar wird Anträgen, vor allem im Antrag von Bündnis 90/Die Grü- dies aktuell dadurch, dass die Bundesregierung mit nen, sind natürlich Passagen enthalten, denen auch wir Nachdruck auf eine Lösung der Problematik im Iran hin- zustimmen könnten. Mehrheitlich sind es jedoch die ge- wirkt, vor allem auch in Person unseres Bundesaußen- nannten Rundumschläge, die uns den entsprechenden ministers. Von dieser Stelle aus möchte ich ihm, aber na- Zielen nicht näherbringen, im Extremfall sogar Lösun- türlich auch den anderen Beteiligten aus der gen blockieren. Bundesregierung dafür danken, dass sie immer wieder, ohne nachzulassen, auf eine friedliche Lösung dieses (Zuruf von der CDU: So ist es!) Konflikts hinwirken. Deshalb müssen wir diese Anträge leider ablehnen. Meine Damen und Herren von der Opposition, auch Herzlichen Dank. wir sehen natürlich die Notwendigkeit einer atom- waffenfreien Welt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immerhin!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Um dies zu erreichen, sind jedoch keine Rundum- Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Neu das schläge, sondern ist konstruktive Arbeit erforderlich. Wort. (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der LINKEN) (B) GRÜNEN]: Hört! Hört! – Katja Keul [BÜND- (D) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir ja ge- Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): macht!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Hier liegt der kleine Unterschied: Sie haben eine Vision und Herren! Waffensysteme mit nuklearer Wirkung sind – wir arbeiten daran, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Massenvernichtungswaffen. Es ist egal, ob es sich dabei um hochangereichterte Atombomben handelt oder um (Lachen bei der LINKEN und dem BÜND- abgereicherte panzerbrechende Munition. Denn neben NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander S. der intendierten direkten Tötungsfunktion von Kombat- Neu [DIE LINKE]: Schön wär’s!) tanten wirken nukleare Waffen in räumlicher und zeitli- Diese Wirklichkeit wird aktuell – wir haben heute cher Dimension unterschiedslos. Das heißt, Zivilisten schon davon gehört – in einem anderen Bereich der ab- werden unmittelbar getötet oder langfristig getötet auf- rüstungspolitischen Debatte auf die Probe gestellt, und grund von Verstrahlungen. Es können ganze Regionen zwar auf dem Feld des Einsatzes von Uranmunition. Wie auf Tausende, ja sogar Hunderttausende von Jahren ver- Sie sicher wissen, setzt die Bundeswehr diese Muniti- seucht werden, je nach Halbwertzeiten. onsart seit den 70er-Jahren nicht mehr ein. Da Uranmu- Nun aber zu den kleinen Nuklearwaffen, zur abgerei- nition aber auch weiterhin von einigen unserer Bündnis- cherten Uranmunition. In der internationalen Gemein- partner eingesetzt wird, ist die Debatte darüber wieder schaft wird zunehmend akzeptiert, dass Uranmunition entflammt. Nun entzündet sich die Diskussion – man Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen hat. sieht es an den vorliegenden Anträgen – an der Enthal- Damit wird sie zunehmend relevant für das humanitäre tung Deutschlands bei der Abstimmung über eine ent- Völkerrecht. So heißt es zum Beispiel in Artikel 35 des sprechende UN-Resolution. Zusatzprotokolls der Genfer Konvention – ich zitiere –: (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es ist verboten, Methoden oder Mittel der Krieg- NEN]: Das müssen Sie mal erklären!) führung zu verwenden, die dazu bestimmt sind oder Es geht dabei jedoch nicht um einen Bann von Uranmu- von denen erwartet werden kann, dass sie ausge- nition, sondern um die Feststellung der Schädlichkeit. dehnte, lang anhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen. Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit immer wieder, auch durch entsprechende Stimmerklärungen bei Ich finde es unerträglich, wenn immer noch behauptet ihrem zustimmenden Verhalten – das kann man alles wird, es gebe keinerlei Beweise dafür, dass abgerei- sehr genau nachlesen –, gefordert, alle Aspekte bzw. cherte Uranmunition tötet oder langfristige Schädigun- 7006 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Alexander S. Neu (A) gen der Gesundheit oder gar der Gene verursacht, wo- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) durch die Schädigung sogar über Generationen hinweg Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Dr. Finckh- weitergetragen wird. Krämer. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD)

Die explodierenden Krebsraten, die massiv zunehmende Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Zahl von Totgeburten und Missgeburten in den Einsatz- Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und regionen sprechen eine deutliche Sprache. Die Leug- Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den nung der Zusammenhänge zwischen dem Einsatz abge- beiden Tribünen! Am 26. September 1983 wäre es um reicherter Munition und menschlichen Schäden oder ein Haar zu einem Atomkrieg aus Versehen gekommen. auch die Behauptung, das seien nur spekulative Korrela- Wir verdanken es Stanislaw Petrow, damals Oberst der tionen, ist nur mit einem zu erklären – da widerspreche sowjetischen Armee, dass ein Fehlalarm tatsächlich als ich Ihnen, Herr Hochbaum –: Man will nicht Verbündete ein solcher behandelt wurde. Er handelte gegen seine wie die USA oder Großbritannien düpieren. In Afgha- Vorschriften. Wenn er den Alarm weitergegeben hätte, nistan, in Jugoslawien, im Irak zweimal, in Libyen und hätte die sowjetische Führung nur wenige Minuten zur wahrscheinlich auch in Syrien wurde bzw. wird dieses Entscheidungsfindung gehabt, und es könnte gut sein, Waffensystem eingesetzt. Ich finde, das spricht Bände dass wir heute hier nicht säßen und diskutierten. Dieser über die miserable Ethik und den widerwärtigen Charak- Vorfall wurde erst 1998 bekannt. Er war einer von meh- ter der Befürworter und Verharmloser abgereicherter reren schwerwiegenden nuklearen Zwischenfällen in der Uranmunition. Zeit des Kalten Krieges, die alle hohes Eskalationspo- tenzial hatten. Die Bundesregierung sollte zumindest daran interes- siert sein, die Zusammenhänge weiter wissenschaftlich Die Problematik, die uns besondere Sorgen macht, ist überprüfen zu lassen. nicht so sehr der geplante Einsatz von Atomwaffen. China hat inzwischen erklärt, dass es überhaupt keinen (Beifall bei der LINKEN) Ersteinsatz plant, und den anderen Atomwaffenstaaten Aber nichts da. Selbst das will Schwarz-Rot nicht, sehr trauen wir das aus verschiedenen Gründen auch nicht geehrte Bürgerinnen und Bürger. Ich finde, das ist skan- unbedingt zu. Das Hauptproblem sind angesichts der Tatsache, dass wir noch so viele Atomwaffen in höchster dalös. Das Abstimmungsverhalten der Bundesregierung Bereitschaft haben, vielmehr Fehlinterpretationen wie in der UN-Generalversammlung war skandalös. Die die, die 1983 vorgekommen ist, oder eventuelle Unfälle, Bunderegierung hat vor wenigen Tagen dem von Indo- sodass der erste Fehler unter Umständen der letzte sein nesien vorgelegten Resolutionsentwurf eben nicht zuge- (B) könnte. Insofern ist es gerade in Zeiten, in denen sich be- (D) stimmt. Schwarz-Rot enthielt sich schlichtweg der stimmte Konflikte zuspitzen, wichtig, das vertrauensbil- Stimme. Damit fällt Schwarz-Rot hinter Schwarz-Gelb dende Element von Rüstungskontrolle und Rüstungsbe- zurück. Dabei ging es in dem Entwurf noch nicht einmal grenzung wieder zu stärken und sich dafür einzusetzen. um ein Verbot, sondern nur um einen Prüfauftrag an alle Mitgliedstaaten. Ich finde dieses Enthaltung Deutsch- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem lands in der UN-Generalversammlung wirklich schänd- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lich für Deutschland und besonders für die SPD, Die schwarz-rote Bundesregierung beteiligt sich aktiv (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) an Rüstungskontrollkonferenzen, wie zum Beispiel der vom 20. bis 22. November dieses Jahres in Moskau oder weil sie sich in dieser Frage rechts von der FDP verortet. an der Konferenz kommende Woche in Wien zu den hu- manitären Auswirkungen von Atomwaffen. Ja, sehr geehrte Damen und Herren der CDU/CSU und der SPD, dieses Verhalten ist genau das Gegenteil In Moskau, wo Experten, Diplomaten und Wissen- von verantwortungsvoller Außen- und Sicherheitspoli- schaftler aus 42 Ländern gemeinsam diskutiert haben, tik; denn es handelt sich um eine bewusste Verantwor- waren viele eher pessimistisch und meinten, dass der tungslosigkeit im humanitären Sinne aufgrund niederer Spielraum für nukleare Abrüstungsschritte im Augen- Interessenmotive. blick geringer geworden ist. Aber es gab in Moskau auch die Frage von der Abrüstungsbeauftragten der Vereinten Noch ein Blick auf die in Deutschland stationierten Nationen, Angela Kane, ob es denn so schwierig sei, Atomwaffen. Diese etwa 20 Atomwaffen könnte man sich vorzustellen, dass die Russische Föderation und die abziehen lassen. Man will es aber nicht. Es gab verschie- USA ihren Widerstand gegen eine Nuklearwaffenkon- dene Initiativen. Trotz aller Global-Zero-Rhetorik könn- vention – darum wird es ja auch in Wien indirekt ten Sie hier voranschreiten. Im Jahr 2012 haben Sie aber gehen – aufgeben könnten. Ich habe aus ihrer Rede, die in Chicago die Hoheit darüber an die NATO abgetreten. man inzwischen im Internet nachlesen kann, herausge- Wie kann man die souveräne Entscheidung über die La- hört, dass sie sich das gut vorstellen kann, und ich selber gerung von US-amerikanischen Atomwaffen auf deut- kann es auch. schem Boden an die NATO abtreten? Das ist ein Höchst- Ein Ansatz, der weder in dem Antrag der Grünen maß an Verantwortungslosigkeit. noch in der Diskussion bisher zur Sprache gekommen Ich danke Ihnen. ist, ist der Deep-Cuts-Ansatz. Seit letztem Jahr gibt es eine trilaterale Kommission von Experten aus Russland, (Beifall bei der LINKEN) den USA und Deutschland, die sich Gedanken darüber Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7007

Dr. Ute Finckh-Krämer (A) macht, wie man über den New-START-Vertrag hinaus in unter der Finanzierungsfrage diskutiert. Wir wissen, dass (C) die strategischen Atomwaffenpotenziale der USA und sehr viel mehr Modernisierungspläne zu Atomwaffen Russland tiefe Einschnitte, also Deep Cuts, machen existieren, als tatsächlich Geld im amerikanischen Haus- kann. Der erste Bericht dieser Kommission ist im April halt zur Verfügung steht. Insofern werden wir das disku- 2014 veröffentlicht worden. Es wurde ein Vorwort hin- tieren, auch mit den Fraktionen in den Ausschüssen. zugefügt, demzufolge die Vertreter in dieser Kommis- sion trotz der damals gerade beginnenden Ukraine-Krise (Beifall bei der SPD) daran festhalten, dass Rüstungskontrolle und Abrüstung Die Nuklearwaffenkonvention, die – wie bei den ers- im nuklearen Bereich wichtige Aufgaben sind. ten beiden Konferenzen zu humanitären Folgen von Die SPD hat immer vertreten, dass eine Politik für Atomwaffen – in Wien mit Sicherheit zur Sprache kom- Frieden und Abrüstung mit dem Begriff „gemeinsame men wird, wird von den P 5, also den offiziellen Atom- Sicherheit“ verbunden sein muss: wechselseitige Abhän- mächten, ein Stück weit als Konkurrenz zu dem Regime gigkeiten, gemeinsame Verantwortung für Frieden und des Nichtverbreitungsvertrages, also des Atomwaffen- Sicherheit mit dem anderen und nicht gegen andere. In- sperrvertrages, gesehen. Wir sehen das eher als sich er- sofern finde ich es nicht ganz fair, dass Sie uns vorwer- gänzende Prozesse an. Deswegen ist es uns auch wich- fen, dass wir nicht an dem festhalten, was wir in den tig, dass Deutschland sich an allen drei Konferenzen letzten Jahren in der Opposition gefordert haben. 2012, beteiligt hat. Wir begrüßen es als SPD besonders – ich lieber , waren wir übrigens nicht in der denke, da kann sich das ganze Haus anschließen –, dass Regierung, sondern es war die schwarz-gelbe Regierung, die USA und Großbritannien, anders als bei den letzten die beim NATO-Gipfel in Chicago das erwähnte Votum beiden Konferenzen, ihre Teilnahme angekündigt haben. abgegeben hat. Ich persönlich bin sehr gespannt auf das, was sie dort er- zählen werden. (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen Sie denn gegen die In Bezug auf die Waffensysteme mit abgereichertem Modernisierungspläne?) Uran kann ich hier noch sagen, dass die Forderung nach einer wissenschaftlichen Untersuchung der Folgewir- – Ist das eine offizielle Zwischenfrage? Dann bekomme kungen des Einsatzes von Uranmunition von Deutsch- ich noch ein bisschen Zeit. land immer mit unterstützt wurde. Aus meiner Sicht ist noch nicht endgültig geklärt, was Radioaktivität tatsäch- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: lich bewirkt, welche Schäden die Toxizität von Uran und Kollegin Brugger, Sie haben die Möglichkeit, zu fra- möglicherweise andere, gleichzeitig in Einsatz gekom- gen. mene Waffen in den entsprechenden Regionen bewirkt haben. Was wir aber machen werden – das kann ich, (B) Herr Hochbaum, glaube ich, hier schon sagen –: Wir (D) Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden in der nächsten Sitzung des Unterausschusses NEN): „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ Vielen Dank, Frau Präsidentin, vielen Dank, liebe ein Gespräch mit Fachleuten über diese Waffen führen Kollegin Finckh-Krämer. – Ich stelle meinen Zwischen- und können dann anschließend hier vielleicht schon ruf noch einmal als Frage: Wenn das nicht fair ist, was mehr sagen. wir Ihnen hier vorgeworfen haben, nämlich dass Sie nicht mehr festhalten an dem klaren Kurs, den die SPD Danke schön. immer hatte – Sie haben immer gegen die Modernisie- rungspläne bezüglich der Tornados gekämpft, die die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten amerikanischen Atomwaffen im Notfall tragen sollten; der CDU/CSU) außerdem haben Sie immer für den Abzug der Atomwaf- fen gestritten –, würde ich doch gern die Frage stellen: Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Was macht denn die Bundesregierung gerade angesichts Als nächste Rednerin hat die Kollegin Julia Bartz das dieser beiden konkreten Fragen, und was machen auch Wort. die Koalitionsfraktionen, um sich offen gegen die Mo- dernisierungspläne zu positionieren und sich für den Ab- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zug der Atomwaffen einzusetzen? (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Julia Bartz (CDU/CSU): DIE GRÜNEN und der LINKEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer ist wohl der bessere Wachhund: der wohlfrisierte Pudel oder der Dobermann? Eigentlich gibt Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): es keinen Grund, warum ein Pudel nicht auch ein guter Vielen Dank für die Zwischenfrage. – Die geplante Wachhund sein könnte. Man glaubt es ihm allerdings Modernisierung der B61 ist ja zunächst ein amerikani- erst, wenn er zubeißt. Der zähnefletschende Dobermann sches Programm, das nicht nur die in Europa stationierten wird wohl kaum beißen müssen, er sieht ja schon so böse Atomwaffen, sondern vor allem auch die auf amerikani- aus. schem Boden stationierten umfasst. Der Entscheidungs- prozess darüber ist in den USA noch nicht endgültig ab- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Meinen Sie geschlossen. Insofern haben wir hier noch Zeit, das in damit die USA? – Omid Nouripour [BÜND- den zuständigen Ausschüssen und Fraktionsarbeitsgrup- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch von pen zu diskutieren. In den USA wird das unter anderem Goethe, oder?) 7008 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Julia Bartz (A) Sehr geehrte Damen und Herren, die Grünen fordern ehemaligen Jugoslawien, in Kuwait und im Irak noch (C) in ihrem Antrag unter anderem den Abzug aller US- Spuren von abgereichertem Uran in der Umwelt nach- Atomwaffen aus Deutschland und aus der Europäischen weisbar waren. Aber diese Spuren waren in einem so ge- Union. Ich halte das für den falschen Schritt zum fal- ringen Maß vorhanden, dass sie weit unter den Grenz- schen Zeitpunkt. Schauen wir uns doch die geopolitische werten lagen, die die IAEO vorschlägt. Lage an. Schauen wir auf das aggressive Verhalten Russ- Die Ergebnisse all dieser Studien kommen aber nicht lands in der Ukraine, in Abchasien und in Südossetien. in dem aktuellen Resolutionstext vor. Deshalb ist die Re- (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Und des solution nicht auf dem aktuellen Stand. Das ist der Westens!) Grund, warum sich die Bundesregierung enthalten hat und warum wir Ihre beiden Anträge ablehnen werden. Ich erinnere an die gute Rede Ihrer Kollegin Marieluise Beck in diesem Hohen Hause vor wenigen Vielen Dank. Wochen, als es um die Sanktionen gegenüber Russland (Beifall bei der CDU/CSU) ging. Sie hat deutlich gemacht, dass Russland in Bezug auf das Budapester Memorandum Vertragsbruch began- gen hat. Sie erinnern sich: Die Ukraine hat 1994 freiwil- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: lig alle ihre Atomwaffen abgegeben, weil man ihr zuge- Frau Kollegin Bartz, der Kollege Neu hat noch eine sichert hat, dass ihre Grenzen nicht berührt werden. Frage. Lassen Sie sie zu?

(Max Straubinger [CDU/CSU]: So war es!) Julia Bartz (CDU/CSU): Das Gegenteil ist nun der Fall. Zudem ignoriert Russ- Ja. land bereits seit einigen Jahren die Angebote der Verei- nigten Staaten, in bilateralen Abrüstungsverhandlungen Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): weiter ins Gespräch zu kommen. Hier wäre es sinnvoll, Frau Bartz, Sie haben unter anderem auf die wissen- über ein Folgeabkommen, New START, zu verhandeln. schaftliche Untersuchung der NATO verwiesen, die zu Russland lehnt dieses Angebot ab. Außerdem müssen dem Schluss kommt, dass es keinen ursächlichen Zu- wir bedenken, dass es neben den fünf Nuklearmächten sammenhang gebe. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: De-facto-Atommächte gibt, unter anderem Nordkorea. Ich werde im Frühjahr im Rahmen der Parlamentari- In den vergangenen Wochen haben wir gesehen, dass die schen Gruppe nach Serbien fahren und werde Ihnen ei- Verhandlungen mit dem Iran über sein Atomprogramm nen Liter Milch aus Südserbien mitbringen. Wir werden noch nicht erfolgreich zum Abschluss gekommen sind. sehen, ob Sie den trinken werden. Sind Sie damit einver- (B) Ich teile Ihren grundsätzlichen Wunsch nach einer standen? (D) atomwaffenfreien Welt. Aber die Punkte, die ich eben genannt habe, machen deutlich, dass wir dies nicht über Julia Bartz (CDU/CSU): eine Einbahnstraße erreichen können, auch nicht, wenn Ich befürchte, dass die Milch sauer ist, wenn Sie wie- sich alle Staaten, die über keine Atomwaffen verfügen, der zurückgekehrt sind. darüber einig sind. Wir müssen diesen Weg gemeinsam (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- mit den Nuklearmächten gehen. Sonst landen wir hier in wie bei Abgeordneten der SPD) einer Sackgasse. Deshalb werden wir Ihren Antrag ab- lehnen. Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Zu den beiden anderen Anträgen zur Uranmunition Ich glaube, nicht. Sie wollen also nicht. wurde bereits viel gesagt, insbesondere vom Kollegen Robert Hochbaum. Ich möchte deutlich betonen: Es han- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: delt sich bei der entsprechenden UN-Resolution nicht um einen Bann von Uranmunition. Vielmehr geht es um Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die die wissenschaftliche Untersuchung. Nun liegen uns be- Aussprache. reits zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen vor: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf von NATO, UNEP, IAEO, der Weltgesundheitsorganisa- den Drucksachen 18/3409, 18/3410 und 18/3407 an die tion und der Europäischen Kommission. Keine dieser in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Untersuchungen konnte einen ursächlichen Zusammen- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der hang zwischen dem Einsatz dieser Munition und Krank- Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. heiten feststellen, die von den Medien mit dieser Muni- tion in Verbindung gebracht wurden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 e auf: (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- NEN]: Es ist wie bei den Atomkraftwerken!) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ent- scheidung der Konferenz von Doha vom So hat die Bundeswehr gemeinsam mit der Gesell- 8. Dezember 2012 zur Änderung des Proto- schaft für Strahlenforschung zum Beispiel die deutschen kolls von Kyoto vom 11. Dezember 1997 zum Kosovo-Kontingente untersucht und keine Rückschlüsse Rahmenübereinkommen der Vereinten Natio- auf besondere radiologische Gesundheitsrisiken ziehen nen über Klimaänderungen (Doha-Änderung können. Zwar hat UNEP in Studien festgestellt, dass im des Protokolls von Kyoto) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7009

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Drucksache 18/3123 ein bisschen mau war, in Lima wirklich ein belebendes (C) Überweisungsvorschlag: Element sein. Das hat etwas damit zu tun, dass das Kabi- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und nett gestern das Klimaaktionsprogramm beschlossen hat. Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Weil es so schön ist, darf ich zitieren – die Ministerin Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und hat es heute schon gemacht –, und zwar den Kommentar Entwicklung von Malte Kreutzfeldt in der taz. Er hat gesagt: b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Die Koalition hat in Sachen Klimapolitik viel ge- CSU und SPD leistet. Klimakonferenz in Lima zum Erfolg führen Germanwatch hat kommentiert: Drucksache 18/3406 Germanwatch begrüßt neue Ernsthaftigkeit beim c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annalena Klimaschutz … Baerbock, Bärbel Höhn, Claudia Roth (Augs- Oder: burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Germanwatch hofft, dass Bundesumwelt- und Wirt- schaftsministerium ihre im Vergleich zur letzten Klimakonferenz von Lima als Wegbereiter Legislatur erstaunlich gute Zusammenarbeit für für ein neues globales Klimaabkommen und ambitionierte Klimaschutzziele jetzt auch fortset- eine nachhaltige globale Entwicklung nutzen zen. Drucksache 18/3411 Liebe Kolleginnen und Kollegen, das 40-Prozent-Ziel Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für steht, und wir haben einen Plan, wie dieses Ziel erreicht die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu werden kann. Ich glaube, das ist ein wichtiges Signal, Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist es so be- das wir nach Lima mitnehmen. schlossen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der der CDU/CSU) Debatte erhält der Kollege Frank Schwabe das Wort. Es gibt im Übrigen noch ein gutes Signal, das wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nach Lima mitnehmen: dass der Grüne Klimafonds mitt- der CDU/CSU) lerweile ein Volumen von knapp 10 Milliarden US-Dol- lar hat. Das ist nicht Deutschland allein zu verdanken; (B) (D) Frank Schwabe (SPD): aber der Impuls dafür, dass es zu diesem Volumen von Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! knapp 10 Milliarden US-Dollar gekommen ist, ist von Bevor ich auf die Klimakonferenz in Lima zu sprechen Deutschland ausgegangen. Ich glaube, auch das muss komme, muss ich leider zu einem unerfreulichen Vor- man lobend erwähnen. gang Stellung nehmen: Das ist der Affront, der Mitglie- Es gibt zwei positive Aspekte, mit denen wir Deut- dern des Deutschen Bundestages entgegengebracht sche mit Barbara Hendricks an der Spitze Richtung Lima wurde, als sie vor der Klimakonferenz in Lima nach fahren können: Barbara Hendricks ist eine Frau, die Ecuador reisen wollten, um sich dort mit Projekten des nüchtern die Politikthemen beackert, die sie zu beackern Klimaschutzes, des Regenwaldschutzes zu beschäftigen. hat. Aber sie macht das auf konsequente Art, und sie hat Ich glaube – ich hoffe es zumindest –, es ist wirklich Deutschland innerhalb eines Jahres wieder auf interna- ein einmaliger Vorgang, dass eine Regierung einer Dele- tionalen Klimakurs gebracht, und das ist gut so. gation des Deutschen Bundestages die Einreise verwei- (Beifall bei der SPD) gert. Am Ende ist das ein Eigentor für Ecuador. Es war keine gute Werbung vor der Klimakonferenz in Lima. Ich will zur Klimakonferenz in Lima im Besonderen, Dieses Einreiseverbot war vor allen Dingen deswegen aber auch im Allgemeinen etwas sagen. Ich möchte noch völlig absurd, weil wir, Deutschland, ein Land sind, das einmal die taz zitieren, in diesem Fall Bernhard Pötter, eigentlich eine sehr enge Zusammenarbeit in Entwick- der mir mit einem Essay mit dem Titel Besser als ihr Ruf lungs- und Klimafragen mit Ecuador pflegt. Insofern – ich empfehle sehr, ihn zu lesen – aus der Seele gespro- müssen wir, der Deutsche Bundestag, dieses Einreise- chen hat. Ich möchte eine Passage daraus zitieren: verbot ganz heftig verurteilen und sagen, dass das wirk- Denn die Klimakonferenzen sind ein großer Erfolg. lich ein Verfahren ist, das für uns absolut unakzeptabel Kaum ein anderer internationaler Prozess ist so ist. zielführend und engagiert … Sie haben konkrete (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Ergebnisse gebracht, wirksame Institutionen ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- schaffen, Geld aufgebracht und Menschen mobili- geordneten der CDU/CSU) siert. Die globale Energiepolitik verändert sich in rasantem Tempo – auch durch das jährliche Ritual Ich komme zur Klimakonferenz in Lima. Deutschland der Klimagespräche. wird mit Rückenwind nach Lima fahren, Barbara Hendricks, die Bundesumweltministerin, vorneweg. Wir Ich will das wirklich dreimal unterstreichen, bei aller werden nach einigen Jahren, in denen die Entwicklung Kritik, zu der auch wir immer wieder beitragen, weil wir 7010 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Frank Schwabe (A) von solchen Konferenzen natürlich immer noch mehr er- Wir müssen nach Lima wirklich diese Dynamik mit- (C) warten. Würde es sie genau in diesem UN-Format nicht nehmen und untermauern. Wir müssen in Lima unsere geben, müsste man sie jetzt erfinden. Insofern ist es gut, Hausaufgaben machen, um zu einer guten Vorarbeit für dass die Klimakonferenz in Lima stattfindet. das Abkommen in Paris 2015 zu kommen. Wir müssen dafür sorgen und intonieren, dass auch die G 7 ihren Bei- Aber es ist natürlich schwierig, die Welt zu verändern. trag leisten. Wir alle hier miteinander im deutschen Par- Über nichts anderes reden wir: Wir reden darüber, dass lament, denke ich, werden dazu beitragen, Angela wir die Volkswirtschaften von mindestens 192 Staaten, Merkel im nächsten Jahr wieder auf den Stuhl der Kli- deren Vertreter an den Klimakonferenzen immer wieder makanzlerin zu rücken, teilnehmen, verändern wollen. Es geht um eine Verände- rung der Lebensgrundlagen. Für manche soll das Alther- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gebrachte infrage gestellt werden. Andere fragen sich, NEN]: Zu rücken? – Annalena Baerbock ob sie mit dem, was wir auf Klimakonferenzen beschlie- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hoffen, ßen, ein ordentliches Entwicklungsmodell haben kön- die bewegt sich auch selber dahin!) nen. Angesichts all dessen haben wir eine unglaubliche Dynamik geschaffen: sodass wirklich die zentralen Impulse auch für Paris von der G-7-Präsidentschaft ausgehen. Es gibt in China und in den Vereinigten Staaten jetzt die Bereitschaft, Verpflichtungen einzugehen. Es gibt Ich will zum Schluss sagen, dass es in Lima auch da- das EU-2030-Klima-und-Energiepaket. Das hätten wir rum geht, Vertrauen zu schaffen. Es geht darum, Ver- uns sicherlich ambitionierter gewünscht – aber immer- trauen zu schaffen, weil der Klimawandel bereits Reali- hin. Es gibt Einzelbeiträge vieler Staaten, auch von Ent- tät ist, nicht nur bei uns – ich glaube, das kann man wicklungsländern. Außerdem gibt es in Deutschland das mittlerweile sehen –, sondern vor allen Dingen in den untermauerte 40-Prozent-Ziel. Deswegen haben die SPD ärmsten Staaten der Welt. Ich will den Klima-Risiko-In- und auch ich die große Hoffnung, dass wir 2015 in Paris dex von Germanwatch erwähnen – vielleicht wird er ein Abkommen erleben werden, das die Erreichung des gleich noch ein paarmal genannt – und nur die zehn am 2-Grad-Ziels international noch möglich macht. stärksten betroffenen Länder aufführen. Das sind Hon- duras, Myanmar, Haiti, Nicaragua, die Philippinen, Ban- Das, was wir erleben, ist, dass wir Investments haben gladesch, Vietnam, die Dominikanische Republik, Gua- weg von fossilen Energien. Das, was bei Eon und bei temala und Pakistan. Diese Staaten leiden am meisten Vattenfall passiert, ist nicht singulär, sondern das pas- darunter, wie wir in der Vergangenheit wirtschaftlich ge- siert weltweit. Wir haben eine unglaubliche Dynamik bei arbeitet und Energie erzeugt haben. den erneuerbaren Energien. 2013 war bereits das Wende- (B) jahr, es war das Jahr, in dem wir bei den erneuerbaren Deswegen ist es ganz wichtig, bei ihnen Vertrauen (D) Energien einen höheren Zubau als bei den konventionel- aufzubauen, ihnen zu helfen, Entwicklungsmodelle zu len Energieträgern inklusive Atom hatten – bereits im erarbeiten, die Klimaschutz und Entwicklung vereinbar Jahr 2013! machen, ihnen zu helfen, Anpassungsmechanismen zu entwickeln, und mit ihnen auch darüber zu reden, wie (Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜND- man das Thema „Loss and Damage“ regelt. Es geht also NIS 90/DIE GRÜNEN]) darum, wie man die Schäden, die schon aufgetreten sind, Nachlesbar ist das im Übrigen im manager magazin. Ich beheben kann. Wenn wir das als Paket in Lima auf den empfehle das allen Wirtschaftspolitikern, die in den letz- Weg bringen, dann, glaube ich, wird das eine gute Kon- ten Stunden und Tagen das Klimaaktionsprogramm kriti- ferenz. siert haben. Sie müssen sich genau angucken, was ei- Ein herzliches Glückauf! gentlich weltweit passiert, und müssen überlegen, ob sie mit ihrer Wirtschaftspolitik eigentlich noch auf der Höhe (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Zeit sind. Ich glaube, bei einigen ist das nicht der bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Fall. GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ich will einen kritischen Satz zu dem sagen, was aus Als nächste Rednerin hat die Kollegin Eva Bulling- meiner Sicht zu dieser Wende nicht gehört, und das ist Schröter das Wort. das, was in der Europäischen Union zumindest droht: (Beifall bei der LINKEN) Wir werden demnächst Öl aus Teersanden – nicht nur aus Kanada, aber auch aus Kanada – in die Europäische Union bekommen. Das Ganze ist wirklich ein Frevel am Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Klimaschutz, ein Frevel am Naturschutz. Wir müssen al- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! les versuchen, damit dieser Frevel innerhalb der Euro- Alle Jahre wieder … Keine Angst, ich werde jetzt kein päischen Union nicht stattfindet. Weihnachtslied singen! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Zurufe von der CDU/CSU und vom BÜND- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE NIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Oliver Krischer GRÜNEN) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7011

