Plenarprotokoll 16/170

Deutscher

Stenografischer Bericht

170. Sitzung

Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 27: Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von den Fraktionen der Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent- schusses für Wirtschaft und Technologie zu wurfs eines Gesetzes zur Abwehr von Ge- dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, fahren des internationalen Terrorismus Dr. Gesine Lötzsch, Dr. , wei- durch das Bundeskriminalamt terer Abgeordneter und der Fraktion DIE (Drucksache 16/9588) ...... 18029 A LINKE: Energiekosten für Privathaushalte mit geringem Einkommen sofort wirksam Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister senken BMI ...... 18029 B (Drucksachen 16/7745, 16/8264) ...... 18049 C Gisela Piltz (FDP) ...... 18031 B in Verbindung mit Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) ...... 18033 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 9: DIE GRÜNEN) ...... 18034 A Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Jens (DIE LINKE) ...... 18034 D Ackermann, Dr. , weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Energie- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ kosten senken – Mehr Netto für die Ver- DIE GRÜNEN) ...... 18036 A braucher (Drucksache 16/9595) ...... 18049 D (CDU/CSU) ...... 18037 B () (CDU/CSU) ...... 18050 A Dr. (FDP) ...... 18039 C Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ Frank Hofmann (Volkach) (SPD) ...... 18040 D DIE GRÜNEN) ...... 18051 B (FDP) ...... 18052 B Ulrich Maurer (DIE LINKE) ...... 18042 D Gudrun Kopp (FDP) ...... 18053 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18043 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18054 C Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 18044 B Rolf Hempelmann (SPD) ...... 18055 D (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 18045 C Gudrun Kopp (FDP) ...... 18056 B (SPD) ...... 18047 A (DIE LINKE) ...... 18057 B Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18047 C DIE GRÜNEN) ...... 18059 B II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 18060 C Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin BMF ...... 18082 B (DIE LINKE) ...... 18062 B Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 18083 C Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18062 C Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin BMF ...... 18083 D (SPD) ...... 18063 C (CDU/CSU) ...... 18084 A Gudrun Kopp (FDP) ...... 18064 B Sören Bartol (SPD) ...... 18085 B Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 18065 B (CDU/CSU) ...... 18085 D Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 18066 B Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18067 A Tagesordnungspunkt 30: Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 18067 D Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ulrich Kelber (SPD) ...... 18068 A Gesetzes zur Einführung der nachträgli- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD) ...... 18068 D chen Sicherungsverwahrung bei Verurtei- lungen nach Jugendstrafrecht Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 16/6562, 16/9643) ...... 18086 D DIE GRÜNEN) ...... 18069 A , Bundesministerin Manfred Zöllmer (SPD) ...... 18070 C BMJ ...... 18087 A Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 18071 C Jörg van Essen (FDP) ...... 18088 A Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 18089 A Namentliche Abstimmung ...... 18072 B Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 18090 C Ergebnis ...... 18074 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18091 B Joachim Stünker (SPD) ...... 18092 B Tagesordnungspunkt 29: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Tagesordnungspunkt 31: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verbesserten Einbeziehung der a) Große Anfrage der Abgeordneten Volker selbstgenutzten Wohnimmobilie in die Beck (Köln), Dr. Uschi Eid, , geförderte Altersvorsorge (Eigenheim- weiterer Abgeordneter und der Fraktion rentengesetz – EigRentG) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur Lage (Drucksachen 16/8869, 16/9641, 16/9670) 18072 B der Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender – Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 16/2084, 16/2800) ...... 18093 B Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verbesserten Einbe- b) Beschlussempfehlung und Bericht des ziehung der selbstgenutzten Wohnim- Ausschusses für Menschenrechte und Hu- mobilie in die geförderte Altersvorsorge manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- (Eigenheimrentengesetz – EigRentG) ordneten (Köln), Irmingard (Drucksachen 16/9274, 16/9449, 16/9641, Schewe-Gerigk, , weiterer 16/9670) ...... 18072 C Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Den 17. 5. als of- – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß fiziellen Tag gegen Homophobie bege- § 96 der Geschäftsordnung hen (Drucksache 16/9642) ...... 18072 C (Drucksachen 16/5291, 16/9366) ...... 18093 B Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) ...... 18072 D in Verbindung mit Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 18076 A (CDU/CSU) ...... 18077 D Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 18079 A Zusatztagesordnungspunkt 10: Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), DIE GRÜNEN) ...... 18080 D (Bremen), , Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 III weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Anlage 1 NIS 90/DIE GRÜNEN: Menschenrechte von Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 18103 A Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgen- dern und Intersexuellen weltweit sicher- stellen – Yogyakarta-Prinzipien unterstüt- Anlage 2 zen (Drucksache 16/9603) ...... 18093 C Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Anträge: Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ – Internationalen Klimaschutz sichern – In- DIE GRÜNEN) ...... 18093 D tegrität und Wirksamkeit der CDM-Pro- Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 18095 A jekte weiter verbessern – Unterlaufen von Klimaschutzzielen durch Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) ...... 18096 A CDM-Projekte beenden Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) ...... 18097 A (169. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 7 und 8) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 18099 A (SPD) ...... 18104 A

Tagesordnungspunkt 34: Anlage 3 a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: des von der Bundesregierung eingebrach- – Entwurf eines Gesetzes zu dem Fakulta- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fa- tivprotokoll vom 25. Mai 2000 zum Über- kultativprotokoll vom 25. Mai 2000 einkommen über die Rechte des Kindes zum Übereinkommen über die Rechte betreffend den Verkauf von Kindern, die des Kindes betreffend den Verkauf von Kinderprostitution und die Kinderporno- Kindern, die Kinderprostitution und graphie die Kinderpornographie (Drucksachen 16/3440, 16/9644) ...... 18100 A – Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Eu- b) Zweite und dritte Beratung des von der ropäischen Union zur Bekämpfung der se- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs xuellen Ausbeutung von Kindern und der eines Gesetzes zur Umsetzung des Rah- Kinderpornographie menbeschlusses des Rates der Europäi- – Entwurf eines Gesetzes zu dem Überein- schen Union zur Bekämpfung der sexu- kommen des Europarats vom 23. Novem- ellen Ausbeutung von Kindern und der ber 2001 über Computerkriminalität Kinderpornographie (Drucksachen 16/3439, 16/9646) ...... 18100 B (Tagesordnungspunkt 34 a bis c) c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) des von der Bundesregierung eingebrach- (CDU/CSU) ...... 18104 D ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Helga Lopez (SPD) ...... 18106 A Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkri- Jörg van Essen (FDP) ...... 18106 D minalität Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 18107 C (Drucksachen 16/7218, 16/9645) ...... 18100 C Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18108 C Tagesordnungspunkt 33: Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ ...... 18109 C Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Verbraucher- Anlage 4 schutz beim Telefonmarketing verbessern – Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Call-Center erhalten des Antrags: Verbraucherschutz beim Tele- (Drucksache 16/8544) ...... 18101 C fonmarketing verbessern – Call-Center erhal- ten (Tagesordnungspunkt 33) Nächste Sitzung ...... 18101 D Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 18110 A IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Dirk Manzewski (SPD) ...... 18111 B Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ ...... 18115 A Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 18112 B (DIE LINKE) ...... 18113 C Anlage 5 Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 18114 B Amtliche Mitteilungen ...... 18115 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18029

(A) (C) Redetext

170. Sitzung

Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Beginn: 9.01 Uhr

Vizepräsident Dr. h. c. : Diese Bedrohungslage hat den Verfassungsgesetzge- Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle- ber vor zwei Jahren veranlasst – eine Mehrheit von über ginnen und Kollegen. zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags und Bun- desrates hat dies beschlossen –, dem Bundeskriminalamt Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: für die Abwehr der Gefahren des internationalen Terro- rismus auch eine polizeiliche Gefahrenabwehrbefugnis Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ zu übertragen, ergänzend zu den polizeilichen Gefahren- CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines abwehrbefugnissen der Länderpolizeien. Diese Ent- Gesetzes zur Abwehr von Gefahren des inter- scheidung des Verfassungsgesetzgebers setzen wir mit nationalen Terrorismus durch das Bundes- diesem Gesetzentwurf um; wir füllen sie aus. kriminalamt Es geht nicht darum – und ich finde, dieser Aspekt ist – Drucksache 16/9588 – in der öffentlichen Debatte gelegentlich ein wenig zu (B) Überweisungsvorschlag: kurz gekommen –, dem Bundeskriminalamt neue Befug- (D) Innenausschuss (f) nisse zu verschaffen, sondern es geht darum, dem Bun- Auswärtiger Ausschuss deskriminalamt eine neue Aufgabe zu übertragen, Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Beides!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich die bisher ausschließlich die Polizeien der Länder haben. höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Und wenn man dem Bundeskriminalamt die Aufgabe polizeilicher Gefahrenabwehr überträgt, dann muss Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- man ihm dafür natürlich auch die gesetzlichen Instru- minister Wolfgang Schäuble das Wort. mente zur Verfügung stellen, über die die Länderpoli- zeien seit 50 Jahren verfügen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des In- Es geht also nicht um neue Befugnisse, sondern es geht nern: um eine neue Aufgabe angesichts einer neuen Bedro- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die hung. Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus ist Dabei gilt die Systematik des Grundgesetzes: In jeden hoch. Deutschland und Europa sind in das Fadenkreuz grundrechtlich geschützten Bereich darf nur unter engen des Netzwerks des internationalen Terrorismus gerückt. tatbestandsmäßigen gesetzlichen Voraussetzungen ein- Das ist die unerfreuliche Nachricht nach einem Bericht gegriffen werden, und zwar in der Regel nur aufgrund von Europol über die Bedrohung durch den Terrorismus. einer unabhängigen richterlichen Entscheidung. Das ist Im vergangenen Jahr sind in Europa 201 Terrorismus- bei allen klassischen Instrumenten der polizeilichen Ge- verdächtige verhaftet worden. Wer sich Internetbotschaf- fahrenabwehr so, insbesondere bei der Wohnungsdurch- ten – in der Regel mit deutschen Untertiteln und einer suchung und bei der Kontrolle von Kommunikation un- hohen Professionalität erstellt – anschaut, in denen An- ter engen Voraussetzungen: Eingriff ins Post- und leitungen formuliert sind, wie man Anschläge und Fernmeldegeheimnis, Wohnraumüberwachung. Selbstmordattentate durchführt und Selbstmordattentäter anwirbt, der weiß, dass wir nicht von Kleinigkeiten re- Das Bundeskriminalamt bekommt, wenn dieser Ge- den, sondern einer ernsten Bedrohung ausgesetzt sind. setzentwurf angenommen wird, diese Instrumente in der 18030 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) gleichen Weise: enge tatbestandliche Voraussetzungen, destens einer die Befähigung zum Richteramt haben (C) Entscheidung eines unabhängigen Richters. muss, dahin gehend geprüft, ob es überhaupt kernbe- reichsrelevant sein könnte. In dem Augenblick, in dem Auch der Schutz des Kernbereichs, der nach unse- sich herausstellt, dass diese Möglichkeit besteht, muss rem Grundgesetz absolut ist, wird in diesem Gesetzent- dieses Material genau wie bei der Wohnraumüberwa- wurf in der bewährten Weise verwirklicht, nämlich so, chung oder der Telekommunikationsüberwachung dem dass in dem Augenblick, in dem die Möglichkeit ent- unabhängigen Richter, der diese Maßnahme anordnet, steht, dass Informationen, die etwa durch Fernmeldekon- vorgelegt werden. Nur er entscheidet, ob es verwendet trolle oder durch Wohnraumüberwachung anfallen, kern- werden darf oder nicht. bereichsrelevant sein können, nur noch mit technischen Mitteln aufgezeichnet werden darf und dass ein unab- Bei allen Meinungsunterschieden, bei allem politi- hängiger Richter und niemand sonst zu entscheiden hat, schen Streit sollten wir deswegen aufhören, aus Anlass ob der Kernbereich tatsächlich verletzt ist. In diesem dieses Gesetzentwurfs oder anderer Debatten den Ein- Fall muss das Material gelöscht werden. Dieses Löschen druck zu erwecken, dieser freiheitliche Verfassungsstaat muss transparent sein, das heißt, es muss überwacht wer- sei ein Staat, der seine Bürger rechtswidrig überwacht. den können, damit sichergestellt ist: Der Kernbereich Das Gegenteil ist der Fall. Unsere Sicherheitsorgane ha- wird nicht verletzt. Das alles ist nichts Neues, sondern es ben diese Diffamierung nicht verdient. entspricht der bewährten Rechtstradition unseres Verfas- sungsstaates. Dieser Verfassungsstaat schützt seine Bür- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gerinnen und Bürger. Er späht sie nicht aus. Wir regeln in diesem Gesetzentwurf das Zeugnisver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weigerungsrecht und die privilegierten Rechte von neten der SPD) bestimmten Berufsgruppen in der Weise, wie sie seit Die technische Entwicklung geht weiter. Wir haben in Jahrzehnten in der Rechtsprechung und in der Strafpro- den letzten Jahren eine lange Debatte darüber gehabt, ob zessordnung geregelt sind, und in derselben Weise, wie die neue Kommunikationsform Voice over IP mit neuen sie übrigens ausdrücklich auch durch das Bundesverfas- Formen der Verschlüsselung unter die Regeln der klassi- sungsgericht bestätigt worden sind. Das Bundesverfas- schen Telekommunikationsüberwachung fällt. Das Bun- sungsgericht hat nämlich in ständiger Rechtsprechung desverfassungsgericht hat in seinen jüngsten Entschei- immer wieder darauf hingewiesen, dass etwa Zeugnis- dungen bestätigt, dass die klassischen Regeln der verweigerungsrechte für privilegierte Berufsgruppen Telekommunikationsüberwachung auch für die neue aufgrund ihres Ausnahmecharakters bestimmte Voraus- Kommunikationstechnologie Voice over IP gelten. Das setzungen erfordern. Deswegen ist in der ständigen (B) wird in diesem Gesetzentwurf klargestellt. Das ist aber Rechtsprechung zu § 53 der Strafprozessordnung das (D) nichts Neues. Zeugnisverweigerungsrecht des Geistlichen immer an die Voraussetzung geknüpft, dass er einer öffentlich- Neu in diesem Gesetzentwurf ist die Onlinedurchsu- rechtlichen Religionsgemeinschaft angehört. Um diese chung. Die hat sich in den letzten Jahren entwickelt, Ausnahme, diese Privilegierung zu begründen, muss die wiederum durch die technische Entwicklung, durch das Verlässlichkeit der Organisation einigermaßen gewähr- Entstehen neuer Kommunikationsformen, nicht durch ir- leistet sein. Auch das ist nichts Neues, sondern es ist die gendwelche Überlegungen von Sicherheitsbehörden klassische Form. Angesichts neuer tatsächlicher Ent- oder Parlamentariern. Der Bundesgerichtshof hat, wie wicklungen in den Debatten mit Bezugnahme auf § 53 ich finde, richtigerweise entschieden, dass der ursprüng- Strafprozessordnung und auf die Rechtsprechung zu die- liche Ansatz der verantwortlichen Sicherheitsbehörden ser Vorschrift schreiben wir das in der Begründung zu und auch der Bundesanwaltschaft – ich sage es ohne jede diesem Gesetzentwurf lediglich fest. Kritik –, das Ganze als analoge Anwendung der Rechts- grundlagen für Telekommunikationsüberwachung und Noch einmal: Wir brauchen im Hinblick auf Gefahren der damit verbundenen Voraussetzungen zu interpretie- des internationalen Terrorismus die zusätzliche Gefah- ren, nicht zulässig ist, sondern dass man dafür eine ei- renabwehr durch das Bundeskriminalamt. Ich halte die gene gesetzliche Grundlage braucht; nicht mehr und Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers für richtig nicht weniger. Diese gesetzliche Grundlage versuchen und notwendig. wir mit diesem Gesetzentwurf zum ersten Mal zu schaf- Wir nehmen den Ländern übrigens keinerlei Zustän- fen. digkeit. Die Zuständigkeit des Bundeskriminalamts Diejenigen, die gesagt haben, das sei verfassungs- kommt ergänzend zu der Zuständigkeit der Länderpoli- rechtlich überhaupt nicht zulässig, haben nicht recht. zeien und der Landeskriminalämter hinzu; sie ist additiv. Auch das Bundesverfassungsgericht hat bei einem Urteil Wenn das Bundeskriminalamt seine Zuständigkeit als über ein nordrhein-westfälisches Landesgesetz bestätigt: gegeben ansieht, muss es in jedem Einzelfall – so sieht Unter den engen Voraussetzungen der Eingriffe in das es § 4 a in Art. 1 des Gesetzentwurfs vor – unverzüglich Post- und Fernmeldegeheimnis ist auch die Onlinedurch- die Länder informieren und jede Maßnahme im Beneh- suchung möglich. Auch dort gilt im Übrigen der Schutz men mit den zuständigen Länderpolizeien durchführen. des Kernbereichs in derselben Weise. Das durch Online- Dass die gegenseitige Unterrichtung, die Zusammenar- durchsuchungen entstehende Material wird nach der beit, gegeben ist, ist über jeden Zweifel erhaben. Wir ha- Systematik des Gesetzentwurfs zunächst einmal durch ben das GTAZ, das im Alltag gut funktioniert. Wir haben zwei Beamte des Bundeskriminalamtes, von denen min- die gemeinsame Antiterrordatei. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18031

