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November 1989 · Nummer 104 Herausgeber: Gerhard Bott, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg ·Redaktion: Rainer Schoch und Alexandra Foghammar

SITZGELEGENHEITEN Bugholz- und Stahlrohrmöbel von THONET

Der "Thonet-Stuhl" ist in der gan­ Tischlerei, in der er Möbel für das Er riet ihm, nach Wien zu gehen. zen Welt bekannt- hat er doch et­ Bürgertum herstellte. Michael Thonet folgte diesem Rat. was mit der "Demokratisierung ln allen Bereichen arbeitete man 1842 erhielt er von der Wiener Hof­ der Sitzgelegenheiten" seit dem seit Beginn des 19. Jahrhunderts kammer das Privileg (Patent) für 19. Jahrhundert zu tun. Er wurde an Techniken zur rationellen Se­ die Produktion von Möbeln aus gleichsam zu einem Symbol für rienfertigung: Man suchte nach gebogenem Holz, "dessen Bie­ das Sitzen in der modernen Mas­ Lösungen, um die mit dem aufstre­ gung durch Einwirkung von Was­ sengesellschaft, weckt Assoziatio­ benden Bürgertum sich "vervielfäl• serdämpfen oder siedenden Flüs• nen an Kaffeehäuser, Restaurants, tigenden" materiellen Bedürfnisse sigkeiten geschieht". Die Ge­ Hotels und Theater. Aber auch Ki­ befriedigen zu können. schichte eines Weltunternehmens nos, Büros, Verwaltungsgebäude, Michael Thonet entwickelte ein konnte beginnen. Krankenhäuser, Kindergärten, Verfahren der Schichtholzverlei­ Thonets Bugholzmöbel - sie Schulen, Volkshochschulen, Spar­ mung, das beim sogenannten wurden schließlich nicht mehr kassen und Kaufhäuser hat Thonet "Bopparder Stuhl" zwischen 1836 schichtenverleimt sonder bald aus ausgestattet - nahezu alle Berei­ und 1842 zuerst angewandt wur­ massiv gebogenen Holzteilen her­ che, die mit der Entwicklung mo­ de. Durch die materialsparende gestellt - eroberten in der zweiten dernen urbanen Lebens aufs eng­ Verwendung verleimter und an­ Hälfte des 19. Jahrhunderts den ste in Verbindung stehen. Mit Turn­ schließend in Form gebogener internationalen Markt. Von Anfang ringen, Skiern und Tennisschlä• Holzstreifen konnte das Modell an hatte sich Thonet auf preisgün• gern war die Firma im 19. Jahrhun­ nicht nur zu einem günstigen Preis stige Produktionsfirmen speziali­ dert sogar bis hin in den damals angeboten werden, es war auch siert. Aufwendigen Dekor und zeit­ aufkommenden Freizeitsport prä• äußerst stabil, zudem leicht und raubende Technik nahm er zugun­ sent. mobil und erfüllte in umfassendem sten einfacher und schneller Se­ Die Wiege des Stuhl-Imperiums Sinn das bürgerliche Ideal von rienfertigung zurück - mit größter liegt in am Rhein. Hier Ökonomie und Nützlichkeit. Konsequenz bei dem "Sessel Nr. wurde am 2. Juli 1796 Michael Mit diesem Modell erregte Tho­ 14", dem Klassiker unter den Tho­ Thonet geboren. Er erlernte das net 1841 auf einer Gewerbeaus­ net-Stühlen. Schreinerhandwerk und eröffnete stellung in Koblenz die Aufmerk­ 1859 kam er als "billige Con­ 1819, mit 23 Jahren, eine eigene samkeit des Fürsten Metternich. sumsorte" erstmals auf den Markt.