Eva Bulling-Schröter (A) Nein, alle Jahre wieder, wenn wir Klimapolitikerinnen Natürlich ist es gut und sinnvoll, dass überhaupt ein (C) und Klimapolitiker zu den UN-Konferenzen fahren, be- Abkommen zustande kommt; da sind wir uns sicher ei- komme ich – Sie sicher auch – dieselbe Frage gestellt: nig. Gut ist auch, dass der Gesprächsfaden nicht abreißt; Lohnt sich denn überhaupt noch dieser weite Weg nach auch da sind wir uns einig. Allerdings sehen wir mit gro- Lima, Bali, Durban oder Cancún? Die Fakten würden ßen Bauchschmerzen, dass im Antrag der Regierungsko- doch zeigen, so heißt es, dass die Klimadiplomatie am alition zwar völkerrechtliche Bindungen im Hinblick auf Ende ist. das 2-Grad-Limit, für Lima und Paris aber lediglich na- tionale Klimaschutzziele der Staaten gefordert werden. Und in der Tat fällt es mir zunehmend schwerer, zu Das ist gut gemeint, aber zu kurz gesprungen, kann ich überzeugen; schließlich ist der globale Kohlenstoffaus- da nur sagen. stoß von 1990 bis 2013 von 22 auf 36 Milliarden Tonnen im Jahr gestiegen. Auch nehmen die Emissionen jedes (Beifall bei der LINKEN) Jahr immer schneller zu. Die Gesamtemissionen werden Noch ein Wort zu unseren nationalen Zielen. Hehre 2020 weltweit doppelt so hoch sein wie noch vor 30 Jah- Klimaschutzziele auf dem Papier zu erklären, ist die eine ren. Seite der Medaille; das wissen Sie. Die andere Seite der Medaille ist die Umsetzung. Unser Antrag, CO endlich Jetzt steht also Lima auf dem Programm. Der Welt- 2 als Umweltschadstoff zu definieren, steht heute nicht auf klimarat forderte zuletzt eine – ich zitiere – „aggressive“ der Tagesordnung. Das haben Sie, die Koalition, verhin- Klimapolitik. Die Konferenz soll einen Vertragsentwurf dert. vorbereiten, damit es in Paris im kommenden Jahr zum Nachfolgeabkommen des Kioto-Protokolls kommt. Von Meine Damen und Herren, wenn Sie die USA schon „Aggressivität“ heute aber keine Spur! loben, dann machen Sie es ihnen doch nach. Trauen Sie sich wieder Ordnungspolitik zu, setzen Sie sich durch, Die Anträge der Regierungskoalition und auch der auch gegen den Koalitionspartner, und schreiben Sie die Grünen sind stattdessen sonderbar optimistisch; so emp- Klimaschutzziele verbindlich ins Gesetz! finde ich das. (Beifall bei der LINKEN) (Frank Schwabe [SPD]: Wo ist der Antrag der Linken?) Dann haben Sie auch wieder eine frohe Botschaft für Lima und Paris. Da lobt der Grünenantrag das butterweiche Abkommen (Beifall bei der LINKEN) zwischen China und den USA. „Die internationale Agenda bestimmen inzwischen andere“, so heißt es dort. (B) Ich bin ja auch für das Prinzip Hoffnung, aber China und Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (D) die USA als gut für die Klimapolitik zu loben, das grenzt Als nächster Redner spricht der Kollege Andreas schon an Berufsoptimismus. Vielleicht brauchen wir den Jung. aber auch. Als ob eine Senkung der Emissionen der USA (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bis 2025 um 26 bis 28 Prozent, bezogen auf 2005, der neten der SPD) große Durchbruch wäre! (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Andreas Jung (CDU/CSU): GRÜNEN]: Ja, genau! Und wir machen es be- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zogen auf 1990! Deswegen: Wir sind ambitio- Wir beraten heute zu später Stunde unsere Vorbereitun- nierter!) gen der Klimakonferenz in Lima. Spätestens seit der UN-Konferenz in Cancún, bei der der Durchbruch, Zu China will ich nur so viel sagen: Ein Viertel seiner glaube ich, morgens um 5 Uhr erzielt wurde, wissen wir, Klimagase entfällt auf den Export. Dieser Anteil müsste dass eine späte Stunde wegweisenden Debatten nicht also eigentlich den Ländern angerechnet werden, die entgegenstehen muss. Wir haben allen Grund, hier die Konsumgüter aus China importieren oder ihre Produk- Leitplanken für die Klimakonferenz in Lima zu formu- tion dorthin verlagert haben. Erst 2030, also in nicht we- lieren. niger als 16 Jahren, will Peking den maximalen Ausstoß Ich will vorneweg sagen: Der Antrag der Koalitions- erreicht haben. So ganz verstehe ich nicht, woher Ihr Op- fraktionen zur Klimakonferenz unterstreicht einmal timismus kommt. mehr die aktive deutsche Rolle in diesem Prozess und Über was für ein künftiges Abkommen reden wir die Vorreiterrolle Deutschlands beim Klimaschutz, zu überhaupt? Wie es derzeit aussieht, wird im Rahmen des der wir uns bekennen. Paris-Protokolls nur ein überaus schwacher Mechanis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mus verabredet werden – schwach darum, weil der Me- neten der SPD) chanismus weder einklagbare Verpflichtungen im Hin- Eine Forderung unseres Antrags ist seit gestern er- blick auf CO2-Reduktionen vorsieht noch Sanktionen bei Verstößen gegen das Abkommen geplant sind. füllt, nämlich: Vor dieser Klimakonferenz, bevor es in Lima zur Sache geht, müssen wir in Deutschland einen (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Kabinettsbeschluss haben, mit dem klargemacht wird, GRÜNEN]: Tja, das gibt es im Völkerrecht dass wir das 40-Prozent-Ziel erreichen werden und dass halt auch selten!) wir dafür entsprechende Maßnahmen im Bereich des 7012 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Andreas Jung (A) Klimaschutzes und der Energieeffizienz vorschlagen. – Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass die (C) Das ist gestern gelungen; wir haben heute Mittag schon Bundesregierung und die Bundeskanzlerin angekündigt darüber gesprochen. Das ist in der Tat, wie Kollege haben, Klimaschutz zu einem wichtigen Thema im Rah- Frank Schwabe sagte, Rückenwind für die Verhandlun- men der G-7-Präsidentschaft zu machen. Das brauchen gen in Lima. wir, um diese Dynamik zu erreichen, um beispielsweise die USA und China in die Pflicht zu nehmen. Man kann (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zwar vorsichtig optimistisch sein ob der neuen Ankündi- Damit zu unseren Erwartungen. Was erwarten wir gungen, aber die Wahrheit ist nachher konkret, und sie von dieser Konferenz? Wir wissen: Dort wird es nicht muss dann konkret sein, wenn wirklich Klimaziele vor- den Durchbruch geben. Wir wissen: Diese Konferenz ist gelegt werden, auch von den USA und China. Wir wis- eine Zwischenstation auf dem Weg nach Paris. Wir wol- sen, dass wir sie brauchen. Deutschland und Europa wer- len, dass der Startschuss gegeben wird, damit im nächs- den eine aktive Rolle spielen und alles dafür tun, diese ten Jahr der Einlauf bei der Tour de France in Paris ge- Staaten mitzunehmen. lingt und wir dort tatsächlich den Durchbruch erzielen. Eines haben wir bereits getan: Wir haben als erster Dafür arbeiten, dafür kämpfen wir seit langem. Staat angekündigt, dass 1 Milliarde Dollar für den Green Worauf kommt es jetzt an? Es kommt darauf an, dass Climate Fund, für die Finanzierung von Klimaschutz in Lima der Entwurf eines Verhandlungstextes vorgelegt und Klimaanpassung in den Entwicklungsländern zur wird, auf den man sich einigt und der unseren Anforde- Verfügung gestellt werden. Da haben wir unsere Vorrei- rungen an dieses Klimaabkommen gerecht wird. Ich terrolle ein weiteres Mal unter Beweis gestellt. Wir alle möchte in diesem Zusammenhang auf das eingehen, was setzen darauf, dass uns die Konferenz in Lima einen Eva Bulling-Schröter sagte. Selbstverständlich halten wir wichtigen Schritt voranbringt. daran fest, dass es ein internationales, völkerrechtsver- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bindliches, umfassendes Abkommen werden muss, das alle Emittenten einbezieht und mit dem wir das 2-Grad- Ziel erreichen. Das ist immer unser Ziel gewesen, und Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: das bleibt unser Ziel. Das halten wir im Übrigen auch im Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Annalena Antrag so fest. Baerbock.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es muss den Grundriss, den Rohbau in Lima geben, NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) damit wir im nächsten Jahr in Paris das Dach draufsetzen (D) und Richtfest feiern können. Das ist die erste Anforde- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich würde rung. gern mit dem Wort „mindestens“ des Kollegen Jung be- ginnen, da Sie sich in den vergangenen Debatten immer Die zweite Anforderung ist, dass man sich auf einen wieder darüber echauffiert haben, dass wir Grünen jetzt Fahrplan für die Ziele und für die Frage einigt, wie es auch noch Kritik an den 2030-Zielen, am Klimaaktions- uns gelingt, die Lücke, die zur Erfüllung des 2-Grad-Zie- plan üben, wo doch eigentlich alles schon gut sei. les noch besteht, zu schließen. Dabei kommt Lima eine wichtige Rolle zu. Es muss Transparenz hinsichtlich un- Mit Blick auf das Wort „mindestens“ muss man auch terschiedlicher Klimaziele geschaffen werden; sie müs- an das Thema dieser Debatte denken: Doha-Änderung sen vergleichbar gemacht werden. Es muss klare Regeln des Protokolls von Kioto. Es war gut, dass Deutschland geben, und es muss klar vereinbart werden, wann die als einer der letzten Staaten, dass die EU mit an Bord Ziele auf den Tisch gelegt werden müssen. geblieben ist. Aber man muss bei dieser Änderung des Kioto-Protokolls auch berücksichtigen, dass da eigent- Wir wollen, dass im Frühjahr nächsten Jahres die na- lich drinstand, dass man bei der Änderung des Kioto- tionalen Ziele formuliert und eingebracht werden. Da- Protokolls nachlegen werde – dazu hat sich die Europäi- von erhoffen wir uns die Dynamik, die auch im Be- sche Union verpflichtet –, wenn die Ambitionen erreicht schluss des Europäischen Rates deutlich wird, in dem es würden. Die Europäische Union hat die Ziele erreicht; heißt: mindestens 40 Prozent Reduktion in der EU bis wir sind heute schon bei 19 Prozent. Das heißt also, ei- 2030. „Mindestens“ – das ist ein kleines Wort, aber es gentlich hätte die Europäische Union nachlegen müssen. wird und muss große Bedeutung haben. Sie hat es aber nicht getan. Wir bleiben bei 20 Prozent. Deshalb stellt uns auch das Wort „mindestens“ in den (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 2030-Zielen nicht zufrieden, weil es deutlich zeigt: Wir alle wissen: Es war gar nicht einfach, diesen Be- Wenn man von Anfang an keine ambitionierten Ziele schluss zu erreichen, weil es in Europa Bremser gibt, die formuliert, dann wird es mit der Nachbesserung äußerst auch diesen Beschluss schon nicht mittragen wollten. schwer werden. Die Bundesregierung hat dafür gekämpft, dass dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beschluss so gefasst werden konnte. Das war ein guter Schritt. Gleichzeitig ist aber auch richtig, dass die Bun- Zum Klimavertrag: Es ist absolut richtig – und Eva, deskanzlerin und die Bundesregierung gesagt haben: ich verstehe dich an dieser Stelle überhaupt nicht –, dass Wir waren schon jetzt bereit, mehr zu machen, und wir wir gemeinsam daran arbeiten, wieder einen völker- werden, wollen und müssen in Zukunft mehr machen. rechtlichen Vertrag auf die Beine zu stellen, und dass wir Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7013

Annalena Baerbock (A) für das 2-Grad-Ziel kämpfen. Bisher ist es nur politisch chen. Denn wie soll man denn andere Länder dazu brin- (C) formuliert, auch von der Bundesregierung, und jetzt soll gen, ihre Ölreserven unter der Erde zu lassen, wenn ihr es in einen internationalen Vertrag gegossen werden. noch nicht einmal sagen könnt: Das wäre wirklich ein großer Erfolg. (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wer ist eigent- Ja, es gibt dann nur nationale Minderungspläne, mit lich „ihr“?) denen das umgesetzt werden soll. Aber wir haben aus der Vergangenheit auch gelernt, dass ein Bottom-up-An- „Ja, die Kohle soll auch bei uns in Zukunft unter der satz eine gute Ergänzung zum Top-down-Ansatz ist; Erde bleiben“? denn manchmal zählt auch das, was wir gemeinsam aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Rio-Prozess gelernt haben: global denken, lokal sowie bei Abgeordneten der LINKEN) handeln. Tausend kleine Menschen an tausend verschie- denen Orten der Welt können das Gesicht der Welt ver- Das gilt auch für das Beispiel Polen, das Minister ändern – wenn wir dafür den Rahmen setzen. Deswegen Gabriel hier gestern wieder als Argument angebracht halten wir diesen neuen Ansatz für wirklich gut. hat. Wie soll man denn die Polen überzeugen, nicht wei- ter auf Kohleverstromung zu setzen, wenn dann – Kol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lege Schulze weiß es ganz genau – direkt vor ihrer eige- und bei der SPD) nen Haustür an der Oder neue Tagebaue erschlossen Wichtig ist aber, und da kommen wir dann wieder zu werden sollen und die Bundesregierung dafür auch noch der Rolle der Industriestaaten; die dürfen sich da nicht ihr Okay gibt? Ihr habt das heute mit der Ablehnung un- rausmogeln, dass wir dann zusätzlich festschreiben, zu- seres Antrags zu einem Ende neuer Tagebaue leider auch sätzlich zu den 2 Grad, dass das, was im IPCC-Bericht noch einmal bekräftigt. In diesem Sinne können wir nur steht und was ihr als Koalition ja auch in eurem eigenen sagen: Bitte nehmt den IPCC-Bericht ernst, auch in Zu- Antrag, zumindest im Prosateil, sehr deutlich hervor- kunft, auch nach Lima, als G-7-Präsidentschaft. Bitte hebt, nämlich dass zwei Drittel der fossilen Energieträ- nehmt ihn ernst in eurem Aktionsprogramm „Klima- ger unter der Erde bleiben müssen, wenn wir das schutz 2020“; denn nur wer den Kohleausstieg einleitet, 2-Grad-Ziel erreichen wollen, in konkrete Forderungen vollzieht auch wirklich die ganze Energiewende und und Maßnahmen umgesetzt wird. Und das tut euer An- trägt dazu bei, dass die Erderwärmung global um nicht trag dann leider nicht mehr. Das ist der entscheidende mehr als 2 Grad ansteigt. Punkt. In diesem Zusammenhang ist die entscheidende Herzlichen Dank. Frage: Was wird Deutschland dafür tun? Da haben wir auch angesichts des Aktionsprogramms „Klimaschutz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) 2020“ doch ein bisschen Sorge, dass die Bundesregie- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (D) rung der Mut verlässt. Schon nach dem Einführungstext eures Antrags, mit dem ich ganz d’accord bin, verlässt Vizepräsidentin Ulla Schmidt: euch der Mut, sodass ihr bei den Forderungen nur noch Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Anja schreiben könnt, dass ihr postfossile Wirtschaftsweisen Weisgerber, CDU/CSU-Fraktion. im Klub der Vorreiter vorantreiben wollt, insbesondere mit Blick auf die Entwicklungsländer. Was ihr als deut- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sche Bundesregierung tun wollt, das sagt ihr aber mit Frank Schwabe [SPD] – Ingo Gädechens keinem Wort. [CDU/CSU]: So, jetzt wollen wir was zum Thema hören!) (Frank Schwabe [SPD]: Zitier doch mal euren Antrag!) Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Ihr sagt nicht, dass die KfW auch bei der IPEX-Bank Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht mehr in Kohleprojekte investieren soll. Ihr sagt Die Vorweihnachtszeit ist ja eigentlich die stade Zeit, nicht, dass bei uns in Deutschland die fossilen Energie- wie man bei uns in Bayern sagt. Aber klimapolitisch ist träger unter der Erde bleiben müssen. es im Moment überhaupt nicht still. Derzeit läuft die 20. internationale UN-Klimakonferenz in Lima. Wir ha- (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Seit 48 Stunden ben gute Vorarbeit für diese Konferenz geleistet. Ende reden wir jetzt permanent darüber!) Oktober 2014 haben sich die EU-Staaten wieder auf ver- Ihr sagt auch nicht, dass die G 7 nicht nur über Klimafi- bindliche Klimaziele geeinigt. Die Bundesregierung nanzierung reden müssen, sondern sie sich vor allen hat gestern ein Aktionsprogramm „Klimaschutz 2020“ Dingen auch endlich dazu bekennen müssen, dass die In- vorgelegt, und sie hat es auch mit konkreten Maßnah- dustriestaaten die Subventionen für fossile Energieträger men unterlegt. Vor diesem Hintergrund möchte ich an abbauen. dieser Stelle erst einmal sagen: Wir können selbstbe- wusst nach Lima fahren. (Dr. Matthias Miersch [SPD]: Ihr wollt einfach nicht hinhören!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Das wäre der Beitrag Deutschlands und der Industrie- staaten zu einem internationalen Vertrag. Deswegen Mit dem Aktionsprogramm zeigen wir auch, dass Kli- müssen wir bei euch immer wieder den Finger in die maschutz und Wohlstand keine Gegensätze sind, son- Wunde legen, damit ihr euch traut, das auch auszuspre- dern in Einklang zu bringen sind oder – wie es die Grü- 7014 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Anja Weisgerber (A) nen in ihrem Antrag formulieren – sich sogar gegenseitig (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (C) unterstützen können. Wir leben das in Deutschland vor. Am Ende meiner Rede möchte ich noch einmal auf Jetzt müssen – das soll die Hauptbotschaft meiner Rede die europäische Ebene zurückkommen. Für mich ist sein – andere Länder der Welt endlich genauso handeln nach wie vor der Emissionshandel das Herzstück der eu- und mitziehen. Wir müssen andere Staaten, und zwar die ropäischen Klimapolitik. Wenn wir den Emissionshandel Industriestaaten und die Schwellenländer, dazu bewe- als marktwirtschaftliches Instrument reformieren und gen, ihre eigenen konkreten Klimaziele bis zum Frühjahr stärken, dann müssen wir auch nicht auf nationales Ord- 2015 vorzulegen. nungsrecht setzen, wie Sie es immer wollen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Zu den Entwicklungs- und Schwellenländern. Es ist GRÜNEN]: Dann stärken Sie mal!) ganz wichtig, dass sie ihre Wirtschaft von Anfang an kli- – Ja, wir bringen uns auf europäischer Ebene dafür ein, mafreundlich und effizient aufbauen. Dafür brauchen sie dass diese Reform kommt. finanzielle Mittel. Deswegen ist es ein gutes Signal, dass Deutschland als erstes Land 1 Milliarde US-Dollar be- Ich bin froh darüber, dass die Bundesregierung auch reitgestellt hat und damit knapp 10 Prozent des Betrages auf europäischer Ebene ganz klar Kurs hält. Auch in die- stellt, der bislang eingegangen ist; bislang sind es sem Antrag haben wir die Position der Bundesregierung 9,3 Milliarden US-Dollar. ganz klar gestärkt und ihr damit den Rücken gestärkt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vielen Dank. Das Geld fließt in wichtige Investitionen in diesen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Schwellenländern, zum Beispiel zielgerichtet in gute Projekte für erneuerbare Energien. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Zu den Industrieländern. Es ist ein gutes Signal, dass die laufende Präsidentschaft von Angela Merkel genutzt Wir kommen jetzt zu drei Abstimmungen. wird und der Klimaschutz zum Schwerpunktthema er- Tagesordnungspunkt 17 a. Interfraktionell wird die klärt wird. Diese Ankündigung wird jetzt auch mit Le- Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3123 ben erfüllt. Das kann für den Erfolg in Paris entschei- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse dend sein. vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – (Beifall bei der CDU/CSU) Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung (B) so beschlossen. (D) Wenn wir mit dem internationalen Klimaschutz vo- rankommen wollen, dann brauchen wir auch die anderen Tagesordnungspunkt 17 b. Wir kommen zur Abstim- großen Industrienationen dieser Welt. China und die mung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU USA müssen sich endlich zu verbindlichen Klimazielen und SPD auf Drucksache 18/3406 mit dem Titel „Klima- durchringen. Sie begrüßen in Ihrem Antrag die positiven konferenz in Lima zum Erfolg führen“. Wer stimmt für Signale aus diesen Ländern diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die GRÜNEN]: Sie begrüßen sie auch!) Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- – ja, wir haben sie auch begrüßt –, Sie nennen aber im nen angenommen. gleichen Atemzug die angeblich zu wenig ambitionier- Tagesordnungspunkt 17 c. Abstimmung über den An- ten Klimaziele der Europäischen Union und Deutsch- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- lands. Das wiederum kann ich nicht nachvollziehen. Das che 18/3411 mit dem geänderten Titel „Klimakonferenz muss ich an dieser Stelle auch ganz klar sagen. von Lima als Wegbereiter für ein neues globales Klima- abkommen und eine nachhaltige globale Entwicklung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nutzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt der SPD) dagegen? – Wichtig für den Erfolg in Lima ist, dass wir die ande- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE ren Staaten zwingen, sich diese ambitionierten Ziele zu GRÜNEN]: Oh! Anerkennungskultur!) setzen, aber auch eine Überprüfbarkeit einführen. In dem internationalen Abkommen muss ein Überprüfungsme- Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der chanismus verankert werden. Zum einen muss damit Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition überprüft werden, ob die Minderungszusagen zum Errei- abgelehnt. chen des 2-Grad-Ziels ausreichen. Zum anderen müssen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: die Länder gegebenenfalls aufgefordert werden, nachzu- bessern, wenn dieses Ziel nicht erreicht wird. Ich halte es Erste Beratung des von den Abgeordneten für eines der wichtigsten Ziele, diesen Überprüfungsme- Harald Petzold (Havelland), Jan Korte, Sabine chanismus zu verankern. Verbindlichkeit, Überprüfbar- Zimmermann (Zwickau), weiteren Abgeordne- keit sowie Transparenz müssen rein in dieses internatio- ten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten nale Abkommen. Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7015

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Schutzes gegen Diskriminierungen aufgrund Wir sind gemeinsam der Überzeugung, dass das Mit- (C) des Gesundheitszustandes telmeer von strategischer Bedeutung für uns ist. Wir ha- ben deshalb ein großes Interesse an einem lückenlosen Drucksache 18/3315 Lagebild. Denn damit können potenzielle Risiken und Überweisungsvorschlag: Bedrohungen frühzeitig erkannt werden und mit allen Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales uns zur Verfügung stehenden Maßnahmen zur Präven- Verteidigungsausschuss tion – und zwar primär mit politischen Maßnahmen – ab- Ausschuss für Gesundheit gewendet werden. Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) – Angesichts der beschriebenen Entwicklung wollen Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. wir den Einsatz zukünftig auf eine neue Grundlage stel- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- len. Dafür haben wir in den vergangenen Monaten viel- wurfs auf Drucksache 18/3315 an die in der Tagesord- fältige Anstrengungen unternommen, die ich Ihnen kurz nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es nennen möchte. dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht Die Bundesregierung hat sich insbesondere gegen- der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. über den USA und Frankreich mit Nachdruck für eine Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Entkoppelung der Operation von Artikel 5 des Nordat- lantikvertrages eingesetzt. Bundesminister Steinmeier Beratung des Antrags der Bundesregierung und Bundesministerin von der Leyen haben im Februar, Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter wie sie es bereits vorher in der Debatte angekündigt hat- deutscher Streitkräfte an der NATO-geführ- ten, in einem gemeinsamen Schreiben an den NATO-Ge- ten Operation ACTIVE ENDEAVOUR im neralsekretär auf die Diskrepanz zwischen Einsatzgrund- Mittelmeer lagen und Einsatzrealität hingewiesen. Drucksache 18/3247 Im Juni 2014 haben die NATO-Außenminister Maß- Überweisungsvorschlag: nahmen zur Operationalisierung der Maritimen Strategie Auswärtiger Ausschuss (f) der Allianz beschlossen. Darunter fällt auch eine Emp- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz fehlung zur Weiterentwicklung der OAE auf neuer Ein- Verteidigungsausschuss satzgrundlage. Im August dieses Jahres konnte in bilate- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ralen Konsultationen mit den USA der Kompromiss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ausgehandelt werden, dass die USA einer Entkoppelung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO der Operation Active Endeavour von Artikel 5 erstmals (B) zustimmen. (D) Nach einer internationalen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Wir haben dann erreicht – das war im September –, Widerspruch. Dann ist so beschlossen. dass im Kommuniqué des NATO-Gipfels in Wales erst- Das Wort für die Bundesregierung hat Staatsministe- mals auf eine Erwähnung von Artikel 5 im Zusammen- rin Dr. Maria Böhmer. hang mit der OAE verzichtet wurde. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Derzeit stehen wir in Brüssel in trilateralen Verhand- neten der SPD) lungen mit den Vereinigten Staaten und Frankreich. Wir hoffen, schon bald die Zustimmung von Frankreich zur Entkoppelung zu erhalten. Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin im Auswärtigen Amt: (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ursprünglich ist der Einsatz im Rahmen der Bei all unseren Bemühungen – Sie sehen, die An- Operation Active Endeavour eine Folge der Terroran- strengungen waren intensiv, und sie haben sich über die schläge vom 11. September 2001 sowie der Ausrufung Monate hingezogen – ist zu berücksichtigen, dass die des Bündnisfalls nach Artikel 5 des Nordatlantikvertra- Anpassung des Operationsplans nur im Konsens aller ges gewesen. Die Bundesregierung schlägt heute eine 28 NATO-Staaten möglich ist. Fortsetzung der deutschen Beteiligung unter unveränder- Ich hätte Ihnen heute gern etwas anderes gesagt, aber ten Bedingungen vor. Dabei beträgt die Laufzeit des ich muss feststellen, die Entkoppelung kann bis Ende Mandats zwölf Monate; es endet spätestens am 31. De- dieses Jahres nicht mehr umgesetzt werden. Das ist der zember 2015. Hintergrund, weshalb die deutsche Beteiligung an OAE Lassen Sie mich hierzu festhalten: Die Operation Ac- nur auf Grundlage einer weiteren Mandatsverlängerung tive Endeavour hat sich von einer aktiven Operation zur möglich ist. Terrorbekämpfung zu einem Aufklärungseinsatz entwi- Die Entkoppelung von Artikel 5 könnte im Laufe des ckelt. Das zeigt, dass sich die Einsatzrealität verändert Jahres 2015 erreicht werden. Wir setzen alles daran, dies hat. Es besteht ein breiter Konsens, dass der Einsatz in zu erreichen. Je früher, desto besser. Wenn dieser Fall seiner heutigen Form hilfreich und zeitgemäß ist. eintritt, wird das jetzt beantragte Mandat automatisch seine Gültigkeit verlieren. In diesem Fall würden wir 1) Anlage 4 prüfen, in welcher rechtlichen Form eine Fortsetzung der 7016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Staatsministerin Dr. Maria Böhmer (A) deutschen Beteiligung an der Operation Active Endea- Das zweite Argument lautet, die wachsenden terroris- (C) vour in Zukunft erfolgen kann. tischen Aktivitäten im Osten und im südlichen Mittel- meer würden manche unserer Bündnispartner doch ver- Dieser Einsatz – das will ich festhalten – ist ein gutes unsichern. Dazu frage ich mich: Sind die Islamisten in Beispiel dafür, wie wir unsere internationale Verantwor- Libyen und in Syrien nicht doch unsere westlichen tung wahrnehmen und dabei präventive Elemente in den Bündnispartner im Kampf gegen die dortigen Regierun- Vordergrund stellen. gen gewesen bzw. im Falle Syriens immer noch unsere Ich darf noch einmal hervorheben: Wir brauchen den Bündnispartner? Die Antwort ist einfach: Ja. Die isla- Aufklärungseinsatz durch OAE, um mögliche Bedro- mistischen Kreaturen werden gegen unliebsame Regie- hungen frühzeitig zu erkennen und ihnen mit allen politi- rungen im Nahen Osten eingesetzt, gehegt und gepflegt. schen Mitteln begegnen zu können. Deshalb bitte ich Sie Wenn diese islamistischen Freunde dann auch mal wie- im Namen der Bundesregierung um Ihre Zustimmung. der außer Kontrolle geraten, was sie regelmäßig tun, muss man sie auch bekämpfen. Das zeigt, welchen Irr- Ich danke Ihnen. sinn die westliche Sicherheitspolitik darstellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Aber kommen wir zurück zur Legende der Selbstver- teidigung. Die Bundesregierung und ihre westliche Wer- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: tegemeinschaft sollen von der Heuchelei einer Selbstver- teidigungsformel endlich Abstand nehmen und sagen, Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Nächster Red- worum es wirklich geht. Es geht um „Mare Nostrum“, ner ist Dr. Alexander Neu, Fraktion Die Linke. übersetzt „unser Meer“, und zwar im imperialen Sinne (Beifall bei der LINKEN) des antiken Roms. Caesar hat den Begriff „Mare Nostrum“ zum ersten Mal verwendet. Der Westen be- trachtet das Mittelmeer als sein Meer und nicht als Meer Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): der Anrainerstaaten. In Ihrem Orwell’schen Neusprech Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! hört sich das etwa so an: dass die westliche Marine einen Seit über zehn Jahren hören wir: Operation Active Ende- präventiven Ordnungsfaktor darstellt. avour ist eine Selbstverteidigungsmaßnahme. Die Be- hauptung ist rechtlich absurd, und sie wird von Jahr zu Eine weitere Kuriosität ist die Begründung für Opera- Jahr absurder – sowohl bezüglich der räumlichen als tion Active Endeavour mit Blick auf die Sicherheitslage. auch der zeitlichen Dimension. Es wird hier von abstrakten Bedrohungen gesprochen. Das heißt, die Fantasie reicht aus, um einen Einsatz des (Beifall bei der LINKEN – [CDU/ Militärs zu legitimieren. – Welch ein Verdummungsver- (B) (D) CSU]: Eine absurde Behauptung!) such gegenüber der Öffentlichkeit, meine Damen und Zur räumlichen Dimension. Der Anschlag am Herren! 11. September 2001 war bekanntlich in New York und Der Antrag der Bundesregierung im letzten Jahr war nicht im Mittelmeer. Dafür reichen auch geringe geogra- noch ein bisschen ehrlicher; Sie sind kurz darauf einge- fische Kenntnisse aus, meine Damen und Herren, um das gangen, Frau Staatssekretärin. festzustellen. ( [SPD]: Staatsministerin!) (Zuruf von der CDU/CSU) Sie haben gesagt: Es gibt auch strategische Erwägungen. Zur zeitlichen Dimension. Der Anschlag war 2001, Auch im letzten Jahr wurde vom Selbstverteidigungs- nicht 2014. Dafür reichen auch die Grundrechenarten. recht fabuliert, aber zumindest war der imperiale Cha- rakter im Antrag enthalten. Ich zitiere: Dass dem so ist, schwant auch der Bundesregierung. Daher versucht sie eben, eine Entkopplung der OAE von Das Mittelmeer gehört zu den wichtigsten interkon- Artikel 5 des Nordatlantikvertrages hinzubekommen. tinentalen Transportkorridoren weltweit und ist für Ich kann jedoch nicht ganz nachvollziehen, warum man den innereuropäischen und transatlantischen Han- sich – so der Antrag – wieder so verhalten hat, wie man del von geostrategisch vitaler Bedeutung. es in der Vergangenheit getan hat. Man hat in Wales mit Blick auf Operation Active Endeavour gesagt: Okay, wir Dafür werden also Steuergelder verbraten. Den Soldatin- werden Artikel 5 da jetzt nicht erwähnen. Man feiert das nen und Soldaten wird etwas von Verantwortung in der in dem Antrag ab. – Zugleich nennt man doch wieder Welt erzählt. Artikel 5. Zum Thema Verantwortung in der Welt. Was ist ei- gentlich mit der Rettung von Flüchtlingen im Mittel- Man hätte auch hier vorangehen und sagen können: meer? Wir verschweigen einfach Artikel 5. Wir werden ihn in dem Antrag gar nicht erwähnen. – Aber nein, das wurde (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht gemacht, sondern man macht genau das, was man NEN]: „Mare Nostrum“!) in den letzten Jahren gemacht hat: Man verweist auf das Selbstverteidigungsrecht. Italien hat in einem Jahr mehr als 150 000 Menschen ge- rettet. Italien hat sein Mare-Nostrum-Programm – dies (Henning Otte [CDU/CSU]: Das ist eine Argu- war ein humanitäres Programm und kein imperiales – mentation wie saure Milch!) zur Rettung von Flüchtlingen eingestellt, weil es mit die- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7017

Dr. Alexander S. Neu (A) sem Projekt von den EU-Partnern alleingelassen wurde. und sich nicht ernsthaft in eine Debatte einbringen wol- (C) Warum gibt es keine finanzielle und operative Unterstüt- len, lieber Kollege Neu. zung durch Deutschland? Haben die Flüchtlinge keinen wirtschaftlichen Wert, weswegen man sie nicht zu retten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie braucht? bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Michael Brand [CDU/CSU]: Zyniker!) Ich will zu Beginn meiner Rede wiederholen, was ich – Nein, Zyniker bin ich nicht. Das sind Sie. in der letzten Sitzungswoche, als wir am Donnerstag ge- (Henning Otte [CDU/CSU]: Warum das denn? gen 23 Uhr über den Sudan geredet haben, gesagt habe: Das ist doch nicht der Auftrag!) Es ist nicht angemessen, dass wir im Deutschen Bundes- tag zu so später Stunde über Auslandseinsätze diskutie- Wie viele Menschen wurden im Rahmen der Opera- ren. Wir als Parlament sind in der Verantwortung für die tion Active Endeavor gerettet? Wie viele Menschen wur- Bundeswehr. Wir sind diejenigen, die immer wieder eine den im Mittelmeer von der deutschen Marine gerettet? sicherheitspolitische Diskussionskultur in Deutschland Oder muss die Besatzung deutscher Schiffe den hilfesu- einfordern. Wir ermahnen die Bevölkerung und die Zi- chenden Menschen sagen: Oh, sorry, tut uns leid. Wir vilgesellschaft, sich intensiver mit diesen Themen ausei- dürfen euch nicht retten, liebe Leute, denn wir müssen nanderzusetzen. Egal ob wir über Afghanistan, über den eine „abstrakte Bedrohung“ jagen. Kosovo oder über die Operation Active Endeavour dis- kutieren: Diese Diskussionen gehören in eine andere Ta- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: geszeit. Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten, Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. die wir in Auslandseinsätze schicken, schuldig. (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist eine gute (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nachricht! – Beifall des Abg. Wilfried Lorenz des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [CDU/CSU]) Wir beraten heute in erster Lesung über die Fortset- Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): zung der Operation Active Endeavour. Die letzte Dis- kussion Anfang des Jahres hat gezeigt, dass wir uns alle Ich komme zum Schluss. – Aus all den genannten bewusst sind, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen Gründen, sehr geehrte Damen und Herren, lehnt die Einsatzrealität und dem, was im Mandatstext steht. Wir Linke diesen lächerlichen Dauereinsatz ab. als Parlament fordern ein, dass es vonseiten der NATO Danke. zu Änderungen bzw. zu einer Weiterentwicklung des (B) Einsatzes kommt. Wir haben die Regierung in der letzten (D) (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand Diskussion darauf hingewiesen. Wir wissen aber auch, [CDU/CSU]: Die Rede war lächerlich!) dass Veränderungen innerhalb der NATO nur dann gelin- gen, wenn zwischen allen 28 Staaten Konsens besteht. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Ich will betonen: Wir sind auf einem guten Weg. Vor al- Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort Lars lem Minister Steinmeier und Ministerin von der Leyen Klingbeil. haben innerhalb eines Jahres deutliche Fortschritte er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zielt. Über Artikel 5 Nordatlantikvertrag wird diskutiert. der CDU/CSU) Durch die Debatte wurden Veränderungen eingeleitet. Das ist ein Erfolg, und das sollten wir hier im Parlament nicht kleinreden. Lars Klingbeil (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lieber Kollege Neu, ich bin froh, dass Sie in unserem der CDU/CSU) Land keine Verantwortung tragen. Das vorliegende Mandat bleibt ein Übergangsmandat. (Beifall der Abg. [CDU/ Es geht darum, im Mittelmeer Lagebilder zu erstellen CSU]) und faktisch eine Seeraumüberwachung durchzuführen. Es würde keine vier Wochen dauern, und wir hätten Der Beginn des Einsatzes vor 13 Jahren wurde mit 9/11 überhaupt keinen internationalen Bündnispartner mehr, und der Abwehr des Terrorismus im Mittelmeerraum be- wenn das, was Sie hier vortragen, Realität würde. gründet. Aber wir alle wissen, dass das heute nicht mehr die Realität ist und dass es heute um ganz andere Ein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sätze geht. Es geht um die Erstellung eines Lagebildes. CDU/CSU – Michael Brand [CDU/CSU]: Mit denen wollen Sie morgen in Thüringen regie- (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Gut, dass wir ren?) schon da sind!) Ich stelle fest: Nicht jede Bewegung von deutschen Es geht auch darum, mit der Operation Active Endea- Soldaten ist ein kapitalistischer, imperialistischer An- vour eine Plattform zu schaffen, wo Kommunikation griffskrieg. Sie müssen sich langsam überlegen, ob Sie und Kooperation innerhalb des Bündnisses mit den be- hier im Parlament ernsthaft über Sicherheitspolitik mit- troffenen Mittelmeeranrainerstaaten stattfindet. Es geht diskutieren oder ob Sie weiter am Rand stehen bleiben darum, Abstimmungen im Bündnis vorzunehmen, und 7018 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Lars Klingbeil (A) es geht darum, einen Mehrwert, nämlich Sicherheit im lichen Grundlage, von der Sie selbst sagen, dass sie nicht (C) Mittelmeerraum, zu haben. mehr trägt. Der Minister sagte selbst – ich zitiere –: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der Bündnisfall kann heute, mehr als zwölf Jahre nach 9/11, nicht mehr dauerhaft tragfähige Rechts- All das sind Erfolge der Vergangenheit, die sich nicht grundlage sein … kleinreden lassen. Meine Fraktion hat trotzdem – darauf will ich noch einmal eingehen – immer wieder darauf Damit hat er einfach völlig recht. gedrungen, dass es bei der Operation Active Endeavour Er hat auch noch gesagt, dass diese Mission der Ein- zu Veränderungen im Mandat kommt. Wir haben gesagt: satzrealität nicht mehr gerecht wird. Das ist alles richtig. Artikel 5 des Nordatlantikvertrages kann keine Grund- Ich kann nur hoffen, dass die Schiffe für den Einsatz so- lage, kann keine Legitimation für dieses Mandat mehr lider sind als dieses Mandat, sonst hätte ich wirklich sein, weil es nicht mehr um Terrorabwehr geht. Es geht Angst um die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten. um Überwachung; es geht um Lagebilder. Es scheint so zu sein, dass die vielen klugen Gedanken, Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung vor die der Herr Minister hier formuliert hat, keinerlei Kon- einem Jahr hier zugesagt hat, dieses Mandat zu verän- sequenzen gehabt haben. dern, und sie sich innerhalb der NATO aufgemacht hat, Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialde- um dieses Mandat zu ändern. Wir haben gesehen, dass mokraten, Sie haben jahrelang mit uns gegen dieses dieser Wunsch in den unterschiedlichen Gremien ent- Mandat gestimmt. Jetzt werden Sie beruhigt mit den Be- schieden kommuniziert wurde. Mit relevanten Partnern mühungen, die die Frau Staatsministerin beschrieben wie den USA, der Türkei und Frankreich wurde geredet. hat. Ich bin sehr glücklich darüber, dass es diese Bemü- Die Staatsministerin hat darauf hingewiesen, dass es ein hungen gibt – es ist nicht so, dass wir sie falsch finden –, großer Erfolg ist, dass die Amerikaner den Artikel 5 bei nur, Bemühungen schaffen keine Rechtsgrundlage. diesem Mandat erstmals grundsätzlich infrage stellen. Und im Schlusskommuniqué des Gipfels von Wales (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wurde OAE erstmalig ohne Bezug auf Artikel 5 genannt. Das sind große Erfolge. Ich will den beiden Ministern Sie tun so, als gebe es einen Automatismus, den es ein- ausdrücklich dafür danken. Ich will aber auch klarma- fach nicht gibt. chen: Der Weg ist noch nicht zu Ende. Wir haben noch Kollege Klingbeil, wenn es so ist, dass Artikel 5 des einen längeren Weg zu gehen. Wir müssen innerhalb der Nordatlantikvertrages nur gemeinsam aus dem Mandat 28 NATO-Staaten einen Konsens erreichen. Es muss da- herausgenommen werden kann, was ich teile, dann ist es rum gehen, Artikel 5 aus diesem Mandat herauszube- gut und schön, dass die Bundesregierung sich darum be- (B) kommen. müht, dass dies endlich passiert; aber das ist keine Be- (D) Ich wünsche den Ministern viel Kraft bei der weiteren gründung für ein Mandat. Diskussion, und ich wünsche uns gutes Gelingen bei der (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Aber Sie be- Debatte hier im Parlament. Ich sage aber auch: Wir wer- mühen sich ja auch nur!) den diesem Mandat am Ende zustimmen, weil wir auf dem richten Weg sind. Es gibt keinerlei Grund, sich an einem Einsatz zu beteili- gen, wenn man der Meinung ist, dass Artikel 5 nicht Vielen Dank. mehr greift. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Zu fragen ist selbstverständlich auch, ob es der NATO hilft, wenn der Bündnisfall dauerhaft verlängert wird, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: oder ob dies nicht eine Unterminierung der Bündnissoli- Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt darität wäre. Wir sind der Meinung, dass es nicht glaub- Omid Nouripour das Wort. würdig ist, einfach immer weiterzumachen wie bisher. Die Beistandsverpflichtung – das ist der Kern der Allianz – wird unterminiert. Das ist gerade in diesen Zei- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten keine gute Nachricht. Vor allem muss man aber se- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- hen, dass es nicht einfach ist, den Soldatinnen und Sol- raten heute die 13. Verlängerung der Operation Active daten zu erklären, dass sie in einen Einsatz gehen, zu Endeavour. Das ist etwas, was nach den Worten des dem Mitglieder der Bundesregierung bereits erklärt ha- Herrn Außenministers nicht hätte passieren sollen. Ei- ben, dass es dafür eigentlich keine Rechtsgrundlage gibt. gentlich, wenn man genau hinschaut, passiert das auch nicht, eigentlich ist das Versprechen eingehalten worden; (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Die Soldaten denn das, was vorliegt, ist nicht wirklich ein Mandat. wissen, was sie tun!) Das ist ein klinischer Fall fortgeschrittener politischer Das ist auch der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln. Schizophrenie: Richtig ist – diese Einschätzung teile ich –, dass es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – positive Nebeneffekte geben kann, dass es der Vertrau- Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Na, na, na!) ensbildung im Mittelmeer bedarf und dass Sie ein um- Sie beantragen die Teilnahme an einer Mission zur fassendes Lagebild brauchen. Das haben Sie, Frau Terrorismusbekämpfung, stellen aber niemanden dafür Staatsministerin, vorhin alles gesagt. Aber dann beantra- bereit. Sie beantragen die Mission auf einer völkerrecht- gen Sie doch ein Mandat für einen entsprechenden Ein- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7019