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble (A) Wir haben bei der Großaktion im vergangenen Jahr, Bei dieser Gelegenheit nur eine kurze Anmerkung am (C) die zu der Verhaftung der drei Tatverdächtigen im Sauer- Rande. Mir ist völlig schleierhaft, warum das BKA in land geführt hat, gesehen, dass die Sicherheitsbehörden diesem Jahr 27 Millionen Euro weniger bekommt, wenn der Länder und des Bundes – Polizeien, Bundeskrimi- es denn alle die zusätzlichen Aufgaben wahrnehmen nalamt, Verfassungsschutzbehörden von Bund und Län- soll. dern – vertrauensvoll und verlässlich zusammenarbeiten Leider reicht meine Redezeit nicht aus, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Wieso lei- Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der?) NEN]: Ja, eben! Warum ändern Sie das jetzt?) um jeden einzelnen der §§ 20 a bis 20 x in Art. 1 Ihres und dass die Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiens- Entwurfs vorzulesen und zu bewerten. Dabei müsste ten, auch internationalen Nachrichtendiensten, ebenfalls man das eigentlich einmal tun und sich jeden Vorschlag notwendig und vertrauensvoll ist. Hätten wir die Hin- auf der Zunge zergehen lassen. Ich muss allerdings vor weise von Partnerdiensten nicht bekommen, wären wir den Nebenwirkungen warnen; denn die Kost ist für je- zu dem Vorgehen gar nicht in der Lage gewesen. den, der Grundrechte achtet, unbekömmlich. Es bleibt Ich will doch noch einmal daran erinnern: Die Tatver- ein bitterer Nachgeschmack. dächtigen, die im Sauerland verhaftet wurden, hatten Ich will stattdessen aus der Begründung zitieren: 600 Liter Wasserstoffperoxid gebunkert. Dazu muss man wissen, dass 3 Liter dieses Materials vor zwei Jahren für Neben den polizeilichen Standardbefugnissen wer- den Sprengstoffanschlag auf einen Bus in London ver- den dem BKA besondere Mittel der Datenerhebung wendet worden sind, der verheerende Auswirkungen sowie die Möglichkeit der Ausschreibung zur Poli- hatte. Die 200-fache Menge dieses Materials war im zeilichen Beobachtung und der Rasterfahndung zur Sauerland gebunkert. Das war eine große Gefahr für die Verfügung gestellt. Insbesondere erhält das BKA Sicherheit unseres Landes und für die Bürgerinnen und die Befugnis zum verdeckten Eingriff in informa- Bürger, die in Deutschland leben. Die Realisierung die- tionstechnische Systeme (sog. Online-Durchsuchung). ser Gefahr ist verhindert worden. Auch erhält das BKA durch den Entwurf Befug- nisse zur Überwachung der Telekommunikation, Deswegen sage ich: Wir reden nicht von Kleinigkei- zur Erhebung von Verkehrs- und Nutzungsdaten so- ten, wir reden von einer ernsten Bedrohung. Wir sind ein wie zum Einsatz von technischen Mitteln zur Iden- sicheres Land. Unsere Sicherheitsbehörden haben jeden tifizierung und Lokalisation von Mobilfunkendge- Anspruch auf Respekt und Unterstützung. Sie haben je- räten, die auch bereits in etlichen Polizeigesetzen (B) den Anspruch darauf, per Gesetz Instrumente an die der Länder vorgesehen sind. Ebenfalls enthalten ist (D) Hand zu bekommen, damit sie zu jeder Zeit und bei je- eine Befugnis zur Wohnraumüberwachung. der Bedrohung nur im Rahmen von Verfassung und Ge- setz handeln. Genau das ist der Inhalt dieses Gesetzent- Dies ist nur die Kurzzusammenfassung der wesentlichen wurfs. Ich bitte um Zustimmung. Schwerpunkte des Gesetzentwurfs. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es ist, wie ich finde, eine beeindruckende Liste, aber neten der SPD) auch eine erschreckende Liste. ( [CDU/CSU]: Warum Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: denn erschreckend?) Das Wort hat nun Kollegin Gisela Piltz, Fraktion der Ein Best-of? Nein, eher ein Worst-of aus 16 Polizei- FDP. gesetzen (Beifall bei der FDP) ( [CDU/CSU]: Jedes Polizei- gesetz enthält das!) Gisela Piltz (FDP): – je lauter Sie werden, desto schlechter wird es – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir Liberale bekennen uns zu einem starken und effekti- (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) ven Bundeskriminalamt. Wir bedanken uns an dieser Stelle bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des und zur Krönung noch ein paar weitere Befugnisse wie BKA. Nach dem, was Sie gesagt haben, Herr Bundesin- die zur heimlichen Onlinedurchsuchung oder die zur so- nenminister, müssen wir das offensichtlich umso mehr, genannten Quellen-TKÜ. Ich habe in den letzten Tagen als sie es geschafft haben, auf einer aus Ihrer Sicht völlig verschiedentlich gehört, es sei das modernste Polizeige- unzureichenden Gesetzesgrundlage eine wirklich her- setz. Bei mir ist es nicht Mode, die Eingriffsintensität in vorragende Arbeit zu leisten. Ich glaube, das ist des Dan- die Grundrechte dadurch zu erhöhen, dass eine Kompe- kes des ganzen Parlaments wert. tenz an die andere gereiht wird. Ich hoffe, dass das auch noch abgeschwächt wird. (Beifall bei der FDP) Es ist richtig, dass Terrorismus bekämpft werden Wir wollen, dass sich die Mitarbeiter auch in Zukunft muss. Aber wenn wir Terroristen nachgeben, indem wir auf das konzentrieren, was sie können, und nicht auf das, die Freiheit einschränken, machen wir uns zu deren Er- was sie nach diesem Entwurf tun sollen. füllungsgehilfen. 18032 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Gisela Piltz (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bundesverfassungsgerichts beachten. Aber nein, ge- (C) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE rade das tun Sie nicht, Herr Innenminister. Bis zu drei GRÜNEN) Tage darf ohne richterlichen Beschluss jede Datei auf den Festplatten online kopiert werden. Dann sollen zwei Ein wehrhafter Rechtsstaat ist vonnöten, aber nicht ein BKA-Beamte prüfen, ob die Intensität der Kernbereichs- Staat mit der Lizenz zum Erstschlag auf vagen Verdacht. verletzung so gering wie möglich geblieben ist. Herr Das ist aber genau das, was Sie hier tun. Minister, ist das nicht ein bisschen so, wie wenn Sie Frö- „Die Freiheit ist ein Gut, das alle anderen Güter zu schen den Auftrag erteilen, einen Teich trockenzulegen? genießen erlaubt“ – so hat es Montesquieu formuliert. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nicht alles, Ohne Freiheit ist Sicherheit ein leeres Wort. Wegen die- was hinkt, ist ein Vergleich!) ses Gesetzentwurfs und vieler anderer Dinge, die Sie hier im Deutschen Bundestag in den letzten Jahren vor- Sie glauben doch nicht im Ernst, dass BKA-Beamte das gelegt haben, ist es aber fast nicht mehr möglich, von der unabhängig prüfen können. Das kann doch nicht Ihr Freiheit Gebrauch zu machen. Denn wir leben mittler- Ernst sein. Sie können auch nicht glauben, dass Sie da- weile in einem Staat, in dem jeder Gefahr läuft, unter mit den Vorgaben des Verfassungsgerichts Rechnung Verdacht zu geraten. Das hat auch das Bundesverfas- tragen. sungsgericht festgestellt. Sie haben selber gesagt, Sie würden für den Schutz (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Jetzt einmal des Kernbereichs sorgen. Dazu möchte ich nur sagen, eine Nummer kleiner! Was für ein Bild dieses dass das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass Landes zeichnen Sie? – Dr. Dieter Wiefelspütz es „bei dem heimlichen Zugriff auf ein informa- [SPD]: Wo leben Sie eigentlich?) tionstechnisches System praktisch unvermeidbar ist, In- formationen zur Kenntnis zu nehmen, bevor ihr Kernbe- – Lautstärke ersetzt keine Argumentation; das wissen reichsbezug bewertet werden kann“. Ich wiederhole das Sie. gerne noch einmal: „bei dem heimlichen Zugriff auf ein informationstechnisches System“. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Warum aber findet sich der nur für solche Fälle an- wendbare sogenannte zweistufige Kernbereichsschutz in Mit dem Gesetzentwurf zum BKA-Gesetz führt die Ihrem Gesetzentwurf auch bei der sogenannten Quellen- Große Koalition – ich betone: dazu gehört immer noch TKÜ? Er findet sich auch für den Lauschangriff – ausge- die SPD – rechnet für den Lauschangriff, bei dem das Verfassungs- (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Was heißt „immer gericht ganz klar gesagt hat, dass der Kernbereich ein (B) noch“?) absolutes Tabu ist. Der Kernbereichsschutz ist off limits; (D) das wissen wir alle. Sie halten sich nicht daran, und das eine Sicherheitspolitik fort, bei der jeder zum Verdächti- verstehe ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht. gen werden kann. Wenn Sie jetzt wieder protestieren, dann empfehle ich Ihnen einmal die Lektüre Ihres Ge- Ich persönlich bin jetzt sehr gespannt auf den Beitrag setzentwurfes. In sechs Artikeln wollen Sie durch Einfü- der SPD-Fraktion. Sagen Sie heute Ja oder sagen Sie gen und Ändern von knapp 40 Paragrafen das BKA zu Nein oder sagen Sie Jein – so konsequent wie in den einer Überwachungsbehörde von bislang nicht vorstell- letzten zwei Jahren zu fast allem, was in der Innenpolitik barem Ausmaß umgestalten. Dabei – das ist auch be- passiert? Ich finde es sehr spannend, Herr Kollege achtlich – schaffen Sie es, fast genauso viele Verfas- Wiefelspütz, wie Sie am Dienstag um 13 Uhr auf einer sungsgrundsätze mit Füßen zu treten. Pressekonferenz sagen können, dass Ihre Fraktion das nicht mitmacht, und um 15 Uhr genau dieselbe SPD- Es wird Sie nicht erstaunen, dass ich auf § 20 k – da Fraktion dem Gesetzentwurf einfach so zustimmt. Das geht es um die heimliche Onlinedurchsuchung – einge- müssen Sie nicht nur uns erklären, sondern auch den hen möchte. Im Februar hat das Verfassungsgericht ent- Wählerinnen und Wählern. Das ist keine konsequente schieden, dass dieses Instrument nur unter Beachtung Politik, sondern ein Schlingerkurs. hoher Hürden angewendet werden dürfe. Wir sind nach (Beifall bei der FDP und der LINKEN) wie vor der Ansicht, dass das Instrument weder erforder- lich ist, noch dass der schwerwiegende Eingriff in die Auch im Fernsehen konnte ich es heute Morgen wie- Grundrechte, der damit einhergeht, im Verhältnis zum der sehen. Sie haben gesagt, Sie sind nicht zum Abni- möglichen Nutzen steht. Das gilt vor allen Dingen, wenn cken da; Sie meinen, Sie können in der Fraktion etwas man bedenkt, dass viele Festplatten bis zu zwei Jahren in abnicken, aber nicht im Deutschen Bundestag. Auch das Polizeibehörden vor sich hinmodern, weil Personal fehlt. müssen Sie mir erklären. Ich bin gespannt auf Ihre Er- Ich finde, Sie sollten erst einmal den Personalmangel be- klärung. kämpfen, bevor Sie neue Gesetze machen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Aber wenn Sie staatlicherseits in Computersysteme einbrechen und das Privateste vom Privaten online an Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: das BKA oder demnächst vielleicht auch noch an das Das Wort hat nun Dieter Wiefelspütz, SPD-Fraktion. Bundesverwaltungsamt übermitteln wollen, dann muss es doch das Mindeste sein, dass Sie die Vorgaben des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18033

(A) Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Das ist der Anspruch. Sie können sich gerne mit intelli- (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und genten Beiträgen beteiligen, Herr Wieland; aber sie müs- Herren! Herr Minister Schäuble, es ist doch eigentüm- sen dann auch Qualität haben. lich, was denkbare Koalitionspartner Ihrer Partei oder auch unserer Partei im Deutschen Bundestag für einen Wir haben das mit eingebaut. Wir werden im Laufe Unfug erklären können. der Beratungen an der einen oder anderen Stelle viel- leicht noch Verbesserungen einfügen können. Jedes Ge- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der setz, das hier in erster Lesung beraten wird, wird im CDU/CSU) Laufe der Beratungen verändert. Das werden keine sehr grundsätzlichen Veränderungen sein – der Gesetzent- Bitte, Herr Schäuble, nehmen Sie doch einmal zur wurf ist verfassungskonform –, aber an der einen oder Kenntnis: Bei uns in der Großen Koalition ist vielleicht anderen Stelle wird es Präzisierungen geben können und die Stimmung nicht immer gut, aber die Ergebnisse stim- müssen. men, und sie sind nur zwischen uns möglich. (Gisela Piltz [FDP]: Ich wusste gar nicht, dass Ich glaube sagen zu dürfen, dass der internationale Sie sich anbiedern müssen!) Terrorismus für Deutschland natürlich ein Thema ist. Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA Wir reden heute über das wichtigste Sicherheitsgesetz sind auch eine Zäsur in der Sicherheitspolitik der Bun- in dieser Wahlperiode. Was – da stimme ich Ihnen aus- desrepublik Deutschland gewesen. Ich denke, wir haben drücklich zu, Herr Schäuble – in den vergangenen Mo- in Deutschland unseren Weg gefunden, diesen Heraus- naten durch mancherlei hektische Diskussionsbeiträge forderungen strikt rechtsstaatlich zu begegnen, von diesem und jenem (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Gisela Piltz [FDP]: Von Ihnen!) NEN]: Eben!) in diesen und jenen Reihen vielleicht nicht immer richtig mit Augenmaß wahrgenommen worden ist: Wir reden über ein ganz normales Polizeigesetz. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ohne dieses Gesetz!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So ist es! – Gisela Piltz [FDP]: Oje!) und mit Verstand. Das ist eine Linie, die schon Rot-Grün Das Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationa- begonnen hat len Terrorismus durch das Bundeskriminalamt, wie es (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) amtlich heißt, ist ein Gesetz, wie wir es in allen 16 Bun- NEN]: Eben!) (D) desländern haben. Ein vergleichbares Gesetz gibt es auch für die Bundespolizei. Deswegen ist die hier und und die wir in der jetzigen Koalition fortsetzen. dort zum Teil spektakuläre Debatte, wie ich finde, völlig überzogen. Neu an diesem Gesetz ist ausschließlich die Herr Wieland, wir in Deutschland leben in einem Onlinedurchsuchung, über die noch zu reden sein wird. außerordentlich qualifizierten Rechtsstaat. Die Vorlage, die von der Bundesregierung, von Herrn (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schäuble und Frau Zypries, erarbeitet worden ist, ist eine NEN]: Ja!) gute Vorlage. Wir haben als Abgeordnete den Anspruch, aus einer guten Vorlage, Herr Grindel, ein sehr gutes Ge- Ich kenne kein anderes Land, in dem der Grundrechte- setz zu machen. Das wird uns gelingen. Wir haben den schutz einen solch hohen Stellenwert hat wie in unserem Anspruch, das qualifizierteste Polizeigesetz zu machen, Land. Ich kenne kein anderes Land, das ein Gericht wie das es in Deutschland gibt. Diesen Anspruch werden wir das Bundesverfassungsgericht hat. Ich kenne kein Land, verwirklichen, weil wir in dieses Gesetz, Herr Stadler, das wie wir eine Vorschrift analog dem Art. 19 Abs. 4 die sehr anspruchsvolle, aber, wie ich finde, sehr wich- des Grundgesetzes hat, nach dem staatliche Maßnahmen, tige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der die die Grundrechte der Bürger verletzen, durch unab- letzten drei, vier Jahre millimetergenau übernehmen. hängige Gerichte überprüft werden können. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir haben eine hohe Qualität an Rechtsstaatlichkeit. NEN]: Das ist doch lächerlich! Noch nicht mal Es ist nie ein Streit in diesem Hause gewesen, dass auch das Onlineurteil haben Sie eins zu eins umge- Terrorismus ausschließlich mit den Mitteln des Rechts- setzt!) staates bekämpft wird. Wir führen keinen Krieg gegen Terrorismus, sondern wir begegnen Straftätern mit den – Herr Wieland, wenn Sie das nicht gelesen haben, hören Mitteln des Strafrechtes und des Polizeirechtes sowie Sie doch bitte einmal zu! Wir werden die Rechtspre- mit unabhängigen Gerichten. Das ist unser Weg in chung zum großen Lauschangriff, zur Rasterfahndung, Deutschland. zur präventiven Telefonüberwachung und zur Online- durchsuchung übernehmen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir reden heute über eine zivile Maßnahme, nämlich NEN]: Noch nicht mal zur Telekommunika- über ein Polizeigesetz, das höchsten Anforderungen ge- tionsüberwachung!) nügen wird. 18034 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Seien Sie mir bitte nicht böse, Herr Ströbele, wenn (C) Kollege Ströbele möchte eine Zwischenfrage stellen. ich sage: Ich lege großen Wert darauf, festzustellen, dass das, was wir im Jahre 2008 im Bereich der Sicherheits- politik machen, auf Fundamenten beruht, die wir unter Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Rot-Grün gelegt haben. Die Sicherheitspolitik der SPD Bitte schön, Herr Ströbele, aber möglichst lang. ist seit vielen Jahren eine Politik der Kontinuität und des (Heiterkeit bei der SPD) Augenmaßes. Das, was wir heute machen, hat Funda- mente, die vor drei, vier oder fünf Jahren gelegt wurden. Sie waren mit dabei. Manchmal haben Sie sich aber in Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE eine Nische zurückgezogen und haben den Eindruck er- GRÜNEN): weckt, als wären Sie nicht dabei. Das ist ganz typisch für Herr Kollege Wiefelspütz, Sie haben zutreffend die Sie, Herr Ströbele. Ihr Verhalten ist für mich kein Maß- Zeit der rot-grünen Koalition angesprochen. Der stab. 11. September 2001 liegt inzwischen fast sieben Jahre zurück. Brauchen wir dieses neue Gesetz, weil wir in Diese Weiterentwicklung unserer Sicherheitsarchitek- den Jahren 2004, 2005 – also unter Rot-Grün – in tur halte ich für sinnvoll und zeitgemäß. Davor muss nie- Deutschland unsicher gelebt haben? Oder was ist Neues mand Sorge und Angst haben. passiert, dass wir jetzt dieses BKA-Gesetz brauchen? Ich glaube, dass die Rechtsstaatlichkeit in Deutsch- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Zum Beispiel land in den letzten Jahrzehnten eher gewachsen ist. Ich die Erkenntnisse aus dem Sauerland!) glaube auch, dass die Freiheit in diesem Land nicht we- niger geworden ist, sondern ebenfalls gewachsen ist. Deswegen muss ich mich wirklich über manche verzer- Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): renden Absurdistan-Debatten vonseiten von Frau Piltz Lieber Herr Kollege Ströbele, wir haben in Deutsch- wundern. Sie leben nicht in Deutschland; Sie leben in land eine ausgesprochen bewährte Sicherheitsarchitek- „Absurdistan“, liebe Frau Piltz. Deswegen sind Ihre De- tur. battenbeiträge fern jeder Realität, sehr verehrte Kollegin. (Dr. Max Stadler [FDP]: Eben!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Gisela Piltz [FDP]: Aber ich bin in guter Ge- Sie ist föderal und dezentral, und sie ist nach meiner sellschaft des Bundesverfassungsgerichts, Auffassung besser als die Sicherheitsarchitektur in den Herr Wiefelspütz!) meisten Ländern. Wenn ich in den USA, in Großbritan- nien oder in Frankreich war, komme ich immer wieder Ich will noch einige wenige Sätze zur Onlinedurch- (B) (D) – ich sage das ohne Überheblichkeit – erleichtert nach suchung sagen. Wir haben den Anspruch, millimeterge- Deutschland zurück, weil wir nach meiner Auffassung nau umzusetzen, was vom Bundesverfassungsgericht im hier freier, rechtsstaatlicher und auch sicherer leben. Zusammenhang mit der Onlinedurchsuchung vorgege- Herr Ströbele, die Bürger in Berlin leben – ich sage das ben wird. Das wird gelingen; da bin ich sehr zuversicht- ohne Überheblichkeit – sicherer als die Bürger in Paris, lich. Dann wird am Schluss im Oktober ein Gesetz London oder New York. Das ist eine große Leistung un- verabschiedet werden können, das höchsten rechtsstaat- seres Landes. lichen Maßstäben gerecht wird, das die Sicherheitsarchi- tektur unseres Landes weiterentwickelt und ein Stück- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen mehr Freiheit und Sicherheit für unsere Bürger Die Möglichkeit muss aber bestehen – Herr Ströbele, bringen wird. daran haben Sie unter Rot-Grün mitgewirkt –, dass diese Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. Sicherheitsarchitektur weiterentwickelt werden kann. Wir werden hier keinen Paradigmenwechsel zulassen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Deshalb werden wir mit Augenmaß diese Architektur weiterentwickeln. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Die Föderalismusreform hat die Verfassungsänderung Winkelmeier [fraktionslos]) ermöglicht. Im Jahre 2004 haben wir darüber diskutiert. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ulla Jelpke (DIE LINKE): NEN]: Aber nicht beschlossen!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ent- wurf des BKA-Gesetzes soll angeblich der Terrorabwehr Herr Ströbele, Sie wissen, dass wir das damals gemacht dienen. Ich sage „angeblich“; denn durch die gesamte haben. Heute setzen wir die Ergebnisse um. Das ist weit sogenannte Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung weniger spektakulär, als in Diskussionen gelegentlich zieht sich wie ein roter Faden das Bestreben, Grund- gesagt wird. Es ist eine maßvolle und kluge Weiterent- rechte zu schleifen, um die allumfassende Überwachung wicklung unserer bewährten Sicherheitsarchitektur. Dass der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. wir im Bereich der Bekämpfung des Terrorismus eine Bundeszuständigkeit ergänzend haben sollten, halte ich Die Koalition will dem Bundeskriminalamt erlauben, für sinnvoll. Das ist ein SPD-Projekt gewesen. Videokameras in Privatwohnungen zu installieren und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18035

