MAURICE WEISS / OSTKREUZ MAURICE Pianistin Sultan (2001 in New York, um 1915 in mit Schwester Käthe und Bruder Wolfgang): „Gesegnet mit musikalischer Reinheit und

MUSIK Flucht und Fuge Im Vorkriegs-Berlin war die Pianistin Grete Sultan eine gefeierte Interpretin von Bach und Schönberg. Die Nazis verboten ihr das Klavier und ermordeten fast ihre ganze Familie. Ihr gelang die Flucht nach New York. Zum 95. Geburtstag erscheinen neue Aufnahmen.

ie konnte kein Englisch. Also spiel- Sonate“, eines der schwierigsten Stücke Hochschule für Musik. Noten konnte sie te sie die „Hammerklavier-Sonate“, der Klavierliteratur. früher lesen als Buchstaben, mit zwölf gab Skaum dass sie in der neuen Welt an- Sie spielte es auswendig, denn die Noten sie Beethoven-Konzerte. Jetzt sitzt da eine gekommen war. „Was sollte ich anderes waren in Berlin geblieben. Unwieder- ausgezehrte Frau, mit Wurzelhänden und tun?“, sagt Grete Sultan. bringlich. Wie der Großteil der Familie. gebeugtem Rücken; und mit einer mäd- Nach vier Monaten Flucht aus Nazi- Das Westbeth-Gebäude im New Yorker chenhaften Stimme, wie sie sich manchmal Deutschland, nach dem Transport im ver- Künstlerviertel Greenwich Village gehörte am Ende eines Lebens wieder einstellt. plombten Waggon, ohne Wasser, ohne einmal der „Bell“-Telefongesellschaft. Jetzt Der Pianist Claudio Arrau hat über die- Brot, bis sie krank vor Erschöpfung in Lis- ist es ein mietbegünstigtes Reservat für se Frau gesagt: „Grete Sultan zählt zu den sabon ankam und das Visum nur noch bis künstlerische Avantgarde. An der Ecke größten Klaviervirtuosinnen, gesegnet mit Mitternacht Gültigkeit hatte, nach der wartet ein weißlockiger Greis mit zu musikalischer Reinheit und Empfindsam- Überfahrt schließlich auf einem mit Ge- großen, aufgeschnürten Turnschuhen auf keit, Verstand und Seele.“ jagten, Lumpen, Verbrechern überladenen sein Taxi: Merce Cunningham, der von Ar- Sie war der Star der Neuen Musik der Schiff bis nach New York, wo es zu neblig thritis geplagte Gott des Modern Dance. späten Zwanziger. Grete Sultan war bekannt war, um die Freiheitsstatue zu sehen – nach Grete Sultan ist die älteste Bewohnerin mit Schönberg, Bartók, Busoni und Adorno. alldem setzte sie sich ans erstbeste Klavier des Westbeth. Früher, sagt sie, war sie im- Sie wurde verfolgt von Hitler. „Ich habe sie und spielte Beethovens „Hammerklavier- mer die Jüngste. In der Familie, in der alle überlebt“, sagt sie. „Das ist mein Un-