Omid Nouripour (A) satz. Dann bringen Sie mit dieser Begründung hier einen Februar des Jahres 2014 haben unsere Bundesministerin (C) Mandatsantrag ein, und begründen Sie Ihren Antrag der Verteidigung und unser Außenminister ein gemein- nicht damit, dass es um Terrorbekämpfung geht; denn sames Schreiben an den NATO-Generalsekretär gerich- darum geht es nicht. Bringen Sie vor allem nicht ein tet, in dem sie auf die Diskrepanz zwischen der Einsatz- Mandat ein, bei dem es noch immer um 9/11 geht. Die grundlage und der Einsatzrealität hingewiesen haben. Im Situation im südlichen und im östlichen Mittelmeer ist Juni dieses Jahres haben die NATO-Außenminister im heute bei aller Fragilität eine andere. Wir leben in einem Rahmen ihrer maritimen Strategie der Allianz eine Wei- anderen Sicherheitszeitalter, und man kann nicht einfach terentwicklung von OAE auf einer neuen Einsatzgrund- sagen, dass wir hier wegen 9/11 aktiv sind. lage beschlossen, und im August dieses Jahres haben sich die USA in bilateralen Konsultationen grundsätzlich Das, was hier vorliegt, ist falsch und aus unserer Sicht für eine Weiterentwicklung von OAE unabhängig von definitiv nicht zustimmungsfähig. Im Gegenteil: Das, Artikel 5 des Washingtoner Vertrages bereit erklärt. Im was die Bundesregierung hier tut, ist viel gravierender, September dieses Jahres wurde auf dem Gipfel in Wales sie betreibt nämlich Schabernack mit den Grundsätzen ein Kommuniqué verabschiedet, das bei der Nennung der NATO. Beenden Sie endlich den permanenten von OAE zum ersten Mal auf Artikel 5 verzichtet. Kriegszustand und diese Mission! Gerade als Bundesre- publik Deutschland, als großes Land, können Sie ein kla- Wie Sie also sehen, sind wir auf einem guten, auf dem res Zeichen dafür setzen, dass sie es ernst damit meinen, richtigen Weg, und die Bundesregierung wird sich auch dass Artikel 5 des Washingtoner Vertrages nun endlich weiterhin dafür einsetzen, dass OAE von Artikel 5 ent- aufzuheben ist. koppelt wird. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Dies erfordert allerdings intensive diplomatische Be- mühungen, weil die Zustimmung aller 28 NATO-Mit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gliedstaaten dazu notwendig ist, wie Sie alle wissen. Nun den Abzug zu fordern, ist der falsche Weg, und ich Vizepräsidentin Ulla Schmidt: denke, die Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Vielen Dank. die das tun, sind hier auf dem falschen Dampfer. Bevor ich gleich der Kollegin Julia Bartz das Wort Schauen wir uns doch die aktuelle geopolitische Lage gebe, möchte ich hier die Soldatinnen und Soldaten des an: In der jetzigen Situation, bei dem aggressiven Vorge- 2. Feldjägerregiments 3 aus Sigmaringen begrüßen. hen Russlands in der Ukraine, ist es ganz wichtig, dass Schön, dass Sie heute Abend hier sind. wir mit der Verlängerung dieses Mandats das Zeichen an (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem unsere östlichen Partnerländer senden können, dass Arti- (B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kel 5 gilt. (D) Wir bedanken uns für Ihren Einsatz und auch für die (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gute Arbeit, die Sie leisten, wovon sich viele von uns vor NEN]: Dann bringen Sie ein Mandat mit der Ort überzeugen konnten. Ich kann Ihnen versichern: Wir Begründung Russland ein! – Oliver Krischer fühlten uns bei Ihnen gut aufgehoben und auch gut be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann bean- schützt. Danke schön dafür. tragen Sie das doch!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Unsere Präsenz im Mittelmeer ist notwendig, um dort BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aufzuklären und ein klares Lagebild zu haben. Das er- höht die maritime Sicherheit im Mittelmeer. Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Bartz, CDU/ CSU-Fraktion. (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Gott, ist das an den Haaren herbeigezogen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Zudem findet ein wichtiger Austausch mit den Anrainer- Julia Bartz (CDU/CSU): staaten statt. Das wirkt sowohl vertrauensbildend als Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und auch als Frühwarnsystem. Kollegen! Wir beraten heute im Zusammenhang mit Unsere Präsenz und die Lagebilderstellung in dieser OAE über ein Übergangsmandat. strategisch wichtigen Region sind also sinnvoll. Wir (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wollen sie nun ein weiteres Mal unter dem Dach von NEN]: Das steht nicht darin!) OAE fortsetzen. Geben wir doch der Diplomatie die Zeit, die sie braucht, um den rechtlichen Rahmen neu zu Auch im vergangenen Jahr haben wir über dieses Über- zimmern; denn das Ziel der Mission ist zweifelsohne gangsmandat gesprochen, und wir müssen es jetzt noch sinnvoll. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zu einmal verlängern. Die diplomatischen Verhandlungen diesem Einsatz. laufen und sind auf einem sehr guten Weg. Vielen Dank. Bereits 2012 hat sich die Bundesregierung dafür ein- gesetzt, das Einsatzprofil von OAE weiterzuentwickeln. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben hier bereits viele Zwischenergebnisse ver- zeichnen können. Im Oktober 2013 hat die Bundesregie- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: rung ein entsprechendes Strategiepapier vorgelegt. Im Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. 7020 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksachen 18/3018, 18/3161 (C) Drucksache 18/3247 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- verstanden? – Ich stelle fest, das ist der Fall. Dann ist die ausschusses (7. Ausschuss) Überweisung so beschlossen. Drucksache 18/3439 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Erste Beratung des von den Abgeordneten richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Halina Wawzyniak, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, weiterer Abgeord- LINKE sowie den Abgeordneten Tabea Rößner, neter und der Fraktion DIE LINKE Dr. Konstantin von Notz, Renate Künast, weite- ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Selbstanzeige abschaffen eines Gesetzes zur Aufhebung des Achten Ge- Drucksachen 18/556, 18/1035 setzes zur Änderung des Urheberrechtsgeset- zes (Leistungsschutzrechtsaufhebungsgesetz – Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) – LSR-AufhG) Ich stelle fest, Sie sind damit einverstanden. Es liegt eine 3) Drucksache 18/3269 Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung vor. Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkt 20 a. Wir kommen zur Abstim- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) mung über den von der Bundesregierung eingebrachten Ausschuss Digitale Agenda (f) Gesetzentwurf zur Änderung der Abgabenordnung und Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Kultur und Medien des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung. Der Fi- Federführung strittig nanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung

1) auf Drucksache 18/3439, den Gesetzentwurf der Bun- Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – desregierung auf Drucksachen 18/3018 und 18/3161 an- Ich stelle fest, Sie sind damit einverstanden. zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Drucksache 18/3269 an die in der Tagesordnung aufge- dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion (B) (D) SPD wünschen die Federführung beim Ausschuss für Die Linke angenommen. Recht und Verbraucherschutz. Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen die Federführung Dritte Beratung beim Ausschuss Digitale Agenda. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ich lasse zunächst abstimmen über den Über- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen weisungsvorschlag der Fraktionen Die Linke und Bünd- zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält nis 90/Die Grünen: Federführung beim Ausschuss sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Ko- Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen Überweisungs- alitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom- Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von men. CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bünd- Tagesordnungspunkt 20 b. Beschlussempfehlung des nis 90/Die Grünen und Die Linke abgelehnt. Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- Linke mit dem Titel „Straffreiheit bei Steuerhinterzie- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Fe- hung durch Selbstanzeige abschaffen“. Der Ausschuss derführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucher- empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- schutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? che 18/1035, den Antrag der Fraktion Die Linke auf – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Über- Drucksache 18/556 abzulehnen. Wer stimmt für diese weisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitions- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den angenommen. Stimmen der Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: nommen. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- (Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Bei einigen Ent- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- haltungen bei der Linken!) zes zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenord- – Bei zwei Enthaltungen in der Fraktion Die Linke. nung

2) Anlage 6 1) Anlage 5 3) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7021

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: stabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache (C) 18/3445, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke ab- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- zulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungs- dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in rechtlicher Vorschriften für Opfer der politi- zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- schen Verfolgung in der ehemaligen DDR tionen bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Drucksachen 18/3120, 18/3251 nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abge- lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- weitere Beratung. ordneten Halina Wawzyniak, Dr. Dietmar Bartsch, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- Drucksache 18/3445 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- wurfs eines Fünften Gesetzes zur Verbesse- schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- rung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – für Opfer der politischen Verfolgung in der Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von ehemaligen DDR CDU/CSU, SPD, Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom- Drucksache 18/3145 men. Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: schusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Drucksache 18/3445 wurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen – Berichte des Haushaltsausschusses (8. Aus- des Europarats vom 25. Oktober 2007 zum schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeu- tung und sexuellem Missbrauch Drucksachen 18/3446, 18/3447 Drucksache 18/3122 Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- nen vor. Die Reden sollen zu Protokoll gegeben wer- schusses für Recht und Verbraucherschutz den.1) – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. (6. Ausschuss) (B) (D) Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss Drucksache 18/3437 für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) – Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. sache 18/3445, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 18/3120 und 18/3251 in der Aus- Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be- dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen schlussempfehlung auf Drucksache 18/3437, den Gesetz- wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/3122 an- Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf ter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen ange- zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage- nommen. gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen Dritte Beratung bei Enthaltung der Stimmen der Fraktion Die Linke an- genommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in drit- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- ter Lesung angenommen. zes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/17/EU Abstimmung über den Entschließungsantrag der in Bezug auf die Verknüpfung von Zentral-, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/ Handels- und Gesellschaftsregistern in der 3453. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Europäischen Union Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent- Drucksache 18/2137 schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Recht und Verbraucherschutz Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion (6. Ausschuss) Die Linke auf Drucksache 18/3145. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buch- Drucksache 18/3438

1) Anlage 7 2) Anlage 8 7022 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) – Experten erstellt. Das Gutachten bewertet die nationale (C) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Nachhaltigkeitsstrategie in Deutschland. Außerdem be- zieht sich der Bericht auf den internationalen Aspekt Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für zum Thema einer nachhaltigen Entwicklung. Die Gut- Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be- achter betonen die gewaltigen Aufgaben auf globaler schlussempfehlung auf Drucksache 18/3438, den Gesetz- Ebene, die im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2137 in bestehen. der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Während meiner fünfminütigen Redezeit sterben men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- weltweit circa 30 Kinder an Unterernährung oder behan- gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit delbaren Krankheiten. In diesen fünf Minuten wird eine in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions- vollständige Tier- oder Pflanzenart aussterben. In diesen fraktionen und von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthal- fünf Minuten werden wir weltweit circa 30 Schwimmbä- tung der Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. der von olympischer Größe an Öl verbrennen. In diesen fünf Minuten werden 150 Fußballfelder an Waldfläche Dritte Beratung gerodet werden. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Die Herausforderungen auf globaler Ebene sehen die Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen Gutachter vor allem im Hinblick auf Hunger und Armut zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? ebenso wie hinsichtlich des zu erwartenden Bevölke- – Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenver- rungswachstums auf etwa 9 Milliarden Menschen bis hältnis angenommen. 2050. Aber auch die weltweit ungebremste Nutzung fos- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: siler Energieträger und die damit einhergehende klimati- sche Veränderung stehen einer nachhaltigen Entwick- Unterrichtung durch den Parlamentarischen Bei- lung entgegen. rat für nachhaltige Entwicklung Wenn wir also über nationale Ziele sprechen, dürfen Stellungnahme des Parlamentarischen Beira- wir nie den internationalen Kontext aus den Augen ver- tes für nachhaltige Entwicklung zum Bericht lieren. Auch deshalb ist es wichtig, dass Deutschland im des Peer Review 2013 zur Nationalen Nach- Rahmen des Post-2015-Prozesses zur Schaffung nach- haltigkeitsstrategie „Sustainability – Made in haltiger globaler Entwicklungsziele eine aktive Rolle Germany“ spielt. Drucksache 18/3214 Deutschland selbst geben die Experten ein grundsätz- (B) (D) Überweisungsvorschlag: lich gutes Zeugnis. Gerade die deutsche Energiewende Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und wird als vorbildhaft gesehen und als größtes kollektives Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Transformationsprojekt seit der deutschen Wiederverei- Geschäftsordnung nigung bezeichnet. Die Experten honorieren das Ziel, bis Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz 2022 aus der Atomenergie auszusteigen und gleichzeitig Ausschuss für Wirtschaft und Energie bis 2050 das Ziel einer CO -armen Wirtschaft durch die Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft 2 Ausschuss für Bildung, Forschung und Reduktion der Treibhausgase um 80 bis 90 Prozent, ge- Technikfolgenabschätzung messen am Niveau von 1990, erreichen zu wollen. Wir Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und hatten heute bereits die entsprechenden Debatten im Ple- Entwicklung num. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss Digitale Agenda Es ist zudem notwendig, den Nachhaltigkeitsgedan- Haushaltsausschuss ken auch in Betrieben und Unternehmen, in den Unter- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für nehmenskulturen zu verankern und zu leben. Die Exper- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- ten weisen auf den deutschen Nachhaltigkeitskodex hin, nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. der vom deutschen Nachhaltigkeitsrat entwickelt wurde. Dieser kann ein Beispiel sein, nach welchen Kriterien Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege der Aspekt der Nachhaltigkeit in Unternehmen verankert Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion. werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) In ihrem Bericht verdeutlichen die Experten, auf wel- chen staatlichen Ebenen bereits Fortschritte erzielt wor- Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): den sind und wo noch Handlungsbedarf besteht. So Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen wurde gegenüber dem ersten Peer Review von 2009 das und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir spre- Bundeskanzleramt als Schnittstelle der Nachhaltigkeits- chen heute Abend über die Stellungnahme des Beirats politik gestärkt. Ein eigenständiges Referat, das die für nachhaltige Entwicklung zum Peer-Review-Gutach- Nachhaltigkeitspolitik inhaltlich verantwortet, wurde in- ten 2013. Die Ausführungen des Peer Reviews wurden stalliert. von acht hochkarätigen internationalen Expertinnen und Die Verankerung einer formellen Nachhaltigkeitsprü- fungsbewertung sämtlicher Verordnungen und Gesetze 1) Anlage 9 seit 2010 zeigt, dass das Parlament die Bundesregierung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7023

Dr. Andreas Lenz (A) hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeitspolitik beim Wort in Deutschland in vielen Politikbereichen deutlich ge- (C) nimmt. Die zielgerichtete Weiterentwicklung der Nach- steigert werden müssen. haltigkeitsprüfung wird nun eine große Aufgabe in die- ser Legislaturperiode sein. Auch dazu sind zusätzliche (Beifall bei der LINKEN) Ressourcen für den Beirat erforderlich. In dieser Forde- Die Verankerung des Nachhaltigkeitsgedankens in den rung sehen wir uns durch die Empfehlungen der Gutach- verschiedenen Politikbereichen des Deutschen Bundes- ter bestätigt. tages ist eine zentrale Aufgabe, wenn wir die Verantwor- Der Beirat für nachhaltige Entwicklung unterstützt tung für die zukünftigen Generationen wahrnehmen wol- die Forderung, den Nachhaltigkeitsgedanken stärker in len. die Ausbildungspläne für angehende Lehrkräfte und im In dem Bericht wird klar formuliert, dass „jede Verar- Bildungsbereich generell zu integrieren. Wir müssen beitung fossiler Rohstoffe weitere Treibhausgase frei- Mittel und Wege finden, um das Bewusstsein für die Be- setzt“ und die „Funde neuer Quellen fossiler Rohstoffe deutung einer nachhaltigen Entwicklung zu stärken. die Begrenztheit des Planeten Erde nicht aufheben“ kön- (Beifall bei der CDU/CSU) nen. Ich hoffe, dass der Parlamentarische Beirat es in dieser Legislaturperiode auch schafft, daraus eine ge- Letztlich muss der Gedanke der Nachhaltigkeit die Her- meinsame Forderung für eine schnelle Dekarbonisierung zen der Menschen erreichen. Nachhaltigkeit muss gelebt der Energiepolitik zu entwickeln. werden, um nicht als Floskel und Worthülse zu verkom- men. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausdrücklich unterstützen wir alle Anstrengungen und NEN]: Auf allen Ebenen, auch in der Regie- Anregungen für ein Kohleausstiegsgesetz und den rung!) schnellstmöglichen Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohleverstromung. Ich hoffe, dass die Diskussionen im Die Experten zeigen uns in ihrem Bericht, wo wir bei Parlamentarischen Beirat dazu beitragen werden, den der Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie Forderungen der Kohlelobby eine Gegenposition für den stehen. schnellen Ausbau dezentraler Anlagen zur Erzeugung (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da können von Energie aus regenerativen Quellen entgegenzuset- die Grünen noch etwas lernen!) zen. – Alle können etwas lernen. – Wir haben schon vieles er- (Beifall bei der LINKEN) reicht, auch dadurch, dass wir uns ambitionierte Ziele Auch die Alternativen, zwischen denen es weltweit (B) gesetzt haben. Trotzdem gibt es noch Hausaufgaben für im Energiesektor zu entscheiden gilt, werden im Exper- (D) uns auf nationaler Ebene, aber auch auf internationaler tenbericht besonders kritisch gesehen. Ausdrücklich er- Ebene. wähnt wird im Bericht Fracking. Das finde ich sehr be- Lassen Sie mich noch einen Satz bezüglich der Stel- merkenswert, vor allem vor dem Hintergrund, dass die lungnahme des Beirats sagen. Man lernt sich in den ver- Bundesregierung plant, ein Gesetz auf den Weg zu brin- schiedenen Berichterstatterrunden doch etwas besser gen, das Fracking ermöglicht. Ich denke, der Bericht hat kennen, Frau Wilms. Das uns selbst auferlegte Konsens- darauf eine klare Antwort gegeben. prinzip kann hier manchmal zur Belastung werden. Eine nachhaltige Energiepolitik muss in den nächsten Letztlich kommt es aber darauf an, was am Ende heraus- Jahren die Grundlagen für eine dezentrale Energieerzeu- kommt. Ich bin der Meinung, dass die Stellungnahme gungs- und -verteilungsstruktur schaffen. Die bisherige ein guter Ansatz für eine Stärkung einer nachhaltigen Politik der Bundesregierung wird dem nicht gerecht. Die Entwicklung ist. Entscheidungen der letzten Monate schreiben die zentra- Danke für die gemeinsame Arbeit und vielen Dank lisierten Strukturen mit Großkraftwerken fort und müs- für die Aufmerksamkeit. sen grundlegend verändert werden. Die Linke fordert die Stärkung dezentraler, demokratischer Strukturen in der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Energieerzeugung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Sehr geehrte Damen und Herren, mit der Forderung Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt an die Europäische Kommission, die europäische Nach- das Wort der Kollege Hubertus Zdebel. haltigkeitsstrategie fortzuschreiben, kann der Deutsche Bundestag dazu beitragen, die Fixierung der EU-Kom- (Beifall bei der LINKEN) mission auf die aus unserer Sicht falsche Ausrichtung der Strategie „Europa 2020“ zu verändern. Die Fraktion Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Die Linke sieht in der einseitigen Fixierung der EU- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Kommission auf den Ausbau von transeuropäischen Der Bericht der acht internationalen Expertinnen und Netzen in der Verkehrspolitik, der Energiepolitik und der Experten zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie liegt Infrastrukturpolitik eine falsche Entwicklung. Die Kom- seit vergangenem Jahr vor. Er zeigt, dass die Anstren- mission setzt mit der Strategie „Europa 2020“ auf eine gungen für die Umsetzung einer Nachhaltigkeitspolitik einseitige Wachstumsfixierung durch konventionelles 7024 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Hubertus Zdebel (A) Wirtschaftswachstum. Damit wird die EU-Kommission Unser Wirtschafts- und Energieminister schultert dieses (C) die Ziele zur Reduktion der klimaschädlichen Treibhaus- Vorhaben gerade. Er bringt Planungssicherheit und Rah- gase nicht erreichen – ebenso wenig wie einen Umbau menbedingungen für einen geordneten Ausbau der er- der industrialisierten Agrarindustrie. neuerbaren Energien zusammen. Das ist nicht einfach. Hier geht es nicht zuletzt um viel Geld. Aber eines Sehr geehrte Damen und Herren, die grundlegende möchte ich hier sagen: Sigmar Gabriel macht einen rich- Verankerung des Nachhaltigkeitsgedankens als zentrale tig guten Job. Querschnittsaufgabe der Politik muss aber auch im Deutschen Bundestag verwirklicht und weiterentwickelt (Beifall bei der SPD) werden. Die dazu angestellten Überlegungen finden un- Deutschland kann auf die Energiewende stolz sein. sere ausdrückliche Unterstützung. Herr Kollege Zdebel, Sie haben Fracking angespro- Mit dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige chen, dazu muss ich sagen: Die Peers reagieren schlicht Entwicklung ist eine erste Grundlage für die Verbesse- und einfach deshalb nicht auf die Fracking-Gesetze der rung der Nachhaltigkeitspolitik im Deutschen Bundestag Bundesregierung, weil sie sich schon im Jahr 2013 geäu- geschaffen worden; das begrüßen wir ausdrücklich. ßert haben. Sie haben es ja erwähnt, Herr Zdebel: Sie (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sind nicht Mitglied im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung; deswegen haben Sie an dessen Wie mir berichtet wurde – ich selber bin ja nicht Mit- Diskussionen nicht teilgenommen. Von daher ist Ihnen glied in diesem Beirat –, herrscht dort eine sehr kon- Ihre Anmerkung vielleicht nachzusehen. struktive Arbeitsatmosphäre. Der Versuch, trotz zum Teil sehr unterschiedlicher Politikvorstellungen gemein- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eine Errun- same Lösungen zur Stärkung des Nachhaltigkeitsgedan- genschaft des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige kens voranzubringen, dürfte, auch für den Bundestag, et- Entwicklung, dass jedes Gesetz über seinen Tisch geht. was Besonderes sein. Insofern auch im Namen meiner Wir überprüfen, ob in den Vorlagen die sogenannten In- Fraktion herzlichen Dank für die im Beirat geleistete Ar- dikatoren und Managementregeln berücksichtigt wur- beit! den – (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Aber nur formal!) eine wichtige Aufgabe des Parlamentarischen Beirats, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: aber es ist eine rein formale Prüfung, die wir da bisher Vielen Dank. – Nächster Redner ist Carsten Träger, vornehmen; gut, aber nicht gut genug. (B) SPD-Fraktion. (D) (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NEN]: Ja!) der CDU/CSU) Wenn wir das Prinzip der Nachhaltigkeit ins Bewusst- sein rücken wollen, wenn wir Nachhaltigkeit immer mit- Carsten Träger (SPD): denken wollen, dann dürfen wir hier nicht stehen blei- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und ben. Wir wollen hin zu einer inhaltlichen Prüfung. Kollegen! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschland hat einigen Grund, auf seine Errun- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE genschaften im Übergang zu einer nachhaltigeren GRÜNEN – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE Welt stolz zu sein. GRÜNEN]: Schauen wir mal, ob das gelingt!) Das sage nicht ich, obwohl ich diese Auffassung Wir wollen uns einmischen. Einen Schritt in die rich- durchaus teile; vielmehr stammt dieses Zitat von Björn tige Richtung gehen wir in zwei Wochen. Auf Anregung Stigson, dem Vorsitzenden der internationalen Experten- der SPD und unseres zuständigen Kollegen im Umwelt- kommission, die die Bundesregierung eingesetzt hat, um ausschuss, , werden wir am 17. Dezem- die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zu begleiten. Die- ber eine öffentliche Anhörung im Beirat zum Thema ses Zitat ist im Peer Review Sustainability – Made in Produktverantwortung durchführen. Die Produktverant- Germany, den wir heute diskutieren, nachzulesen. wortung ist Teil des Wertstoffgesetzes, das das parla- Das Lob der Peers gilt einerseits den Ansätzen und mentarische Verfahren bald erreichen wird. Strukturen, die wir in Deutschland für nachhaltige Ent- Da stellen sich dann ganz zentrale Fragen: Wie kön- wicklung haben, aber durchaus auch einzelnen politi- nen wir Anreize für Hersteller schaffen, schon beim Pro- schen Themen. So nennen die Peers als ein zentrales duktdesign Abfallvermeidung zu berücksichtigen und Projekt der nachhaltigen Entwicklung in Deutschland auch dort schon an die leichte und effiziente Recycelbar- die Energiewende. In der Tat blickt die ganze Welt auf keit zu denken? Wie kann dies durch Forschungsvorha- uns. Wir gehen hier in Sachen erneuerbare Energien vo- ben oder gesetzliche Vorschriften unterstützt werden? ran. Wie kann die Produktverantwortung insgesamt zu einem Der Peer Review stammt aus dem Jahr 2013. Darin sinnvollen Steuerungselement der Ressourcenschonung fordern die Peers eine klare Koordination und Planung werden? Hier kann und hier wird die Debatte im Parla- der Energiewende. Am Ende des Jahres 2014 können mentarischen Beirat hoffentlich Impulse setzen. Sie alle wir feststellen: Deutschland macht seine Hausaufgaben. sind zu der Anhörung natürlich herzlich eingeladen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7025

Carsten Träger (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Stelle aber auch kritisch sein. Das alles geht nicht oder der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE jedenfalls nicht so gut, wie wir uns das wünschen, mit GRÜNEN) unserer bisherigen Ausstattung. Auch die Peers kamen zu dem Schluss, dass es dringend einer besseren perso- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in nellen Ausstattung bedarf. Wir brauchen ein größeres Deutschland hervorragende Ansätze, wie uns der Peer Beiratssekretariat, damit es uns bei der Vorbereitung der Review bescheinigt: eine nationale Nachhaltigkeitsstrate- Gesetzesprüfung unterstützen kann; genauso benötigen gie, den Staatssekretärsausschuss mit seiner Verankerung wir dringend Strukturen und Personal in den Fraktionen, im Bundeskanzleramt, den Rat für nachhaltige Entwick- die die Arbeit für die Nachhaltigkeit stärken. lung, der die Regierung berät. Aber wir als Parlament müssen noch etwas nachlegen; wir hinken da etwas hin- Meine Meinung ist, dass es nicht sein kann, dass die terher. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Abgeordneten- Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zum Schluss. büros neben all der Arbeit, die sie für uns zur Unterstüt- Wenn ich mir die späte, die nächtliche Debattenzeit vor zung in den regulären Ausschüssen leisten, für uns auch Augen führe, muss ich sagen: Das ist schon ein Hinweis noch für die Berichterstattergruppen des Beirats arbeiten darauf, dass das Thema Nachhaltigkeit noch nicht in der müssen; denn dies ist tatsächlich ein erheblicher Auf- Mitte des Bundestags angekommen ist. Da gehört es wand. Wie gesagt, wir beschäftigen uns mit sehr vielen aber hin. Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass wir die Gesetzesvorlagen. Deshalb bitte ich darum, dass wir uns nächste Debatte über dieses Thema zu einem früheren mit dem Thema beschäftigen, um eine bessere Ausstat- Zeitpunkt, vielleicht bei Tageslicht, führen. tung zu erreichen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie GRÜNEN) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn wir es ernst meinen mit einer inhaltlichen Nachhaltigkeitsprüfung der Vorlagen, dann stoßen wir an Grenzen. Wenn wir es ernst meinen mit dem Koali- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: tionsvertrag, in dem wir eine Stärkung des Parlamentari- Vielen Dank. – Da das schon das zweite Mal war, schen Beirats festgeschrieben haben, und wenn wir es dass auf die Debattenzeit hingewiesen wurde, möchte ernst meinen mit all unseren Reden über die Wichtigkeit ich nur darauf aufmerksam machen, dass sich alle dies- (B) von Nachhaltigkeit, dann brauchen wir diese bessere bezüglich an ihre Parlamentarischen Geschäftsführer (D) Ausstattung. und Geschäftsführerinnen wenden; denn die bestimmen die Debattenzeit. Das macht nicht das Präsidium. Bitten Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch ei- Sie sie, dass beim nächsten Mal alle Themen morgens nen weiteren Punkt ansprechen, in dem wir uns im Bei- behandelt werden. Dann müssen wir sehen, wie wir das rat fraktionsübergreifend einig sind. In jeder Wahlpe- parallel hinbekommen; vielleicht klappt das ja. riode verliert der Beirat wertvolle Zeit, oft Monate, bis er wieder eingerichtet ist. Hier suchen wir gerade nach ei- Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen ist jetzt nem praktikablen Verfahren, wie man das besser machen Dr. Valerie Wilms. kann. Meine Meinung – ich glaube, auch die der meisten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Beiratsmitglieder – ist, dass wir den Beirat am besten der SPD – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE verstetigen können, indem wir ihn in der Geschäftsord- GRÜNEN]: Da können wir einfach mal mit- nung verankern. Ich hoffe, dass wir auch hier gute Dis- klatschen! – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE kussionen führen können und am Ende zu einem guten GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Ergebnis kommen. Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich glaube, dass dieser Weg lohnend ist. In meiner NEN]: Valerie hat es verdient!) Vorstellung entwickelt sich der Parlamentarische Beirat zu einem Ort, an dem weitblickend angelegte Debatten Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zu wichtigen Fragen geführt werden können. Nachhal- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! tige Politik ist eben mehr als Umweltpolitik im neuen Meine Vorredner haben ja schon erwähnt: Wir reden Gewand; sie ist auch mehr als der berühmte Dreiklang heute über die erste Unterrichtung – so heißt es formal –, von Ökonomie, Ökologie und Sozialem. Nachhaltig- die der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick- keitspolitik, wie ich sie mir vorstelle, nimmt die langen lung in dieser Legislaturperiode abliefert. Daran haben Zeitschienen in den Blick. alle vier Fraktionen wirklich gleichberechtigt mitarbei- ten können; da machen wir nicht diesen Mummenschanz Genau hier sehe ich den Parlamentarischen Beirat als zwischen Koalition und Opposition. Dafür herzlichen den Ort der Debatte und als Impulsgeber. Natürlich wer- Dank! den wir nicht für alle Fragen Lösungen liefern können; aber ich bin der Überzeugung, dass es dem deutschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Parlament gut anstehen würde, einen solchen Ort zu ha- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ben. CDU/CSU und der LINKEN) 7026 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Dr. Valerie Wilms (A) Aber wenn ich mir die die Debatte anhöre, habe ich Entwicklungen im Hinblick auf viele Nachhaltigkeits- (C) den Eindruck, dass wir hier eigentlich über unterschied- ziele stagnieren oder sogar rückläufig sind, wie uns der liche Sachen reden. Denn wenn ich mir den Peer-Re- Fortschrittsbericht und der Indikatorenbericht zeigen. view-Bericht anschaue, stelle ich fest: Da steht deutlich drin, dass Deutschland hinter seinen Möglichkeiten zu- Wir Politiker, liebe Kolleginnen und Kollegen, müs- rückbleibt. Das ist nämlich die bittere Kernbotschaft, die sen ein lebenswertes Leben auf dieser Erde ermöglichen, uns die Peers mitgegeben haben: Wir könnten deutlich nicht nur für alle, die heute hier leben, nein, auch für un- mehr machen. – Gerade an der Situation bei der Energie- sere Kinder und deren Kinder, und das nicht nur für uns wende machen die Peers diese Aussage fest. Da stimme in Deutschland. ich ihnen – leider – voll zu. Da müssen wir deutlich Dafür gibt es seit Rio 1992 die Agenda 21 und in nachlegen. Deutschland die Nachhaltigkeitsstrategie. Ab Herbst nächsten Jahres wird es sogar weltweite Nachhaltigkeits- Es gibt bislang keine Koordinierung im Hinblick auf ziele geben: die SDGs. Da vergleichen wir nicht nur das Zusammenspiel der verschiedenen Energieträger bis Zahlenreihen von Indikatoren und schauen auf irgend- zur vollständigen Umstellung auf erneuerbare Energien; welche blinkenden Lämpchen. Wir haben wirklich zu er- das haben wir noch nicht geschafft. Wir müssen uns fra- reichende Ziele für die einzelnen Indikatoren festgelegt. gen: Wie viele CO -Schleudern, also vor allem Braun- 2 Das steckt hinter unserer nationalen Nachhaltigkeitsstra- kohlekraftwerke, sind wirklich noch nötig, und zwar tegie, die wir bislang, unabhängig von den Farben der heute und dann, wenn die Atomkraftwerke endlich abge- Regierung, regelmäßig fortgeschrieben haben. Dazu müs- schaltet worden sind? sen wir kein gutes Leben neu erfinden. Lassen Sie uns Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage ist doch, besser die Ziele unserer vorhandenen Nachhaltigkeits- wie die Energieversorger, große wie kleine, ihre Ge- strategie ernsthaft operativ umsetzen, liebe Kolleginnen schäftsmodelle weiterentwickeln können. Dafür brau- und Kollegen. Fensterreden haben wir darüber schon ge- chen sie von uns eindeutige Vorgaben, und das dringend. nug gehalten. Wir lassen es zu, dass der Strompreis an der Börse ver- Herzlichen Dank. fällt, und subventionieren dafür stromintensive Unter- nehmen. Hier ist mehr konzeptionelles Arbeiten drin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gend nötig. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Je besser wir die Energiewende durchplanen, umso bes- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (B) ser können sich die Unternehmen darauf vorbereiten und Vielen Dank. – Nächster Redner ist Andreas Jung, (D) ihre Mitarbeiter entsprechend qualifizieren. Eon zeigt CDU/CSU-Fraktion. durchaus, in welche Richtung das gehen kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will noch einen neten der SPD) Blick auf die Debatte um Wachstum, Wohlstand und Le- bensqualität werfen. – Vorher muss ich aber erst einmal Andreas Jung (CDU/CSU): einen Schluck trinken, um mich zu beruhigen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Heiterkeit – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/ Ich möchte nicht auch noch eine Bemerkung zu der Uhr- DIE GRÜNEN]: Aber bitte keine Schlaftab- zeit, zu der diese Debatte stattfindet, machen und füge lette nehmen!) hinzu: Ich nehme es noch nicht einmal persönlich, dass der letzte Besucher gerade kurz vor meiner Rede die Tri- Diese Debatte kocht ja immer wieder hoch. In der letzten büne verlassen hat, Wahlperiode hat eine Enquete-Kommission einen Vor- schlag mit einer großen Menge an Wohlstandsindikatoren, (Heiterkeit – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/ Warnlampen und Hinweislampen vorgelegt; irgendwo DIE GRÜNEN]: So ein kleines bisschen hier im Bundestag sollte es eine entsprechende Installa- Selbstwertgefühl muss einfach sein, ja!) tion geben. So sollte nämlich der Wachstumsindikator sondern ich möchte, im Gegenteil, sagen: Es ist gut, dass Bruttoinlandsprodukt ergänzt werden. Dabei wurde ein- wir diese Debatte über Nachhaltigkeit noch im Parla- fach ignoriert, dass es das schon längst gibt. Seit 2002 ment führen. Nachhaltigkeit ist eine Daueraufgabe, und haben wir die nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Aber das heißt, zu jeder Tages- und Nachtzeit. es macht ja immer mehr Spaß, neue Messsysteme auf weißes Papier zu schreiben, als sich darum zu kümmern, (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das alte Messsystem mit seinen 21 Indikatoren wie Flä- NEN]: Wir hätten das auch noch um halb eins chenverbrauch, Artenvielfalt, Ressourceneffizienz anzu- gemacht!) wenden und die notwendigen Ziele wirklich zu errei- chen. Das heißt auch, dass es notwendig ist, dass es hier im Deutschen Bundestag ein Gremium wie den Nachhaltig- Das, was nun im Bundeskanzleramt mit der Strategie keitsbeirat gibt, das sich dauernd dieser Aufgabe wid- „Gutes Leben“ geplant ist, scheint eher eine Strategie met. Deshalb möchte ich zu Beginn an den Kollegen zur Ablenkung von diesen vorhandenen Nachhaltigkeits- Carsten Träger anschließen und sagen: Ja, es ist notwen- zielen zu sein, vor allem eine Ablenkung davon, dass die dig. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7027

