Gesellschaft

FERNSEHEN Kuschelkitsch zur Kultstunde Unbeeindruckt von den Terrorschlägen des 11. September schalten Millionen von Fernsehzuschauern tagtäglich Billigserien wie „Verbotene Liebe“ und „Marienhof“ ein. Die Daily Soaps erweisen sich in Krisenzeiten als gemütsstabilisierender Faktor. Von Simone Meier

Meier, 31, ist Verfasserin des Ro- eingerahmt von den Doppel, nämlich mit bis zu 5,39 Millionen mans „Mein Lieb, mein Lieb, beiden RTL-Produktio- Zuschauern, „Verbotene Liebe“ und „Ma- mein Leben“ (2000) und Thea- nen „Unter uns“ (seit rienhof“ folgen mit jeweils 3 Millionen, terkritikerin. Sie lebt in Zürich. November 1994) und „Unter uns“ ist eine Marginalie. In der Ta- „Gute Zeiten, schlechte ges-Hitliste von ARD, ZDF, RTL, Sat.1 und biturientinnen stecken sich Zeiten“ (seit Mai 1992). ProSieben finden sich die drei Soaps damit schon mal den Finger in Die „Kult“-Stunde, so fast täglich unter den Top 20, „GZSZ“ so- Aden Hals, um ihr Traum- verkauft die ARD ih- gar häufig unter den Top 10. Der Schnitt gewicht zu halten. Die erfolgreich re Sendezeit zwischen durch die Altersgruppen zeigt, dass Daily berufstätige, privat verwahrlosen- 18 und 19 Uhr, ist die Soaps nicht nur im Teenie-Segment fest de Single-Frau aber verlangt es Stunde der planmäßig verankert sind; 21,8 Prozent der fernse- eher nach geistiger Entschlackung, geleerten Gehirne, die henden deutschen Frauen über 50 sehen bevor sie sich in die abendlichen Stunde einer Massen- sich jeden Abend „Verbotene Liebe“ an. Verpflichtungen der Vergnügungs- meditation vor hane- Alles ist schlecht, billig und dilettantisch

gesellschaft stürzt. WERNLI MARINA büchenen Melodra- an einer Soap, beinah so dilettantisch wie Und so bin ich, auf der Suche Autorin Meier men, Abend für Abend die Reality- oder Doku-Soap, aber nur bei- nach einem Fitmacher und weil ge- Ertrag ich so viel Blödsinn? von einem absolut nah, denn das normale Leben liefert statt rade kein Energy-Drink vorhan- stabilen Millionenpub- eines nach 25 Minuten garantierten Cliff- den war, vor Jahren bei der deutschen Dai- likum konsumiert, bei der Zielgruppe der hangers doch meistens nur Durchhänger, ly Soap gelandet – und bis heute süchtig. 14- bis 29-jährigen Frauen mit Traumquo- inzwischen sogar auf CNN. Die ARD hat seit Januar 1995 zwischen ten von über 35 Prozent Marktanteil. Die Tatsache, dass selbst ein Krieg in 17.55 und 18.55 Uhr ihre beiden Daily Soaps „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ („GZSZ“) Bildern zu langweilen beginnt, dürfte auf „Verbotene Liebe“ und „Marienhof“ laufen, führt trotzdem vor dem attraktiven ARD- längere Zeit das Aus für Reality-Soaps blei- ben. Endemol jedenfalls produ- ziert derzeit keine entsprechen- den Formate mehr für deutsche Sender. Der fiktionalen Soap dagegen geht’s nach dem 11. September so gut wie vorher. Kein einziger Zuschauer schien sich die Frage zu stellen: Geht das noch? Er- trag ich so viel Blödsinn noch? Aber ja. Denn im Gegensatz zu wirklich blödem Blödsinn, zu als offensichtlich zynisch identifi- zierbaren Comedy-Shows bei- spielsweise, gehören die Daily Soaps zu einem hinterhältigen Medientotalitarismus, den wir ganz dringend brauchen, der sys- temerhaltend ist, der uns in der aus den Fugen geratenen Welt ein bisschen Sicherheit gibt. Die Art von Medientotalita- rismus, die ich meine, wurde schon von Horkheimer und Adorno in ihrem Kulturindu- strie-Kapitel in der „Dialektik der Aufklärung“ beschrieben: Amusement ist die Verlänge- rung der Arbeit unterm Spät- kapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisier-

RTL ten Arbeitsprozess ausweichen Darsteller-Gruppenbild zur RTL-Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“: Planmäßig geleerte Gehirne will, um ihm von neuem ge-

