Synagogale Musik aus der Laupheirner Judengemeinde

Von Rolf Emmerich, halten blieb bis heute auch das Musikinstrument Schofar, ein Widderhorn, das am jüdischen Neu- Die Musiktradition der Synagoge reicht über jahrstag geblasen wird. Jahrtausende zurück. Bekanntlich gibt es viele Bi- Die Orgel wurde erst im Laufe des 19. Jahrhun- belstellen mit Musikinstrumenten, mit Sängern derts in einigen Synagogen eingeführt; sie ist bei und Sängerinnen. Besonders bei- Psalmen finden Juden bis heute umstritten. Die Laupheimer Ju- wir dafür Beispiele. So ist Davids Gesang vor König dengemeinde ha tte ein solches Instrument schon Saul uns seit dreitausend Jahren überliefert. Die vor über 100 Jahren. Eine Anekdote dazu: Da es Musiktradition des salomonischen Tempels von Je- damals noch keinen elektrischen Blasebalg für die rusalem wurde im Jahre 72 unserer Zeitrechnung Orgel gab, mußte ein kräftiger Mann den Blasebalg zusammen mit dem Tempelkult zerstört. Die Ver- treten. Wegen der gebotenen Sabbatruhe kam treibung der Juden in alle Welt folgte. dafür nur ein christlicher Laupheimer in Frage; Die Synagoge der Juden in der Diaspora ist dann doch war dies nie ein Problem. vor allem ein Lehrhaus. die "Schul", wie das auf jiddisch auch in Laupheim hieß.Der Rabbiner war Zur Laupheimer Gemeinde früher der Lehrer der Gebote, des Talmud und der jüdischen Traditionen; er war auch der Richter der der Juden jüdischen Gemeinde - in Laupheim bis 1828. Mitte des 19. Jahrhunderts lebte in Laupheim Zum jüdischen Gottesdienst sind zehn Männer die größte jüdische Gemeinde Württembergs mit erforderlich, in hebräischer Sprache ein Minjan. etwa 800 Personen.' Anfang des 19. Jahrhunderts Dabei spielt der Vorsänger, der Kantor, hebräisch war die Umgangssprache jiddisch, der Gemeinde- Chasan, die zentrale Rolle. Sein hebräischer Ehren- gesang in der Synagoge aber ausschließlich he- titel "Schaliach Zibur" bedeutet Gesandter der Ge- bräisch.Ab 1828 werden deutschsprachige Ge- meinde. In der Literatur heißt es dazu: "Wenn man sänge eingeführt, spätestens mit dem "Israeliti- im Judentum überhaupt von einer Geistlichkeit schen Gesangbuch für Württemberg" 1836. Ab sprechen kann, dann ist der Kantor in der Syn- 1838 mußte die Laupheimer jüdische Gemeinde agoge ein Geistlicher!"l durch Erlaß der "königlich-israelitischen Oberkir- Die meisten Gesänge des jüdischen Gottesdien- chenbehörde' vor und nach einer vorgeschriebe- stes beziehen sich auf hohe Feiertage wie Yom nen deutschen Predigt je einen Choral in deutscher Kipp ur, Pessach und andere, aber auch auf den Sprache singen.' Der Rabbiner Dr. Hermann Dicker .Letzterer ist ein Symbol für den siebten schreibt dazu:"Deutsch bedeutete damals das Ein- Tag der Schöpfung. Traditionell wird dieser wichtig- dringen des Weltlichen in die religiöse Lebens- ste Tag der Woche am Freitag nach Sonnenunter- führung der meisten Juden, die hebräisch beteten gang mit dem Lied .Lecho dodi" begrüßt; auf und jiddisch sprachen."> Die Eingriffe von außen in deutsch lautet es: "Gehe mein Freund der Braut die vormals sehr eigenständige Synagogenge- entgegen, den Shabbat wollen wir empfangen!" meinde waren massiv. Gesungen werden im jüdischen Gottesdienst die Bereits 1845 existierte für die Laupheimer Syn- meisten Gebete, so auch die Segnung, der Kid- agoge nachweislich ein vierstimmiger Chor der dusch. männlichen Jugend,> Die Lehrer der Gemeinde Typisch für die aschkenasische Tradition des süd- wurden ab 1828 als Vorsänger tätig. deutschen Judentums war, für jeden Festtag beson- dere Gesangsmelodien, angepaßt an die Stimmung des Tages, zu wählen.s Dies führte dazu, daß ein Moritz Henle (1850-1925) und dasselbe Gebet an verschiedenen Festtagen nach verschiedenen Melodien vorgesungen wurde. Moritz Henle wurde im August 1850 in Laup- Seit dem frühen Mittelalter, spätestens seit Ver- heim geboren. Der Vater Elkan Henle, ein Glaser- treibung der Juden aus den großen Reichsstädten, meister, beschäftigte sich offenbar lebhaft mit lebten die deutschen Juden weit verstreut in klei- Kunst. Ein bleibendes Zeugnis davon ist das Ein- nen Landgemeinden. Eine eigenständige Entwick- gangsportal des jüdischen Friedhofs in Laupheirn, lung der Synagogenmusik war schwerlich möglich. das Elkan Henle entworfen hat. Erst im 19. Jahrhundert konnten sich in Deutsch- Mit 12 Jahren kommt der junge Moritz Henle ins land wieder größere Judengemeinden entfalten. Konservatorium für Musik nach . Klavier, Neben den überlieferten Gesängen wurden im 19. Geige und Gesang sind seine Fächer bei der Ausbil- Jahrhundert, nicht immer freiwillig, auch Ele- dung. Von 1864 bis 1868 absolvierte er das Lehrer- mente christlicher Kirchenmusik in württembergi- seminar in Esslingen, wo er zugleich zum Kantor schen Synagogen eingeführt. Völlig eigenständig ausgebildet wurde. Bereits im November 1868 trat erhalten blieb das Hebräisch der Gebetssprache mit er als Kantor und Lehrer in den Dienst der Laup- örtlich eigener Sprachmelodie, der Chasanut.Er- heimer jüdischen Gemeinde.

