Arndt: , und Maskerade 361 plainly,itcould in thefuturebecomeaninfluential alternativemodefor politicaldis- course.Thiscould prove to be especiallyinterestingif, further, it couldinvolve thosein thesociety whoare experiencingthe hard edge of Mongolia’s transformation into amarket economy andwho have fewother opportunities to make theirvoicesheard.

Jürgen Arndt (Detmold und Paderborn) Marvin Gaye, Motown und Maskerade

I. Marvin Gaye nahm Anfang der1960erJahre in DetroitseinerstesAlbum untereigenem Namenauf: TheSoulful MoodsofMarvinGaye.GayeeröffneteseinDebütalbum program- matischmit dem Evergreen TheMasquerade Is Over von HerbertMagidsonund AllieWru- belaus dem Jahr 1938.Der Song gehörteinden 1950er Jahren zumRepertoireeiniger bekannterDoo-Wop-Gesangsgruppenwie TheHarptones undThe Moonglows. Beide Gruppenhattenden Song 1956 aufSchallplatte herausgebracht. 1959 wurde Gaye Mitglied der von Harvey Fuquaneu formiertenMoonglows,ein entscheidender Schritt seiner Popkarriere. Mit TheMasquerade Is Over knüpft Gaye auf seinem erstenSolo-Album an seinebishergemachten Erfahrungenanund entwickelt sie– unterstütztvon Fuquaals Mentor –seinensolistischen Ambitionen entsprechendweiter. Der Song TheMasquerade Is Over thematisiert dieEnttäuschungüberdie verloren gegangene Faszinationder Geliebten.Daraufreagiertder enttäuschteLiebendemit einer eigenenMaskerade. In Anspielung aufRuggero Leoncavallos Oper IPagliacci heißtesin besagtem Song:»I’ll have to play pagliacci/Andget myself aclown’s disguise/And learn to laughlikepagliacci/Withtears in my eyes«. DieMaskerade istvorbei,eineandere lebt weiter. TheSoulful MoodsofMarvinGaye wurde am 8. Juni 1961 aufMotownveröffentlicht. Damitbeganneinefür dienächstenzwanzig JahrefolgenreicheVerbindungzwischen dem populären Soul-Crooner unddem erfolgreichenafroamerikanischenIndependent-Label.

II. BerryGordy hatteseine Schallplattenfirma1959gegründet,inAnlehnung an dieAutostadt Detroit »Motown« (als Abkürzungfür ›Motor Town‹) genanntund eine dementsprechende Firmen-Philosophie entwickelt:

Iworked in theFordfactory before Icameinthe [record]business,and Isaw how each person didadifferentthing.And Isaid, ›Why can’twedothiswiththe creative 362 Symposien A: Popularmusik –Identität und Differenz

process?‹ It wasjustanideaofcominginone door oneday andgoing outanother door andhavingall thesethingsdone. Youknow, thewriting,the producing,the artist’s development–that’sthe grooming of theact,how to talk,how to speak, howtowalk, choreography, all that stuff. Andwhenyou gotthrough andyou came outthe door,you were like astar, apotential star.1

WieamFließband in einerAutofabrikzieltedie analogeArbeitsteilungdarauf, auseinem Sänger einenStar, auseinem Song einenHit zu machen.Der Modellierungsolltedas Star- Imageebensowie dieMusik unterworfensein: vom Gesang biszur choreographierten,auf gutbürgerlichesBenehmenausgerichtetenStar-Präsentation,vom Song Writingbis zur Einspielung der einzelnen Spureneiner Aufnahme.SolieferteMotownvor allem in den 1960er Jahren einenHit nach demanderen,gelangesafroamerikanischen Sängerinnen undSängern,als SolistenoderinGruppen den europäisch-amerikanischen Popmarkt zu er- obern.2 Marvin Gaye wurde im weiteren Verlaufder 1960er Jahrezum »Prince of Motown«. Es gelang Gordy, fürGayeein erfolgreiches Imagezuentwickelnund ihmgegenüber auch durchzusetzen.

