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GRUNE¨¨ BLATTER Mitgliederzeitschrift Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg · 04.2012

Integration. Migration. Irritation?

INHALT Zusammen hält besser 2 „Misslungene Integration – ein Problem der sozialen Herkunft“ 3 Muhterem Aras:„Migration ist für mich ein wichtiges Thema.“ Helin Aras:„Für mich nicht.“ 4 Parallelgesellschaften als Problem 6 Integration durch gute Bildungsorte 7 Der Integrationsarbeit eine Stimme geben 8 gb-042012-6 22.11.2012 15:04 Uhr Seite 2

Zusammen hält besser

Mehr als ein Viertel der Baden-Würt- rung und Neuerung gebracht. Katrin rerinnen und Einwanderer der ersten tembergerInnen haben ihre Wurzeln in Göring-Eckardt und Jürgen Trittin stehen Generation – die also noch im Herkunfts- anderen Kulturkreisen. Doch was be- für die ganze Breite unserer Partei. land geboren sind – haben mit anderen deutet das für unser Zusammenleben im Politische PionierInnen waren wir auch Problemen zu kämpfen als ihre Kinder. Südwesten Deutschlands? An welchen bei der Bildung des ersten wirklichen Inte- Besonders deutlich wird das im Gespräch Stellschrauben muss und kann Politik grationsministeriums im Land. Wir sind zwischen den einzelnen Generationen, ansetzen, um Chancengerechtigkeit her- überzeugt, dass es sich eine alternde wie Ihr auf Seite 5 bei der Unterhaltung zustellen? Gesellschaft nicht leisten kann, die Poten- der Grünen Landtagsabgeordneten Muh- ziale und Kompetenzen von MigrantInnen terem Aras mit ihrer Tochter Helin nach- Baden-Württemberg ist im Oktober noch länger zu ignorieren und ungenutzt zu las- vollziehen könnt. einmal grüner geworden. Mit seiner Wahl sen. Deshalb machen wir uns dafür stark, zum ersten Grünen Oberbürgermeister in den sozialen und wirtschaftlichen Auf- Es gilt, den Gegebenheiten und den einer Landeshauptstadt hat stieg von Einwanderinnen und Einwande- Ansprüchen der Menschen in Baden- gezeigt, dass die Menschen in unserem rern zu fördern und ihnen Chancenge- Württemberg mit einer ganzheitlichen Bundesland Vertrauen in die Gestaltungs- rechtigkeit zu ermöglichen. Integrationspolitik gerecht zu werden. kraft unserer Politik haben. Mit gewissem Nur so ist es möglich, Versäumnisse der Stolz können wir feststellen, dass sich die Zusammenhalt durch Bildung schwarz-geführten Vorgängerregierungen politische Landschaft in Baden-Württem- Um dieses Ziel zu erreichen, ist Bildung gesellschaftspolitisch aufzufangen. Wir berg nachhaltig verändert hat. Die Men- die wichtigste Stellschraube. Sie ist der Grüne wollen ein Baden-Württemberg, in schen setzen auf unsere Politik der Ehr- Schlüssel zu einer gelingenden Integra- dem keine/r zurückgelassen wird und alle lichkeit, für die insbesondere Mini- tion, wie ihr im Interview mit Professor hier lebenden Menschen Teil einer inklu- sterpräsident und Frank Kalter und im Beitrag von Cem siven Gesellschaft sind. auch der designierte Stuttgarter OB ste- Özdemir nachlesen könnt. Ein weiterer hen. Baustein zur Chancengerechtigkeit sind Kenntnisse der Sprache des jeweiligen Wir gehen neue Wege Landes. In Baden-Württemberg haben wir Bei der Bundestagswahl im nächsten uns schon an die Umsetzung dieser Herbst wollen wir nun zeigen: Grün setzt Erkenntnis gemacht und das SPATZ-Pro- sich durch. Im ganzen Land ist möglich, gramm für eine frühe Sprachförderung was wir in Baden-Württemberg geschafft eingeführt. Es ermöglicht Förderung ab haben: Ein politischer Wechsel mit star- dem ersten Kindergartenjahr und schafft ken Grünen. Dass wir dabei auch unge- so bessere Grundlagen. wöhnliche und neue Wege gehen, haben wir mit der Urwahl unseres Spitzenkandi- Im Zusammenhang mit der Neugründung datInnen-Duo gezeigt. Über 30.000 unse- des Ministeriums haben wir auch dafür rer Mitglieder entschieden sich dabei zwi- gesorgt, dass im Haushalt mehr Mittel für schen 15 verschiedenen KandidatInnen. die Integration eingestellt werden. Insge- Das Ergebnis dieser basisdemokratischen samt steht für diese Aufgabe jetzt eine hal- Entscheidung hat uns ein Duo aus Erfah- be Million Euro mehr zur Verfügung als noch unter der schwarz-gelben Vorgän- gerregierung.