Andreas Jung (A) Der Parlamentarische Beirat besteht jetzt zehn Jahre, präsidenten Timmermans die richtigen Weichen gestellt (C) und in dieser Dekade haben wir uns etabliert. Wir sind werden können. Es ist notwendig. Europa muss hier eine im parlamentarischen Betrieb nicht nur angekommen, drängende Rolle, eine Vorreiterrolle einnehmen. Das be- sondern ich bin der Überzeugung: Der Nachhaltigkeits- ginnt damit, dass in Europa selber eine kohärente Nach- beirat ist überhaupt nicht mehr wegzudenken. Deshalb haltigkeitsstrategie umgesetzt wird. müssen die Fraktionen, müssen wir gemeinsam die Schlussfolgerungen daraus ziehen und den Nachhaltig- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie keitsbeirat verstetigen, ihn in der Geschäftsordnung ver- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ankern und damit klarmachen: Nachhaltigkeit bleibt GRÜNEN) Daueraufgabe, und der Nachhaltigkeitsbeirat wird sich In Deutschland – das ist in der Debatte angesprochen im Deutschen Bundestag dauerhaft darum kümmern. worden; das zeigen uns die unterschiedlichen Berichte – (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem haben wir in vielen Bereichen Fortschritte zu verzeich- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen, aber es gibt eben auch noch Bereiche, in denen wir besser werden müssen. Der Nachhaltigkeitsbeirat hat Bei allem – das zeigt auch der Peer-Review, dass wir sich vorgenommen, das Thema „nachhaltiges Wirtschaf- einiges erreicht haben – ist auch wahr, dass wir noch ten“ in den Mittelpunkt der Arbeit der nächsten Jahre zu große Aufgaben vor uns haben. 1992 – es wurde von stellen. Da haben wir viel zu tun. Wir wollen auch den Valerie Wilms angesprochen – fand die große Nachhal- Blick darauf richten, was die Bundesregierung selbst tigkeitskonferenz in Rio de Janeiro statt. Ich war noch macht. Wir haben erst gestern ein Papier zum Thema auf der Schule, und mein Bundestagsabgeordneter war „nachhaltige Beschaffung“ beschlossen, in dem wir sa- Hans-Peter Repnik. Er war stellvertretender Leiter der gen: Wenn wir das wollen, dann muss auch für den Bun- Delegation von Klaus Töpfer, und er bekommt heute destag und die Bundesregierung noch leuchtende Augen, wenn er vom Geist von Rio be- richtet. Damals hat man in der Tat gedacht, dass es ge- (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lingt, nachdem der Gegensatz zwischen Ost und West NEN]: Auch im Bundestag!) aufgebrochen war, die Nord-Süd-Probleme gemeinsam das Elektroauto bzw. das Ökoauto zum Standard werden, anzugehen und die Grundlagen für eine weltweite nach- weil nur dann Elektroautos in der Breite gefahren wer- haltige Entwicklung zu schaffen. den, dann müssen wir auch unsere bundeseigenen Im- Wenn wir uns mehr als 20 Jahre danach fragen, was mobilien sanieren, dann müssen auch Bundesverwaltung eigentlich erreicht worden ist, dann lautet die Antwort: und bundeseigene Unternehmen den Nachhaltigkeits- Es ist bisher nicht gelungen, diesen Schwung von Rio kodex unterschreiben und umsetzen, dann sind hier viele (B) mitzunehmen. Es ist bisher im weltweiten Maßstab be- Aufgaben zu erledigen. Dafür wollen wir uns gemein- (D) schämend wenig erreicht worden. sam einsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜND- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Deshalb freuen wir uns darüber, dass die Peers würdi- Der Nachhaltigkeitsbeirat ist ein besonderes Gremium. gen, dass Deutschland eine Vorreiterrolle für nachhaltige Wir arbeiten, wie gesagt wurde, konstruktiv zusammen Politik einnimmt. Wir nehmen es ernst, dass diese Vor- und in den allermeisten Fällen auch einvernehmlich. So reiterrolle auch für die Zukunft eingefordert wird. werden wir noch einiges erreichen. Valerie Wilms hat ebenfalls bereits die internationalen Vielen Dank. Bemühungen angesprochen, zu weltweiten Nachhaltig- keitszielen in Weiterentwicklung der Millenniumsziele (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie zu kommen. Das müssen wir erreichen. Hier muss bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Deutschland, hier muss sich Europa kraftvoll einbringen. GRÜNEN und des Abg. Hubertus Zdebel [DIE LINKE]) (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Da sind wir auf einem guten Weg!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wir müssen jetzt fortführen und zum Erfolg bringen, Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. was damals in Rio begonnen wurde. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Drucksache 18/3214 an die in der Tagesordnung aufge- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- GRÜNEN) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Wer, wenn nicht die Europäische Union, soll dabei so beschlossen. der entscheidende Antreiber sein? Dabei sehen wir als Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Nachhaltigkeitsbeirat noch Entwicklungsbedarf. Wir werden Anfang des Jahres in Brüssel sein, dort Gespräche Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- führen und dafür werben, dass die Nachhaltigkeitsstrate- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem gie der Europäischen Union kraftvoll fortgeschrieben Übereinkommen vom 10. März 2009 zwischen wird. Wir bedauern, dass dies nicht selbstverständlich den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist, und hoffen, dass unter dem jetzt zuständigen Vize- über die zentrale Zollabwicklung hinsichtlich 7028 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) der Aufteilung der nationalen Erhebungskos- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (C) ten, die bei der Bereitstellung der traditionel- verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die len Eigenmittel für den Haushalt der Euro- Überweisung so beschlossen. päischen Union einbehalten werden Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Drucksache 18/3125 ordnung. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Haushaltsausschuss destages auf morgen, Freitag, den 5. Dezember 2014, Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) – 9 Uhr, ein. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf einen wunderschönen Abend. Drucksache 18/3125 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

1) Anlage 10 (Schluss: 22.17 Uhr)

(B) (D) Anlagen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7029

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Alpers, Agnes DIE LINKE 4.12.2014 Walter-Rosenheimer, BÜNDNIS 90/ 4.12.2014 Beate DIE GRÜNEN Bleser, Peter CDU/CSU 4.12.2014 Wunderlich, Jörn DIE LINKE 4.12.2014 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 4.12.2014 Zollner, Gudrun CDU/CSU 4.12.2014 Freese, Ulrich SPD 4.12.2014

Freitag, Dagmar SPD 4.12.2014 Anlage 2 Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 4.12.2014 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Hubertus Heil (Peine) (SPD) Gabriel, Sigmar SPD 4.12.2014 zu den Abstimmungen über Jung, Xaver CDU/CSU 4.12.2014 – den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes Kermer, Marina SPD 4.12.2014 zur Änderung des Erneuerbare-Energien- Gesetzes Dr. Launert, Silke CDU/CSU 4.12.2014 – den von den Abgeordneten Oliver Krischer, Lenkert, Ralph DIE LINKE 4.12.2014 Dr. Julia Verlinden, Annalena Baerbock, (B) weiteren Abgeordneten und der Fraktion (D) Liebich, Stefan DIE LINKE 4.12.2014 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur zweiten Ände- Lutze, Thomas DIE LINKE 4.12.2014 rung des Gesetzes für den Ausbau erneuer- barer Energien Dr. de Maizière, CDU/CSU 4.12.2014 (Tagesordnungspunkt 11) Thomas Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur Mortler, Marlene CDU/CSU 4.12.2014 Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, EEG, greift ein tatsächliches Problem auf. Auch weil Messan- Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 4.12.2014 lagen teuer sind und in der Vergangenheit bei anteiliger Direktvermarktung nicht die Notwendigkeit einer ge- Müntefering, Michelle SPD 4.12.2014 trennten Messung gesehen wurde, wird in manchen Fäl- len die Stromerzeugung von mehreren Anlagen – zum Roth (Heringen), SPD 4.12.2014 Beispiel mehrerer Windräder in einem Windpark – über Michael ein- und dieselbe Messeinrichtung gemessen. Dies ent- sprach der gängigen Praxis unter dem EEG 2012. Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/ 4.12.2014 DIE GRÜNEN Im EEG 2014 gibt es hierzu widersprüchliche Aussa- gen, die im Ergebnis dazu führen, dass eine anteilige Di- Schlecht, Michael DIE LINKE 4.12.2014 rektvermarktung nicht mehr zulässig ist, wenn der von einer Messeinrichtung gemessene Strom aus mehreren Schön (St. Wendel), CDU/CSU 4.12.2014 Anlagen stammt, von denen einige direkt vermarkten Nadine und andere die Einspeisevergütung erhalten. Der Anla- genbetreiber wird sanktioniert, indem er Vergütungsan- Dr. Steffel, Frank CDU/CSU 4.12.2014 sprüche verliert. Dieses Ergebnis widerspricht der Geset- zesbegründung des EEG 2014. Daher sollte die bisherige Dr. Steinmeier, Frank- SPD 4.12.2014 Praxis wieder ermöglicht und eine anteilige Direktver- Walter marktung über einen Zähler zugelassen werden. Dass ich dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Tillmann, Antje CDU/CSU 4.12.2014 Grünen nicht zustimme, liegt zum einen an dem Um- 7030 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) stand, dass der Gesetzentwurf rechtlich nicht ausgereift der Strafe abzusehen. Die tätige Reue gibt es beispiels- (C) ist und zu Folgeproblemen führen könnte, und zum an- weise über den § 314 a Absatz 2 Nummer 2 d StGB auch deren daran, dass es bei unserem Koalitionspartner, der für das Freisetzen ionisierender Strahlen (§ 311 StGB). CDU/CSU-Bundestagsfraktion, noch Klärungsbedarf Dieser Straftatbestand stellt unter Strafe, wenn jemand hinsichtlich der Frage der Rückwirkung gibt. unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten ioni- sierende Strahlen freisetzt oder Kernspaltungsvorgänge Ich gehe davon aus, dass wir gemeinsam mit unserem bewirkt, die unter anderem geeignet sind, Leib oder Le- Koalitionspartner den Fehler korrigieren und zeitnah ben eines anderen Menschen zu schädigen. Wir halten es eine rechtssichere Lösung finden. für unverhältnismäßig, bei Gefährdung von Leib und Le- ben die tätige Reue zu ermöglichen, bei der Hinterzie- hung von Steuern hingegen nicht. Anlage 3 Sinnvoll ist es aus unserer Sicht, dafür zu sorgen, dass Erklärung nach § 31 GO tatsächlich Steuern gezahlt werden. Die Linke hat des- der Abgeordneten Richard Pitterle und Halina halb in der 17. Wahlperiode die Einrichtung einer Bun- Wawzyniak (beide DIE LINKE) zur Abstim- desfinanzpolizei als Wirtschafts- und Finanzermittlungs- mung über den von der Bundesregierung behörde (vergleiche http://dip21.bundestag.de/dip21/ eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Än- btd/17/127/1712708.pdf) gefordert. derung der Abgabenordnung und des Einfüh- rungsgesetzes zur Abgabenordnung (Tagesord- nungspunkt 20 a) Anlage 4 Wir haben uns bei dem Antrag der Fraktion Die Linke Zu Protokoll gegebene Reden „Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch Selbstan- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur zeige abschaffen“ enthalten. Verbesserung des Schutzes gegen Diskriminie- Ziel des Antrages ist es, die Möglichkeit der Abgabe rungen aufgrund des Gesundheitszustandes einer strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterzie- (Tagesordnungspunkt 16) hung gemäß § 371 AO abzuschaffen und Bagatelldelikte künftig als Ordnungswidrigkeiten zu behandeln. Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Um den Schutz vor Diskriminierungen im Sinne des Artikels 3 Wir halten Steuerhinterziehung für ein nicht zu ent- des Grundgesetzes zu verbessern, hatte die Große Koali- schuldigendes Delikt. Wer Steuern hinterzieht, entzieht tion in der 16. Wahlperiode das Allgemeine Gleichbe- sich der Verantwortung für die Gemeinschaft. Es ist des- (D) (B) handlungsgesetz beschlossen. Dank des AGG wurden halb richtig, die Regelungen zur strafbefreienden Selbst- und werden Diskriminierungen erfolgreich beseitigt und anzeige bei Steuerhinterziehung zu verschärfen. Es ist verringert. Dies erkennt auch die Linksfraktion an, die deshalb auch richtig, den zu zahlenden Geldbetrag beim dem Gesetz damals nicht zugestimmt hatte. Absehen von Strafe und dessen Staffelung nach § 398 a AO deutlich anzuheben sowie den Hinterziehungsbetrag, ab Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung be- dem eine Straffreiheit nicht mehr möglich ist, von raten, ist ein modifizierter Antrag der Linksfraktion aus 50 000 Euro auf 25 000 Euro zu senken. Das findet un- der letzten Wahlperiode. Sein Ziel ist die Aufnahme sere Zustimmung. chronischer Erkrankungen als Diskriminierungsmerkmal ins AGG. Damit soll „klargestellt“ werden, dass auch Die ersatzlose Abschaffung der strafbefreienden chronisch kranke Menschen durch das AGG geschützt Selbstanzeige halten wir allerdings nicht für sinnvoll. werden. Wir enthalten uns bei dem Antrag der Linken deshalb, weil wir der Meinung sind, dass eine Ausweitung der Begründet wird die angestrebte Änderung des Geset- strafbefreienden Anzeige auf andere Bereiche ausge- zes im Wesentlichen mit der Kündigungsschutzklage ei- dehnt werden sollte. Es könnte dann ein Mensch, der nes an einer symptomlosen HIV-Infektion erkrankten zum Beispiel einen Diebstahl, eine Sachbeschädigung Klägers gegen ein Pharmaunternehmen. Diese sei in den begangen hat, oder jemand, der sich unerlaubt vom Un- ersten beiden Instanzen erfolglos und erst vor dem Bun- fallort entfernt hat, soweit er noch nicht als Täter ent- desarbeitsgericht erfolgreich gewesen. deckt wurde, sich durch eine Selbstanzeige von der Strafbarkeit befreien. Dies würde zur Entkriminalisie- Was war der Sachverhalt? Ein Pharmaunternehmen, rung beitragen und die Gerichte entlasten. das intravenös zu verabreichende Arzneimittel herstellt, hatte den Kläger für eine Tätigkeit in einem Reinraum Außerdem kennt das Strafrecht in einigen Bereichen eingestellt. Wenige Tage nach Arbeitsbeginn hatte der die sogenannte tätige Reue. Der Abschaffung der Straf- Kläger den Betriebsarzt auf seine HIV-Infektion hinge- freiheit bei Steuerhinterziehung durch Selbstanzeige hät- wiesen. Der Betriebsarzt hatte Bedenken gegen den Ein- ten wir dann zustimmen können, wenn zumindest die satz des Klägers im Reinraum. Daraufhin kündigte das Möglichkeit der tätigen Reue an ihre Stelle getreten Pharmaunternehmen den Arbeitsvertrag unter Berufung wäre. Dies würde keine zwingende Straffreiheit bedeu- auf seine Standard Operating Procedures. Nach diesen ten, sondern hätte lediglich dem Gericht im Rahmen ei- betriebsinternen Regeln sei die Beschäftigung von Mit- ner Ermessensentscheidung die Möglichkeit gegeben, arbeitern mit ansteckenden Krankheiten im Reinraum die Strafe im konkreten Einzelfall zu mildern oder von verboten. Das Bundesarbeitsgericht hat das Berufungs- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7031

(A) urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Landes- Die in Artikel 2 des Gesetzentwurfs vorgeschlagene (C) arbeitsgericht zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Änderung des Gesetzes über die Gleichbehandlung der zurückverwiesen, denn das Instanzgericht habe insbe- Soldatinnen und Soldaten und ihre Begründung über- sondere nicht geprüft, ob das beklagte Pharmaunterneh- zeugt nicht. Die Behauptung, behinderte Soldatinnen men durch angemessene Vorkehrungen einen Einsatz und Soldaten seien „gänzlich schutzlos“ gestellt, ist des Klägers im Reinraum hätte ermöglichen können. schlicht falsch. Es liegt auch keine sachlich ungerecht- fertigte Ungleichbehandlung vor. Sowohl mit dem AGG Tatsächlich wäre eine unterschiedliche Behandlung als auch mit dem SoldGG wurden EU-Richtlinien zur aufgrund beruflicher Anforderungen unter den Voraus- Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes um- setzungen des § 8 Absatz 1 AGG zulässig. Dies ist dann gesetzt. Ebenso wie andere Staaten auch haben wir in der Fall, wenn der Diskriminierungsgrund gerade wegen Deutschland aus militärischen Gründen von der Mög- der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingun- lichkeit Gebrauch gemacht, die Richtlinie hinsichtlich gen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende von Diskriminierungen wegen einer Behinderung nicht berufliche Anforderung darstellt und sowohl der Zweck für die Streitkräfte der Bundeswehr umzusetzen. Auf- rechtmäßig als auch die Anforderungen angemessen grund des Erfordernisses der Einsatzbereitschaft und der sind. Schlagkraft der Streitkräfte ist es gerechtfertigt, dass die Vom Bundesarbeitsgericht wurde entschieden, dass Streitkräfte keine Personen einstellen oder weiterbe- eine symptomlose HIV-Infektion eine Behinderung im schäftigen müssen, die hinsichtlich ihrer körperlichen Sinne des AGG zur Folge hat. Eine Behinderung im oder geistigen Fähigkeiten nicht in der Lage sind, die je- Sinne des § 1 AGG liegt nach BAG vor, wenn die kör- weiligen Anforderungen an sämtliche ihnen zu stellende perliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Ge- militärische Aufgaben zu erfüllen. sundheit eines Menschen langfristig eingeschränkt ist und dadurch – in Wechselwirkung mit verschiedenen so- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit der Verabschie- zialen Kontextfaktoren – die Teilhabe an der Gesellschaft, dung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist einschließlich der Teilhabe am Berufsleben, substanziell Deutschland seiner Verpflichtung nachgekommen, vier beeinträchtigt sein kann (sogenannter bio-psycho-sozia- Richtlinien der Europäischen Union umzusetzen, die den ler Behindertenbegriff). Eine symptomlose HIV-Infek- Schutz vor Diskriminierung regeln. Daraufhin trat das tion sei eine Behinderung in diesem Sinne, denn eine Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, am 14. Au- solche Infektion führe zu einer chronischen Erkrankung, gust 2006 in Kraft. die sich auf die Teilhabe des Arbeitnehmers an der Ge- sellschaft auswirke. Das gelte so lange, wie das gegen- Mit dem Gesetzentwurf „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes gegen Diskriminierungen (B) wärtig auf eine solche Infektion zurückzuführende (D) soziale Vermeidungsverhalten sowie die darauf beruhen- aufgrund des Gesundheitszustands“ fordert die Opposi- den Stigmatisierungen andauern. tion nun, das Tatbestandsmerkmal „Gesundheitszustand“ in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufzuneh- Aus den Ausführungen des BAG kann man den men, da andernfalls eine Schutzlücke für chronisch Schluss ziehen, dass künftig grundsätzlich jedwede kranke Menschen und Menschen mit Pflegebedarf be- chronische Erkrankung eine Behinderung im Sinne des stünde. So heißt es in § 1 AGG: Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sein kann. Dies gilt grundsätzlich sogar für weitverbreitete Volks- Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Grün- krankheiten wie Diabetes mellitus, Arthrose, Rheuma den der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, oder Depressionen, an denen laut BAG etwa 40 Prozent des Geschlechts, der Religion oder Weltanschau- der Deutschen leiden. ung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuel- len Identität zu verhindern oder zu beseitigen. Im Zeitpunkt, als die Linke in der letzten WP den Vorgängerantrag gestellt hatte, lag das BAG-Urteil noch Bereits in der letzten Wahlperiode ist ein gleichlau- nicht vor. Insofern war der Vorschlag grundsätzlich tender Antrag von der Fraktion Die Linke – Drucksache nachvollziehbar. 17/9563,17/13765 – mit gleicher Forderung eingebracht worden. Dieser wurde mit guten Argumenten abgelehnt. Vor dem Hintergrund des jetzt vorliegenden BAG- Urteils werden wir uns im Ausschuss mit der Frage be- Seit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, fassen müssen, ob die ausdrückliche Aufnahme von BAG, mit Urteil vom 19. Dezember 2013 – Az. 6 AZR chronischen Krankheiten in den Katalog der in § 1 AGG 190/12 – ist der vorgelegte Gesetzentwurf darüber hi- aufgezählten Gründe zur Klarstellung grundsätzlich naus obsolet. Denn chronische Erkrankungen können sinnvoll und erforderlich ist. seither unter das Tatbestandsmerkmal „Behinderung“ subsumiert werden. Unabhängig davon ist der Gesetzentwurf der Linken – ebenso wie der damalige Antrag – unzureichend, denn Gegenstand der Entscheidung des 6. Senats war die er definiert den Begriff der chronischen Erkrankung Wirksamkeit einer sogenannten Wartezeitkündigung. Der nicht. Diese Abgrenzungsfrage, welche Krankheiten an einer symptomlosen HIV-Infektion erkrankte Arbeit- „chronische Erkrankungen“ im Sinne des Gesetzes sind, nehmer wurde von der Beklagten, einem Pharmaunter- muss für den Anwendungsbereich aber klar beantwortet nehmen, das intravenös zu verabreichende Arzneimittel werden, zumal es eine Vielzahl von chronischen Erkran- zur Krebsbehandlung herstellt, als chemisch-techni- kungen und unterschiedliche Definitionen hierfür gibt. scher Assistent für eine Tätigkeit im sogenannten Rein- 7032 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) raumbereich eingestellt. Bei einer Einstellungsuntersu- cker sagen? Dürfte dein Kind mit HIV-positiven Kindern (C) chung wenige Tage nach Arbeitsbeginn wies der spielen? Würdest du mit einem HIV-positiven Kollegen Arbeitnehmer den Betriebsarzt auf seine Infektion hin. in die Kantine gehen? Vertrauen wir auf unser Wissen Dieser äußerte Bedenken gegen einen Einsatz des Ar- um HIV und Aids, wenn es darauf ankommt? Oder ist beitnehmers im Reinraum und informierte die Arbeitge- die Angst größer? berin, nach Entbindung von seiner Schweigepflicht, über die Infektion des Arbeitnehmers. Die Arbeitgeberin kün- Im Sommer veröffentlichte die Deutsche Aids-Hilfe digte noch am selben Tag ordentlich und berief sich auf eine Studie zur Diskriminierung von Menschen mit HIV. ihr internes Regelwerk, das eine Beschäftigung von Mit- Mehr als drei Viertel aller Befragten gaben an, solche arbeitern mit ansteckenden Krankheiten im Reinraum Erfahrungen im letzten Jahr gemacht zu haben. Das ging verbiete. Dieses Regelwerk geht auf Leitlinien der EU- von Gerede über Beleidigungen bis hin zu tätlichen An- Kommission über eine „gute Herstellungspraxis“ zurück griffen. Bei diesem Ergebnis verwundert es nicht, dass und sieht unter anderem vor, dass Vorkehrungen getroffen Berater und Experten einen neuen Trend zum Verschwei- werden sollten, „die, soweit es praktisch möglich ist, si- gen und Verstecken von HIV-Infektionen beobachten. cherstellen, dass in der Arzneimittelherstellung niemand Umso wichtiger ist die Aufklärung! beschäftigt wird, der an einer ansteckenden Krankheit lei- Meine Damen und Herren von der Linken, ich gehe det oder offene Verletzungen an unbedeckten Körper- hier deshalb so umfänglich auf HIV und Aids ein, weil stellen aufweist“. Der Arbeitnehmer erhob Kündigungs- Sie in Ihrem Antrag einen HIV-infizierten Chemielabo- schutzklage und machte eine Entschädigung geltend. Da ranten zum Beispielfall machen. Diesem Laboranten seine HIV-Infektion alleiniger Kündigungsgrund sei, sah wurde gekündigt, als der Arbeitgeber von der Infektion er sich durch die Kündigung wegen seiner Behinderung erfuhr. In der letzten Legislaturperiode haben Sie einen diskriminiert. Auch unter Berücksichtigung seiner indi- ähnlichen Gesetzentwurf wie den heutigen vorgelegt. viduellen Krankheitsmerkmale sei ein risiko- und ge- Schon in diesem war der Chemielaborant Ausgangs- fahrloser Einsatz des Arbeitnehmers im Reinraumbe- punkt Ihrer Forderungen. Zum Zeitpunkt Ihres damali- reich möglich gewesen. gen Antrags lagen nur die Gerichtsurteile des Berliner Das BAG führt dazu aus, dass die Kündigung des Ar- Arbeitsgerichts und des Berliner Landesarbeitsgerichts beitnehmers unmittelbar am Maßstab des AGG zu mes- vor. Diese bestätigten beide die Kündigung. Das ist unter sen sei. § 2 Absatz 4 AGG stehe dem nicht entgegen, da den gegebenen Umständen ein Unding. Das Bundes- diese Vorschrift nur das Verhältnis zwischen dem AGG arbeitsgericht aber hat die Kündigung bereits vor etwa und speziell auf Kündigungen zugeschnittener Vor- einem Jahr für rechtswidrig erklärt. Ich frage mich wirk- schriften wie insbesondere dem KSchG regele. Die lich, ob Sie das Urteil gelesen haben. Das Urteil nämlich (B) symptomlose HIV-Infektion des Arbeitnehmers stelle als nimmt der Kündigung zwar definitiv nichts an Brisanz. (D) chronische Krankheit eine Behinderung im Sinne des Es begründet aber auch sicher nicht die Aufnahme des AGG dar. Dies gelte jedenfalls, wenn und soweit das auf Diskriminierungsmerkmals Gesundheitszustand. solche Infektionen zurückzuführende soziale Vermei- Das Landesarbeitsgericht hat eben nicht festgestellt, dungsverhalten und die darauf beruhenden Stigmatisie- ob der Kläger behindert ist, sondern dies ausdrücklich rungen andauerten und eine gesellschaftliche Partizipa- offen gelassen. Dem Chemielaborant war durch das zu- tion der HIV-Infizierten damit unmöglich gemacht ständige Versorgungsamt aber ein GdB von 10 zuerkannt würde. worden. Das ist der geringste GdB, den es gibt. Doch das Der Gesetzentwurf ist demnach folgerichtig abzuleh- spielt keine Rolle: Auch mit diesem geringen GdB war nen. Denn im Ergebnis steht fest, dass Behinderungen der Chemielaborant selbstverständlich behindert und fiel im Sinne des AGG grundsätzlich auch chronische unter das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG. Krankheiten sind, sofern die erforderliche Beeinträchti- Bei der Kündigung handelte es sich also klar um eine gung der Teilhabe vorliegt. Es besteht keine Regelungs- Ungleichbehandlung, auch wenn nach einem scheinbar lücke und für die von der Opposition genannte Personen- objektiven Kriterium entschieden wurde. gruppe ein gesetzlicher Diskriminierungsschutz. Das Kurz und gut: Das Landesarbeitsgericht hat die Kün- begrüßen wir ausdrücklich, denn mehr als ein Drittel der digung bestätigt, obwohl ein Diskriminierungsmerkmal Bevölkerung in Deutschland – also rund 27 Millionen des AGG vorlag. Das Bundesarbeitsgericht hat dieses Menschen – leiden an einer oder an mehreren chroni- Urteil daher zu Recht aufgehoben. schen Erkrankungen, und die Zahl der Betroffenen nimmt immer weiter zu. An diesem Beispielfall soll aber nicht entschieden werden, ob die Aufnahme des Diskriminierungsmerk- mals Gesundheitszustand unsere Ablehnung oder Zu- Dr. Matthias Bartke (SPD): Am Montag dieser Wo- stimmung erfährt. Zumal es bei chronischen Krankhei- che war Welt-Aids-Tag. Seit 1988 wird er jedes Jahr am ten nicht nur um HIV und Aids geht. Es geht auch um 1. Dezember begangen. Die rote Schleife ist eines der Diabetes, Krebs und Adipositas, es geht um Hautkrank- sichtbarsten Zeichen an diesem Tag. Sie ist ein Zeichen heiten oder psychische Erkrankungen. Dennoch wirft für Toleranz und Solidarität mit den Menschen, die von der Fall eine sehr wichtige Frage auf. Das ist die Frage: HIV oder Aids betroffen sind. In diesem Jahr gibt es au- Wird chronische Erkrankung von Behinderung erfasst? ßerdem eine Schwerpunktkampagne unter dem Motto „Positiv zusammen leben“. Es geht dabei um Gewis- Nicht jeder chronisch kranke Mensch gilt heute als sensfragen. Was würdest du zu einem HIV-positiven Bä- behindert. Schon gar nicht gilt der Umkehrschluss, dass Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7033

