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TANJA VAN HOORN

Auch eine Dialektik der Aufklärung.

Wie W. G. Sebald Georg Wilhelm Steller zwischen Kabbala und magischer Medizin verortet („Nach der Natur“)

W. G. Sebald, von der neueren Literaturwissenschaft beinahe ausschließlich als Verfasser melancholisch-dichter Erinnerungsprosa wahrgenommen, machte seine ersten literari- schen Gehversuche 1984 mit dem Langgedicht Und blieb ich am äußersten Meer.1 Dieses

Gedicht, ein poetisches Portrait des Naturforschers Georg Wilhelm Steller (1709–1746), der auf dessen letzter Expedition begleitete, erschien zunächst in der

österreichischen Literaturzeitschrift Manuskripte. Vier Jahre später fasste Sebald es mit einer lyrischen Skizze Matthias Grünewalds (Wie der Schnee auf den Alpen) und einem

Poem, in dem die Geschichte des Autors selbst aufscheint (Die dunckle Nacht fahrt aus) unter dem Titel Nach der Natur. Ein Elementargedicht zu einem literarischen Triptychon 2 3 zusammen. In der Buchfassung, deren Text weitgehend den Erstdrucken folgt, plat- zierte er das Gedicht Und blieb ich am äußersten Meer nicht, der Publikationsgeschichte folgend, an erster, sondern, die Chronologie der skizzierten Lebensläufe berücksichti- gend, nach dem Grünewald-Gedicht an zweiter Stelle und gab ihm damit die in einem Triptychon besonders herausgehobene Position der Mitteltafel. Dessen ungeachtet konzentriert sich die Forschung, so sie sich überhaupt mit Sebalds Versdichtung befasst,4 angeregt durch die für Sebalds Prosa fraglos zentrale Ekphrasis- Problematik, vorzugsweise auf die Bildbeschreibungen in dem dreiteiligen Langgedicht

1 Exemplarisch für die Konzentration der neueren Sebald-Forschung auf die Prosa: Mark R. McCulloh: Understanding W. G. Sebald, Columbia 2003; Anne Fuchs: Die Schmerzensspuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in W. G. Sebalds Prosa, Köln u. a. 2004; J. J. Long: W. G. Sebald. Image, Archive, Modernity, Edinburgh 2007; A. Fuchs, J. J. Long (Hrsg.): W. G. Sebald and the Writing of History, Würz- burg 2007. 2W. G. Sebald: Und blieb ich am äußersten Meer. In: Manuskripte 24 (1984), H. 85, S. 23–27; ders.: Wie der Schnee auf den Alpen. In: Manuskripte 26 (1986), H. 92, S. 26–31; ders.: Die dunckle Nacht fahrt aus. In: Manuskripte 27 (1987), H. 95, S. 12–18; ders.: Nach der Natur. Ein Elementargedicht, Nördlingen 2 1988; zugrundegelegt wird die TBA: ders.: Nach der Natur. Ein Elementargedicht, Frankfurt a. M. 2002. Zitate werden nachfolgend im Fließtext mit dem Kürzel NN nachgewiesen. – Als Triptychon wird Nach der Natur bereits aufgefasst von Thomas Anz: Feuer, Wasser, Steine, Licht. W. G. Sebalds eindrucksvoller Versuch Nach der Natur. In: W. G. Sebald, hrsg. v. Franz Loquai, Eggingen 1997, S. 58–60, hier S. 59 [zuerst in FAZ v. 11.2.1989], diesem Gedanken folgt Irene Heidelberger-Leonhard: Melancholie als Widerstand. In: Akzente 48 (2001), S. 122–130, hier S. 124. 3 Gegenüber dem Erstdruck in der Zeitschrift Manuskripte hat Sebald neben einigen Verbesserungen in der Groß- und Kleinschreibung sowie der Interpunktion vor allem Versumbrüche verändert. Neue Feh- ler haben sich freilich eingeschlichen, so wird Klopstocks Ode Die Welten im Erstdruck noch korrekt auf das Jahr 1764 datiert, in den Buchfassungen jedoch irrtümlicherweise auf das Jahr 1746. Die erste Buch- ausgabe bei Eichborn fügt dem Gedicht Landschaftsphotographien von Thomas Becker bei, die jedoch nicht, wie in den späteren Prosawerken Sebalds, in den Text hineinmontiert, sondern ihm lediglich voran- bzw. nachgestellt sind. 4 Von der Forschung bislang unberücksichtigt ist W. G. Sebald: Das vorvergangene Jahr. In: H. M. Enzensberger (Hrsg.): Komet: Almanach der Anderen Bibliothek auf das Jahr 1991, Frankfurt a. M. 1990, S. 138–142. Wie W.G. Sebald Georg Wilhelm Steller zwischen Kabbala und magischer Medizin verortet 109

und folglich besonders auf die Beschreibungen der Werke Grünewalds im ersten und 5 die Bilder Altdorfers im letzten Gedicht.

Wie jedoch bereits der mehrdeutige Titel Nach der Natur impliziert, hat das Poem nicht nur eine ästhetische, sich mit Verfahren der Kunstproduktion auseinandersetzende Dimension. Die anspielungsreiche Überschrift eröffnet mindestens drei weitere wegwei- sende Perspektiven: eine temporale, eine erkenntnistheoretische und eine (geschichts-) philosophische. Versteht man die Präposition „nach“ zeitlich, so nimmt Sebalds Tripty- chon gewissermaßen eine ‚postnaturale‘ Perspektive ein. In diesem Sinne ist es als Ausdruck eines „ecocentrism“ gelesen und in den Kontext des ökologischen Krisen- bewusstseins der 1980er Jahre gestellt worden.6 Darüber hinaus zielt die Formulierung Nach der Natur auch auf eine an Bacon geschulte, genuin aufklärerische, empirisch- induktive Art und Weise der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung nicht durch abstrakte Deduktion, sondern durch konkrete Beobachtung. Diese erkenntnistheoreti- sche Haltung einer Ordnung des Wissens auf der Basis der Erkundung der Natur ist nun fraglos vor allen in dem mittleren, dem Naturforscher Steller gewidmeten Teil thematisiert. Zugleich scheint hier aber auch eine weitere meta-physische oder

(geschichts-)philosophische Bedeutungsdimension der Titelformulierung Nach der Natur durch den Kontrast zum Vertrauen auf eine empirische Methode besonders grell auf. Meta-physisch zielt das Poem auf die Frage, welche Perspektiven sich dem Menschen als einem die Natur überwinden wollenden Naturwesen bieten, wie er auf der Basis seiner naturgeschichtlich gegebenen Sonderaustattung historisch agiert und in welchen über das sichtbare Diesseits hinausweisenden Horizont er selbst sein Schicksal deutend stellt. Das zentrale Thema des Poems ist mithin nicht „die Unvereinbarkeit von Natur und Gesellschaft“,7 sondern die dialektische Stellung des Menschen zur Natur.8 Diese

Thematik wird insbesondere am Exempel Stellers entwickelt: Den inneren Weg des berühmten Pioniers der Erkundung Kamtschatkas inszeniert Sebald als das Schwanken zwischen dem frühaufklärerischen Entdeckungswillen des Naturhistorikers und der 9 mystischen Besinnung auf die Eschatologie. Als Dreh- und Angelpunkt dieses

