Zschokke in Graubünden

Autor(en): Ribi, Hilde

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Bündner Jahrbuch : Zeitschrift für Kunst, Kultur und Geschichte Graubündens

Band (Jahr): 13 (1971)

PDF erstellt am: 11.10.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-550575

Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. Die systematische Speicherung von Teilen des elektronischen Angebots auf anderen Servern bedarf ebenfalls des schriftlichen Einverständnisses der Rechteinhaber.

Haftungsausschluss Alle Angaben erfolgen ohne Gewähr für Vollständigkeit oder Richtigkeit. Es wird keine Haftung übernommen für Schäden durch die Verwendung von Informationen aus diesem Online-Angebot oder durch das Fehlen von Informationen. Dies gilt auch für Inhalte Dritter, die über dieses Angebot zugänglich sind.

Ein Dienst der ETH-Bibliothek ETH Zürich, Rämistrasse 101, 8092 Zürich, Schweiz, www.library.ethz.ch

http://www.e-periodica.ch Zschokke in Graubünden

Zzzr 200. Wzeder&eÄr se/wes Gehwrfsttfges, tzra 22. Mà'rz 2972

vo;z Hz7/

Der junge deutsche Doktor der Philosophie der hat sie ihm geboren, als jüngstes am 22. und Gottesgelahrtheit, der da eines Tages im März 1771 unsern Heinrich, mit vollem Na- August des Jahres 1796, begleitet einzig von men Johann Heinrich Daniel geheißen, und seinem Hündchen, vom Oberalp her nach ist dann, 44 Jahre alt, keine acht Wochen Chur einwanderte und nachmals hierzulande später gestorben. Es lebten dannzumal von und weit herum in der Welt zu großer Be- Heinrichs Geschwistern nur mehr deren vier, rühmtheit gelangen sollte, hatte noch wenige die einen von ihnen lange schon erwachsen. Monate zuvor die Hoffnung gehegt, als Pa- Auch seinen geliebten Vater verlor Heinrich stor an der Katharinenkirche zu unterzukommen, wo vordem seine Eltern ge- traut und er selber getauft und konfirmiert worden war. Er hätte dann des Glockengie- ßers und Kirchenvorstehers Ziegener anmuti- ges Rikchen geheiratet und wäre somit mög- licherweise endlich heimisch geworden und anerkannt an der Stätte seiner schmerzlichen Kindheit. Doch ist er mit bloßen fünf von zwölf Stimmen bei der Wahl nicht durchge- kommen, hat seine Vaterstadt hierauf ordent- lieh schwermütig verlassen und ist niemals wieder dahin zurückgekehrt.

Seine Vorfahren stammten aus der kleinen, östlich Leipzig gelegenen Stadt Oschatz und waren von jeher Tuchmacher gewesen. Hein- rieh Zschokkes Vater, der sich noch «Schok- ke» schrieb, hatte sich in jungen Jahren nach Magdeburg gewandt, war dort, in der säch- sisch-nordpreußischen Stadt an der Elbe, 1746 Bürger geworden und hatte noch im selben die damals Do- Jahre neunzehnjährige Heinrich Zschokke rothea Elisabeth Jordan geehelicht. Elf Kin- als Frankfurter Privatdozent im 24. Lebensjahr

73 schon mit bloßen acht Jahren; der soll ein Zeitschriften herauszugeben sollte in der Tat tüchtiger Mann gewesen sein und sich einen seine Leidenschaft bleiben bis fast an seines bescheidenen Wohlstand erworben haben, Lebens Ende. nicht zuletzt, weil er Wollstoff an Friedrichs Als geborener Journalist gab er bei Sauer- II. Armee habe liefern können. Der verwaiste länder in ab 1807 nicht weniger als Knabe fand Unterschlupf bei seinen verhei- ein halbes Dutzend Periodika heraus, allen rateten Geschwistern, bei einer Schwester, bei voran «Der aufrichtige und wohlerfahrene einem Bruder, muß sich aber oftmals sehr Schweizerbote», aber auch «Miszellen für die preisgegeben und unglücklich gefühlt haben. neueste Weltkunde», die Monatsschrift «Er- «. die frühe Todesstunde meines Vaters heiterungen», «Überlieferungen zur Geschichte war die Geburtsstunde meiner Leiden», hat er unserer Zeit», «Wöchentliche Unterhaltungs- einmal in einem melancholischen Briefe be- blätter für Welt- und Menschenkunde», nicht kannt: «Ich war ein Kind und schon als Kind zu vergessen seine, wiewohl anonym erschie- verlassen. Ich schwebte auf dem Lebensmeer nenen, aber von ihm gänzlich allein verfaß- mit einem gebrechlichen Nachen. Die Wogen ten, in den Jahren 1808—16 allwöchentlich schleuderten mich bald an die stillen Ufer der publizierten «Stunden der Andacht zur Be- Tugend, bald an die Klippen und Brandun- förderung wahren Christenthums und häus- welche Sauerländer gen des Lasters. Instinkt und Verzweiflung licher Gottesverehrung», waren zuletzt mein Kompaß —.» Da er sich ab 1816 dann in acht Bänden erstmals in mit seinen Verwandten nicht gut verstand, Buchform herausgab, den ersten Band ge- begann er sich, um Distanz von seiner Sippe ziert nicht mehr und nicht weniger als «mit zu bekunden, schon im Gymnasium «Zschok- dem Bildnisse Jesu Christi». Das Werk wurde ke» zu schreiben. (Der berühmte Historiker alsbald übersetzt, nicht nur ins Französische, Johannes von Müller und sein Bruder Georg, Italienische und Englische, sondern auch ins der Schaffhauser Gymnasiallehrer, schrieben Tschechische, Ungarische, Polnische und Rus- noch nach der Jahrhundertwende seinen Na- sische. Siebenunddreißigmal konnten die Bände auch men «Tschokke», waren ihm übrigens gar neuaufgelegt werden, seien eine nicht gewogen und titulierten ihn in ihrem Lieblingslektüre der Königin Viktoria gewe- Briefwechsel recht umumwunden als Bären- sen. Zschokke übrigens hat den bekannten häuter und politischen Heuchler, ja rundweg Aarauer-Verlag entscheidend mit ins Leben als Schurken.) — Kümmerlich hatte Zschokke gerufen, denn er war es gewesen, der 1803 in seinen Bubenzeiten zu leben, mußte oft den jungen Buchdrucker Heinrich Remigius hungrig zur Schule, hungrig zu Bett, ward Sauerländer zusamt seinem damaligen Com- seines Daseins immer weniger froh und ist pagnon Flick dringlich nach Aarau kompli- endlich auf einem gemieteten Pferd — das er mentierte. Zschokke sollte in der Folge dieses zudem hinterher verkauft hat — im Januar Unternehmens ergiebigster Autor werden 1788 heimlich aus Magdeburg entwichen. Er durch Jahrzehnte hin. hat sich dann in Schwerin durchgebracht als Schon als Jüngling hat er rastlos zu schrift- Stundengeber und als Korrektor beim dortigen stellern begonnen und nannte sich stolz Hofbuchdrucker, wo er bezeichnenderweise «Homme de lettres» schon in Schwerin. Leb- bald schon seine erste Zeitschrift gründete, haft nahm er auch Anteil dort am kleinen die «Monatsschrift von und für Mecklen- Theater und ist dann ein paar Monate lang bürg», ein abenteuerlich dotiertes Blatt, wel- mit einer Wandertruppe unterwegs gewesen, ches immerhin bis über die Schwelle des Jahr- als Manager sozusagen, habe Dramen aller hunderts hinaus Bestand haben sollte, eines Art für sie zurechtgeschustert und auch sei- der vielen Organe, welchem der federge- ber «ein paar Saus- und Grausstücke» ver- wandte, unermüdlich tätige Zschokke zeit sei- faßt. 1790 erschien sein Trauerspiel «Graf nes Lebens ans Licht verhalf; Zeitungen und Monaldeschi oder Weiberwut und Männer-