He [Gaye]was averystubbornman,and he wasdeterminedtostick with thesemi- jazz stuffhewas doing.But oneday he needed moneyorsomething,and they ended up coming up with athing, […].And it wasareallynicelittle hit[1962]. […] Irealisedthathewas averyhandsomeman andhad sexappeal, and Ithought that we should have himworkdirectlytowomen.SoIsaid, ›Let’s write songswithyou‹–you areawonderful one, you aremypride andjoy.Wewanted himtobedirect. We rightawayhit with that,and he became thesex symbol –he became everything we wanted andmore.3

So wurde Gaye zumsanften Womanizermit der einschmeichelnden Tenorstimme, zum männlichen Sex-Symbolvon Motown mitHitswie Prideand Joy (1963) und HowSweet It Is (tobeloved by you) (1964). Gaye warsichdes Einflussesvon Gordybewusst:»ButIalso felt outofcontrol.IfeltBerry [Gordy] wasthe pilotand Iwas theplane.«4 Mitder Fest- stellung»Motown made me«5 brachteerdiese Einschätzungauf den Punkt. Wievielenanderen Starsdes Labels gelang Marvin Gaye der erfolgreicheSpagatzwi- schenden afroamerikanischen Rhythm &Blues Charts unddem europäisch-amerikanischen Popmarkt.Motownerreichte damitals afroamerikanischesLabel,was zuvor in den 1940er

1 ZitiertnachMichael Goldberg, »Berry Gordy: Motown’sFounder Tellsthe StoryofHitsville,U.S.A.«, in: Callin’Out Aroundthe World. AMotownReader,hrsg. vonKingsleyAbbott, London2001, S. 27–35, hier:S.29. 2 Einige Beispiele erfolgreicherMotown-Produktionender 1960er Jahresind: Smokey Robinson & TheMiracles: Shop Around (1960);The Marvelettes: Please Mr.Postman (1961);Martha&The Vandellas: Heatwave (1963); Dancing in theStreet (1964);MaryWells: My Guy (1964);The Supremes: BabyLove (1964); YouCan’t HurryLove (1966);StevieWonder: Uptight (1965);FourTops: ReachOut I’ll Be There (1966); TheTemptations: ICan’t GetNexttoYou (1969);The Jackson5:I’ll Be There (1970). 3 ZitiertnachGoldberg, »Berry Gordy«, S. 32. 4 ZitiertnachDavid Ritz, DividedSoul. TheLifeofMarvinGaye,New York 21991,S.78. 5 Zitiertnachebd., S. 113. Arndt: Marvin Gaye, Motown und Maskerade 363 und50erJahrenafroamerikanischen Popkünstlern wieNat King Cole undSammy Davis jr. nurvereinzelt gelungen war: dieEroberung desMainstream.

III. Der grenzüberschreitendeErfolgvon Motown warnicht etwa dieFolge einerweitgehend unbestimmten Ausrichtung, sondernbasierteimGegenteil aufeiner spezifischen musik- kulturellenAusprägung. In musikalischerHinsichtist dafürdie Rede vom ›MotownSound‹ bezeichnend. Dieden einzelnen Song bzw. Star übersteigendenEigenschaften erzeugten eine Label-Identität: Dieunschuldige,reine Sentimentalitätder Textewurde in eingängige diatonischeMelodienübersetzt undineinen obertonreichen,hohen Gesamtklangeinge- bettet.Die männlichen StimmenetwabewegtensicheherinTenorlage.Der aufeiner deutlich beatbezogenen, tänzelndenRhythmikaufbauendeKlang der Begleitung beruhte aufeinem in verhältnismäßighoher Lage gespielten Bass,dem Tamburin alscharakteris- tische Perkussionserweiterung sowiedem ergänzenden Streicherklang undChorgesang. DiemusikalischeEinheitlichkeit der Motown-Aufnahmen ging zudem zurück aufdie weni- gendominierenden Komponistenund Produzenten (wie etwa dem Trio BrianHolland – Lamont Dozier–Eddie Holland),die konstantenBesetzungen der Begleitmusiker undder besonderenakustischen Verhältnisse im Studio. Dass dasMotown-Imagegrenzüberschreitend Erfolgenachsichzog,ließKritiker mangelndeAuthentizität vermuten. Als›whitebread soul‹wurde dieMusik in Anlehnung an eine Werbekampagneder Supremes fürWeißbrot verspottet. BrianWardhat aufdie Widersprüchlichkeit derartiger Kritiken hingewiesen:

Criticshaveregularly made unfavourablecomparisonsbetween theslick Motown soul production lineand themorerelaxed,spontaneous,atmosphereofsouthern labels like Stax,withtheir rootsier feel andcountry-fried licks. Paradoxically, South- ernsoul, largelyrecordedonwhite-owned labels by integrated groupsofmusicians whodrewonblack andwhite musicalinfluences,has been reifiedasmoreauthen- ticallyblack than thesecularised gospel recordings of blackmusicians on ablack- ownedlabel with virtuallynowhite creative input.6

DieDiskussionumAuthentizität in der populären Musikals Qualitätskriterium im Gegen- satz zurKünstlichkeit machtoffenbarwenig Sinn.Auchder sogenannte scheinbarurgewal- tige ›Godfather of Soul‹, JamesBrown,war sich seines inszenierten Images bewusst: »Sometimes Iclown,backup, anddothe JamesBrown« rapteer1968inColdSweat. Gernewirdimkulturellen Diskursauchgeradedas Gegenteilvon Ursprünglichkeit, also dasMaskenhafte,als typischfür afroamerikanischeTraditionen undihreWeiter- entwicklunginder Kunstbehauptet.Der afroamerikanischeSchriftsteller undEssayist RalphEllison istdieserAuffassung 1958 entgegengetreten:Die Künstlichkeitder Maske- rade seifür Euro-wie Afroamerikaner gleichermaßen von Bedeutung: »America is aland of maskingjokers. We wear themaskfor purposes of aggressionaswellasfor defense, when

6 BrianWard, »JustmySoulResponding« ,in: Callin’Out Aroundthe World,S.42–56,hier: S. 46. 364 Symposien A: Popularmusik –Identität und Differenz we areprojectingthe future andpreservingthe past.Inshort,the motiveshidden behind themaskare as numerousasthe ambiguities themaskconceals.«7 Fürdie populäre Musikbleibtfestzuhalten: SieerhältihrekulturelleIdentität nicht im SpannungsfeldzwischenAuthentizität undKünstlichkeit,sondern alleindie interkul- turellausgerichtete,medialbedingteKünstlichkeit unddas daraus resultierende Image kann alsauthentisch gelten.Die Identitäteines Popkünstlers oder einesPopstilsbasiert aufeinem künstlichen, inszenierten Image, dasdie soziokulturelle Herkunft entscheidend transformiert.

IV. DiegrenzüberschreitendeIdentität der ›Motown-Familie‹–MarvinGayeheiratete 1961 BerryGordysSchwesterAnna–ist dafürein prägnantes Beispiel. Dabeierweist sich Gayes Imageeines männlichen Sex-Symbols alshilf- underfolgreicheMaskerade. Aber wasgalt es eigentlich zu verkleiden?Gaye warinseinemeigenen geschlechtlichen Selbstverständ- niserheblich verunsichert. Dies schlug sich in der Einstellungzuund im Umgang mit seiner Stimme nieder.Von Anfang an plagtenihn Selbstzweifel:

My voice is basicallycreated in my throat,and there Iwas,surroundedbyfull-bod- iedsingers,boyswho couldsingfromtheir diaphragms.8 [Und weiter:]Iwas always afraid that Ihad no style. Compared to theother fellas on thestreet, my voice soundedsmall.Ittookmealongtimejusttoopenmymouth, andwhenIdid,Iwas sure I’dbeslapped downbythe singer next to me.Besides,the kind of vocalist I wanted to be –purepop –was almost always abaritone. Allthe famous ones,like Tony Bennettand Nat Cole,had deeper voicesthanmine.9