Schwankens erweist sich dabei die Auseinandersetzung mit der Physis, die Konfronta- tion mit der Hinfälligkeit des menschlichen Körpers. Das Poem Und blieb ich am äußers- 5 Aus der Perspektive der Intertextualitäts- und Intermedialitätsforschung vgl. Susanne Schedel: „Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?“. Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W. G. Sebald, Würzburg 2004, S. 84–88, 132–137. Eine überzeugende dekonstruktivistische Lesart präsentiert Claudia Albes: Porträt ohne Modell. Bildbeschreibung und autobiographische Reflexion in W. G. Sebalds ‚Elementargedicht‘ Nach der Natur. In: M. Niehaus, C. Öhlschläger (Hrsg.): W. G. Sebald. Politische Archäo- logie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, S. 47–75. Auch wenn sich Albes gemäß ihrer Fragestel- lung ebenfalls auf den Grünewald-Teil konzentriert, so zeigt sie für den Steller-Teil, dass mit Dürers Melencolia an prominenter Stelle des Poems eines der bekanntesten Bilder der abendländischen Kulturgeschichte im- plizit zitiert wird (vgl. S. 62–65). 6 Colin Riordan: Ecocentrism in Sebald’s After Nature. In: J. J. Long, A. Whitehead (Hrsg.): W. G. Sebald. A Critical Companion, Edinburgh 2004, S. 45–57. 2 7 Vgl. den Klappentext der TBA von W. G. Sebald: Nach der Natur. Ein Elementargedicht, Frankfurt a. M. 2002. 8 In diesem Sinne liest das Poem auch Klaus Briegleb: Preisrede auf W. G. Sebald anlässlich der Verleihung des Lyrikpreises „Fedor Malchow“ am 17.12.1991 im Hamburger Literaturhaus. In: Hamburger Ziegel. Jahrbuch für Literatur 1 (1992), S. 473–483. 9 Auf das Ineinander von Natur- und Heilsgeschichte bei Sebald allgemein reflektiert Michael Niehaus: Sebald’s Scourges. In: Fuchs, Long (wie Anm. 1), S. 45–57. 110 Tanja van Hoorn

ten Meer gestaltet das spannungsvolle Wechselverhältnis des Menschen zu Physik und Metaphysik, sein Schwanken zwischen Natur- und Gotteserkenntnis als Umschlag von Aufklärung in Mythos: Im Zeichen der Bedrohung durch die übermächtigen Elemente angesichts der Apokalypse wendet sich Steller von der Naturgeschichte zur Heilsge- schichte und wird zugleich zum Opfer der nackten Naturgeschichte.

Die folgende Darstellung fragt zunächst danach, welche Form Sebald diesem The- ma gibt (I.), blickt dann kurz auf das gewählte Vorbild, d. h. den historischen Steller

(II.), um dann den fingierten Steller Sebalds zu untersuchen. An exemplarischen Te x t - passagen soll seine Erfassung der fremden Natur (III.), der Blick auf den menschlichen Körper (IV.) und seine metaphysische Orientierung (V.) analysiert werden.

I. Das Langgedicht Und blieb ich am äußersten Meer besteht aus 21 unterschiedlich um- 10 fangreichen absatz- und titellosen Abschnitten, die römisch nummeriert sind. Der sprachliche Duktus ist berichtend, der Stil häufig hypotaktisch, die Verse eher pro- saisch-schlicht, reimlos, in einem nur gelegentlich sich lyrisch verdichtendem Metrum.11

Dem Gedicht ist, wie den beiden ‚Seitenflügeln‘ des Triptychons ebenfalls, ein Mot- to vorangestellt: Zitiert werden die letzten, einen Schiffbruch und die darin sich aus- 12 drückende Übermacht Gottes darstellenden Verse aus Klopstocks Elegie Die Welten. Damit knüpft das Motto an die den biblischen Psalmen entliehene Überschrift Und blieb ich am äußersten Meer an und unterstreicht die Thematik der in den Elementen spürbaren allumfassenden Macht Gottes, wobei freilich der zerstörerische Aspekt gegen- über dem tröstenden einseitig betont wird.13 Gattungsgeschichtlich erscheint die Einordnung des Gedichtes schwierig. Fraglich ist jedenfalls, ob es sich bei Sebalds Langgedichten tatsächlich um Lehrdichtung in 14 der Tradition Albrecht von Hallers handelt, denn im Unterschied zur aufkläreri- schen Lehrdichtung15 steht auf der inhaltlichen Ebene von Nach der Natur zunächst nicht das Allgemeine, nicht die Erörterung eines philosophischen, wissenschaftlichen, ethischen oder ästhetischen Problems, sondern im Gegenteil das Besondere, der mensch- liche Einzelfall. Auch eine unmittelbare Anknüpfung an Brockes Irdisches Vergnügen in Gott, dieser Physikotheologie in poetischen Bildern, scheint wenig einleuchtend.16

10 Über die Form herrscht große Uneinigkeit in der Forschung. Wenig einleuchtend erscheint die Bestim- mung von Nach der Natur als „three groups of poems“ (McCulloh, wie Anm. 1, S. xvi), denn die einzel- nen Abschnitte haben ihre Funktion ausschließlich im Gefüge des jeweiligen Langgedichtes und sind nicht als auch einzeln lesbare Gedichte konzipiert; daher scheint auch der Terminus „Zyklus“ für die eher kapitel- weise aufeinander folgenden Abschnitte unpassend (vgl. Briegleb, wie Anm. 8, S. 477). 11 Vgl. die treffende Charakterisierung von Hugo Dittberner: „Die Verse dienen dem Text, dem Satz zumal, nicht der Text den Versen.“ In: Ders: Der Ausführlichste oder: ein starker Hauch Patina. W. G. Sebalds Schreiben. In: W. G. Sebald. text+kritik Nr. 158, S. 6–14, hier S. 8. 12 Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock. Ausgewählte Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden, Nachw. v. Friedrich Georg Jünger, Wiesbaden o. J., S. 99 f. 13 Vgl. Ps 137, 8–10; vgl. dazu die schlüssige Deutung von Sven Meyer: Der Kopf, der auftaucht. Zu W. G. Sebald Nach der Natur. In: M. Atze, F. Loquai (Hrsg.): Sebald. Lektüren, Eggingen 2005, S. 67–77, hier S. 75. 14 So die Vermutung von Anz (wie Anm. 2), S. 59. 15 Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung, Stuttgart 1974. 16 So die These von Briegleb (wie Anm. 8, S. 480), die auch deshalb nicht überzeugt, weil sie die falsche inhaltliche Behauptung, der fingierte Steller Sebalds sei ein Anhänger des Pantheismus, aus einem sinn- Wie W.G. Sebald Georg Wilhelm Steller zwischen Kabbala und magischer Medizin verortet 111

Gleichwohl nimmt Sebald gerade durch seine Titelwahl auf eines der wichtigsten

Lehrgedichte der Weltliteratur überhaupt Bezug – eine Referenz, die von der For- schung bislang vollkommen übersehen wurde: Angespielt ist auf Lukrez’ De rerum Natura /