Ulla Jelpke (A) heimlich Onlinedurchsuchungen von Computern vorzu- und Klienten ihre Privatsphäre verlieren. Von der Be- (C) nehmen. Es sind eben nicht nur Terroristen, die von die- hauptung, diese Maßnahmen würden vom BKA nur sem Gesetz betroffen sind, sondern wir alle, sämtliche noch höchst selten ergriffen, lassen wir jedenfalls uns Einwohnerinnen und Einwohner dieses Landes. nicht beschwichtigen. Die Erfahrung zeigt, dass die Er- mittlungsbehörden ihre Rechte eher überplanmäßig aus- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) schöpfen. Ich erinnere daran, dass Deutschland schon Dieser Entwicklung werden wir Linke uns auf der Straße heute Weltmeister beim Abhören ist. und hier im Parlament entschieden entgegensetzen. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Meinen Sie (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert mit Ihrer Beteiligung oder ohne?) Winkelmeier [fraktionslos]) Ich betone, dass die Fraktion Die Linke nichts dage- Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach darauf gen hat, dass gegen Straftäter ermittelt wird. Wir beste- hingewiesen, dass jeder Bürger – auch ein Verdächtiger – hen aber darauf, dass die normalen rechtsstaatlichen einen Anspruch darauf hat, im Kernbereich seines Standards gelten. Wir sagen: Die bestehenden Gesetze Privatlebens von staatlichen Eingriffen verschont zu reichen aus, um gegen Täter und dringend Tatverdäch- bleiben. Von diesem Grundrecht lässt das BKA-Gesetz tige vorzugehen. Wir brauchen keine neuen Gesetze. kaum noch etwas übrig; denn wer heimlich in Wohnun- (Beifall bei der LINKEN) gen eindringt, um Videokameras in Wohn- und Schlaf- zimmern anzubringen, legt es förmlich darauf an, im Die heimlichen Spitzelmaßnahmen, die das BKA Privatleben anderer Menschen herumzuschnüffeln. Aus- durchführen soll, werden ergänzt durch den Ausbau des drücklich sollen sogenannte Kontakt- und Begleitperso- BKA zu einer nationalen Superpolizeibehörde, die im nen ausgeforscht werden, wobei diese Begriffe im Ge- Vorfeld möglicher Straftaten ermittelt. Per sogenanntem setzentwurf nicht klar und eindeutig definiert sind. Auch Selbsteintrittsrecht soll das BKA die Bürger anstelle der Personen, die in Kontakt zu Betroffenen stehen, sollen, Länderpolizeien bzw. ergänzend observieren, kontrollie- wie gesagt, in Verdacht geraten. ren, in Gewahrsam nehmen oder Platzverweise gegen sie aussprechen können. Das Gleiche gilt für die Onlinedurchsuchung. Das BKA soll Virenprogramme, sogenannte Trojaner, in Pri- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Platz- vatcomputer einschleusen können, um sämtliche Daten verweise! Das ist ja unerhört!) von Festplatten zu kopieren. Das reicht von Urlaubsfotos bis zu Liebesbriefen, von der Steuererklärung bis hin zu Was da geschaffen wird, ist eine geheim ermittelnde Staatspolizei. Das ist nun wirklich das Allerletzte, was (B) intimen Dingen. Die BKA-Beamten sollen selbst ent- (D) scheiden, was hiervon als privat zu betrachten ist, und wir brauchen können. nur im Zweifel ein Gericht einschalten. Die Kontrolleure (Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian sollen sich selbst kontrollieren. Das ist wirklich ein ab- Dressel [SPD]: Sprechen Sie lieber über die surdes Unterfangen. Ohne uns, kann ich da nur sagen. SED! Da verstehen Sie mehr von!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Ich will noch ein paar Worte zur SPD sagen, die mei- Winkelmeier [fraktionslos]) ner Meinung nach heute eine absolut lächerliche Vorstel- Bei einer normalen Hausdurchsuchung weiß der Be- lung gibt. Erst täuscht sie großmäulig vor, den Innen- troffene von der Maßnahme und kann sich juristisch da- minister Schäuble stoppen zu wollen, gibt dann aber, wie gegen wehren. Bei der heimlichen Onlinedurchsuchung so oft in ihrer Geschichte, klein bei. Dieser Gesetzent- gilt das nicht. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter wurf ist im Kabinett einstimmig beschlossen worden, Winfried Hassemer hat in der letzten Woche in der Süd- mit den Stimmen aller Minister. Jetzt hören wir, dass deutschen Zeitung Folgendes gesagt – ich zitiere –: nachgebessert werden soll. Das halte ich für ein sehr durchsichtiges, taktisches Manöver; denn es gibt bei die- Beim heimlichen Sammeln von Beweisen bin ich sem schlechten Gesetz nichts nachzubessern. nur noch Objekt. Die Betroffenen können sich oft gar nicht dagegen wehren, weil sie davon nichts (Beifall bei der LINKEN) wissen und es vielleicht nie erfahren. Sie haben Wenn es so ist, dass Terroristen unsere Demokratie keine Ahnung, was mit ihnen passiert. … Es ist gefährden, dann kann ihnen überhaupt nichts Besseres höchste Zeit für Überlegungen, wie das rechtsstaat- passieren, als dass die Bundesregierung ihnen diese Ar- lich wieder einzufangen ist. beit abnimmt, indem sie den Überwachungsstaat Schritt Doch statt die ausufernden Überwachungsgesetze für Schritt weiter ausbaut und die Demokratie in diesem wieder rechtsstaatlich einzufangen, will die Koalition sie Land selbst preisgibt. Deswegen fordern wir von der weiter ausbauen. Es soll sogar auf richterliche Genehmi- Linken: Das Gesetz muss weg. Wir werden auf jeden gungen verzichtet werden, wenn das BKA es besonders Fall dagegen stimmen. eilig hat, Wohnungen zu verwanzen. Auch Berufsgrup- Danke. pen mit besonderem Zeugnisverweigerungsrecht stehen im Visier. Journalisten, Mediziner und Rechtsanwälte (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert können abgehört, gefilmt und Opfer von Onlinedurchsu- Winkelmeier [fraktionslos] – Frank Hofmann chungen werden, sodass auch Informanten, Patienten [Volkach] [SPD]: So was von daneben!) 18036 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: aufgestellt waren und sind. Denn wenn Sie es zur Kennt- (C) Das Wort hat nun Wolfgang Wieland, Fraktion nis nähmen, müssten Sie begründen, warum wir dieses Bündnis 90/Die Grünen. neue Gesetz brauchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie bei Abgeordneten der FDP) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die erste Frage muss doch lauten: Brauchen wir dieses Gesetz? Das BKA wird nun nicht nur von dem Konzert mit den Länderpolizeien, sondern auch von der Generalbundes- (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Ja!) anwältin abgekoppelt. Hat das BKA bisher nur Däumchen gedreht und Kaffee (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Quatsch!) getrunken, Herr Kollege Hofmann? Sind uns die Terro- risten auf der Nase herumgetanzt? Hat der Bundesinnen- – Natürlich ist es so. Es ist nur noch vom Benehmen die minister, der inzwischen seit zweieinhalb Jahren im Amt Rede; da wird gar nichts notwendig sein. ist, angesichts einer riesigen Sicherheitslücke nur zuge- (Dr. Max Stadler [FDP]: So ist es!) sehen? Das hat er natürlich nicht getan. Dieses Gesetz ist aus Sicherheitsgründen so notwendig wie ein Kropf. Es Das BKA kann bestimmen, wann es informiert. Es kann schafft neue Unsicherheiten durch Überzentralisierung auch bestimmen, wann und ob es die Generalbundesan- und ein unkoordiniertes Nebeneinander von Bundespoli- wältin überhaupt informiert. zei und Länderpolizeien. (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Quatsch!) und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der – Nein, genau das ist gewollt. LINKEN – Fritz Rudolf Körper [SPD]: Keine Ahnung!) Man will sich doppelt befreien und doppelt entgren- zen. Man will ins Vorfeld. Die schlimmsten Visionen aus Vor allem schafft dieses Gesetz aber – und das ist das den 70er-Jahren, die damals noch gestoppt werden konn- Schlimme – eine neue Art von Polizei, die gleichzeitig ten, sollen jetzt umgesetzt und wahr werden. Wenn es so Ihr neuer Geheimdienst ist. kommt, ist das ein ganz trauriger Tag für die Bürger- (Dr. [FDP]: So ist es!) rechte in diesem Land. Ich rede nicht von Geheimpolizei, schon gar nicht von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – geheimer Staatspolizei – wirklich nicht. Die haben wir Klaus Uwe Benneter [SPD]: Jetzt übertreiben (B) nicht, und die werden wir auch nicht bekommen. Aber Sie aber!) (D) wir bekommen ein Bundeskriminalamt, das alles kann, Wir haben schon vieles über die Befugnisse gehört. Al- was auch das Bundesamt für Verfassungsschutz kann, les „Worst of“ – Kollegin Piltz hat es zum Teil schon aber keinerlei parlamentarischer Kontrolle unterliegt: gesagt –: Schleierfahndung, Rasterfahndung, IMSI- keine G-10-Kommission, kein Parlamentarisches Kon- Catcher, Wanze außerhalb der Wohnung und innerhalb trollgremium. Man kann sicher darüber streiten, ob diese der Wohnung, Spähangriff aus der Wohnung, staatliche Form der Kontrolle funktioniert. Der Innenausschuss Peepshow und Onlinedurchsuchungen, wobei das Urteil kann das nicht leisten. Das wissen Sie doch auch. des Bundesverfassungsgerichtes nicht einmal eins zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eins umgesetzt ist. Das alles wird kommen. und bei der FDP) Dann wird gesagt, man schütze die Berufsgeheimnis- Man bringt hier eine Monsterbehörde auf den Weg. Wir träger. Auch dies stimmt nicht. Lesen Sie § 20 c Abs. 3: werden uns noch alle die Augen reiben. Das ist meine Bei Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder sogar für das Prophezeiung. Staatsganze hat niemand mehr ein Auskunftsverweige- rungsrecht. Wir als Parlamentarier nicht, der Strafvertei- Wir hören von Präsident Ziercke und anderen immer diger nicht und der Geistliche nicht. Das ist eine Art wieder den schönen Satz: Niemand hat die Absicht, ein Gleichbehandlung im Unrecht; das ist grotesk. Sie haben deutsches FBI zu schaffen. hier tatsächlich Absurdistan auf den Tisch gelegt, Herr Kollege Wiefelspütz. (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Aber genau das wird am Ende stehen. Sie wollen, dass wir uns heute auf diesen Weg begeben. Der Bundes- Das legen Sie hier vor und sagen: Wir schaffen ja gar innenminister wäscht seine Hände in Unschuld: Ich nichts Neues. Natürlich schaffen Sie etwas Neues. Die folge doch nur einem Auftrag des Bundesverfassungsge- Kompetenzen, die die Länderpolizeien in Ausnahmefäl- richts. Das klingt, als hätte er damit gar nichts zu tun, als len, zum Beispiel bei Geiselnahmen, zum Teil haben hätten die Union und er diesen Auftrag im Rahmen der – keine Länderpolizei hat alle Kompetenzen, die hier Föderalismuskommission nicht selbst formuliert. Sie vorgeschlagen werden –, sollen jetzt die tägliche Arbeit wollen es. Sie wollen die jahrzehntealte föderale Ba- des BKA werden. Die Gefahr des internationalen Ter- lance in unserem Staat aus den Angeln heben und nicht rorismus wird – da brauche ich kein Schwarzseher zu zur Kenntnis nehmen, dass wir in diesem Bereich gut sein – die nächsten 20 Jahre bestehen. Das heißt, das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18037

Wolfgang Wieland (A) BKA wird mit diesem ganzen Instrumentarium arbeiten Dass Sie aber das, was Sie der Landespolizei in Nord- (C) können; es soll auch arbeiten. Das verändert die Polizei- rhein-Westfalen zur Bekämpfung der allgemeinen Kri- arbeit grundsätzlich. Polizei wird nicht mehr Länder- minalität zugestehen, dem Bundeskriminalamt zur Be- sache, sondern Bundessache sein. Das schafft eine völlig kämpfung des internationalen Terrorismus verweigern neue Qualität von Polizeiarbeit. wollen, das ist geradezu politisch unanständig. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat vor (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nunmehr 30 Jahren das Folgende über den damaligen Herr Kollege Ströbele, Sie haben gerade gefragt – das BKA-Präsidenten Horst Herold geschrieben – ich war keine rhetorische Frage, sondern sie war ernst ge- zitiere –: meint –: Was hat sich eigentlich von Rot-Grün zur Gro- … mutet es wie ein blutiger Treppenwitz an, daß es ßen Koalition geändert? Herr Wiefelspütz, auf diese die Polizisten sind, die als letzte an einem Großen Frage hätten Sie auch kürzer antworten können. Entwurf basteln. Sie wollen uns ein Neues Atlantis (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Oh ja! Das der allgemeinen Inneren Sicherheit bescheren, ei- stimmt!) nen sozialdemokratischen Sonnenstaat, … gelenkt und gesteuert von den allwissenden und aufgeklär- Wir haben jetzt einen Innenminister, der die Verfassung ten Hohepriestern des Orakels von Wiesbaden. ernst nimmt. Genau das hat sich geändert. Diese Vorstellung ist nicht nur makaber, sondern auch lächerlich. Wie vor ihr andere und rühmli- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der chere Menschheitsträume wird Dr. Herolds Utopie SPD: Oh! Oh! – Na ja!) … ein klägliches Ende nehmen. Die Onlinedurchsuchung ist nicht von Wolfgang Ersetzen wir Dr. Herold durch Dr. Schäuble und pro- Schäuble eingeführt worden. Die Onlinedurchsuchung phezeien: Dieser Anlauf zu einem allgegenwärtigen, all- ist vom Innenminister einer rot-grünen Bundesregierung zuständigen und allwissenden BKA wird ebenfalls ein eingeführt worden. klägliches Ende nehmen. Tun wir alles, dass es so (Dr. [FDP]: Ja! Von den kommt! Sozialdemokraten! Die waren es!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wolfgang Schäuble will sie auf eine verfassungsrecht- sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- lich sichere Grundlage stellen. Genau das hat sich geän- KEN) dert. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Guido (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Westerwelle [FDP]: Aha! Herr Schily hat also (D) Das Wort hat nun Wolfgang Bosbach, CDU/CSU- die Verfassung nicht ernst genommen!) Fraktion. Frau Kollegin Jelpke, Sie sagten, Deutschland sei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Weltmeister beim Abhören. Hier irren Sie. Wir waren neten der SPD) einmal Weltmeister beim Abhören. Diesen Staat haben wir aber Gott sei Dank abgeschafft. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst neten der SPD – Lachen bei Abgeordneten der vielleicht einige wenige Anmerkungen zu dem, was in LINKEN) der bisherigen Debatte gesagt worden ist. Frau Kollegin Piltz, das Gesetz soll Ihrer Auffassung nach das Recht Auf deutschem Boden gab es einmal einen totalitären auf einen Erstschlag aufgrund vagen Verdachts geben. Überwachungsstaat. Für die politischen Verhältnisse tru- Das ist bösartig. Sie sollten einmal das, was Sie hier kri- gen damals diejenigen die Verantwortung, die Ihre poli- tisieren, mit den Polizeigesetzen der Länder, in denen tischen Vorbilder sind und die Sie heute noch anhim- die FDP politische Verantwortung trägt, vergleichen. meln. So etwas darf sich nicht wiederholen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ein Beispiel: die akustische und optische Wohn- Es lohnt sich, auf den Kollegen Wieland einzugehen. raumüberwachung. Ist sie in Nordrhein-Westfalen zu- Wir sind politische Konkurrenten, und wir haben in vie- lässig? Selbstverständlich ist sie zulässig, len Fragen unterschiedliche Auffassungen. Aber zumin- dest bemühen Sie sich redlich, sich argumentativ mit (Gisela Piltz [FDP]: Nein! So nicht! – Dr. Max dem Grund dieses Gesetzes auseinanderzusetzen. Stadler [FDP]: Nein! Nicht in dieser Form!) (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Aber auch und zwar aus guten Gründen. Die FDP denkt auch gar nur ab und zu!) nicht daran, das zu ändern. Es ist notwendig, die Frage „Warum?“ zu stellen. Wa- (Gisela Piltz [FDP]: Das liegt übrigens an der rum? Wir dürfen die Bedrohungslage nicht dramatisie- CDU und nicht an der FDP! – Gegenruf des ren. Wir dürfen die Bedrohungslage aber auch nicht ba- Abg. Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Aha! gatellisieren. Wir haben in unserer Geschichte bereits Die Koalition ist also ein Sklavendienst!) bittere Erfahrungen mit dem Kampf gegen den Terroris- 18038 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Wolfgang Bosbach (A) mus gemacht. Aber der heutige Kampf gegen den inter- hätte überhaupt keine abschreckende Wirkung auf dieje- (C) nationalen Terrorismus unterscheidet sich fundamental nigen, die bereit sind, zu sterben, um andere zu ermor- vom Kampf gegen den RAF-Terror der 70er- und 80er- den. Deswegen ist es so wichtig – nur darum geht es bei Jahre. diesem Gesetz –, dass wir die Rechtslage der Bedro- hungslage anpassen. Dem Terroristen genügt es, einmal Ich will nur drei Punkte nennen: Erfolg zu haben, der Staat muss bei der Gefahrenabwehr Erstens. Es wird nicht selten gesagt, bislang habe der immer erfolgreich sein. Dass wir uns dabei streng an die Terrorismus einen Bogen um Deutschland geschlagen. Grenzen der Verfassung halten müssen, ist selbstver- Das ist falsch. Durch den RAF-Terror der 70er- und ständlich; darüber muss man mit uns nicht diskutieren. 80er-Jahre haben insgesamt 34 Menschen ihr Leben ver- Das Gesetz ist kein Allheilmittel; das würde der Bundes- loren. 34 Menschen sind Opfer des RAF-Terrors gewor- innenminister nie behaupten. den. Wir haben uns damals redlich bemüht, die Men- schen, die in Gefahr waren, so gut es ging zu schützen. Die Polizei braucht die notwendige personelle Aus- 34 Mal ist es uns nicht gelungen. Durch den internatio- stattung. Es kann nicht sein, dass wir der Polizei ständig nalen Terrorismus der letzten Jahre sind bereits über neue Aufgaben auferlegen und gleichzeitig Personal ab- 50 Deutsche ums Leben gekommen, unter anderem auch bauen. Deswegen hat das jedenfalls der Bund in den am 11. September 2001. Es ist schlicht falsch, zu be- letzten Jahren nicht getan, ganz im Gegenteil. Ich füge haupten, dass noch keine Deutschen Opfer dieses Ter- hinzu: Schon unter Rot-Grün ist damit begonnen wor- rors geworden sind. den, die Personalausstattung deutlich auszubauen. Zweitens. Sieben Anschläge haben wir in der Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und republik Deutschland vereiteln können, oder sie sind der SPD) fehlgeschlagen. Es ist grober Unfug, zu behaupten, dass Wir brauchen auch die notwendige technische Aus- wir dieses Gesetz nicht brauchen, da diese Zahl ja be- stattung. Ich sage jetzt etwas, bei dem der eine oder an- lege, dass wir auf der sicheren Seite sind. Manche Atten- dere die Nase rümpfen wird; aber es hilft nichts, drum tate sind nur deshalb gescheitert, weil wir pures Glück herumzureden. Wir ergreifen Maßnahmen, und natürlich hatten. Dass die geplanten Kofferbombenanschläge von kann man immer fragen: Ist das wirklich notwendig? Ein vor zwei Jahren gescheitert sind, war kein Ermittlungs- Beispiel: Wir sind alle Vielflieger. Wir kennen das alle: erfolg der Polizeibeamten, sondern das lag am hand- Wir kommen an die Personenkontrolle und sehen, wie werklichen Ungeschick der Bombenbauer. sich 80-jährige Duttträgerinnen verzweifelt an ihre (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Shampooflasche klammern, GRÜNEN]: Und was hätten wir mit diesem (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU (B) Gesetz verhindern können?) (D) und der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Das ist kein Gott sei Dank waren sie ungeschickt! Dass wir sie später Büttenrede!) gefasst haben – Stichwort: Trikot von Michael Ballack mit der Nummer 13 –, verdanken wir der Videoüberwa- wenn ihnen erklärt wird, dass sie das Shampoo nicht mit chung, also einer Maßnahme, die Sie ständig bekämp- an Bord nehmen dürfen, weil daraus möglicherweise fen. Sprengstoff hergestellt werden könnte. Gleichzeitig bringt es die zweitgrößte Industrienation der Erde nicht (Beifall bei der CDU/CSU) auf die Reihe, endlich flächendeckend abhörsicheren Digitalfunk einzuführen. Dritter Punkt. Warum ist die Lage heute eine andere als in den 70er- und 80er-Jahren? Im Visier der Terroris- (Gisela Piltz [FDP]: Genau!) ten von damals standen die Spitzen von Staat und Ge- sellschaft: Politiker, hohe Militärs und Wirtschaftsführer. Das ist ein Unding, und das werden wir dank der Bemü- Der Staat hat sich darum bemüht, sie zu schützen. Der hungen von Wolfgang Schäuble und seinem Hause noch Terror von heute hat Soft Targets, weiche Ziele, im in dieser Wahlperiode ändern. Visier, sodass die gesamte Bevölkerung in Gefahr ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Den Terroristen ist es im Grunde egal, wer ums Leben kommt. Eine möglichst große Zahl von Menschen mit Personal und Technik sind aber nicht alles: Wir brau- möglichst geringem Aufwand zu töten, das ist das Ziel. chen auch das notwendige rechtliche Instrumenta- Das macht die Abwehr dieser terroristischen Bedrohung rium. Wir wollen dem Bundeskriminalamt die Befug- natürlich wesentlich schwieriger als die Abwehr des Ter- nisse geben, die die Landespolizeibehörden schon seit rors der 70er- und 80er-Jahre. über 60 Jahren haben. Wir gehen darüber hinaus, das ist richtig, und zwar bei der Onlinedurchsuchung. Aber die Wir haben es darüber hinaus mit einem völlig neuen geltende Rechtslage ist doch geradezu kurios: Wenn ein Tätertyp zu tun. Die RAF-Terroristen wollten davon- schweres Verbrechen geschehen ist, wenn ein Anschlag kommen. Sie wollten nicht gefasst werden. Heute haben erfolgt ist und viele Opfer zu beklagen sind, dann hat das wir es mit Selbstmordattentätern zu tun. Täter, die bereit Bundeskriminalamt nach der Strafprozessordnung die sind, sich selbst zu töten, um andere zu ermorden, kann Befugnisse, die die Polizeibehörden der Länder auch ha- man nicht mit den Mitteln des Strafrechts von der Tatbe- ben. Wenn es aber darum geht, eine terroristische Gefahr gehung abhalten. Selbst die Todesstrafe – ich bin ein ent- schiedener Gegner der Todesstrafe – im Vorfeld abzuwehren, also zu verhindern, dass jemand sterben muss, darf das Bundeskriminalamt bis zur (Beifall des Abg. Hellmut Königshaus [FDP]) Stunde nichts. Wenn ein BKA-Beamter zum Zwecke der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18039