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met, die über der Partitur nicht wahnsinnig würdig expressive, rebellische Pianistin“, wurde: „Für Grete Sultan“. Als er sein fer- schreibt 1930 in der Zeitschrift „Die Musik“ tiges Werk zum ersten Mal hörte, war Cage ein gewisser Theodor W. Adorno. Toscani- selbst überrascht: „Hey, das klingt ja groß- ni lädt sie zu Beginn der dreißiger Jahre zu artig!“ Sultan hatte zwei Jahre daran geübt. erfolgreichen Konzerten nach Italien ein. Sie sagt, die „Etudes“ müssten gespielt wer- Später musste eine große Italien-Tournee den wie Schubert: „Sie müssen atmen.“ abgesagt werden, weil ihr als Jüdin das Spie- Vier Tage nach ihrem 90. Geburtstag gab len „deutscher Musik“ in der Öffentlich- sie noch ein Konzert in New York und spiel- keit von den Nazis verboten wurde: „Nur te Bachs „Goldberg-Variationen“ auswen- Mendelssohn zählte für sie nicht dazu.“ dig, in einem einzigen Stück, ohne Pause, Von da an spielte sie Bach und Beethoven mitsamt allen Wiederholungen. Am Tag da- zu Hause: „Da konnte mir keiner etwas vor- nach wurde sie ins Krankenhaus eingelie- schreiben.“ Sie verdiente etwas Geld mit fert und musste operiert werden. Heute Konzerten für den Jüdischen Kulturbund, geht es ihr besser: „Ich werde immer gesün- trat auch in Synagogen auf. „Wir hatten ein der.“ Sie versorgt sich allein, gibt weiterhin Trio, zusammen mit einem Konzertmeister Klavierunterricht und bekommt etwas Geld des Gewandhaus-Orchesters. Dann haben aus Deutschland. Eine Opferrente. sie ihn ins KZ gebracht, und es war aus.“ Grete Sultan kommt aus einer begüter- Ihr Bruder Wolfgang erschoss sich 1936, ten jüdischen Berliner Kaufmannsfamilie, nachdem ihn die Gestapo wegen „Rassen- in der jeden Samstag Streichquartette ge- schande“ vorgeladen hatte. Er hatte sich spielt werden und bei der Ferruccio Buso- mit einer nichtjüdischen Krankenschwes- ni zu Gast ist. Die Mutter überträgt Dantes ter verlobt. Seine Geliebte nahm sich we- „Divina Commedia“ in Versform, zwei nige Tage später das Leben. Tanten waren Schülerinnen von Clara Am Schicksal der Familie zeigt sich, mit Schumann. Die Villa steht in Nikolassee. welcher Konsequenz Deutschland sein Bil- Das Klavierspielen lernt sie von dem dungsbürgertum auslöschte. Im Oktober amerikanischen Pianisten , 1939 wird der „Rittergutsbesitzer Adolf Sul- einem Schüler des Wiener Klavierpädago- tan“ aus dem Grundbuch von Berlin-Zeh- gen Theodor Leschetizky. Buhlig ist über lendorf gestrichen: Der nunmehrige „Adolf den Atlantik gezogen, um von Schönberg Israel Sultan“ habe seine Familienvilla zu lernen. Später wird er seiner Schülerin einem Volksdeutschen übereignet. Die das Leben retten. Kaufsumme wird einbehalten. Nach ihrer Ausbildung an der Berliner Eine Cousine ist Malerin und hoch ge- Hochschule für Musik bei Leonid Kreutzer, lobte Schülerin von Lovis Corinth. Sie wird GRETE SULTAN Empfindsamkeit, Verstand und Seele“

glück. Jetzt bin ich allein. It’s all right.“ Am Donnerstag dieser Woche wird sie 95, und genau vor 60 Jahren kam sie in New York an. Ihr Zimmer ist das einer Emigrantin. We- nig Möbel, einige Gemälde und Zeichnun- gen und viele Bücher in vielen Sprachen. Zwei Steinway-Flügel, die den größten Raum einnehmen, im Sekretär ein Brief von Clara Schumann an die Großmutter und neben dem Bett eine Originalpartitur von : „For Grete, with love.“ Sie spricht in perfektem Deutsch, mit Kopfbewegungen, die ein wenig an die ei- ner Marionette erinnern, und sie begleitet ihre Sätze bisweilen mit den Handbewe- gungen einer Dirigentin oder einer Pianistin beim Arpeggio. Man kann sich vorstellen, Musikerkollegen Cage, Sultan (siebziger Jahre): „For Grete, with love“ wie sie ihre Konzerte gab: Streng, in die Melodieführung versunken, und ohne je- später bei , beginnt Grete in Sachsenhausen ermordet. Claire Sultan, den Versuch, sich in den Vordergrund zu Sultan Ende der Zwanziger, Debussy, eine Halbschwester, wird denunziert und spielen. Make-up hat sie nie getragen. „Ich Schumann, Bach und den Zwölftöner sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz ver- habe immer nur gespielt“, sagt sie. Schönberg in einem Programm zu spielen. gast. Sie besaß ein gültiges Ausreisevisum. John Cage übertrug 1974 eine Karte des Damals etwas Unerhörtes. Doch es gebe, Ihr Onkel, der Geheimrat Georg Sultan, südlichen Sternenhimmels auf Notenpa- sagt sie, keine Trennung zwischen zeit- ist ein Träger des Ordens „Pour le mérite“, pier und komponierte so seine „Etudes genössischer und alter Musik: „Es gibt nur renommierter Arzt und Freund des be- Australes“. Für jede Hand ein eigenes Stück langweilige Stücke und interessante.“ kannten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch. mit je zweimal fünf Notenzeilen. Die zwei- Während Hitler sich auf die Macht vorbe- Er erfährt, dass er für den Transport nach te Hälfte des Werks gilt als praktisch un- reitet, experimentiert Grete Sultan mit Ton- Theresienstadt bestimmt ist. Am Vorabend spielbar, ein Durcheinander von Noten- Clustern und freien Rhythmen. Die Kritiken lädt er noch einmal zu einem Hausmusik- trauben und kryptischen Anweisungen. Die aus der Zeit sind euphorisch: „… notiere ich abend ein und begleitet eine Sängerin der „Etudes“ sind der einzigen Person gewid- die hoch begabte Grete Sultan, eine merk- Staatsoper am Flügel, Mozart, die Arie der