Von der Natur. Während allerdings Lukrez in seinem Lehrgedicht aufsteigend von der epikureischen Atomlehre (Bücher 1 und 2), über eine Seele, Verstandeskraft, Affekte und Sexualität erörternde Anthropologie (Bücher 3 und 4) zu meterologischen und kosmologischen Phänomenen (Bücher 5 und 6) voranschreitet, präsentiert Sebald schein- bar lediglich drei individuelle, vielfach miteinander verknüpfte Biographien.17 Stilisiert werden diese Biographien jedoch als Kampf mit den Elementen (besonders deutlich bei Steller), es geht um die Sichtbarmachung von etwas Grundlegendem, Elementarem. Als Elementargedicht, wie die ungewöhnliche, einen Neologismus kreierende Gattungs- bezeichnung von Nach der Natur lautet, steht Sebalds Poem in der Tradition des Lukrez, der sich als antiker Dichter der Elemente noch vor die Natur stellen konnte, wo Sebald die sentimentalische Position ex post einzunehmen sich gezwungen sieht. Lebensgeschichten außergewöhnlicher Männer (Frauen sind da selten) sind seit der Antike – man denke etwa an die Preisgesänge der olympischen Helden von Pindar – Gegenstand lyrischer Dichtung, stehen freilich notwendigerweise etwas sperrig zur Gattung, denn sie wollen erzählen, nicht evozieren, haben mithin eine natürliche Nähe zum Epischen. Im Unterschied zu den antiken Oden sind Sebalds Langgedichte kei- 18 ne den Helden empathisch anrufenden Lobeshymnen, sie sind im Ton eher ele- gisch.19 Die Lebensgeschichte Stellers lässt Sebald teils berichtend, teils beschwörend, beinahe durchgängig chronologisch von einem an der Handlung unbeteiligten lyri- schen Ich (oder Erzähler?) präsentieren, das (der) sich nur gelegentlich und unter Beto- 20 nung der historischen Distanz bemerkbar macht und unter Nutzung einer Vielzahl von Quellen fast eher in der Rolle eines empathischen Chronisten spricht. Sebalds Langdichtung lässt sich damit einordnen in eine Seitenlinie der Lyrikgeschichte, die man als poetisches Porträt charakterisieren könnte. Diese Tradition hat etwa der von Sebald sehr geschätzte Jorge Luis Borges gepflegt, dessen poetische Porträts allerdings eher aphoristisch verdichtete Bilder sind.21 Größere Nähen zum erzählen- den Duktus Sebalds weisen die Langgedichte Guntram Vespers auf, insbesondere die

Skizze der Lebensgeschichte Gottfried August Bürgers in Die Leuchtfeuer auf dem Fest-

entstellenden Zitat ableitet: Der Glaube, „dass Gott auf einmal / und wie aus heiterem Himmel / auf einem Lungenkrautblatt entstand“ wird im Gedicht präsentiert als die vom St. Petersburger Erzbischofs Theophon (gemeint ist Feofan Prokopovic) weitererzählte „Sage aus dem Bezirk Dolji“ (NN 42). 17 Vgl. Albes (wie Anm. 5), S. 51 f. 18 Auffälligerweise fehlen auch direkte Anrufungen in der 2. Pers. Sing. 19 Auch wenn Nach der Natur fraglos in elegisch-trauerndem Tonfall das Leid von Figuren beschreibt, scheint der Umkehrschluss, dass „sich Sebalds Elementargedicht als Elegie klassifizieren“ lässt, doch nicht ganz überzeugend, da er sich nicht dem Problem stellt, dass weder Klopstock noch Hölderlin in ihren Elegien Lebensgeschichten erzählen und er zudem keine Antwort auf die Frage liefert, wo Sebalds Versdichtung in der Gegenwartsliteratur zu verorten ist (Albes, wie Anm. 5, S. 55). 20 Vgl. die Aussage, dass der Kopf des Vitus Bering „zweieinhalb Jahrhunderte später zu unserem Entsetzen noch einmal in der Literatur auftaucht“ (NN 37). 21 Vgl. Jorge Luis Borges: Emanuel Swedenborg. In: Gedichte 1923–1965, hrsg. u. übers. v. Gisbert Haefs, München 1982, S. 106. 112 Tanja van Hoorn land und die Schilderung der Franklin’schen Nordmeerexpedition in Nordwestpassage. Ein Poem.22

II. Sebald ist wie Borges als „Falschspieler“ bekannt,23 ist berüchtigt als Meister der schil- lernden bricolage, des schlitzohrigen Bastelns eines Kunstwerks aus markierten, unmarkier- ten und falsch markierten Zitaten.24 Das poetische Porträt Stellers, das Sebald entwirft, ist also, auch wenn es sich durchaus an den historischen Fakten orientiert, sicher nicht 25 lediglich „based closely on the historical figure“. Daher vorweg ein paar Worte zu Steller. 26 Georg Wilhelm Steller, von dem kein Porträt überliefert ist, wurde am 10. März 27 1709 im fränkischen Windsheim, einer Hochburg des frühen Pietismus, als Sohn eines evangelischen Kantors und Organisten geboren. Er ging 1729 mit einem Stipen- dium versehen zunächst nach Wittenberg, um sich an der dortigen berühmten, jedoch 28 eher konservativ-lutherisch ausgerichteten Theologischen Fakultät einzuschreiben. Zwar durfte er offenbar bald schon selbst predigen,29 scheint jedoch innerlich nicht ganz entschieden und gefestigt gewesen zu sein, hatte wohl auch Kontakt zu spiritis- 30 tisch-mystischen Kreisen. Er unterbrach jedenfalls die Wittenberger Karriere zugunsten eines Wechsels zunächst kurz nach Jena und Leipzig, dann 1731 nach Halle. Hier arbei- tete er, seines Stipendiums aufgrund der Wirren nun verlustig, nach der erfolgreich absolvierten Disputation über den Gebrauch des Verstandes bei der Auslegung der

22 Guntram Vesper: Die Leuchtfeuer auf dem Festland. In: Leuchtfeuer auf dem Festland. Gedichte, ausgew. 1 v. Fritz Raddatz, München, Wien 1991, S. 26–28 [ 1980]; ders.: Nordwestpassage. Ein Poem, Göttingen 1980. Dittberner hat Sebalds Nach der Natur einleuchtend in eine Gruppe von skeptisch-kritischen Lang- gedichten gestellt, wie sie in den 80er Jahren als Reaktion auf Umweltkatastrophen entstandenen sind (wie Anm. 11, S. 8). Neben der von Dittberner hervorgehobenen Nordwestpassage, die thematisch besonders eng gerade mit Und blieb ich am äußersten Meer zusammenhängt, wäre hier auch an Enzensbergers Unter- gang der Titanic zu denken. 23 Adelheid Hanke-Schaefer: Jorge Luis Borges zur Einführung, Hamburg 1999, S. 53. 24 Bei Sebald ist selbst „das sicher und eindeutig Erscheinende unterhöhlt von den Maulwurfsgängen der kryptischen Zitate“ (Heinrich Detering: Schnee und Asche, Flut und Feuer. Über den Elementardichter W. G. Sebald. In: Neue Rundschau 109 [1998], H. 2, S. 147–158); zu der Technik der bricolage vgl. Schedel (wie Anm. 5, S. 80); zu Sebalds unzuverlässiger Zitationspraxis am Beispiel der Ringe des Saturn vgl. Hol- ger Steinmann: Zitatruinen unterm Hundsstern. W. G. Sebalds Ansichten von der Nachtseite der Philo- logie. In: M. Niehaus, C. Öhlschläger (Hrsg.): W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, S. 145–156, insbes. S. 151. 25 So aber die Einschätzung von Riolan (wie Anm. 6), S. 52. 26 Seinen Geburtsnamen Stöller änderte Steller in Russland, um sich den Gepflogenheiten der Landessprache anzupassen. 27 Günter Mühlpfordt: Halle – Russland – Sibirien – Amerika: Georg Wilhelm Steller, der Hallesche Kolum- bus, und Halles Anteil an der frühen Osteuropa- und Nordasienforschung. In: J. Wallmann, U. Sträter (Hrsg.): Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus, Tübingen 1998, S. 49–82, hier S. 50. 28 Vgl. W. Hintzsche, Th. Nickol (Hrsg.): Die große Nordische Expedition. Georg Wilhelm Steller (1709 bis 1746). Ein Lutheraner erforscht Sibirien und . Eine Ausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Gotha, Halle 1996, S. 14. 29 Vgl. ebenda, S. 11. 30 So jedenfalls die Behauptung von Elias Kaspar Reichard: Der Lappländer mit den rothen Stiefeln und gelben Hacken. In: Vermischte Beyträge zur Beförderung einer nähern Einsicht in das gesamte Geister- reich, Bd. 2 (1788), S. 229–241. Wie W.G. Sebald Georg Wilhelm Steller zwischen Kabbala und magischer Medizin verortet 113