Wolfgang Bosbach (A) Gefahrenabwehr käme und sagen würde: „Herr Wieland, wir noch ein ganzes Stück von einem Überwachungs- (C) zeigen Sie mal Ihren Ausweis!“ – das ist eine der staat entfernt. 24 Eingriffsbefugnisse –, dürften Sie sagen: Zeigen Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. mir doch erst mal Ihren! Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]) (Gisela Piltz [FDP]: Das darf man sowieso sa- Unsere Polizei geht sehr zurückhaltend mit neuen gen! – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Eingriffsbefugnissen um. Wir stärken unseren Rechts- NEN) staat und wollen ihn nicht aus den Angeln heben. Unsere Wir ändern die Rechtslage nicht aus lauter Jux und Polizistinnen und Polizisten haben kein Misstrauen, son- Tollerei, sondern aufgrund von ganz konkreten Vor- dern Vertrauen und unseren Dank verdient. kommnissen der letzten Jahre. Es kommt häufig vor, Danke fürs Zuhören. dass das Bundeskriminalamt Hinweise aus dem Ausland bekommt, dass ein Attentat in Deutschland bevorsteht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir wissen häufig nicht, wo dieser Anschlag realisiert neten der SPD) werden soll. Berlin, Nordrhein-Westfalen oder Bayern, wer soll da zuständig sein? Dann muss doch unser größ- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tes Kriminalamt in der Lage sein – es rechtlich dürfen –, Das Wort hat nun Max Stadler von der FDP-Fraktion. diese Gefahr abzuwehren. Darum geht es. Es geht nicht darum, ein deutsches FBI zu schaffen, bei dem der (Beifall bei der FDP) BKA-Beamte, wenn er am Tatort eintrifft, den örtlichen Polizisten beiseiteschiebt, den Fall an sich zieht und am Dr. Max Stadler (FDP): Ende – das wissen wir aus den einschlägigen amerikani- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- schen Spielfilmen – der Täter ohnehin vom Dorfsheriff ren! Der Streit zwischen der CDU/CSU und der SPD um überführt wird. das neue Gesetz über das Bundeskriminalamt ist ein deutliches Zeichen für die Handlungsunfähigkeit der (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Koalition in der Innenpolitik. NEN]: Das wird kommen!) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja, ja, das hät- Es geht darum, dass das Bundeskriminalamt dann eine ten Sie gerne!) Befugnis bekommt, wenn die Zuständigkeit eines Lan- des nicht erkennbar ist. Wo kein Bundesland zuständig Allerdings hat diese Zerstrittenheit in dem speziellen ist, kann man keine Zuständigkeit verdrängen. Ferner Fall ihr Gutes: Jeder, der sich um den Schutz der Bür- (B) soll das BKA eingreifen dürfen, wenn ein Bundesland gerrechte sorgt, muss froh sein, wenn dieser Gesetzent- (D) um Unterstützung und Hilfe bittet. wurf so am Ende nicht verabschiedet wird. In einem Punkt gehen wir darüber hinaus: bei der so- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang genannten Onlinedurchsuchung. Die Onlinedurchsu- Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) chung ist strittig. Genauso strittig war die Einführung Wir sind allerdings skeptisch, ob der in dieser Woche der akustischen Wohnraumüberwachung. Die Wortkas- neuerdings von Herrn Wiefelspütz formulierte Wider- kaden, die heute gegen die Onlinedurchsuchung ange- spruch der SPD wirklich ernst gemeint ist. Frau Justiz- führt werden, kenne ich aus der Debatte über die Einfüh- ministerin Zypries, es trifft sich gut, dass Sie der Debatte rung der akustischen Wohnraumüberwachung. hier beiwohnen; denn Sie haben in der Öffentlichkeit (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) monatelang mit Erfolg den Eindruck erweckt, als seien Sie eine entschiedene Gegnerin heimlicher Onlinedurch- Sie bejubeln zu Recht, dass wir am 4. September letzten suchungen von privaten Computern. Jetzt haben Sie im Jahres im Sauerland drei mutmaßliche Attentäter fassen Kabinett einem Gesetzentwurf zugestimmt, der genau konnten. Mann muss aber hinzufügen: dank der akusti- diese tief in die Privatsphäre eingreifende Maßnahme schen Wohnraumüberwachung, die Sie immer bekämpft beinhaltet. Daher sind wir im Zweifel darüber, ob das, haben. was die SPD macht, wirklich mehr als ein taktischer Wi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- derstand ist. neten der SPD) Herr Minister Schäuble, es geht hier keineswegs da- Als die akustische Wohnraumüberwachung eingeführt rum, wie bei einem Puzzle aus den verschiedenen Lan- wurde, hieß es, jetzt seien wir auf dem Weg in den Über- despolizeigesetzen die dort formulierten Befugnisse zu wachungsstaat, demnächst könne kein Bundesbürger einem BKA-Gesetz zusammenzufügen, sodass das mehr sicher sein vor den Mikrofonen des Staates. Ganze nur eine Sammlung ohnehin bestehender Normen auf Bundesebene wäre. Es geht vielmehr um eine grund- Mittlerweile haben wir fast zehn Jahre Erfahrung. In sätzliche Änderung des Sicherheitssystems, und zwar den ersten drei Jahren – vor der einschlägigen Entschei- in einer Weise, die wir als FDP entschieden ablehnen. dung des Bundesverfassungsgerichts über den Kernbe- (Beifall bei der FDP) reich – gab es im Schnitt 27 akustische Wohnraumüber- wachungen. 2005 gab es sechs Überwachungen, 2006 Ich nenne Ihnen auch die Hauptgründe. Man könnte waren es zwei. Ich sage Ihnen: Mit zwei Wohnraumüber- ja über viele Punkte sprechen. Frau Piltz hat unsere Kri- wachungen im Jahr bei 46 Millionen Haushalten sind tik an der heimlichen Onlinedurchsuchung zu Recht 18040 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Dr. Max Stadler (A) schon erwähnt. Ich will mich hier jetzt auf drei Kernge- Ich nenne drittens noch ein kleines, aber markantes (C) sichtspunkte beschränken: Beispiel, wie Sie mit den Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger umgehen. Wenn gegen eine Person heimlich Erstens. Die Polizei ist im Grundgesetz aus gutem vorgegangen und in die Grundrechte eingegriffen wird Grunde als Ländersache definiert. Mit diesem Gesetz- – das betrifft nicht nur Verdächtige, sondern auch viele entwurf wird ohne Not in die bewährte Arbeit der Lan- andere Personen –, dann kann man zumindest erwarten, deskriminalämter und der Landespolizeien eingegriffen. dass anschließend eine Benachrichtigung erfolgt, damit man sich gerichtlich zur Wehr setzen kann. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Genau!) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: So ist es!) Kompetenzstreitigkeiten und Reibungsverluste werden Nicht einmal das ist in Ihrem Gesetzentwurf sicherge- die Folge sein. Die Abgrenzungskriterien sind unscharf. stellt. Ich sage Ihnen: Das ist kein Sicherheitsgewinn, sondern (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das werden wir ein ungerechtfertigtes Misstrauen gegenüber der ausge- sicherstellen! Darauf können Sie sich verlas- zeichneten Arbeit der Landespolizeien. Das ist das, was sen!) Sie hier veranstalten. Darin liegt ein eklatanter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Grundgesetzes. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Die Länder sehen (Beifall bei der FDP) das aber anders! Sonst hätten sie nicht zuge- Die Liste der Kritikpunkte ließe sich beliebig fortset- stimmt!) zen. Ich komme zu dem Fazit: Die Koalition hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die bewährte Sicherheits- Zweitens. Durch dieses Gesetz wird eine Fülle von struktur im föderalistischen Staatsaufbau zerstört, der Grundrechtseingriffen ohne ausreichende Begrenzung keinen erheblichen Sicherheitsgewinn bringt, der aus zugelassen. Lieber Kollege Wolfgang Bosbach, das ist dem Bundeskriminalamt eine Mischform zwischen Poli- eben keine einfache Übernahme von Vorschriften, die in zei und Nachrichtendienst macht und der in Teilen offen- den Ländern entsprechend definiert sind. Wenn man et- kundig verfassungswidrig ist. Wir stimmen dem Gesetz- was genauer hinschaut, dann erkennt man, dass das BKA entwurf keinesfalls zu. Eingriffsbefugnisse erhält, für die die Voraussetzungen bei Weitem nicht so streng sind. (Beifall bei der FDP) Ich komme zum Schluss. Herr Minister Schäuble, vor (B) Ich nenne als Beispiel den sogenannten Spähangriff, (D) also die Videoüberwachung von Wohnungen. Jeder wird drei Wochen haben Sie in der Akademie für Politische ja wohl zustimmen, dass das ein immenser Eingriff in Bildung in Tutzing Ihre Vorstellungen der Sicherheits- die Privatsphäre bzw. sogar in die Intimsphäre ist. In politik dargelegt. Dort hat am selben Tag der Präsident Landespolizeigesetzen wird dafür immerhin die Abwehr des Bundesverfassungsgerichts, Professor Papier, ge- einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben ver- sprochen. Er hat seinen sehr bemerkenswerten Vortrag langt. Das ist in Ihrem Entwurf des BKA-Gesetzes ge- mit einem bekannten Zitat des Philosophen Spinoza be- rade nicht der Fall. Dies ist ein Beispiel dafür, dass Sie gonnen: „Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Frei- hier Grundrechtseingriffe zulassen und keineswegs die heit.“ Zu diesem Staatszweck leistet Ihr Gesetzentwurf bewährte Polizeirechtstradition übernehmen. keinen Beitrag. (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN und des Abg. Gert Winkelmeier Wenn man sich zugleich vor Augen führt, dass das [fraktionslos]) Bundeskriminalamt jetzt weit in den präventiven Be- reich hinein tätig werden darf – das heißt, es wird dort Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: vorbeugend tätig, wo noch gar keine konkreten Strafta- Das Wort hat nun Frank Hofmann, SPD-Fraktion. ten drohen –, und wenn man bedenkt, dass dieser Be- hörde Maßnahmen gestattet werden, die vom Typ her Frank Hofmann (Volkach) (SPD): nachrichtendienstlicher Art sind, dann kommt man eben Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe zu dem Ergebnis – das ist unsere Bewertung –: Sie Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte als zweiter Red- schaffen eine Mischform von Polizei- und Nachrichten- ner der SPD einige Punkte herausgreifen, die gerade von dienst und verstoßen damit zugleich in eklatanter Weise der Opposition angesprochen worden sind. Ich beginne gegen den bewährten Grundsatz der Trennung von Poli- mit der Frage, ob die Entwicklung einer Behörde wie zeiarbeit und nachrichtendienstlicher Arbeit. Das ist un- dem BKA nicht auch davon abhängig ist, wie sich die ser zweiter Einwand. Kriminalität entwickelt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ein Blick zurück auf die Entwicklung des BKA der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE zeigt: Im Zuge des RAF-Terrorismus in den 70er-Jahren GRÜNEN und des Abg. Gert Winkelmeier wurde 1975 eine eigene Abteilung zur Terrorismusbe- [fraktionslos]) kämpfung eingerichtet. Als in den 80er-Jahren das Dro- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18041

Frank Hofmann (Volkach) (A) genproblem unserer Gesellschaft sichtbar wurde, wurde Wir geben dem BKA die Instrumente, die es braucht, (C) 1983 der erste Verbindungsbeamte nach Thailand ge- um der terroristischen Bedrohung effektiv begegnen zu schickt. Heute haben wir fast auf der ganzen Welt Ver- können. Dabei ändern wir – davon bin ich überzeugt – bindungsbeamte. 1986 wurde die Abteilung Rauschgift- nichts an den grundsätzlichen Zuständigkeiten der Län- bekämpfung eingerichtet. derpolizeien für die Gefahrenabwehr. Diese Aufgaben- teilung im föderalen System ist für uns wichtig und Nach dem 11. September 2001 haben wir in Deutsch- wertvoll. Das BKA ist verpflichtet, darüber zu informie- land das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum einge- ren, wenn es im Bereich der Gefahrenabwehr tätig wird. richtet. Im Bundeskriminalamt entstand eine Abteilung Ansonsten möchte ich lieber auf die praktische Zusam- Internationale Koordinierung, weil die Globalisierung menarbeit zwischen den Polizeien schauen. Ich glaube, der Wirtschaft auch eine Globalisierung der Kriminalität hier hat sich in den letzten 30 Jahren sehr viel getan. nach sich gezogen hat. Meine Befürchtungen sind, dass sich Differenzen er- 2007 wurde die Antiterrordatei in Betrieb genommen. geben könnten, wenn es darum geht, wer die Ermitt- Die jetzt geplante Neuausrichtung des Bundeskriminal- lungserfolge als seine eigenen verkaufen darf. amts ist die Antwort auf die Herausforderungen und Be- drohungen durch den internationalen Terrorismus. Der (Heiterkeit des Abg. Fritz Rudolf Körper Gesetzgeber hat also schon immer die Sicherheitsarchi- [SPD]) tektur der Kriminalitätsentwicklung angepasst. Das ist Ich habe Angst, dass die Politiker eher darüber streiten, gut so. wer als Erstes in die Medien kommt, was möglicher- Die Gefahr des internationalen Terrorismus – darin weise negative Auswirkungen auf die Zusammenarbeit sind wir uns alle einig – darf nicht unterschätzt werden. der Polizeien hat. Diese Eifersüchteleien sind für eine Wenn wir seit 2001 sieben Terroranschläge in Deutsch- gedeihliche Zusammenarbeit der Polizeien eher schäd- land verhindern konnten – darunter auch die zwei ge- lich. Aber die Polizei selbst ist anders aufgestellt als in planten Kofferbombenanschläge auf die Regionalbahn- den 70er-Jahren. züge der Deutschen Bahn 2006 –, dann müssen wir Ich kenne die Befürchtungen, dass es zu Doppelzu- wissen: Wir haben auch Glück gehabt. Es lag nicht nur ständigkeiten kommen könnte, weil die Länder und das daran, Herr Ströbele, dass Rot-Grün das Richtige getan BKA zuständig sind. In den 70er-Jahren kam es bei der hat, sondern wir haben auch Glück gehabt. Aber auf Schleyer-Fahndung gerade zu diesem Problem der Dop- Glück alleine will ich mich nicht verlassen. pelzuständigkeit. Wer sich mit der Geschichte des deut- schen Terrorismus beschäftigt hat, der weiß auch, dass es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten damals den sogenannten Höcherl-Bericht gab. Darin der CDU/CSU) (B) wird ausgeführt, dass die Doppelzuständigkeit zu den (D) Im Verfassungsschutzbericht 2007 wird der islamisti- bekannten Fehlern geführt hat. sche Terrorismus als eine der größten Gefahren für die (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ange- NEN]: Wie verhalten wir uns jetzt?) sehen. Wir können nicht davon ausgehen, dass das mor- gen anders ist. Der internationale Terrorismus ist im Wir sollten jetzt einmal schauen, wie das damals im Herzen Europas angekommen. Wir dürfen nicht immer Sauerland war und wie viele Polizeien da zusammenge- nur den Blick auf die USA und die Anschläge vom arbeitet haben. Herr Stadler, in den letzten 30 Jahren hat 11. September 2001 richten. Schauen Sie sich die Atten- sich die Zusammenarbeit der Polizeien sehr stark ge- tate in Madrid an. Schauen Sie sich an, was in London ändert, weil sie sich ändern musste, weil sich die Krimi- passiert ist. Daran sieht man, dass der Terrorismus in nalität weiterentwickelt hat. Die Polizeien haben dazu- Europa angekommen ist und wie schwer diese An- gelernt, sie kennen sich besser, und sie arbeiten besser schläge waren. zusammen. Sie haben auch dadurch, dass die Angehöri- gen des höheren Dienstes der Polizei gemeinsam ausge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der bildet werden, eine völlig andere Struktur als noch in CDU/CSU) den 60er- oder 70er-Jahren. Ich glaube, dass heute die Hier wurde die Frage gestellt – Herr Wieland, Sie ha- Zusammenarbeit keine Ausnahme mehr wie in den 70er- ben es angesprochen –: Braucht das BKA für diesen Be- Jahren ist, sondern tägliche Routine. Deswegen habe ich reich eine Gefahrenabwehrkompetenz? Das BKA ist keine Angst vor Doppelzuständigkeiten. zentraler Ansprechpartner für alle Polizeien des Auslan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des. Wenn ein Hinweis auf eine terroristische Gefahr aus der CDU/CSU) dem Ausland kommt, dann erreicht er zuerst das Bun- deskriminalamt. Aber die Polizei aus dem Ausland er- Was wir in diesem Bereich auch brauchen, ist eine wartet, dass das BKA dann auch handeln kann. Bis heute Evaluierung. Wir brauchen möglicherweise auch für kann das BKA nicht handeln. Jede kleine Polizeidienst- den neuen Bereich der Onlinedurchsuchung eine Eva- stelle könnte eine Personenüberprüfung oder Observa- luierung und eine Befristung. Ich bin sehr gespannt, was tion vornehmen, nicht aber das BKA. Das wollen wir die Sachverständigen, die wir meines Wissens im Sep- ändern, und zwar mit der eigenständigen Terrorabwehr- tember einladen wollen, zu diesem Bereich sagen wer- kompetenz. den. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ich komme zu den Heimlichkeiten der polizeilichen CDU/CSU) Maßnahmen. Natürlich sind diese Maßnahmen heimlich. 18042 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Frank Hofmann (Volkach) (A) Müssen sie heimlich sein oder könnte man die Durch- stellt kein Informationsverbot dar. Dort, wo man zusam- (C) suchungen auch offen durchführen? Wir sollten uns da- menarbeiten muss, müssen wir die rechtlichen Voraus- rüber im Klaren sein, dass wir dann, wenn die Polizei die setzungen schaffen. Das werden wir in diesem Fall auch Durchsuchungen offen durchführen würde, nie an die tun. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch ein Pro- Hintermänner herankämen. Es gäbe nur einzelne Er- blem ansprechen. Das ist das geeignete Verfahren im Be- folge. Wir hätten beispielsweise keine Möglichkeit, ver- reich der Onlinedurchsuchung. Schon bei den Durch- schlüsselte Festplatten zu knacken. Nur online ist es suchungen, die bereits durchgeführt werden, und zwar möglich, über die Verschlüsselung hinwegzukommen nicht online, muss die Polizei den Kernbereichsschutz und Informationen zu erhalten. Deswegen ist es wichtig, gewährleisten. Das macht sie mit eigenen Mitteln. Das dass wir Onlinedurchsuchungen erlauben. Bundesverfassungsgericht sagt, dass wir hierfür ein ge- eignetes Verfahren brauchen. Ich habe das Bundeskrimi- Trotz der Heimlichkeit solcher Durchsuchungen gibt nalamt gefragt, wie das Gesetz gestaltet werden soll. Die es eine Benachrichtigungspflicht, damit der Bürger Antwort lautete: Wir wollen für das geeignete Verfahren weiß, dass bei ihm etwas gemacht wurde. Nun kann es einen oder mehrere Richter haben, die entscheiden, was Fälle geben, in denen verdeckte Ermittler im Einsatz kernbereichsrelevant ist oder nicht. Die Richter sagen sind und deswegen eine Benachrichtigung selbst nach dazu: So viele Leute haben wir nicht. Ich habe dann den ein, zwei Jahren noch nicht möglich ist. Darüber ent- Bundesdatenschutzbeauftragten gefragt: Herr Schaar, scheidet nach dem Gesetzentwurf ein Richter und nicht können Sie das nicht übernehmen? Er hat geantwortet: die Verwaltung selbst. Nach fünf Jahren soll die Benach- Nein, wir wollen in diesem Bereich nicht dabei sein, richtigungspflicht ganz entfallen. Dazu habe ich einen sondern quasi von oben draufschauen. Er will es also Vorschlag: In solchen Fällen müssen wir, das Parlament, auch nicht machen. darauf achten, ob das Instrument insgesamt ausgehebelt wird oder nicht. Ich möchte als Gesetzgeber wissen, wie die Benachrichtigung erfolgt ist. Darüber sollten wir dis- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: kutieren; denn Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes muss Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. weiterhin Bestand haben. (Beifall bei der SPD) Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Es bleibt deshalb nichts anderes übrig – so lautet der Sie haben von Schleifen der Grundrechte, Kahlschlag Vorschlag –, als diesen Bereich mit zwei BKA-Beamten bei den Grundrechten, Überwachungsstaat, Rasterfahn- zu besetzen. Ich denke, wir können in der Sachverständi- dung, Wohnraumüberwachung und Deutschland als genanhörung hier noch wesentlich weiterkommen. Weltmeister bei der Telefonüberwachung gesprochen. (B) Wissen Sie eigentlich – das dürfte auch in der Bevölke- Insgesamt bin ich davon überzeugt: Wir sind auf ei- (D) rung weitgehend unbekannt sein –, wie viele Rasterfahn- nem guten Weg. Wir werden ein Gesetz verabschieden, dungen das BKA in den letzten zehn Jahren durchge- das der SPD-Position, Sicherheitspolitik mit Augenmaß führt hat? Ganze zwei Rasterfahndungen gab es. zu betreiben, Rechnung trägt. Wir werden nach dieser Plenardebatte die Sachverständigenanhörung vorberei- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ten und das Vorhaben im September/Oktober zu einem GRÜNEN]: Und die waren überflüssig! Die guten Abschluss bringen. haben nichts gebracht!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Dieses Instrument gibt es seit langer Zeit. Die Polizei wartet nicht darauf, dass wir ihr Instrumente zur Verfü- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gung stellen, um dann mit Heerscharen irgendwo einzu- dringen. Laut BKA, das ich gestern angerufen habe – ich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wollte es ganz genau wissen –, hat es von 2001 bis zum Das Wort hat nun Ulrich Maurer, Fraktion Die Linke. zweiten Quartal 2007 sieben Wohnraumüberwachungen durchgeführt, also im Schnitt eine Wohnraumüberwa- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert chung pro Jahr. Wie kommen Sie angesichts dessen Winkelmeier [fraktionslos]) dazu, von einem Überwachungsstaat zu reden? Ulrich Maurer (DIE LINKE): (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Es sollen doch mehr werden!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man fragt sich, welchen politischen Wirkmechanismen solche un- Stellen Sie sich einmal vor, die Polizei ginge genauso seligen Gesetze unterliegen. Ich fand die Rede des Kol- vor wie Sie bei der Beurteilung! Die Polizei muss ihre legen Wiefelspütz sehr erhellend. Er hat sie mit einer ge- Annahmen auf Tatsachen stützen, wenn sie das Recht radezu devoten politischen Liebeserklärung an die auf Gefahrenabwehr in Anspruch nehmen will. Sie hin- Adresse des Herrn Innenministers und seines Koalitions- gegen stützen sich nicht auf Tatsachen, sondern vermu- partners begonnen. Das war etwas Neues auf dem Hei- ten nur. So wie Sie darf die Polizei nicht arbeiten. ratsmarkt: Bleibt bei uns, geht nicht mit der FDP! Die zi- ckige SPD ist doch verlässlich im Umfallen, wenn es um (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten solche Eingriffe geht. – Das war die Eingangsbotschaft der CDU/CSU) des Kollegen Wiefelspütz. Das haben wir sehr wohl no- Noch eine kurze Bemerkung zum Trennungsgebot. tiert. Das ist damit vergolten worden, dass der Kollege Das Trennungsgebot ist uns weiterhin wichtig. Aber es Bosbach Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18043