74 bund»; Schauplatz: Fontainebleau im Jahre gebracht zu haben; mittlerweile sei es im Ori- 1656, als Christine von Schweden dort weilte. ginal lange schon verschollen. Carl nachmals Hochschullehrer für Günther, In seinen Frankfurter Jahren entstand auch Germanistik in , dessen hervorragende seine spektakulär futuristische Romanserie in Dissertation «Heinrich Zschokkes Jugend- drei Bänden «Die schwarzen Brüder» und soll und erschienen 1918 bei Bildungsjahre», als prickelnd unterhaltsames Lesefutter enor- Sauerländer, zuhanden Skizze wir unserer men Anklang gefunden haben. Es kommt und voller konsultieren, fleißig Hochachtung übrigens darin auch jener brave Pudel My- bezeichnet es ohne Umschweife als ein lite- lord vor, welchen er dann auf seine Bil- rarisch durchaus wertloses «Mord- und Intri- dungsreise mitgenommen hat. Auch erschien genstück». in jenen Jahren Zschokkes berühmte Ju- Zu hat dann Zschokke das Ma- Landsberg gendschrift vom Banditen «Abällino», welche turitätsexamen bestanden, bekam hierauf von dann, umgeformt zum Trauerspiel, alsbald seinem Vormund aus sein be- Magdeburg über so viele Bühnen ging, daß Goethe schon scheidenes immatriku- Vermögen ausbezahlt, 1795 in seinen Tag- und Jahresheften trok- lierte sich nach Ostern 1790 Frankfurt zu ken bemerkte: «Abällino war den Schilleri- der einer kleinen Stadt an Oder, preußischen sehen Stücken ziemlich gleichgestellt.» Eben- mit damals nicht mehr als etwa 10 000 Ein- falls im genannten Jahre 1795, als die Nach- und hat daselbst einer latei- wohnern, mit Wirkungen der Französischen Revolution be- nisch zwei abgefaßten Dissertation knapp reits in die hintersten Täler vorgedrungen Jahre später sein Diplom als Doktor und Ma- waren, gefiel es ihm, die in einem deutschen der und freien Künste gister Philosophie aus- Dorf nahe der französischen Grenze spie- bekommen. In Cüstrin gehändigt promovierte lende Farce «Der Freiheitsbaum» an den Tag dann noch in und reiste er Theologie gleich zu geben. Übrigens: im März 1798, kurz vor darauf selbstbewußt nach Hause, wo er zu Ausrufung der Helvetischen Republik, sollen der Seinen nicht in der geringem Respekt auch in unseren Landen als Symbol der neuen schon Katharinenkirche genannten gewaltig Zeit nicht weniger als siebentausend derartige haben soll. Nachdem redegewandt gepredigt Bäume aufgestellt und gehörig umtanzt und aber schon ihm dann — wir sagten es — umjubelt worden sein. seine Felle davongeschwommen waren, hat er sich im Oktober 1792 in Frankfurt an der Zschokke, trotz seinem Fernweh, wäre zu Oder als Privatdozent etabliert. Als gesellig Frankfurt an der Oder nicht ungern Extra- und sprudelnd anregender junger Mann muß Ordinarius geworden, wurde aber auf seine be- er dort allseits beliebt gewesen sein. Es folg- untertänige Supplikation hin abschlägig ten zwei geruhsame Jahre, welche er mit ein schieden, respektive auf einen späteren Zeit- So entschloß sich denn paar wenigen Vorlesungen, ausgiebiger Lek- punkt vertröstet. er ttire, Klavierspiel und betulicher Geselligkeit kurzerhand, seinem nur mit Maßen befriedi- hinbrachte, nicht ohne oftmals sanfter Melan- genden Dasein zu entrinnen und auf Reisen cholie zu verfallen und der brennenden Sehn- zu gehn. Am 9. Mai 1795 hat er die Stadt ver- sucht nach einem tätigeren Dasein. lassen und hat sie gleich Magdeburg niemals 1794 hielt er sich kurz in Berlin auf und wiedergesehen. ist dort mit dem um bloße zwei Jahre alte- In Bayreuth ist er dann schwer erkrankt, be- ren, schon damals hochangesehenen Kupfer- gann aber auch dort in der Genesungszeit Stecher und Buchillustrator Johann Friedrich gleich wieder hemmungslos zu Schriftstellern, Bolt bekannt geworden, dem wir das hier machte hernach Station in Stuttgart und er- wiedergegebene genialische Jugendbildnis blickte endlich, von einer Anhöhe über Tutt- Zschokkes verdanken. Er scheint es seinerzeit lingen aus, zum erstenmal in schwärmeri- in seinem Reisegepäck mit nach Graubünden scher Begeisterung die Schweiz: «... Am

75 Raum des Horizonts lag sie ausgegossen, groß ungenau. Dort, in seiner Lebensbeschreibung, und majestätisch, mit ihren himmelragenden lesen wir: Gebirgen. — Mein Odem stockte bei dieser «In kurzer Zeit lief der ,Schweizerbote'durch großen Erscheinung •—- der sehnsuchtsvolle Dörfer und Städte aller Täler. Nie hatte ein Wunsch meiner Jünglingsjahre ward erhört.» ähnliches Blatt vormals in der Schweiz soviel Beseelt von niegekanntem Lebensgefühl ist er Aufsehen verursacht.» Als glühender Patriot dann über Rorschach, St. Gallen, Appenzell und sich der Sache der Freiheit zugehörig und das Toggenburg, über Einsiedeln, fühlend mit Leib und Seele, sei er, Zschokke, und Zug am 20. September in Zürich einge- freilich in dessen Anfängen vielverschrien troffen und fühlte sich unaussprechlich glück- worden als «verlaufener Preuße», als «Erb- lieh. Hier hat er zunächst im «Schwert» lo- feind der Ordnung», als «Jakobiner und Erz- giert und hernach in einer Mietwohnung, in revolutionär». welche Hans Georg Nägeli, der Komponist Der phantasievolle, von Einfällen und Pro- des Liedes «Freut Euch des Lebens», alsbald jekten übersprudelnde Deutsche hat sich wie ein Klavier hat stellen lassen. Drei volle Mo- gesagt in Zürich äußerst wohl gefühlt und nate ist er in Zürich geblieben, hat durch die machte sich jedermann zum Freund. In sei- Vermittlung des wendigen Pfarrherrn und nem mit vielen Stahlstichen geschmückten Schriftstellers Leonhard Meister an einer Werk «Die Schweiz in ihren klassischen Stel- Abendgesellschaft auch Pestalozzi kennenge- len und LIauptorten» vom Jahre 1836 hat er lernt und ist ihm treu verbunden geblieben bis «der Gartenstadt am See» in jeder Weise ge- zu dessen Tode. Im ersten Teil seiner 1832 huldigt, und wahrhaftig weit hat er in die nur sehr kurzlebig bei Sauerländer erschiene- Zukunft geblickt, wenn er schreibt: «Viel- nen Zeitschrift «Prometheus» hat er seine leicht, ehe das Jahrhundert verstreicht, ge- Erinnerungen an Pestalozzi niedergelegt. Er- währen die Ufer des halben Zürichsees links wähnt sei an dieser Stelle, daß Zschokke zur und rechts den Anblick einer einzige« wnge- Herausgabe seiner weitaus einflußreichsten /?eKre?z Sffldt, in deren Mitte die breite, präch- Zeitung, des schon erwähnten «Schweizerbo- tige Wasserfläche von Barken, Frachtschif- ten», 1798 von Pestalozzi angeregt worden fen und Dampfbooten wimmeln wird.» — war. Das Blatt, dessen Redaktion er bis 1837 Manch gewichtigen Mann hat er sich in Zü- persönlich beibehielt, erschien bis 1800 in rieh zum Freunde gemacht; bloß Lavater ist und Luzern, ging dann, nachdem unser er ausgewichen, habe ihn ein einziges Mal Land von fremden Kriegsvolk überschwemmt predigen gehört und sei daraufhin «etwas worden war, vorübergehend ein und erschien irre geworden an dem trefflichen Mann». neuerdings ab 1804 bei Sauerländer, und zwar In Begleitung eines Stäfners ist Zschokke noch volle dreißig Jahre über Zschokkes Tod einmal vorgedrungen bis ins hinterste Tal der hinaus, nämlich bis zum Dezember 1878. Es Linth und hat hinterher nicht weniger als 85 soll jahrzehntelang durchaus «die am meisten Druckseiten über das Glarnerland zu Papier gelesene und einflußreichste Zeitung unseres gebracht, nachzulesen im zweiten Bändchen Landes» gewesen sein. Vorerst erschien sie seiner 1796/97 publizierten «Wallfahrt nach einmal, später dreimal wöchentlich. — 1842 Paris», welche er, wiederum genesend von kam, an die 300 Seiten stark, Zschokkes einer recht langwierigen Krankheit, in Bern Selbstbiographie, «Eine Selbstschau», heraus, zu Papier gebracht hatte, nach welcher Stadt geschmückt mit einem Porträt, das sein drit- er Mitte Dezember 95 aufgebrochen war. Es ter Sohn Alexander, damals Stahl- und Kup- ist in diesem zierlichen Werk nicht etwa von ferstecher in Aarau, gefertigt hatte. Sie liest Frankreichs Metropole die Rede, sondern zu- sich unerhört kurzweilig, ist denn auch wie- nächst von seinen Reiseerlebnissen seit seinem der und wieder neuaufgelegt worden, sei aber, Weggang von Frankreich bis zu seiner An- sagt Carl Günther, in manchen Angaben recht kunft in der Schweiz, und im zweiten Teil so-