Unterschiedliche Bedürfnisse Nach ersten sinnvollen und dringend nötigen Maßnahmen gibt es gerade im Bereich der Bildung noch viel zu tun. Vor allem für Erwachsene muss es ein breite- res Angebot an Integrations- und Orien- tierungskursen geben. Um Migrantinnen und Migranten bessere Chancen auf dem von Thekla Walker und Chris Kühn, Arbeitsmarkt zu bieten, wollen wir auch Landesvorsitzende die Anerkennung ausländischer Bildungs- abschlüsse vorantreiben. Denn Einwande-

02 · GRÜNE BLÄTTER 04.2012 gb-042012-6 22.11.2012 15:28 Uhr Seite 3

„Misslungene Integration – ein Problem der sozialen Herkunft“

Zur Rolle der Politik bei der Integration dern an der Spitze. Auch die Motive sind Gibt es Unterschiede zwischen Einwan- gibt es viele Meinungen. Soziologie- heutzutage sehr vielfältig: Arbeit, Bildung derInnen erster, zweiter und dritter professor Frank Kalter beleuchtet das und Ausbildung, Familienzusammenfüh- Generation? Thema im Gespräch von wissenschaft- rung und Heirat, politische Gründe. licher Seite und zeigt das größte Hin- Ja, und zwar erhebliche. Einer der stabil- dernis auf: fehlende Bildung. Was bedeutet Integration aus wissen- sten Befunde der Integrationsforschung schaftlicher Perspektive? ist, dass sich in der Generationenfolge ein Baden-Württemberg hat beim Wieder- klarer Trend zur Assimilation abspielt. Das aufbau des Industriestandortes stark Der Begriff wird in Öffentlichkeit und Wis- gilt tendenziell für alle Bereiche der Inte- vom Zuzug durch GastarbeiterInnen senschaft oft sehr unterschiedlich verwen- gration, in allen Einwanderungsländern profitiert. Was hat sich seitdem in det und stiftet viel Verwirrung. Fest steht: Es und für alle Gruppen. Sachen Migration in unserem Bundes- macht keinen Sinn von „der“ Integration zu land verändert? sprechen. Sie kann sehr unterschiedliche Was kann die Politik dazu beitragen, Aspekte betreffen: kognitive, wie Sprach- dass MigrantInnen die gleichen Chan- Die früheren, klassischen Anwerbeländer, kenntnisse oder kulturelle Kompetenzen; cen haben wie Einheimische? insbesondere die Türkei, machen zwar strukturelle, wie Bildungsabschlüsse und immer noch einen erheblichen Anteil aus, Arbeitsmarktpositionen; soziale, wie Mit- Gutgemeinter, kostspieliger Interven- aber das Migrationsbild ist in den letzten gliedschaften und Beziehungen; emotiona- tionsaktionismus löst das Problem jeden- Jahren wesentlich bunter geworden. Bei le, wie Werte und Identifikationen. Integra- falls nicht. Andererseits sind grobe der aktuellen Zuwanderung nach Baden- tion kann auf die Aufnahmegesellschaft Unverantwortlichkeiten wie das Betreu- Württemberg liegen beispielsweise Polen gerichtet sein, also eher Assimilation be- ungsgeld eine nahezu geniale Idee, um und Rumänien unter den Herkunftslän- deuten, was häufig verkürzt mit Inte- gleiche Chancen nachhaltig zu verhin- gration gleich gesetzt wird. Sie dern. Wir müssen akzeptieren, dass wir es kann aber auch auf die Her- mit sehr hartnäckigen Prozessen zu tun kunftsgruppe gerichtet sein, also haben. Sie sind tief in Bereichen veran- Segregation bedeuten, oder auf kert, die sich kurzfristigen Interventionen beides, was man als „multiple entziehen, insbesondere in der frühkind- Integration“ bezeichnen könnte. lichen Entwicklung. Hier ist eine weise Bildungspolitik mehr gefragt als eine spe- Gibt es grundsätzliche Unter- zifische Integrationspolitik. Das heißt schiede zwischen MigrantIn- natürlich nicht, dass es an den verblei- nen, denen die Integration benden migrationsspezifischen Nachtei- gelingt und denjenigen, denen len nichts mehr zu tun gäbe. Wichtig wäre sie nicht gelingt? es hierbei aber, die Effektivität von Maß- nahmen zu prüfen und nicht davon aus- Ja, es gibt hier klare Einflussfak- zugehen, dass allein guter Wille und viel toren. Bildung ist der Schlüssel – Geld eine Wirksamkeit sicherstellen. gelingt sie, dann gelingt auch die Integration in anderen Berei- chen. Die Bildungschancen sind ganz entscheidend vom Genera- tionenstatus oder vom Einreise- alter, den Sprachkenntnissen der Eltern, vor allem aber von deren Frank Kalter, 48, sozioökonomischen Hinter- ist Professor für grund abhängig. Wir haben es, Soziologie an der Uni- wenn wir über misslungene Inte- versität Mannheim. gration sprechen, eigentlich Seine Forschungs- weniger mit einem migrations- schwerpunkte sind spezifischen oder ethnischen Migration und Integra- Problem zu tun, sondern mehr tion von ethnischen mit einem Problem der sozialen Minderheiten. Herkunft.