Offenbarung31 als Hilfslehrer an den pietistischen Franckeschen Stiftungen, vertiefte sich jedoch mehr und mehr in die Naturwissenschaften, namentlich in die Botanik, die seinerzeit noch innerhalb der medizinischen Fakultät gelehrt wurde. Der berühmte Halleschen Mediziner Friedrich Hoffmann schickte Steller 1734 nach Berlin, wo er seine Chancen auf eine wissenschaftliche Karriere trotz der erfolgreichen Absolvierung der Prüfungen jedoch als gering einschätzte und sich daher auf Reisen begab, zunächst nach St. Petersburg (1734–1737), wo er von dem Oberhaupt der russischen orthodoxen

Kirche und Vorkämpfer für die petrinischen Reformationen Feofan Prokopovic& ge- fördert wurde.32 1737 wurde Steller dann als Naturforscher für die zweite Kamtschatka-

Expedition verpflichtet, nahm sich für die Anreise in das unendlich weit entfernte Kamtschatka drei Jahre Zeit und berichtete fortlaufend nach St. Petersburg über Flora, 33 Fauna und Völker der russischen Weiten. Der 1740 begonnene, 4-jährige Forschungs- aufenthalt in Kamtschatka wurde nur durch die Amerika-Reise mit Vitus Bering ( Juni

1741– August 1742) unterbrochen. Stellers Leben fand ein jähes und unglückliches

Ende: Er starb 1746, erst 37-jährig, im russischen Tjumen. Hinterlassen hat Steller, diesem kurzen und unruhigen Leben zum Trotz, ein sowohl quantitativ als auch quali- tativ beeindruckendes, insbesondere von dem Naturforscher und Russlandreisenden Simon Pallas geschätztes und systematisch ausgewertetes Œuvre. Überliefert sind seine zoologischen Pionierleistungen, seine in der Differenziertheit des ethnologischen Blicks auf Georg Forster vorausweisenden Charakterisierungen der Bewohner Kamtschatkas und ein Reisetagebuch, das er während der Bering-Reise führte.34

III. Auf Steller ist Sebald vermutlich durch Konrad Bayers Erzählung Der Kopf des Vitus Bering aufmerksam geworden, in der er als Begleiter Berings in einer Fußnote erwähnt wird.35 Jedenfalls ist es auch die Bering-Expedition, die, nun freilich aus der Perspektive Stellers, im Mittelpunkt von Und blieb ich am äußersten Meer steht.

31 De usu rationis in relevatione interpretanda. Praeses: Gottlieb Friedrich Hagen. Respondent: Georg Wilhelm Stoeller, Halle 1731. 32 Vgl. Erzbischof Feofan Prokopowitsch (1681–1736). Vorkämpfer der petrinischen Reformationen. In: Hintzsche, Nickol (wie Anm. 28), S. 40–43. 33 Vgl. Georg Wilhelm Steller: Briefe und Dokumente 1740, bearb. v. Wieland Hintzsche, Thomas Nickol, Ol’ga Vladimirovna Novochatko, Halle 2000; Georg Wilhelm Steller: Briefe und Dokumente 1739, bearb. v. Wieland Hintzsche, Halle 2001. 34 Vgl. Georg Wilhelm Steller: De bestiis marinis. In: Novi Commentarii Academiae Scientiarium Imperialis Petropolitanae. II (1749), St. Petersburg 1751, S. 289–395; ders.: Ausführliche Beschreibung von den son- derbaren Meerthieren mit Erläuterungen und nöthigen Kupfern versehen, Halle 1753; ders.: Beschrei- bung von dem Lande Kamtschatka dessen Einwohnern, deren Sitten, Nahmen, Lebensart und verschie- denen Gewohnheiten, hrsg. v. J. B. S., Frankfurt, Leipzig 1774; ders.: Reise von Kamtschatka nach Ameri- ka mit dem Comandeur-Capitän Bering [hrsg. v. Simon Pallas], St. Petersburg 1793. Ausschnitte präsen- tiert: Die Große Nordische Expedition von 1733 bis 1743. Aus den Berichten der Forschungsreisenden und Georg Wilhelm Steller, ausgew. u. hrsg. v. Doris Posselt, Leipzig, Weimar 1990. Ungekürzte Reprints enthält der im Folgenden zugrundegelegte Band: Georg Wilhelm Steller: Beschrei- bung von dem Lande Kamtschatka. Reise von Kamtschatka nach Amerika. Ausführliche Beschreibung von sonderbaren Meerthieren. Unveränderte Neudrucke der 1774 in Frankfurt, 1793 in St. Petersburg und 1753 in Halle erstmals erschienenen Werke, mit einer Einl. hrsg. v. Hanno Beck, Stuttgart 1974. 35 Das und das zweimalige Referieren von Und blieb ich am äußersten Meer auf Bayers Erzählung hat nach- gewiesen Meyer (wie Anm. 13, S. 72 f.); vgl. Konrad Bayer: Der Kopf des Vitus Bering, Frankfurt a. M. 1970 [11965], S. 61. 114 Tanja van Hoorn

Nach Stellers Ausbildungsweg (I–II), seiner Reise nach St. Petersburg (III– V) und dem Aufenthalt dort (VI– VIII) widmet sich das Poem nur kurz den vier intensiven Jahren der Erforschung Russlands 1736–1741 (IX) und erreicht dann mit der plasti- schen Schilderung der ersten Begegnung Stellers und Berings einen Höhepunkt (X).

Die Teilnahme an der nur 14 Monate währenden unglücklichen letzten Seereise findet die ausführlichte Darstellung (XI–XVI), bevor das Langgedicht abschließend den Kamt- schatka-Forscher Steller würdigt (XVII–XIX) und mit seinem Tod endet (XX–XXI).

