Kultur

nicht nur auf einen gleichnamigen Song POP an, in dem es um harten Sex geht, sondern auch auf Cockers Leiden: „Einen großen Eigentlich Teil deines Lebens verbringst du damit, dir auszumalen, was alles geschehen könnte, wenn du erst einmal berühmt und erfolg- schüchtern reich bist“, klagt er. „Aber wenn du dort angekommen bist, lichtet sich der Nebel Die britische Band Pulp galt der Illusionen, und die Welt scheint noch viel grauer als zuvor – diese Erkenntnis ist lange als Verlierertruppe – Hardcore!“ nun feiert sie mit romantischem Seine Band hat der zur Exzentrik nei- Glamour Triumphe. gende Cocker schon 1978 in Sheffield ge-

Pulp-CD „“ Der Zauber seltsamer Affären

s dauerte 19 Jahre, bis zum erstenmal ein Mädchen küssen Edurfte. Schuld an seiner pubertären Einsamkeit waren nicht nur sein langer, dürrer Körper und die unförmige Brille in seinem Gesicht, sondern auch ein Päckchen aus Deutschland. Eine Tante hat- te eine kurze bayerische Lederhose ge- schickt, und der junge Jarvis mußte sie an- ziehen. „In einer englischen Schule hat ein Junge mit so einer Hose nichts zu lachen – und eine Freundin hat er schon gar nicht“, berichtet Cocker, und seiner Stimme ist

die Bitterkeit über jene Zeit noch immer INTER-TOPICS anzuhören. Pulp-Sänger Cocker Der Bursche ist nun 34 Jahre alt, trägt „Der Nebel der Illusionen lichtet sich“ häßliche Brillen inzwischen mit Stolz, und Mädchen, die ihn auf der Straße erkennen, gründet. Dann geschah lange so gut wie bitten ihn schon mal um ein Autogramm nichts. Mitglieder kamen und gingen, ab und einen Kuß.Aber wesentlich glücklicher und zu erschien eine Platte mit merkwür- als früher ist er deshalb noch lange nicht. digem Avantgarde-Pop – aber Notiz nahm Das merkt man auch „This Is Hardcore“ an, davon außer guten Freunden und engen dem neuen Album von Cockers Band Pulp Verwandten kein Mensch. Deshalb einigte – einem Werk, das in der Pop-Nation Groß- man sich Ende der achtziger Jahre darauf, britannien von Journalisten und Fans bei- das Ganze erst einmal ruhen zu lassen, nah hysterisch erwartet wurde. Auch in und Cocker zog nach London, um an der Deutschland gilt Pulp seit der 1996 erschie- Central Saint Martin’s School Film zu stu- nenen Platte „“ als Sensa- dieren. „Ich hätte mich damals natürlich tionsband, die lässig den romantischen Gla- auch erschießen können.“ mour von Legenden wie Roxy Music und Immerhin spezialisierte er sich an der David Bowie zu neuem Leben erweckt. Filmschule bald gemeinsam mit seinem Zwei Jahre ließen sich Cocker und seine Pulp-Freund Steve Mackey auf Pop-Video- Kumpane für ihren neuen Streich Zeit. Of- Clips. Und während Arbeiten für Aphex fenbar hatte der Sänger eine Auszeit nötig. Twin,Terry Hall und die Tindersticks end- Der Albumtitel „This Is Hardcore“ spielt lich Erfolge brachten, wuchs auch die Lust,

240 der spiegel 15/1998 es noch einmal mit Pulp zu versuchen. Mit wenigen, aber aufwendig in szenierten Auftritten machten sie einige Plattenfir- men auf sich aufmerksam. Pulp erhielt ei- nen anständigen Vertrag und produzierte erste Hit-Singles. Daß die Band nach 15jährigem Bestehen Anfang der Neunzi- ger als Newcomer gehandelt wurde, war nur von Vorteil. Pulp profitierte vom neu entflammten Nationalstolz der britischen Popfans und der internationalen Begeisterung für das wiedererwachte Swinging London. Und so wurde Cocker sehr spät und plötzlich zum Star. Ein bleicher Dandy, einer, der nirgendwo sonst auf diesem Planeten eine Chance als Sex-Symbol gehabt hätte und dem es mit seinen schnippischen Texten gelang, dem glanzlosen Working-class-All- tag, Fish and Chips und seltsamen Affären Zauber und Charme zu verleihen. „“, ein Lied über eine arrogante griechische Studentin, die das Pech hatte, Jarvis Cocker über den Weg zu laufen, wurde zur -Hymne; „Disco meets Jacques Brel“ nannte die Musik- zeitschrift „Q“ Cockers Stilmixtur. Cocker wurde nun zu so ziemlich jeder Premiere, Modenschau und Vernissage ge- laden, und er kam so oft, bis ihm die Sa- che nicht mehr geheuer war. So saß er schlechtgelaunt in der ersten Reihe, als 1996 unter dem üblichen Getöse die all- jährlich verliehenen Pop-Trophäen Brit Awards verteilt wurden, und als Michael Jackson quietschend den Moonwalk gab, brannte bei Cocker eine Sicherung durch. Plötzlich sprang er auf und stürmte zum Entsetzen aller Anwesenden auf die Büh- ne, wo er den „King of Pop“ imitierte, bis ihn eine Armee von Bodyguards da- vonzerrte. Am Morgen danach war Jar- vis Cocker als vermeintlicher Michael- Jackson-Attentäter in Zeitungen auf der ganzen Welt abgebildet. „Das war un- glaublich dumm und unerklärlich“, findet er heute, „fast ein Jahr konnte ich nicht vor die Tür gehen. Eigentlich bin ich ein schüchterner Mensch.“ Cocker verfiel erst mal in Depressionen und begann dann, sein Leben neu zu ord- nen. „Ab 25 ist man eigentlich alt“, hat er erkannt, „Leonard Cohen hat einmal ge- sagt, ab 35 beginne das Hirn ein Sedativ zu produzieren, das das Altern erträglich macht – darauf warte ich sehnsüchtig.“ Ähnlich abgeklärt gibt sich Cocker auch auf dem neuen Pulp-Album. „Ich bin nicht Jesus, auch wenn ich dieselben In- itialen habe“, singt er da. „Ich bin der Mann, der zu Hause bleibt und den Ab- wasch erledigt.“ Um wirklich seinen Frie- den zu finden, will er demnächst zu seiner Mutter fahren und die bayerische Leder- hose, die immer noch in einem Schrank la- gert, verbrennen: „Sonst wird meine Schwester sie eines Tages meinem Neffen anziehen, und das muß ich auf jeden Fall verhindern.“ ™

der spiegel 15/1998