GRÜNE BLÄTTER 04.2012 · 03 gb-042012-6 22.11.2012 15:05 Uhr Seite 4

KURZ& GRÜN Muhterem Aras: Antiziganismus in Europa „Migration ist für mich Gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma ein wichtiges Thema.“ Erfahrungen und Perspektiven Helin Aras:

13. Dezember 2012, 18:00–20:30 Uhr „Für mich nicht.“ Landtag von Baden-Württemberg Lobby 1. Obergeschoss Anmeldung unter [email protected]. Muhterem Aras lebt seit ihrem zwölften Helin: Das kann sein. Ich und meine Sinti und Roma bilden die größte eth- Lebensjahr in Deutschland, ihre 15-jäh- Freunde wurden damit bisher noch nicht nische Minderheit in Europa. In vielen rige Tochter Helin wurde hier geboren. konfrontiert. Ländern werden sie marginalisiert. Im Stuttgarter Westen führt die Familie Trotz verschiedener Initiativen auf Aras das Leben einer normalen mittel- Muhterem: Ich schon. Für mich war und Ebene der EU und vieler Nationalstaa- ständischen Familie. Die Grüne Blätter- ist es völlig selbstverständlich, dass ich ten hat sich an ihrer prekären Situa- Redaktion wollte wissen: Ist Migration hierher gehöre. und die Region tion bislang wenig geändert. Auch in für euch noch ein Thema? Wir haben sind seit 34 Jahren mein Zuhause und Deutschland erleben Angehörige die- den beiden bei ihrem Gespräch zuge- meine Heimat. Doch ich kann sicher sein, ser Minderheit unterschiedliche For- hört. ich werde immer wieder jemandem begeg- men der Diskriminierung. Anlässlich nen, der erstaunt ist, dass ich so gut der Ausstellung „Typisch »Zigeuner«? – Muhterem: Migration ist für mich ein wich- Deutsch spreche. Das ärgert mich und Mythos und Wirklichkeiten“ im Land- tiges Thema. Zum einen, weil ich als Politi- gleichzeitig frage ich mich, ob ich zu sen- tag von Baden-Württemberg möchten kerin damit täglich konfrontiert werde und sibel bin. die Heinrich Böll Stiftung Baden- zum anderen, weil es mich aufgrund mei- Württemberg und der Verband Deut- ner Vergangenheit beschäftigt. Helin: Diesen Kommentar finde ich scher Sinti und Roma – Landesverband furchtbar. Ich würde mich deswegen aber Baden-Württemberg zu einer Diskus- Helin: Für mich spielt Migration eigentlich nicht ärgern. Für mich ist klar, ich bin sion über politische Strategien gegen keine Rolle. Als Thema finde ich es interes- Deutsche. die verschiedenen Formen der Diskri- sant, aber nicht aus persönlicher Betrof- minierung von Sinti und Roma einla- fenheit. Muhterem: Als kleines Mädchen hat dich den. das Thema schon beschäftigt. Im Kinder- Muhterem: Es ist schön, dass es für dich garten hat ein Kind mehrmals zu dir kein Problem ist und du gar nicht auf den gesagt, du seist in der Türkei geboren. Es Grußwort: Gedanken kommst, nicht hierher zu gehö- wollte dich damit beleidigen, was ihm Brigitte