Steller erscheint bei Sebald als fanatischer Naturforscher und Taxonomist, der schon während der Absolvierung seiner Prüfungen

an nichts anderes zu denken vermochte / als an die Formen der Fauna und Flora / jener Welt-

gegend, in der Osten / und Westen und Norden zusammentreffen, / und an die Kunst / ihrer Beschreibung. (NN 38)

Zum ersten Mal glücklich in seinem Leben ist er, als er nach der Rückkehr von der

Bering-Reise allein mit seinem Gehilfen Thoma Lepekhin die Botanik Kamtschatkas erkundet und dort „beschreibt, rubriziert, zeichnet“ (NN 64). Wie erlebt dieser Jünger

Linnés die mehrwöchige Überfahrt und das Erreichen der Alaska vorgelagerten Insel St. Elias? Sebald schildert diese Fahrt nicht als eine Forschungsexpedition, sondern als eine Odyssee: Zunächst jagen die Seefahrer einem Mythos nach,

aber das auf der Karte Delisles eingezeichnete / sagenhafte Land Gama tauchte / nirgends aus

der Wüste / des Wassers auf. (NN 50)

Dann lassen sie sich zweimal von Luftspielen der Kimming, Mirage genannt, verwir- ren (NN 50). Nach langer Fahrt und mancher Irreleitung, etwa durch einen zunächst für eine Felseninsel gehaltenen toten Wal, erscheint endlich eine unheilschwangere, apokalyptische Landschaft. Die Beschreibung derselben lässt Sebald seinen Steller mit so viel Bedacht wählen – „die schneebedeckten, zerrissenen / Zinnen Alaskas prang- ten, / dünkte Steller das richtige Wort“ (NN 51) –, dass man glaubt, die ganze Schil- derung müsse sich bei Steller so oder so ähnlich finden lassen können. Tatsächlich ist Stellers Reisetagebuch, dem der Herausgeber Pallas übrigens ein be- rühmtes, wenngleich falsch zitiertes Lucrez-Zitat voranstellt,36 eine von Sebald ge- nutzte Quelle.37 Blickt man allerdings bezüglich der Beschreibung der Überfahrt nach

Alaska in Stellers Tagebuch, so ergeben sich auffällige Differenzen. So erzählt Steller diese Reise nicht als Geschichte einer Verführung durch Trugbilder und Enträtse- lung optischer Täuschungen (von denen bei ihm gar nicht die Rede ist). Steller schil- dert vielmehr, wie seine Kompetenz als empirischer Naturforscher von den Offizie- ren systematisch ignoriert und seine akribisch gesammelten Indizien aus Fauna und

36 Pallas zitiert: „Suave mari magno turbantibus aequora ventis, / E tuto magnum alterius spectare laborem“; korrekt heißt es: „Suave mari magno turbantibus aequora ventis / e terra magnum alterius spectare laborem“ („Wonnevoll ist’s bei wogender See, wenn der Sturm die Gewässer / Aufwühlt, ruhig vom Lande zu sehen, wie ein andrer sich abmüht“ (Lukrez: Von der Natur. Lat.-dt., hrsg. u. übers. v. Hermann Diels, m. einer Einf. u. Erläut. v. Ernst Günther Schmidt u. einem Geleitw. v. Albert Einstein, Düsseldorf, Zürich o. J.). 37 Vgl. einige diesbezügliche Nachweise, die sich ergänzen ließen, bei Meyer (wie Anm. 13, S. 74 f.). Wie W.G. Sebald Georg Wilhelm Steller zwischen Kabbala und magischer Medizin verortet 115

Flora für die Nähe von Land verlacht wurden, woraus sich Folgefehler ergaben und 38 man den Weg unnötig verlängerte.

Von dieser Verkennung des Naturforschers Steller ist bei Sebald mit keinem Wor t die Rede. Auf der anderen Seite finden sich in Stellers Reisebericht bei der Annähe- 39 rung an Alaska weder ein das Bild beherrschender drohender „schwarzer Himmel“ noch die auffällige Beschreibung der zerklüfteten Bergkette als „Zinnen“. Kurz, Sebalds Steller ist nicht der historische Steller.

Vielmehr ist hier der Fälscher Sebald am Werk, der Bastler. Denn Sebald bedient sich unmarkiert aus einem ganz anderen Prätext, nämlich aus Adalbert von Chamissos Reise um die Welt. Es ist Chamisso, der viele Jahrzehnte später „Zinnen“ erblickt hat (allerdings nicht an der Küste Alaskas, sondern an derjenigen Kamtschatkas) und es ist Chamisso, der das „Phänomen des Mirage“ schildert (freilich kommt der tote Wal unabhängig 40 davon an anderer Stelle seiner Reise um die Welt vor). Sebald lässt also unterschiedliche Stimmen zusammenklingen, seine Skizze Nach der Natur entsteht aus den Schnipseln der

Kunst anderer: Wo Chamissos Beschreibung besser für seinen fingierten Steller passt, greift Sebald anstelle der Reise von Kamtschatka nach Amerika auf die Reise um die Welt zurück (aus der übrigens im weiteren Verlauf von Und blieb ich am äußersten Meer auch 41 einmal unter expliziter Nennung des Verfassers leicht verfälschend zitiert wird). Sebalds Steller ist während der Bering-Reise als Naturforscher kaum erkennbar, vielmehr taumelt er durch eine Welt seltsamer Erscheinungen. Er kommuniziert und interagiert nicht, ist kein wacher Naturforscher im Konflikt mit blasierten Seeoffizie- ren, sondern eher allein mit sich und seinen Gedanken, beobachtet den zutiefst melan- cholischen Kapitän und erscheint gerade bei der kurzen, vom historischen Steller mit ungemein großer Energie und Konzentration genutzten Erforschung amerikanischen

Bodens geradezu entrückt: „Unverstört näherten sich / Steller die Tiere“ (NN 54), die Natur öffnet sich ihm, der fast wie ein Heiliger durch ein paradiesähnliches Land schwebt.

Er hat Verschmelzungsphantasien, fühlt sich versucht, sich ganz und für immer in die

„kühle Wildnis“ der Natur hineinzubegeben, spürt aber dann doch wieder die Linné’sche

Stimme in sich, den Wunsch nach einer perfekten Erfassung, Beherrschung, Katalogi- sierung der Natur, die ihn von der Desertion abhält.42 Dennoch ist Steller bei Sebald nie der wache, selbstkritische und aufklärerische Kopf, der er tatsächlich war.

Dies zeigt sich auch bei den Veränderungen, die Sebald an den Berichten des sensiblen Ethnologen Steller vornimmt. So erweist sich etwa eine Passage über Stellers angeblichen schweigsamen Tauschhandel mit den Einwohnern St. Elias’ als völlig sinnentstellende Montage zweier ganz verschiedener Handlungen: Sebalds Steller zelebriert einen Ritus des Gebens und Nehmens, dessen Scheitern der historische Steller gerade beklagt.43 Dass

38 Steller: Reise (wie Anm. 34), S. 16–25. 39 Ebenda, S. 25. 40 Adalbert von Chamisso: Reise um die Welt, hrsg. v. Johannes Herlyn, Berlin 2001, S. 122, 142 f., 105. 41 Vgl. NN 52 f.; Chamisso (wie Anm. 40), S. 159. 42 „aber die Konstruktionen / der Wissenschaft in seinem Kopf, / ausgerichtet auf eine Verringerung / der Unordnung in der Welt, / widersetzten sich diesem Bedürfnis.“ (NN 54). 43 Während der Sebald’sche Steller „die Wirkung verlassener Dinge / in einem fremden Raum“ erlebt und sorgsam Gegenstände austauscht (NN 55), finden sich die genannten Gegenstände beim historischen Steller in einem ganz anderen Kontext: Steller beklagt, dass den Einwohnern falsche Dinge zurückgelassen wor- 116 Tanja van Hoorn man sich in St. Elias, wie es bei Sebald unter Berufung auf den „Bericht des Commandeurs Billings“ heißt, an „diesen schweigsamen Handel“ (NN 55) auch später noch erinnert, ist folglich halb gelogen, halb wahr. Gelogen, weil der Handel selbst ja, jedenfalls laut