(A) jeder Behinderte chronisch krank ist. Und es ist auch Schicksale wie dieses könnte ich Ihnen ohne Unter- (C) nicht so, dass jede chronische Erkrankung einen beson- brechung darlegen. In meiner ehrenamtlichen Tätigkeit deren, besseren Schutz nötig macht. bei einer der Brandenburger Aids-Hilfen ist mir bei- spielsweise ein Mann – ich nenne ihn hier einmal R. – Ob Menschen mit chronischen Krankheiten unter den begegnet, der in einem sehr großen, ehemals öffentlichen Schutz des AGG fallen, hängt heute davon ab, ob ihre Unternehmen arbeitet. Auf einer Betriebsfeier rutschte Erkrankung als Behinderung gilt. Sie sind also nicht ihm im leicht angeheiterten Zustand vor den Kollegen grundsätzlich vom AGG ausgeschlossen heraus, dass er HIV-positiv sei. Er selbst hatte sein dies- bezügliches Test-Ergebnis erst wenige Tage vorher er- Im AGG sind chronische Erkrankungen erfasst, wenn fahren. Deshalb war er noch in einer Art seelischen Aus- sie zu Behinderungen werden. Das ist keineswegs erst nahmezustands. Von diesem Moment an war plötzlich dann der Fall, wenn eine Schwerbehinderung mit einem nichts mehr wie vorher. Seine Kollegen – und ich be- GdB von mindestens 50 vorliegt. Eine Behinderung liegt nutze bewusst die männliche Form – behandelten ihn dann vor, wenn die körperliche Funktion, die geistige von einer Sekunde auf die andere, als ob er plötzlich ein Fähigkeit oder die seelische Gesundheit eines Menschen Monster geworden wäre. Sie weigerten sich beispiels- mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate weise, gemeinsam mit ihm noch dasselbe Diensttelefon von dem für das Lebensalter typischen Zustand abwei- zu benutzen. Andere Kollegen lehnten es ab, von ihm chen und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesell- gefahren zu werden. Die absurdesten Dinge passierten. schaft beeinträchtigt ist. So steht es im SGB IX. Und von Die Wochen nach diesem eher unfreiwilligen Coming- diesem Behinderungsbegriff sind die allermeisten chro- out waren für R. die Hölle. Er wurde schwer depressiv nisch kranken Menschen erfasst. Ich habe einige Zeit das und war lange krankgeschrieben. Es drohte eine Kündi- Hamburger Versorgungsamt geleitet und weiß, wovon gung aufgrund dieser langen gesundheitsbedingten Aus- ich spreche. fallzeiten und Krankschreibungen. Glücklicherweise ge- Es gibt jedoch auch Fälle, in denen dieser Behinde- lang es uns seitens der Aids-Hilfe, im Unternehmen rungsbegriff in Bezug auf chronische Erkrankungen an Personalräte zu finden, die sich für den Kollegen ein- seine Grenzen stößt. Das ist dann der Fall, wenn mit der setzten. So konnten wir gemeinsam eine Kündigung ver- chronischen Erkrankung eine relativ geringe Funktions- hindern. R. wurde versetzt und in einem anderen beeinträchtigung einhergeht, die Erkrankung selbst aber Betriebsteil eingesetzt. Das war in dem großen Unter- in der Gesellschaft besonders stark stigmatisiert wird. nehmen glücklicherweise möglich. In einem kleinen Un- Auch diese Betroffenen müssen vor Diskriminierung ge- ternehmen hätte es mit Sicherheit keine derartige Chance schützt werden. Diesen Schutz gilt es zu verankern, und der Konfliktdämpfung gegeben. Sein altes Team weigert sich bis heute trotz Aufklärung und Gespräch strikt, wei- (B) der Weg dafür ist schon vorgegeben: Es geht uns um (D) eine Weiterentwicklung des Behinderungsbegriffs im ter mit R. zu arbeiten. Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Danach Nun ist mir natürlich bewusst, dass sich durch ein Ge- folgt das AGG einem sozialen Modell und erfasst chro- setz an dieser Haltung der Kollegen gar nichts ändern nische Krankheiten immer dann, wenn sie zu elementa- würde. Und die aktuelle Kampagne der Deutschen Aids- ren Teilhabestörungen führen. In diesen Fällen fallen sie Hilfe und der Bundeszentrale für Gesundheitliche Auf- grundsätzlich unter den Behinderungsbegriff und wer- klärung machen deutlich, wie wichtig es ist, Verhalten den damit durch das jetzige AGG voll erfasst. und Einstellung zu hinterfragen. Denn genau darum geht es: Würde ich mit einem HIV-positiven Kollegen mit- Das AGG ist die Grundlage, um allen Menschen in fahren? Na klar, warum denn nicht? Wenn er pünktlich Deutschland Schutz vor Diskriminierung zu bieten. Für ist? eine echte Kultur der Nichtdiskriminierung – im Alltag und in unseren Köpfen – ist Aufklärung notwendig. Un- Aber rechtlich wäre R. erheblich besser vor Diskrimi- ser Ziel muss am Ende sein: Gewissensfragen sollen von nierung und Mobbing geschützt als zum gegenwärtigen allen in der Gesellschaft im Sinne von Solidarität und Zeitpunkt. Und dies müssen wir erreichen und sicher- Toleranz beantwortet werden. Ohne Unterscheidung zwi- stellen, auch ohne dass ein Bundesarbeitsgericht erst schen Behinderung und chronischer Erkrankung! durch entsprechende Rechtsprechung dafür sorgt, dass vorherige Kündigungen oder andere Diskriminierungen für rechtswidrig erklärt werden. Wenn eine Kündigung Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Meine oder Diskriminierung aufgrund einer gesundheitlichen Fraktion hat Ihnen den Entwurf eines Gesetzes zur Ver- Beeinträchtigung oder einer chronischen Krankheit besserung des Schutzes gegen Diskriminierungen vorge- rechtswidrig ist, dann kann und sollte dies auch in dem legt. Der letzte Auslöser dafür war ein Urteil des Bundes- Gesetz klar und deutlich benannt und geregelt werden, arbeitsgerichts im Zusammenhang mit der Kündigung das dieser Bundestag zum Schutz vor Diskriminierungen gegen einen HIV-infizierten Chemielaboranten. Diesem beschlossen hat – dem Allgemeinen Gleichbehandlungs- jungen Mann war aufgrund seiner HIV-Infektion gekün- gesetz, AGG. Nicht mehr, aber auch nicht weniger schla- digt worden, nachdem sein Arbeitgeber von der Infek- gen wir Ihnen heute vor und werben um Ihre Zustim- tion erfahren hatte. Als er gegen diese Kündigung klagte, mung dafür. verlor er sowohl in der ersten Instanz vor dem Berliner Arbeitsgericht als auch in der zweiten Instanz vor dem Im Übrigen haben wir damit auch eine Forderung der Berliner Landesarbeitsgericht. Erst das Bundesarbeitsge- Antidiskriminierungsstelle des Bundes aufgegriffen, die richt erklärte die Kündigung für rechtswidrig. seit ihrem Bestehen darauf hinweist, dass chronische Er- 7034 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) krankungen ebenso wie Behinderung ausdrücklich im genauso. Leider ist der vorliegende Gesetzentwurf aber (C) AGG benannt werden sollten. Und wenn die Bundesre- dringend überarbeitungsbedürftig. publik es ernst meint mit der Anerkennung der UN-Be- hindertenrechtskonvention, wie sie es mit ihrer Unter- Nachdem die EU dem Übereinkommen der Vereinten schrift bekundet hat, dann muss sie sich auch von ihrem Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinde- bisher eingeschränkten Behindertenbegriff verabschie- rungen beigetreten war, hatte der Europäische Gerichts- den. Denn in dieser UN-Behindertenkonvention heißt es: hof in Luxemburg im April 2013 den Begriff der Behin- „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Men- derung im Sinne des AGG neu definiert. Dem hat sich schen, die langfristige körperliche, seelische, geistige das Bundesarbeitsgericht Ende 2013 angeschlossen. Da- oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in nach stellt eine heilbare oder unheilbare Krankheit eine Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der Behinderung dar, wenn sie die Betroffenen an der vollen vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an und wirksamen Teilhabe am Berufsleben hindert und der Gesellschaft hindern können.“ Dieser Begriff hätte wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist. Mit im AGG benutzt werden müssen. Blick auf die Werbekampagnen für mehr Akzeptanz von HIV-positiven Menschen in dieser Woche, die mit dem Am vergangenen Montag war Welt-Aids-Tag. Eine Welt-Aids-Tag begann, ein richtiger Punkt. Gruppe Abgeordneter aus allen Fraktionen dieses Hau- Das AGG enthält Lücken, die geschlossen werden ses hat gemeinsam mit der Berliner Aids-Hilfe Spenden- müssen. Das haben die Kolleginnen und Kollegen der gelder gesammelt und Rote Schleifen als Zeichen der Linksfraktion erkannt. Ihr Gesetzentwurf ist zweifels- Solidarität mit den Betroffenen verteilt. Das ist ein star- ohne gut gemeint. Leider aber ist er schlecht gemacht. Er kes politisches Signal: Menschen mit HIV und Aids sind führt in das Antidiskriminierungsrecht drei unterschied- uns hier nicht egal. Und es gibt in allen Fraktionen Ver- liche Begriffe ein. Während im Zivilrecht Benachteili- bündete in Sachen Solidarität. Das ist gut so! gung wegen „des Gesundheitszustands“ unzulässig sein Es wäre zu wünschen, dass diese Gemeinsamkeit in sollte, schlagen die Linken vor, im Arbeitsrecht die Be- der tätigen Solidarität auch zu einer Gemeinsamkeit in nachteiligung wegen einer „chronischen Erkrankung“ zu der konkreten politischen Unterstützung für Menschen verbieten, und im Gesetz über Gleichbehandlung der mit chronischer Krankheit oder gesundheitlicher Beein- Soldatinnen und Soldaten wird zusätzlich der Begriff der trächtigung – für Menschen mit HIV und Aids – führen „gesundheitlichen Beeinträchtigung“ benutzt. Ob das ein könnte. Versehen war oder nicht und welche Absicht dahinter- steckt, kann man leider der Begründung nicht entneh- Angesichts der Tatsache, dass es in anderen Mit- men, die fälschlicherweise stets von „Folgeänderungen“ (B) gliedsländern der EU – in Belgien, Finnland, Frankreich, spricht. Eine Linie in einheitlichen Begrifflichkeiten (D) Lettland, Slowenien, Tschechien und Ungarn – einen ge- fehlt völlig. setzlichen Diskriminierungsschutz gibt, der auch den Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist ein Er- Schutz vor Diskriminierungen aufgrund des Gesund- folg der langjährigen Arbeit der grünen Bundestagsfrak- heitszustandes ausdrücklich benennt, sollten wir sofort tion, die unter Rot-Grün die Einführung und Umsetzung aktiv werden und handeln. Auch die Internationale Ar- der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien vorangetrieben beitsorganisation ILO empfiehlt dies ausdrücklich. Groß- hat. Wegen der vorgezogenen Wahlen 2005 ist das Ge- britannien benennt HIV als chronische Krankheit. Und setz erst unter Schwarz-Rot und in einer leider verwäs- Rumänien und Holland benennen chronische Krankhei- serten Version verabschiedet worden. ten als eigenes Diskriminierungsmerkmal. Wie man es also dreht und wendet, eine Verbesserung des gesetzli- Das AGG hat nicht nur die Rechte der Betroffenen, chen Diskriminierungsschutzes ist für chronisch Kranke die Benachteiligungen aus Gründen der ethnischen Her- und Menschen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung kunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschau- mehr als überfällig. ung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität erfahren haben, gestärkt. Vielmehr hat das Ge- setz eine Antidiskriminierungskultur in deutschen Unter- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nehmen etabliert. Zum Wochenanfang warnte Manuel Izdebski von der Deutschen Aids-Hilfe, dass Diskriminierung heute das Dennoch bleibt noch einiges zu tun. Außer der Ver- wichtigste Thema sei, wenn wir von HIV und Aids spre- besserung des Diskriminierungsschutzes müssen fol- chen. Ihm sei es wichtig, deutlich zu machen, dass man gende Punkte noch umgesetzt werden: heute auch mit HIV ein langes und erfülltes Leben füh- ren kann. Diskriminierung mache dagegen das Leben Wir fordern die Einführung des Klagerechts für Anti- schwer und könne tödlich sein. diskriminierungsverbände. Wir müssen Sanktionen verschärfen, damit sie – wie Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion ha- in der europäischen Vorgabe vorgesehen – „wirksam, ben mit ihrem Gesetzentwurf zur Verbesserung des verhältnismäßig und abschreckend“ sind, und wir müs- Schutzes gegen Diskriminierungen aufgrund des Ge- sen die Fristen für Geltendmachung der Ansprüche aus sundheitszustands ein richtiges Problem erkannt, da es dem AGG verlängern. auch HIV-positive Menschen einschließt. Der Diskrimi- nierungsschutz für chronisch erkrankte Menschen muss Außerdem sollten wir die Chance nutzen und über die verbessert werden; das sehen Bündnis 90/Die Grünen Aufnahme weiterer Diskriminierungsmerkmale nachden- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7035

(A) ken, beispielsweise beim Familienstand und der Kinder- Vielmehr ging es uns darum, für den Bereich der Presse (C) zahl, was beides jeweils zum Nachteil im Bewerbungsver- einen ordnungspolitischen Rahmen im Internet herzu- fahren ausgelegt werden kann und zweifelsohne dann stellen. Mit diesem Gesetz haben wir eine seinerzeit be- eine Diskriminierung darstellen würde. stehende Schutzlücke im Urheberrecht geschlossen und die technisch-organisatorischen Leistungen der Presse- Last, not least muss die Ausnahmeklausel der Kirchen verleger auch für den digitalen Markt anerkannt. Leis- explizit nur auf den Kernbereich der Glaubensverkün- dung beschränkt werden. tungsschutzrechte sind dabei keineswegs eine Neuerfin- dung, sondern fast so alt wie das Urheberrecht selbst. Wir sind beim Antidiskriminierungsschutz auf halber Strecke stehen geblieben. Es ist Zeit für einen neuen Die ordnungspolitische Rahmensetzung haben wir Schwung. Für ein Berichterstattergespräch stehen wir also mit der Einführung des Leistungsschutzrechts für gerne zur Verfügung. Presseverlage begonnen. Vor allem war auch Kern des Gesetzes, was derzeit Gegenstand der eher kartellrechtli- chen Debatten ist: ein Gleichgewicht zwischen Beteilig- Anlage 5 ten eines Marktes herzustellen, der bislang weitestge- hend unreguliert ist. Zu Protokoll gegebene Reden Die parlamentarische Opposition schlägt im vorlie- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Achten Gesetzes zur Änderung genden Gesetzentwurf nunmehr die Aufhebung des ge- des Urheberrechtsgesetzes (Leistungsschutz- nannten Gesetzes vor. Detailliert wird in der Problembe- rechtsaufhebungsgesetz – LSR-AufhG) (Tages- schreibung der bisherige Verlauf der Entwicklungen seit ordnungspunkt 18) dem Inkrafttreten des Gesetzes beschrieben. Genau darin liegt das Problem des Gesetzentwurfs: Nicht nur das Ur- heberrecht, sondern jedwede abstrakt-generelle gesetzli- Ansgar Heveling (CDU/CSU): Derzeit ist einer der che Regelung besteht seit jeher auch aus unbestimmten meistdiskutierten Beiträge zum breiten Themenkomplex Rechtsbegriffen, die üblicherweise durch die Rechtspre- Google der Gastbeitrag von Jeff Jarvis in der Zeit. Las- chung ausgelegt und konturiert werden. Insofern läuft sen Sie mich daraus ein Zitat herausgreifen: „So sehr derzeit das vollkommen übliche Verfahren: dass die Dr. Döpfner Google auch fürchten mag: Erstaunlicher- Wahrnehmung und Durchsetzung der Leistungsschutz- weise verhält sich gerade Google oft wie ein scheues, rechte einer Verwertungsgesellschaft übertragen wurden verschrecktes Tier.“ und diese dem Deutschen Patent- und Markenamt einen Erstaunlich, dass Google, dessen Suchmaschine allein aufgestellten Tarif zur Prüfung vorgelegt hat. Auch das (B) (D) in Deutschland bereits einen Marktanteil von rund zivilrechtliche Vorgehen der VG Media bei der Schieds- 96 Prozent erreicht, von Herrn Jarvis hier als „scheu“ stelle des Patent- und Markenamts ist daher nicht unüb- und „verschreckt“ charakterisiert wird. Vor zwei Jahren, lich. Und wahrscheinlich wird nach der Schiedsstellen- als die Einführung eines Leistungsschutzrechts für die entscheidung auch der gesamte weitere zivilrechtliche Presseverlage heiß diskutiert und vom Bundestag be- Instanzenweg ausgeschöpft werden. Insofern hat die schlossen wurde, war ich mitten im Geschehen, und ich Wahrnehmung des Leistungsschutzrechts für Pressever- muss sagen, dass mir in dieser Debatte keiner der Betei- lage gerade erst begonnen. Da das Recht bisher nicht ligten als verhalten, scheu oder vorsichtig begegnet ist – durchgesetzt werden konnte, können weder zulässige nicht die Verlage, am allerwenigsten jedoch Google Snippetlängen benannt noch Urheber an zu erwartenden selbst. Einnahmen beteiligt werden. Um noch eine Bemerkung zu dem zitierten Beitrag Schließen möchte ich ebenfalls mit einem Zitat, und von Jeff Jarvis anzufügen: Es ist erstaunlich, wie wenig zwar aus dem vorliegenden Gesetzentwurf: Es sei „nach er Politikern und ihrem Einfluss offenbar zutraut. Die wie vor nicht nachvollziehbar, was genau geschützt wer- Resolution des Europäischen Parlaments, die in der ver- den soll und weshalb“. gangenen Woche verabschiedet wurde, hat zwar keine bindende Funktion, wie mehrfach betont wurde. Den- Zu diesen Fragen ist zu empfehlen, den Text des Ur- noch zeigt die Debatte um und über diese Resolution, heberrechtsgesetzes, namentlich den § 87 f, nachzulesen. dass Parlamentarier als demokratisch legitimierte Ent- Im Übrigen füllen sich die Ergebnislisten von Suchma- scheider Akzente setzen, Debatten anstoßen und Ent- schinen, anders als es der Gesetzentwurf annimmt, nicht scheidungslinien für ihre jeweilige Exekutive vorzeich- von selbst. Hinter griffigen Überschriften sowie Inte- nen können. resse weckenden Textanreißern stecken die geistigen Die Debatte über die Marktmacht von Google ist je- Leistungen von Redakteurinnen und Redakteuren doch nur die eine Seite. Die andere Seite betrifft das Ur- ebenso wie die technisch-organisatorischen Leistungen heberrecht und damit den Schutz geistigen Eigentums der Verlage, die die Inhalte auf ihren Internetseiten ent- allgemein. sprechend aufbereiten. Bei der Einführung des Leistungsschutzrechts für Daher stehen wir nach wie vor zur Einführung des Presseverlage, das im August vergangenen Jahres in Leistungsschutzrechts für Presseverlage und werden die Kraft getreten ist, ging es eben gerade nicht um ein Ge- weiteren Entwicklungen der Wahrnehmung und Durch- setz zur Regulierung eines einzelnen Unternehmens. setzung des Gesetzes mit großem Interesse verfolgen. 7036 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Michael Frieser (CDU/CSU): Das Leistungsschutz- – gerade in Fragen der angemessenen urheberrechtlichen (C) recht für Presseverleger hat uns bereits intensiv in der Vergütung – oftmals überhandzunehmen. vergangenen Legislaturperiode beschäftigt, und offen- sichtlich können die Kolleginnen und Kollegen aus den Wie Sie angesichts des von mir geschilderten Sach- Oppositionsfraktionen gar nicht genug davon bekom- verhalts erkennen können, besteht derzeit kein Grund, men. Schließlich haben sie seit Beginn der neuen Legis- als Gesetzgeber erneut tätig zu werden. laturperiode schon wieder mehrere Anfragen zu diesem Angesichts dessen, dass es noch keine rechtsverbind- Thema an die Bundesregierung gestellt. Ein weiterer Be- liche Entscheidung durch das Deutsche Patent- und Mar- weis für ihre Ungeduld ist der heute zu debattierende kenamt gibt, kann es selbstverständlich auch noch keine Antrag, der eine Abschaffung des Leistungsschutzrechts abschließenden Regelungen dazu geben, wie, und vor al- für Presseverleger beinhaltet. Dabei sind seit dem In- lem in welcher Höhe, die Urheberinnen und Urheber von krafttreten gerade einmal 16 Monate vergangen. den möglichen Einnahmen aus dem Leistungsschutz- recht profitieren werden. Auch die immer wieder zitierte Nach der intensiven Diskussion vor der Verabschie- „Verwirrung“ bei den betroffenen Unternehmen vermag dung des Leistungsschutzrechts in der vergangenen Le- ich angesichts des eingeschlagenen Weges durch die VG gislaturperiode war zudem allen Beteiligten klar, dass es Media nicht nachzuvollziehen. Da es sich bei dem Leis- nicht bereits mit dem oder unmittelbar nach dem Inkraft- tungsschutzrecht für Presseverleger um eine neue treten des Gesetzes zu schnellen Lizenzverträgen zwi- Rechtsmaterie handelt, ist es keinesfalls ungewöhnlich, schen den Presseverlegern und den Nutzern ihrer Ange- dass im Rahmen der Regelung auch auf unbestimmte bote kommen würde. Schließlich mussten sich beide Rechtsbegriffe zurückgegriffen wurde. Falls diese in der Seiten zunächst auf den neu geschaffenen Rechtsrahmen Praxis tatsächlich in der Auslegung zwischen den betrof- einstellen und orientieren. fenen Marktteilnehmern streitig werden sollten, was der- Dies haben sie – im Gegensatz zu der Darstellung in zeit meines Erachtens noch nicht erkennbar ist, ist in die- Ihrem Antrag – auch gemacht. Mehrere große Verlage sen Fällen die Rechtsprechung gefordert. Auch dies ist haben sich in der VG Media zusammengeschlossen, um weder etwas Besonderes noch gar etwas Verwerfliches. zukünftig ihr vom Gesetzgeber zugewiesenes Recht ge- Nach alledem, auch nach der gestrigen Sachverständi- genüber Nutzern ihrer Erzeugnisse geltend machen zu genanhörung im Ausschuss Digitale Agenda, scheint mir können. der wahre Grund für Ihren Antrag nicht die Entwicklung In der Folge hat die VG Media im Juni 2014 nach den in den vergangenen Monaten zu sein, sondern die bereits Vorgaben des Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes ei- in der letzten Legislaturperiode vertretene Auffassung, nen Tarif über die Vergütung für die öffentliche Zugäng- dass es eines Leistungsschutzrechts für Presseverleger (B) lichmachung von Ausschnitten aus Onlinepresseerzeug- nicht bedarf. (D) nissen zu gewerblichen Zwecken gemäß § 87 f Absatz 1 Mit dieser Meinung stehen Sie sicher nicht allein, Satz 1 UrhG veröffentlicht und diesem dem Deutschen aber Sie müssen eben auch akzeptieren, dass die Mehr- Patent- und Markenamt zur Prüfung vorgelegt. So wie heit des Deutschen Bundestages dies bereits in der ver- dies in der Vergangenheit übrigens auch andere Verwer- gangenen Legislaturperiode aus anderen Gründen anders tungsgesellschaften – wie beispielsweise die VG Wort gesehen hat und ein vollständiger Meinungsumschwung oder die GEMA – in vergleichbaren Situationen bereits angesichts der derzeitigen tatsächlichen Entwicklung gemacht haben. auch nicht erkennbar ist. Im Gegenteil, die jüngsten Ent- Der Tarif liegt seitdem der Staatsaufsicht über die wicklungen auf europäischer Ebene bestätigen sogar un- Verwertungsgesellschaften beim Deutschen Patent- und sere damalige Entscheidung. Markenamt vor und wird dort derzeit am Maßstab des Spanien hat Ende Oktober 2014 ebenfalls eine gesetz- Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes überprüft. Die zwi- liche Regelung zum Schutz der Presseverleger erlassen, schenzeitlich von einigen Verlagen unter Widerruf er- und der neue EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und teilte Nutzungserlaubnis für einige Suchmaschinen, un- Gesellschaft, Günther Oettinger, hat in einem Interview entgeltlich auf veröffentlichte Texte zuzugreifen, berührt gegenüber dem Handelsblatt am 28. Oktober ausgeführt, das laufende Verfahren eben gerade nicht. dass er nicht nur eine Modernisierung des Urheberrechts Mit einer Entscheidung durch das Deutsche Patent- beabsichtige, sondern dass Teil dieser Modernisierung und Markenamt ist im kommenden Jahr zu rechnen. auch die Einführung einer Abgabe für intellektuelle Dies mag zwar Ihren Bogen der Geduld überspannen, ist Werte sein müsse, wenn diese bezogen und weiterverar- aber angesichts der rechtlichen Vorgaben und der derzei- beitet würden. tigen personellen Ausstattung beim Deutschen Patent- Wir sollten daher am bisherigen Plan festhalten und und Markenamt zumindest derzeit noch die Realität. zunächst die im Koalitionsvertrag vereinbarte Evaluie- Ich sage bewusst „derzeit“, denn wir beabsichtigen, rung des Leistungsschutzrechts abwarten, bevor wir er- das Verfahren vor dem Deutschen Patent- und Marken- neut als Gesetzgeber tätig werden. amt zu beschleunigen. Eine entsprechende Initiative werden wir im nächsten Jahr vorstellen. Ich würde mich Christian Flisek (SPD): Im gestrigen Fachgespräch freuen, wenn diese dann auch mit der Unterstützung der des Ausschusses Digitale Agenda zum Urheberrecht Opposition vom Deutschen Bundestag beschlossen wer- wurde eines sehr deutlich und die Bewertungen der den könnte. Schließlich scheint die Ungeduld bei Ihnen Sachverständigen dazu waren einstimmig: Alle plädier- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7037

(A) ten für eine Überprüfung, gar für eine Abschaffung des um sich besser gegen die unstrittig vorkommenden Ur- (C) Leistungsschutzrechtes für Presseverleger, und zwar in heberrechtsverletzungen wehren zu können. der Form, wie es in der letzten Legislatur verabschiedet wurde. Nach gerade einem Jahr kommen die Wissen- Es muss jedoch in einer Demokratie das Interesse be- schaftler zu dem klaren Urteil, diese Gesetzesänderung stehen, eine freie Verbreitung von Nachrichten und Be- sei „kurzatmig und lobbygetrieben“. Das bestärkt mich richten zu ermöglichen. Deshalb muss kritisch hinter- als Berichterstatter meiner Fraktion für das Urheber- fragt werden, inwieweit, „kleine“ bis „kleinste“ Teile recht, hier zukünftig tätig zu werden. Ich sage es ganz – gar einzelne Wörter – eines Presseerzeugnisses unter klar: Wir benötigen eine zeitnahe Evaluierung, um zu ei- den urheberechtlich schutzwürdigen Bereich fallen. ner Lösung der offensichtlichen Probleme zu kommen. Die in den Begründungen erwähnten Ziele des im Fe- Und dies ist ganz im Sinne unseres Koalitionsvertrages. bruar 2013 verabschiedeten Gesetzes zum urheberrecht- Bereits zu Beginn gab es an der Idee, einen gesonder- lichen Schutz der Presseverleger, nicht den Informa- ten Schutz für presseverlegerische Leistungen auch für tionsfluss im Internet behindern zu wollen, wurden „kleine“ und „kleinste“ Textausschnitte zu gewähren, durch die aktuellen Entwicklungen gar ausgehöhlt. viel Kritik aus den verschiedenen Fachrichtungen. Wis- Es scheint, dass durch die Auslistung der VG Media senschaftler wie Rechtsgelehrte waren sich bereits wei- angehöriger Verlage auf Plattformen von Telekom und testgehend darin einig, dass die nun bestehende Norm Anbietern wie 1&1, zu welchen beispielsweise beliebte des Leistungsschutzrechtes bezüglich ihres Wirkungs- kostenlose E-Mail-Plattformen wie GMX und web.de grades und ihrer rechtlichen Durchsetzbarkeit höchst kri- gehören, diese Presseverleger einen erheblichen Scha- tisch zu betrachten sei. den erleiden; denn die Zugriffe, der sogenannte „traffic“, Das aktuell bestehende Leistungsschutzrecht für Pres- sind seitdem auf diesen Seiten bis zu 80 Prozent rückläu- severleger schützt weder die journalistische Qualität fig. Somit könnte man schlussfolgern, dass sowohl das noch kleine Verlage vor deren Sterben. So ist die damals eingeführte Leistungsschutzrecht als auch die Klage der eingebrachte Begründung auch heute noch dahin gehend VG Media ihren Mitgliedern bisher mehr Schaden als fragwürdig, welche Elemente des bestehenden Leis- Nutzen eingebracht hat. tungsschutzrechts tatsächlich zu einer qualitativ hoch- Deshalb sage ich hier nochmals: Lassen Sie uns das wertigeren Arbeit im redaktionellen Bereich beitragen Leistungsschutzrecht für Presseverleger zuerst zeitnah könnten. evaluieren und dann gemeinsam eine vernünftige Lö- An dieser Stelle möchte ich gerne anfügen, dass die sung finden; dies entspricht auch den Vereinbarungen von uns, der SPD-Fraktion, zur Einführung dieses Geset- unseres Koalitionsvertrages. Der Antrag von den Linken (B) zes geforderten Bestimmungen, was „Teile“, „kleine und Bündnis 90/Die Grünen kommt dabei etwas zu früh (D) Teile“ und „kleinste“ Teile von Presserzeugnissen seien, in die Diskussion und in die sich anschließenden Aus- nach wie vor fehlen. Auch diese Pflichtvergessenheit ist schussberatungen. einer positiven Bewertung dieses Gesetzes nicht zuträg- lich. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Das in der vergan- genen Wahlperiode von der damaligen schwarz-gelben Jedoch möchte ich ein bestehendes Gesetz nicht gänz- Koalition eingeführte Leistungsschutzrecht für Pressever- lich verurteilen, ohne dessen Wirksamkeit tatsächlich leger war, ist und bleibt falsch. Es schafft Rechtsunsi- geprüft zu haben. Deshalb kommt zuvorderst die Geset- cherheit, es ist innovationsfeindlich, und es verbessert zesevaluierung, um dann daraus die notwendigen die Lage von Urheberinnen und Urhebern an keiner Schlüsse zu ziehen. Stelle. Weil das so ist, kann eine im Koalitionsvertrag Es kann jedoch angenommen werden, dass die An- vorgesehene Evaluierung nicht abgewartet werden. Mit wendbarkeit des Leistungsschutzrechtes für Presseverle- dem vorliegenden Gesetzentwurf schlagen die Linke und ger durch die aktuell erteilten Sondergenehmigungen Bündnis 90/Die Grünen vor, das Leistungsschutzrecht eines Großteiles der Verleger an Google, Kurzdarstellun- für Presseverleger aufzuheben. gen ihrer Texterzeugnisse kostenlos zu nutzen und on- Worum geht es eigentlich? Sie alle nutzen Suchma- line zur Verfügung zu stellen, ausgehebelt wurde. Es gibt schinen. Wenn Sie nicht nach etwas Bestimmtem su- nicht wenige Menschen, die sprechen hier von einem chen, sondern sich einen Überblick über aktuelle Ereig- Offenbarungseid. nisse verschaffen wollen, dann nutzen Sie sogenannte Nicht nur als Mitglied im Rechtsausschuss, sondern Newsaggregatoren, Internetseiten also, die Artikel von auch als Existenzgründungsbeauftragter meiner Frak- Nachrichtenseiten sammeln und sortieren. Im Regelfall tion, beschäftigt mich die Frage der Sinnhaftigkeit dieses – Sie kennen das alle – sehen Sie auf diesen Seiten Über- Gesetzes. So ist beispielsweise in Bezug auf Start-up- schriften und Anrisse von Texten. Vermutlich wählen Unternehmen und innovative Internetfirmen auch zu Sie danach aus, was Sie lesen. prüfen, ob dieses Gesetz gar ein Innovationshemmnis Mit dem Leistungsschutzrecht für Presseverleger darstellt und damit der wirtschaftlichen Entwicklung un- sollte es nun so sein, dass die Newsaggregatoren und seres Landes schadet. Anbieter von Suchmaschinen für die Darstellung der Gleichwohl leugne ich nicht, dass Verwerter geeig- Überschriften und Textanrisse Gebühren an die Verlage nete Gesetzesinstrumente zur Durchsetzung der urheber- zahlen. Wenn nicht gezahlt wird, dann ist eben weniger rechtlichen Schutzrechte für ihre Mitglieder benötigen, zu lesen, zum Beispiel nur Überschriften oder gar nur 7038 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Links oder gar nichts, weil die Artikel von den Verlagen uns ein unsinniges Gesetz abschaffen und uns Gedanken (C) komplett aus der Suchmaschine genommen wurden. Für über ein sinnvolles Urhebervertragsrecht machen. Ein den Nutzer oder die Nutzerin wird dadurch der Wert der innovationsfeindliches Gesetz, das Rechtsunsicherheit Suchergebnisse eingeschränkt, da anhand von Über- schafft, ist ein unsinniges Gesetz. Deshalb kann es auch schriften deutlich schwerer bewertet werden kann, ob aufgehoben werden. ein Artikel relevant ist oder nicht. Darum sollen laut dem Leistungsschutzrecht kleinste Textausschnitte ausge- Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In nommen sein. Doch wie lang ein solcher Textausschnitt Vorbereitung auf diese Debatte habe ich noch einmal die sein darf, ist nicht geklärt und Gegenstand langer Debat- Protokolle der früheren Leistungsschutzrechtsdebatten ten. gelesen. Da findet man manch Spannendes. Zum Bei- Davon profitiert ironischerweise genau der Anbieter spiel dieses Zitat von Montesquieu: „Wenn es nicht not- einer Suchmaschine, dessentwegen das Leistungsschutz- wendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, recht überhaupt erst eingeführt wurde. Ausgerechnet kein Gesetz zu machen.“ Zitiert hat dies Google bekam von den Verlagen, die auf eine Durchset- von der SPD bei der abschließenden Lesung. Heute ist zung des Leistungsschutzrechts bestehen – das sind die geschätzte Kollegin Staatssekretärin im Wirt- längst nicht alle; viele namhafte Verlage verzichten aus schaftsministerium, und mit dem vorliegenden Aufhe- guten Gründen komplett darauf –, einen Freifahrtschein, bungsgesetz verlangen wir von ihr und ihren Kollegen ihre Artikel mit Überschrift und kleinen Textausschnit- der schwarz-roten Koalition genau das, was Montes- ten anzuzeigen – ohne irgendetwas dafür zu bezahlen. quieu sagt: dass ein unnötiges Gesetz wieder rückgän- Offensichtlich hat sich auch hier die Erkenntnis durchge- gig gemacht wird. setzt, dass Google so viele Nutzerinnen und Nutzer auf Wie unsinnig das Leistungsschutzrecht ist, hat die die Seiten der Verlage bringt – und damit bares Geld –, Posse rund um Google und die VG Media bewiesen. dass ein Verzicht auf Textanreißer finanzielle Einbußen Zuletzt haben die meisten der in der VG Media zusam- bedeuten würde. Das könnte damit zusammenhängen, mengeschlossenen Verlage, darunter auch Springer als dass die Zahlen der Nutzer, die Google News auf Seiten Leistungsschutzrechtvorantreiber, entschieden, dass sie des Springer-Verlages führte, um 80 Prozent eingebro- auf Google weiterhin auch mit den Snippets ihrer Texte chen sind, nachdem nur noch Überschriften angezeigt gefunden werden wollen. Warum? Weil sie sonst erheb- wurden. So jammerte zumindest Mathias Döpfner. Das liche Rückgänge ihrer Klickzahlen zu verbuchen hätten. hätte ich ihm auch früher sagen können. Leider scheint Darum haben diese Verlage eine widerrufliche Einwilli- diese Erkenntnis nur für Google zu gelten. Kleinere An- gung an Google erteilt, dass ihre Verlagsinhalte in Snip- bieter von Suchmaschinen oder Newsaggregatoren sol- pets weiterhin wie üblich angezeigt werden dürfen – und (B) len auch weiterhin die Gebühren bezahlen. Das Anti- (D) zwar gratis. Google-Gesetz wird zum Google-Stärkungs-Gesetz. Kleinere Anbieter werden geschwächt. Google wird sich Erinnern wir uns doch noch mal kurz an die Begrün- bedanken. Innovationen bleiben auf der Strecke. Das dung des Leistungsschutzrechts. Damals sagte Günter Ganze klingt zu absurd, um wahr zu sein. Krings von der CDU: „Das Leistungsschutzrecht allein Nun wird oft argumentiert, dass das Leistungsschutz- wird die Pressevielfalt in Deutschland nicht sicherstel- recht verlegerische Leistungen schützen soll. Aber bei len. Aber es ist ein wichtiger Beitrag für den Erhalt einer den Suchmaschinenanbietern und Newsaggregatoren lebendigen Presselandschaft in unserem Land.“ – De- werden kleine Ausschnitte einzelner Artikel angezeigt, batte zum Leistungsschutzrecht, erste Lesung am weder ganze Artikel noch ganze Publikationen. Um 29. November 2012. Ich konstatiere: Das Leistungs- diese lesen zu können, muss man immer noch auf die schutzrecht hat exakt null zum Erhalt der Presseland- Seiten der Verlage. Verlage müssen daher nicht ge- schaft beigetragen. Bisher flossen unseres Wissens nach schützt werden. Geschützt werden muss der unabhän- keine Lizenzgebühren von Suchmaschinen an die gige Journalismus. Es sollte daher vielmehr um den Verlage. Die Aggregatoren wie bei web.de oder Rivva Schutz der Journalistinnen und Journalisten gehen. De- haben etliche Verlagsangebote vorsorglich aussortiert. ren Rechte gegenüber den Nutzerinnen und Nutzern sind Andere stellen Google ihre Snippets wieder gratis zur aber über das Urheberrecht gewahrt. Dazu bedarf es kei- Verfügung. Verdient haben bisher nur Anwälte. Und war nes zusätzlichen Leistungsschutzrechts. Wenn etwas ei- das überraschend? Nein, denn wie Kollegin Zypries in ner Stärkung bedarf, dann die Rechte der Journalistinnen der selben Rede sagte: „Denn ich garantiere Ihnen: Vor und Journalisten gegenüber den Verlagen. Zum Beispiel, allem Gerichte werden sich mit dem Leistungsschutz- indem Total-Buy-out-Verträge deutlich eingeschränkt recht befassen, bevor auch nur irgendein Verlag Geld für werden. Total-Buy-out-Verträge bedeuten, dass der Ur- sein Angebot im Internet bekommt.“ Oder Thomas heber bzw. die Urheberin seine bzw. ihre Rechte an Ver- Oppermann, heute Fraktionsvorsitzender der SPD: „Es werter oder Verlage komplett abtritt, welche das journa- ist ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Rechtsanwälte, listische Werk dann so oft veröffentlichen können, wie und das dürfen wir als Bundestag nicht beschließen.“ sie wollen – ohne den Urheber oder die Urheberin für Oder Kollege Lars Klingbeil, auch von der SPD: „Das jede einzelne Veröffentlichung zu bezahlen. Eine ange- ist eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Anwalts- messene Vergütung wird so mit Sicherheit nicht erreicht. kanzleien. Gerichte müssen nachher klären, wie es mit diesem Leistungsschutzrecht weitergeht. Sie schaffen Hier gibt es also wirklich etwas zu tun. Das Leis- Rechtsunsicherheit, und ich sage Ihnen: Sie verhindern tungsschutzrecht ist dagegen verzichtbar. Also lassen Sie auch Innovationen.“ – Debatte am 1. März 2013. Recht Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7039