44 gibt ein Gesangbuch heraus, bildet junge Kantoren aus, gründet auch hier einen gemischten Chor und betätigt sich als Musikschriftsteller und Komponist. Viele Kompositionen Henles wurden gedruckt und verbreitet. Dazu gehört eine Haggada für die häus- liche Pessachfeier mit Kompositionen von Henle und Jaques Offenbach (1913). Bereits im Jahre 1900 erschien das Verzeichnis "Compositionen von M. Henle" mit 30 unterschiedlichen Gesängen. Auffallend ist, daß Henle fast ausschließlich für ge- mischten Chor und Orgel komponierte. Gegen ei- nige Widerstände hat er ja in Laupheim und in gemischte Chöre für den Gottesdienst ge- gründet. Folgerichtig komponierte und bearbeitete Moritz Henle vor allem für solche Chöre. Dies war zu seiner Zeit ausgesprochen revolutionär. Schließ- lich sind Frauen und Männer in der Synagoge tra- ditionell strikt getrennt. Über Henles Wirken am hamburgischen Tempel heißt es in der aktuellen .Bncyklopaedia Judaica" u. a.: "... he reintroduced biblical cantillation and Ashkenazi pronunciation ... "'2 Bis dahin pflegten die dortigen Kantoren das sephardische Rezitativ und die portugiesische Aussprache des Hebräi- Moritz Henle schen. Für diese Reform komponierte der Kantor "selbst eine große Reihe von Gesängen. Wozu er, Foto: Staatsarchiv Hamburg wie auch in seinem Rezitativ, einiges aus seiner süddeutschen Heimat verwandte ... "13, so schreibt 1937 der Hamburger Oberkantor Leon Kornitzer. Die Berufung des gerade 18jährigen Moritz Die musikalische Tradition der Laupheimer Syna- Henle in zwei wichtige Ämter seiner Heimatge- goge strahlte also bis an den Israelitischen Tempel meinde mag uns verwundern. Doch seit dem ach- in Hamburg aus. Moritz Henle starb im September ten Jahrhundert sind so junge Chasanim in der jü- 1925 in Hamburg. dischen Literatur erwähnt." Die Laupheimer Juden entschieden sich also nach einer alten Tradition für den jungen Lehrer und Kantor. Im Buch "Lebensbilder berühmter Kantoren= Herrn Obe--Kento- ED. BIRNBAUM 'N KÖNIGSBERG in con~ialer VerehrYl'~u r~ft schreibt Aron Friedmann u. a. über Moritz Henles 9_-id,n.,. Laupheimer Zeit: "Neben dem Unterricht an der jü- dischen Volksschule erteilte er auch Musikstunden. versah den Gottesdienst an Sabbaten und Festta- gen, leitete den jüdischen Gesangverein Frohsinn, gründete einen gemischten Chor für die Synagoge und beteiligte sich an öffentlichen Konzertauf - führungen." Der gemischte Chor bestand bis zum gewaltsamen Ende der jüdischen Gemeinde. Er hatte in Laupheim seine Sitzplätze rechts vom Tora-Schrein im Schiff der Synagoge." Zu Henles Zeit wirkte in der Laupheimer Juden- gemeinde der Großvater des berühmten Religions- philosophen Shalom Ben Chorin, Abraham Ro- für senthal. als ehrenamtlicher Vorbeter mit Henle zu- sammen.!v "Der Gottesdienst wurde im allgemei- gemisch!en nen zwischen zwei Chasanim aufgeteilt, wobei der JorgelbegieitungL eine unter der Gemeinde saß und der andere auf der Kanzel stand, das Gesicht gen Jerusalem ge- ~~~ wendet."! 1873 wechselte Moritz Henle an die neu erbaute Synagoge in und sechs Jahre später als Ober- .~BEIIIE kantor an die Reformsynagoge - den Tempel - in Cantor am israelit.Tempel in H,mburg. Hamburg. Dort arbeitete er mit dem gebürtigen Op 13. Partitur Snmmenje M,150 Laupheimer Rabbiner Dr. Max Sänger zusammen. NAMBURG bei AnIon J. Benjamin In den 34 Jahren seiner dortigen Tätigkeit entfal- Alt(lrwall 66. tete Henle eine vielseitige musikalische Praxis. Er