76 dann von jenen, welche ihm beschert wa- Mitte August 1796 — nachdem er zweifellos ren bis zu seiner Ankunft in Bern (wo er üb- zuvor in Reichenau angeklopft und vom alten rigens seine schicksalhafte Freundschaft mit Nesemann begrüßt worden war — ist er in dem jungen Aloys Reding, dem nachmalig er- Chur eingetroffen. sten Landammann der Republik, geschlossen Über das Schloß und die Erziehungsanstalt hat). Reichenau ist oft schon geschrieben worden, Im Frühling 96 ist Zschokke mit einem ausführlich unlängst erst von Dr. Paul Erna- Freund nach Paris aufgebrochen, nicht ohne nuel Müller, im 1. Heft der 1969 im Calven- sich schon an der Grenze bei Basel auf alle Verlag, Chur, neu eröffneten sog. Kristall- Fälle eine Kokarde an den Hut zu stecken. reihe mit ihren Monographien über einige In der faszinierenden Stadt an der Seine, wel- Bündnerschlösser. Man weiß: ein Unstern hat che sich damals von den Schrecken der Re- über den biinclnerischen Erziehungsinstituten volution einigermaßen wieder erholt hatte, des 18. Jahrhunderts gestanden. Johann Peter sah er sich, seinem Wesen gemäß, höchst in- Nesemann (1720—1802), gleich Zschokke teressiert und betriebsam um und hat seine aus dem Magdeburgischen stammend, hat all Eindrücke schon im Juni in Wielands «Neuem ihre Phasen miterlebt bis zum bittern Ende; Teutschen Merkur» an die Öffentlichkeit ge- er war als Hauslehrer schon in den 50er Jah- bracht. Halb und halb gedachte er anschlie- ren ins Bündnerland gekommen und hat ßend wieder in die Heimat zurückzukehren, dann, ab 1761, treulich teilgehabt an Martin mußte dann aber vernehmen, daß sein Mag- Plantas pädagogischen Unternehmungen, hat deburger-Liebchen geheiratet hatte und ist in Zizers die Gründung von dessen Institut daraufhin sehr betroffen und gedämpften Ge- miterlebt, ist mitübersiedelt nach Haldenstein, müts zurück in die Schweiz gereist, in der Ab- wo das Internat seinen schönen Aufschwung sieht, von dort aus möglichst bald nach Ita- erlebte und auch Laharpe (César Laharpe, lien, zumal nach Rom, zu gelangen, wie es der nachmalige Prinzenerzieher zu Moskau sich damals für einen bildungsbeflissenen jun- und 1799 dann Präsident des sog. helveti- gen Mann gehörte. Eine kleine Neugier bloß sehen Vollziehungsdirektoriums), durch zwei- galt es zuvor noch zu befriedigen. Über Bern cinhalb Jahre hin Zögling war, ist 1771 mit und Luzern wandte er sich, stetsfort von sei- nach Marschlins übersiedelt und hat dort im nem Hündchen begleitet, ins Urserental und Februar 1777 des mittlerweile zum Philan- ließ sich dann auf einem Saumtier hinauf thropin umbenannten Unternehmens schmäh- zum Gotthardhospiz tragen, nicht aber, um liehen Untergang durch die Umtriebe des üb- von dort aus gleich nach Süden abzuschwen- len Gießener Professors Karl Friedrich Bahrdt ken, sondern, um sich — einer Anregung des miterlebt. Hierauf hat er zurückgezogen mit Berner Gymnasiallehrers Michael von Wag- seiner kleinen Familie — Nesemann hatte ner Folge leistend — zunächst nach Bünden eine Frau und zwei Töchter — als Privat- zu wenden und dort die Erziehungsanstalt lehrer in Chur gelebt, bis man ihn Jahre spä- Reichenau in Augenschein zu nehmen. -—• ter, als er schon 72 war, neuerdings zu einem Wagner, geboren 1756, war in jenen Jahren bedachtsam und hoffnungsvoll gestarteten Rektor des Berner Literargymnasiums und ist Unternehmen berief. dann 1798 in den Erziehungsrat gewählt wor- Johann Baptista von Tscharner (1751 bis den, ein sowohl für Reichenau als für Bünden 1835) — er war 1783/85 Landvogt der Herr- und ganz Helvetien denkwürdiger Mann, schaff Maienfeld und ist dann 1795 zur denn schwerlich hätte der junge Magdebur- Würde eines Amtsbürgermeisters von Chur ger ohne ihn den schicksalshaften Weg ins und zum Präsidenten des Gotteshausbundes Biindnerland genommen. Über den Oberalp emporgediehen —- hat nach sorgfältigen Er- ist er mit seinem Pudel als einsamer Wan- wägungen 1786 auf seinem Besitztum in Je- derer ins Vorderrheintal abgestiegen, und nins eine kleine «Familienschule» ins Leben

77 gerufen, nicht zuletzt, um seinen eigenen Bu- Jenins zu Tscharner, wo der hohe Herr Bun- ben eine hinlängliche Bildung zu ermöglichen, despräsident damals vermutlich just Ferien sie, wie es im Programm hieß, körperlich zu machte. Dort muß Zschokke anläßlich seiner ertüchtigen, ihre Herzen zu veredeln und ihren ersten Visite im hohen Sommer irgendwie ein Verstand zu entwickeln. Zunächst hat sie paar Glas Herrschäftler zu viel erwischt ha- unter der Aufsicht des Ortspfarrers gestan- ben und ordentlich aufs hohe Roß gestiegen den; doch dann sollte sie unversehens eine sein, so daß ihm mindestens Tscharner an- Standortsveränderung und zugleich eine nicht fänglich, und recht lange noch, mit erhebli- unwesentliche Erweiterung erfahren. Tschar- chem Mißtrauen begegnete. Er ließ ihn im- ner nämlich hat, gemeinsam mit ein paar an- merhin nicht mehr aus den Augen und auf- dern Churer Bürgern, wie zum Beispiel dem erlegte dem jungen Mann auf Nesemanns Oberzunftmeister Johann Baptista Bawier und Rat vorerst eine Art Prüfungsarbeit, ließ ihn Georg Anton Vieli, 1792 das Schloß Reichen- aus- und eingehen in Reichenau und beauf- au erworben und hat seine Heimschule kur- tragte ihn dann, an den oben erwähnten zerhand rheinaufwärts in jene Schloßräum- Herrn Gymnasiarchen Michael von Wagner lichkeiten verlegt, die ihm nunmehr zur Ver- nach Bern ein Sendschreiben «Über die Schul- fiigung standen. Als Leiter gewann er Nese- und Erziehungsanstalt zu Reichenau, bei mann, dessen Schüler er einst in Haldenstein Chur» zu verfassen, zog auch in Zürich sorg- gewesen war. Nur mit Zögern mag der alte fältig Erkundigungen über den hereingeschnei- milde Schulmann dem ehrenvollen Ruf ge- ten Fremdling ein. Erst nach vier Monaten, folgt sein. Im Juni 1793 wurde das vorerst nachdem Zschokke noch ein paar weitere paritätisch gedachte, ansehnlich oberhalb des Flugschriften und Rechenschaftsberichte über Zusammenflusses von Vorder- und Hinter- seinen vermutlich künftigen Wirkungsbereich rhein thronende Institut eröffnet, stand aber in Druck gegeben hatte, erst am 9. Dezent- — da recht bald schon leidige Schwierigkeiten her konnte sich Tscharner dazu entschließen, konfessioneller Natur sich ergeben hatten — ihm die Direktion seiner Schule anzuver- schon ab 95 ausschließlich nur mehr refor- trauen. mierten Zöglingen und Lehrern offen. Als Zu Reichenau übrigens ging es damals Zschokke das Institut erstmals besuchte, habe hoch her. Dort wurde noch Brückenzoll er- er daselbst fünfzehn Schüler vorgefunden. hoben, und zweimal in der Woche schwamm Daß der geschmeidige und mählich ordent- ein Floß, mit Gütern und Passagieren bela- lieh weltmännisch auftretende junge Wan- den, rheinabwärts bis zum Bodensee. Auch derer zunächst in Reichenau durchaus nicht oben, in der nächsten Umgebung des Schlos- hangenbleiben wollte, scheint festzustehen. ses, herrschte reges Leben. «Die Seitengebäude Italien war sein Ziel. Es muß aber sein grö- sind von vielen Handwerkern bewohnt, de- ßeres Gepäck, welches er ab Bern nach Chur ren Nähe den Einwohnern des Schlosses un- beordert hatte, dort ganz rätselhaft lange umgänglich notwendig ist», meldet Zschokke nicht eingetroffen sein, so daß er da ganz an Wagner. «Schneider, Schuster, Tischler usf. unvorhergesehen habe Station machen müs- haben daselbst ihre Werkstatt. Was zur Not- sen. So hat er denn en attendant, zum Bei- dürft und Bequemlichkeit gehört, findet sich spiel Johann Gaudenz von Salis aufsuchen in diesem Gebiet, welches einer kleinen Stadt wollen, habe ihn jedoch nicht angetroffen. gleicht, zum Verkauf beisammen.» Im untern Nesemann aber, vermutlich ständig nach Teil des Schlosses, erfahren wir, hätten die tauglichen Lehrern für Reichenau Ausschau Geschäftsräume gelegen, in einem Seitenflügel haltend und wohl auch nach einem Ersatz für habe der französische Gesandte gewohnt, seinen eigenen Posten als Schulleiter, der ihm einige Zimmer hätten auch den genannten recht beschwerlich zu werden begann, brachte Churer-Herren, welche das Schloß an sich den interessanten Fremdling alsbald nach gebracht hatten, zur Verfügung gestanden;