Ulrich Maurer (A) SPD, ordentlich getunkt hat. Ihre Leidensfähigkeit Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) scheint grenzenlos zu sein. Das Wort hat nun Christian Ströbele, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Denken Sie an Rot-Grün!) Ich will etwas in aller Deutlichkeit ansprechen, was in dieser Debatte nicht zur Sprache gekommen ist. Sie be- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE rufen sich bei Ihren Eingriffen in die Grundrechte auf GRÜNEN): eine Bedrohungslage, die Sie wesentlich durch Ihre ei- genen außenpolitischen und militärpolitischen Fehlent- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! scheidungen herbeigeführt haben. Auch ich fange mit dem Bundesinnenminister an (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Mit wel- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert chem? Dem rot-grünen?) Winkelmeier [fraktionslos]) und frage mich: Müssen Bundesinnenminister eigentlich Das muss in diesem Kontext schon einmal angesprochen so sein, dass sie alle paar Wochen in den Deutschen werden. Das tut außer uns leider niemand. Bundestag kommen und dem Parlament die Aufgabe zu- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weisen wollen, neue Sicherheitsgesetze und Sicherheits- NEN]: Weil es falsch ist! – Zurufe von der institutionen unter Inkaufnahme der Einschränkung der CDU/CSU) Bürgerrechte einzuführen? Ist es nicht eigentlich Auf- gabe eines Bundesinnenministers, der als Verfassungs- – Das sieht die Bevölkerung etwas anders als die Mehr- minister die Aufgabe hat, die Verfassung zu wahren und heit, die sich hier versammelt hat. – Sie haben dieses zu schützen, Freiheitsrechte in diesem Land auszudeh- Land zur Kriegspartei eines asymmetrischen Krieges ge- nen und zu sichern? Hätte das Land nicht einmal einen macht. Diese Bedrohungslage, die Sie selber mit herbei- Bundesinnenminister verdient, der in den Bundestag geführt haben, ist für Sie der Anlass, um in die Verfas- kommt und sagt: Ich habe die Dutzende von Sicherheits- sung einzugreifen. Das schreibe ich Ihnen ins gesetzen der letzten Jahrzehnte evaluieren lassen und Stammbuch. eine ganze Reihe gefunden, die überflüssig und gefähr- lich sind und die nicht passen, wie zum Beispiel die Vor- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert ratsdatenspeicherung, die erst jüngst verabschiedet wor- Winkelmeier [fraktionslos] – Clemens den ist und von der man inzwischen sagen kann, dass wir Binninger [CDU/CSU]: Was war denn am durch den Telekom-Skandal etwas Neues gelernt haben, (B) 11. September?) und jetzt ändern wir etwas und tun etwas für die Bürger (D) Wenn der Herr Kollege Bosbach meint – das ist ja ein und die Freiheitsrechte, indem wir das längst überfällige beliebtes Muster –, die DDR bemühen zu müssen, dann Datenschutzgesetz neu schaffen und den Datenschutz in will ich Ihnen eines in aller entwaffnenden Offenheit sa- das Grundgesetz aufnehmen? gen: Ratio Ihrer Gesetze, die Sie hier vorlegen, ist, dass (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das hat noch der Zweck die Mittel heiligt. nicht einmal Wieland geschafft, als er Justizse- nator in Berlin war! – Gegenruf des Abg. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Quatsch!) Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Doch, es ist die Ratio Ihres Gesetzes, dass die Be- NEN]: Aber natürlich, Herr Benneter!) kämpfung des erklärten Staatsfeindes die Reduzierung Das Land hat einen solchen Bundesinnenminister ver- der Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger erlaubt. dient und nicht einen Bundesinnenminister, der seine Da befinden Sie sich in einer unseligen deutsch-deut- Aufgabe immer nur in der Einschränkung von Freiheits- schen Tradition, von der wir uns gelöst haben. – rechten sieht. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Winkelmeier [fraktionslos] – Lachen bei der sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktions- CDU/CSU – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ los] – [BÜND- CSU]: Da klatscht die SED aber!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin ja für eine Ministerin!) – Sie befinden sich genau in dieser Tradition. – Es war eine bewusste Entscheidung der Mütter und Väter des Dieser Bundesinnenminister bringt uns eine Flut von Grundgesetzes, es war eine Lehre aus der deutschen Ge- immer neuen Gesetzen. schichte, eine föderale Polizei haben zu wollen, nicht ha- ben zu wollen den Einsatz der Bundeswehr im Innern, (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Stimmt nicht haben zu wollen eine zentralisierte Staatspolizei. doch gar nicht!) Diese Richtungsentscheidung, die aus der deutschen Ge- Heute ist es das BKA-Gesetz, und wie ich höre, befindet schichte resultiert, bringen Sie heute Schritt für Schritt sich ein Gesetzentwurf zum Bundesamt für Verfassungs- zu Fall. Das sind verfassungsgefährdende Bestrebungen. schutz in der Pipeline. Es wird immer so weitergehen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Die entscheidende Frage ist, ob eine Notwendigkeit Winkelmeier [fraktionslos]) für diese Einschränkung der Bürgerrechte, für mehr 18044 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Hans-Christian Ströbele (A) Sicherheitsgesetze besteht. Drei Kollegen – insbeson- BKA-Gesetzes zu Recht scharfe Kritik formuliert. Da (C) dere von der SPD, aber auch Herr Bosbach – haben sich war die Rede von „Ignoranz gegenüber den Grundrech- bemüht, in diesem Zusammenhang Beispiele zu bringen. ten“, einem „deutschen FBI“, der „totalen Überwa- Sie haben gesagt – und da ist ja etwas Richtiges dran –, chung“, einem „schwarzen Tag für die Menschen- zumindest einmal scheint ein Anschlag nur deshalb nicht rechte“, einem „Tabubruch“ und einem „Sammelsurium stattgefunden zu haben weil – ich sage das ganz vorsich- der Grausamkeiten“. tig – wir Glück gehabt haben. Aber, Herr Bosbach und Herr Hofmann, Sie machen den zweiten Schritt nicht. Diese Äußerungen stammten nicht ausschließlich von Nehmen Sie doch einmal das BKA-Gesetz: Hätten wir Oppositionspolitikern und Datenschützern; sie kamen nicht auch dann Glück haben müssen, wenn es das auch aus dem Lager der Koalition. BKA-Gesetz damals schon gegeben hätte? Der Bundesinnenminister zeigte sich jedoch vor zwei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wochen in diesem Parlament über alle Zweifel erhaben. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Einzige, was ihm während der Befragung der Bun- NEN]: Allerdings!) desregierung einfiel, war, den internationalen Terroris- mus zu beschwören. Diesmal musste er dafür herhalten, Hätte der Anschlag verhindert werden können, wenn es dass das BKA Befugnisse zur Gefahrenabwehr be- die Videoüberwachung von Wohnungen oder die On- kommt. Die gibt es aber bereits in den Ländern; sie sind linedurchsuchungen schon gegeben hätte? Auf diese also zentral gar nicht notwendig. Frage können Sie nur eine Antwort geben: Nein. Mit dem neuen BKA-Gesetz verändern Sie ohne Not (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Nein, kann die Sicherheitsstruktur dieses Landes und kreieren eine ich nicht! Ich weiß es nicht! Ich kann es nicht Superbehörde mit Machtbefugnissen, die zukünftig nur wissen!) sehr schwer demokratisch zu kontrollieren sein werden. Denn die vermutlichen Täter, die jetzt Beschuldigten, Einwände, die aus meiner Sicht absolut berechtigt sind, sind den Behörden nach dem damaligen Erkenntnisstand verunglimpfen Sie als Verunsicherung der Bevölkerung. überhaupt nicht aufgefallen. Sie standen gar nicht im Fo- Sie machen es sich sehr einfach, Herr Minister. Eigent- kus des Interesses der Behörden. lich sind Sie es, der die Menschen in diesem Land beun- ruhigt. (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Ja, weil wir keine Erkenntnismöglichkeiten hatten!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Das heißt, Sie können nicht mit einem einzigen Beispiel Kaum ein Wochenende vergeht, ohne dass Sie vor un- (B) belegen – und Sie müssten eine ganze Kaskade von Bei- sichtbarem Terror warnen. (D) spielen bringen –, dass diese erneute Einschränkung der Wie definieren Sie „Gefahren des internationalen Freiheitsrechte in Deutschland notwendig ist. Terrorismus“? Diese Frage lassen Sie in Ihren Äuße- Ich meine, der eigentliche Hintergrund dieses Gesetz- rungen unbeantwortet, und sie bleibt auch in diesem Ge- entwurfs ist eine Philosophie, die wir allerdings nicht setzentwurf offen. Die Gefahren sind abstrakt; aber das teilen: nämlich dass der Staat über die Bürger möglichst BKA-Gesetz erlaubt konkrete Maßnahmen. Mir ist in viel, am besten alles wissen soll, damit er möglichst im den letzten Monaten immer deutlicher geworden, wes- Vorhinein ein abweichendes Verhalten einschätzen und halb Ihre Sicherheitsstrategien immer größeren Wider- dann eingreifen kann. Wir wollen einen Staat, der das stand entfachen. Selbstbestimmungsrecht und nicht das Fremdbestim- Ihrer vermeintlichen Sicherheitsarchitektur fehlt jeg- mungsrecht der Bürgerinnen und Bürger schützt. liches – zumindest für die Öffentlichkeit sichtbares – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fundament. Ihre geschürte Angst vor dem sogenannten und bei der LINKEN sowie des Abg. Gert internationalen Terrorismus entbehrt derzeit einer wirk- Winkelmeier [fraktionslos] – Gisela Piltz lich konkreten Grundlage. Es scheint vielmehr, als woll- [FDP]: Das ist aber neu bei den Grünen!) ten Sie sich in einer ganz anderen Rolle sehen. Was schert Sie Ihre Verantwortung als deutscher Verfassungs- Wir wollen Gesetze, die garantieren, dass die Bürge- minister? Sie wären doch viel lieber der deutsche Hei- rinnen und Bürger auch in Bezug auf Informationen über matschutzminister. sich selbst in erster Linie selbst entscheiden können – und nicht der Staat. Gerade weil Sie konkrete Kritik an diesem Gesetzent- wurf zurückweisen und Ihre Gefolgsleute in der Union (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie auf eine möglichst schnelle Verabschiedung drängen, des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) will ich einige der wesentlichen Einwände noch einmal benennen: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Gebot der Trennung zwischen Polizei und Ge- Das Wort hat nun Gert Winkelmeier. heimdiensten wird erheblich ausgehöhlt. Der Willkür werden damit Tür und Tor geöffnet. Erstmals seit dem Gert Winkelmeier (fraktionslos): Ende der NS-Diktatur werden einer Sicherheitsbehörde Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In die Kompetenzen eines Nachrichtendienstes und polizei- den letzten Wochen und Monaten haben die Kritiker des liche Befugnisse zugestanden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18045