Lösch, Vizepräsidentin des ren. Leider gibt es aber im Alltag genügend auch gelungen ist. Oder wenn ich dich in Landtags von Baden Württemberg Situationen, in denen man Kindern und den Kindergarten gebracht habe und wir Jugendlichen das Gefühl gibt, dass sie uns dem Gebäude näherten, hast du Es diskutieren: nicht „richtig“ dazugehören. Das verletzt immer gesagt, Mama, jetzt sprechen wir Eva van de Rakt, sehr. Solches Unverständnis ist fatal, denn nicht mehr Türkisch. Es war dir richtig Leiterin des Prager Büros mit so einer Aussage weist man Kindern peinlich. Du wolltest wie die anderen der Heinrich Böll Stiftung die Tür und sagt: Du gehörst nicht dazu. reden, Deutsch und nicht Türkisch. Markus End (TU Berlin), Autor der Studie Antiziganismus – Helin: So was tut weh und kränkt, aber es Helin: Daran kann ich mich gar nicht erin- Zum Stand der Forschung und ist oft nicht böse gemeint. nern. der Gegenstrategien Daniel Strauß, Muhterem: Migration und Integration sind Muhterem: Dort waren fast nur deutsche Vorsitzender des Verbands hochemotionale Themen. Für die einen Kinder. Ich bin mir sicher, diese Angst, die Deutscher Sinti und Roma – geht es um die Suche nach einer neuen ich auch verstehen kann, wäre nicht da Landesverband Baden-Württemberg Heimat, für die anderen um den Schutz gewesen, wenn wir Englisch gesprochen ihrer alten Heimat. Es gibt sicher Beispiele hätten. Dieses Verhalten entsteht, weil die Moderation: von Migrantinnen und Migranten oder Gesellschaft ein bestimmtes Bild von einer Dr. Andreas Baumer, ihren Kindern, bei denen der Wille zur Gruppe hat. Bei türkischen Menschen Heinrich Böll Stiftung Integration fehlt. Es ist aber auch nachge- denkt man an rückständige Gastarbeiter- Baden-Württemberg wiesen, dass es die Gesellschaft ihnen nicht familien und bei Amerikanern an Wohl- leicht macht. Oft haben sie wegen ihres stand, Freiheit und Fortschritt. Negativen ausländischen Nachnamens Probleme, Vorstellungen möchte man nicht ent- einen Job oder eine Wohnung zu finden. sprechen.

04 · GRÜNE BLÄTTER 04.2012 gb-042012-6 22.11.2012 15:05 Uhr Seite 5

Muhterem Aras, 1966 in einem Dorf in Anatolien/Türkei geboren, lebt mit ihrem Mann und zwei Kin- dern im Stuttgarter Westen. 2011 Helin Aras ist 15 Jahre alt, wurde in zog sie mit 42,5 Prozent für die Filderstadt geboren und lebt heute Grünen in den Landtag ein und ist mit ihren Eltern und ihrem 11-jähri- dort die finanzpolitische Spreche- gen Bruder Deniz im Stuttgarter rin ihrer Fraktion. Neben der Politik Westen. Sie ist Schülerin des Eber- führt die Wirtschaftswissenschaft- hard-Ludwigs-Gymnasiums. In ihrer lerin eine eigene Steuerberater- Freizeit spielt sie Klavier oder trifft kanzlei im Stuttgarter Zentrum. sich mit Freunden in der Stadt.