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O'Nei/1 & Bristol Oyster and Chop Hause, 364 Sixth Avenue New York,

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Bis 1930 wurde er in einer Auflage oder Josef Hoffmann, nahe. Durch von 50 Millionen Stück produziert. den technisch bedingten Schwung Der Stuhl, der aus sechs Holztei­ der Bugholzelemente gehen diese len, zehn Schrauben und zwei Formen bei Thonet eine harmoni­ Muttern zusammengesetzt ist, be­ sche Verbindung mit "organisch­ sticht durch die Okonomie der bewegten" Stilisierungsprinzipien Form : Bei geringstem Materialauf­ ein. Bekannte Künstler der "Wie­ wand gewährt sie äußerste Stabili­ ner Werkstätten" lieferten Thonet tät. Das 14er Modell gilt heute all­ später auch gestalterische Ideen gemein als ein richtungsweisen­ für Serienmodelle. So basiert die des Beispiel für den Ubergang gelochte Rückenlehne des Ses­ vom meisterlich gefertigten Einzel­ sels Nr. A 811 auf einem Entwurf stück zum serienmäßigen Massen­ von Josef Hoffmann. Ein anderer produkt und darüber hinaus als ei­ wichtiger Entwurf aus den dreißi• nes der gelungensten frühen Indu­ ger Jahren stammt von Ferdinand strieerzeugnisse der Wohnkultur. Kramer. Er wurde seinerzeit in der Allerdings fand dieser Stuhl im 19. Zeitschrift "Neues Frankfurt" vor­ Jahrhundert größtenteils im öffent• gestellt. Diese Zeitschrift befaßte lichen Bereich Verwendung. Bei sich mit den Wohnproblemen in der Ausstattung ihrer häuslichen Frankfurt, um im Bereich des so­ zialen Wohnungsbaus neue Kon­ Umgebung orientierten sich die in Armlehnsessel "Orfilia" der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ zepte zu entwickeln, die gleichzei­ Entwurf: Jorge Pensi, 1989 tig Alternativen für die Gestaltung hunderts mehr und mehr zu Wohl­ Ausführung: Gebr. Thonet stand gekommenen Bürger an re­ von Alltagsdingen förderten. präsentativen "Palast"-Stilen ver­ Im Zusammenhang mit solchen ten, daß "Thonet zweifellos ein Teil gangener Jahrhunderte, an "Lu­ Gedanken wurde bereits in den der historischen Evolution des xus"-Formen, die mittels industriel­ zwanziger Jahren unseres Jahr­ Stuhls" sei. Dadurch stelle die Auf­ ler Herstellungsmethoden jetzt hunderts die funktionelle Industrie­ gabe des Entwurfs eines zeitge­ auch für kleinere Geldbeutel er­ form als eine dem modernen Le­ nössischen Stuhls eine große Her­ schwinglich geworden waren. ben entsprechende "ästhetische" ausforderung dar, denn er müsse Dem an alten Stilformen orientier­ Form propagiert. Architekten und in der Lage sein, "die Standardfor­ ten Geschmack kam die Firma Designer wie Le Corbusier oder derungen solcher historischen Thonet mit historistischen Zutaten Marcel Breuer entdeckten damals Marksteine zu erfüllen, die definitiv entgegen. Der Kunde konnte jetzt den Thonet-Stuhl als Sinnbild für in dem täglichen Leben einer gro­ beispielsweise angeben, ob er eine Weit, die, befreit vom forma­ ßen Anzahl von Menschen enthal­ "barock« oder .. a Ia Renaissance« len Ballast der "alten Zeit", ihre ei­ ten sind." sitzen wollte, und schon wurden gene Dynamik entwickeln konnte­ Die Geschichte der Firma Tho­ zu bewährten Stuhlmodellen eine Beweglichkeit, die sich durch net vergegenwärtigt nicht nur De­ Sperrholzsitze mit entsprechenden ungebundene und ungezwungene sign-Geschichte, sie ist darüber Ornamentprägungen geliefert. "Wohnformen" auch im privaten hinaus ein Beispiel für fortschrittli­ Um die Jahrhundertwende Bereich äußern sollte. Die Stahl­ ches Unternehmertum. Mit Werbe­ brachte die Firma Thonet eine rohrmöbel, die sie entwarfen, und postern, Verkaufskatalogen sowie Reihe neuer Stuhlmodelle auf den die bereits Ende der zwanziger internationalen Verkaufsniederlas­ Markt, an denen sich die Ausein­ Jahre von Thonet in die Serienpro­ sungen entwickelte Thonet bereits andersetzung mit der Jugendstil­ duktion aufgenommen wurden, lö• im 19. Jahrhundert gezielte Marke­ Bewegung ablesen läßt. Sie ste­ sten sich allein schon durch das ting-Strategien, die im Sinne mo­ hen einerseits den abstrakt geo­ verwendete "moderne" Material dernen Wirtschaftsdenkens die metrischen Formen des Wiener Ju­ konsequent vom historischen Vor­ Grundlage für eine expansive Ent­ gendstils, etwa eines Kolo Moser bild. Diese Möbel sollten, so Mar­ wicklung schufen. Von der ehema­ cel Breuer, nichts anderes als "not­ ligen Mühle in der Wiener Mollard­ wendige Apparate des Lebens" gasse wurden die Produktionsstät• sein. Sie sollten das Leben erleich­ ten schon bald in die waldreichen tern, anstaU es durch zwanghaft Provinzen von Mähren verlagert: beibehaltene Repräsentation ein­ 1856 gründete Michael Thonet zuengen. eine Fabrik in Koritschan. Dem Bis heute läßt sich an der Ge­ folgten weitere Produktionsnieder­ schichte der Firma Thonet die Ent­ lassungen in Bistritz (1861 ), Groß• wicklung der modernen Design­ Ugrocs (1865) , Nowo-Radomskl Geschichte ablesen. Etwa an den Russisch-Polen (1880/81) und farbenfrohen und informellen Ent­ schließlich in Frankenberg an der würfen eines Verner Panton, die in Eder (1889/90). Im mährischen den sechziger Jahren "Fiower Po­ Wsetin errichtete man eine Metall­ wer" in die Sitzlandschaft brach­ gießerei und Maschinenfabrik, so ten. Oder am "Fiex" von Gerd daß nicht nur die Maschinen zur Lange, einem stapelbaren Modell Fabrikation , sondern auch noch aus den siebziger Jahren, auf dem die letzte Schraube zur Montage bestimmt jeder schon einmal in ei­ der Stühle aus eigener Herstellung nem Vortragssaal gesessen hat. bezogen werden konnte. Daneben Auf der diesjährigen Mailänder entstanden Verkaufsn iederlassun­ Möbelmesse präsentierte die gen in der ganzen Weit: in New Firma "Design-Visionen" interna­ York, Mailand, Berlin, Budapest, Bopparder Armlehnsessel tional bekannter Entwerfer. Der , , Amsterdam, Mar­ Entww1 und Ausführung: Spanier Jorge Pensi kommentierte seille, Algier, Brüssel, , Michael Thonet, 1836-40 sein Modell "Orfilia" mit den Wor- Moskau, Odessa, St. Petersburg-