Sein Biograph David Ritz spitzt diesen Aspekt zu:»In fact,Marvinoften soundedlike awoman;hewas avocalistwho,byexposinghis vulnerability, reachedintothe souls of women.«10 Gaye hatteoffenbarProbleme, seineweniger körperbetonte Stimme mit der gängigen soziokulturellen MännlichkeitsvorstellunginEinklang zu bringen. Seine eigeneUnsicherheitgeradeauchinstimmlicherHinsichtfandindem von Gordyentwor- fenenImage eine Verkleidungder vermeintlichfemininen Eigenschaften.Scheinbar kam dasWomanizer-Image Marvin Gayeseigenen Ansprüchen entgegen.DennseinZielent- sprach nichtnur MotownsAmbitionen, auch deneuropäisch-amerikanischen Popmarkt zu erobern, sondernwar genauindieserAusrichtung noch weitradikaler.Amliebstenhätte er als›blackSinatra‹Erfolggehabt:

My dream[…] wastobecomeFrank Sinatra. Ilovedhis phrasing,especiallywhenhe wasveryyoung andpure. He grew into afabulousjazzsingerand Iusedtofantasize

7 Ralph Ellison, »Change andJokeand Slip theYoke«,in: ders., TheCollected Essays,hrsg. vonJohn F. Callahan,New York 2003,S.100–112,hier: S. 109. 8 ZitiertnachRitz, DividedSoul,S.31. 9 Zitiertnachebd., S. 32. 10 Zitiertnachebd., S. 41. Arndt: Marvin Gaye, Motown und Maskerade 365

having alifestyle like his–carryingoninHollywood andbecomingamovie star. Everywoman in Americawantedtogotobed with . He wasthe king Ilonged to be.Mygreatestdream wastosatisfy as many womenasSinatra.Hewas theheavyweightchamp,the absolute.11

In musikalischerHinsichtgelangesGayeimmer wieder,Pop-Balladen undsogar ganze AlbenohneSongs der Motown-Songwriteraufzunehmen.Das warschon beidem bereits erwähntenerstenAlbum fürMotown, TheSoulful MoodsofMarvinGaye,1961der Fall.1964 entstand dasAlbum HelloBroadway,1965eineHommage an den gerade verstorbenenNat King Cole. Obwohl Gaye mitseinenBalladen-Interpretationendas grenzüberschreitende Anliegen von Motown stärkerausprägte alsdie meistenanderen Motown-Interpreten,blieb er aus- gerechnetdamit erfolglos.Den weißenPopmarkt eroberte er ironischerweise mitseinen Soulnummern. Entsprechendagierte dasLabel beiGayes Single-Veröffentlichungen,in- demausschließlich fürMotowntypischeSoulstückedaraufzufindenwaren. Gaye identifiziertesichkeineswegsmit seinem etabliertenStar-Image.GanzimGegen- teil,zwischenseinemeigenen künstlerischen Anspruch alsBalladeninterpret undseinem Erfolg alsSoulsängerklafftefür ihneineunüberwindbareDistanz.

V. GayesGesangbasiert im Wesentlichen aufdrei verschiedenen Stimmklängen.Dabei ver- zichteterdarauf, eineneinheitlichen Soundzuentwickeln. Vonder Kopf-und Brustregister mischenden,sanften Tenorstimmewechselterimmer wieder in isolierte, raue Brustklänge oder springt in diereine Kopfstimme.Die verschiedenen Klänge setztereherunabhängig voneinander ein, spaltet seinen Gesang in getrennteKlangbereicheauf undschafft damit eine seines unsicheren geschlechtlichen Selbstverständnisses analogemusikalische Aus- prägung. Dies gilt fürdie meistenEinspielungen der 1960er Jahre. GegenEndedes Jahrzehnts kamesallerdings zu gravierendenVeränderungen.Ge- meinsammit dem Arrangeurund Produzenten Norman Whitfield nahm Gaye 1968 eine neue Versiondes Songs IHeard It Throughthe Grapevine auf, nurein Jahr nachdemdieser Song,gesungenvon Gladys Knight&The Pips fürMotownbereitseinen großen Erfolg eingebrachthatte. Hierbei gelang es ihmerstmals, seinediversenStimmklängesukzessivmiteinander zu verbinden.Insbesondere Whitfieldist es zu verdanken,dassdie Einspielung gegenWider- stände beiMotownzunächstwenigstens aufeinem Albumerscheinendurfte undspäterso- gar–aufgrunddes einsetzenden Erfolgs–noch alsSingleveröffentlicht wurde. Mitseiner Versionvon Grapevine eroberte Gaye dieSpitzesowohlder Rhythm &Blues-als auch der Pop-Charts;eswar damals sein mitAbstand größterErfolg. Nichtnur in finanziellerHin- sichtverschafftesichGayedadurch eine größere Selbständigkeit, auch in künstlerischer Hinsicht zeigte sich,dassIdeen auch gegenGordy durchsetzbar waren.

