Musikfreunde | Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien November 2018

Zwischen Furcht und Hoffnung

Requiem-Kompositionen von Verdi und Britten

Verdis „Messa da “, dirigiert von Sir John Eliot Gardiner, und Brittens „War Requiem“ mit den Wiener Symphonikern, dem Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde und Philippe Jordan am Pult sprechen im Novemberprogramm des Musikvereins auf faszinierend unterschiedliche Weise von den letzten Dingen. Was erwartet den Menschen am Ende seiner Zeit, am Ende der Zeiten? Und was folgt daraus für sein Leben im Hier und Jetzt?

Es mag den Betrachter ein leichtes Frösteln ankommen, wenn er im Dom von Orvieto vor den Wandmalereien des Luca Signorelli steht. Beeindruckend und erschreckend, mit welchen Bildern man im Spätmittelalter „Gericht“ und „Verdammnis“ verband. In Signorellis (durchaus dicht bevölkerter) Hölle wird gewürgt, gequält und gefoltert, und stets schleppen geflügelte Höllenknechte neue Opfer heran, die durch leichtsinnigen Lebenswandel den ewigen Qualen verfielen. Das Frösteln des Betrachters ist freilich nicht nur der Drastik in der Darstellung der grausamen Details geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass dies alles mehr als Chiffre und Symbol war, dass dies real geglaubt wurde – Angst vor ewiger Verdammnis bildete das dunkle Fundament der religiösen Weltsicht breiter Schichten durch viele Jahrhunderte. Man muss nicht weit in die Geschichte zurückblicken, um festzustellen, wie lange dieses Denken wirkmächtig und lebendig blieb.

Alle Register des Schreckens Kaum erstaunlich, dass sich solcher Zugang zu den „letzten Dingen“ in der jahrhundertealten katholischen Totenliturgie widerspiegelt. Das Bild des „Dies irae“, des Tages des Zornes Gottes, entstammt dem alttestamentarischen Buch Zefanja, das ein gnadenloses Szenario der Endzeit entwirft: „Ein Tag des Zorns ist jener Tag, ein Tag der Not und Bedrängnis, ein Tag des Krachens und Berstens.“ Dies sind Bilder, die auch nach Jahrhunderten christlichen Glaubens und christlicher Auferstehungshoffnung nicht vergessen waren, und sie finden sich in dem Text der Sequenz „Dies irae“ wieder, als dessen Autor Thomas von Celano, ein Franziskaner und Freund des heiligen Franziskus, vermutet wird. Ob diese Zuschreibung nun stimmt oder nicht – jedenfalls gelingt es dem Autor, Furcht und Hoffnung, Schreckensbild und Gnadenbotschaft in ein dynamisches Ganzes zu zwingen und damit einen steten Widerstreit der Gefühle auszulösen; dem unbarmherzigen Weltenrichter steht Jesus gegenüber, von dem Milde und Verzeihung zu erhoffen ist. Inwieweit solch mentales Aufspalten der göttlichen Dreieinigkeit theologisch haltbar ist, bleibe dahingestellt – der dramatischen Wirkung ist es zweifellos förderlich, und so sieht sich das erlebende Subjekt hin und her gerissen zwischen Furcht vor ewiger Verdammnis und Aussicht auf Erlösung. Während das Konzil von Trient die meisten „Sequenzen“ abschaffte, hielt es an einigen wenigen fest, darunter auch am „Dies irae“, das somit bis in das 20. Jahrhundert offizieller liturgischer Text blieb. Erst das Zweite Vatikanische Konzil dekretierte, dass in der Totenliturgie – gemäß dem frühchristlichen Denken – das Element der Auferstehungshoffnung vorherrschen solle, und somit wurden die Texte „Dies irae“ und „Libera“ aus den liturgischen Büchern gestrichen.

Musikdramatisches Potenzial Sehr spät – aus der Sicht eines neuen theologischen Paradigmas, das die jahrhundertealte „Drohbotschaft“ überwinden wollte. Nicht zu spät allerdings aus dem Blickwinkel musikhistorischer Betrachtung, die sich nur schwer mit der Vorstellung abfinden kann, in den Requiem-Kompositionen Mozarts, Cherubinis, Berlioz‘, Verdis und Brittens gäbe es kein „Dies irae“. Denn dass dieser packende, hochemotionale Text die genannten Komponisten zu musikdramatischen Höhepunkten inspirierte, unterliegt wohl keinem Zweifel. War dies in der gesamten

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Musikgeschichte so? Von den ersten Jahrhunderten vokaler Mehrstimmigkeit wird man dies nicht behaupten können, vielleicht auch, weil uns viele semantische Botschaften alter Musik nicht mehr unmittelbar zugänglich sind. Erst ab dem 18. Jahrhundert entwickelt sich das Ausdruckspotenzial, das wir als Träger emotionaler Botschaften verstehen, und nun wird ein liturgischer Text wie das „Dies irae“ endlich richtig dramatisch. Mozart lässt uns die Dialektik dieses Textes voll auskosten: Der Wucht und Erschütterung der Abschnitte „Rex tremendae“ und „Confutatis“ steht die tröstende Lyrik des „Recordare“ gegenüber. In Mozarts Requiem ist musikhistorisch der Punkt erreicht, wo liturgische Bestimmung und musikdramatisches Eigenleben noch ineinander aufgehen; in den Requiem- Kompositionen der Romantik und der Moderne tritt die liturgische Dimension zunehmend in den Hintergrund – das Requiem wird ein Werk des Konzertsaals.