Gert Winkelmeier (A) Völlig unverdächtige Personen werden den Überwa- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) chungsmaßnahmen ausgesetzt, ohne je davon zu erfah- Das Wort hat nun Stephan Mayer, CDU/CSU-Frak- ren und ohne sich dagegen zur Wehr setzen zu können. tion. Wurden bisher die akustischen und videotechnischen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Überwachungsmaßnahmen noch unterbrochen, wenn der Kernbereich der privaten Lebensführung betroffen Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): war, wird jetzt alles automatisch abgehört und gefilmt. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Eventuell wird erst nach Sichtung gelöscht. Das Gleiche Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die in dem heute gilt für die Bundestrojaner der Onlinedurchsuchung. in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf vorge- sehene Novellierung des BKA-Gesetzes ist die notwen- Künftig wird der Präsident des BKA befugt sein, sol- dige und längst überfällige Umsetzung der mit der che Einsätze für eine Dauer von drei Tagen zu kontrol- Föderalismusreform I geschaffenen neuen, ganz dezi- lieren, ohne einen Richter zurate ziehen zu müssen. dierten und selektiven Befugnisse des Bundes, den in- ternationalen Terrorismus zu bekämpfen. Seit dem gescheiterten NPD-Verbotsverfahren strei- ten wir über den Einsatz von V-Leuten. Dem Innenmi- Wenn es nach der Union gegangen wäre – daraus nister fällt nichts Besseres ein, als auch dem BKA den möchte ich keinen Hehl machen –, hätten wir diesen Ge- Einsatz solcher oft zweifelhafter Mittelsmänner zu ge- setzentwurf schon wesentlich früher in das gesetzgeberi- statten. Glauben Sie wirklich, Herr Minister, dass Sie auf sche Verfahren eingebracht. Es war der Wunsch des diesem Wege gerichtsverwertbare Informationen erhal- Bundesjustizministeriums und des Koalitionspartners, ten werden? erst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lan- desverfassungsschutzgesetz in Nordrhein-Westfalen ab- Die Angst vor Verbrechen wie dem am 11. September zuwarten. 2001 ist längst nicht mehr so groß wie noch vor vier oder (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das andere wäre fünf Jahren. Es sind andere Sorgen, die die Menschen in auch nicht in Ordnung gewesen! – Wolfgang diesem Land umtreiben. Der internationale Terrorismus Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ist für die Bevölkerung inzwischen ein nachgeordnetes Sonst hätten Sie Ihren Entwurf gleich um- Problem. Das sollten Sie einsehen. schreiben müssen!) Ich kann Ihnen aber noch einen nicht ganz ernst ge- Wir haben dies getan, und wir haben die Rechtsprechung meinten Tipp für eine Sicherheitslücke geben. Vor zwei des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Februar ganz (B) Tagen erreichte uns die beunruhigende Nachricht, dass dezidiert in diesen Gesetzentwurf eingearbeitet. (D) Kaffeemaschinen eines bestimmten Herstellers nicht mehr sicher seien: Hackern sei es möglich, die Einstel- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lung für die Zubereitung entscheidend zu verändern. Bei NEN]: Also war es doch nötig, zu warten!) dieser eklatanten Sicherheitslücke sollten Sie sich da- Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass die Opposi- rüber Gedanken machen, inwieweit sich der internatio- tion auch durchaus einmal überspitzt Kritik an der Re- nale Terrorismus dieses Vakuum im System zunutze ma- gierung und an der Großen Koalition übt. Aber so, meine chen kann. sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Oppo- sition, wie Sie hier auch heute wieder aufgetreten sind, (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Mann, ist ist es vollkommen unbotmäßig und in jeder Form über- der lustig! Das ist ja ein wahnsinniger Gag ge- zogen. wesen! – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Da hilft nur kalter Kaffee!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Um jetzt wieder ernst zu werden: Die sogenannte Si- Das Bild eines Überwachungsstaates oder eines Staates à cherheitsarchitektur bedroht schon längst den Kernbe- la George Orwell zu malen, in dem jeder überwacht reich der privaten Lebensgestaltung. Onlinedurchsu- wird, in dem jeder ausgespäht wird, ist vollkommen chungen, die das Recht auf Privatsphäre unterwandern, überzogen und unangebracht; es wird der tatsächlichen sind dafür das beste Beispiel. Der bisherige Vizepräsi- Bedrohungssituation auch nicht gerecht. dent des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, hat dazu treffend formuliert – ich zitiere aus der Süd- Ich habe schon darauf hingewiesen, dass wir als Bund deutschen Zeitung vom 11. Juni dieses Jahres –: die Kompetenz zur Schaffung dieses Gesetzes seit dem 1. September 2006 haben. Seit dem 1. September 2006 Der Computer ist bei vielen ein ausgelagerter Teil sind fast zwei Jahre vergangen. In diesen zwei Jahren des Körpers oder jedenfalls ein ausgelagertes Tage- hätten wir durchaus ganz unmittelbar Gegenstand von buch. Die vom Staat zu schützenden Innenräume terroristischen Angriffen werden können; nur knapp sind werden andere – aber der Mensch braucht diese In- wir dem entgangen. Der geplante Angriff der Terror- nenräume. gruppe aus dem Sauerland ist bereits erwähnt worden. Vielen Dank. Von vielen Kreisen, insbesondere leider Gottes vor al- lem auch von der Opposition ist dieses Gesetz skandali- (Beifall bei der LINKEN) siert worden 18046 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Stephan Mayer (Altötting) (A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kämpfung des internationalen Terrorismus hilft uns das (C) NEN]: Weil es ein Skandal ist!) beste repressive Strafrecht nichts, weil die insbesondere islamistisch geprägten Terroristen und potenziellen Ter- und vollkommen überzogen dargestellt worden. Wir roristen sich vom repressiven Strafrecht in keiner Weise brauchen als Bund und das BKA braucht als Bundes- abschrecken lassen. Wir brauchen für den Bereich der polizeibehörde die Kompetenz, die Gefahren des inter- Gefahrenabwehr und den präventiven Bereich Regelun- nationalen Terrorismus zu bekämpfen. gen und Befugnisse, die im Vorfeld dafür sorgen, dass es (Gisela Piltz [FDP]: Ich glaube, Sie müssen erst gar nicht zu einem Anschlag in Deutschland kommt. eher die SPD-Kollegen mitnehmen! Wir sind Herr Kollege Ströbele, natürlich ist uns allen klar, sowieso dagegen!) dass selbst nach der hoffentlich baldigen Verabschie- Diese Gefahren sind auch nicht geringer geworden. In dung dieses Gesetzes nicht mit hundertprozentiger Si- dem Gesetzentwurf wird eine wohlausgewogene und cherheit ausgeschlossen werden kann, dass Anschläge in sachgerechte Abwägung zwischen den berechtigten Deutschland verübt werden. Aber ich bin felsenfest da- Freiheitsrechten der Bürgerinnen und Bürger und den Si- von überzeugt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass terro- cherheitsansprüchen des Staates getroffen. ristische Anschläge in Deutschland verübt werden, dann weitaus geringer ist, wenn wir dem Bundeskriminalamt In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom die Befugnisse geben, die es braucht, um potenzielle An- 27. Februar ist ganz klar zum Ausdruck gekommen, dass griffe auf Deutschland zu verhindern. insbesondere die Onlinedurchsuchung rechtmäßig ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch darauf hinweisen – das halte ich für ganz entschei- NEN]: Wenn man sie so macht, wie das Gesetz dend –, dass wir uns beim Schutz von Berufsgeheimnis- es sagt!) trägern eins zu eins an die von uns erst vor kurzem ver- Die Onlinedurchsuchung ist unter ganz strengen Bedin- abschiedeten Regelungen zur StPO gehalten haben. gungen verfassungsgemäß, und diese strengen Bedin- Berufsgeheimnisträger dürfen natürlich auch nicht abso- gungen sind entsprechend in den Gesetzentwurf eingear- lut sakrosankt sein. Wenn ein Strafverteidiger, ein Abge- beitet worden. ordneter, aber insbesondere ein Geistlicher, ein Seelsor- ger, in ein terroristisches Netzwerk mit eingebunden ist, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dann muss er auch zum Gegenstand von Überwachungs- NEN]: Sie wollten doch nicht darauf warten, maßnahmen werden können. wie Sie uns gerade erklärt haben! Sie wollten es doch ganz anders machen!) (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Uwe (B) Benneter [SPD]: Das ist doch etwas ganz an- (D) Experten gehen davon aus, dass es im Jahr maximal deres! Dann ist der darin verstrickt!) eine einstellige Anzahl von Anwendungen der Möglich- keit der Onlinedurchsuchung geben wird. Bei über – Sehr verehrter Herr Kollege Benneter, gerade die im 30 Millionen Haushalten in Deutschland ist es vollkom- Sommer 2006 versuchten Kofferbombenattentate sind men überzogen und eine Hybris, zu behaupten, dass hier doch ein Beispiel dafür, wie Terroristen erst hier in ein Überwachungsstaat aufgebaut wird, Frau Kollegin Deutschland radikalisiert wurden. Von wem wurden sie Jelpke, in dem jeder Leserbrief und jede Steuererklärung radikalisiert? Von Imamen. Ich möchte hier keine Pau- ab sofort für den Staat offenkundig ist, wenn es im Jahr schalierung vornehmen, aber es gibt in Deutschland lei- maximal eine einstellige Anwendungszahl geben wird. der Gottes Imame, die teilweise ganz bewusst hier statio- niert wurden, um willfährige Personen, zum Teil (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Jugendliche, zu radikalisieren. Der Staat darf sich doch GRÜNEN]: Aber das steht nicht im Gesetz!) gegenüber diesen Imamen, gegenüber solchen – in An- Dies ist in keiner Weise sachgerecht und wird in keiner führungszeichen – Geistlichen nicht taub stellen. Weise der tatsächlichen Bedrohungssituation gerecht. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Für die gilt das (Beifall bei der CDU/CSU) volle Strafrecht! Auch für einen katholischen Geistlichen würde das volle Strafrecht gelten! Wir haben insbesondere die strengen Vorgaben des Nicht nur für Imame!) Verfassungsgerichts eingearbeitet. Die Onlinedurchsu- chung wird nur dann zulässig sein, wenn ganz konkrete Deswegen haben wir vorgesehen, den Schutz nur sol- Gefahren für überragend wichtige Rechtsgüter vorlie- chen seelsorgerisch tätigen Geistlichen zu gewähren, die gen. Es wird einen Richtervorbehalt geben. Auch ich bin einer öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft an- der Meinung, dass die Eilfallkompetenz unerlässlich ist. gehören. Dies entspricht der Systematik und dem Zweck des Poli- Ich glaube, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzent- zeirechts. Wir bewegen uns hier auf dem Feld des Poli- wurf eine gute Grundlage für die weiteren Beratungen zeirechts und auf dem Feld der Gefahrenabwehr. im gesetzgeberischen Bereich geschaffen haben. Meiner Ob man dem von Otto Depenheuer kreierten Begriff Meinung nach sollten wir insbesondere die Finger davon des Feindstrafrechts anhängt oder nicht, eines ist klar: lassen, das Gesetz zu befristen. Es macht meines Erach- Die Gefahren des internationalen Terrorismus haben tens keinen Sinn, erst einmal zwei Jahre abzuwarten, wie ganz neue Herausforderungen für den Staat und für die das Gesetz funktioniert. Die Bekämpfung des internatio- staatlichen Sicherheitsbehörden geschaffen. Bei der Be- nalen Terrorismus wird in den nächsten zwei Jahren Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18047

Stephan Mayer (Altötting) (A) nicht zu einem Abschluss kommen. Deswegen, meine Keiner darf und will die Gefahren, die uns durch Ter- (C) lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, werden roristen drohen, kleinreden oder verharmlosen. Das sind wir die Befugnisse, die dieses Gesetz eröffnet, auch über keine Peanuts. Auch wenn die Bedrohung durch den in- die nächsten zwei Jahre hinaus noch benötigen. In dem ternationalen Terrorismus zum Glück noch relativ ab- Sinne stellt der Gesetzentwurf eine gute Grundlage für strakt ist und hoffentlich noch lange abstrakt bleibt, die weiteren Beratungen dar. Ich hoffe, dass wir diese bleibt es eine reale Bedrohung, auf die wir uns um unse- möglichst bald abschließen, um den fleißigen Beamtin- rer Freiheit willen, Herr Stadler, einstellen müssen. Wir nen und Beamten im BKA die notwendigen Befugnisse, können uns da nicht drücken. Herr Maurer, es geht hier Kompetenzen und Instrumente, die sie für ihre wichtige um unsere Werte. Dieser Bedrohung unterliegen wir Arbeit brauchen, an die Hand zu geben. nicht wegen unserer Politik, sondern weil unsere Werte angegriffen werden und wir sie verteidigen. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der CDU/CSU) CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Klaus Uwe Benneter, SPD-Frak- Kollege Benneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage tion. des Kollegen Wieland?

Klaus Uwe Benneter (SPD): Klaus Uwe Benneter (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bitte. Beim Kollegen Wieland immer. Wir schaffen mit dem BKA-Gesetz Neues in neuer Qua- lität. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank. – Herr Kollege Benneter, weil Sie die NEN]: Das kann man so sagen!) Situation des 11.09. und die Ereignisse danach anspra- Wir haben zwar schon ein BKA-Gesetz und ein Bundes- chen: Erinnere ich mich richtig, dass bei den vielen polizeigesetz, aber in der neuen Zusammenstellung stellt Maßnahmen, die dann im Bundestag beschlossen wur- dieses Gesetz schon einen Quantensprung für die Zu- den – Stichwort: Otto-Kataloge –, eine Forderung, näm- sammenfassung polizeilicher Befugnisse auf zentraler lich die nach der Initiativermittlungskompetenz des Bun- Bundesebene dar; das sei zugestanden. Denn fast alle da- deskriminalamtes, bewusst nicht umgesetzt wurde, weil (B) rin aufgenommenen polizeilichen Befugnisse betreffen Richtervereinigungen, Anwaltsvereine und Bürger- (D) Heimliches – ein in dieser Ballung schon unheimlicher rechtsorganisationen genau dies nicht wollten Instrumentenkasten. Dennoch: Wir wollten dieses Ge- setz, und wir brauchen dieses Gesetz. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Grünen auch nicht!) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Warum eigentlich?) – die Grünen sowieso nicht, die Liberalen auch nicht – und vor der Gefahr warnten, dass die Polizei dann immer Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wa- handeln könne und es im Grunde keine Eingriffsvoraus- ren es, auf deren Drängen endlich eine ausschließliche setzung mehr gebe? Das schaffen Sie jetzt. Deshalb und zentrale Zuständigkeit des Bundeskriminalamtes müssen Sie jetzt erklären und begründen – bitte tun Sie für die Abwehr von Gefahren durch den internationalen das! –, ob das heißt, dass wir von 2001 bis heute eine Terrorismus beschlossen wurde. Das steht in der Verfas- Sicherheitslücke hatten, und warum diese ganzen Er- sung; dieses muss jetzt mit Leben gefüllt und umgesetzt folge, von denen die Rede war, möglich geworden sind, werden. Um nichts anderes geht es. Nur so ist das Bun- obwohl wir all das, was heute auf dem Tisch liegt, nicht deskriminalamt in der Lage, seinem nunmehr verfas- gehabt haben. Das BKA war fleißig, hörten wir gerade. sungsmäßigen Auftrag nachzukommen und sich verfas- Wie denn eigentlich, wenn es gehindert war, zu agieren, sungsgemäß zu verhalten. wie wir gleichzeitig hören? Klären Sie das einmal auf, und sagen Sie uns, warum wir dieses Gesetz brauchen! Nach den Anschlägen des 11. September ist klar ge- worden: Die Bekämpfung des internationalen Terroris- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mus darf nicht allein in die Zuständigkeit der Länder fal- sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- len. Eine ausschließliche Länderkompetenz bringt KEN) nämlich ein verwirrendes Hin und Her mit sich, und am Ende stellt man dann doch fest, dass es am besten wäre, Klaus Uwe Benneter (SPD): das BKA mit einzuschalten. Herr Kollege Wieland, als das beschlossen wurde, waren Sie, wenn ich mich richtig Bitte stehen bleiben, Herr Kollege! erinnere, Berliner Justizsenator und müssten das eigent- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich hautnah mitbekommen haben. Im Gegensatz zu NEN]: Ja, Entschuldigung!) dem, was Sie hier ausgeführt haben, müssen Sie wissen, wie notwendig eine solche zentrale BKA-Kompetenz Vielleicht brauche ich auch ein bisschen länger, um Ih- geworden ist. nen das zu erklären. 18048 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Klaus Uwe Benneter (A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Onlinedurchsuchung eine verfassungswidrige Vorschrift (C) NEN]: Eben! Deshalb dachte ich, ich setze vorgelegt wurde. mich schon mal!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Reinhard Ihnen muss klar werden, dass es in den ganzen Ver- Grindel [CDU/CSU]: Na ja!) fahren und Ermittlungen, die seit 2001 durch die Länder- polizeien stattgefunden haben, immer wieder notwendig Wir haben verlangt, dass die Karlsruher Entscheidung war, die koordinierende und konzentrierende Funktion abgewartet wird. Wir haben durchgesetzt, dass jetzt eine des Bundeskriminalamtes – dafür haben wir ja schon Vorschrift aufgenommen wird, die den Karlsruher Vor- längst ein Bundeskriminalamt – einzusetzen. gaben entspricht. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: So ist es!) NEN]: Ja, erfolgreich!) Und wir haben klargestellt und durchgesetzt, dass es In dieser Situation hat sich herausgestellt, dass es zur kein heimliches Eindringen in Wohnungen gibt, um ei- Kompetenzabgrenzung und zur Kompetenzklarstellung nen dort befindlichen Computer zu infiltrieren. notwendig ist, dem Bundeskriminalamt hier eine klare (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kompetenz zuzuweisen. Sonst hätten wir nicht im Grundgesetz diese ausschließliche Kompetenzzuwei- Mit der Zusammenfassung eines bisher schon in sung für das Bundeskriminalamt vorgenommen. Das ist Länderpolizeigesetzen gebräuchlichen Instrumenten- der Grund. – Jetzt können Sie sich wieder setzen. sammelsuriums von heimlichen polizeilichen Maßnah- men ist mir erschrekkend klar geworden, dass Polizeiar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – beit heute offensichtlich fast immer nur verdeckt Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stattfindet, jedenfalls dann, wenn Polizei Gefahren ab- NEN]: „Kompetenz-Kompetenz“ sagte wehrt. Stoiber!) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Es kommt Wir als Gesetzgeber müssen dem Bundeskriminalamt auf die Gefahr an, Herr Kollege!) die Mittel und Möglichkeiten an die Hand geben, Herr Kollege Wieland, und die Befugnisse einräumen, damit Mein Kollege Wiefelspütz hat zwar vorhin von der be- es als jetzt zuständige Zentralpolizei die Gefahren durch währten Sicherheitsarchitektur gesprochen. Dennoch hat den internationalen Terrorismus rechtsstaatlich einwand- mich diese Tatsache erschreckt. Es stellen sich mir die frei rechtzeitig – mindestens unmittelbar, besser einen Fragen: Warum ist das so? Muss das so sein? Wollten (B) Schritt im Voraus – abwehren kann. Wir als Gesetzgeber wir nach den Erfahrungen in der Nazizeit nicht auf im- (D) haben die im Grundgesetz verankerte Schutzpflicht ge- mer verhindern, dass die Polizei zu einer Geheimpolizei genüber unseren Bürgerinnen und Bürgern. Diese Ver- werden kann? antwortung müssen wir wahrnehmen; keiner kann sie (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist eine uns abnehmen. Da können wir, Herr Stadler, nicht sagen: Rede mit einem selbsttherapeutischen Charak- Igittigitt! ter!) Deshalb gehört zu der neuen Kompetenzübertragung, Bringen uns der internationale Terrorismus oder auch die dass das BKA genau die Befugnisse erhält, die unsere organisierte Kriminalität heute dazu, unsere grundlegen- Länderpolizeien schon seit Jahrzehnten erfolgreich und den Prinzipien nach und nach über Bord zu werfen? rechtmäßig bei der Terrorabwehr anwenden, nicht schon seit 50 oder gar 60 Jahren, wie Herr Bosbach meinte, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE aber immerhin doch schon sehr lange. Herr Wieland, GRÜNEN]: Das darf nicht sein! – Ulla Jelpke auch Sie haben sie damals schon als Justizsenator in Ber- [DIE LINKE]: Warum eigentlich?) lin vorgefunden. Es ist unser Anspruch und es muss unser Anspruch (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bleiben: Im demokratischen Rechtsstaat übt im Innern NEN]: Ich war sehr zufrieden damit!) allein die Polizei das staatliche Gewaltmonopol aus. Weil dem so ist, muss im demokratischen Rechtsstaat Der Bundesinnenminister hat in seinen ursprüngli- immer auch der Grundsatz gelten: Die Polizei tritt ihren chen Entwurf aus den in den Länderpolizeigesetzen Bürgerinnen und Bürgern grundsätzlich offen gegen- längst vorhandenen heimlichen Befugnissen alles hi- über. neingepackt, was hineinzupacken war, und das Ganze sozusagen als Sahnehäubchen mit der Onlinedurchsu- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE chung garniert. GRÜNEN]: Jawohl!) (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist lecker!) Das geheime Auftreten, das geheime Vorgehen, ist nicht polizeitypisch, darf nicht polizeitypisch werden und Wir, die Sozialdemokraten im Parlament und in der muss im demokratischen Rechtsstaat immer die Aus- Regierung, und nicht Herr Schäuble waren es – das sage nahme bleiben. ich an die Adresse von Herrn Bosbach; er scheint schon gegangen zu sein –, die verhindert haben, dass dem Bun- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Manfred destag mit der ursprünglich beabsichtigten Regelung zur Zöllmer [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18049