Steller, ganz anders stattgefunden hat; wahr, weil Kommandant Joseph Billings in der Tat von einem „vieillard indien“ spricht, der sich an den Tauschhandel erinnere. Dessen Darstellung beglaubigt Billings durch ein längeres Zitat aus einer allerdings überaus apokryphen „traduction d’un fragment de la relation de Steller“, einem Zitat, in dem von besagtem „Handel“ erstaunlicherweise dann doch in ganz ähnlicher Weise die Rede ist, wie bei Sebald – nicht wie bei Steller!44 Nicht auf der Grundlage von Stellers Reisebericht, sondern aus Zitatruinen baut Sebald also sein von der historischen Figur wesentlich abweichendes Steller-Bild zu- sammen. Dieses zielt inhaltlich darauf, Steller vor dem Hintergrund einer dramati- schen Szenerie als einen Naturforscher zu zeigen, dessen rationale Katalogisierungs- bemühungen und mystische Verschmelzungswünsche nebeneinander bestehen.

IV. Zu diesen beiden Einstellungs- und Verhaltensweisen gegenüber der Natur gesellt sich bei Sebalds Steller jedoch noch eine entscheidende dritte, die ausgeht von der

Konfrontation mit der Hinfälligkeit des menschlichen Körpers. Vor allem wenn es ans Sterben geht, verleiht Sebald seinem Steller eine Stimme. Dabei bedient er sich äußerst auffälliger, schwer verständlicher Formulierungen, die gleichwohl von der Forschung bislang überhaupt nicht thematisiert wurden. So spricht Steller dem Erzbischof Theofon auf dem Sterbebett Trost zu, indem er an das „Licht der Natur“ (NN 43) erinnert und formuliert angesichts des Todes von Vitus Bering seine Überlegungen wie folgt:

Im Sterben verlieren die astra / im Leib ihre Eigenschaft, ihre Art, ihre Substanz / und ihr

Wesen, denkt Steller, der Arzt, / was tot ist, ist nimmer lebendig. / Was heißt das, physica, fragt er, was / heißt das iusiurandum Hippocratis, / was heißt Chirurgie, was ist die Kunst / und der

Grund, wenn das Leben / zerfällt und der Arzt hat nicht / Macht und nicht Mittel? (NN 57)

Schließlich beobachtet er auch seine eigene tödliche Erkrankung genau und begleitet sie mit dunklen Überlegungen:

Das ist infirmitas, die Brechung / der Zeit von Tag zu Tag (NN 65) und:

Jetzt fängt Alchimia an, / erkennt Steller den mortem improvisam (NN 67).

Alle diese Äußerungen werden explizit Steller zugeschrieben, und zwar dem Mediziner

Steller, d. h. einem Mann, dessen reales, historisches Vorbild im Spannungsfeld der zeit- genössischen mechanistischen und stahlianischen Halleschen Ärzteschulen ausgebil-

den seien, verurteilt das gierig plündernde Verhalten seiner Mitreisenden, vermutet, dass man in St. Elias einen unausrottbar schlechten Eindruck hinterlassen habe und listet auf, was ein Mitreisender von einem anderen Landgang mitgebracht hat (Steller: Reise, wie Anm. 34, S. 37–39). 44 Greifbar war leider nicht das englische Original, sondern nur die französische Übersetzung: Martin Sauer: Voyage fait par ordre de l’imperatrice de Russie, Catherine II, dans le nord de la Russie asiatique, dans la Mer Gla- ciale [. . .] depuis 1785 jusqu’en 1794 par le commodore Billings rédigé par M. Sauer, Paris 1802, S. 366–372. Wie W.G. Sebald Georg Wilhelm Steller zwischen Kabbala und magischer Medizin verortet 117 det,45 von Hoffmann protegiert, von Johann Juncker praktisch angeleitet wurde. Die Se- bald’schen Formulierungen weisen aber überhaupt nicht in die frühaufklärerische Medizin. Zurückgegriffen wird vielmehr auf die 200 Jahre zuvor entwickelte Lehre des vielleicht bedeutendsten Arztes zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, auf das Denken des zu Lebzeiten wie postum äußerst umstrittenen, gleichwohl ungemein wirkmächtigen und für die medizingeschichtliche Entwicklung wegweisenden Theophrast von Hohen- 46 heim, genannt Paracelsus. Wenn Sebald den Arzt Steller sprechen lässt, so legt er ihm durchgängig wörtliche Formulierungen des Paracelsus in den Mund.47 So ist etwa das „Licht der Natur“, auf das sich Steller beruft, eine zentrale Paracelsus-Formel, die sich durch dessen Gesamtwerk zieht. Gemeint ist eine göttliche, aus dem Makrokosmos in den

Menschen wirkende Gabe, die es dem Menschen ermöglicht, die geheimen Triebkräfte der Natur zu ‚schauen‘.48 Es geht also um eine spirituelle, religiöse Form der Naturer- kenntnis, in der Naturforschung zugleich auch Gottesdienst ist. In diesem Sinne formu- liert Sebalds Steller, Paracelsus wiederum beinahe wörtlich zitierend: „perscrutamini scripturas, / soll das nicht heißen, / perscrutamini naturas rerum?“ (NN 40)49 Im Zentrum des Denkens von Paracelsus steht der menschliche Leib und für den Arzt die Frage, wie er die Kraft der Natur unterstützen kann.50 Der lebendige Kör-

