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Mitt. dtsch. malakozool. Ges. 101 63 – 68 Frankfurt a. M., Juli 2019

Myosotella denticulata (MONTAGU 1803), das Bezahnte Mäuseöhrchen, eine für Deutschland neue Küstenschnecke (: )

VOLLRATH WIESE & ANDREAS HAACK

Abstract: denticulata was discovered for the first time in Germany. Specimens were found on the island of Neuwerk, which belongs to the protected area of the Wadden Sea National Park in the German North Sea.

Keywords: first record, North Sea, Hamburg, Neuwerk, Nationalpark Wattenmeer, , Ovatella

Zusammenfassung: Myosotella denticulata wurde zum ersten Mal in Deutschland nachgewiesen. Das Bezahnte Mäuseöhrchen wurde auf der Insel Neuwerk gefunden, die zum unter Naturschutz stehenden Gebiet des Natio- nalparks Wattenmeer in der deutschen Nordsee gehört.

Einleitung

Das Mäuseöhrchen Myosotella myosotis (DRAPARNAUD 1801) war sehr lange die einzige bekannte Küstenschnecke in Deutschland, die Art lebt sowohl an der Nordsee als auch an der westlichen Ostsee. 1997 wurde durch einen Zufallsfund die Zweizähnige Küstenschnecke Leucophytia bidentata (MON- TAGU 1808) lebend auf Helgoland nachgewiesen (EGGERS & FÖRSTER 1999, Haus der Natur - Cismar HNC 53151). Das Bezahnte Mäuseöhrchen Myosotella denticulata (MONTAGU 1803) galt zeitweise als Form oder Varietät von M. myosotis. Wegen morphologischer und ökologischer Differenzierung hat sich in Großbritannien und Irland die Trennung in zwei Arten durchgesetzt („myosotis on shel- tered or semisaline habitats, denticulata on exposed coasts”, ANDERSON 2005), die unabhängig von anderen differierenden Betrachtungen auch von Malakozoologen des Kontinents so verwendet wurde (z. B. BANK & al. 2007). Auch bei GLÖER (2002) sind die Tiere als eigenständige Art betrachtet. Noch 2016 wird M. denticulata explizit als „in Deutschland noch nicht gefunden” angegeben (WIESE 2016).

Bei der zufälligen Durchmusterung von Angespül im November 2017 wurde auf der Insel Neuwerk Vertigo angustior JEFFREYS 1830 gefunden (BORCHERDING 2018), das Angespül enthielt auch M. myosotis. Im Rahmen von Folgeuntersuchungen wurde im Januar 2019 nicht nur M. myosotis, son- dern auch M. denticulata mehrfach im Angespül von Neuwerk nachgewiesen.

Untersuchungsgebiet und Methoden

Aufgrund von Angespül-Funden der Schlanken Windelschnecke hat die Behörde für Umwelt und Energie in Hamburg im Rahmen der FFH-Erfassungen die Untersuchung der Umgebung des Fundes beauftragt, um festzustellen, ob V. angustior auf Neuwerk lebend vorkommt.

Neuwerk ist eine Düneninsel im erweiterten Mündungsbereich der Elbe. Sie ist etwa 8 km vom Fest- land entfernt und gehört zum Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer. Von den 3,3 km² Inselfläche umfasst das Vorland ca. 182 ha. Die Böden auf Neuwerk sind feinsandig mit Lehmanteilen. Im Vor- land ist Marschboden mit humusreichen oberen Lagen vorherrschend. Auf ursprünglichen, höherge- legenen Bereichen der Insel sind noch einzelne alte Dünengebiete vorhanden. Der Ringdeich erhebt sich zwischen 5,90 und 6,20 m über den Meeresspiegel, damit ist der eingedeichte Inselkern vor re- gelmäßiger Überflutung geschützt. Die Vorlandflächen sind zwar durch einen Sommerdeich, der sich etwa 1,5 m über den mittleren Hochwasserstand (MThw) erhebt, vor den Folgen normaler Hochwässer geschützt. Allerdings werden die Flächen bei Sturmfluten trotzdem regelmäßig mehrfach im Jahr von der Nordsee überspült, die Lebensgemeinschaft der Salzwiesen erträgt dies. Bei der höchsten Sturm-

© Deutsche Malakozoologische Gesellschaft 2019 64 flut der letzten Jahrzehnte stand mit 3,58 m über MThw (Pegel Cuxhaven) die Krone des Sommer- deichs etwa 2 m unter Wasser.