Klaus Uwe Benneter (A) Das hat nichts mit Blauäugigkeit und Hasenherzigkeit zu immer im Auge behalten, was wir mit solchen neuen In- (C) tun. strumenten schützen und verteidigen wollen. Das sind unsere Freiheit und die mit ihr verbriefte Verfassung un- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE seres Gemeinwesens. Beides darf nicht Opfer des Ter- GRÜNEN]: Das hat mit der Verfassung zu rors, aber auch nicht Opfer der Terrorbekämpfung wer- tun!) den. Das sind Grundsätze, die wir uns immer wieder ins Ge- (Dr. Max Stadler [FDP]: So ist es!) dächtnis rufen müssen, um ein klares Bild von Regel und Ausnahme zu behalten. Denn dann hätte der Terror seine Ziele auch noch mit un- serer Hilfe erreicht. Das dürfen und das werden wir nicht Wenn wir diese Grundsätze vor Augen haben und zulassen. diese demokratische Sensibilität behalten, dann sind wir auch gefeit vor den abwegigen Ansichten eines Otto (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Depenheuer. Dieser im Gefolge des unsäglichen Carl der FDP – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das Schmitt daherfabulierende Staatsrechtler missbraucht ist ja ein enthusiastischer Beifall!) heute die Terrorgefahr, um zwischen Verfassungsrecht und Kriegsvölkerrecht einen asymmetrischen Krieg und Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: einen permanenten Ausnahmezustand zu definieren. Ein solches Kriegsgespinst soll es dann rechtfertigen, das Ich schließe die Aussprache. Militär im Innern einzusetzen und alle geltenden Verfas- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- sungsprinzipien außer Kraft zu setzen. fes auf Drucksache 16/9588 an die in der Tagesordnung Herr Schäuble, Sie beklagen sich oft, Sie seien wieder aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu einmal missverstanden worden. Wenn Sie hier klarstel- anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann len würden, dass ein Depenheuer für Sie nicht als Vor- ist die Überweisung so beschlossen. denker taugt, dann würden Sie selbst helfen, solche Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Missverständnisse künftig zu vermeiden. Tagesordnungspunkt 28 sowie Zusatzpunkt 9 auf: (Beifall bei der FDP) 28 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Erst dann könnten Sie vielleicht zu dem Verfassungs- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- bollwerk werden, zu dem Sie hier der Kollege Bosbach nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- – zu Unrecht – stilisieren wollte. ordneten Hans-Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und (B) (D) Wegen dieser weitreichenden Befugnisübertragung ist der Fraktion DIE LINKE diese Neuregelung eines der sensibelsten Gesetzesvor- haben in der laufenden Wahlperiode, eines, das uns alle Energiekosten für Privathaushalte mit gerin- vor neue Herausforderungen stellt. Wir müssen uns da- gem Einkommen sofort wirksam senken bei nichts vormachen: Viele der Ermittlungsbefugnisse, – Drucksachen 16/7745, 16/8264 – die die Länderpolizeien längst haben und längst gebrau- chen und die wir nun auf das BKA übertragen, sind mit Berichterstattung: weitreichenden Grundrechtseingriffen verbunden. Da- Abgeordnete von war schon die Rede. Das ist nicht nur bei der ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Onlinedurchsuchung so. Ich nenne in diesem Zusam- Kopp, , Dr. Karl Addicks, weite- menhang auch Telekommunikationsüberwachung, akus- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP tische und visuelle Wohnraumüberwachung, Rasterfahn- dung und Einsatz verdeckter Ermittler. Energiekosten senken – Mehr Netto für die Verbraucher Hier wird klar: Die Balance zwischen Freiheit und Si- cherheit hat sich infolge der Terrorgefahren in Richtung – Drucksache 16/9595 – Sicherheit verändert. Das sind schleichende Erosions- Überweisungsvorschlag: prozesse auch als Folge gesellschaftlicher Gleichgültig- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) keit. Aber gerade deshalb müssen wir immer wieder auf Ausschuss für Arbeit und Soziales unsere demokratischen Grundlagen pochen. Die Regel Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist offenes und transparentes staatliches Handeln. Die Über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Heimlichkeit, das Verdeckte, muss die Ausnahme blei- Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion ben; sie bedarf einer besonderen Rechtfertigung. Die Linke werden wir später namentlich abstimmen. Deshalb gilt: Alle heimlichen Grundrechtseingriffe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für verlangen, dass der Betroffene sich zumindest im Nach- die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich hinein gegen eine solche Ermittlungsmaßnahme zur höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wehr setzen kann. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Dass der Staat neue Möglichkeiten nutzt und auf neue Laurenz Meyer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Gefährdungslagen mit neuen Instrumenten reagiert, ist grundsätzlich sinnvoll und notwendig. Wir müssen dabei (Beifall bei der CDU/CSU) 18050 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Michael (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fuchs [CDU/CSU]: Das interessiert doch die Grundsätzlich sind wir der Meinung, dass staatlich ver- Linke nicht!) ordnete Energiepreise und Sozialtarife ordnungspolitisch Hier muss umgesteuert werden. Deshalb begrüße ich der falsche Weg sind, um einkommensschwachen Haus- diese Diskussion. Wir müssen die Gruppe der Menschen halten zu helfen. Wir können nicht an jeder Stelle ein- stärker unterstützen, die kein ALG II erhalten, die kein zeln anfangen, zu strukturieren. Die grundsätzliche Posi- BAföG mehr bekommen, die kein Wohngeld erhalten, tion ist, dass der soziale Ausgleich bei uns über deren Kosten der Unterkunft nicht übernommen werden, Sozialtransfers, über das Steuersystem stattfindet und die vielmehr mit täglicher Arbeit das Einkommen für nicht bei einzelnen Gütern ansetzt. ihre Kinder, ihre Familie und sich selbst erwirtschaften. Der Strompreis – wie übrigens auch andere Energie- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das sind preise – hat sich zu einer ganz erheblichen Belastung der doch keine Kommunisten! Deshalb interessiert Privathaushalte – das ist ein großes Problem – und natür- das die Linke nicht!) lich auch der mittelständischen Betriebe, der Industrie entwickelt. Jede Umschichtung, die wir innerhalb der An dieser Gruppe geht man auch mit diesem Antrag glatt Unternehmen vornehmen würden, würde sich jeweils vorbei. Ich finde, wir müssen überlegen, wie wir denen bei anderen niederschlagen. Man darf sich nichts vorma- helfen können. chen: Wenn wir die Unternehmen etwa dazu bewegen oder gar zwingen würden, die entsprechenden Tarife in Wenn wir darüber nachdenken, stoßen wir auf Maß- bestimmten Bereichen zu senken, dann würden sie in an- nahmen, zum Beispiel im Energiebereich, die nicht nur deren Bereichen steigen. Das ist aus unserer Sicht der ökonomisch, sondern auch ökologisch unsinnig sind. falsche Weg. Im Übrigen müssten wir darüber dann auch Wenn man die sicheren und funktionierenden Kern- natürlich bei Lebensmitteln oder in anderen Bereichen kraftwerke in Deutschland vorzeitig vom Netz nimmt, nachdenken, in denen die Preisentwicklung leider Gottes muss man sich nicht wundern, dass der Preis steigt. ähnlich ist wie bei Energie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- Schon der Grundgedanke ist aus unserer Sicht falsch derspruch bei der SPD und dem angelegt. Deswegen sind wir gegen diesen Ausgleich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rolf aber auch deshalb, weil wir im Bereich des Hempelmann [SPD]: Das war aber ein langer Arbeitslosengeldes II für die wirklich Bedürftigen im Anlauf!) Rahmen des Existenzminimums entsprechende Aus- – Da zeigt es sich wieder. Herr Kelber, ich will Ihnen (B) gleichsfunktionen vorgesehen haben. Stromkosten wer- und Ihren Kollegen einmal sagen: Sie dürfen nicht bei (D) den über das Arbeitslosengeld II ausgeglichen. Die jeder Gelegenheit ohne Rücksicht auf Verluste für Ent- Heizkosten werden zusätzlich ausgeglichen über die scheidungen plädieren, die die Preise erhöhen, und an- Kosten der Unterkunft. Gesetzesänderungen dazu liegen schließend so tun, als würden Sie alles tun, um die Ener- zurzeit dem Bundesrat vor. giepreise für die Verbraucher zu senken. Die soziale Ausgleichsfunktion des Staates erfolgt (Ulrich Kelber [SPD]: Als ehemaligem RWE- über Steuern, Abgaben und Sozialtransfers. Dies ist Mitarbeiter sollte Ihnen die Preisbildung ei- keine Aufgabe der Unternehmen, die in einem möglichst gentlich bekannt sein!) harten Wettbewerb untereinander stehen und stehen soll- ten. Dies gilt vor allen Dingen für den Energiebereich, in Durch Ihre Politik, durch Ihre Festlegungen verteuern dem wir noch erheblichen Nachholbedarf beim Wett- Sie die Energie für die Normalbürger und die Industrie bewerb haben. Wenn hier also Änderungsbedarf, was in unserem Land. Das ist die Wirklichkeit. den Strompreis angeht, besteht, dann müssen wir ihn (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber – das werden wir in diesem Herbst tun – etwa dann mit [SPD]: Sie wissen, dass Sie die Unwahrheit sa- berücksichtigen, wenn es um Anpassungen beim gen, oder?) Arbeitslosengeld II geht. Das wird sich ja in den Unter- suchungen niederschlagen, die zurzeit im Hinblick auf Ich will Ihnen eine Möglichkeit aufzeigen, wie wir etwaige Anpassungen angestellt werden. die ganzen Vorschläge unter einen Hut bringen können: Wenn wir die Laufzeit der Kernkraftwerke in Deutsch- Ich will ganz klar sagen – das ist meine Grundüber- land verlängern, dann wird das bei den Unternehmen zu zeugung –, dass wir uns schon wieder ausschließlich mit erheblichen Entlastungen führen. Wir sind nicht der einer Bevölkerungsgruppe beschäftigen – die ist natür- Meinung, dass sich das im Aktienkurs und in Dividen- lich betroffen –, darüber hinaus aber vergessen, dass denausschüttungen niederschlagen sollte. Lassen Sie uns nicht nur diejenigen, die Sozialtransfers erhalten, die doch einmal gemeinsam mit den Unternehmen über fol- ganz wenig haben und deshalb vom Staat unterstützt gende Möglichkeit sprechen: Wir verlängern die Lauf- werden müssen, zu leiden haben. Von dem Problem zeit der Kernkraftwerke – das betrifft die Grundlastener- „Mehr netto in der Tasche für den Verbraucher, seine Fa- gie –, und im Gegenzug erhält jeder Haushalt in unserem milie und die Kinder“ sind heute in erster Linie die ganz Land die ersten 500 Kilowattstunden Kernenergiestrom normalen Arbeitnehmerschichten betroffen. Um die zum verbilligten Grundlastpreis. kümmern wir uns allesamt in diesem Haus nach meinem Eindruck leider Gottes viel zu wenig. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Aber jeder!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18051

Laurenz Meyer (Hamm) (A) Dafür bin ich. Darüber sollten wir diskutieren. Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): (C) Ich spreche hier für meine Fraktion und vertrete (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber meine Position. Natürlich ist mir das bekannt. Weil wir [SPD]: Primitiver Lobbyismus!) nicht wollen, dass sich eine Verlängerung der Laufzeit Damit hätten wir den Vorteil weitergegeben, und alle der Kernkraftwerke ausschließlich in den Aktienkursen hätten etwas davon. Darüber können wir jederzeit disku- und in den Dividenden niederschlägt, wollen wir mit den tieren. Unternehmen zum Beispiel über die Möglichkeit reden, dass den Haushalten verbilligter Strom im Grundlastbe- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: reich angeboten wird, weil die Unternehmen diesen Strom verbilligt erzeugen können. Ob die Unternehmen Kollege Meyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der dazu nicht bereit sind? Die Unternehmen werden schon Kollegin Höhn? zu Zugeständnissen bereit sein. Es ist ökonomisch und ökologisch sinnvoll, so vorzugehen. Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Ja, sofort. Ich möchte aber den Gedanken zu Ende (Beifall bei der CDU/CSU) führen. Ich wundere mich im Übrigen darüber, wie viele überall (Ulrich Kelber [SPD]: Sie sollten sich schä- in der Welt, die ursprünglich gegen Kernenergie waren men! Primitiver Lobbyismus!) – auch aus der Fachrichtung der Grünen –, inzwischen der Meinung sind, dass wir es uns unter dem Klimage- – Was heißt hier „schämen“? Sie müssen sich schämen, sichtspunkt ökologisch überhaupt nicht leisten können, weil Sie den Leuten Sand in die Augen streuen. Wenn uns diesen Weg zu verschließen. unsere Kernkraftwerke wirklich unsicher sind, dann (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: müssen sie heute abgeschaltet werden, nicht morgen, Wer denn?) nicht übermorgen, sondern heute. Hier wird gesagt, man müsse die Strom- und Gas- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN preisaufsicht wieder einführen. Auch das ist aus unserer und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sicht falsch. Wir wollen die Preissteigerung, die in die- – Da klatschen sogar die Grünen. – Wenn die Kernkraft- sen Bereichen stattfindet, hinterher nicht auch noch werke bis 2015 laufen können, dann können sie auch bis staatlich sanktioniert dastehen lassen. Vielmehr wollen 2020 laufen. Alle in der Welt denken so. Nur ein paar wir eine scharfe Kontrolle durch das Kartellamt, so Versprengte in diesem Haus denken immer noch anders. wie wir sie jetzt beschlossen haben. Genau den Weg müssen wir gehen. Wir dürfen die Preise nicht durch den (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Staat legitimieren, sondern wir müssen kontrollieren, Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Den Koali- und zwar in der Beweislastumkehr. Das ist überaus tionspartner als „Versprengte“ zu bezeichnen!) wichtig. Ich kann – sicher in unserem gemeinsamen In- teresse – das Kartellamt nur auffordern, sich die anste- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: henden Preiserhöhungen insbesondere im Gasbereich Gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage? sehr genau anzusehen. Denn sonst wird die Legitimation für unsere Beschlüsse hier nicht vorhanden sein. Wenn Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): die Preise um etwa 25 Prozent steigen sollen, muss man genau hinschauen und sich beweisen lassen, was davon Selbstverständlich. unbedingt notwendig ist und was nicht.

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es geht auch um die Regulierung der Netzentgelte. Herr Kollege Meyer, ist Ihnen bekannt, dass es den Wir haben inzwischen 20 Prozent zugunsten der Ver- Verbrauchern nicht zugute kommt, wenn der Atomstrom braucher eingespart. Es geht um die Entflechtung von billig ist? Ist Ihnen bekannt, dass sich der Strompreis an Netz, Erzeugung und Vertrieb. Es geht um die Erleichte- der Leipziger Börse einpendelt? Ist Ihnen bekannt, dass rungen für Verbraucher beim Anbieterwechsel. Es geht das teuerste Kraftwerk momentan den Strompreis be- um Anreizregulierung und erleichterte Netzanschlüsse stimmt? Ihr Vorschlag, Kernkraftwerke länger laufen zu für neue Kraftwerke. Dazu sage ich an die Adresse der lassen, würde nur dazu führen, dass die großen Energie- Grünen – Ihre Kollegen sagen zum Teil sehr vernünftige konzerne mehr Geld in der Tasche haben. Das würde Sachen im Wirtschaftsausschuss –: Auch Sie wollen ihre Gewinne erhöhen. Ihren Vorschlag, dass sie davon mehr Wettbewerb in den Energiebereichen. etwas abgeben sollen, haben sie im Übrigen schon zu- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rückgewiesen. Ja!) (Ulrich Kelber [SPD]: Natürlich weiß er das!) Wenn Sie das wollen, Frau Höhn, wie können dann im Ist Ihnen bekannt, dass der Strompreis an der Leipziger Landesverband, zum Beispiel in meinem Wahlkreis, wo Börse gemacht wird und die Unternehmen schon gesagt ein Kohlekraftwerk von 21 Stadtwerken gebaut werden haben, dass sie auf keinen Fall einen Ausgleich zahlen soll, um mehr Wettbewerb im Erzeugungsbereich, wo es wollen? am dringendsten notwendig ist, zu schaffen, Ihre Leute dagegen sein, obwohl dadurch zusätzlicher Wettbewerb (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) entstehen würde? 18052 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Laurenz Meyer (Hamm) (A) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin der Meinung – ich will ganz umfassend auf (C) Aus guten Gründen! Aus CO2-Gründen! Weil den Kern Ihrer Frage eingehen und nicht nur auf ein- Sie da falsch investieren!) zelne Details –, dass wir uns zum Beispiel im Zusam- menhang mit der Einführung des Emissionshandels den Sie können doch nicht nur mit kleinen Öfchen Wettbe- ganzen Bereich der Steuer- und Abgabenlasten, die wir werb gegen große Kraftwerke veranstalten. Dann haben auf den Energiesektoren haben, einmal anschauen soll- Sie doch ganz unterschiedliche Wettbewerbsbedingun- ten, um herauszufinden, inwieweit es hier zu Neuord- gen und werden nie zu richtigem Wettbewerb kommen. nungen kommen muss. Wenn ich jetzt sehe, dass wir mit Deswegen müssen wir hier zusätzliche Einheiten ha- dem Instrument der Emissionszertifikate zugunsten der ben. Wir müssen auch zusätzliche unabhängige und Umwelt und des Klimas in der Zukunft noch ganz erheb- preisgünstige Kraftwerkskapazitäten schaffen. Wir lich steuern wollen, dann müssen wir diesen Steuerungs- müssen die Netze ausbauen, damit die entsprechenden punkt als Ersatz und als neue zentrale Aufgabe nehmen Wirkungen erzeugt werden können. und einen Teil der bisherigen Steuerungsfunktionen überdenken. Dazu gehören auch die Punkte, die Sie ge- Ich will Ihnen noch eines sagen: Viele bei Ihnen set- nannt haben. Sie müssen natürlich insgesamt vom Sys- zen darauf – auch das müssen wir den Verbrauchern in tem her vernünftig sein. Die Steuerungsfunktion darf Deutschland sagen –, mithilfe von Gaskraftwerken in nicht ausgehebelt werden. großer Zahl die entsprechenden Kapazitäten zur Verfü- gung stellen zu können, weil sie Kohle und Kernenergie Über die Energiepreise, die beim Verbraucher ankom- nicht wollen. Wir sind uns doch alle einig, dass der An- men – ich meine jetzt nicht die staatlich verordneten teil der regenerativen Energien bis 2020 30 Prozent be- Energiepreise –, müssen im Markt Akzente gesetzt wer- tragen soll. Aber es muss doch noch die Frage geklärt den, die zur Folge haben, dass sich die Verbraucher in ih- werden, wo die restlichen 70 Prozent herkommen sollen. rem eigenen Interesse ökonomisch und ökologisch sinn- voll verhalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Martin Zeil [FDP]: Mit anderen Worten: Bis Dieses Problem werden Sie nicht nur mithilfe von Gas- dahin passiert nichts!) kraftwerken lösen können. Ich will Sie darauf aufmerk- sam machen, dass auch das sofort zu zusätzlichen Belas- – Das ist nicht der Fall. Wir werden uns mit dem Thema tungen für die Verbraucher führt. Emissionszertifikate relativ kurzfristig beschäftigen müssen; das steht unmittelbar bevor. Darüber muss un- Vizepräsidentin : bedingt auch im Zusammenhang mit den Lösungsansät- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des zen auf europäischer Ebene diskutiert werden. (B) (D) Kollegen Zeil? Ich will an dieser Stelle hinzufügen – diese Informa- tion hat mich erst heute Morgen erreicht –: Wir müssen Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): umso dringender über diese Themen diskutieren, als Aber gerne. man sich auf europäischer Ebene Gedanken darüber macht, die aus der Versteigerung der Emissionszertifi- kate erzielten Einnahmen zunächst Brüssel zukommen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und von dort verteilen zu lassen, statt sie den nationalen Herr Kollege, bitte. Ökonomien zuzuführen, die dann die Belastungen ihrer Bürger durch Umschichtungen reduzieren könnten. Martin Zeil (FDP): Kollege Meyer, Sie haben in der Auseinandersetzung Meine Damen und Herren, ich glaube, wir dürfen es mit den Anträgen viel Nachdenkenswertes und Richtiges uns nicht so einfach machen, wie es die FDP getan hat, gesagt und darauf hingewiesen, was man nicht tun sollte. und mal eben ein paar Punkte zur Mehrwertsteuer etc. Jetzt wäre es ganz spannend, wenn Sie dem Verbraucher, isoliert aufschreiben. Mit Sicherheit ist auch die Ant- den Sie gerade angesprochen haben, sagen würden, wa- wort, die die Linke gegeben hat, nicht richtig. Das gilt, rum Sie zum Beispiel bestimmte ganz einfache Dinge was das grundsätzliche System betrifft, sowohl im Hin- nicht tun. Ich denke zum Beispiel an das Thema Pendler- blick auf die Arbeitslosengeld-II-Empfänger – darauf pauschale. Dazu liegen Vorschläge auf dem Tisch. Wa- habe ich hingewiesen – als auch für alle übrigen Bürger. rum wird in der Koalition, nachdem die Verfassungswid- Wir müssen für alle Bevölkerungsgruppen Entlastungen rigkeit ohnehin schon festgestellt worden ist, nicht schaffen. umgehend und sofort gehandelt, damit beim Bürger ein- (Martin Zeil [FDP]: Wie denn?) mal etwas ankommt? Mehr Netto für die normalen Arbeitnehmer und die Durchschnittsverdiener, Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Lieber Kollege Zeil, Ihre berechtigten Interessen im (Martin Zeil [FDP]: Ja, genau! Macht doch bayerischen Landtagswahlkampf in allen Ehren. endlich mal etwas!) (Zuruf von der FDP: Das hat er auch der CSU das ist die Aufgabe, die wir bewältigen müssen. gesagt!) (Hellmut Königshaus [FDP]: Na los! Packt es – Das ist sicher richtig. an!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18053