78 der bedeutendste Teil der Räume aber sei rierten, Disziplinarsachen abhandelten, Miß- dem eigentlichen Seminar vorbehalten gewe- brauche in ihrem Gemeinwesen und deren sen; mit Zschokkes eigenen Worten: «Dort Beseitigung besprachen und auch wohl be- haben die Lehrer und Eleven ihre Wohnung; rühmte Justizfälle aus der Geschichte mit dort ist der gemeinschaftliche Speisesaal, ein ihren Lehrern erörterten. Ab 17. November gemeinschaftlicher großer Schlafsaal, ein klei- 1797 tagte ferner ein Mal pro Monat das sog. ner, wohleingerichteter Schauspielsaal —• eine «Sittengericht»; dabei sollten die Jünglinge Bibliothek und Naturaliensammlung; ein Bet- daraufhin trainiert werden, ihre Mitmenschen saal oder Kirche (wo er übrigens, wie auch zu gerecht beurteilen zu lernen, und gleichzeitig St. Regula in Chur, zuweilen gepredigt haben gedachte man sie zu wappnen «gegen das soll) — ein freies luftiges Krankenzimmer»; Laster schmähsüchtiger Kritik» und sie zu all- viele von diesen Zimmern und Sälen seien seits umsichtigen lauteren Staatsbürgern her- schön, alle aber, und dies gelte mehr denn anzubilden. aller Schmuck, seien luftig und reinlich. Im Dezember 1797, ein Jahr, nachdem Die Schule stand den Söhnen verschie- Zschokke die Leitung übernommen hatte, be- denster Gesellschaftskreise offen, und nach- fanden sich 36 Buben im Institut: 26 aus drücklich wurden die Eltern ersucht, dem In- Bünden, 9 aus der Schweiz und einer aus stitut bekannt zu geben, welchem Berufe und Frankreich (zweifellos der im Schloß bei sei- welcher Laufbahn ihr Sprößling allenfalls zu- nen Eltern wohnende Sohn des französischen bestimmt sei, damit man dessen Schulung Gesandten). Carl Günther vermochte in mi- möglichst zielstrebig an die Hand nehmen nutiöser Sucharbeit aus verschiedensten Quel- könne. Der Lehrplan war umfassend und len für die Jahre 1796/98 ihrer nicht weniger höchst ausgeklügelt. Die Zöglinge wurden als 43 namhaft zu machen, darunter drei auch zu schicklicher Gottesfurcht erzogen. Söhne Tscharners, nämlich Johann Baptista, Um 6 Uhr wurde aufgestanden, um 10 zu Bett Georg und Peter (Peter Conradin, 1786 bis gegangen. Es waren ihnen auch Turn- und 1841, den nachmaligen Oberstleutnant und muntere Konversationsstunden gegönnt; man Schriftsteller). Wir zählen in der Folge, Gütt- spielte Schach, man spielte Theater, und je- thers Zusammenstellung folgend, auch die üb- der bekam zur Betreuung sein eigenes Gar- rigen auf und fügen auch seine fallweise in tenbeet zugewiesen. Auch Schulreisen wurden Klammern beigefügten Erläuterungen bei; sie unternommen, auf den Calanda, auf den sind jedenfalls für den Geschichtsfreund nicht Lleinzenberg. 1797, vom 14. bis zum 26. Au- uninteressant: gust, führte Zschokke, gemeinsam mit einem «1 Testaz, der jüngste Sohn von Thomas der Anstaltslehrer, elf seiner halbwüchsigen Vergit, Johannes Bawier, 4 mit dem Namen Zöglinge bis hinunter nach Mailand, hin Pestalutz (Ulrich, Calep — diese beiden offen- über den Splügen und den Comersee, zurück bar die Söhne des Oberzunftmeisters Herku- über den und den Bernhardin. Lago maggiore les Pestalutz in Chur —, Stephan, Karl), der In der lombardischen Hauptstadt und auch Sohn des Stadtwachtmeisters Camenisch, 1 auf der An- und Rückreise hätten sie, stand Sohn des Peter Conrad Planta, 2 Castelli, 1 im Rechenschaftsbericht vom folgenden De- Walter von Seewis, 1 Biioch (Mündel eines zeniber zu lesen, überall die Merkwiirdigkei- Tanner in Mayenfeld), 2 Conrado (Thomas ten jeden Orts besehen, «Fabriken, Bilder- und Jakob), 1 Albertini aus dem Engadin, galerien, Bibliotheken, Spitäler, Theater und Johannes Dentz aus Chur, Johannes Müller, andere Sehenswürdigkeiten der Natur und 1 Pernisch, 1 Marugg, Christian Alberti, Ge- Kunst». org Buol, Johann Peter Veraguth, Johann Jeden Donnerstagnachmittag ab zwei Uhr Melchior Näff, Konrad Schmid, Fortunat ward überdies «das Tribunal» abgehalten, Köhl, Joseph Risch, 1 Labhard aus Altstetten, wobei die Zöglinge sich als Advokaten ge- Padruot Savett, 1 Berthex, 1 Liver, 1 Veillon,

79 1 Mathey aus dem Waadtland, 1 Sparagna- seiner Jugend schonen. Für das Seminarium pane, 1 Thourneisen, 2 Le Grand (Johann ist er unentbehrlich, und sein Kredit nimmt geb. 5. August 1782, gest. 17. Januar 1839 doch beim Publikum und vornehmlich bei und Daniel geb. 5. Dezember 1783, gest. den Aristokraten von Tag zu Tag zu, und das 16. März 1859, nach dem Stammbaum der ist recht gut. Ich ertrage deswegen und weil Familie Le Grand), die Söhne des Direktors er im Grunde ein gutes Herz hat, viele seiner der helv. Republik, endlich Comeyras», letz- Impertinenzen, und bringe ihn am Ende doch terer wie erwähnt der Sohn des französischen dahin, wo ich will.» Zschokke blieb dem Residenten, desen Tante Rosalie, mit im alten weisen Manne denn auch in wahrhaft Schloß wohnend, sich übrigens dannzumal schwärmerischer Anhänglichkeit zugetan. Ne- nicht wenig in den hübschen Institutsleiter semann, von den Kaiserlichen 1799 mit an- Zschokke verguckt und ihm nachmals sehr deren Patrioten, auch z. B. Tscharners Eltern zärtliche Briefe geschrieben hat. als Geisel auf ein paar Monate nach Inns- Zschokke hat in seiner kurzen Reichenauer- brück deportiert, starb am 26. Januar 1802 zeit — sie hat nicht einmal zwei Jahre ge- in Chur. dauert — mit Tscharner manchen Strauß Zschokke war in seiner turbulenten Rei- auszufechten gehabt, hat viel Verdruß und chenauer-Zeit selbstverständlich auch am manche Kränkung hinnehmen müssen und Schreibtisch nicht untätig. Er hat u. a. das viele Sorgen durchgestanden, auch solche fi- Wochenblatt «Der helvetische Volksfreund» nanzieller Natur. Es war ihm nämlich, laut ins Leben gerufen, welches dann bald zum Vertrag, die Direktion des Seminariums und Sprachrohr der Bündner Patrioten werden die damit verbundene Ökonomie «gänzlich sollte; er gab, in Zusammenarbeit mit Nese- und unbedingt» überlassen worden. Die Geld- mann, 1798 zuhanden «der guten und flei- des mittel scheinen öfters knapp bemessen ge- ßigen Kinder Bündnerlandes» in der da- wesen zu sein. Das eine und andere Mal hat mais zu Malans bestehenden Druckerei des Zschokke jedenfalls eigenes Geld zusetzen aus Kempten zugezogenen Johann Georg müssen. Zuweilen scheint ihm das Ganze Berthold «Das neue und nützliche Schulbüch- über den Kopf gewachsen zu sein. «... Meine lein» heraus (ein Bändchen von 155 Seiten, Jugendzeit, meine Arbeiten, mein Geld kann enthaltend einen kleinen Katechismus, eine ich unmöglich so ganz vergeblich aufopfern — kurze Geschichte des Vaterlandes und eine die Aufopferungen sind zu groß», beklagt er kleine Weltbeschreibung), dem freilich nur sich einmal bei seinem Brotherrn, «ich sorg' geringer Erfolg beschieden sein sollte. und arbeite und denke Tag und Nacht, ver- Gewichtiger, und nicht wenig x\ufsehen er- scherze alle meine Verbindungen in Deutsch- regend, war seine 1798 bei Orell, Geßner, land, was Bünden mir ohnedem wie ersetzen Füßli & Co. in Zürich erschienene Landes- kann, werfe mein kleines Vermögen in einen geschichte, eine bis zur Schwelle des 18. Jahr- Brunnen — zuletzt bin ich arm, ohne Ver- hunderts geführte «Historische Skizze der bindung und alt.» Dann waren da Schüler ewigen Bünde im hohen Rhätien», welcher mit Ekzemen, die ihm zu schaffen machten, er, in Ahnung der herannahenden Wirren, Wanzen im Schlafraum, die lästig jederzeit einen höchst eindringlichen, um nicht zu sa- im Schloß vorsprechenden Bettler, «souveräne gen, pathetischen Aufruf an die freien Bünd- Strauchdiebe», denen sie immerhin jährlich ner vorangestellt hatte. Dafür bekam der bis- weit über 100 Gulden zu vergaben hätten. lang Landesfremde, «der Herr Professor Immer wieder muß der gütige Nesemann die Zschokke in Reichenau», am 21. März des gespannte Situation zwischen Tscharner und Jahres 1798, am Vorabend seines 27. Ge- Zschokke entschärfen, klären, begütigen: burtstages, das bündnerische Landesbürger- «Wollen wir das Seminarium fortsetzen —, recht geschenkt. Überschwengliche Freude so müssen wir den feurigen Mann wegen darob erfüllte sein Herz. «Gute Nacht, Preu-