Helin: Trotzdem glaube ich, dass meine Ethnien. Internationale Kontakte sind aus bleme thematisiert werden, macht eine Generation integrierter ist als deine. Das der Geschäftswelt nicht mehr wegzuden- bessere Integration nicht leichter. sehe ich auch an meinem Freundeskreis. ken und für Kinder und Jugendliche ist Für uns ist Migration kein Thema, des- durch Schüleraustausch-Programme die Helin: Probleme gibt es aber. Es gibt Kin- wegen reden wir nicht darüber. Deutsch- Verständigung zu Menschen mit anderen der, die hier geboren wurden und nach land ist meine Heimat und ich erlebe sel- Wurzeln selbstverständlich geworden. Das vielen Jahren immer noch kein Deutsch ten, dass das jemand anders sieht. war zu meiner Zeit nicht so. können. Wenn man dazugehören möchte, muss man es auch wollen. Muhterem: Ich glaube nicht, dass ich Helin: Ja, es ist für mich normal, in einer weniger integriert bin. bunten Gesellschaft zu leben. Ich kenne es Muhterem: Das ist richtig. Integration auch nicht anders. Wenn ich aber die kann nur funktionieren, wenn alle mitma- Helin: Du bist aber eine Ausnahme. Diskussion verfolge, macht es mich trau- chen. Wenn wir das nicht schaffen, bleibt Politikerin und Steuerberaterin mit rig, dass es offenbar in Deutschland noch die Gesellschaft gespalten und wird ihr eigener Kanzlei, das ist nicht die Regel. viele Menschen gibt, für die es nach so vie- Potenzial nie ausschöpfen können. Mir ist Ich glaube, viele Migrantinnen und len Jahren Migration nach wie vor nicht besonders wichtig, dass sich Migrantin- Migranten in deiner Generation sehen normal ist, wenn jemand mit offensichtli- nen und Migranten mit diesem Land iden- das auch so. chem Migrationshintergrund perfekt tifizieren können und es als Heimat sehen Deutsch spricht. und dass die Mehrheitsgesellschaft sie Muhterem: Deine Generation fühlt sich darin unterstützt. Dann übernimmt der vielleicht genau deswegen integrierter, Muhterem: Vielleicht ist das auch ein Einzelne auch Verantwortung und setzt weil es kein Thema für sie ist. Die Gesell- Grund, weswegen man oft den Eindruck sich für Veränderungen in der Gesell- schaft ist insgesamt bunter geworden, in hat, hier fehlt eine Willkommenskultur. schaft ein. Die Betonung auf das Anders- Stuttgart leben Menschen aus über 90 Dass in der Diskussion stets nur die Pro- sein ist ein Bremsklotz für die Integration.