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Ihre Freundschaft endet erst 1992, mit dem Tod von Cage. „John zog noch wäh- rend des Krieges nach New York. Er lebte mit Merce Cunningham, dem Tänzer, wir wohnten ein Stockwerk tiefer.“ Während die Mutter mit Cage Schach spielte, klemm- te Grete Sultan Schrauben, Nüsse und Ein- weckgummis in ihren Flügel und übte Cages „The Perilous Night“ für präparier- tes Klavier. Das Autograf liegt bei ihr. Im Bücherbord von Grete Sultan steht eine deutsche Ausgabe des chinesischen „I Ging“. Später wird Cage mit Hilfe dieses „Buches der Wandlungen“ seine wichtigen Stücke unter Zuhilfenahme der „Chance operations“ komponieren. Cage und Sultan gingen zusammen auf Tournee, nach Japan, Schweden, Norwe- gen, Chile. 1955 trat Grete Sultan zum ers- ten Mal wieder in Berlin auf, im Hoch- meistersaal. Sie spielte Haydn, Schönberg und Beethovens „Diabelli-Variationen“ – „deutsche Musik“. Die vertriebene und

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN enterbte Emigrantin spielte auch wieder, Sultan-Förderer Toscanini (1952): In Deutschland zu viele Schatten wie schon Ende der zwanziger Jahre, die amerikanische Avantgarde mit dem glei- Königin der Nacht. Am frühen Morgen Nach drei Wochen Überfahrt kam sie im chen Ernst, der gleichen absoluten Präzi- nimmt er Gift und wird tot aufgefunden, Juni 1941 in New York an, krank und mit sion wie die Klassiker. „Derart geistige mit einem Band Goethe in den Händen. nichts als einem Pappkoffer, mit Seifenlap- Konzentrationsfähigkeit findet sich nicht Die Eltern bekommen ein Visum für die pen, Handtuch, etwas Wäsche. Die Karrie- oft bei einer Frau“, verkomplimentierte Schweiz. Kurz vor der Abreise nimmt der re ist zerstört, die letzten zehn Dollar waren sich der Zürcher „Tagesanzeiger“. Vater Gift: „Er wollte nicht aus Deutsch- ihr auf dem Schiff gestohlen worden. „Ich Aber kein Kritiker erwähnte das Schick- land fort. Deswegen hat er sich aus dem Le- erzählte den Beamten etwas von Verwand- sal der Künstlerin. Man schrieb diskret: ben geholfen“, sagt Grete Sultan. Nur die ten in Amerika, die es gar nicht gab. Sonst „…hat ihrer alten Heimat einen Besuch Mutter kann von Verwandten über die hätten die mich wieder zurückgeschickt gemacht“ („Stuttgarter Zeitung“) oder: Grenze nach Basel gebracht werden. Da nach Deutschland.“ Ein Ehepaar gibt ihr „Fast 15 Jahre war Grete Sultan nicht bei ist Grete, die Tochter, schon geflohen, auf ein Zimmer für eine Nacht. In dem Raum uns zu hören“ („Der Tag“). Drängen ihrer Eltern. liegen nur zwei Bücher, die Bibel und das Adorno wollte sie zur Rückkehr nach Grete Sultan muss eine der letzten ge- New Yorker Telefonbuch. Sie liest die ganze Deutschland überreden: „Er wollte für wesen sein, der es gelang, mitten im Krieg Nacht darin und findet den Namen eines mich eine Stelle für zeitgenössische Musik als Jüdin aus Nazi-Deutschland noch aus- Pianistenfreundes aus Berlin. Gerettet. in Frankfurt schaffen.