11 Zitiertnachebd., S. 29. 366 Symposien A: Popularmusik –Identität und Differenz

Also auch in stimmlicherHinsichtstellte Grapevine so etwaswie den Höhepunktvon Gayesbis dato verlaufener Motown-Karriere dar. Zwar konnteervon nunanhäufigersein stimmlichesPotential zu einerEinheit zusammenführen,wie etwa in einerbemerkenswer- tenVersion von Lennon/McCartneys Yesterday (1969auf That’s theWay Love Is). Doch all dies markiertefür Gaye eher einEndstadiumseinerbisherigenEntwicklung undschien ihmnicht gerade neue Perspektiven zu eröffnen. Neue kreative Wege ergabensichauf ganz andere Weise: durchseinzunehmendes Interesseanden Möglichkeitender Studioproduktion. Gaye sammelte seit 1968 eigeneEr- fahrungenals Produzent der GesangsgruppeThe Originals. Ab 1970 verlangte er schließ- lich auch fürseine eigenen Einspielungen,als Produzent dieKontrolle zu übernehmen. Seinen erstengewichtigen Schritt in dieseRichtungunternahm er mitder Produktion derSingle What’s GoingOn.Dabei kamvor allem dem Mehrspurverfahren eine zentrale BedeutungimBlick aufden Gesang zu.Als hilfreich inspirierenderwiessichein Fehler desbeteiligten Toningenieurs; KenSands erinnert sich:»That doubleleadvoice wasa mistakeonmypart[…].Marvinhad cuttwo lead vocals, andwantedmetoprepareatape with therhythmtrack up themiddleand each of hisvocalsonseparatetrackssohecould comparethem. Once Iplayedthattwo-track mixonamonomachine andheheard both voices at thesametimebyaccident.«12 DieFolgendiesesFehlers solltenGayes weiteresVorgehennicht nurfür dieSingleoder dasspäterdarausentwickelte Album, sondernauchfür seineanschließendenProduktionen prägen.Ben EdwardsbetontinseinemEssay über What’s GoingOndeshalbzuRecht:»The unintentionalduet wasnot only kept,itbecameacreativestrategythatwas expanded and appliedthroughoutthe subsequente albumand therestofhis career,becomingahall- mark of hisvocal style.«13 Denn so bekamGaye dieMöglichkeit, seineunterschiedlichen Stimmklängemiteinander zu kombinieren,ohnesie zu einerwirklichenEinheit verschmel- zenzumüssen. Dasausgesprochen künstliche Verfahren wird durchdas klangliche Ergeb- niskeineswegsverschleiert, sondernals solchesgeradezuherausgestelltund will dement- sprechendwahrgenommen werden. AufdieserGrundlage entwickeltGaye eine neue stimmlich-klangliche Maskerade. Mitder ausgeprägtenKünstlichkeit desaufnahmetechnischen Vorgehenskorrespon- dierteinegewandelteEinstellungGayes gegenüberdem Mikrophon:»IfeltlikeI’d finally learnedhow to sing […].I’d been studying themicrophonefor adozen years, andsuddenly Isaw what I’dbeendoing wrong. I’dbeensinging tooloud, especiallyonthose Whitfield songs. It wasall so easy.One nightIwas listening to arecordbyLesterYoung,the horn player,and it came to me.Relax,justrelax.It’sall goingtobeall right.«14 IndemsichGaye zunehmendauf dietechnischen Möglichkeiteneinlässt,seinenGesangdaran ausrichtet, nimmterseine stimmliche Präsenzzurück. Dieklaren Konturen seiner stimmlichenKlang- bereicheverwischen zugunsteneines sanften, brüchigenGesamteindrucks.