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gar nicht zu trennen, die eine Welt ist das vergnügte Spiegelbild der andern. Natürlich braucht es die kleinen Stö- rungen und Differenzen – Probleme von Adoption über Aids, Amnesie, Arbeits- losigkeit, Betrug, Depression, Drogensucht, Ehebruch, Homosexualität, Inzest, Kar- rieregeilheit, Konkurs, Militärdienstver- weigerung, Mord, Rechtsradikalismus, Sek- ten bis zur Totgeburt. Die kleinen Differenzen bedrohen nie- mals das große, glückliche, brutalrosa- farbene Ganze. Wir begegnen den Welt- problemen und Privatdramen in sauberen Monodosen, nach einigen Wochen sind sie seziert, integriert und gelöst, und dem sozialdemokratischen Mittelstand geht’s wieder gut. Da lebt zum Beispiel die bisexuelle Plat- tenverkäuferin im „Marienhof“ mit ihrem früheren Vergewaltiger in nachbarlicher Eintracht, während ihre lesbische Lebens- gefährtin gerade glücklich das Kind von ei- nem anderen Vergewaltiger, einem ex-ju- goslawischen Kriegsverbrecher, aufzieht. Soziale Realität wird einzig als Kitsch und Klischee abgebildet. Und damit auch allen klar ist, wie vorbildlich sich die Soap-Welt verhält, ist Gerhard Schröder in der 1500. „GZSZ“-Folge aufgetreten. In Monodosen verpackt sind auch die Sorgen der Soap-Gemeinde, die sich im Internet tummelt. Jedenfalls bei www. gzsz.de, der Web-Seite, die nicht nur die aufdringlichste Produktwerbung, sondern auch den scheinbar verantwortungsvollsten Umgang mit Anliegen der jungen Fans pflegt. Wo „Marienhof“ und „Verbotene Liebe“ eher ungeordnete Gästeforen bie- ten, findet sich bei „GZSZ“ die seriös klin-

DEFD gende Rubrik „Diskussion“, mit Unterab- „Marienhof“-Grazien*: Das große, glückliche, brutalrosafarbene Ganze teilungen wie „Netz gegen Rechts“ und „Terroranschläge in den USA“. wachsen zu sein. Zugleich aber hat die Ich sehe außerdem hübsche junge Men- Das „Netz gegen Rechts“ ist verlinkt mit Mechanisierung solche Macht über den schen, die bienenfleißig ihre Tage mit Brot- der Medien-Initiative „Netz gegen Rechts- Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt erwerb verbringen und sich trotzdem 27- extremismus“, ab und zu schaltet sich eine so gründlich die Fabrikation der Amü- mal im „No Limits“ oder im „Café Latte“ autoritäre Stimme in die wirren, aber auf sierwaren, dass er nichts anderes mehr treffen, trotzdem 10-mal bei der besten beruhigende Weise selbstkorrektiven De- erfahren kann als die Nachbilder des Ar- Freundin an der Tür klingeln und abends batten der Jugendlichen, definiert die Art beitsvorgangs selbst. auf jeden Fall noch im „Foxy“ abtanzen der zugelassenen Beiträge, löscht die un- Sitze ich vor der Soap, so sehe ich eine können. Arbeit macht unglaublich Spaß willkommenen und verhält sich damit ganz Welt, die ich schon seit vielen hundert und ist eigentlich vom Freizeitvergnügen Soap-gemäß: erst fetischisieren, dann weg- Abenden kenne, wo ich jede Neuanschaffung im WG-Haushalt oder in ei- nem der vielen Bistros so- fort als solche ausmachen kann, jede Kaffeetasse, jedes Stück Bettwäsche, wo ich sogar Teile aus meinem eigenen Kleider- schrank wiedersehe, so sie denn aus dem weltumspan- nenden Fundus von H&M oder Kookaï oder Miss Six- ty stammen. ANJA GLITSCH / ARD GLITSCH ANJA * Leonore Capell, Nina Louise, Hen- / ARD R. M. REITER riette Richter. ARD-Soaps „Marienhof“, „Verbotene Liebe“: Multimediales Netzwerk verlogener Innerlichkeit