Der Salzgehalt des freien Nordseewassers beträgt etwa 34 PSU, im Wattenmeer reduziert er sich auf auf ungefähr 30 PSU. Der Einfluss des Elbwassers in der Umgebung der Insel Neuwerk bewirkt eine weitere Reduzierung auf etwa 25 PSU. Priele in den Vorlandflächen von Neuwerk sind mit automa- tischen Sielen zeitweise vom Nordseewasser getrennt, so dass in Richtung Ringdeich die Salzgehalte im Vorland auf unter 20 PSU absinken. Die Schwankungen der Salinitäten sind in den wechselfeuch- ten Zonen allerdings natürlicherweise sehr groß.

Abb. 1: Große Menge von angespültem Pflanzenmaterial (Treibsel) zwischen Melde-Pflanzen (Halimione/Atri- plex) im Vorland von Neuwerk, im Hintergrund die Ostbake (Foto: V. WIESE).

Auf Neuwerk wurden am 10.09.2018 im Ostvorland 26 Proben aufgenommen, zumeist Lockersubstrat beziehungsweise Oberboden und an wenigen Stellen auch Treibsel. Die amphibischen Biotope wurden allerdings nicht beprobt, da für die damalige Zielart Vertigo angustior die höhergelegenen trockeneren Bereiche im Fokus standen. Am 20.01.2019 wurden an 20 weiteren Stellen an der Außenseite der Dei- che im Vorland Treibsel-Proben aufgenommen, um weitere Hinweise auf Vorkommen von V. angus- tior zu finden. Zur Zeit der Anlandung des angespülten Materials herrschte Nordwestwind. Außerhalb von Neuwerk und Scharhörn befinden sich in dieser Richtung die nächsten Salzwiesen-Biotope in Großbritannien, also zwischen 600 und 700 km entfernt, so dass davon auszugehen ist, dass keine uferbewohnenden Mollusken über die freie Nordsee transportiert wurden, sondern dass gefundene Exemplare aus benachbarten Biotopen abgelagert wurden.

Die aufgenommenen Proben wurden überwiegend geschlämmt und mit unterschiedlichen Siebstärken (minimal 0,7 mm) fraktioniert, Treibsel-Proben wurden teilweise auch trocken gesiebt.

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Ergebnisse

Die 26 Proben vom September 2018 enthielten nur in zwei Bodensubstrat- und in den drei Treibsel- Proben wenige Exemplare der amphibischen Arten der Salzwiesen (23 Gehäuse von Myosotella myosotis und zwei Gehäuse von Assiminea grayana). Von den 20 Proben vom Januar 2019 waren in elf Proben 38 Gehäuse von M. myosotis, zwei von Assiminea grayana und drei von Myosotella den- ticulata vertreten.

Die gefundenen Exemplare von M. denticulata im Detail: Insel Neuwerk, Probestelle TR11, UTM 32 U 467539 5975114, 1 adultes Gehäuse von M. denticulata (HNC 104480), 1 adultes Gehäuse von M. myosotis (HNC 104476), Insel Neuwerk, Probestelle TR19, UTM 32 U 466563 5974787, 1 adultes und 1 juveniles Gehäuse von M. denticulata (HNC 104488), 5 adulte/subadulte Gehäuse von M. myosotis (HNC 104487).

Diskussion

Myosotella denticulata war bisher in Deutschland nicht nachgewiesen. Aus Großbritannien und Irland, an der französischen Atlantikküste, in Belgien und in den Niederlanden liegen Funde vor. Die Tiere sind seltener als M. myosotis, leben jedoch teilweise am gleichen Ort, wenn auch nur sehr selten wirk- lich sympatrisch im selben Biotop. Auch von südlicheren Fundorten liegen Meldungen vor. Inwieweit sich diese, zum Beispiel aus dem Mittelmeer- und Schwarzmeergebiet, tatsächlich der von MONTAGU beschriebenen M. denticulata zuordnen lassen, soll hier nicht entschieden werden (z. B. MITOV 2016). Auf die Variabilität der Gehäuse von M. myosotis in den verschiedenen deutschen Fundgebieten, ins- besondere bei unterschiedlichen Salinitäten, wurde bereits mehrfach hingewiesen (WIESE & RICHLING 2008, WIESE 2016). Hier schließt sich M. denticulata an, die offensichtlich sehr niedrige Salinitäten meidet und offene Küstenbereiche mit stärkerer Wasserbewegung bevorzugt.