12 ZitiertnachBen Edmonds, What’s GoingOn? Marvin Gaye andthe Last Days of theMotownSound, Edinburgh2001, S. 121f. 13 Zitiertnachebd., S. 122. 14 ZitiertnachRitz, DividedSoul,S.149. Arndt: Marvin Gaye, Motown und Maskerade 367

Damitgelingt es Gaye,die pazifistischeGrundaussagevon What’s GoingOn–»Waris notthe answer foronlylove canconquer hate«–ebensoüberzeugend zu transportieren wieseinbetonterotischesAnliegen in den beiden folgenden Studioalbenmit den bezeich- nend forderndenTiteln Let’s Get It On (1973) und IWantYou (1976).Präsentiert sich Gaye mit What’s GoingOnalsKriegsgegnerund Sozialkritiker,inszeniertersichinden Jahren danach alsbetontintim undselbstverliebt, alssanft,aberbestimmtfordernder Liebhaber. Sein neugewonnenesmännliches Imageunterstreichteräußerlich durcheinen Vollbart undlegere Kleidung;soverliertauchseine äußere ErscheinunganklarenKonturen. Die mit What’s GoingOneingeschlagene Richtung,die stimmlich-klanglichePräsenz zurück- zunehmen,entwickeltGayeweiter. Auf IWantYou spitzt Gaye dieTendenz noch zu,in- dem seineStimmeebensowie diebegleitenden Instrumentemit viel Hall undräumlich tief abgemischtverschwimmen. Auch diehierarchischeUnterscheidunginLeadund Back- ground Vocals verliert an Prägnanz,u.a.dadurch,dassGaye selbstauf beiden Ebenen sänge- rischagiert. Insgesamtentsteht mehr der Eindruck einesEchos alsder einesprägnant erzeugtenKlangs. DiehierradikalisierteTendenz zurAuflösung zeigtsichnoch weiter zugespitzt in der instrumentalen Fassung desSongs Afterthe Dance:Gayeersetzt seinen Gesang durchmelodiösesSpiel aufeinem Arp-Synthesizer. Mitder 1970 einsetzenden Entwicklungvon Marvin Gaye mochte sich BerryGordy nichtanfreunden. Insbesondere dieProtesthaltungvon What’s GoingOnerschien Gordy wenigErfolgversprechend: »I triedtoconvincehim [Gaye]thattalking aboutwar and police brutalityand all that stuffwould hardly make himmorepopularthanthe romance stuff.«15 Schließlich wurde dieSinglezunächstsogar ohne Gordys Wissen 1971 veröffent- licht. Der einsetzendeErfolggab GayesWandelauf der ganzenLinie Recht. Dass Gordyhierüberhaupt übergangenwerden konnte, lagvor allem darin begründet, dass er seinen Wohnsitz von Detroit nach LosAngeles verlagert hatte, um mitseinenStars insFilm- undFernsehgeschäft hinein zu expandieren.DieserSchritt,dem bald dieVer- legung desLabelsnachKalifornien folgen sollte,war mitentscheidend dafür, dass sich daseinheitlicheImage von Motown ausden 1960er Jahren im darauf folgenden Jahrzehnt genausoauflöste wiedas einstige Star-Image von Gaye. Den typischenMotown-Sound gabesnicht mehr.Gayes künstlerischeEmanzipationverhalfauchanderen Motown-Stars wieStevieWonderzugrößerer Eigenständigkeit. Erfolgreich bliebdas Labelnachwie vor, aber es verdankte den Erfolg mehr den Projektender einzelnen Musikern als–wie zuvor – einemübergeordnetenKonzept.