220 der spiegel 48/2001 Gesellschaft sperren. Bei den Terroranschlägen sind die 2000 zeigte bereits, dass sich ausgerech- Teilnehmer hilflos sich selbst überlassen. net Intellektuelle beim Fernsehkonsum Überhaupt betreiben Soaps im Netz eine am liebsten hedonistisch verhalten – TV intensive Kundenbindung durch die Er- als nicht ernst zu nehmende Freizeit- richtung schamlos offenherziger Parallel- insel, als Genussinstrument, als visueller welten. Auf den einzelnen Web-Seiten fin- Vibrator. den sich Vorschauen für eine ganze Woche, Am schlimmsten treiben es laut dieser das „Deutsche Entertainment Magazin“ Studie erwartungsgemäß die so genannten unter www.dem.de bietet sie gleich für die Postmodernen, von diesem Zuschauerseg- nächsten fünf Wochen. Und nur die aller- ment schauen nämlich heimlich ganze vier naivsten Zuschauer fragten sich nach dem Prozent mehr „Verbotene Liebe“ als der 11. September, ob ausgerechnet jetzt eine Durchschnitt der erwachsenen Zuschauer Flugzeugentführung in „Verbotene Liebe“ über 14 Jahre. und eine Geiselnahme in „Marienhof“ zu Und weil wir, wie der Trendforscher verantworten seien. Matthias Horx behauptet, seit dem 11. Sep- Die wirklichen Fans wussten längst Be- tember in einen anschwellenden Strudel scheid. „Marienhof“ hat auch eine Web- der Genusssüchtigkeit geraten sind und cam eingerichtet, die werktäglich von 9.30 unsere Unsicherheit mit immer mehr So- bis 18 Uhr alle 30 Sekunden ein aktuelles fort-Tröstungen im „Instant-Hedonismus“ Bild vom laufenden Drehtag, das heißt vom ersticken, wird es also nicht mehr allzu Soap-Geschehen in sechs Wochen, liefert. lange dauern, bis auch die Anglistikpro- Sie zeigt also bis kurz vor Sendebeginn fessorin und der Philosophiedozent mit der Daily-Soap im TV im Netz die dazu- einer Instant-Terrine von Maggi, die uns gehörige, wenn auch vorauseilende Doku- vor „Verbotene Liebe“ immer so nett „viel Soap, das ist attraktiv und kostenarm Vergnügen“ wünscht, und einem Instant- und verstärkt den Effekt, dass die wohl- Cappuccino von Nescafé, der dasselbe vor proportionierte und im Schnitt doch auch „Marienhof“ tut, vor der Kiste sitzen und wohlerzogene TV-Gesellschaft tatsächlich sich dem „Flow“ hingeben. Bildschirm an Bildschirm mit ihrem Publi- Da nützt es auch nichts mehr, dass sie kum lebt. sich hinter dem Abwehrmechanismus der Wir nehmen an der Her- stellung des Produkts, das wir am Abend konsumie- ren, in einem vertrackten „Back to the Future“-Loo- ping tagsüber teil. Wir wis- sen über seine Zukunft Be- scheid. Wir wissen damit über ein Stück unserer eige- nen Zukunft Bescheid. „Verbotene Liebe“ und „Marienhof“ sind die Twin Towers unserer TV-Exis- tenz, es wird sie in mindes- tens sechs Wochen noch ge- ben. Wir sind in Sicherheit.

Soap-Machen ist Vertrau- RTL enssache. Eine kleine, hand- RTL-Produktion „Unter uns“: Visueller Vibrator liche, einsehbare Welt mit Protagonisten zum Anfassen, aufgefangen bewussten Ironisierung ihres zweifelhaf- in einem multimedialen Kuschelnetzwerk ten Konsumvergnügens verstecken. Auch verlogener Innerlichkeit. wenn die Soaps inhaltlich todernst und an Deutschland, das Land, das im Welt- hochmoralischen gesellschaftlichen Grund- glücksindex der London School of Econo- werten klebend daherkommen, werden mics auf Platz 42 von 54 befragten Län- ihre Macher längst wissen, was es bedeutet, dern zu finden ist, braucht jedenfalls seine den Konsumenten ins Nirwana des „in- Glücksdroge ziemlich dringend. Während between“ zu locken: Wir betreiben Soap- Amerika sich momentan mit „Catastrophic Sehen als Kult-Erlebnis, wir behaupten, Lifestyle Drugs“ zuknallt, reichen hier zu um die Lächerlichkeit der Soap-World zu Lande vielleicht noch ungefährlichere wissen und ihr überlegen zu sein. „Flow“-Erlebnisse, Zustände, in denen der Ebenso gut könnten wir bewusst ironisch Mensch sich mit einer Sache beschäftigt, Disney World besuchen oder den Grand die ihn weder über- noch unterfordert, son- Prix d’Eurovision schauen, wir befinden dern ganz einfach und ohne viel Aufwand uns trotzdem immer im Zustand des ver- bestätigt. gnügten Konsumenten. Und „Vergnügt- Autofahren gehört dazu, Computerspie- sein heißt Einverstandensein“, krittelten le, leichte Lektüre – weshalb also nicht die beiden weisen dialektischen Aufklärer auch Soaps? Eine Auswertung der Zu- schon vor einem halben Jahrhundert. Na- schauerstruktur der ARD vom Sommer türlich hatten sie Recht damit. ™

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