80 ßen!, so ist denn das gute, liebe, freie Helve- Bündner zweimal in einladendster Weise ge- tien mein neues, besseres Vaterland gewor- beten, sich mit ihr zu vereinigen, zum zwei- den.» Es war die große Wende in seinem ten Mal am 30. Juni. Die regen Malanser vor Dasein. Seine ganze Kraft galt fortan der Bil- allem, und mit ihnen das benachbarte Maien- dung und Erziehung des Schweizervolkes. feld, wünschten den Anschluß dringend und Vorerst aber hieß es, den Bündner Patrioten sobald als möglich. Sie hatten ohnehin seit je beizustehen. schon ihre Sommerweiden drüben auf helve- Inzwischen ging es angesichts der sich an- tischem Boden, hinter Vättis, im Calfeisental. kündigenden politischen Ereignisse mit dem Strahlend verheißungsvoll erschien ihnen das Erziehungsinstitut zu Reichenau anscheinend neue helvetische Vaterland, und glühend rapide abwärts. Die Zöglinge wurden in ra- wünschten sie sich die Loslösung vom bünd- scher Abfolge von ihren Eltern heimbeordert. nerischen Staatsverband. Es waren denn auch Im Mai 1798 ist das Seminar den Zeitum- die Malanser, welche als erste Gemeinde ständen zum Opfer gefallen und auf immer Bündens am 10. Februar 1798 auf ihrem geschlossen worden. Zschokke, mit der Li- Dorfplatz einen Freiheitsbaum errichteten und quidation beschäftigt, blieb weiter im Schloß noch gleichen Tags dann auch die Maienfel- wohnen, bekam aber bald den harschen Wind der. Doch bedrohlich scharten sich hinter der der Politik um die Ohren. Seine neue Heimat Luziensteig die Truppen der Österreicher. war in zwei Parteien zerfallen. Erbittert be- Daraufhin nun begann Bürger Zschokkes kämpften einander die österreichisch- oder hohe Zeit. Auf des französischen Residenten Altgesinnten und die sogenannten Patrioten, Rat (es war dannzumal nicht mehr Comey- der Staatsrevolu- welche, von «fränkischen ras, sondern dessen Nachfolger Florent Gujot, tion» beeindruckt, unter Frankreichs Ägide der aber seinen Wohnsitz mittlerweile vor- die Vereinigung mit der Schweiz anstrebten. sorglich nach Pfäfers verlegt hatte) verfaßte Bald fand sich Zschokke mitten drin und er unter seinem vollen Namen im Frühsom- arbeitete mit all seinen Kräften, und nicht zu- mer 1798, im Abstand von nur etwa einem Mo- letzt mit seiner zündenden Feder, für die letz- nat, zwei volkstümliche, einzigartig zündende tern, an deren Spitze Tscharner stand. Es ist Flugschriften, die erste unter dem Titel «Soll hier nicht der Ort, die Ereignisse in ihrem Bünden sich an die vereinte Schweiz schlie- bewegten und bewegenden Ablauf bis in alle ßen? —• Soll Bünden ein eigner Staat bleiben? Einzelheiten nachzuzeichnen. Sie sind andern- Ein vaterländisches Wort an das freie Bünd- orts genau nachzulesen, partiell nicht zuletzt nervolk und dessen Regierung», in der er, das in der faszinierend klaren, «dem Andenken Für und Gegen beredt erwägend, viele Be- der Patrioten von Malans und Maienfeld ge- denken zu zerstreuen sucht und dringend zum widmeten», etwas über 100 Seiten starken Anschluß rät. Aus diesem Manifest nur die Darstellung «Malans während der Révolu- folgenden Sätze: «Man fürchtet: daß die tionszeit» von Alfred Rufer, erschienen 1936 Schweiz in alle künftige Kriege Frankreichs bei Bischofberger in Chur. verwikkelt, und bei einer Vereinigung mit der Steigende Unruhe herrschte im Lande, seit Schweiz auch unser Land hineingezogen Bünden am 15. Oktober 1797 seine schö- werde. nen, ertragreichen Südprovinzen, das Veltlin, Diese Furcht gründet sich doch nur auf Bormio und Chiavenna, hatte preisgeben ein Vze/Zeic/L; und es wäre schon genug, dar- müssen. Für ihren Verlust wurden ganz all- auf mit einem entgegengesetzten V/eZ/e/cfzii zu gemein die Aristokraten, die Kaiserlichen ver- antworten. antwortlich gemacht, und der Haß wider das Das französische Volk, dies ungeheure, ge- Haus Österreich wuchs. Oberwasser für die waltige Volk von dreißig Millionen Men- Patrioten! Im Jahre 1798 hat die helvetische sehen, welches in sieben Kriegsjahren sieben Regierung mit Frankreichs Zustimmung die große Staaten verwandelte und in so furcht-

6 81 barer Riesengestalt dasteht, daß es für sich Denn: selbst nicht mehr beben darf — dies große 1. Wir werden die guten Schweizer kränken, Volk bedarf zu seinen Siegen der Schweiz die uns nun zweimuh/ uergehe/zs zur Ver- nicht. Es wird sich begnügen, wenn seine einigung mit sich aufgefordert haben und Gränzen von der helvetischen Seite durch die uns nie wieder einladen werden! Net/tra/hut der Schweis gedekt sind — In 2. Wir werden die Republik Frankreich krän- jedem Fall wird, bei unserer Verbrüderung ken, weil wir ihren Wunsch, den sie uns mit Elelvetien, die ganse Schweiz unser Land vortrug, nicht erfüllten. beschirmen, so wie auch wir zur Vertheidi- 3. Wir werden alsdann drei verschiedenartige gung der Schweiz dastehn. Wo sind wir sich- Nachbaren haben, die nicht mit uns ver- rer? —» wandt sind. Auf der einen die gekränkte In seinem zweiten, zweifellos bald nach dem Schweiz, auf der andern Cisalpinien, auf 30. Juni erschienenen «Nothwendigen und der dritten Österreich. — Und unser klei- letzten Zuruf an die biedernachdenkenden Va- nes Land, Bündner, wirds denn lange zwi- terlandsfreunde» drängt er beschwörender sehen diesen mächtigen Landen unzerstük- noch zum Anschluß und ersucht jeden Va- kelt liegen? terlandsfreund, «diese Blätter seinen Freunden und Bekannten mitzutheilen, auch sie in die Einmüthigen, vaterländischen Entschluß, o FFände des ärmsten Landmanns kommen zu ihr Männer der bis izt noch freien Gemein- lassen oder sie ihm vorzulesen». Auch daraus den! — Denket an die horchenden Kriegs- ein paar bezeichnende Sätze: heere auf unsern Gränzen — !» — Und « —- Ich wiederhohl es heut noch einmahl: dann der beschwörende Schluß der im Druck Bn/zden ha/m «/cht /wr s/ch se/hst husteh/z.' — immerhin an die elf Seiten umfassenden Eine französische Armee nähert sich unsern Schrift: «— Alle freien Nationen werden der Gränzen, wie das Gerücht sagt; -—• eine oster- Vereinigung zweier uralter republikanischer reichische Armee steht in den Bergen von Völker Beifall rufen. Die Geister unsrer tap- Tyrol. — Sind wir uneinig, trennen wir uns, fern Vorfahren werden lächelnd von oben auf so dürft' es geschehn, daß Kriegsvölker von uns niedersehen und seegnen das Werk, das allerlei Seiten in unsre Täler eindringen, sich wir vollbrachten und sie oft umsonst ver- in unsern Streit mischen, unsre Lliitten plün- suchten! —- Und unsre freie, tugendsame, dern, unsre Äkker und Weinberge zertreten, wohlhabende Nachkommenschaft wird nie- unser Vieh aus den Alpen treiben! —- mahls die Geschichte unsrer Tage lesen, ohne Nur unser emmüt/hger E/ztscW«/? kann uns uns mit Thränen der Erkenntlichkeit zu aus den drohenden Gefahren retten — Biind- ehren!» ner, zzzzr Ez>zzgEez£/ — Man erkennt: dieser herzbewegende Neu- O, daß ich tausend Zungen und den Ver- bürger war von seiner Berufung durchdrungen stand eines Engels hätte, um dies allen Ge- bis in die innerste Faser seines Wesens. Die meinden zurufen und allen einleuchtend ma- beiden Aufrufe erschienen im Druck bei Bern- chen zu können! — ». Er spricht dann davon, hard Otto in Chur; die Malanser aber wa- es werde «der brave Bürger Resident Gz/yot, ren —• abgesehen wohlverstanden stets von dieser weise und redliche Bzz/zühzer/rezz/zd», die den Salis im Bothmar — insbesondere vom Vereinigung «auf das möglichste erleichtern zweiten so angetan, daß sie ihn bei ihrem und angenehm machen», und gibt ferner zu Dorfdrucker Berthold alsbald auch noch in bedenken: einer italienischen Fassung herausbrachten. «Wir haben hingegen a//es zw /wrchte«, Prompt aber setzten die Aristokraten eine wenn wir die Verbrüderung mit den Schwei- anonyme Schmähschrift mit dem Titel «Biind- zern ausschlagen und auch nicht einmal in ner, laßt euch von Zschokke nicht irrefüh- Unterhandlungen darüber treten wollten. ren!» in Umlauf und stifteten damit so große