GRÜNE BLÄTTER 04.2012 · 05 gb-042012-6 22.11.2012 15:05 Uhr Seite 6

Parallelgesellschaften als Problem

Das Reden von Parallelgesellschaft hat Irreführender Begriff ethnisch segregierter Wohnviertel ist sich als Warnung vor sich abschotten- Dabei entspricht es nicht der bundes- empirisch nicht haltbar, wie das Bundes- den Einwanderergruppen etabliert. deutschen Wirklichkeit, dass in bestimm- amt für Migration und Flüchtlinge 2008 in Doch der Begriff stellt nicht die Realität ten Einwanderermilieus sozial abgeschlos- einer Untersuchung für Deutschland fest- der Migration in Deutschland dar, son- sene und rechtsfreie Räume existieren, in stellte. Dem gegenüber zeigen Arbeitslo- dern verzerrt sie. Anstatt zur Lösung der denen „deutsche“ Werte und Kultur nicht sigkeit, ökonomische Ungleichheit und von ihm angesprochenen Probleme bei- akzeptiert würden. Schon der Begriff selbst Bildungsprobleme als Folge von Diskrimi- zutragen, setzt er so ein europäisches führt in die Irre. Denn um von einer paral- nierung und Fremdenfeindlichkeit, dass es Selbstverständnis aufs Spiel. lelen Gesellschaft sprechen zu können, sich um ein gesamtgesellschaftliches Phä- müsste es innerhalb der Mehrheitsgesell- nomen handelt. Der Begriff Parallelgesellschaften wurde schaft alternative ökonomische, politische Anfang der 1990er Jahre durch den Biele- und soziale Systeme geben: Es müsste eine Gesellschaften sind vielfältig felder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heit- Doppelung von Institutionen des Staates – Das eigentliche Problem ist aber ein ande- meyer geprägt. Mit ihm charakterisierte also von Judikative, Legislative und Exeku- res: Wer von Parallelgesellschaften spricht, Heitmeyer die Gefahr der Abschottung tive – vorhanden sein und ein bewusster, nimmt sich die Möglichkeit anzuerken- und Hinwendung zu religiös-fundamenta- selbständiger Rückzug in eigene Siedlun- nen, dass innerhalb einer Gesellschaft listischem Denken von Jugendlichen mit gen sowie ein unabhängiger Lebensalltag verschiedene, auch widerstreitende Wer- türkischem und arabischem Migrations- von Migranten beobachtbar sein. Migran- tehorizonte existieren. Dieses Selbstver- hintergrund als Folge von Diskriminierung tengruppen sind in Deutschland aber ein- ständnis, dass an einem Ort vielfältige und Ausgrenzung. Erst zehn Jahre später erseits zu heterogen, hinsichtlich Bil- Lebensweisen und Wertvorstellungen ge- wird der Begriff von Medien und Politik dungs- und Sozialstatus, Religion oder meinsam existieren, ist zudem ein zutiefst wieder aufgegriffen. Als vermeintliche Aufenthaltstitel, um solche homogenen europäisches. Es ist die Idee von der Viel- Feststellung gesellschaftlicher Tatsachen Enklaven zu bilden. Zum anderen sind sie falt in der Einheit. Auch nicht-christliche dient er seitdem als Kampfbegriff gegen beispielsweise über Schule, Arbeit oder Überzeugungen sind damit ein Teil der multikulturelle Gesellschaftsauffassungen Steuersystem mit der Mehrheitsgesell- deutschen Gesellschaft, weil in Deutsch- und eine liberale Einwanderungspolitik. schaft verwoben. Auch die Behauptung land Menschen leben, für die sie von Bedeutung sind. Diese Überzeugungen sind legitim, solange sie nicht gegen Gesetze verstoßen. Die eigentliche Frage sollte also sein, wie man es ermöglicht, dass jeder, egal welchen Hintergrund er oder sie besitzt, an dieser Gesellschaft partizipieren kann. Unterschiede wird es immer geben, wichtig ist nur, dass es die Möglichkeit gibt, sich über diese auszu- tauschen und zu diskutieren. Dazu bedarf es einer Politik, die mit Differenz klug umzugehen weiß.

Matthias Klückmann, 28, promoviert am Ludwig-Uhland- Institut der Uni- versität Tübingen zum Thema sozio- kulturelle Vielfalt in Stuttgart und Glasgow.