(A) hatte und hat er. Es kam die Wahl, das Leistungsschutz- Gerade die derzeitige Finanzpolitik von Bundes- (C) recht blieb, trotz aller Mängel. Lediglich eine Evaluie- minister Wolfgang Schäuble zeigt, dass ein ausgegliche- rung versprach der Koalitionsvertrag. Wir aber geben ner Haushalt auch ohne eine höhere Belastung der Bür- zusammen mit der Linken den Kolleginnen und Kolle- ger möglich ist. gen der SPD die Möglichkeit, eine verpasste Chance doch noch zu nutzen und das Leistungsschutzrecht auf- Die Zahlung der Steuern ist für viele Bürger, aber zuheben. auch mittelständische Betriebe eine große Last. Die Zah- lung von Steuern wird häufig als ein notwendiges Übel Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie müs- angesehen, damit der Staat hiermit viele wichtige Aufga- sen nicht die Suppe auslöffeln, die Ihnen maßgeblich ben finanzieren kann. Wie so oft ist es aber auch hier von der Union eingebrockt wurde. Denn die Union – das eine Frage des Maßes. Deswegen muss gerade in einem muss man klar sagen – war bis auf wenige Abgeordnete sich abkühlenden konjunkturellen Umfeld Rücksicht ge- geschlossen für das Leistungsschutzrecht und hat es re- nommen werden. Zukunftsweisende Politik sollte folg- gelrecht durchs Parlament geprügelt. lich keine Erhöhung der Steuerlast betreiben, sondern muss perspektivisch die Entlastung von Steuern in den Gestern in der Anhörung zum Urheber- und zum Blick nehmen. Leistungsschutzrecht haben ausnahmslos alle Experten, auch die von der Koalition benannten, die Abschaffung Die hohe Steuer- und Abgabenlast führt leider dazu, dass des Leistungsschutzrechts gefordert. Hören wir doch manche versuchen, sich dem Zugriff des Staates zu entzie- mal auf die Fachleute! hen. Das kann durch Steuerhinterziehung – die natürlich nicht entschuldigt werden darf –, aber auch beispielsweise Ich finde, als Mitglieder des Bundestages haben wir durch Wegzug geschehen. Durch Abwanderung fähiger die Pflicht, unsere Arbeit kritisch zu hinterfragen. Wenn und zahlungskräftiger Einwohner und Unternehmen ent- etwas so offensichtlich schiefläuft wie das Leistungs- steht ein nicht zu unterschätzender kurz- und langfristi- schutzrecht, ist es keine Schande, einen Fehler zuzuge- ben und zu korrigieren. Es wäre aber eine Schande, trotz ger volkswirtschaftlicher Schaden. Das zeigt, dass wir, besseren Wissens weiterzumachen wie bisher. Es ist die wir den Bürgern die Steuern auferlegen, bei aller ganz einfach: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf von Notwendigkeit des wirksamen Eintreibens von Steuern Linken und uns zu – oder legen Sie einen eigenen zur auch immer wieder hinterfragen sollten, ob die Belas- Abschaffung des Gesetzes vor. Sie haben über die Weih- tung angemessen ist. nachtspause Zeit, sich darüber Gedanken zu machen und Hier geht es bei weitem nicht nur um die Höhe der sich einen Ruck zu geben. Belastung, die – ich habe es erwähnt – perspektivisch (B) moderat sinken sollte. Es geht auch darum, dass der (D) Steuermoral der Bürger und Unternehmen eine Besteue- Anlage 6 rungsmoral des Staates gegenüberstehen muss. Das heißt, der Staat muss ein verlässlicher Partner sein. Er Zu Protokoll gegebene Reden muss Rechtssicherheit, Kontinuität und Planbarkeit so zur Beratung: weit wie möglich sicherstellen. – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Hier komme ich wieder zum vorliegenden Gesetzent- Abgabenordnung und des Einführungsge- wurf. Er kommt nämlich beidem zugute: Auf der einen setzes zur Abgabenordnung Seite hält er die Bürger zu mehr Steuermoral an. Auf der anderen Seite soll er dazu dienen, dass der Fiskus ein – Antrag: Straffreiheit bei Steuerhinterzie- verlässlicherer Partner der Steuerbürger ist. hung durch Selbstanzeige abschaffen Mehr Steuermoral wird dadurch entstehen, dass (Tagesordnungspunkt 20) Selbstanzeigen nicht nur schwieriger, sondern auch deut- lich teurer werden. Ein Taktieren mit dem Entdeckungs- Bettina Kudla (CDU/CSU): Das vorliegende Gesetz risiko wird es nicht mehr geben. Dies gilt umso mehr in ist ein wichtiger Eckpfeiler in der Absicht der Koalition, Verbindung mit dem hoffentlich bald reibungslos funktio- die Steuerhinterziehung wirksamer zu bekämpfen. Die nierenden automatischen Informationsaustausch zahlrei- Grundaussage ist klar: Für Steuerunehrliche wird es cher Staaten. Der Anreiz, mutwillig Steuern zu hinterzie- deutlich teurer, für Steuerehrliche schaffen wir mehr hen, sinkt noch weiter. Damit wird auch die Akzeptanz Rechtssicherheit. der Steuerlast bei den ehrlichen Steuerzahlern, die die deutliche Mehrheit stellen, erhöht. Sie sehen: Unsoziales Für die CDU/CSU-Fraktion muss eine gute Finanz- Verhalten lohnt sich nicht. politik immer dreierlei beachten: Erstens gilt es, für ei- nen ausgeglichenen Haushalt zu sorgen – dies verlangt Auf der anderen Seite bleibt aber die Selbstanzeige nicht die wirtschaftliche Vernunft, sondern allein schon als Instrument des Steuerstrafrechts bestehen. Die Hand die Schuldenbremse des Grundgesetzes von uns. Zwei- des Staates bleibt ausgestreckt. Wer Steuern hinterzogen tens darf die Belastung für die Bürger nicht zu hoch sein. hat, kann nach wie vor in die Legalität zurückkehren und Drittens ist dafür zu sorgen, dass die Steuergesetze auch damit Straffreiheit oder zumindest ein Absehen von eingehalten werden, Steuerhinterziehung also wirksam Strafverfolgung erreichen, wenn er den fälligen Preis bekämpft wird. hierfür zahlt. 7040 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Außerdem, mindestens ebenso wichtig, wird im un- Abstand von Jahren Steueramnestien auszurufen, die (C) ternehmerischen Bereich Rechtssicherheit wiederherge- ohne jede Gegenleistung gewährt werden. stellt. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ist vorgese- Zu weitgehende Wirkungen des Schwarzgeldbekämp- hen, den Betrag bis zu dem eine Steuerhinterziehung fungsgesetzes von 2011, insbesondere im Bereich der ohne Zahlung eines zusätzlichen Geldbetrages straffrei Umsatz- und Lohnsteueranmeldungen, werden korri- bleibt, von 50 000 Euro auf 25 000 Euro zu reduzieren. giert. Fehler in der Buchhaltung sind keine kriminellen Ferner ist der Zuschlag zukünftig vom Volumen der ver- Handlungen. Hier zeigen wir ganz klar: Wir haben die kürzten Steuer abhängig. Auch die Zinsen müssen nun Praxis im Blick. Wir sind bereit, uns auch zu korrigieren, nachgezahlt worden sein, wenn die strafbefreiende Wir- wenn sich bestimmte Regelungen als unpraktikabel er- kung eintreten soll. Der Zeitraum für nicht erklärte aus- wiesen haben. Die Berichterstattergespräche habe ich als ländische Kapitalerträge wird erweitert und durch die sehr konstruktiv empfunden. Wichtig war, dass wir in Anlaufhemmung sichergestellt, dass niemand mehr da- der abschließenden Ausschussberatung noch einmal ver- rauf vertrauen kann, im Nachgang nicht mehr belangt zu deutlicht haben, dass wir seitens des Bundesfinanzminis- werden, wenn er sein Geld in Ländern „parkt“, die nicht teriums in Abstimmung mit den Finanzbehörden der dem Informationsaustausch angeschlossen sind. Länder eine Verwaltungsanweisung erbitten, die die Ab- Dass wir hier mit Augenmaß vorgegangen sind, zeigt grenzung von einer reinen Berichtigung nach § 153 AO der Umstand, dass wir Verwerfungen, die mit dem zur Selbstanzeige klarstellt. Schwarzgeldbekämpfungsgesetz eingetreten sind, lösen konnten. Durch die wieder eingeführte Möglichkeit der Uwe Feiler (CDU/CSU): Nach einer anfangs hefti- Teilselbstanzeige für die Umsatzsteuervoranmeldung gen und kontroversen Debatte beraten wir heute ab- und Lohnsteueranmeldung sind Korrekturen möglich, schließend über einen Entwurf, der es meines Erachtens ohne strafrechtliche Konsequenzen befürchten zu müs- verdient hat, als gut und ausgewogen bezeichnet zu wer- sen. den. Mit dem Verzicht auf die Ausdehnung der strafrecht- In vielen gemeinsamen Gesprächen – sei es unter den lichen Verjährung ist den Bedenken des Bundesjustizmi- Berichterstattern oder auch im Nachgang zur öffentli- nisteriums Rechnung getragen worden, um die Fristen chen Anhörung – ist es in guter und enger Zusammen- mit ähnlich gelagerten Delikten zu synchronisieren. arbeit mit dem BMF gelungen, einen Gesetzentwurf zu Abschließend darf ich mich für die gute Zusammen- erarbeiten, der das bewährte Mittel der strafbefreienden arbeit mit dem BMF und den Kollegen und das Engage- (B) Selbstanzeige sowie die Möglichkeit des Absehens von ment meiner Kollegin Kudla bedanken. (D) Verfolgung in besonderen Fällen beibehält und gleich- zeitig den deutlich geäußerten Wunsch nach Verschär- fung aufnimmt. Andreas Schwarz (SPD): Heute schließen wir eine monatelange Debatte ab, an deren Ende ein großer Er- Im politischen Raum gibt es Stimmen – leider auch folg steht: die deutliche Verschärfung der strafbefreien- vom Finanzminister meines Heimatbundeslandes Bran- den Selbstanzeige – ein großer Erfolg für all diejenigen, denburg –, die in einem Reflex auf die öffentliche De- denen das Gemeinwohl am Herzen liegt. batte zu bekannt gewordenen Einzelfällen die Abschaf- Von Beginn an haben Bund und Länder an einem fung dieses seit fast 100 Jahren bewährten Mittels der Strang gezogen: Steuerbetrug muss konsequenter und Finanzbehörden fordern. Hierbei wird verkannt, dass wir härter bestraft werden. So ist es! Deshalb haben wir als in keinem anderen Rechtsgebiet eine derart umfangrei- SPD-Bundestagsfraktion diesen Gesetzgebungsprozess che Mitwirkung verlangen. Gleichzeitig wird für die auch immer nach Kräften gefördert und unterstützt. Aufdeckung von Steuerstraftaten hochqualifiziertes Per- sonal benötigt, das mit großem Ermittlungsaufwand tätig Wir danken allen Beteiligten aus Bund und Ländern, ist, da im Unterschied zu Diebstählen oder Gewaltver- auch parteiübergreifend, für das Zustandekommen die- brechen die Tat erst im Nachgang aufgedeckt werden ses Gesetzes. Es spricht für den Gesetzentwurf, dass kann und nicht unmittelbar augenscheinlich ist. über SPD und Union hinaus auch grüne Landesministe- rinnen eine so konstruktive Rolle bei der Vorbereitung Ich halte es auch für äußerst fragwürdig, wenn der des Beschlusses der Finanzministerkonferenz im Mai Staat sich dauerhaft sogenannter Steuer-CDs aus zwei- 2014 hatten, der ja die Grundlage für die Erarbeitung des felhaften Quellen bedienen soll. Genau deshalb ist es vorliegenden Gesetzentwurfs darstellt. richtig, dem Steuersünder den Weg zurück in die Ge- meinschaft der ehrlichen Steuerzahler zu eröffnen, als Dabei waren der AG Finanzen der SPD-Bundestags- Staat die hinterzogenen Steuern nebst Zinsen und einem fraktion die nachfolgenden Punkte besonders wichtig: angemessenen Zuschlag zu erhalten und im Umkehr- Ausdehnung des Berichtigungszeitraums von fünf auf schluss unter gewissen Voraussetzungen Straffreiheit zu zehn Jahre; Absenkung der Straffreiheitsgrenze von gewähren. 50 000 auf 25 000 Euro; Erhöhung und Staffelung des Strafzuschlags von bislang 5 Prozent bei 50 000 Euro Für mich war es interessant, in den Gesprächen zu er- Hinterziehungsvolumen auf jetzt 15 Prozent bei fahren, dass nunmehr auch Italien und Frankreich zu die- 100 000 Euro und 20 Prozent ab einer Hinterziehungs- sem Instrument greifen wollen, anstatt im regelmäßigen summe von Millionen Euro; Zahlung der Hinterzie- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7041

(A) hungszinsen ist Wirksamkeitsvoraussetzung der Selbst- dringend zur Sanierung der öffentlichen Infrastruktur, (C) anzeige; Wiedereinführung der Teilselbstanzeige bei den für Schulen, Straßen, Krankenhäuser, gebraucht würde. Anmeldesteuern für Unternehmen. Steuerhinterziehung hat auch erhebliche soziale Aus- Wir haben eine gemeinsame Botschaft an all diejeni- wirkungen. Bei ungleicher Verteilung des Wohlstandes gen, die ihr Geld immer noch an der Steuer vorbei ins in einem Land und einer Gesellschaft, wie es in der Bun- Ausland schaffen und weiter mit Steuerhinterziehung ihr desrepublik mehr und mehr der Fall ist, verstärkt Steuer- Glück versuchen: Das Netz zum Durchschlüpfen wird hinterziehung auch soziale Spannungen. Häufig ist es immer engmaschiger. nämlich eine finanziell ohnehin privilegierte Ober- schicht, sind es die Reichen und Superreichen, die durch Deshalb offenbaren sich auch immer mehr Steuerbe- Steuerhinterziehung ihre üppigen Pfründe dem Zugriff trüger den Steuerbehörden. Damit ist dieses Gesetz be- der Allgemeinheit vorenthalten wollen. reits vor seiner Verabschiedung überaus erfolgreich, wo- bei die Reue wohl eher der Aussicht auf deutlich höhere Uns muss doch allen klar sein: An dieser Stelle fragt Strafzinsen oder gar eine Haftstrafe geschuldet ist und sich der Großteil der Bevölkerung, die vielen ehrlichen nicht der wiedergewonnenen Einsicht, dem Staat die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, stets, warum sie ei- Finanzmittel zuzuführen, die ihm zustehen und die er für gentlich die Hauptlast der Finanzierung unseres Landes die Erfüllung seiner Aufgaben braucht. tragen müssen, während diejenigen, die in Reichtum schwelgen, diesen auch noch mehr oder weniger unbe- Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes lehnen wir helligt am Fiskus vorbeischleusen können. uns keinesfalls selbstzufrieden zurück nach dem Motto: Ein gutes nationales Gesetz reicht uns jetzt erst einmal. – Deswegen ist es richtig und wichtig, dass in den letz- Nein, im Gegenteil! Unseren Kampf gegen Steuerhinter- ten Jahren über die Fälle eines bekannten Fußballvereins- ziehung setzen wir auf allen Ebenen konsequent fort. präsidenten und einer bekannten Frauenrechtlerin ein Die Steueroasen werden weiter ausgetrocknet. Beim Da- Umdenken begonnen zu haben scheint, dessen Auswir- tenaustausch kommen wir sowohl auf europäischer als kungen wir nun auch im vorliegenden Gesetzentwurf auch auf globaler Ebene immer weiter voran, und zwar und in einer nach 2011 erneuten Verschärfung der Rege- in einem Maße, wie es sich vor einem Jahr nur ganz we- lungen zur strafbefreienden Selbstanzeige sehen können. nige hätten vorstellen können. Da es die Option der strafbefreienden Selbstanzeige Die Bundesregierung kann sich bei ihren Bemühungen allerdings nur für den Bereich der Steuerhinterziehung um weitere internationale Erfolge im Kampf gegen Steu- gibt, stellt sie letztlich immer noch eine strafrechtliche erbetrug und -vermeidung weiterhin voll auf die SPD- Privilegierung von Steuerkriminellen dar. Einfache Be- (B) Bundestagsfraktion verlassen. Dieses Gesetzgebungsver- trüger, die nicht zuerst den Staat, sondern ihre Mitmen- (D) fahren verlief so erfolgreich, dass wir sogar eine parla- schen direkt schädigen, haben diese Option nicht. Die mentarische Regel verletzen mussten: Dieser Gesetzent- Fraktion Die Linke stellt daher heute auch ihren Antrag wurf verlässt den Bundestag genauso, wie er hineinkam. zur Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige zur Das Struck’sche Gesetz kam hier also nicht zur Anwen- Abstimmung. dung. Der Gesetzentwurf war einfach zu überzeugend. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt ihn einhellig. Zu diesem Schritt konnten Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, sich nicht durchringen. Ich komme zum Schluss. Persönlich möchte ich mich Meine Fraktion wird Ihrem Entwurf daher auch letztlich vor allem bei der zuständigen Berichterstatterin der nicht zustimmen, sondern sich der Stimme enthalten. Unionsfraktion, Frau Kollegin Kudla, herzlich für die Aber ich will Ihnen trotzdem zugutehalten, dass mit der gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit bedanken. geplanten Neuregelung wenigstens eine deutliche Ver- Wir senden heute gemeinsam von dieser Stelle aus ein schärfung der bisherigen Regelungen einhergeht. starkes Signal an alle Steuerbetrüger: Sie haben von Hervorzuheben ist hier die deutliche Anhebung und heute an noch knapp drei Wochen Zeit, reinen Tisch zu Staffelung des zu zahlenden Geldbetrages beim Absehen machen und mit der aktuell noch gültigen Regelung von der Strafverfolgung nach § 398 a der Abgabenord- günstiger davonzukommen. Machen Sie davon Ge- nung. Wer Steuern hinterzogen hat, muss hier künftig brauch! tief in den Geldbeutel greifen, um eine strafbefreiende Heute ist ein schwarzer Tag für alle Steuervermeider, Wirkung zu erzielen. -betrüger und -hinterzieher und ein guter Tag für alle Darüber hinaus war es sinnvoll, die Problematik der ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Mit der Umsatzsteuervoranmeldung und der Lohnsteueranmel- Verabschiedung sorgen wir wieder für ein Stück mehr dung gesondert zu berücksichtigen, indem nachträglich Gerechtigkeit in diesem Land. korrigierte oder verspätete Umsatzsteuervoranmeldun- gen und Lohnsteueranmeldungen zukünftig wieder als Richard Pitterle (DIE LINKE): Steuerhinterziehung wirksame Teilselbstanzeige gelten. Für die kleine Unter- gilt für viele Leute immer noch als Kavaliersdelikt, aber nehmerin oder den kleinen Unternehmer herrscht hier- das ist es nicht. Im Gegenteil, Steuerhinterziehung ist durch nun Rechtssicherheit. Sie müssen zum Beispiel hochgradig gemeinschädlich. Sie hat nämlich nicht nur nicht mehr fürchten, bei versehentlich zu niedrig ange- in finanzieller Hinsicht negative Auswirkungen auf Staat setzten Umsatzsteuervoranmeldungen gleich Gefahr zu und Gesellschaft, wenn Geld in den Kassen fehlt, das laufen, wegen Steuerhinterziehung verurteilt zu werden. 7042 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Am Ende müssen wir aber trotz dieser Verschärfun- automatischen internationalen Informationsaustausch (C) gen und Verbesserungen nach wie vor immer noch eines ein wegweisender Durchbruch gewesen. Das vorlie- feststellen: Die Regelung der strafbefreienden Selbst- gende Gesetz hat wiederum zum Ziel, die Kosten der anzeige ist letztlich auch Ausfluss einer Steuerhinterzie- Selbstanzeige wohl zu dosieren. Sie müssen einerseits hungskultur, die sich in dieser Form überhaupt erst aus den Steuerehrlichen finanziell eindeutig besser stellen, ungleicher Verteilung und intransparenter, ineffizienter andererseits müssen sie auch den Hinterziehern einen und teils auch schlicht ungerechter Besteuerung ent- Anreiz bieten, ihr Versteck aufzugeben. Die strafbefrei- wickeln konnte. Hier liegt der eigentliche Kern des Pro- ende Selbstanzeige darf kein wohlkalkulierter Abschrei- blems, und die Fraktion Die Linke wird diese Debatte bungstrick sein, sie muss dem zweifelnden Steuerbetrü- auch weiterhin vorantreiben. ger aber auch einen gangbaren Notausgang anbieten. Was bedeutet das neue Gesetz im Detail für die Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich freue Selbstanzeige? Ich möchte ihnen kurz die einschneidens- mich über dieses Gesetz. Mit der Verschärfung der straf- ten Maßnahmen darstellen: befreienden Selbstanzeige demonstrieren wir die Gestal- tungskraft des Parlaments. Durch die nunmehr hohen Die Grenze zur Selbstanzeige ohne Strafzuschlag Kosten für Steuerhinterzieher begegnen wir dem weit sinkt von 50 000 auf 25 000 Euro. Damit wird die verbreiteten Schicksalsglauben, wonach eine sehr gut Schwelle zur schweren Steuerhinterziehung gesenkt, die verdienende Elite nach ihren eigenen Regeln spielt und ein heftiges Vergehen an der Finanzierung des Gemein- sich dem Zugriff des Gesetzgebers leichtfertig entzieht. wesens ist und zu Recht mit einer Geldstrafe geahndet In diesem Jahr haben bereits über 32 000 Personen eine wird. strafbefreiende Selbstanzeige gestellt. Spätestens mit Der Erklärungszeitraum für eine wirksame Selbstan- den prominenten Fällen der letzten Zeit hat sich der zeige verlängert sich von fünf auf zehn Jahre. Die Steu- Wind gedreht. Steuerhinterziehung belastet zwar weiter erverwaltung hat ein langes Gedächtnis, deswegen ist es die öffentlichen Haushalte, aber sie wird zunehmend sinnvoll, den strafrechtlichen Erklärungszeitraum damit auch zur finanziellen und psychischen Belastung für zu harmonisieren. diejenigen, die sich vor kurzem noch für besonders trickreich und risikofreudig gehalten haben. Es ist ein Die Geldzuschläge auf hinterzogene Steuern werden Ausrufezeichen der demokratischen Kultur, dass wir der kräftig angehoben und deutlich gestaffelt. Wer über Globalisierung des Steuerbetrugs endlich mit der gebote- 25 000 Euro hinterzieht zahlt 10 Prozent zusätzlich, bei nen Konsequenz begegnen. über 100 000 Euro sind es schon 15 Prozent und bei über 1 Million Euro sogar 20 Prozent. Nach wie vor ist uns nicht jedes Auslandskonto deut- (B) (D) scher Staatsbürger bekannt. Dennoch gibt es sehr kon- Das nunmehr größer gewordene Entdeckungsrisiko krete Informationen über den Umfang der hinterzogenen macht neben einer Reform der Selbstanzeige weitere Gelder. Gabriel Zucman, ein Schüler des berühmten Maßnahmen dringend erforderlich. Die Abgeltung- Thomas Piketty, ist zu erstaunlichen Ergebnissen ge- steuer hat ihre Rechtfertigung endgültig verloren. Eine langt. Die Euro-Zone ist weltweit der zweitgrößte Besserstellung von Kapitaleinkünften, die pauschal mit Schuldner, aber nur solange man die Milliarden unbe- 25 Prozent besteuert werden, ist prinzipiell fragwürdig, rücksichtigt lässt, die in Steuersümpfen versunken sind. mit dem verbesserten Informationsaustausch haben ihre Bezieht man dieses Geld in die Zahlungsbilanzen ein, Befürworter nun ihr zentrales Argument eingebüßt. dreht sich das Bild. Vom Schuldner wird die Euro-Zone auf diese Weise zu einem Gläubiger gegenüber dem Rest Nur durch den Widerstand von uns Grünen konnten der Welt. Im Kampf gegen Steuerhinterziehung steht die ursprünglichen Pläne für ein Steuerabkommen mit demnach der Wohlstand Europas auf dem Spiel – er der Schweiz verhindert und Finanzminister Schäuble zu sollte deshalb auch mit dem nötigen Engagement geführt wirkungsvolleren Maßnahmen gedrängt werden. Offen- werden. Um Peer Steinbrück einmal vom Kopf auf die sichtlich hat sich aber noch nicht in der ganzen konser- Füße zu stellen: Aus diesem verborgenen Nix müssen vativen Parteienfamilie rumgesprochen, wie wichtig der Deutschland und die EU endlich eine gerechtes X ma- Erhalt der staatlichen Einnahmebasis ist. Internationale chen. Das nun vorliegende Gesetz leistet einen Beitrag Zahlungsströme sind nicht nur anfällig für Steuerhinter- zu diesem Vorhaben. ziehung, sondern auch für Steuervermeidung. Wie seit kurzem gut dokumentiert ist, hat Luxemburg in der Wie wurde dabei vorgegangen? Die bisherige Syste- Amtszeit von Jean-Claude Juncker großen Konzernen matik der strafbefreienden Selbstanzeige ist im Kern dabei geholfen, ihre Steuerlast teilweise auf unter ein erhalten geblieben, aber die Voraussetzungen für die Prozent zu drücken. Wir müssen diese Entdeckungen als strafbefreiende Wirkung sind verschärft worden. Unver- sehr präzisen Handlungsauftrag begreifen. Neben der zichtbar für den effektiven Kampf gegen Steuerhinter- steuerlichen Strafgesetzgebung müssen wir auch die ziehung ist aber etwas, das nicht in diesem Gesetz steht: Steuerverwaltung neu ordnen. Auf europäischer Ebene Um Steuerhinterzieher überhaupt erst zum Geständnis sind momentan gerade einmal acht Mitarbeiter damit be- zu bewegen, muss es ein ernstzunehmendes Entde- fasst, tausende Deals, die neben Luxemburg auch die ckungsrisiko geben. Wer nicht den Atem des Gesetz- Niederlande und Irland geschlossen haben, daraufhin zu gebers im Nacken spürt, wird kaum als Kronzeuge im ei- prüfen, inwieweit es sich um illegale Beihilfen handelt. genen Verfahren auftreten – deswegen ist das von uns Die EU muss sich hier besser aufstellen und Deutschland Grünen unerbittlich eingeforderte Abkommen für den muss es auch. Wir brauchen eine Steuerverwaltung, die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7043

(A) auf Augenhöhe mit den Konzernen agieren kann. Es geplanten Erhöhung der Beiträge im Strafrechtlichen (C) geht hier um komplexe Geschäfte und weitverzweigte und Beruflichen Rehabilitierungsgesetz angenommen. Geldflüsse. Diese außerordentlichen Finanzbeziehun- Um den Betroffenen pünktlich zum 1. Januar des kom- gen rechtfertigen auch besondere Fahndungsmethoden: menden Jahres einen erhöhten Betrag zu gewährleisten, Eine Spezialeinheit auf Bundesebene muss sich der haben wir uns zu einer zügigen Umsetzung entschlossen. Steuerfälle von international agierenden Konzernen und Denn es ist für uns wichtig, dass unabhängig von ande- extrem reichen Bürgern und Bürgerinnen annehmen. In ren Forderungen, die in diesem Haus vorgetragen wur- ihr kann die Steuerverwaltung besondere Kompetenzen den, die erhöhte „SED-Opferrente“ schnell und unbüro- bündeln. Fachleute aus Steuerberatungsgesellschaften, kratisch mit Beginn des nächsten Jahres auf die Konten der Wissenschaft und der Wirtschaft selbst plus erfah- der Empfänger überwiesen wird. rene Kräfte der bestehenden Verwaltung kommen zu- sammen, um politische Empfehlungen zu entwickeln Das heißt jedoch nicht, dass wir uns den Forderungen und das geltende Steuerrecht international durchzuset- der SED-Opfer verschließen. Im Gegenteil: Wir haben zen. Nur eine solche Spezialeinheit wird den Anforde- uns die Zeit genommen, sowohl Vertreter der Opferver- rungen des weltweiten Geldverkehrs auch gewachsen bände als auch weitere Experten zu diesem Thema in ei- sein. nem Berichterstattergespräch anzuhören. Dies war für uns als CDU/CSU-Fraktion besonders wichtig. Infolge des Berichterstattergesprächs haben wir Anlage 7 uns entschieden, eine Entschließung zum Gesetzent- wurf einzubringen. Darin werden drei wesentliche Zu Protokoll gegebene Reden Punkte der Experten aufgegriffen und an die Bundes- zum Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Verbes- regierung herangetragen: serung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften Zum einen möchten wir, dass die Bundesregierung im für Opfer der politischen Verfolgung in der ehe- Zusammenwirken mit den Ländern das Verfahren dahin maligen DDR (Tagesordnungspunkt 21) gehend erleichtert, dass die Opfer des SED-Regimes die Möglichkeit haben, ihr Anliegen auch mündlich vorzu- Dr. Stefan Heck (CDU/CSU): „Menschlich unzu- tragen. mutbar und rechtsstaatlich unerträglich wäre es, über die Stasiherrschaft einen Mantel des Vergessens zu breiten. Ferner sollen Behörden für die Erstellung von medizi- Recht und Gesetz nehmen ihren Lauf.“ Diese Worte nischen Gutachten auf einen Pool von Ärzten zurück- stammen aus der Ansprache des ehemaligen Bundesprä- greifen können, die im Umgang mit DDR-Häftlingen be- (B) sidenten Richard von Weizsäcker anlässlich des Staats- sonders geschult sind. (D) aktes zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober Und schließlich konnte unsere Fraktion eine Überprü- 1990 in Berlin. Im nächsten Jahr feiern wir den 25. Jah- fung der Frist zu den Rehabilitierungsanträgen durchset- restag dieses Ereignisses. zen, die nach der derzeitigen Rechtslage am 31. Dezem- ber 2019 endet. Mit dieser Überprüfung können wir die Auch nach nun 24 Jahren Wiedervereinigung stellt möglichen Auswirkungen auf die Praxis besser einschät- der Umgang mit den Opfern des SED-Regimes eine zen. Das langfristige Ziel der Unionsfraktion ist es, diese wichtige Säule der Aufarbeitung dar. Aufarbeitung hat Frist endgültig zu streichen. SED-Opfer, die bislang die Pflicht, die Vergangenheit zu verstehen, geschehenes noch nicht in der Lage waren, einen Antrag für das Re- Unrecht zu dokumentieren und den Opfern Gerechtig- habilitierungsverfahren zu stellen, möchten wir damit keit widerfahren zu lassen. Sie soll uns jederzeit das den zeitlichen Druck nehmen. Sie sollen sich die not- Schicksal jener Menschen mahnend vor Augen halten, wendige Zeit nehmen, um ihr persönliches Schicksal die für das Eintreten ihrer elementaren Rechte und für aufzuarbeiten. das Streben nach Freiheit verfolgt wurden. In seiner Rede betonte Richard von Weizsäcker: „Wie Wenn sich alte DDR-Grenzer alljährlich in Branden- gut uns die Einheit menschlich gelingt, das entscheiden burg treffen und dabei SED-Opfer vor laufender Kamera kein Vertrag der Regierungen, keine Verfassung und des Magazins Spiegel TV verhöhnt und verspottet wer- keine Beschlüsse des Gesetzgebers. Das richtet sich den, zeigt mir das, wie sehr wir die weitere Aufarbeitung nach dem Verhalten eines jeden von uns, nach unserer benötigen. Es zeigt mir insbesondere, wie systemtreue eigenen Offenheit und Zuwendung untereinander.“ Kader der SED jene Menschen betrachten, die sich nach einem anderen Leben sehnten. Aus Gründen wie diesem Ich stimme Herrn von Weizsäcker zu. Ich finde, un- haben sich CDU und CSU stets für eine Aufarbeitung sere Aufgabe als Staat ist es, die notwendigen Rahmen- eingesetzt, und sie werden es auch weiterhin tun. Denn bedingungen zu schaffen, um die Einheit unseres Landes wir können und wir dürfen die Gräueltaten der SED nie- voranzutreiben. Das schließt auch die Aussöhnung mit mals als ein „bloßes Ereignis“ in der deutschen Ge- der Vergangenheit mit ein. schichte hinnehmen – insbesondere so lange nicht, wie ewiggestrige Ideologen weiterhin ihre kruden Ansichten Mit dem Gesetzesvorhaben und unserer Entschlie- verbreiten. ßung bewegen wir uns einen weiteren Schritt in die rich- tige Richtung. Den Opfern des überwundenen Regimes Aufgrund der geschichtlichen und rechtsstaatlichen soll damit das Rehabilitierungsverfahren erleichtert wer- Verantwortung haben wir uns der im Koalitionsvertrag den. 7044 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Gemeinsam mit den Erhöhungen der „Opferrente“ maligen Täter und ihre heutigen Parteigänger fordern (C) bilden die aufgegriffenen Punkte ein sehr gutes Paket, unter anderem eine Beweislastumkehr sowie keine Fest- um die Rehabilitierung zu erleichtern und die Aus- legung einer Mindesthaftdauer. Die Forderung nach ei- söhnung mit der DDR-Vergangenheit weiter voranzu- ner Senkung der Mindesthaftdauer auf null hält dem Ver- treiben – das ist und bleibt das Ziel der Fraktion von gleich mit den Wiedergutmachungsleistungen gegenüber CDU und CSU. NS-Opfern nicht stand. Sie sind auch – wie alle ihre Zu- satzforderungen – aus dem Munde der Linkspartei wohl- Arnold Vaatz (CDU/CSU): Im 25. Jahr der friedli- feil und klingen sehr nach „Haltet den Dieb“. Die Links- chen Revolution wollen wir an die Menschen erinnern, partei ist die letzte politische Kraft in Deutschland, die die ihre persönliche Freiheit und ihre Unversehrtheit ge- ein Recht hätte, zu verlangen, dass für das von ihr allein opfert haben, um dem DDR-Regime entgegenzutreten. verursachte Unrecht nun die ganze Gesellschaft aufzu- Es waren nicht materielle Beweggründe, sondern der kommen hätte, und dies in einer Höhe und unter Bedin- Drang nach Freiheit vor Bevormundung, nach Rechts- gungen, die die Linkspartei selbst festlegt. Wenn Sie, staatlichkeit und persönlicher Selbstbestimmung, der die meine Damen und Herren von der Linken, eine Zusatz- Ostdeutschen in Massen gegen die allmächtige Partei leistung aus Ihrem eigenen Vermögen und den Einkom- SED und ihr Unrechtsregime auf die Straße brachte. men Ihrer Mitlieder für die SED-Opfer aufzubringen wünschen, so steht dem nichts entgegen. Aber dies for- Die materiellen Gewinner der deutschen Einheit fin- dern Sie ja gerade nicht. den sich dann eher aufseiten der alten Nomenklatura: Di- Der wirkliche Hintergrund Ihres Antrags scheint auch rektoren und Parteiseilschaften, die ihre materielle und nicht die Sorge um die SED-Opfer zu sein, weil sie die- organisatorische Überlegenheit vielfach in die neue Zeit sen in allen Ihren Verlautbarungen genauso feindselig retten konnten. gegenüberstehen wie zu SED-Zeiten. Nein: Ihr Antrag Mit der Erhöhung der SED-Opferrente wollen wir uns ordnet sich ein in Ihr permanentes Bestreben, diesen heute den Tausenden von Menschen zuwenden, die unter Staat, in den die DDR aufgegangen ist, durch Überforde- dem Unrecht der sowjetischen Besatzungsmacht oder rung zu zerstören, um die Genugtuung zu haben, dass der SED-Herrschaft großes persönliches Leid erlitten ha- nicht nur Ihr Staatsgebilde, sondern auch die verhasste ben. BRD am Ende scheitert. Dem dient auch Ihre Forderung nach einer Beweislastumkehr. Im Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz wird die monatliche Zuwendung für ehemalige Haftopfer der Die Kausalität zwischen schädigendem Ereignis, DDR von maximal 250 Euro auf maximal 300 Euro an- Schädigung und Schädigungsfolge ist bereits jetzt in je- dem Einzelfall gesondert zu prüfen und festzustellen. (B) gehoben. Im Beruflichen Rehabilitierungsgesetz wird (D) die monatliche Zuwendung für Verfolgte, die in der Die Einführung einer Beweislastumkehr wäre ein Präze- DDR berufliche Nachteile erlitten haben, von 184 Euro denzfall, der sich nach und nach auf alle möglichen Fälle auf 214 Euro erhöht, sofern diese Personen in ihrer wirt- von Gemeinschaftshaftung ausdehnen ließe. Sie ist an- schaftlichen Lage heute besonders beeinträchtigt sind. gesichts dieser bestehenden Erleichterungen weder er- Für Verfolgte, die bereits eine Altersrente beziehen, er- forderlich noch vertretbar. Die Kausalität würde nicht höht sich die monatliche Zuwendung von 123 Euro auf mehr im Einzelfall geprüft, sondern für einen bestimm- 153 Euro. Die gesetzliche Regelung soll bereits ab dem ten Personenkreis automatisch unterstellt. Eine solche 1. Januar 2015 in Kraft treten. Unterstellung widerspricht den Erkenntnissen der medi- zinischen Wissenschaft, da jeder Mensch individuell auf Mir ist wohl bewusst, dass die Opferverbände sich schädigende Ereignisse reagiert. Sie würde mit dem Ver- mehr gewünscht hätten. Ich verstehe, dass die Erhöhung zicht auf den Beweis der anspruchsbegründenden Tatsa- der SED-Opferrente von 50 Euro auf 300 Euro viele als chen zudem einen Systembruch innerhalb des Sozialen zu niedrig bemessen ansehen. Gemessen an dem erlitte- Entschädigungsrechts darstellen und zu einer sachlich nen Unrecht ist gar kein Betrag hoch genug; das ist ganz nicht gerechtfertigten Besserstellung von SED-Opfern klar. Aber ich bin davon überzeugt, dass insbesondere gegenüber den anderen Personenkreisen der Sozialen diejenigen, die mit einem geringen Einkommen auskom- Entschädigung – zum Beispiel Kriegsopfer, geschädigte men müssen, diese Erhöhung im Portemonnaie sehr Soldaten und Wehrdienstleistende, Gewaltopfer – füh- wohl spüren. Bei der Erhöhung der SED-Opferrente ha- ren. Außerdem würde dies dem Grundsatz der Rechts- ben wir uns an dem orientiert, was wir für Opfer anderer einheitlichkeit im Sozialen Entschädigungsrecht wider- Diktaturen getan haben. Daraus abgeleitet ergeben sich sprechen, da hier wie im gesamten Sozialrecht die die Mindesthaftzeit von 180 Tagen, die Bedürftigkeits- Grundsätze der objektiven Beweislast gelten. prüfung sowie der Betrag in Höhe von bislang 250 Euro. Als die Wiedergutmachung für NS-Opfer erhöht wurde, Die materielle Verbesserung können wir heute be- haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Erhö- schließen. Aber damit ist es nicht getan. Die SED-Opfer hung der monatlichen Zuwendungen für SED-Opfer im haben darüber hinaus ein Recht der moralischen Würdi- Koalitionsvertrag verankern können, woraus sich nun gung ihres politischen Kampfes gegen das SED-Regime. ein Betrag von 300 Euro im Monat ab dem 1. Januar Meine Damen und Herren von der Linkspartei: Sie sol- 2015 ergibt. len sich wahrlich nicht einbilden, dass Sie sich mit Ihrer wohlfeilen Forderung, mehr Geld auf die Konten der Der Antrag der Linksfraktion ist hingegen blanker SED-Opfer zu überweisen, das Recht erkaufen, mit Ihrer Hohn für die Opfer des SED-Unrechtsregimes. Die ehe- Unrechtsstaatsdebatte, die Sie zur Reinwaschung der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7045