82 Verwirrung, daß die Patrioten bei der allge- ner Lage vielleicht manch anderer ausgesto- meinen Abstimmung vom 1. August, als das ßen hätte. Nein, die Kreuz- und Quersprünge, Volk sich für oder wider den Anschluß an Küsse und Tücken des Schicksals, welches Helvetien zu entscheiden hatte, zu ihrem mir erst alles gegeben, nun, wie ein launisches Schrecken unterlagen und sich denn auch eigenwilliges Kind alles Gegebene wieder ge- alsbald der fessellosen Wut und Rache ihrer nommen hatte, dünkten mich komisch. Da Feinde ausgesetzt sahen. Der Dichter Johann stand ich, wie ich sonst gestanden war: ein Gaudenz von Salis-Seewis, einer der ganz we- Erdenpilger, der keinem und dem nichts ge- nigen Aristokraten, welche sich der Sache der hörte. Ich wanderte abermals, wie ehmals, Patrioten verschrieben hatten, ist mit seiner neuen Abenteuern entgegen, mehr mit Neu- Frau Ursina hernach eilends •— und mit ihm gier als Furcht, oder vielmehr mit stolzem zweifellos eine ganze Schar Gesinnungsgenos- Hochgefühl, ohne Schuld an dem Umschwung sen sonst noch —- über den Runkels entwi- der Dinge, mich noch selbst und noch den chen; andere Patrioten, an ihrer Spitze alten Trotz gegen das Spiel zu haben, wel- Tscharner, flohen hinüber nach Ragaz. Be- ches das Verhängnis mit mir gern trieb. Es denklich bedroht und vom guten alten Nese- war mir ungefähr so vergnüglich zu Mut wie mann dringlich gewarnt, hat sich endlich am in den Knabenjahren, wenn ich in den wil- 9. August auch Zschokke zur Flucht ent- desten Sturmwind hinauslief und jauchzend schlössen. In seiner Autobiographie, in offen- in ihm umhertanzte und mich stärker und sichtlich behaglicher Stimmung niederge- mächtiger als der Sturm wußte. — schrieben erst Jahrzehnte später, nimmt sich In behaglicher Stimmung sah ich nach eini- der Passus folgendermaßen aus: gen Stunden links das Schweizerufer, wo im des «In der Frühe eines Sommermorgens, es offenen Busen Gebirgs, dem zackigen war der 9. August 1798, schwamm ich auf Felskamm des hohen Falknis gegenüber, das breitem Holzfloß von Reichenau den Rhein- Dorf Rugtffz in der Nähe der Pfäferser Heil- ström hinab, der hier, jung und wild, noch quellen ruht. Am Ufer erblickte ich wohlge- kein Schiff auf seinen Wellen duldet. Zu bei- kleidete Männer müßig umherwandeln, die den Seiten flogen die Massen des Hochgebir- mich so neugierig beobachteten wie ich sie. Bald erkannte ich derselben. Es ges mit ihren Eiskronen, Wäldern, Dörfern einige waren und Burgtrümmern traumartig vorüber und Unglücksgefährten, Ausgewanderte, Häupt- der gesellten sich zu dem, was als Vergangen- linge und Genossen gestürzten patrioti- sehen die heit hinter mir mit so vielem Schönen ver- Partei, Tsc/;arner, Meyer von Trim- schwand, was ich gefunden, geschaffen, müh- mis, Joste, Rnsc/rer und andere mehr. Das sam gebaut und nun, vielleicht auf immer, Floß landete. Sie drängten sich mir bewill- verloren hatte. Ich schwamm einer Zukunft kommend entgegen und bestürmten mich mit nach den entgegen, deren diistern Hintergrund nur Erkundigungen neuesten Vorfällen Kriegswetter durchblitzten. in Bünden. Dann führten sie mich ins Dorf Indem ich auf dem Reisekoffer dasaß, von zu ihren Wirtshäusern. des Floßes leicht zusammengeflochtenen Wie beklagenswert gewiß ihre gegenwär- Baumstämmen getragen, mir selbst überlas- tige Lage sein mußte, denn alle waren von sen, vertrieben, vogelfrei in dem Lande, wel- angesehenen Familien, von Geschäften und ches mich erst zu seinem Kinde angenommen Gütern im Vaterlande getrennt und in Küm- hatte, wandelte mich, statt der Betrübnis, ein mernis um die Zurückgelassenen, so hatte toller Kitzel des Lachens an. Um von den doch das unfreiwillige, enge Beisammensein ehrlichen Schiffern nicht für närrisch gehal- und die verworrene gemeinsame Haushaltung ten zu werden, mengte ich lustige Einfälle in der Herren für mich Seltsamkeit genug, daß unsere Gespräche. Hier war nichts weniger ich den mitgebrachten guten Humor nicht als ein Lachen der Verzweiflung, was in mei- verlieren konnte. — Die einen gingen stumm

83 und verdrossen auf und ab, von langer Weile baldigem Anschluß mit allen Mitteln voran- gepeinigt. Andre fluchten über Wankelmut zutreiben. eines undankbaren Volkes —, standen zan- Noch vor Mitte August, genau gesagt, am kend über Maßregeln beisammen, die man 9. August des Jahres 1798 ist Zschokkes Auf- versäumt oder nicht zu rechter Zeit ergriffen enthalt in Bünden zuende gegangen. Nicht habe. Nur unser entthronte Standespräsident einmal ganz zwei Jahre hat er gedauert. Tsc^urwer bewahrte, scheinbar wenigstens, Aber er, der nach dem verhängnisvollen Tage jene kaltblütige Haltung, mit welcher nach der Volksabstimmung in heißer Aufwallung verlorener Schlacht ein geübter Feldherr die bekannt hatte: «Seit ich Republikaner bin, Mittel wertet, die ihm geblieben, das treu- lebe ich nicht mehr für mich, sondern fürs lose Kriegsglück an seine Fahnen zurückzu- Vaterland», sollte der neugewonnenen Hei- locken. mat mit seinem unbefangenen Mannesmut, seiner Beredtsamkeit, seinem rank für die Man hatte schon vor meiner Ankunft be- Sache der Patrioten schlagenden Herzen, und schlössen, bevollmächtigte Abgeordnete nach nicht zuletzt mit seiner bündigen, auch den Aarau, dem damaligen Sitz der helvetischen einfachen Mann unmittelbar ansprechenden Regierung zu senden, bei dieser und den um Feder noch manch namhaften Dienst erwei- französischen Behörden Schutz für die Ge- sen. meinden oder Familien zu erwirken, welche In Aarau wollten die Dinge indessen zu- wegen ihrer Treue zur Schweiz Opfer der nächst nicht so vorangehen. Tschar- aristokratischen Rache geworden waren. richtig Unrast und Heimweh geplagt, ist TscWrcer, zu dieser Sendung erwählt, zeigte ner, von schon 22. dort wieder abge- sich geneigt, sie zu übernehmen. Doch keiner am August von reist, die der Patrioten Gänze der übrigen äußerte Lust, sein Begleiter zu Anliegen zur dem beherzten Zschokke überlassend. Der sein. Dem einen fehlte es an der edlen Ge- aber hat schon in Bälde Erstaunliches voll- sundheit, dem andern an Kleidern, die er auf bracht: einer Peti- der eiligen Flucht von Hause zurückgelassen Mit glanzvoll abgefaßten das der Hei- hatte. Jeder wußte die triftigsten Entschul- tion an Vollziehungsdirektorium vetischen einen und untheilbaren digungen, um in der Nähe der Heimat und Republik (welche sich 12. auf im Verkehr mit den Seinigen bleiben zu kön- am vergangenen April dem Gemeindehause zu Aarau konstituiert nen. Nun ich erschienen war, fielen alle erwirkte daß die ihrer Stimmen auf mich; ich hätte in Bünden we- hatte), er es, wegen Bünd- der Weib noch Kind, weder Vater noch Mut- Anhänglichkeit an Helvetien verfolgten das helvetische Bürgerrecht zugesprochen ter zu bedenken, besäße hinwieder in der ner noch ehe der Schweiz achtbare Bekanntschaften, die dem bekamen, Monat August zu- ende Große Freude dar- unglücklichen Lande, das mich zu seinem gegangen war. — über bei den helle Wut bei den Bürger gemacht, Hilfe gewähren könnten. Patrioten, Altgesinnten in Chur, die seit dem 1. August Ich ließ mich leicht bereden —•. Was hatte nun ja wieder fest im Sattel saßen. «Wäre ich auch in Ragatz oder sonst irgendwo in Zschokke hier», schrieb Nesemann an der Welt zu versäumen? Tsc/jaraer besonders Tscharner, «müßte er eines Martertodes ster- freute sich meines Entschlusses •—-. So bra- ben, so grausam ist man über ihn er- chen wir auf, über den Wallen- und Zürich- grimmt —.» Man hat das Vermögen der see gen Aarau», nicht ohne, fügen wir an- Geflüchteten mit Beschlag belegt, hat Zschok- schließend an dieses ausführliche Zitat, hin- lce das Bürgerrecht abgesprochen, hat sogar zu, nicht ohne von «Richter, Gericht und Rat eine Summe auf seinen Kopf ausgesetzt und auch ganzer Gemeinde zu Malans» dringlich befohlen, «sein Bild an den Galgen zu hef- gebeten worden zu sein, doch ja dort auch ten». Es kränkte ihn wenig; in der «Selbst- ihr ganz persönliches Anliegen nach möglichst schau» bemerkt er launig, es habe sich da-