45 Zur Halleschen Medizin in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Tanja van Hoorn: Entwurf einer Psychophysiologie des Menschen. Johann Gottlob Krügers Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit (1745), Hannover 2006. 46 Zu Bedeutung und Rezeptionsgeschichte Paracelsus’ vgl. Heinz Schott, Ilana Zinguer (Hrsg.): Paracelsus und seine internationale Rezeption in der frühen Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des Paracelsismus, Lei- den u. a. 1998; Dietrich von Engelhardt: Paracelsus im Urteil der Naturwissenschaften und Medizin des 18. und 19. Jahrhunderts. Darstellung, Quellen, Forschungsliteratur, Halle 2001; Heinz Schott: „Lutherus medicorum“: Wege und Irrwege der Paracelsus-Rezeption. In: St. Oehmig (Hrsg.): Medizin und Sozial- wesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit, Leipzig 2007, S. 273–288. Als zugleich mittelalterlichem und Renaissance-Denken verhaftet und „neither a scientist nor a chemist in the modern sense“ schätzt Paracelsus ein Walter Pagel: Paracelsus. An Introduction to Philosophical Medicine in the Era of the Re- naissance, Basel u. a. 1982, S. 344, als einen „Wissenschaftler der Neuzeit“ wird er dagegen bezeichnet von Kilian Blümlein: Naturerfahrung und Welterkenntnis. Der Beitrag des Paracelsus zur Entwicklung des neuzeitlichen, naturwissenschaftlichen Denkens, Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 278. 47 Auch wenn im dritten Teil von Nach der Natur das Sebald zum Verwechseln ähnliche Ich berichtet, es habe „im Souterrain der Universitätsbibliothek“ tagelang „die Schriften des Paracelsus gelesen“, scheint es doch wahrscheinlich, dass Sebald zumindest für die konkrete Arbeit an Und blieb ich am äußersten Meer auf eine kleine populäre Auswahl aus dem umfangreichen Werk Paracelsus’ mit dem Titel Das Licht der Natur zurückgegrif- fen hat, in der sich alle zitierten Passagen finden lassen, vgl. Paracelsus: Das Licht der Natur. Philosophische Schriften, hrsg. v. Rolf Löther, Siegfried Wolgast. Textredaktion v. Elvira Pradel, Leipzig 1973; im Folgenden werden die Zitate aus dieser, das schwierige Paracelsische Deutsch modernisierenden Ausgabe zitiert, an- schließend aber auch in der Werkausgabe nachgewiesen: Paracelsus. Sämtliche Werke, hrsg. v. Karl Sudhoff, Wilhelm Matthießen, I. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, 14 Bde., Hildesheim u. a. 1996 (Nachdruck der Ausgabe München, Berlin 1933); fortan zitiert: PS W. 48 „Das Licht der Natur zieht durch den astralen Geist menschliches Wissen von den Sternensphären an und bildet so den wahren Naturforscher – aber nicht ohne die Theologie, die die wahre Grundlage aller Weisheit ist.“ (Walter Pagel: Das medizinische Weltbild des Paracelsus. Seine Zusammenhänge mit Neu- platonismus und Gnosis, Wiesbaden 1962, S. 125 f.) 49 Vgl. Paracelsus (wie Anm. 47), S. 32; Paracelsus: Sieben Defensiones. Verantwortung über etliche Verun- glimpfungen seiner Mißgönner 1537/38. In: PS W XI, S. 123–160, hier S. 130. 50 Zur Anthropologie des Paracelsus vgl. Heinrich Schipperges: Kosmos Anthropos. Entwürfe zu einer Phi- losophie des Leibes, Stuttgart 1981. 118 Tanja van Hoorn

per ist laut Paracelsus empfänglich für vielerlei Wahlverwandtschaften, er ist ein Um- schlagplatz für aus dem Makrokosmos in ihm wirkende Kräfte, „astra“ genannt. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass – und so denkt auch Sebalds Steller – sie im le- bendigen „Leib nehmen ihr Eigenschaft, Art, Wesen, Natur, Lauf, Stand, Teil gleich den äußern, allein in der Form geteilt, in der Substanz“.51 Gern und ausgiebig schimpft

Paracelsus über betrügerische, die Todesängste der Menschen gemein ausnutzende Ärzte und tut dies u. a. in eben den Worten, die Steller angesichts der tödlichen Krankheit 52 Berings in den Sinn kommen. Der Arzt muss nach Paracelsus in den vier Säulen der Medizin bewandert sein, in der philosophia, der astronomia, der alchemia und der physica, nur dann kann er Krankheiten richtig erkennen und behandeln.53 In die- sem Modell denkt auch Sebalds Steller, der die Stoffprozesse in seinem todkranken Körper paracelsisch-elementarisch deutet, um die „Brechung“ weiß, die sein Ende ein- läutet, und den „mortem improvisam“ erkennt.54 Das Paracelsische an Sebalds Steller erstreckt sich bis hin zur Beschreibung ent- scheidender Stationen seiner Biographie: So wird die sich heftig an Steller heran- schmeißende Witwe Daniel Gottlieb Messerschmidts mit einer lockenden Undine ver- glichen55 und der tote Steller in einen roten Mantel gehüllt.56 Sebald setzt seinen Steller 57 in eine paracelsische Welt. Der Blick auf den physischen Menschen ist dabei, wie schon bei Paracelsus selbst, eingebettet in eine die Naturlehre umfassende theologi- sche Konzeption.

51 Paracelsus (wie Anm. 47), S. 166; Paracelsus: Das Buch Paragranum, letzte Bearbeitung in vier Abschnit- ten. 1530. In: PSW VIII, S. 133–221, hier S. 160. Vgl. NN 57. 52 Vgl. NN 57; Paracelsus (wie Anm. 47), S. 159; Paracelsus (wie Anm. 51), S. 133–221, hier S. 153. 53 Vgl. dazu die Abbildung in Heinrich Schipperges: Paracelsus. Der Mensch im Licht der Natur, Stuttgart 1974, S. 77. 54 NN 65, 67; Paracelsus (wie Anm. 47), S. 180; Paracelsus (wie Anm. 51), S. 176. 55 Im Haus Messerschmidts sitzt die „zu kurz gekommene Frau / des Naturforschers aufgeschwanzt / hinter ihm [Steller]“ und streicht „mit ihrer gespaltenen / Flosse [. . .] über die wie sein Herz / klopfende Ei- chel“ (NN 44); die größte literarische Wirkung hat der auf Paracelsus Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandrs et de caeteris spiritibus (PSW XIV, S. 115–151) zurückgehende Undinen-Mythos gezeitigt; vgl. Volker Zimmermann: Paracelsus in der Dichtung. In: Ders. (Hrsg.): Paracelsus. Das Werk – die Rezeption. Beiträge zum 500. Geburtstag von Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493– 1541) an der Universität Basel am 3. und 4. Dezember 1993, Stuttgart 1995, S. 147–160. 56 Die rote Farbe wird von Paracelsus (wie Anm. 47, S. 159; wie Anm. 51, S. 153) als die von halsabschnei- derischen Ärzten bevorzugte Kleidungsfarbe hervorgehoben. Dass der historische Steller bei seinem Be- gräbnis in einen roten Mantel gehüllt worden wäre, wird in den Quellen, die Sebald genutzt (vgl. „Pallas berichtet“, NN 68) und gefälscht („Auch schreibt Pallas, daß der Tote/ noch träumte von den grasen- den / Mammuts jenseits des Flusses“ [ebenda] ist natürlich eine Lüge, die allerdings auf den tatsächlich von Pallas erwähnten „Mammontsknochen“ fußt) hat und die sich mit der Unruhe um Stellers letzte Ruhestätte ausgiebig beschäftigen, nicht erwähnt; vgl. Johann Beckmann, Simon Pallas: Zuverlässige Nach- richten von den letzten Schicksalen des Herrn Georg Wilhelm Steller. Eine wichtige Berichtigung und Ergänzung dessen, was Biblioth. VI S. 191 bekannt gemacht ist. In: Physikalisch-ökonomische Bibliothek, Bd. 8 (1778), S. 453–464. 57 Sebalds Und blieb ich am äußersten Meer hätte also mit gutem Recht Aufnahme finden können in die schö- ne Sammlung: Paracelsus im Gedicht. Theophrastus von Hohenheim in der Poesie des 16. bis 21. Jahr- hunderts. Eine vielsprachige Anthologie unter Mitwirkung von Sven Limbeck hrsg. v. Joachim Telle, Hürtgenwald 2008. Wie W.G. Sebald Georg Wilhelm Steller zwischen Kabbala und magischer Medizin verortet 119