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eine Liste von Städtenamen, die sack erarbeitet, der sich als De­ den Fabriken in der ehemaligen sich mühelos erweitern ließe. sign-Experte schon seit vielen Donaumonarchie möglich. Erst­ Den hundersten Geburtstag der Jahren mit Thonet befaßt. M1t Hilfe mals nach dem Zweiten Weltkrieg Produktionsstätte in Frankenberg des Auswärtigen Amtes in Bonn kann somit die Geschichte dieses hat das Germanische Nationalmu­ wurde es möglich, daß die Aus­ Weltunternehmens umfassend do­ seum zum Anlaß genommen, um stellung 1m Anschluß an Nürnberg kumentiert werden. anhand der Geschichte der Firma an vier Orten in der Tschechoslo­ Ursula Peters, C/aus Pese Thonet ein wichtiges Stück Indu­ wakei gezeigt werden kann: in strie-, Kultur- und Designge­ Prag, Wsetin, Brünn und schließ• schichte aufzuzeigen. Das Kon­ lich in Preßburg. Dadurch wurde Ausstellung im Germanischen Na­ zept der Ausstellung wurde zu­ eine Zusammenarbeit mit Archiven tionalmuseum, 29. November sammen mit Alexander von Vege- der zum Teil noch heute existieren- 1989- 18. Februar 1990.