84 mais, «den Galgen zu zieren», kein Bildnis schaffte den Fähigem Anstellungen durch von ihm in Bünden befunden als jene eine, mein Fürwort bei Ministern und Direktoren.» bereits erwähnte Zeichnung des Berliner In Luzern hat er dann in flehentlichen Zu- Kupferstechers Bolt (woraus man doch wohl Schriften an die Regierung das Elend der schließen darf, daß die Originalzeichnung Bündner neuerdings geschildert, worauf den sich damals noch im Schloß Reichenau be- Vertriebenen zu ihrer großen Erleichterung am fand). 23. Oktober von Staates wegen Unterstützung Im September 1798 ist die helvetische Re- zugesichert wurde. Damals war unter der gierung nach Luzern übersiedelt. Zschokke, Führung des Dichters Salis-Seewis just eine in steigender Sorge um das Los der emi- Bitt-Deputation der Vertriebenen in Luzern grierten Bündner, zog mit. Die meisten fan- eingetroffen, welcher, zufolge von Zschokkes den sich — es müssen ihrer samt Frauen geglückten Demarchen demnach nicht mehr und Kindern über fünfhundert gewesen sein zu bitten, nur mehr zu danken blieb. Diesen — bald all ihrer Mittel entblößt, und für Dank auszusprechen ward der Dichter aus- manch einen von ihnen war Zschokke die ersehen; Salis sei aber vor Aufregung dazu einzige Hoffnung. Darüber steht in seiner nicht imstande gewesen, worauf Zschokke «Selbstschau» unter anderm folgendes zu le- rasch entschlossen in glorioser Spontanrede sen: für ihn eingesprungen ist. Diese seine Anspra- «Die Menge der Geflüchteten, durch einen che ist, wie alles, was er von sich gab, auch großen Teil der Schweiz verbreitet, lebte nun unverzüglich gedruckt worden, und da es die in verzweiflungsvollen Lagen. Viele hatten letzte Rede ist, die er für seine lieben Bund- ihre Flucht so eilfertig ergreifen müssen, daß ner gehalten hat, geben wir sie nachfolgend, sie kaum mit dem Unentbehrlichsten versorgt zusamt der kurzen, aber sehr herzlich ge- waren. Anzahl und Armut mehrerer, beson- haltenen Antwort des damaligen Vorsitzen- ders in den zunächst am Rhein gelegenen den, Sutter, im vollen Wortlaut, wenn auch Ortschaften, erregte selbst Mitleiden der in heutiger Orthographie und Zeichensetzung französischen Soldaten, die ihre Rationen wieder, zusamt ihrem klangvollen Vorspann: Brotes und Fleisches mit ihnen teilten. Der «Rede des Bürgers H. Zschokke im Namen herannahende Winter vergrößerte Not und der verfolgten Patrioten Bündtens, gehalten Furcht. Viele, in ihrer Heimat Wohlbegüterte, vor dem großen Rathe der helvetischen einen nahmen in äußerster Dürftigkeit Zuflucht zu und untheilbaren Republik, am 24ten Wein- mir. Es ward mir aber bald unmöglich, al- monats 1798. Luzern, bey J. S. Gruner, Na- len zu helfen. Das Wenige, was ich aus Rei- tional-Buchdrucker. chenau mit mir genommen, ging rasch zur Bürger Repräsentanten! Neige. Ich verkaufte, was ich von meinen Im Namen mehrerer hundert Bündner-Patrio- literarischen Arbeiten Reifes und besaß; Un- ten, ja ich darf sagen, im Namen des edlern reifes, Schauspiele, Übersetzungen, Romane, Teils eines unglücklichen verratenen Volkes, davon schwerlich erfahren ha- sonst jemand eilten diese Männer gen Luzern, um sich mit ben würde; oder nahm Vorschüsse von Buch- mir zu vereinigen und ihre Bitten in den handlungen auf Werke, die ich noch liefern Schoß dieser ehrwürdigen Versammlung nie- wollte. derzulegen. Aber ehe wir baten, hattet Ihr Gewiß lebte im ganzen diplomatischen unsere Wünsche schon erfüllt; — Ihr ließet Korps selbst der Ärmste der Kopisten nicht uns nichts übrig als den Dank. so kärglich und eingeschränkt als ich. Aber Das aufgeklärte Europa, die ganze fühlende man sah mirs ja nicht an, daß mein Abend- Menschheit kann nicht ungerührt bleiben bei essen ein trockenes Stück Brot, mein Früh- dem öffentlichen Akt der Wohltätigkeit, wel- stück ein Glas Wasser sein mußte. Ich blieb chen Ihr gegen uns, gegen ein leidendes Bru- frohsinnig — und teilte andern mit, oder ver- der-Volk übt. — Inzwischen andere Re-

85 publiken ihre Laufbahn mit dem Schwerte Eine schwarze, oligarchische Kabale ent- eröffnen, um sich vor den Völkern auszu- riß unserm Volke die Rechte der Menschheit zeichnen, eröffnet Ihr die Eurige mit Erfül- und der Souveränität, indem jede Rotte sie lung der sanftesten, schönsten Pflichten der zu verteidigen vorlog. Sie legte die höchste Menschlichkeit. Und wenn es wahr ist, daß Gewalt in die Hände eines Rates, den das man schon aus den Spielen des Kindes den Volk nicht gewählt und dazu geeignet hatte. männlichen Geist desselben errät, wenn es Und dieser Rat rief die Truppen eines Mo- wahr ist, daß man aus den ersten öffentli- narchen auf Grund eines /reze« Stades. chen Schritten eines Monarchen seine künf- Jetzt erreichten die Verfolgungen gegen die tige Regierung voraus erkennt, wenn die Ge- Patrioten ihren Gipfel; schändlich ist ihre sänge der jungen Musen, unter welchen die Mißhandlung, den neuesten Nachrichten zu- Freiheit Griechenlands erwachte, den wissen- folge. Einige unsrer Brüder schmachten in der schaftlichen Glanz vorher verkündigten, mit Gefangenschaft. Umsonst strecken diese un- welchem dieses holde Land nochmals die glücklichen Schlachtopfer ihre Hände aus Welt erleuchtete, wenn die ersten Räubereien nach uns — nach Euch! — nach dem Hirn- des kaum erbauten Roms die nachmalige Er- mel. — Andre konnten noch zur guten Zeit oberung der Welt durch diese Stadt ahnen entfliehen. Ganze Scharen zogen sie im Dun- ließen, o so habt Ihr die Welt zu dem Glau- kel der Nacht dahin, geführt vom Schein einer ben berechtigt, daß die wiedergeborene hei- Fackel durch unwegsame Gebirge. — Die al- vetische Republik keine andere Bestimmung ten Greuel der Vorwelt erneuerten sich wie- habe als die: Wohltäterin der Menschheit zu der; Helvetien, und du sahst wieder, was werden! Eure Nachkommenschaft wird diese man für Freiheit tun kann! Greise sah man Erwartung rechtfertigen. —• Ja! diese Täler wieder fliehen, denen nur noch eine Spanne werden die heiligen Zufluchtsörter der leiden- Lebens übrig war — sie verließen das ge- den Menschheit sein; — jene Alpen werden wohnte Vaterland, als wäre der Boden für die unvergänglichen Altäre der Freiheit Euro- ihre Grabesruhe zu hart, über welchem die pas bleiben; — jene ungeheuren Felsenpyra- knechtische Kette tönt. — Sie gingen, um in nriden, welche Gottes Hand im Mittelpunkt freier Schweizererde ruhen zu können. Wei- unseres Weltteils erbaute, werden die ewigen ber mit den zarten Kindern im Arm durch- Denkmäler in der Geschichte Europas blei- zogen die Felsen; früh schon ward durch die ben, daß hier schon damals Freiheit und Mütter es den Kleinen mit Beispiel und Lehre Menschenrechte galten, als noch überall die eingeimpft: So z7?r ß//es azz/op/era /er- Sklavenkette klirrte; daß sie noch gelten wer- zze«, wen« es dze Frez'/zez'it gz'/f / den und hier noch Freiheit herrschen wird, Ach! es ist nicht in unsrer Macht, uns zu wenn durch den Wechsel der Zeiten und durch schützen! Aber, es zst ezVz GoiL welcher der den Willen des unbegreiflichen Verhängnis- Menschheit jene heiligen Rechte gab, die ihr ses die Freiheit vom übrigen Europa wieder nie entrissen werden dürfen; — es zs£ ez'n gewichen sein sollte und andere Republiken Go«, der die Brust der Tyrannen durchschaut, unsrer Tage vielleicht schon wieder ihre Sul- aber auch die heilige Zähre der Unschuld la's und Cäsar'n zählen! — sieht! Ihr habt uns nun brüderlich aufgenommen. Ach! und tLzrzzra verlangten wir so innig, O, Bürger Gesetzgeber! o dzz gmzzes /ze'nefz- so sehnlich die Vereinigung mit Euch! — sc/;es Vo/fe.' das frohe Lächeln des beruhigten Aber — es ist vorüber — wir haben kein Kindleins, die Gebete zum Himmel von den Vaterland mehr! — Österreichs Fahnen wehen Lippen der geretteten Mutter, die stumme wieder von den Trümmern unsrer zwingherr- Entschlossenheit des Mannes für dich, Hei- liehen Burgen — die Freunde der Freiheit vetien! in den Tod zu gehen, die süsse Ruhe sind schwer verfolgt. des Greises möge dich lohnen!