V. Angesichts von Berings Tod besinnt sich Steller nicht nur auf die leibzentrierte Anthropologie des Paracelus, sondern ihn beschäftigt nun auch die theologisch-anthro- pologische Frage, was aus dem Menschen nach dem Ende seines irdischen Daseins wird. Er zitiert zunächst die Offenbarung (14, 13): „Selig seynd die Toten erinnert sich / Steller“ (NN 59). Über diesen traditionellen Rahmen der christlichen Eschato- logie geht Steller jedoch im Folgenden wesentlich hinaus:

Nicht wollest Du, Herr, übergeben / die Seele derer, die Dich bekennen, / den wilden Thie-

ren. Am Tag des Gerichts / soll vielmehr für die Frommen ein Mahl / bereitet werden aus dem Herz des Leviathans. (NN 60)

Steller bittet also, dass nicht die wilden Tiere sich an der Seele der Frommen gütlich tun mögen, sondern formuliert in scheinbarer Anknüpfung an einen Verkündigungstext die Überzeugung, dass im Gegenteil in einem Festbankett am Tag des Jüngsten Ge- richts die Frommen das Herz des Leviathan essen werden. In diesem Bild werden zwei Gedanken miteinander verbunden, nämlich die Frage, was mit dem Menschen nach seinem Tod geschieht – Anlass dieser Überlegungen ist ja ein menschliches Einzelschicksal, das Absenken des toten Bering in eine Grube der von Fuchsbauten durchlöcherten Bering-Insel – und der eschatologische Blick auf das Jüngste Gericht. Beiden Perspektiven gemeinsam ist, dass sie das Machtverhältnis zwischen Bestie und Mensch, zwischen wilder, feindlicher Natur und gläubiger Men- schenseele thematisieren.

Auf den ersten Teil der Überlegung, dem Schicksal eines Menschen nach seinem Tod, kommt das Gedicht anlässlich von Stellers Ende zurück: Steller erhält nicht nur kein würdiges Begräbnis, sondern wird im Gegenteil „außerhalb der Raststatt / der Rechtgläubigen“ begraben; sein improvisiertes Grab wird dann zudem auch noch ge- schändet, indem jemand

seinen Mantel sich holte / und ihn liegen ließ im Schnee / wie einen erschlagenen Fuchs (NN 68).

Die Füchse, die Steller schon auf der Bering-Insel beschäftigten, holen ihn am Ende also ein: Stellers Leichnam ist all seinen Wünschen zum Trotz den wilden Tieren preisge- geben.58

Der zweite, eschatologische Teil von Stellers Gedanken anlässlich von Berings To d ist zentriert um das ungewöhnliche Leviathan-Bild. Leviathan ist der Inbegriff einer gottfeindlichen Macht, die in der Bibel entweder als gewundene große Schlange oder als krokodilähnliches Ungeheuer beschrieben wird und nur im Buch Hiob (3,8), den Psalmen (74,14; 104,26) und im Buch Jesaja (27,1) erwähnt wird. In keiner dieser Textstellen ist jedoch davon die Rede, dass Leviathan bei einem Festschmaus am Ende der Zeiten verspeist wird. In der Tat entstammt dieses Bild nämlich überhaupt nicht dem Vorstellungskreis der christlichen Überlieferung, es weist vielmehr in die jüdische Tradition. So heißt es im 4. Buch Esra noch etwas dunkel: „Dem Leviathan aber hast du

58 Hier orientiert sich Sebald an Pallas (wie Anm. 56). 120 Tanja van Hoorn

das feuchte Siebentel gegeben, und du bewahrtest sie [d. i. Leviathan und Behemoth], damit sie zu Speise würden für die, welche du willst und wenn du willst.“59 Konkreter ausbuchstabiert wird der hier angelegte Gedanke einer Verspeisung des Leviathan dann vor allem in der Literatur des späten Midrashim und der Kabbala,60 wo es zur „real purpose of the leviathan“ wird „to be served up as a dainty to the pious in the world to come“.61 Im Baba Bathra ist zu lesen: „Rabba sagte im Namen R. Johanans: Dereinst wird der Heilige, gepriesen sei er, vom Fleische des Leviathan eine Mahlzeit für die Frommen veranstalten“.62 Der Gedanke an die jüdische eschatologische Lehre, dass der aus der Urzeit stammende Gegenspieler Gottes Leviathan in der Endzeit, d. h. in der messianischen Zeit, durch Einverleibung vernichtet wird,63 tröstet den auf der Bering- Insel gestrandeten Steller, als er das Grab seines Kapitäns von herumlungernden Füch- sen bedroht sieht. Sebalds Steller ist damit nicht nur kein Halleschen Mediziner, er ist auch kein Hallescher Theologe. Ebenso wie er sich der kosmischen Naturlehre des Paracelsus verschrieben hat, so orientiert er sich am heilsgeschichtlichen Modell der Kabbala (von der übrigens auch Paracelsus nicht unbeeinflusst war).64 Fassen wir zusammen: Sebald malt nicht nach der Natur, er setzt seinen Steller mit großer okkulter Kunst aus allerlei zweiter Natur zusammen. Porträtiert wird ein von der institutionalisierten Theologie zur Naturlehre übergelaufener Gelehrter, der in die Vielfalt der Natur Ordnung bringen, ihr nachforschen und zugleich auch mit ihr eins sein will. Porträtiert wird einer, der den eigenen Leib als Schauplatz kosmischer Energien versteht und sich über die Brutalität der irdischen Elementargewalten mit der Perspektive aufs Jenseits tröstet. Wenn dieser Naturforscher vom „Licht“ spricht, meint er nicht Aufklärung, sondern zielt auf Zeiten „nach der Natur“, auf messiani- sche Zeiten, wo Leib und Seele sicher sind vor Urgewalten und vor Füchsen.

Anschrift der Verfasserin: Dr. Tanja van Hoorn, Leibniz Universität Hannover, Deut- sches Seminar, Königsworther Platz 1, D–30167 Hannover

59 4 Esr 6,49 ff.; hier zitiert nach: Die Esra-Apokalypse (IV. Esra). Nach dem lat. Text unter Benutzung der anderen Versionen übers. u. hrsg. v. A. Frederik J. Klijn, Berlin 1992, S. 39. 60 Vgl. The legends of the Jews, hrsg. v. Louis Ginzberg, Bd. 5: Notes to Volume 1 and 2: From the Creation to the Exodus, Baltimore, London 1996, S. 43–46; vgl. Artikel: Leviathan and Behemoth. In: I. Singer (Hrsg.): The Jewish Encyclopedia, New York 1965, Bd. VIII, S. 37–39; vgl. Hermann Gunkel: Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen 1 und Ap Joh 12, Göttingen 21921. 61 The legends of the Jews, hrsg. v. Louis Ginzberg, Bd. 1: From the Creation to Jacob, Balimore, London 1996, S. 27. 3 62 B. B. 74b; zitiert nach: Der babylonische Talmud, neu übertr. durch Lazarus Goldschmidt, Berlin 1981, S. 209. 63 Mit Ausnahme der Haut des Leviathan, die laut Talmud zur Anfertigung von Zelten verwandt wird (B. B. 74b), scheint es jedoch in der kabbalistischen Literatur und auch in den jüdischen Sagen (vgl. M. J. bin Gorion: Der Born Judas, Leipzig 1919–1926) keine Belege dafür zu geben, dass das Herz des Leviathan eine besondere Rolle spielt. Vermutlich stammt diese Zuspitzung des Bildes von Sebald selbst. 64 Einige Hinweise gibt Pagel (wie Anm. 48).