Verdi und die Kraft des Gegensatzes Bei Verdis Requiem, das wegen seiner gewaltigen Dimensionen als Paradefall eines solchen „Konzertsaal-“ gilt, liegen die Ursprünge aber doch in der kirchlichen Praxis: Obwohl Verdi ein distanziertes Verhältnis zu Glaube und Kirche hatte, lud er nach dem Tod Gioacchino Rossinis zwölf bedeutende Komponisten seiner Zeit zur gemeinsamen Komposition einer Totenmesse ein; er übernahm das „Libera“, das zur Keimzelle seines späteren Requiems werden sollte. Die für 1869 geplante Aufführung der Gemeinschaftskomposition kam nicht zustande, und erst der Tod des Dichters Alessandro Manzoni bewog Verdi 1873, nunmehr allein die Komposition eines Requiems in Angriff zu nehmen. Wen sollte es verwundern, dass er dies mit der Kraft und dem Ingenium des geborenen Musikdramatikers tut, der kantige Gegensätze eher betont, statt sie zu mildern? Der Beginn des „Dies irae“, bereits bei Mozart und Berlioz mit dramatischer Verve gestaltet, wird zum apokalyptischen Fanal: Mit unbarmherziger Wucht dröhnen die Orchesterschläge, die das Ende alles Zeitlichen einleiten, und in kopfloser Panik, von der Musik nachgezeichnet, rennen die Menschen durcheinander. Solchen Szenarien des Schreckens stehen Szenen von berückender Lyrik gegenüber, wie das „et lux perpetua“ am Anfang und am Ende des Werkes. Verdi, auch in seinem Requiem kein kirchenfrommer Komponist, wandelt den alten liturgischen Text zum Spiegelbild menschlicher Befindlichkeit in der Spannweite aller Extreme. Der Vorwurf, er habe hier aus dem ehrwürdigen Requiem ein Stück „Oper“ gemacht, wurde bereits zu seinen Lebzeiten erhoben und haftete dem Werk lange an – zu Unrecht, wie schon meinte, der trotz fundamental andersgearteter kompositorischer Ausrichtung Verdis Werk ausdrücklich in Schutz nahm.

Britten und „The pity of war“ Ist das endzeitliche Geschehen bei Verdi ein Drama der Seele, so setzt es Benjamin Britten in seinem „War Requiem“ wieder auf die Erde, in durchaus historisch-konkretem Sinn. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte so mancher Zeitgenosse meinen, auch die alttestamentarischen Drohbotschaften seien nur eine schwache Vorahnung dessen gewesen, was nun über die Menschheit hereingebrochen war: millionenfacher Tod auf Schlachtfeldern und in brennenden Städten, Vertreibung und Ermordung ganzer Völker. Britten greift zum althergebrachten Text der lateinischen Totenmesse, aber er durchsetzt ihn mit der Lyrik des 1918 gefallenen Dichters Wilfred Owen, die nicht Anklage erhebt, sondern an die Menschheit appelliert, zu den Grundhaltungen des Mitfühlens und der Güte zurückzufinden: „My subject is war, and the pity of war ... the poetry is in the pity.“ So wird das Requiem zur Gewissenserforschung einer Menschheit, die mit Schrecken ihr eigenes Zerstörungspotenzial wahrgenommen hat und den Neuanfang versucht. In diesem Sinne will Britten sein „War Requiem“ verstanden wissen, und so setzt er es auch in den Details der Erstaufführung um, die am 30. Mai 1962 in der wiederaufgebauten Kathedrale von Coventry stattfindet: Wird bereits die Stadt Coventry als eines der ersten Ziele des Flächenbombardements zum Symbol, so sind es auch die Sänger der Hauptpartien, die den ehemaligen „Feindländern“ entstammten: die russische Sopranistin Galina Wischnewskaja, der englische Peter Pears und der deutsche Bariton Dietrich Fischer- Dieskau. Traurig und zugleich ein Zeichen für die fortdauernde Brüchigkeit der neuen Völkerfreundschaft, dass Galina Wischnewskaja von den sowjetischen Behörden keine Ausreiseerlaubnis erhielt und durch die englische Sopranistin Heather Harper ersetzt werden musste.

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Musikalisches Menetekel „Dies irae, dies illa“. Nach einer langen Friedensperiode, nach Jahrzehnten des Wachstums und des steigenden gesellschaftlichen Reichtums, mag die Mahnung an den Tag des Zorns wie ein Nachhall vergangenen kollektiven Schreckens erscheinen. Die kirchliche Höllendrohung hat ihre Macht verloren, das Wissen um Kriegsgreuel knüpft hierzulande kaum mehr an persönlich Erlebtes an. So liegt es an der Musik und ihrer unvergleichlichen Kraft der Vergegenwärtigung, uns klarzumachen: Alles „Gesicherte“ bleibt gefährdet.

Thomas Leibnitz

Dr. Thomas Leibnitz ist Direktor der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.

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