86 Es lohne Euch, Bürger Gesetzgeber! die wird bald das ganze Menschengeschlecht nur fühlende Menschheit, welche Euch ehrt. — ein Brudervolk sein.» Euch lohne die Nachwelt! — und jeder auf- Zschokke ist kein halbes Jahr später, am geklärte Mensch, jeder Freiheitsfreund, er lebe 9. April 1799, durch eine amtliche Erklärung wo er wolle, in der gesitteten Welt wird gern in Bünden in aller Form rehabilitiert worden, mit uns rufen: Es /efee d/e Ee/vet/sc^e Repw- hat sein Bürgerrecht wieder zurückerhalten W/fe/ und bekam obendrein im Herbst 1801, zu Luzern, den 24. Oktober 1798. einer Zeit, da er bereits Statthalter des Kan- Unterschrieben: Zsc/mfeEe.» tons Basel war, auch das Malanser Bürger- recht In der «Selbstschau», niedergeschrieben, wir geschenkt. Für Heinrich Zschokkes Erdendasein, aufs sagten es, mehr als vier Jahrzehnte nach die- Ganze gesehen, die hier geschilderten ser schwungvoll visionären Ansprache, be- mögen Ereignisse eine Phase, auch kennt Zschokke: «—• Ich sprach, und in einer nur wenn ganz gewiß keine unerhebliche, sein. Er Bewegtheit, wie ich vielleicht noch nie ge- gewesen wohlverstanden viel mehr nicht als sie- sprochen. Mein Schmerz war der Schmerz war als in Lu- der großen Versammlung; meine zuriickge- benundzwanzigeinhalb Jahre alt, er seine hinsieht- haltenen Tränen riefen die ihrigen. In stür- zern aufsehenerregende und, lieh der Rolle der Schweiz im Völkergesche- mischem Durcheinander ward für uns Ehre visionäre hielt. Er der Sitzung und Bruderkuß, Druck und Ver- hen, geradezu Ansprache hat hernach Lande in rascher Ab- breitung meiner von Stenographen nachge- unserem schriebenen Rede beschlossen.» folge noch manch namhaften Dienst erwiesen, auch Bündens Und nun die nachfolgende Antwort des jenseits von Gemarkungen, Präsidenten Sutter: wurde vom Direktorium zum Regierungskom- missär in Unterwaiden bestellt (und schrieb «Lz'eèe R&â't/er.' eine «Geschichte vom Kampf und Un-ergang Wenn die helvetischen Gesetzgeber die ver- der schweizerischen Berg- und Waldkanto- folgten Patrioten aus Bünden durch einen be- ne»), weilte sodann in gleicher Eigenschaft sondern Beschluß unter den unmittelbaren im Tessin und war dann, wie erwähnt, Re- Schutz der helvetischen Republik nahmen, so gierungsstatthalter in Basel, wo ihm endlich taten sie nichts weiter als ihre Schuldigkeit; etwelche Muße und Besinnung und einiger weil jedes freie Volk verbunden ist, denjeni- Lebensgenuß vergönnt war. gen als Bruder aufzunehmen, der den heiligen 1802 mietete er sich mit Diener und Pu- Grundsätzen der Freiheit huldigt. Überall, wo del ein im damals leerstehenden Schloß Bi- der schöne Kranz der Alpen sie bindet, sol- berstein unweit Aarau, heiratete 1805 Nanny len die Schweizer Brüder sein und bleiben; Nüsperli, das Töchterchen aus dem nahen und Rhätiens Alpen sind ja Jahrtausende Pfarrhaus in Kirchberg und siedelte 1807 mit schon mit den unsrigen verschwistert, so wie den Seinen um in sein eigenes behagliches unsre Genzen es jetzt sind. Kommt also zu Haus «Blumenhalde», nach Aarau. Dort mag uns, ihr lieben verfolgten, für Freiheit und es denn freilich durch lange Jahre hin mun- Menschenrechte verfolgten Rhätier; ihr findet ter genug zugegangen sein, denn nicht weni- an unserm Busen ein neues Vaterland! ger als zwölf Söhne waren dem Paare be- Seid getrost!, es ist ein Gott! ja, es ist ein schert, von denen immerhin noch ihrer acht Gott! und dieser Gott ist innigst mit der Frei- lebten und gediehen, als am 27. Juni des heit vereinigt; er wird nie zugeben, daß De- Jahres 1848 ihr Vater die Augen für immer spoten wieder ihr Haupt emporstrecken; freie schloß, just an dem Tage übrigens, an wel- Menschen müssen sich überall für das heilige chem die Tagsatzung mehrheitlich dem Ent- Menschenrecht vereinigen, müssen einen en- wurf zur neuen Bundesverfassung zugestimmt gen Kreis um dasselbe schließen, und dann hatte. Er starb in seinem 78. Jahre, nachdem

87 seine Buben bereits Pfarrer, Jurist, Schulmann, den zwölf Söhnen ward ihm und seiner ge- Arzt und Künstler geworden waren und ihn liebten Nanny ein Töchterchen geboren, das mit einer erfreulichen Schar von Enkeln ge- getauft ward auf den Namen Cölestine. segnet hatten. Das Geschlecht der Zschokke hat sich mittlerweile ansehnlich und weit Redaktz'oweWes NacWort über die Schweiz hin ausgebreitet, allüberall das Andenken an diesen vortrefflichen Mann Der vorsteke/zde Azz/satz aws der Feder i/o« Hz7de R/W zz»s ztaez' K/eifere Arkez'te« wachhaltend, dem Bünden so viel zu verdan- gibt Ge/ege»kez't, am/ z« Zsckofekes A«/e«tkaZt z« Rez'cke«a« kmzMzye/'se«, ken hat. Und noch, wenn eine späte Nach- — dere« Lektüre ta/'r t/nser« Leser« azz/s kerz/z'ckste fahrin, die vor wenigen Jahren verstorbene ez«p/eWe» »zockte«, 3»z Azz/satz Pazz/ Ema«zze/ Mz/7- Frau Célestine l'Orsa-Zschokke, ein Grund- /ers üker «ScWoß Re/'cke«azz», der z'z« He/t 2 der stück bei Carona im Tessin als sog. «Stif- Kn'sfaWrez'ke, ketz'te/t «Grazzkti«de«s Sck/össer ««d Pa/äste» zaz/rde, tung Celestina» hinterlassen und dezidiert je- (Ca/aew-Ver/ag 3969/ »erö//e«t/z'ckf z'st das Wirke« Zsckokkes z'» der Sckzz/e Rez'ekenazz nen Studenten zubestimmt hat, welche künf- »zz't großer Sackkewwtwz's tz«d kzz«sf/ensekez» Lzw/wk- tig ein vereinigtes Europa zu verwirklichen /«»gsvemzöge« ztzr Darsfedz/ng ge/a«gi. Früker Fat gedächten, so dünkt uns noch diese Geste azzck Marfz'w Sckmz'd z« sez'wewz z'« tzwserwz /akrWzck nach Namen und Absicht genau auf den be- 3963 zzerö//e«tZz'ckte« Azz/satz «Rez'ckewazz» das «ä»z- rühmten Ahnherrn Johann Heinrich Daniel Zz'cke Tke/zza akgetaa«deZt. Beide Arbeite» ergä«ze« de« Azz/satz zz«serer Azztori« zznd ki/de« zwz't ik»z ez'we Zschokke zurückzugehen, denn als letztes von scköwe Trz'Zogz'e, dz'e de»z kedezzte«de« Patrz'ote« all seinen Kindern — wir versparten das Zsckokke bei Aw/aß seines 200. Gebzzrtstages dz'e t/er- aparte Faktum auf den Schluß —• noch nach dz'e«te Wwrdz'gMtzg zzzte/7 zaerde» /aßt.

88