(A) DDR angezettelt haben, den SED-Opfern ins Gesicht Die derzeitige Frist für Anträge endet 2019. Bis dahin (C) spucken zu dürfen. Diese Menschen sind nicht käuflich. werden 30 Jahre seit dem Mauerfall vergangen sein. Dennoch werden bis dahin noch längst nicht alle Stasi- opfer einen Antrag gestellt haben. Deswegen fordern wir Dr. Matthias Bartke (SPD): 1989 waren es massen- die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag haft Menschen, die in den ostdeutschen Städten auf die auf, eine Streichung der Frist in Abstimmung mit den Straße gingen. Und es waren viele Menschen, die der Ländern zu prüfen. SED-Diktatur mutig die Stirn boten und den Fall der Mauer herbeiführten – der Mauer, die die Welt in Ost Die Linke fordert, weitere Opfergruppen einzubezie- und West teilte. hen und die Bedürftigkeitsprüfung abzuschaffen. Wir stimmen Ihnen in diesen Punkten nicht zu. Die von Ih- Anlässlich des 25. Jahrestags des Mauerfalls sollten nen genannten Opfergruppen haben regelhaft die Mög- wieder viele Menschen auf die Straße gehen. Das war lichkeit einer Einzelfallprüfung und des Rückgriffs auf die Idee der Lichtgrenze hier in Berlin. Und es war auch die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge. so. 8 000 weiße, leuchtende Ballons markierten den ehe- maligen Mauerverlauf und stiegen am 9. November in Hinsichtlich der Bedürftigkeit, kann ich nur immer den Himmel auf. Hinter jedem der Ballons steckte auch wieder betonen: Die Ausgleichsleistungen und Zuwen- eine persönliche Geschichte. Was für eine großartige dungen, über die wir hier sprechen, sind nicht beliebig. Symbolkraft! Sie sind für diejenigen gedacht, die die traumatischen Erfahrungen der Haft und der Repression nicht verwun- Anlässlich des 25. Jahrestags des Mauerfalls beschäf- den haben und wirtschaftlich nicht mehr auf die Beine tigen wir uns heute mit den Zuwendungen für Opfer des gekommen sind. SED-Unrechts. Mehr als 45 000 ehemaligen politischen Häftlingen kommt die SED-Opferrente zugute. Hinter Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf würdigen wir dieser Zahl an Menschen steckt jeweils eine ganz per- die Menschen aus der ehemaligen DDR, die Vorkämpfer sönliche Geschichte. waren für Freiheit, Demokratie und für ein vereinigtes Deutschland. Dass wir hierzu einen interfraktionellen Das sind Geschichten von Behinderung im berufli- Konsens haben, ist sehr gut. Und ich will offen gestehen: chen Weiterkommen, Geschichten von Haft und Ernied- Es freut mich besonders, dass die Linke angekündigt hat, rigungen aus politischen Gründen. Mit dem vorliegen- dem Gesetz und der Entschließung zuzustimmen. den Gesetzentwurf werden wir eine Erhöhung der Opferrente für die Menschen einführen, die nach den Stasidrangsalierungen wirtschaftlich nicht mehr auf die Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Die LINKE wird heute dreimal „Ja“ sagen. Sie sagt „Ja“ zum Gesetzent- (B) Beine gekommen sind. Eine Erhöhung im 25. Jahr des (D) Mauerfalls – auch das hat immense Symbolkraft. wurf der Bundesregierung, sie sagt „Ja“ zum Entschlie- ßungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD Die Sachverständigenanhörung in der vergangenen und sie sagt selbstverständlich „Ja“ zu ihrem eigenen Woche war sehr beeindruckend. Sie machte einmal mehr Gesetzentwurf. deutlich, dass erfahrenes Unrecht mit Geld nicht wieder- gutzumachen ist. Die Anhörung hat uns zu dem Ent- Natürlich hätten wir uns gewünscht, die die Regie- schließungsantrag bewegt, der Ihnen vorliegt. Darin ma- rung tragenden Fraktionen nehmen unseren Gesetzent- chen wir deutlich, was uns für die Opfer des SED- wurf, setzen ihren Namen drauf und stimmen dann zu. Unrechts überdies noch wichtig ist. Wir hätten es auch getan. Der Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, ist derjenige, der den Opfern politischer Die Begutachtung in Rehabilitierungsverfahren führt Verfolgung in der DDR am gerechtesten wird. Denn wir bei Opfern immer wieder auch zu Retraumatisierungen. heben unter anderem die Befristung der Antragstellung Das muss vermieden werden. Es darf nicht sein, dass auf, wir beziehen die Opfer von Zersetzungsmaßnahmen Opfern durch Gutachter vollkommen unsensible Fragen in die Regelungen des strafrechtlichen Rehabilitierungs- gestellt werden. Es darf nicht sein, dass je weiter man gesetzes ein und wir stellen klar: Die Leistungen nach nach Westen kommt, desto weniger Verständnis bei den dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz werden nicht Gutachtern vorhanden ist. mit dem Einkommen verrechnet. Opfer mit gesundheitlichen Folgeschäden müssen mit Wir sehen in dem Entschließungsantrag der Fraktio- Sachverstand und Einfühlungsvermögen der Gutachter nen von CDU/CSU und SPD Ansatzpunkte für eine wei- rechnen können. Deswegen verweisen wir im Entschlie- tere Verbesserung der Lage der Opfer politischer Verfol- ßungsantrag auf das Thüringer Modell eines Gutachter- gung in der ehemaligen DDR. Deshalb werden wir pools. In diesem Pool sind besonders geschulte und zer- zustimmen, denn jede Verbesserung wird unsere Zustim- tifizierte Gutachter erfasst. Sie haben Erfahrungen im mung finden. Wir stellen aber fest, dass die Verbesserun- Umgang mit traumatisierten SED-Opfern und wissen um gen vor allem das Verfahren der Prüfung der Ansprüche das Repressionssystem in der ehemaligen DDR. betreffen. Es ist richtig, den Antragstellern und Antrag- stellerinnen auf eigenen Wunsch eine mündliche Anhö- Die emotionale Belastung, die mit einem Antrag auf rung einzuräumen. Es ist richtig, einen Gutachterpool Rehabilitierung verbunden ist, wird jedoch nie gänzlich einzurichten, in welchem besonders geschulte und zerti- zu vermeiden sein. Es gilt daher, den Opfern Zeit zu ge- fizierte Gutachter erfasst werden, und es ist richtig, zu ben, Zeit, sich den eigenen Erfahrungen und dem erleb- prüfen, ob die Befristung der Antragstellung gestrichen ten Leid zu stellen. werden kann. 7046 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Es ist bedauerlich, dass Sie von den Koalitionsfraktio- vertretend seien unsere bis heute aktiven Kollegen (C) nen in Ihrem Entschließungsantrag nicht weiter gehen. Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion und Iris Ich habe bereits darauf verwiesen. Wenn Sie unserem Gleicke für die SPD-Fraktion genannt. Ich möchte aus- Gesetzentwurf nicht zustimmen wollen, weil er von uns drücklich anerkennen, dass sich in der Linksfraktion in kommt, hätten Sie ihn einfach übernehmen können. den letzten Jahren zunehmend eine differenzierte Sicht- Wenn Sie auch das nicht wollen, hätten Sie aber auch in weise auf das DDR-Unrecht eingestellt hat und konkrete dem von Ihnen vorgelegten Entschließungsantrag Forde- weiterführende Vorschläge zur Rehabilitation unterstützt rungen aus unserem Gesetzentwurf aufnehmen können. bzw. unterbreitet wurden. Dies umso mehr, als sich unsere Forderungen mit denen der Opferverbände decken. Für uns hat die Rehabilitierung nicht vornehmlich ei- nen abstrakten symbolischen Wert, sondern ist in jedem Im erweiterten Berichterstattergespräch haben die gewährten Fall eine Anerkennung der je eigenen Verfol- Opferverbände eine Rente ab dem ersten Tag der Haft gungs- und Leidensgeschichte. Und an diesem Punkt gefordert. Das steht in unserem Gesetzentwurf. Die Op- möchte ich uns alle davon überzeugen, die Diskussion ferverbände fordern eine Rente für Opfer von Zerset- mit dem Ziel weiterzuführen, bisher nicht berücksich- zungsmaßnahmen. Das steht in unserem Gesetzentwurf. tigte, vergleichbar politisch Verfolgte einzubeziehen. Die Opferverbände fordern eine Beweislastumkehr im Hinblick auf den Grund der Gesundheitsschädigung. In Glauben Sie mir, es bedurfte nicht einer Haftstrafe unserem Gesetzentwurf schaffen wir eine kleine Beweis- von 180 Tagen und mehr, um körperlich und seelisch zu erleichterung. Eine der wichtigsten Forderungen der Op- zerstören, die Menschenwürde zu rauben. Es gab viele ferverbände war die Streichung der Bedürftigkeitsprü- Formen der behördlichen und staatssicherheitsdienstli- fung bei der Auszahlung der Opferrente. Auch das steht chen Zersetzung mit manchmal durchaus noch gravie- in unserem Gesetzentwurf. renderen Folgen für den Einzelnen als die Haft. Auch erzwungene stationäre psychiatrische Behandlungen ge- Das Engagement und der Einsatz von Menschen in hörten zu den schweren Menschenrechtsverletzungen. der ehemaligen DDR für Bürgerrechte und Freiheit be- dürfen größerer Anerkennung als bisher. Deshalb haben Wir schlagen als Diskussionsgrundlage die Annahme wir unseren Gesetzentwurf eingebracht. Wir wissen um unseres Entschließungsantrages vor. Danach sollte der die Verantwortung unserer Vorvorgängerpartei. Wir wer- Empfängerkreis um definierte Personengruppen erwei- den diese Verantwortung nicht los, das ist uns bewusst. tert werden. Für die Betroffenen selbst sind besonders Diese Geschichte gehört zu uns. Diese Geschichte hat die Bedürftigkeitsprüfung, die Beweislast für Gesund- Auswirkungen bis heute. Ich habe bereits in der ersten heitsschädigung und dass die mündliche Anhörung nicht Lesung gesagt: Wir können Dinge nicht ungeschehen als Regel verankert ist, Hürden bei der Antragstellung und Gewährung. (B) machen. Wir können aus ihnen lernen und Schlussfolge- (D) rungen ziehen. Für uns bedeutet dies, uns dafür einzuset- Auch sollten die Fristen nach § 7 und § 17 des Geset- zen, dass die Betroffenen eine Anerkennung und eine zes gestrichen werden. Entschädigung für ihr Engagement und ihren Einsatz er- halten. Der Gesetzentwurf der Linken versucht, die darge- stellten Probleme zu lösen. Er zeigt darüber hinaus, dass Wir Linke werden an dem Thema der Opferrente und es in der Fraktion offenbar konkrete Unrechtserfahrun- der Entschädigungen für Opfer politischer Verfolgung in gen in der DDR im Umfeld der Weltfestspiele 1973 gibt. der DDR dranbleiben. Wir werden überlegen, wie syste- Allerdings gehörte eine Verurteilung wegen asozialen matisch auch die verfolgten Schülerinnen und Schüler Verhaltens auch ansonsten zum Repertoire staatlicher sowie die Zwangsausgesiedelten, ein Anliegen der Op- Unterdrückung in der DDR. Deshalb sehen wir Verbes- ferverbände, einbezogen werden können. Wir müssen serungsbedarf und werden uns zum Entwurf enthalten. uns gemeinsam Gedanken machen, wie auch in diesen Fällen Ausgleichsleistungen ohne die Zusatzvorausset- Zustimmung also zum Gesetzentwurf der Koalition zung weiterer Folgeschäden ermöglicht werden können. und Einladung zur Fortsetzung der Diskussion auf Grundlage unseres Entschließungsantrages, zu dem wir Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ebenfalls um Zustimmung bitten. gehört zu den beeindruckendsten zivilisatorischen und gesellschaftlichen Leistungen in unserem Land, sich der eigenen Geschichte, der Geschichte der Diktaturen auf Anlage 8 deutschem Boden zu stellen, sie aufzuarbeiten und dabei Zu Protokoll gegebene Reden die vielen Opfer staatlicher Willkür gegen kritisch Den- kende nicht zu vergessen. Der demokratische Rechts- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu staat sühnt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vergan- dem Übereinkommen des Europarats vom genes, systematisches, staatliches Unrecht, indem er für 25. Oktober 2007 zum Schutz von Kindern vor Opfer der politischen Verfolgung in der DDR die Reha- sexueller Ausbeutung und sexuellem Miss- bilitierung auch materiell vorantreibt. brauch (Tagesordnungspunkt 22) Das ist richtig, und deshalb kann man nur empfehlen, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir sollten auch be- Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Es kommt nicht sonders unseren Kolleginnen und Kollegen danken, die oft vor, dass sich Opposition und Regierungskoalition sich in der Vergangenheit und heute für die straf- und bei einem Thema so einig waren wie wir bei der Aufar- rentenrechtliche Rehabilitation eingesetzt haben; stell- beitung der Edathy-Affäre. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7047

(A) Wir alle waren damals erschrocken, als zutage geför- genseitig einzuölen oder zu baden. Diese Szenen wurden (C) dert wurde, dass sich mittlerweile ein ganzer Markt, eine dann aus allen möglichen Perspektiven gefilmt, um das ganze Branche gebildet hatte, die mit dem Handel von Material später gewinnbringend in Pädophilenkreisen zu gerade noch legalen Kindernacktbildern Millionenum- vermarkten. Alles gerade noch legal! sätze macht. Mögliche Täter gaben sich dann als Kunst- bzw. Na- Wir alle waren uns über eines einig und im Klaren: turfreund aus. Alles sei unverfänglich, man habe nur Dieser Markt muss trockengelegt werden! seine Freude „am Anblick von spielenden, unbeschwer- Insoweit passte es ganz gut, dass uns ohnehin über ten Kindern“, waren da zum Beispiel Einlassungen im das Übereinkommen des Europarates vom 25. Oktober Rahmen der Ermittlungen. 2007 zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung Deshalb war es richtig und wichtig, den Versuch zu und sexuellem Missbrauch eine erhebliche Handlungs- unternehmen, im Zuge der Reform des § 201 a StGB verpflichtung traf. hier jegliche Zweifel an der Illegalität solchen Handelns Heute beraten wir nun über die Ratifizierung dieses zu beseitigen. Wer solche Bilder und Filme fertigt, bzw. Gesetzes, und ich freue mich feststellen zu dürfen, dass wer solche Bilder und Filme bezieht, der beutet Kinder wir unserer gemeinsamen Zielsetzung gerecht geworden sexuell aus, und er missbraucht sie. sind. Deshalb kann ich die Kritik der Opposition an der So haben wir mit der Erweiterung des Begriffes „Kin- Neuformulierung des § 201 a StGB, wonach sich derje- derpornografie“ die bisherige obergerichtliche Recht- nige strafbar macht, der Nacktbilder einer Person unter sprechung aufgegriffen und den Begriff im Sinne der 18 Jahren in der Absicht herstellt, diese einem Dritten Lanzarote-Konvention definiert. entgeltlich zu verschaffen, oder der sich solche entgelt- lich verschafft, an dieser Stelle schlichtweg nicht nach- Neben Abbildungen sexueller Handlungen an oder vollziehen. von Kindern und Darstellungen von unbekleideten Kin- dern in unnatürlicher geschlechtsbetonter Körperhaltung Wer ernstlich den oben dargestellten Markt trockenle- ist nun auch die sexuell aufreizende Wiedergabe der un- gen will, der muss auch bereit sein, dafür etwas zu tun. bekleideten Genitalien bzw. des Gesäßes eines Kindes Und die hier bemühten Argumente taugen allesamt strafbar. Gerade mit der letzten Alternative schließen wir nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken eine nicht hinnehmbare Strafbarkeitslücke. und Grünen. An dieser Stelle darf ich mich für den wichtigen Vor- Denn auch hier gibt es weiterhin das Rechtsinstitut (B) stoß des bayerischen Justizministers Professor der rechtfertigenden Einwilligung, weshalb das Nackt- (D) Dr. Winfried Bausback bedanken, der diesen Punkt auch bild einer 17-Jährigen in einer Jugendzeitschrift unpro- immer wieder gefordert hat. Ich denke, auch dieser Be- blematisch ist. Hierfür konnten die Eltern einwilligen, harrlichkeit ist es zu verdanken, dass wir hier zu so ei- denn im Gegensatz zu anzüglichen Nacktbildern raufen- nem guten Ergebnis gekommen sind. der Knaben ist in diesem Fall die Zustimmung vom Sor- Dennoch ist es uns aber gleichzeitig gelungen, den gerecht gedeckt. Begriff der Jugendpornografie in § 184 c StGB von dem Ich hätte mir aber von Ihnen, Herr Justizminister der Kinderpornografie in § 184 b StGB trennscharf ab- Maas, an einer anderen Stelle einen genaueren Blick auf zugrenzen. Jugendliche verfügen eben bereits über eine die Zielsetzung des hier zu beratenden Übereinkommens andere Sexualität. Hier wäre es falsch, unreflektiert die- gewünscht, nämlich bei der Frage der Strafbarkeit des selben Maßstäbe anzulegen. Deshalb war es richtig, die untauglichen Versuchs beim sogenannten Cybergroo- Einwilligungsfähigkeit bezüglich entsprechender Bilder ming. zum persönlichen Gebrauch zu etablieren. Nach dem Übereinkommen des Europarates, das wir Cybergrooming ist ein Phänomen, was heutzutage heute hier in Gesetzesform gießen wollen, ist die Ziel- tausendfach im Internet geschieht: Hier nehmen Erwach- richtung, sexuellen Missbrauch und Ausbeutung von sene – teilweise unter Vorspiegelung, selbst ein Kind zu Kindern in jedweder Form zu unterbinden. sein – in Chatrooms oder anderen Foren für Kinder Kon- takt zu diesen mit dem Ziel auf, sexuellen Kontakt anzu- Dies wäre uns aber nach den traurigen Erkenntnissen bahnen. Diesbezüglich berichten Kriminalbeamte aus der Edathy-Affäre allein mit einer Novelle des § 184 b der Praxis, dass es mittlerweile Foren gibt, in denen zum StGB nicht gelungen. Denn eine der wichtigsten Er- Beispiel eine „Julia2004“ binnen Minuten zehn bis kenntnisse war, dass die Branche immer wieder Kunst- 20 Anbahnungsversuche erhält. griffe unternahm, um Bilder und Filme zu fertigen, die sich gerade noch an der Grenze zur Illegalität befanden. Nun ist die spannende Frage, wie man an solche Täter herankommt: Hierzu haben sich die Produzenten solcher Filme zum Beispiel das Vertrauen armer Familien und Kinder in In der Anhörung wurde uns verdeutlicht, dass das nur Osteuropa erschlichen. Mit Geschenken, Geld und über Ermittler möglich ist, die sich im Netz als Kind aus- Süßigkeiten wurde hier Vertrauen aufgebaut, um dann geben. Da dann aus juristischer Sicht ein sogenanntes Kinder unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit „untaugliches Tatobjekt“ vorliegt, ist dieser untaugliche dazu zu bringen, nackt miteinander zu raufen, sich ge- Versuch nicht strafbar. 7048 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Genauso verhält es sich, wenn zum Beispiel die Mut- rungen vorzutragen, deshalb beschränke ich mich kurz (C) ter das Treiben bemerkt, die Konversation mit dem Ge- auf die wichtigsten Punkte und verweise ansonsten auf genüber weiterführt und sich als das Kind ausgibt. Selbst die Debattenbeiträge der zweiten und dritten Lesung des wenn der Täter eindeutige Bilder schickt, eindeutige Gesetzentwurfs zur Änderung des Sexualstrafrechts. Aufforderungen formuliert oder Ähnliches, die Tat bleibt Kernstück dieser Reform ist dabei, dass wir das Straf- straflos. maß für den Besitz von Kinderpornografie von zwei auf Vertreter aus der Praxis haben deshalb in der Anhö- drei Jahre erhöht haben und genau definiert haben rung ausdrücklich die Bitte formuliert, den untauglichen welche Bilder und Aufnahmen unter Strafe fallen und Versuch unter Strafe zu stellen, da diese Konstellationen welche nicht. Daneben haben wir Strafbarkeitslücken bei quasi die einzige Möglichkeit darstellen, solcher Täter dem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen ge- habhaft zu werden. Denn das Anzeigeverhalten in diesen schlossen. Zur Verdeutlichung auch in der heutigen Fällen geht gen null. Die Kinder vertrauen sich oftmals Debatte folgendes Beispiel: den Eltern nicht an – sei es aus Scham oder mangels aus- Das OLG Koblenz musste im Dezember 2012 einen reichender Fähigkeit zur Bewertung des Vorgangs. Lehrer, der sich gezielt an eine 14-jährige Schülerin her- Leider konnten wir uns hier mit unserer Forderung, angemacht hatte und das Mädchen über fünf Monate und den untauglichen Versuch unter Strafe zu stellen, weder letztendlich erfolgreich zum Sex gedrängt hatte, vom bei der SPD noch beim Justizminister durchsetzen. Auch Vorwurf des Missbrauchs von Schutzbefohlenen frei- das Ministerium sieht hier keinen Handlungsbedarf. sprechen. Grund für den Freispruch war einzig und allein, dass der Lehrer das Mädchen nicht regelmäßig Allerdings muss man feststellen: Wenn man den unterrichtete und er damit als Vertretungslehrer in kei- Handlungsauftrag aus diesem Übereinkommen ernst nem sogenannten Obhutsverhältnis zu der Neuntklässle- nimmt, führt an einer Strafbarkeit in solchen Fällen kein rin stand. Mit der Neufassung bzw. Ergänzung des § 174 Weg vorbei. Denn Herr Minister, geschätzte Kolleginnen Absatz 2 StGB schließen wir diese Regelungslücke nun. und Kollegen: Die Welt hat sich schlichtweg verändert! Ganz klar: Niemand soll seine Vertrauensstellung unge- Früher mussten mögliche Täter mit entsprechenden Nei- straft missbrauchen dürfen. gungen Anbahnungsversuche vor Kindergärten, Schulen oder Kinderspielplätzen vornehmen. Dies barg zum ei- Ferner haben wir den Straftatbestand des „Cybergroo- nen das erhebliche Risiko der Aufdeckung, und es war mings“ konkretisiert, um Kinder und Jugendliche im In- zum anderen wesentlich zeitintensiver. Heute geschieht ternet besser vor Sexualstraftätern schützen zu können. das in Deutschland täglich hundertfach, im Sekunden- Ein äußerst wichtiger Teil der Reform des Sexualstraf- takt und im Schutze der Anonymität des Netzes. Deshalb rechts, denn die Fälle des „Cybergroomings“ nehmen (B) werden wir als CDU/CSU hier von unserer Forderung deutlich zu. Allein in NRW gab es eine Steigerung im (D) nicht abweichen. Jahr 2013 von 54,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Diesbezüglich bin ich froh, dass sich aus den Bericht- Außerdem haben wir die Genitalverstümmelung, ei- erstattergesprächen zumindest die Möglichkeit ergeben nes der abscheulichsten Verbrechen an jungen Frauen hat, in einem weiteren Fachgespräch nochmals die For- und Kindern, in den Katalog der Auslandsstraftaten auf- derung aus der Praxis ergebnisoffen zu diskutieren. Hie- genommen, um Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder im rauf setzten wir große Hoffnung. Urlaub beschneiden zu lassen. Dennoch bleibt festzustellen: Wir sind ein gutes Stück Darüber hinaus haben wir auch ein starkes Signal an vorangekommen. Mit Nacktbildern von Kindern werden die Opfer von sexuellem Missbrauch gesandt, indem wir in Zukunft in unserem Land keine Geschäfte gemacht. die Verjährungsfristen deutlich erhöht haben. Denn Opfer von sexuellem Missbrauchs können oftmals erst Deshalb stimmen wir dem Gesetz gerne zu. viele viele Jahre später über die Taten sprechen, deren Opfer sie einst wurden. Mit der Erhöhung der Verjäh- Dirk Wiese (SPD): Wir beraten heute in zweiter und rungsfristen setzen wir ein Zeichen dafür, dass wir diese dritter Lesung den Entwurf eines „Gesetzes zu dem Menschen mit ihrem Leid nicht alleine lassen. Übereinkommen des Europarats vom 25. Oktober 2007 zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung Wenn wir über den Schutz von Kindern und Jugendli- und sexuellem Missbrauch“. Die Zustimmung des Deut- chen reden, dürfen wir aber nicht nur über Strafrecht schen Bundestages zu diesem Gesetz ist gemäß Artikel 59 reden. Denn in dem Moment, wo es zur Anwendung Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes Voraussetzung für kommt, ist es für die Opfer bereits zu spät. Sie sind mit- dessen Ratifikation durch die Bundesrepublik Deutsch- unter ein Leben lang gezeichnet oder traumatisiert. Da- land. rum müssen wir vorher ansetzen, also bevor die Taten geschehen. Wir müssen also dafür sorgen, dass es gar Für diese Zustimmung möchte ich hier und heute nicht erst zu sexueller Gewalt kommt. werben. Deshalb möchte ich hier noch auf das Präven- Aber Deutschland hat seine Umsetzungspflichten aus tionskonzept von Bundesfamilienministerin Manuela dem Abkommen bereits erfüllt. Letzter und entscheiden- Schwesig, „Gemeinsam gegen sexuelle Gewalt“, hin- der Schritt waren dabei die von uns in der letzten weisen. Es stützt sich auf fünf Säulen, von denen die Sitzungswoche verabschiedeten Änderungen im Sexual- erste die bereits von mir dargestellte Reform des Sexual- strafrecht. Es würde den Rahmen sprengen, die Ände- strafrechts und der Verjährungsfristen beinhaltet. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7049

(A) Die zweite Säule bilden der Schutz und die Beglei- Diese Ratifizierung setzte nach Auffassung der Bun- (C) tung von Opfern im Strafverfahren. Nach einem desregierung eine Änderung des Strafgesetzbuches vo- Referentenentwurf zur 3. Opferrechtsreform aus dem raus, die von der Mehrheit des Bundestages vor wenigen Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Wochen mit der Änderung des Sexualstrafrechtes be- wird künftig ein Anspruch auf psychosoziale Prozess- schlossen wurde. Die Linke hat aus verschiedenen Grün- begleitung bestehen, um die Belastung der Kinder und den diesen Gesetzentwurf abgelehnt. Ich will all die Jugendlichen im Strafprozess deutlich zu reduzieren. Gründe heute nicht wiederholen, zumal diese bei Inte- Zusätzlich soll durch eine Ergänzung des Kinderschutz- resse im Plenarprotokoll nachgelesen werden können. gesetzes eine engere Kooperation von Ermittlungsbehör- den und Jugendämtern ermöglicht werden. Das Ziel des Vertragswerks, die Verhütung und Be- kämpfung der sexuellen Ausbeutung und des sexuellen Eine weitere Säule des Gesamtkonzepts von Ministe- Missbrauchs von Kindern, teilen wir ausdrücklich. Die rin Schwesig bildet die Schaffung eines für Kinder in der Konvention enthaltenen Regelungen im Hinblick uneingeschränkten Beratungsanspruchs gegenüber der auf die Verpflichtung zur Prävention in Bezug auf Täter Kinder- und Jugendhilfe – auch ohne Kenntnis der El- und Opfer und auf die Unterstützung von Opfern stellen tern –, flankiert durch Einführung von Schutzkonzepten eine sinnvolle und begrüßenswerte Verbesserung im Ver- in Schulen und anderen Einrichtungen. Ein klares Signal gleich zu bisherigen internationalen Vorgaben dar und für mehr Kinderschutz! fördern auch in Deutschland den Ausbau der Prävention. Das finden wir richtig und gut. Die in der Konvention Die vierte Säule bilden Beratung, Hilfen und Thera- enthaltenen Vorgaben für präventive Maßnahmen, etwa pien für Betroffene. Auf Bundesebene wird eine Koordi- verpflichtende Maßnahmen zum Schutz und zur Unter- nierungsstelle geschaffen werden, um die Beratungs- stützung der Opfer sowie Bestimmungen zu Präven- strukturen für Betroffene zu verbessern und sie leichter tions- und Interventionsprogrammen und Maßnahmen an die spezialisierte Fachberatung überweisen zu kön- für Sexualstraftäterinnen und -täter, sind sinnvoll. Es ist nen. Daneben werden auch mögliche und potenzielle ebenfalls gut, dass Kinder in der Schule über sexuellen Täter mit entsprechenden Neigungen ins Auge gefasst: Missbrauch aufgeklärt werden und Beratung erhalten Präventionskonzepte werden gestärkt, damit diese erst sollen. Auch die zwingende flächendeckende Einrich- gar nicht straffällig werden. tung von Beratungsstellen für Opfer und potenzielle Op- fer oder Ratsuchende sowie die Auflegung von Täterprä- Abgerundet wird das Gesamtkonzept durch die fünfte ventionsprogrammen findet unsere Zustimmung. und letzte Säule, nämlich den Schutz von Kindern und Jugendlichen in den digitalen Medien. In Zusammen- Wenn wir uns dennoch enthalten, dann hat dies damit (B) arbeit mit dem Zentrum für Kinderschutz im Internet soll zu tun, dass wir einen Teil der Vorgaben im Strafrecht (D) ein Netzwerk einrichtet werden, um Grauzonen von für problematisch halten. Kind im Sinne des Überein- Missbrauchsdarstellungen im Netz national und interna- kommens nach Artikel 3 a ist eine Person unter 18 Jah- tional besser bekämpfen zu können. Zusätzlich werden ren. Gerade im Bereich der Sexualität finden wir es aber Eltern und Kinder über Risiken beim Umgang mit digi- ausgesprochen richtig, einen Unterschied zu machen, ob talen Medien aufgeklärt und sensibilisiert. Durch eine es sich um unter 14-jährige und um über 14-jährige, aber gesetzliche Informationsverpflichtung soll dabei sicher- unter 18-jährige Personen handelt. gestellt werden, dass diese Aufklärung auch wirklich stattfindet. Dieser Konflikt zieht sich durch die gesamten straf- rechtlichen Regelungen im Übereinkommen. Da ist zum Sie sehen, die Bundesregierung hat sich sowohl des Beispiel der Artikel 20. Dieser fordert, gesetzgeberische strafrechtlichen als auch des präventiven Schutzes von Maßnahmen zu ergreifen, um die Herstellung von Kin- Kindern und Jugendlichen vor sexueller Ausbeutung und derpornografie, das Anbieten oder die Verfügbarma- sexuellem Missbrauch angenommen. Wir haben dabei chung von Kinderpornografie, das Verbreiten oder Über- die Zielvorgaben des Übereinkommens des Europarates mitteln von Kinderpornografie, das Beschaffen von erfüllt und gewährleisten in manchen Bereichen sogar Kinderpornografie für sich selbst oder einen anderen, einen weitaus besseren Schutz, als er im Abkommen den Besitz von Kinderpornografie und den wissentlichen gefordert wird. Deshalb werbe ich heute hier um Ihre Zugriff auf Kinderpornografie mithilfe der Informations- Zustimmung zum vorliegenden Entwurf des Vertrags- und Kommunikationstechnologien unter Strafe zu stel- gesetzes, damit die Bundesrepublik Deutschland nach len. Selbst bei einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Zustimmung dieses Hohen Hauses das Abkommen dem Strafrecht dürfte unstreitig sein, dass in den aufge- auch ratifizieren kann. zählten Fällen das Strafrecht eingreifen sollte – wenn es sich um unter 14-Jährige handelt. Nach Artikel 20 Ab- Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Die Bundesrepu- satz 2 ist Kinderpornografie jedes Material mit der bild- blik Deutschland hat das Übereinkommen des Europa- lichen Darstellung eines Kindes – und nach dem Über- rats vom 25. Oktober 2007 zum Schutz von Kindern vor einkommen meint dies eben Personen unter 18 Jahren – sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch bei wirklichen oder simulierten eindeutig sexuellen – Lanzarote-Konvention – am 25. Oktober 2007 unter- Handlungen oder jede Abbildung der Geschlechtsteile zeichnet. Der Bundestag muss nun die nach Artikel 59 eines Kindes zu vorwiegend sexuellen Zwecken. Wir ha- Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes erforderliche Zustim- ben uns bei der Verschärfung des Sexualstrafrechtes mung zum Vertragsgesetz beschließen. schon trefflich darüber gestritten, ob wir nicht zumindest 7050 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) mit der zweiten Tatbestandsalternative in einen Bereich dings vor allem durch zwei Punkte beeinflusst. Zum (C) des Motivstrafrechts kommen. Wie soll denn bitte ge- einen wurde durch die Ermittlungen gegen einen ehema- klärt werden, ob die Aufnahme einer bildlichen Darstel- ligen Bundestagsabgeordneten eine öffentliche Debatte lung eines Geschlechtsteiles aus vorwiegend sexuellen über sogenannte Posingbilder ausgelöst. Diesem Vorfall Motiven stattgefunden hat? ist es quasi zu verdanken, dass viele der sexualstrafrecht- lichen Vorgaben der Konvention vor wenigen Wochen Aber unabhängig davon gilt dies nach dem Überein- umgesetzt wurden. Zum anderen erfuhr das Thema so kommen ja auch für Abbildungen von Geschlechtsteilen viel Aufmerksamkeit, da der Entwurf aus dem Bundes- von zum Beispiel 16-Jährigen oder 17-Jährigen. Wir lau- justizministerium im Bereich der Persönlichkeitsverlet- fen hier durch die Definition, wer als Kind gelten soll, zung derart über das Ziel hinausgeschossen ist. Ich sage Gefahr, die Sexualität von Jugendlichen zu kriminalisie- nur: „bloßstellende Aufnahmen“. Gerade die Medien- ren. Aus unserer Sicht führt dies aber auch zu Wertungs- vertreter wurden da natürlich aufmerksam, schließlich widersprüchen. Denn sowohl nach dem Übereinkommen wären sie durchaus Betroffene dieses Gesetzes gewor- als auch nach deutschem Recht dürfen Personen ab den, wenn es in dieser Form durch den Bundestag ge- 14 Jahren mit Volljährigen einvernehmliche sexuelle kommen wäre. Handlungen vornehmen. Sie dürfen sich aber nicht dabei fotografieren oder die Bilder besitzen. Eine Heraus- Nun: Die mediale Konzentrationsfähigkeit ist schnell nahme aus der Strafbarkeit ist für die Unterzeichnerstaa- dahin. Vermutlich will die Bundesregierung uns und den ten nicht möglich für den Fall, dass eine 18-Jährige, die Menschen im Lande auch suggerieren, dass mit der Ver- ihren 17-jährigen Freund bei sexuellen Handlungen – die abschiedung des Gesetzes nun alles getan ist, was getan sie vornehmen dürfen – fotografiert und das Bild behält werden musste. Anders ist es nicht zu erklären, dass die oder gar Freunden zeigt oder ihnen per E-Mail sendet. Ratifizierung der so wichtigen Lanzarote-Konvention in Wir sind nicht davon überzeugt, dass ein solches Verhal- dieser Sitzungswoche praktisch unter Ausschluss der Öf- ten dem Strafrecht unterliegen soll. Wir glauben, diese fentlichkeit stattfindet. von der Konvention betriebene Kriminalisierung jugend- Es sind jedoch insbesondere die Präventionsmaßnah- lichen Sexualverhaltens ist nicht gerechtfertigt und ver- men, auf die die Konvention großen Wert legt und die letzt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Wir hal- bisher völlig unzureichend umgesetzt sind. Ich will nur ten es tatsächlich für besser, zwischen Kinder- und drei Beispiele nennen: Die Schulungsmaßnahmen für Jugendpornografie und sexuellen Handlungen mit Kin- alle Berufsgruppen, die mit potenziellen minderjährigen dern und Jugendlichen zu unterscheiden, wie dies in Opfern des sexuellen Missbrauchs oder der sexuellen Deutschland der Fall ist. Insofern hätten wir uns Rege- Ausbeutung in Kontakt kommen, sind in Deutschland (B) (D) lungen gewünscht, die sicherstellen, dass in keinem der weiterhin unzureichend. Ebenso gibt es in Deutschland Unterzeichnerstaaten die einvernehmliche Sexualität keine bedarfsgerechte Betreuung und Therapie von min- – und entsprechende Fotos – von Jugendlichen mit He- derjährigen Betroffenen – vor allem in ländlichen Regio- ranwachsenden oder Erwachsenen unter Strafe gestellt nen. Auch wären gesetzliche Regelungen, wie „privacy werden kann. by design“ als Grundeinstellung, womit höhere Daten- schutzstandards vor allem bei sozialen Netzwerken im Wir sehen viele gute Ansätze in der Lanzarote-Kon- Internet erreicht werden, ein Beitrag zur Umsetzung der vention; angesichts der aufgezeigten Probleme bleibt uns Konvention. allerdings nur die Stimmenthaltung. Auf viele der Punkte, die noch umzusetzen sind, ha- Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben wir in unserem Antrag „Kinder schützen – Präven- NEN): Als der Europarat im Oktober 2007 seine Kon- tion stärken“ – Drucksache 18/2619 – hingewiesen. vention verabschiedete, war dies ein Meilenstein. Es war Auch das Gesamtkonzept für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt, das Bundes- ein Schritt zum besseren Schutz von Kindern vor sexuel- familienministerin Schwesig am 22. September 2014 in ler Ausbeutung und vor Missbrauch. Dies ist inzwischen Anwesenheit des Unabhängigen Beauftragten für Fragen mehr als sieben Jahre her, und erst heute verabschiedet des sexuellen Kindesmissbrauchs, Rörig, auf einer Pres- der Deutsche Bundestag ein Gesetz zur Ratifizierung der severanstaltung vorgestellt hat, beabsichtigt, Forderun- sogenannten Lanzarote-Konvention. Wir werden diesem gen aus der Konvention umzusetzen. Gesetz zustimmen, obwohl – und darauf muss ich hin- weisen – wir die Definition von Kind differenzierter se- Ich bin froh, dass Konventionen mit ihrer Ratifizie- hen als die völkerrechtliche Definition von Kind. Wir rung innerstaatlich verbindlich werden. Dies erhöht den unterscheiden zwischen Kindern und Jugendlichen, zum Umsetzungsdruck. Diesen Druck werde auch ich künftig Teil sogar zwischen 14- und 16-Jährigen. machen. Deswegen habe ich mit meiner Fraktion in die- ser Sitzungswoche die Bundesregierung mit einer Klei- Viele der strafrechtlichen Regelungsbedarfe wurden nen Anfrage um Antwort gebeten, was denn bei der Um- jüngst mit dem „Gesetz zur Änderung des Strafgesetz- setzung der Präventionsmaßnahmen Stand der Dinge ist. buchs – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexual- In einigen Wochen werden wir dann hoffentlich etwas strafrecht“ umgesetzt. Das Gesetz aus dem Hause von schlauer sein. Ich kann nur hoffen, dass nach den vielen Bundesminister Maas hat öffentlich große Aufmerksam- Ankündigungen dann konkrete Umsetzungsschritte zu keit erfahren. Dies wurde meiner Auffassung nach aller- erkennen sind. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7051