VI. DiekünstlerischeSelbständigkeitveranlasste Gaye nichtetwa, dieKünstlichkeit seiner Musikund seines Images zugunstengrößerer Unmittelbarkeitzurückzunehmen. Statt- dessen steigerte er dieKünstlichkeit etwa im ausgeprägtenUmgangmit der Studiotechnik radikal. Es entstand eine neue Maskerade,die keineswegs derart einfachals Kompensation seinergeschlechtlichenUnsicherheitverstandenwerdenkann, wiedas fürseinImage der

15 ZitiertnachGoldberg, »Berry Gordy«,S.32. 368 Symposien A: Popularmusik –Identität und Differenz

1960er Jahrenoch angenommenwerdenkonnte. Früher schien dieUnterscheidungzwi- schenMaske undSubjektnoch möglich, doch folgtman theoretischen Überlegungen der Genderstudies, dann gilt insgesamt, wieesWalterErhartzusammengefasst hat: »Analog zurWeiblichkeiterweist sich Männlichkeit alsTeiljener Inszenierung von Geschlecht,der dasOriginal, einhinterder Maskeverborgener Kern abhanden gekommenist.«16 Dasauf Joan Rivière zurückgehendeund von Judith Butler fürdie jüngere Diskussion aktualisierte Maskerade-Konzept versprichtinder fürdie MännerforschungmodifiziertenAnwendung erheblichen Erkenntnisgewinn.Claudia Benthien bemerkthierzusammenfassend:

DesWeiteren istbei männlichen Maskeraden dasVerhältnis von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit einanderes.Wennweibliche Maskerade nach Lacanals Strategie gedacht wird,die dazu dient, einenMangelzuverhüllen, so wäre dieMaskerade des Mannes in diesem Punktanalog, selbst wennsie sich alsdas Gegenteil gebärdet. Dennsie verweistjakeineswegsauf Eigentlichkeit –die nurals Phantasmaexis- tiert–,sondern ebenfallsauf etwasUneigentliches. Daraus folgt, dass dasAnlegen vonGender-Maskeraden die(biologische wiesoziale)Geschlechterdifferenzper se nivelliert, auch wenn es siemöglicherweise zu affirmieren vorgibt. Betreibt Maskerade eine Mimikryanein Original,das es garnicht gibt […],dannmüssen männlicheMaskeradendiesesFaktumumsomehrzuverbergen suchen,als doch Männlichkeit,imGegensatz zu Weiblichkeit,immer alsEssenz, Echtheit und Ganzheitgalt. Maskeraden der Männlichkeit sind daher–mehrals Maskeraden der Weiblichkeit –auchAufführungenvon ›Authentizität‹, sogarwennsie einengänz- lich ›unmännlichenMann‹performieren.Sokannman paradoxformulieren,dass noch der ›verstellte‹Mannder ›echte‹Mannist.17

Es istleichteinzusehen, wiehieraus auch eine Interpretationshilfefür den Pop-Diskurs gewonnen werden kann.Erweist sich doch alleinder häufige Rekurs aufAuthentizität alsvermeintlichentscheidendesQualitätskriteriumnun alsfragwürdige männlichePer- spektive. Im Blickauf GayesImage seit 1970 lässtsichdessen inszeniertemännliche Sub- jektivitätals potenzierteKünstlichkeit verstehen. Alsauthentisch erweist sich GayesMas- kerade nichtdurch seinegesellschaftskritische Stellungnahmeoderdurch diezur Schau getrageneintimeSubjektivität. Allein dieMaskeradenselbst, insbesondere in ihrer musika- lisch-klanglichen Künstlichkeit,könnenAuthentizität fürsichinAnspruchnehmen. Denn GayesStimmeinihrer klanglich-technischen Aufspaltungnegiert einenvermeintlich eigentlichen Kern vollends. Gaye äußerte einstseinemBiographenDavid Ritz gegenüber: »Whatyou’retryingto findout is am Ireallyageniusorafake. AndIthink I’mafake.«18

16 Walter Erhart,»Mann ohne Maske. DerMythosdes Narzissund dieTheorie derMännlichkeit«,in: Männlichkeit alsMaskerade.KulturelleInszenierungenvom Mittelalterbis zurGegenwart,hrsg. vonClaudia Benthien undIngeStephan,Kölnu.a.2003, S. 60–80, hier:S.67. 17 Claudia Benthien,»DasMaskerade-Konzept in derpsychoanalytischen undkulturwissenschaft- lichen Theoriebildung«, in: Männlichkeit alsMaskerade,S.36–59, hier:S.56. 18 ZitiertnachRitz, DividedSoul,S.157.