06 · GRÜNE BLÄTTER 04.2012 gb-042012-6 22.11.2012 15:05 Uhr Seite 7

Integration durch gute Bildungsorte

Wir erinnern uns: 2008 fand in Dresden len, Hochschulen und Einrichtungen der der von der damaligen Bundesregierung Fort- und Weiterbildung. Es geht dabei öffentlichkeitswirksam inszenierte Bil- aber nicht nur um einen Ausbau, wir müs- dungsgipfel statt. Alles sollte besser wer- sen auch viel mehr Wert legen auf die Qua- den. Drei Jahre danach zog eine im Auf- lität dieser Orte. Wir müssen sie so aus- trag des DGB erstellte Untersuchung statten, dass sie benachteiligte Kinder mit eine ernüchternde Bilanz: Bei wesent- und ohne Migrationshintergrund tatsäch- lichen Vereinbarungen des Gipfels „läuft lich dabei unterstützen können, den die Umsetzung entweder schleppend Zugang zur sozio-ökonomischen Mitte oder nur mit kaum wahrnehmbaren Fort- unserer Gesellschaft zu finden. schritten.“ Mittel vernünftig einsetzen Der Anteil der Risikoschüler liegt zehn Jah- Genau deshalb ist das Betreuungsgeld der re nach dem Pisa-Schock 2001 immer dramatisch falsche Weg – wie auch schon noch bei rund 20 Prozent – jedes fünfte zuvor das bürokratische Bildungs- und Kind verlässt die Schule ohne Ausbil- Teilhabepaket. Gerade weil wir angesichts dungsreife. Während es 71Prozent der Kin- der Haushaltslage Prioritäten setzen müs- der aus Akademikerfamilien an eine Hoch- sen und unseren Anspruch auf eine schule schaffen, sind es nur 24 Prozent der gerechte Gesellschaft deshalb nicht aufge- Kinder aus Arbeiterfamilien. Das sind nur ben, müssen die Mittel direkt in die Ver- zwei Beispiele von vielen, die verdeut- besserung unserer öffentlichen Einrich- lichen: Deutschland fehlt es massiv an Bil- tungen fließen. Dort findet Integration dungsgerechtigkeit, auch im internationa- tatsächlich statt – und dort müssen auch len Vergleich. Und gerade Kinder die Voraussetzungen dafür geschaffen wer- nicht-deutscher Muttersprache sind davon den. Nur so schaffen wir auch Vertrauen in besonders betroffen. unser demokratisches Gemeinwesen.

Wo hakt es? Unstrittig ist, dass es bei der Erziehung auch auf die Eltern ankommt. Allerdings haben nicht alle Migrantenfa- milien die Möglichkeiten, ihre Kinder ent- sprechend zu fördern. Auch im Wohnzim- mer meiner Eltern fehlte die Bücherwand mit dem Brockhaus – ich hatte jedoch spä- ter Freunde, deren Eltern auch einen Blick in meine Schulhefte geworfen haben oder Cem Özdemir, mich an Weihnachten nach Hause einlu- 46, verheiratet, den. Nicht jedes Kind hat dieses Glück. zwei Kinder, ist Bundesvor- Zugang zur Mitte der sitzender von Gesellschaft ermöglichen Bündnis 90/ Wenn wir über Teilhabe sprechen, dann Die Grünen. braucht es – wie auch vom Bundesverfas- Er wuchs im sungsgericht angemahnt – ein menschen- schwäbischen würdiges Existenzminimum als Grundvor- Bad Urach als aussetzung. Doch hier hört eine Kind türkischer Sozialpolitik, die Teilhabe und Chancen- Zuwanderer auf. In seinem Buch gerechtigkeit schaffen will, nicht auf. Denn „Currywurst und Döner – Integration die Möglichkeiten benachteiligter Kinder in Deutschland“ und seiner Autobio- und Familien hängen entscheidend davon graphie „Ich bin ein Inländer“ spiegeln ab, ob sie auch Zugang zu guten öffent- sich seine multikulturellen Erfahrun- lichen Einrichtungen haben. Im Bereich gen in Deutschland wider. der Bildung sind das Kitas, Ganztagsschu-