45 Wiederentdeckung und Wiederbelebung Die Synagogen wurden bekanntlich 1938 in der sogenannten "Kristallnacht" zerstört. Mit den Syn- agogen verbrannten auch die Partituren und Ge- sangbücher. In deutschen Archiven und Bibliothe- ken sind aus der synagogalen Musikliteratur kaum noch Spuren zu finden. Durch mehrjährige, noch nicht abgeschlossene Nachforschungen des Verfas- sers bei Privatpersonen und Archiven in den USA, in Israel, in Schweden und in der Schweiz konnten wichtige Teile der Laupheimer jüdischen Musiktra- dition gesichert werden; weder von Henles Werken noch von den historischen Tonaufnahmen der Laupheimer Synagoge war in Deutschland bisher noch etwas bekannt. Am 21. November 1990 wurden so im Rahmen der "Shalom-Tage" vom Laupheimer Singkreis un- ter der Leitung von Ludwig Schwedes Kompositio- nen Moritz Henles vorgetragen: 15 "Liturgische Synagogengesänge" in hebräischer Sprache für Kantor, Soli, Chor und Orgel, außerdem der 114. Psalm in deutscher Sprache.Die Laupheimer Kir- che St. Peter und Paul gab der sehr gut besuchten Veranstaltung einen würdigen Rahmen.

Historische Tonaufnahmen Eine wichtige Entdeckung waren historische Tonaufnahmen der Laupheimer Synagoge. Der ge- bürtige Laupheimer Carl Laemmle (1867-1938), der Gründer von Hollywood, hatte 1920 den Nach mehrjährigen Bemühungen gelang es, diesen Wunsch, die Gesänge der heimatlichen Synagoge Fund zu sichern. Die kompletten Tonaufnahmen in Amerika zu hören. Er fuhr dazu mit dem Laup- sind jetzt auf modernen Tonträgern archiviert. heimer Gerbermeister und Gemeindevorsteher Si- mon L. Steiner (1864-1937) und dem Kantor Emil Anmerkungen Dworzan (1856-1931), der selber auch synagogale 1 S. Ph. de Vries.Jüdische Riten und Symbole, 2. Auf- Kompositionen verfaßt hatte, zu Tonaufnahmen lage, Wiesbaden 1982, S. 29 nach Berlin. Dort gab es - lange Zeit vor Rundfunk 2 Peter Gradenwitz, Die Musikgeschichte Israels,Kassel und Tonfilm - ein Tonstudio. Mit Simon L. Steiner 1961, S. 86 an der Orgel und dem Kantor Emil Dworzan wur- 3 Beschreibung des Oberamts Laupheim, Stuttgart 1856, den dort 35 Gesänge aus der Laupheimer Synagoge S. 115 4 H. Dicker, Aus Württembergs Jüdischer Vergangenheit aufgezeichnet; jedes Lied auf eine eigene Tonträ- und Gegenwart, Gedingen 1981, S. 61 gerplatte. 5 H. Dicker, a. a. 0., S. 22 Entsprechend einer alten Tradition wird beim 6 J. G. Brigel, Statistisch-geschichtliche Beschreibung Sabbat-Gottesdienst ein Mitglied der Synagogenge- des Ortes Laupheirn, Laupheim 1845, S. 55 meinde aufgerufen, die Segenssprüche aus der Tora 7 Peter Gradenwitz, a. a. 0., S. 63 8 Aron Friedmann, Lebensbilder berühmter Kantoren, vorzutragen. An entsprechender Stelle der Tonauf- Berlin 1921, S. 153 zeichnungen wurde Jacob ben Jehuda Laemmle 9 Waltraud Kohl, Die Geschichte der Judengemeinde in zum "Sagen der Brache" aufgerufen. So kommt es, Laupheirn. o. J.,S. 54 daß Carl Laemmle, unter seinem Synagogenna- 10 Shalom Ben Chorin, Ich lebe in Jerusalem, Gedingen men, noch heute mit einer uralten Melodie zu 1983, S. 9 11 Peter Gradenwitz. a. a. 0.,S. 63 hören ist. 12 Encyklopedia Judaica, Jerusalern. 1971 Nach Aussage von Fachleuten sind Tonaufnah- 13 Bruno Berliner (Hg.), 120 Jahre Isr. Tempel, Hamburg men aus diesem Bereich für diese Zeit einzigartig. 1937, S. 27

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