(A) Anlage 9 stellt ihn bislang vor eine schwierige Prozedur. Oftmals (C) führte dies dazu, dass Betroffene den Schaden lieber in Zu Protokoll gegebene Reden Kauf nahmen, da es zu umständlich erschien, die not- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur wendigen Schritte zur Ermittlung der anderen Vertrags- Umsetzung der Richtlinie 2012/17/EU in Bezug partei einzuleiten. auf die Verknüpfung von Zentral-, Handels- Durch die Verbesserung des grenzüberschreitenden und Gesellschaftsregistern in der Europäischen Zugangs zu Unternehmensinformationen soll sich dies Union (Tagesordnungspunkt 23) ändern. Beispielsweise sind nun Änderungen in der Re- gel innerhalb von 21 Tagen ab Vorliegen der vollständi- Sebastian Steineke (CDU/CSU): Durch die Schaf- gen Anmeldung in das Handelsregister einzutragen und fung des EU-Binnenmarkts ist der Handel innerhalb der bekannt zu machen. Diese Verbesserung wird durch die Europäischen Union deutlich einfacher geworden. Heut- Vernetzung der nationalen Register zu einem europäi- zutage gehört es für Verbraucher zur Normalität, Waren schen Justizportal erreicht werden. aus anderen Mitgliedstaaten zu beziehen, und für Unter- nehmen zur Normalität, Waren in diese Länder zu expor- Darüber hinaus wird durch die Schaffung von zeitge- tieren. Zudem errichten viele Unternehmen mittlerweile mäßen Kommunikationskanälen und die Ergänzung des Zweigniederlassungen in anderen Mitgliedstaaten der europäischen Justizportals um alle Sprachen der EU das Europäischen Union. Registerverfahren beschleunigt sowie Bürokratie abge- baut. Alle in Deutschland tätigen Kapitalgesellschaften Dennoch bestehen nach wie vor Barrieren, die Ver- erhalten eine einheitliche europäische Kennung, damit braucher und Unternehmer häufig vom internationalen sie problemlos zugeordnet werden können. Die weiteren Handel abhalten. Zu diesen Barrieren gehört auch das technischen Details des Datenverkehrs kann das Bundes- schwierige und umständliche Verfahren zur Beschaffung ministerium für Justiz und Verbraucherschutz in einer von Informationen über seinen ausländischen Geschäfts- Rechtsverordnung regeln, für die wir ihm mit dem vor- oder Vertragspartner. Zur Überwindung von Sprachpro- liegenden Gesetzentwurf eine Ermächtigungsgrundlage blemen und zur Verbesserung des Zugangs zu solchen schaffen. Unternehmensinformationen bedarf es daher einer grenzüberschreitenden Lösung. Da der Gesetzentwurf viele technische Regelungsde- tails hinsichtlich der Verknüpfung der einzelnen Register Der vorliegende Gesetzentwurf, der der Umsetzung beinhaltet, führte der Ausschuss für Recht und Verbrau- der EU-Richtlinie zur Verknüpfung von Zentral-, Han- cherschutz auf Initiative der Koalitionsfraktionen von dels- und Gesellschaftsregister in der Europäischen (B) CDU/CSU und SPD am 5. November 2014 eine öffentli- (D) Union (RL 2012/17/EU) dient, soll diese Barrieren be- che Anhörung durch, in der der Gesetzentwurf von allen seitigen. Der Gesetzentwurf sieht entsprechende Ände- anwesenden Sachverständigen im Grundsatz begrüßt rungen des Handelsgesetzbuches sowie der Handels- wurde. Trotzdem erlebten wir hier ein Paradebeispiel, registerverordnung vor. dass Anhörungen des Bundestags nicht nur für das Mit der Richtlinie soll der grenzüberschreitende Zu- Schaufenster gedacht und wirkungslos sind. Denn ge- gang zu Unternehmensinformationen über das europäi- rade weil dieser Gesetzentwurf viele technische Details sche Justizportal verbessert und die genauen Kanäle für berücksichtigen musste, haben uns die Experten auf ver- die Kommunikation zwischen den nationalen Registern meintliche Kleinigkeiten hingewiesen, die aber für die der Mitgliedstaaten über eine zentrale europäische Platt- Praxis und insbesondere für die handelnden Personen form festgelegt werden. Zukünftig bilden folgende drei der Rechtspflege von immenser Bedeutung sind. Unter Teile gemeinsam das europäische System der Register- anderem ging es um Begrifflichkeiten, die das Einrei- vernetzung: die Register der Mitgliedstaaten, die zen- chen von Dokumenten zum Handelsregister betreffen. trale europäische Plattform und das europäische Justiz- Wir als Union haben die Hinweise der Sachverständigen portal. aufgegriffen und im Anschluss gemeinsam mit dem Bundesjustizministerium erörtert. Die nun eingearbeite- Bisher musste man sich für die Informationsbeschaf- ten Änderungen werden in der Praxis für Rechtssicher- fung beim ausländischen Register anmelden und die dor- heit sorgen und für den Anwender eine Erleichterung tige Gerichtssprache beherrschen. Der Gesetzentwurf sein. sieht vor, den Zugang zu diesen Registern im grenzüber- greifenden Kontext erheblich zu vereinfachen und da- Dass das System der Registervernetzung innerhalb durch sichere Rahmenbedingungen für den innereuropä- der EU-Mitgliedstaaten notwendig ist, wird auch daran ischen Handel zu schaffen. deutlich, dass es nach Erhebungen der Europäischen Kommission aus dem Jahre 2013 rund 31 Millionen Un- Lassen Sie mich dies an einem Beispiel verdeutli- ternehmen in der Europäischen Union gibt, die in den chen: Ein Verbraucher, der nach dem Onlinekauf im Handelsregistern der Mitgliedstaaten erfasst sind. Ausland aufgrund von mangelhafter Warenlieferung eine Klage gegen den Lieferanten anstrebt, kann dies Der Gesetzentwurf trägt zukünftig nicht nur zur Stär- zwar – dank der Verbrauchergerichtsstandregelung – in kung des grenzüberschreitenden Handels und Informations- Deutschland tun. Dennoch benötigt er für die Klageerhe- austauschs innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen bung verlässliche Angaben zum Sitz, zur Anschrift und Union sowie zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit zum gesetzlichen Vertreter des Prozessgegners. Dies der europäischen Wirtschaft im internationalen Ver- 7052 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) gleich bei, sondern schafft auch mehr Rechtssicherheit Veränderungen wie Insolvenz, Liquidation, Löschung (C) in diesem Bereich. oder Verschmelzung von Kapitalgesellschaften werden den betroffenen Registern mitgeteilt. Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Gesetzentwurf in der vom Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz be- Außerdem haben die zuständigen Registerstellen nun schlossenen Fassung zustimmen. eine Frist von 21 Tagen für die Bekanntmachung oder Änderung der Registerangaben einzuhalten, eine Frist, die in Deutschland kein Problem darstellen wird. Die Dr. Johannes Fechner (SPD): Mit diesem Gesetz Eintragungen erfolgen bei uns regelmäßig sehr viel tragen wir dazu bei, dass Richtlinien ins deutsche Recht schneller. Der Suchservice über das Europäische Justiz- umgesetzt werden, die den Wirtschaftsverkehr innerhalb portal wird kostenlos sein und in 23 Sprachen zur Verfü- der Europäischen Union wesentlich erleichtern werden. gung stehen. Dieser verbraucherfreundliche Ansatz soll Mit dem Gesetz sollen Änderungen der Publizitäts- an dieser Stelle besonders betont werden. richtlinie, der Zweigniederlassungsrichtlinie und der Fu- Das Vorhaben, ein europäisches Handelsregisterportal sionsrichtlinie umgesetzt werden, die auf Verknüpfung zu installieren, mag ambitioniert sein. Aber dieses Ge- der Handelsregister abzielen. setz ist ein notwendiger Schritt dahin. Und ich bin über- Ziel des Gesetzesvorhabens ist es, dass alle Unions- zeugt, dass es zur Harmonisierung des Wirtschaftsver- bürgerinnen und Unionsbürger einen europaweiten Zu- kehrs beitragen, den Informationsaustausch vereinfachen griff auf wichtige Unternehmensdaten der Kapitalgesell- und in Zukunft von vielen Menschen und Unternehmen schaften erhalten – und zwar einfach und schnell über genutzt werden wird. das Internet. Viele Unternehmen innerhalb der EU nut- zen längst die Möglichkeit, über Ländergrenzen hinweg Richard Pitterle (DIE LINKE): Mit dem vorliegen- zu expandieren, Zweigniederlassungen zu gründen oder den Gesetzentwurf wird eigentlich ein unterstützenswer- stehen mit Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten in tes Ziel verfolgt. Denn bei den mehr und mehr europa- geschäftlichem Kontakt. weit vernetzten Handelsbeziehungen, Warenströmen und Dienstleistungserbringungen macht eine Vernetzung Die Handels- bzw. Unternehmensregister sind in die- auch der verschiedenen Handels- und Unternehmens- sem grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr wichtige register durchaus Sinn. So soll mit dem vorliegenden Informationsquellen. Über die Handelsregister können Gesetzentwurf gemäß der zugrunde liegenden EU-Richt- Unternehmen, aber auch Verbraucherinnen und Verbrau- linie gewährleistet werden, dass die Register der Mit- cher relevante Informationen über die Unternehmen er- gliedstaaten, die zentrale Europäische Plattform und das (B) halten, die ihre potenziellen Geschäftspartner sein könn- Europäische Justizportal künftig gemeinsam das Euro- (D) ten oder mit denen sie bereits Geschäfte machen. päische System der Registervernetzung bilden. Mit dem schnellen zentralen Onlinezugriff auf Han- Um die Register der Mitgliedstaaten hier kompatibel delsregisterdaten haben wir in Deutschland bereits beste zu machen, soll eine einheitliche europäische Kennung Erfahrungen gemacht. Wir haben schon vor Jahren die für alle Kapitalgesellschaften eingeführt werden. Und Daten von 130 Registergerichten aus allen Bundeslän- hier liegt auch schon der erste Knackpunkt in Ihrem Ge- dern auf nationaler Ebene miteinander vernetzt. Jeder- setzentwurf, meine Damen und Herren von der Bundes- mann kann seit 2007 über das gemeinsame Register- regierung. Warum nur Kapitalgesellschaften? Was ist portal der Länder unter www.handelsregister.de mit den Personengesellschaften? Auch diese nehmen am Unternehmensdaten abrufen, aber auch wichtige Doku- Wirtschaftsleben in der Europäischen Union teil, bei- mente wie Gesellschaftervertrag, Jahresabschluss oder spielhaft möchte ich hier Aldi nennen – ein Unterneh- Gesellschafterliste einsehen. Die Register sind zwar ver- men in der Form einer offenen Handels- und somit Per- netzt, die Daten bleiben aber bei den Ländern. Der On- sonengesellschaft. linezugriff hat hier bereits zu steigender Nachfrage ge- führt. Ein weiterer Schwachpunkt in dem vorliegenden Gesetzentwurf liegt in dem nicht sonderlich verbrau- Genau dieses Erfolgsmodell wird jetzt auf europäi- cherfreundlich geprägten Zugang zu den relevanten scher Ebene ebenfalls eingeführt. Jeder Mitgliedstaat be- Informationen. Wichtige Angaben wie ladungsfähige hält auch hier die Herrschaft über seine Register, die Anschriften oder Vertretungsberechtigungen bei den Ge- aber miteinander vernetzt werden. So wird über das Eu- sellschaften sind nicht zwingend vorgeschrieben. Das ropäische Justizportal ein zentraler und europaweiter Zu- sind aber genau jene Angaben, die Verbraucherinnen griff für Bürgerinnen und Bürger, Rechtspraktiker, Un- und Verbraucher bei der Verfolgung ihrer Ansprüche zu ternehmen und Gerichte installiert. allererst benötigen – wenn Sie ein Unternehmen verkla- gen wollen, müssen Sie auch wissen, an wen die Klage Das ist eine ausgesprochen erfreuliche Entwicklung. zu richten ist. Denn Millionen Unternehmen in der EU sind mittler- weile in verschiedenen Handelsregistern der Mitglied- Wenn man die geplante praktische Umsetzung be- staaten registriert. Nun erhalten Kapitalgesellschaften trachtet, fällt zudem auf, dass die Richtlinie und leider sowie deren Zweigniederlassungen eine einheitliche eu- auch die vorliegende Umsetzung ins deutsche Recht kei- ropäische Kennung. Das ermöglicht einen besseren Da- nen Zwang zur Übersetzung in die europäischen Amts- tenaustausch und mehr Transparenz. sprachen enthalten. Zur Überwindung der jeweiligen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7053

(A) Sprachbarrieren wäre eine solche aber durchaus notwen- Dabei setzen bestimmte Sachverhalte dringend einen (C) dig. besseren Informationsaustausch zwischen den Registern voraus. Dies ist aber im grenzüberschreitenden Rechts- Aus Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher, verkehr bisher nicht möglich. Es ist zum Beispiel so, aber auch kleiner und mittlerer Unternehmen ist überdies dass die inländische Eintragung einer Zweigniederlas- zu bemängeln, dass der Zugang zu den entsprechenden sung eines ausländischen Unternehmens häufig gewis- Unterlagen nicht kostenlos sein soll. sermaßen die Eintragung der Hauptniederlassung im Wir müssen daher feststellen, dass die Gestaltungs- Ausland spiegelt. Das Register der Hauptniederlassung spielräume, die hier bei der Umsetzung der Richtlinie meldet Veränderungen aber nicht automatisch an das Re- zum Beispiel zugunsten der Verbraucherinnen und Ver- gister der Zweigniederlassung und das Register der braucher gegeben gewesen wären, von der Bundesregie- Zweigniederlassung kann nicht unentwegt die Eintra- rung leider nicht genutzt wurden. gung im Register der Hauptniederlassung überprüfen. Eine elektronische Kommunikation zwischen den Regis- Zwar ist es richtig, dass hier widerstreitende Interes- tern ist bisher nicht möglich. Dies kann zu unschönen sen in Einklang gebracht werden müssen. Da ist das Missverständnissen führen! Recht auf den Zugang zu Informationen auf der einen und die Rechte der diese Informationen zur Verfügung Die deutschen Handelsregister und das deutsche stellenden Kapitalgesellschaften auf der anderen Seite. Unternehmensregister sollen mittels der zentralen Euro- Dennoch wäre eine effektivere Ausgestaltung des Infor- päischen Plattform mit den Registern der übrigen europäi- mationsflusses hier wünschenswert gewesen. schen Mitgliedstaaten verbunden werden. In Deutschland sind die Daten der 130 Registergerichte bereits seit 2007 Zuletzt muss ich Sie, meine Damen und Herren von miteinander vernetzt. Die Daten liegen dabei nicht auf der Bundesregierung, noch an einer weiteren Stelle ta- einem zentralen Server, sondern die einzelnen Landes- deln. Die Bundesrepublik hinkt bei der Umsetzung der server werden miteinander vernetzt. Dieses System soll hier zugrunde liegenden EU-Richtlinie nämlich wieder nun auch auf europäischer Ebene angewendet werden, einmal hinterher. Eigentlich hätte die Richtlinie nämlich ohne dass dabei die bisherigen Plattformen mit ihren un- bis zum Juli dieses sich dem Ende zuneigenden Jahres in terschiedlichen Schwerpunktangeboten abgelöst werden. das nationale Recht implementiert sein müssen. Das ist Es werden weiterhin das gemeinsame Registerportal der nicht geschehen, und somit hat Deutschland wieder ein- Länder, das Unternehmensregister und zusätzlich das mal kein gutes Beispiel bei der Beachtung europarechtli- Europäische Justizportal verfügbar sein. cher Vorgaben abgegeben. Hier wäre zukünftig etwas mehr Disziplin durchaus wünschenswert. Es ist gut, dass hierbei der Mindestdatensatz kosten- los zur Verfügung gestellt wird. Die Zugangshürden zu (B) (D) Abschließend bleibt mir zu vorliegendem Gesetzent- den Informationen des Registers sollten möglichst nied- wurf letztlich nur Folgendes zu sagen: Der zugrunde lie- rig gehalten werden. gende Ansatz ist gut, aber bei der Umsetzung hakt es mal wieder. Die Fraktion Die Linke wird sich daher ent- Die zentrale Europäische Plattform wird die Verbin- halten. dung zwischen den Daten sicherstellen und das Europäi- sche Justizportal dient als zentrale Suchplattform, spei- chert aber selbst auch keine Daten. Diese Lösung halten Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit die- wir für sinnvoll. sem Gesetzentwurf geht Deutschland den ersten Schritt zur Umsetzung der Richtlinie 2012/17/EU, mit der mit- Die Nutzer werden die mehrsprachige Suche schät- telfristig das Europäische System der Registervernet- zen. Registereintragungen sollen in allen Amtssprachen zung auf den Weg gebracht werden soll. Künftig sollen der EU recherchiert werden können. Das hilft dabei, die Register verknüpft werden und alle Kapitalgesell- Sprachbarrieren zu überbrücken. Als Indexdaten sollen schaften eine einheitliche Kennung erhalten. Die Voraus- erfasst werden: der Name der Gesellschaft, ihre Rechts- setzungen hierfür sollen im Handelsgesetzbuch geschaf- form, der Sitz der Gesellschaft, der Mitgliedstaat, in dem fen werden. die Gesellschaft eingetragen ist, sowie die Registernum- mer der Gesellschaft. Die Sachverständigen haben in ih- Der immer weiter zusammenwachsende europäische ren Stellungnahmen für die Anhörung im Ausschuss für Binnenmarkt führt zu einem zunehmenden Anglei- Recht und Verbraucherschutz noch die Frage aufgewor- chungsdruck in rechtlicher Hinsicht. Wir erleben dies im fen, ob es nicht eventuell auch sinnvoll wäre, die Regis- verbraucherrechtlichen Bereich genauso wie im Gesell- terinformationen selbst in übersetzter Form zur Verfü- schaftsrecht oder im Handelsrecht. Und eben auch bei gung zu stellen. Das finde ich einen sinnvollen Hinweis, den Handelsregistern. Grenzüberschreitende Anfragen dem man nachgehen sollte. Es würde mich freuen, wenn gewinnen in der täglichen Arbeit der Handelsregister die Kommission diesen Gedanken aufnehmen würde. stetig wachsendes Gewicht. Es wird immer wichtiger, sich auch in den Registern der anderen EU-Mitgliedstaa- In der Handelsregisterverordnung soll künftig festge- ten zu informieren. Hierbei stößt der Anwender in der legt werden, dass Änderungen im Register in der Regel Praxis leider häufig auf Hindernisse. Meist setzt zum innerhalb von 21 Tagen ab Vorliegen der vollständigen Beispiel der Zugang zu einem nationalen Register Anmeldung in das Handelsregister einzutragen und be- schlicht die Kenntnis der Landessprache voraus. Ein In- kannt zu machen sind. Die Sachverständigen haben hier formationsaustausch zwischen den Registern erfolgt bis- in ihren Stellungnahmen zu bedenken gegeben, dass die her nicht. deutsche Regelung sich bei der 21-Tage-Frist nicht nur 7054 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) auf die notwendigen Daten beschränkt und die Richtlinie begrüßen, da sie die Arbeit der Unternehmen vereinfacht (C) übererfüllt wird. Es sei außerdem so, dass die Frist von und zu einem Bürokratieabbau beiträgt. Ziel der zentra- 21 Tagen in der deutschen Registerpraxis in aller Regel len Zollabwicklung ist es, Buchführung, Logistik und unterschritten würde. Hier verstehe ich nicht, wieso auf Vertrieb zu zentralisieren und zu integrieren, damit die diese Bedenken nicht eingegangen wurde, vor allem da Wirtschaft Verwaltungs- und Transaktionskosten spart. es in der Praxis offensichtlich kein Problem gibt, das Wir wollen das Zollverfahren modernisieren, den Han- diese weite Interpretation der Richtlinie notwendig ma- del vereinfachen und die Unternehmen entlasten, ohne chen würde. Dies ist für uns zwar kein Grund, das Ge- auf die Sicherheit der Außengrenzen zu verzichten. setz abzulehnen, aber wieder ein Beweis dafür, dass die Koalition im Gesetzgebungsverfahren den Sachverstän- Die neuen Regelungen führen jedoch auf der anderen digen nicht genug Gehör schenkt. Seite dazu, dass nicht nur ein Mitgliedstaat, sondern zwei an der Zollabwicklung beteiligt sind. Folglich ent- stehen in beiden Ländern Verwaltungskosten, die mit der Anlage 10 Zollabwicklung verbunden sind. Zu Protokoll gegebene Reden Die Zölle werden von den Mitgliedstaaten als Ein- fuhrabgaben erhoben, die sie der Europäischen Union zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu als deren Eigenmittel bereitzustellen haben. Für den Ver- dem Übereinkommen vom 10. März 2009 zwi- waltungsaufwand erhalten die Mitgliedstaaten eine soge- schen den Mitgliedstaaten der Europäischen nannte Erhebungskostenpauschale. Bis zum sogenann- Union über die zentrale Zollabwicklung hin- ten Eigenmittelbeschluss aus dem Jahr 2000 durften die sichtlich der Aufteilung der nationalen Erhe- Mitgliedstaaten 10 Prozent der von ihnen bereitzustel- bungskosten, die bei der Bereitstellung der tra- lenden Zölle behalten. Nunmehr sind es 25 Prozent. Im ditionellen Eigenmittel für den Haushalt der letzten Jahr nahm Deutschland rund 4,2 Milliarden Euro Europäischen Union einbehalten werden (Ta- gesordnungspunkt 25) an Zöllen ein. So durfte Deutschland von den im Jahr 2013 eingenommenen 4,2 Milliarden Euro gut 1 Mil- liarde Euro behalten. Uwe Feiler (CDU/CSU): Heute beraten wir über den Gesetzentwurf zur Umsetzung eines völkerrechtlichen Die Erhebungskostenpauschale wird bisher vom je- Vertrages zwischen den Mitgliedstaaten der Europäi- weiligen Mitgliedstaat einbehalten, in dem die Abgaben schen Union, der zu einer Anpassung der Gesetzeslage entrichtet werden. Nach dem Übereinkommen darf die an einige der Bestimmungen des neuen Unionszollkodex Pauschale geteilt werden. 50 Prozent der Erhebungskos- (B) führen wird. Durch das Gesetz werden die Voraussetzun- tenpauschale werden vom Mitgliedstaat einbehalten, in (D) gen im innerstaatlichen Zustimmungsverfahren nach Ar- dem die Ware zum zollrechtlich freien Verkehr angemel- tikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG für die Ratifikation des det wurde, die andere Hälfte bleibt in dem Staat, in den Übereinkommens geschaffen. die Ware tatsächlich eingeführt wurde. Dadurch werden die in beiden Mitgliedstaaten entstandenen Verwaltungs- Der Zollunion, eine der ersten Errungenschaften der EU, kommt im Zeitalter der Globalisierung eine wich- kosten angemessen gedeckt. tige Rolle zu. Sie schützt den Binnenmarkt der EU mit Darüber hinaus enthält das Übereinkommen Regelun- seinem freien Warenverkehr und kontrolliert dabei die gen über den Anwendungsbereich, die Ermittlung und Ein- und Ausfuhr von Waren an den Außengrenzen der Weiterverteilung der Erhebungskosten, die Streitbeile- EU. Unabhängig davon, wo in der EU die Waren verzollt gung bei Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der werden, gelten dank der Zollunion dieselben Regeln. Die Auslegung oder des Funktionierens des Übereinkom- Zollbeamten in den 28 Mitgliedstaaten arbeiten in Hä- mens sowie Durchführungs- und Schlussbestimmungen. fen, an Flughäfen und Grenzübergängen. Durch ihre Ar- beit werden die Verbraucher geschützt, der unlautere Durch den neuen Unionszollkodex wird der Zollbe- Wettbewerb vermieden und ein Teil der EU-Einnahmen reich für die Wirtschaftsbeteiligten vereinfacht und wirt- gesichert. 2012 machten die Zölle als Einnahmequelle schaftsfreundlicher gestaltet. Der Warenfluss soll durch mit einer Summe von 16,3 Milliarden Euro beinahe die Zollabwicklung so wenig wie möglich beeinträchtigt 13 Prozent des EU-Haushalts aus. Die Zollbehörden der werden. Auch der Zoll gehört mit seiner Anpassung an EU wickeln fast 16 Prozent der weltweiten Importe ab – die Bedürfnisse der Unternehmen und die globalen Ent- das sind über 2 Milliarden Tonnen Waren pro Jahr. Dazu wicklungen durch die Implementierung der modernen bearbeiten sie über 260 Millionen Zollanmeldungen im Möglichkeiten zu einer wirtschafts- und serviceorientier- Jahr. ten Verwaltung. Die Folgen der Vorschriftenänderung Mit der EU-Verordnung Nr. 952/2013 vom 9. Oktober für die Mitgliedstaaten werden unter anderem in dem 2013 wird endlich auch die Möglichkeit einer zentralen vorliegenden Abkommen behandelt und müssen ins Zollabwicklung geschaffen. Damit können zugelassene deutsche Recht umgesetzt werden. Wirtschaftsbeteiligte ihre Waren elektronisch anmelden und Zölle am Ort ihrer Niederlassung entrichten, unab- Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Der heute eingebrachte hängig von dem Mitgliedstaat, in dem die Waren vom Gesetzentwurf mit dem sperrigen Titel „Entwurf eines Zollgebiet der EU ausgeführt, in das Gebiet eingeführt Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 10. März 2009 oder in dem sie verbraucht werden. Die Änderung ist zu zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7055

(A) über die zentrale Zollabwicklung hinsichtlich der Auftei- Richard Pitterle (DIE LINKE): Der vorliegende (C) lung der nationalen Erhebungskosten, die bei der Bereit- Entwurf trägt den sehr umständlichen Namen „Gesetz zu stellung der traditionellen Eigenmittel für den Haushalt dem Übereinkommen vom 10. März 2009 zwischen den der Europäischen Union einbehalten werden“ ist sehr Mitgliedstaaten der Europäischen Union über die zen- technischer Natur. Er regelt die gerechte Verteilung des trale Zollabwicklung hinsichtlich der Aufteilung der na- Verwaltungsaufwandes bei der Erhebung von Zöllen tionalen Erhebungskosten, die bei der Bereitstellung der zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Der Gesetzentwurf traditionellen Eigenmittel für den Haushalt der Europäi- setzt mit dem Unionszollkodex eine entsprechende EU- schen Union einbehalten werden“. Kurioserweise ist der Verordnung aus dem Jahr 2013 um. Verordnungen sind Titel damit fast so lang, wie der Inhalt des Gesetzes. Es Rechtsakte der Europäischen Union, die wir als Gesetz- handelt sich hierbei nämlich nur um zwei kleine Artikel, geber eins zu eins in deutsches Recht übernehmen müs- mit denen dem zugrunde liegenden Übereinkommen zu- sen. gestimmt wird. Der vorliegende Gesetzentwurf schließt eine Rege- Kommen wir daher also zum Inhalt des Übereinkom- lungslücke. Hintergrund ist die Zollerhebungspraxis in mens. Die von den Mitgliedstaaten erhobenen Zölle der der EU. Die Mitgliedstaaten erheben Zölle als Einfuhr- EU werden dieser nach Einzug zur Verfügung gestellt. abgaben, die sie an die Europäische Union abführen Die Mitgliedstaaten können für den angefallenen Ver- müssen. Für ihren Verwaltungsaufwand erhalten die waltungsaufwand von den an die EU abzuführenden Be- Mitgliedstaaten eine Pauschale – Erhebungskostenpau- trägen eine Erhebungskostenpauschale in Höhe von der- schale – in Höhe von derzeit 25 Prozent, die sie von den zeit 25 Prozent einbehalten. Durch die Einführung der abzuführenden Zöllen einbehalten dürfen. zentralen Zollabwicklung in der EU können die erforder- lichen Zollanmeldungen für Waren, die in einen Mit- Durch den sogenannten Unionszollkodex wird das In- gliedstaat eingeführt werden, auch in einem anderen strument der zentralen Zollabwicklung in allen EU-Län- Mitgliedstaat abgegeben werden. Da somit in diesen bei- dern eingeführt. Danach können Waren in einem Mit- den Staaten jeweils Verwaltungsaufwand entsteht, die gliedstaat zum zollrechtlich freien Verkehr angemeldet, Erhebungskosten für den Verwaltungsaufwand jedoch aber in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich einge- nur von dem Staat einbehalten werden, in dem die An- führt werden. meldung stattfindet und die Abgaben auch entrichtet Einfuhrstaat und Anmeldestaat fallen in der Praxis werden, soll mit dem Übereinkommen ein Ausgleich ge- mitunter auseinander. Dadurch sind also nicht nur ein, schaffen werden. Dieser sieht vor, dass die einbehaltene sondern zwei Staaten beteiligt. Wenn nun zwei Staaten Erhebungskostenpauschale hälftig an den Staat weiterge- (B) an einem Einfuhrvorgang beteiligt sind, entsteht auch in leitet wird, in dessen Gebiet die Waren gestellt werden. (D) beiden Staaten ein Verwaltungsaufwand. Bislang wurde Damit wäre so weit auch schon alles gesagt. Auf den die Erhebungskostenpauschale aber von dem Mitglied- ersten Blick erscheint das dem Entwurf zugrunde liegende staat einbehalten, in dem die Abgaben entrichtet werden. Übereinkommen zur Aufteilung der Erhebungskosten Mit der zukünftig zentralen Zollabwicklung wird auch konsequent und in Anbetracht des wohl tatsächlich an- der Verwaltungsaufwand des anderen Staates berück- fallenden Aufwandes in verschiedenen Staaten auch sichtigt. sachlich gerechtfertigt. Weshalb sollte nur der Staat von Die Mitgliedstaaten haben beschlossen, mithilfe eines der Erhebungskostenpauschale profitieren, in dem die multinationalen Übereinkommens zwischen allen EU- Waren angemeldet werden, obwohl in dem Staat, in den Mitgliedstaaten ein geeignetes Instrument für die Rege- sie eingeführt werden, ebenfalls Verwaltungsaufwand lung der Aufteilung der Erhebungskostenpauschale zu entsteht? schaffen. Ziel ist es, die Pauschale zwischen den tatsäch- Nun gilt es natürlich, in den kommenden Ausschuss- lich an der Einfuhr beteiligten Mitgliedstaaten gleichmäßig beratungen noch einmal ins Detail zu gehen, zum Bei- aufzuteilen. In dem Übereinkommen haben sich die Mit- spiel hinsichtlich der hälftigen Teilung oder des genauen gliedstaaten auf eine Aufteilung im Verhältnis 50 zu 50 ge- Prozedere der Weiterverteilung. Ob hier weiterer Dis- einigt. Diese Regelung ist für mich plausibel und ange- kussionsbedarf besteht, weil sich in dem Übereinkom- messen. men und somit hinter den zwei einsamen Artikeln des Gesetzentwurfs vielleicht doch noch das ein oder andere Zusätzlich enthält der Gesetzentwurf weitere Rege- Problem versteckt, wird sich dann zeigen. lungen des multinationalen Übereinkommens, die es umzusetzen gilt, so zum Beispiel verfahrenstechnische Fragen zur Ermittlung und Weiterverteilung der Erhe- Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei dem bungskosten oder der Streitbeilegung bei Meinungsver- vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich um Formali- schiedenheiten: Ist bei einem Streit zwischen zwei Mit- täten zur Aufteilung der Zollerhebungskostenpauschale. gliedstaaten nach drei Monaten noch keine Einigung Sind zwei EU-Mitgliedstaaten an der Zollerhebung einer erzielt worden, wird ein Vermittler eingeschaltet. Einfuhr von Waren in die EU beteiligt und haben beide aus diesem Grund Erhebungskosten, so wird auch bei- Ich begrüße es, dass die Bundesregierung mit dem den Staaten ein Anteil von 50 Prozent an der Erhebungs- vorliegenden Gesetzentwurf die Umsetzung in Deutsch- pauschale gewährt. Die Aufteilungsregelung ist daher land auf den Weg gebracht hat, und gehe von einem zü- zur Vorbeugung von Konflikten zwischen den Mitglied- gigen parlamentarischen Verfahren aus. staaten grundsätzlich als sinnvoll anzusehen. 7056 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014

(A) Diesem Gesetzentwurf wollen wir als Grüne nicht wurf gesondert und nicht im Rahmen des Zollkodexge- (C) entgegenstehen. Die einzige Frage, die wir in diesem Zu- setzes eingebracht und diskutiert worden ist. sammenhang aufwerfen, ist, warum dieser Gesetzent-

(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-7980