GRÜNE BLÄTTER 04.2012 · 07 gb-042012-6 22.11.2012 16:23 Uhr Seite 8

Der Integrationsarbeit eine Stimme geben

2,8 Millionen Baden-Würt- schieht vor Ort, in der Nachbarschaft, im tembergerInnen haben aus- eigenen Stadtteil. Große Baustellen sind ländische Wurzeln, das sind daher die Anerkennung ausländischer 26 Prozent der Bevölkerung. Bildungsabschlüsse und Maßnahmen Damit belegt Baden-Württem- gegen Diskriminierung, etwa bei der berg in Deutschland einen Wohnungs- und Jobsuche sowie eine Öff- Spitzenplatz. Viele der Migran- nung des öffentlichen Dienstes auf allen tinnen und Migranten leben Ebenen für Zuwanderer. bereits in der vierten Genera- tion in Deutschland – Baden- Generalverdacht Württemberg ist längst Heimat überwinden für Menschen aus 170 Natio- Für den Integrationspolitiker der Land- nen geworden. tagsgrünen Lede Abal sollte auch die poli- tische Partizipation von Migrantinnen Offensichtlich funktioniert das und Migranten eine große Rolle spielen. Zusammenleben von Neuan- „Diese Menschen sind komplett unterre- kömmlingen und Alteingesesse- präsentiert, obwohl gerade auf kommu- nen, weder liest man von Ghetto- naler Ebene großes Interesse besteht. isierung in den Städten noch Hier müssen wir die richtigen Bedingun- von großen Konflikten. Alles in gen schaffen und die Menschen motivie- Butter? Weit gefehlt: Noch ren.“ Doch Gesetze werden nicht allein immer bleiben Kinder mit helfen können, wenn die Mehrheitsge- Zuwanderungsgeschichte in sellschaft keinen Willen zu Integrations- der Schule auf der Strecke und arbeit zeigt. „Es geht in der Integration IMPRESSUM: qualifizierte Fachkräfte verdienen ihr Brot um Identität und Loyalität. Viele Migran- Herausgeber: mit Taxifahren statt in ihrem eigentlichen tinnen und Migranten habe eine deutsche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beruf. Identität, aber auch noch eine zweite, auf Baden-Württemberg die sie stolz sind. Die Mehrheits- Königstraße 78 · 70173 Stuttgart Integration ist eine gesellschaft stellt sich dann schnell die Telefon 0711-99 35 90 Querschnittsaufgabe Frage: Wie loyal ist jemand mit zwei Iden- Telefax 0711-99 35 999 „In den vergangenen Jahrzehnten wurde titäten gegenüber Deutschland? Der [email protected] gerade in der Integrationspolitik viel ver- Generalverdacht steht leider immer im www.gruene-bw.de säumt“, sagt Daniel Lede Abal, integra- Raum. Integrationsarbeit heißt also auch, tionspolitischer Sprecher der Fraktion diesen Generalverdacht zu überwinden. Redaktion: Grüne im Landtag. „Es war immer ein Es kann nur gemeinsam funktionieren. , Lorenz Bücklein, Julia Randthema, das Schwarz-Gelb nicht Jetzt bist du integriert! So einfach geht es Ebling, Patrick Klaiber, Florian Krebs, interessierte. Dabei ist die Integrationsar- leider nicht.“ Petra Lehner, Christina Schindler, beit eine Querschnittsaufgabe, die viele Heike Wagner, Dirk Werhahn politische Felder, wie die Bildungs- und Sozialpolitik sowie die Wirtschaftspolitik Mitarbeit: betrifft. Mit einer zentralen, sichtbaren Julia Ebling, 28, wohnt in Julia Link Einrichtung wie dem Integrationsministe- Stuttgart und arbeitet in rium hat Grün-Rot der Integrationsarbeit der Fraktionsgeschäfts- Bilder: nicht nur eine Stimme gegeben, sondern stelle der Gemeinderats- Seite 1: flickr Georg Kroemer auch einen Ansprechpartner für Migran- fraktion Bündnis 90/ Seite 2+3: © Christopher Fuchs tinnen und Migranten geschaffen.“ Die Grünen im Seite 5: Heike Wagner Stuttgarter Rathaus. Seite 6: © Kivilcim Pinar Die Aufgaben des ersten Integrationsmi- Seite 8: © Victor Brigola nisteriums in Deutschland liegen auf der Heike Wagner, 29, Hand: Die Teilhabe an Bildung, Ausbil- wohnt in Stuttgart und Layout&Satz: dung und Arbeitsmarkt ist zu verbessern. ist stellvertretende [email protected] Rechtsextremismus und Diskriminierung Pressesprecherin und muss der Boden entzogen werden, die Referentin für Öffent- Druck: Flüchtlingspolitik humaner und die Kom- lichkeitsarbeit der Frak- auf Umweltpapier bei Oktoberdruck AG, munen bei ihrer Integrationsarbeit unter- tion Grüne im Landtag. Berlin (Auflage 8.250 Exemplare) stützt werden. Denn Integration ge-