Der freischwingende Stuhl Ein von Mart Stam in den 20er Jahren gebasteltes Gestell aus Klempnerrohren, das damals so manchem als ein dadaistischer Gag erschienen sein mochte, er­ wies sich bald als die Urform des modernen freischwingenden Stahl­ rohrstuhls. Seine ersten Stühle die­ ser Art baute Stam aus schwarz­ gestrichenem Rohrwerk mit Sitz­ und Rückenfläche aus grobem Stoffgewebe. Sie waren nicht fe­ dernd und auch nicht besonders elegant, jedoch von unglaublicher Einfachheit und klarer Linienfüh• rung. Die Stamsche Formidee wurde wenige Wochen später von Mies van der Rohe im.. Stuhl "MR Freischwingende Stühle 1m Lesesaal der Bibliothek des 10" aufgenommen. Er gestaltete Germanischen Nationalmuseums eine etwas veränderte Stuhlform, den am Tischblatt befestigt, ohne Rückenlehne und der Rücken• indem er die Vorderbeine halb­ jede Verbindung mit dem Boden und Sitzflächen aus Bugholzrah­ kreisförmig ausbuchtete. Der Rah­ zu haben. Ein Denkanstoß kam men und Rohrgeflecht 1928 eine men bestand aus verchromtem auch von der nordamerikanischen nicht nur elegantere, sondern Stahlrohr, und die Sitz- und Rük• Landwirtschaft, als man in den auch bequemere Konstruktion. Die kenflächen waren in Leder- oder 80er Jahren des 19. Jahrhunderts Ausgangsposition Breuers als Kon­ auch in Korbgeflecht ausgeführt. damit begann, die Holzteile der strukteur war sicherlich dadurch Jetzt erschien dieser Stuhl nicht Landwirtschaftsmaschinen durch erschwert, daß die Grundidee des nur elegant, sondern er hatte be­ eiserne Rohrrahmen zu ersetzen, freischwingenden Stuhls als recht­ sondere Elastizitätseigenschaften, um sie damit leichter zu machen. winklig gebogener Rohrrahmen die ihn federnd machten. Dabei bekam auch der Fahrersitz kurze Zeit vorher von Stam "erfun­ Die Vorläufer dieser Stuhllösung eine Stütze aus einer federnden den" und 1927 erstmals der Öf• gehen weit in das 19. Jahrhundert Stahlstange. fentlichkeit anläßlich der Werk­ zurück. 1851 wurden im "Wiener Die auf Ideen von Mart Stam bundausstellung in der Stuttgarter Möbel-Journal" Möbelstücke von und Mies van der Rohe basie­ Weißenhofsiedlung gezeigt wurde. Ferdinand List abgebildet, die nur rende freischwebend-federnde Der Stuhl "B 32" wurde bald nicht mit Hinterbeinen versehen waren. Stuhlkonstruktion fand ihre weite­ nur zum Verkaufsschlager, son­ 1899 entstand in den USA ein Ent­ ste Verbreitung im Modell "B 32". dern auch zum Streitobjekt, des­ wurf für eine Sitzkombination für Unter Beibehaltung der Linienfüh• sen Urheberschaft bis heute noch Eßsäle auf Seeschiffen. Die federn­ rung des Stahlrohrs schuf Marcel nicht abschließend geklärt werden den, freischwingenden Sitze wur- Breuer durch Veränderung der konnte. Leonhard Tomczyk

Eine Nürnberger "Trodt-Arbeit" Während Filigran in der heutigen messer dieser aufkommenden Be­ und grano = Korn), das ein feines Goldschmiedekunst lediglich noch liebtheit im 17. Jahrhundert ange­ Gewebe aus Silberdrähten be­ auf dem nicht sehr ruhmreichen führt werden. Mögen zwar wesent­ zeichnet, zählt mit zu den ältesten Sektor der Souvenirartikel eine liche Impulse dieser Modeerschei­ Goldschmiedeverfahren, das so­ leidliche Bedeutung besitzt, galt nung "Filigran" durch intensivere wohl im alten Ägypten und der An­ gerade jene Dekorationskunst Handelsbeziehungen mit dem Na­ tike bereits bekannt war, als auch noch vor ca. 300 Jahren sozusa­ hen und Fernen Osten vermittelt im Mittelalter bei Theophilus Er­ gen als salonfähiger dernier cri in worden sein, so handelt es sich wähnung findet. Cellini hält Fili­ Europa. Die imposante Kollektion doch keineswegs um eine sehr gran sogar für eine der schönsten, von mehr als 600 Filigran-Objek­ junge Goldschmiedetechnik. aber auch schwierigsten Techni­ ten Ludwigs XIV. mag als ein Grat- Filigran (von ital. filo = Faden ken, läßt mit dieser Beurteilung je-

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