Die ausführliche historische Bearbeitung der Biologie von M. myosotis berücksichtigt M. denticulata nicht (MEYER 1955), MEYER hat seinerzeit am Jadebusen gearbeitet, dort kam M. denticulata nicht vor. MARTINS (1999) trennt Myosotella und Ovatella generisch, beschreibt, dass MONTEROSATO 1906 sogar myosotis und denticulata in verschiedene Genera gestellt hat, bezeichnet sie jetzt allerdings als Varianten einer Art in der Gattung Myosotella. Der von ihm in einer früheren Arbeit gewählte Lecto- typus von Myosotella denticulata befindet sich im Material aus der MONTAGU-Sammlung im Royal Albert Memorial Museum in Exeter (EXEMS Moll4100a). MONTAGU hat seine „Voluta denticulata” bereits 1803 im Text diskutiert (MONTAGU 1803: 234-235), bildet sie allerdings erst 1808 in den Supplement-Tafeln ab (S. 99, Taf. 20, Fig. 5). WALKER (1784: Figs. 50 und 53), auf den sich MON- TAGU bezieht, zeigt auf seiner Abbildung unseres Erachtens M. myosotis und nicht M. denticulata.

Der eigentliche Biotop von M. denticulata auf Neuwerk ist noch nicht bekannt. In den Niederlanden ist M. denticulata, wie bereits BRUYNE & al. (2013) vermuteten, neben den spärlichen verifizierten älteren Funden inzwischen auch mehrfach an neuen Orten nachgewiesen (unter anderem WIJNHOVEN & al. 2015, NDFF & Anemoon 2019). Im zitierten Internet-Atlas wird die Art als sehr selten angege- ben, der Populationstrend seit 1950 als stabil beziehungweise zunehmend und die Gefährdung in der Roten Liste als „gevoelig” (= empfindlich, entspricht dem IUCN-Kriterium „near threatened”, poten- ziell gefährdet). M. denticulata wurde in den Niederlanden zum Beispiel in den Hohlräumen zwischen Steinblöcken an Deichen gefunden. Es ist zu erwarten, dass bei gezielter Suche in Habitaten entlang oder kurz oberhalb der Hochwasser- linie weitere Fundorte von Myosotella myosotis und wahrscheinlich auch M. denticulata an der deutschen Nordseeküste entdeckt werden. An der deutschen Ostseeküste ist vermutlich der Salzgehalt für M. denticulata nicht ausreichend.

Danksagung

Für die bewährte gute Zusammenarbeit danken wir BIRTE MÜLLER und CHRISTIAN MICHALCZYK von der Behörde für Umwelt und Energie in Hamburg, im Rahmen dieses Projekts insbesondere für die Auftragsvergabe zur Verifizierung der Lebendvorkommen von Vertigo angustior auf Neuwerk. Ein herzlicher Dank gilt Dr. KLAUS JANKE und PETER KÖRBER von der Nationalparkverwaltung in Ham-

© Deutsche Malakozoologische Gesellschaft 2019 66 burg, Behörde für Umwelt und Energie, für die sehr gute Kooperation, PETER KÖRBER auch für die praktische Unterstützung bei der Untersuchung vor Ort auf Neuwerk in der Kernzone des National- parks. Außerdem danken wir herzlich für die von uns angeregte ergänzende Aufnahme von Angespül- Proben durch den Nationalpark-Ranger THORSTEN KÖSTER im Januar 2019, die noch bessere Kennt- nis der potenziellen Vorkommen von Vertigo angustior und anderen Salzwiesenarten ermöglichte.

Abb. 2: 1. M. denticulata Nordsee, Insel Neuwerk, Probestelle TR11, 20.01.2019 (HNC 104476), 2. M. denticulata Großbritannien, Dorset, Weymouth, Chesil Bank, adult (HNC 81414), 3. M. denticulata Nordsee, Insel Neuwerk, Probestelle TR19, 20.01.2019 (HNC 104488), 4. M. myosotis Nordsee, Insel Neuwerk, Probestelle TR19, 20.01.2019, subadultes Gehäuse in Vergleichsgröße (HNC 104487). Maßstab: 1 mm (Fotos: V. WIESE).

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Abb. 3: 5. M. myosotis Ostsee, Heiligenhafen, Graswarder, Brackwasserform, 06.11.1982 (HNC 17273), 6. M. myosotis Nordsee, Petersgroden am Jadebusen, Form im marinen Milieu, 08.1953, ex S. G. A. JAECKEL, leg. K.-O. MEYER (HNC 1613). Maßstab: 1 mm (Fotos: V. WIESE).

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Literatur

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Anschriften der Verfasser: Dr. VOLLRATH WIESE, Haus der Natur - Cismar, Bäderstr. 26, 23743 Cismar, [email protected] ANDREAS HAACK, Büro für ökologisch-faunistische Planung, Diekhof 23, 25370 Seester, [email protected]

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