“ Grete Sultan lehn- zureisen. Nach etlichen Versuchen hatte Nur ihre Karriere scheint beendet, kaum te ab. In New York waren zu viele Schüler ihr Lehrer, der Amerikaner Richard Buh- dass sie begonnen hatte. „Ich war zu alt, um und in Deutschland zu viele Schatten. lig, mit Hilfe seines Generalkonsuls ein Vi- an den Nachwuchswettbewerben teilzuneh- Seit 60 Jahren ist Grete Sultan Teil der sum besorgen können. men“, sagt sie, und sie war zu wenig be- New Yorker Szene für Neue Musik. Sie Im Februar 1941 wird sie am Bahnhof kannt, um sofort ins amerikanische Geschäft empfängt ihre Schüler und wird von ihnen Berlin-Zoo in einen Waggon gesperrt. Geld einsteigen zu können. Sie holt ihre Mutter, zu Konzerten gefahren. Im Mai arbeitete darf sie nicht mitnehmen, auch keine Ver- „meine beste Freundin“, aus der Schweiz sie mit dem Leipziger Pianisten Steffen pflegung. Bis zuletzt ist sie sich nicht sicher, nach New York und hält sich mit Unter- Schleiermacher an den „Etudes Australes“. ob der Zug nicht doch nach Auschwitz fährt. richt über Wasser: „Klavierstunden kann Ein Star ist sie nie geworden, hatte nie ein Doch das Fahrtziel ist Lissabon, einer der man leicht in fremden Sprachen geben.“ Interesse daran, sich in Szene zu setzen. wenigen noch freien Häfen des Kontinents. Eines Tages kommt ein wirr aussehender „Ich wollte immer nur spielen.“ Erst 1996 Nur weil Eisenbahnarbeiter ihr in Paris Was- Mann mit einem Lebensmittelpaket vorbei sind einige ihrer historischen Aufnahmen ser und Brot zuschmuggeln, überlebt Gre- und sagt, sein Lehrer Richard Buhlig habe als CD veröffentlicht worden*. te Sultan den Transport. Hinter der portu- ihn geschickt. Sein Name sei John Cage. Noch im letzten Jahr hat sie eine Plat- giesischen Grenze werden die Türen geöff- Der Klang-Anarchist aus Los Angeles tenaufnahme gemacht, mit 94 Jahren ein net. „Ich erinnere mich an eine Wiese, auf trifft auf eine mit Schumann, Beethoven letzter „Tribute to John Cage“**. Das sei der die Portugiesen Brot und und Bach nur so voll gesoge- nun vorbei: „Ich bin keine Pianistin mehr. Getränke ausgebreitet hatten.“ ne Emigrantin aus Deutsch- Meine Augen sehen die Noten nicht Doch ihr Visum für die USA land. Aber beide sind sich mehr“, sagt Grete Sultan. ist nur noch einige Tage gültig. einig, dass Musik kompromiss- Aber dann schleppt sie sich, auf ihren Jeden Tag wartet Grete Sultan los betrieben werden muss Stock gestützt, doch zum Flügel, streckt vor der jüdischen Gemeinde, oder gar nicht. sich nach dem Pedal, legt den verknöcher- um ein Billett zu bekommen. ten Zeigefinger auf die G-Taste, beginnt, In letzter Minute, eine Viertel- * Grete Sultan: „The Legacy, volume 1: mit dem Rücken zu pendeln wie eine jun- stunde, bevor das Visum ver- The historic piano recordings, 1959-1990“. ge Pianistin: Die ersten Takte der „Gold- fällt, geht sie an Bord: „Das Concord Concerto. berg-Variationen“. ** Volume 2 erscheint im Herbst 2001. Schiff war für 300 Passagiere Sultan-CD Außerdem erhältlich: „John Cage. Etudes Sie verbeugt sich zum Abschied. gebaut. Wir waren 3000.“ „Immer nur gespielt“ Australes. Grete Sultan, Piano“. Wergo. Alexander Smoltczyk

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