Laurenz Meyer (Hamm) (A) Man darf sich dabei aber nicht nur auf einzelne Gruppen Sie hat nur von Energieeffizienz und von der Förderung (C) konzentrieren und dann ökonomisch unsinnige Vor- erneuerbarer Energien gesprochen. schläge machen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Vielen Dank. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Gudrun Kopp Beides ist richtig. [FDP]: Na ja! Das war ja alles wieder einmal wie erwartet!) (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist der entschei- dende Punkt!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Aber das kann nicht alles sein. Denn wir stehen vor Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp für ernsthaften Problemen; das wissen Sie. die FDP-Fraktion. Auch der Bundeswirtschaftsminister hat dieser Tage (Beifall bei der FDP) erkannt, dass aufgrund der hohen Energiepreise große wirtschaftliche Verwerfungen einschließlich eines Rück- Gudrun Kopp (FDP): gangs unseres Wirtschaftswachstums durch den Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! anhaltend hohen Ölpreis drohen. Sollte der durchschnitt- Wir haben gerade bei Herrn Meyer gehört, dass er viel liche Ölpreis in diesem Jahr 120 Dollar pro Barrel betra- geredet, aber eigentlich nichts gesagt hat. gen, könnte uns das 1,2 Prozent unseres Wirtschafts- wachstums kosten bzw. den Verlust der entsprechenden (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Zahl von Arbeitsplätzen bedeuten. Das hängt ursäch- Abgeordneten der LINKEN und des BÜND- lich miteinander zusammen. NISSES 90/DIE GRÜNEN – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Das muss bei Ihnen ein (Ulrich Kelber [SPD]: So ist das! Richtig er- Akustikproblem sein!) kannt!) Herr Meyer, wenn ich mich recht erinnere, dann sind Sie Herr Meyer hat den Eindruck erweckt, als könne die und dann ist die Union immer noch Teil dieser Bundes- Bundesregierung, was die aktuellen Ereignisse und die regierung. 50 Prozent der Grundlaststromerzeugung weltwirtschaftlichen Verwerfungen angeht, überhaupt erfolgen in Deutschland in kerntechnischen Anlagen. nichts tun. Wenn wir die Welt verändern wollen, dann Diese Bundesregierung hat zu verantworten, dass die müssen wir allerdings bei uns selbst anfangen, die not- Kernkraftwerke in Deutschland vorzeitig abgeschaltet wendigen Veränderungen herbeiführen und die vorhan- (B) werden sollen. denen Probleme lösen. (D) (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Was? Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen Folgendes Diese Regierung?) vergegenwärtigen – ich nenne nur ein paar Zahlen, Herr Meyer –: Steuern und Abgaben machen 40 Prozent des – Diese Bundesregierung hat nicht dazu beigetragen, Strompreises aus. Beim Gas sind es 30 Prozent. Der dass dieser unsinnige Beschluss zurückgezogen wird. Liter Sprit kostet derzeit, kurz vor den Ferien, 1,60 Euro; (Beifall bei der FDP) knapp 1 Euro davon sind Steuern. Sie erwecken den Eindruck, als seien Sie in der Opposi- (Martin Zeil [FDP]: Unerhört!) tion. Nein, die Union trägt eine Mitverantwortung für diesen Unsinn. Und dann tun Sie so, als hätte diese Bundesregierung mit den Belastungen nichts zu tun! (Beifall bei der FDP) Jetzt soll die Lkw-Maut angehoben werden; das be- Aus dieser Verantwortung lassen wir Sie nicht heraus. deutet für das Speditionsgewerbe eine Mehrbelastung Natürlich wäre es richtig, die Erzeugung von Strom in von 850 Millionen Euro. kerntechnischen Anlagen weiterzuführen. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Ulrich Kelber [SPD]: Peinlich, dass Sie keine Immer noch viel zu wenig!) anderen Ideen haben!) Sie versprechen eine Teilkompensation; aber letzten Tun Sie nicht immer so, als würden Sie das, was be- Endes bleiben Mehrkosten, die die Verbraucher an der schlossen wurde, gerne ändern. Wenn dem aber so ist, Supermarktkasse zahlen. ändern Sie es! (Beifall bei der FDP – Martin Zeil [FDP]: Ab- (Laurenz Meyer [Hamm) [CDU/CSU]: Wie kassiererei!) denn? – Ulrich Kelber [SPD]: Sie zeigen alle Die Kanzlerin hat gestern verkündet, dass es für sie Anzeichen einer Strahlenkrankheit!) nicht infrage komme, dass der Staat Steuern senkt, um Ich finde es sehr interessant, dass die Bundeskanzle- die Energiepreise zu reduzieren. Das gleicht einer Politik rin in ihrer gestrigen Regierungserklärung die Kernener- der Volksverdummung. gie mit keinem Wort erwähnt hat. (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des (Ulrich Kelber [SPD]: Zu Recht!) Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE]) 18054 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Gudrun Kopp (A) In den letzten zehn Jahren sind Steuern und Abgaben um die Bürger! – Ulrich Kelber [SPD]: In (C) nämlich um mehr als 100 Prozent in die Höhe getrieben Wahrheit geht es Ihnen nur um die Energie- worden. Von 1998 bis heute sind die Belastungen bei konzerne mit Atomkraftwerken!) Strom, Gas, Sprit um 10 Milliarden Euro gewachsen. Herr Meyer, wie können Sie als Mitglied der Regie- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rungskoalition dann behaupten, Sie könnten das nicht Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des ändern? Das ist wirklich schwach. Kollegen Kurth? (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Ich finde es bezeichnend, dass Sie auf den Antrag, Gudrun Kopp (FDP): den wir vorgelegt haben, überhaupt nicht eingegangen Gerne. sind. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Doch: mit zwei Sätzen! – Ulrich Kelber [SPD]: Mehr Herr Kollege, bitte. war es auch nicht wert!) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Da waren Sie schon am Ende mit Ihrem Latein. – Wir Danke. – Frau Kopp, ist Ihnen bekannt, dass sich der haben in unserem Antrag ganz klar zum Ausdruck ge- Rohölpreis seit Anfang dieses Jahrtausends verzwölf- bracht: Die FDP möchte einen reduzierten Mehrwert- facht hat und dass wir nach der Einschätzung mancher steuersatz auf Energie – Energie ist ein Grundbedürfnis Analysten in den nächsten zwei Jahren mit einer weite- der Bevölkerung – oder, alternativ, eine Senkung der ren Verdoppelung rechnen müssen? Ökosteuer. Das ist ein sehr konkretes Anliegen. Wir ha- ben Ihnen auch Vorschläge zur Senkung der Stromsteuer Wie können Sie angesichts der epochalen Neubewer- gemacht; das macht mehr als 6 Milliarden Euro pro Jahr tungen an den Energiemärkten wegen sinkender Ölför- aus. derung zu der Schlussfolgerung kommen, dass ein ermä- ßigter Mehrwertsteuersatz einer solchen Verteuerung des Wir haben in diesem Jahr erstmals Einnahmen aus Öls wird entgegenwirken können? dem Emissionshandel, aus der Auktionierung von 10 Prozent der Emissionszertifikate. Erwartet werden (Hellmut Königshaus [FDP]: Entgegenwirken – man staune! – bis zu 1 Milliarde Euro. kann man damit in jedem Fall!) (Ulrich Kelber [SPD]: Brutto! Aber es stört ja (B) nicht!) Gudrun Kopp (FDP): (D) Ich erlaube mir als FDP-Politikerin keinerlei Vorher- Was machen Sie mit diesen Einnahmen? Wir haben be- sage, was die künftige Entwicklung des Ölpreises be- antragt, dass diese Einnahmen direkt zur Senkung der trifft. Stromsteuer verwendet werden (Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben doch den An- (Martin Zeil [FDP]: So ist es!) trag gestellt!) und weder in Brüssel landen noch in neuen Förderkate- – Ganz ruhig! – gorien dieser unsäglich agierenden Bundesregierung. Die Bundesregierung ist bei den Energiekosten der Ich habe ausdrücklich gesagt, dass sich diese Preise in größte Preistreiber. Das muss man geißeln! der Weltwirtschaft derzeit weiter nach oben entwickeln. Das ist überhaupt keine Frage. Öl und Gas werden auch (Beifall bei der FDP – Martin Zeil [FDP]: Nur in Zukunft knappe Güter sein. Wir haben allen Grund, Sprüche kommen von der Bundesregierung! diese Ressourcen möglichst zu schonen und möglichst Gemacht wird nichts!) weit weg von der Nutzung dieser Energiequellen zu Wir haben in unserem Antrag ausführlich dargestellt, kommen. Ressourcenschonung ist angesagt. wie wir uns eine Wettbewerbsförderung vorstellen: (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir möchten, dass mehr Kraftwerke gebaut werden. Wir Deshalb Preise herunter! Ein tolles Konzept!) wollen einen breiten Energiemix und keine ideologische Energiepolitik. Auch deshalb sagen wir: Wir brauchen in der nationa- len Energiepolitik und in der europäischen Energiepoli- ( [SPD]: Sie sind doch die tik ein entsprechendes Konzept, durch das wir Klima- größte Ideologin der Kernenergie!) schutz, Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit Zurückhaltung des Staates bei Steuern und Abgaben sicherstellen. Genau deshalb können wir auch nicht auf wäre die größte soziale Tat. Eine Entlastung allein der die weitere Nutzung der Kerntechnologie für die Gewin- Hartz-IV-Empfänger reicht nicht aus. Es geht uns um nung von Grundlaststrom verzichten, was Sie ja wollen. alle Bürger, gerade um diejenigen, die wenig Geld ver- Das halten wir für völlig illusorisch. Deshalb war es dienen und ohne staatliche Transfers auskommen müs- vollkommen berechtigt, dass ich das eben auch noch ein- sen. mal gesagt habe. (Beifall bei der FDP – Thomas Oppermann (Beifall bei der FDP – Bärbel Höhn [BÜND- [SPD]: Es geht Ihnen um die Kernkraft, nicht NIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Antwort!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18055

Gudrun Kopp (A) In diesem Hause gibt es nun von jeder weiteren Frak- Das nennen Sie sozial. Sie machen tatsächlich eine unso- (C) tion Vorschläge dafür, wie hier Sondertarife eingeführt ziale Energiepolitik zulasten der Bürger in diesem Land. werden sollen, um die Strompreise nach unten zu regu- (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: lieren. Es gibt zum Beispiel den Vorschlag, die ersten Sie verstehen die Zusammenhänge nicht! Das 500 kWh im Jahr pro Kopf durch die Energiekonzerne ist schlimm!) kostenlos zu vergeben. Genau das will die FDP nicht. (Ulrich Kelber [SPD]: Von wem?) Wir haben hier einen Antrag vorgelegt, mit dem eine – Von den Linken. – Das ist absolut illusorisch; denn es konkrete Entlastung der Bürger vorgesehen ist, weil wir ist doch völlig klar, dass die Kosten für solcherlei Ge- die Entwicklung nicht weiter treiben lassen können. Das, schenke an einen bestimmten Bevölkerungsteil auf die was wir in diesem Land politisch beeinflussen können, übrigen Preise umgelegt werden. Das kann überhaupt wollen wir gestalten. Wir fordern Sie auf, die Bürger nicht Sinn einer solchen Politik sein. endlich zu entlasten und nicht immer weiter an dieser Lieber Herr Kelber, auch im Vorschlagsrepertoire der Preis-, Abgaben- und Steuerschraube zu drehen. SPD befinden sich Sozialtarife. Ich schaue noch einmal besonders in Richtung der (Stephan Hilsberg [SPD]: Wir haben vernünf- Union und sage ihr: Sie können nicht weiter so agieren tige Vorschläge!) und regieren, indem Sie die Wirtschaft und die Verbrau- cher ständig weiter belasten und nicht versuchen, dies zu – Über Vernunft kann man sich kräftig streiten. ändern. Es hat doch keinen Zweck, dass Sie sich hier (Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt!) hinstellen und sagen, was Sie sich wünschen. Sie müssen hier konkretes Regierungshandeln an den Tag legen. Ich sehe in Ihrer Energiepolitik keinerlei vernünftige Ansätze. Ich meine, hier ist auch die Bundeskanzlerin in beson- derer Weise gefragt, dafür zu sorgen, dass es in Zukunft (Beifall des Abg. [FDP]) einen breiten Energiemix gibt und dass der Staat darauf Die Linken wollen verpflichtende Sozialtarife. verzichtet, durch die hohen Energiepreise weiterhin bei den Bürgern abzukassieren. (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank. Darüber kann man eigentlich gar nicht diskutieren. Da- neben wollen Sie das Verbot von Stromsperrungen und (Beifall bei der FDP) viele Dinge mehr. Das alles ist eine wirkliche Volksver- (B) dummung. Ich wiederhole es: Sie als Bundesregierung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D) müssen sich ans Portepee fassen und fragen lassen, wie Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Rolf Sie durch die Dinge, die Sie beeinflussen können, die Hempelmann. Kostenspirale nach oben aufhalten wollen. Es geht da- rum, welche zusätzlichen Lasten wir den Bürgern natio- Rolf Hempelmann (SPD): nal aufbürden. Sie müssen eine Antwort darauf haben, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- wie Sie diese Lasten in den Griff bekommen wollen. gen! Das Thema der Debatte ist ausgesprochen wichtig Sie legen ständig neue Förderprogramme auf und ver- – ich denke, das ist unumstritten – und hat uns diese Wo- längern die Geltungsdauer bestehender Fördertatbe- che schon mehrfach in anderen Zusammenhängen be- stände durch zusätzliche Gesetzgebungen immer weiter. schäftigt. Ich glaube, wir alle in diesem Hause wollen ei- Dadurch schrauben Sie die Belastungen der Bürger nen Beitrag dazu leisten, dass Energiekosten sowohl für zum Teil über Jahrzehnte nach oben. Das ist zum Schei- Privathaushalte mit geringen Einnahmen als auch für an- tern verurteilt; denn das geht gerade zulasten der Nor- dere – darin stimme ich ausdrücklich den Rednern der malbürger, die das nicht mehr bezahlen können. Union zu – gesenkt werden. Fragen Sie doch einmal die Bürger und insbesondere Es ist, denke ich, sehr suggestiv und insofern wenig Familien mit kleinen Kindern. Die können nur bedingt glaubwürdig, zu behaupten, dass diese Bundesregierung Strom sparen und haben möglicherweise nicht das Geld, und die sie tragenden Fraktionen bisher keine Beiträge sich neue Elektrogeräte zu kaufen. Das kann es doch zu diesem Thema geleistet hätten. nicht sein! (Zurufe von der FDP: Welche denn? – Jetzt (Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen gibt es ja die sind wir gespannt! – Dr. Heinrich L. Kolb Förderprogramme, die Sie ablehnen! Sie müs- [FDP]: Nennen Sie mal zwei, Herr Kollege!) sen das doch verstehen!) Zunächst einmal ist festzustellen, dass die heute vorge- legten Konzepte nicht denen entsprechen, die wir verfol- – Herr Kelber, auf der anderen Seite schlägt die Regie- gen wollen. Das gilt zum Beispiel für die Wiedereinfüh- rung dann auch noch zu und erhöht die Mehrwertsteuer, rung der Strom- und Gaspreisaufsicht, weil diese die Abgaben und die Überwälzungskosten. auch in der Vergangenheit nicht zu dem Ergebnis geführt (Ulrich Kelber [SPD]: Darüber sprechen wir hat, das Sie sich davon versprechen. Denn die Aufsicht gleich! Man muss die Zusammenhänge verste- hat letztlich nur den Vertriebskostenanteil prüfen kön- hen, Frau Kopp!) nen. Das führt dazu, dass suggeriert wird, es gäbe sozu- 18056 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Rolf Hempelmann (A) sagen ein staatliches Gütesiegel für einen bestimmten Rolf Hempelmann (SPD): (C) Preis; in Wirklichkeit hat der Staat aber aufgrund der Ich habe den Begriff Peanuts nicht benutzt; ich habe Marktsituation gar nicht die Möglichkeit dazu. noch nicht einmal von Erdnüssen gesprochen. Vielmehr habe ich gleich am Anfang festgestellt, dass das Thema Deswegen brauchen wir andere Konzepte. Dazu ge- sehr wichtig ist und dass wir gemeinsam das Ziel verfol- hört an erster Stelle, den Menschen ehrlich zu sagen, wie gen müssen, die Energiekosten für die Bürgerinnen und sich der Preis zusammensetzt. Bürger zu senken. Darauf werde ich gleich näher einge- (Hellmut Königshaus [FDP]: Ist das ein Kon- hen. zept?) Aber wer suggeriert, dass alle Kosten, die staatlich in- Es wird – gerade auch von der FDP – immer wieder da- duziert sind, überflüssig seien, täuscht die Bürger. Sie rauf hingewiesen, dass 40 Prozent des Preises von staat- haben sich doch gerade selbst dagegen gewehrt, die Bür- licher Seite verursacht sind. Dabei wird aber verschwie- ger zu täuschen. Vieles davon ist völlig unumstritten, gen, dass große Anteile davon nicht als staatliche egal in welcher Fraktion man nachfragt. Das gilt bei- Einnahmen anzusehen sind, sondern dass dafür be- spielsweise für die Anteile für erneuerbare Energien und stimmte Leistungen erbracht werden. Wenn zum Bei- Kraft-Wärme-Kopplung. Das wird von allen Fraktionen spiel Konzessionsabgaben gezahlt werden, dann verber- getragen, ebenso wie die Mehrwertsteuer. Die Höhe ist gen sich dahinter zum Beispiel Wegerechte und möglicherweise bei dem einen oder anderen strittig, aber Leistungen der Kommunen. der Sache nach kann man, denke ich, kein einzelnes Pro- dukt von der Mehrwertsteuererhebung ausnehmen. (Lachen bei Abgeordneten der FDP) Insofern bin ich dafür, die Preisbestandteile offenzu- Insofern ist es richtig, dass die Ausgaben für diese Leis- legen und den Bürger aufzuklären, wie sich der Preis zu- tungen Bestandteil des Strom- bzw. Gaspreises sind. Für sammensetzt. Ich halte das für ein berechtigtes Anliegen. andere Bestandteile wie die Mehrwertsteuer gilt, dass sie Das haben wir auch gerade im Gesetzentwurf zur Öff- auch auf andere Güter erhoben werden; insofern sind sie nung des Mess- und Zählwesens entsprechend durchge- nicht streitig. setzt. Deswegen sollte man keine Nebelkerzen werfen. Die Aufgabe ist es, Kosten zu senken, aber dafür zu Richtig ist aber: Es bleiben einige Punkte, über die man sorgen, dass die Menschen bei möglicherweise sinken- immer wieder strittig diskutieren kann und mit denen den Energieverbräuchen ihren Komfort, ihren Lebens- man sich erneut befassen kann, wenn es um die Weiter- standard halten können. Daran haben wir gearbeitet. Wir haben ein CO -Gebäudesanierungsprogramm aufge- (B) entwicklung von Instrumenten – der Emissionshandel ist 2 (D) bereits angesprochen worden – geht. Dazu müssen wir legt, mit dem Gebäude so saniert werden können, dass bereit sein, und wir sind es auch, um zu erkennen, inwie- weniger Energie verbraucht wird. Das nützt dem Klima, weit möglicherweise in Zukunft ein Teil der Belastungen entlastet aber auch die Portemonnaies der Menschen. verzichtbar ist, weil wir neue Instrumente geschaffen ha- Wir haben mit dem Integrierten Energie- und Klima- ben. programm dafür gesorgt, dass erneuerbare Energien im Bereich der Wärmeversorgung ihren Platz finden. Das heißt, dass wir mehr Unabhängigkeit von den ganz si- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: cher steigenden Öl- und Gaspreisen erreichen. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kopp? Wir haben beim Mess- und Zählwesen dafür gesorgt, dass die Menschen über intelligente Zähler in die Lage versetzt werden, ihre Verbräuche zu erkennen und zu se- Rolf Hempelmann (SPD): hen, welches die Stromfresser sind, sodass sie dann ent- Ich habe damit gerechnet. sprechend handeln können. Sie haben aber recht – das macht die Sache durchaus komplex –, dass wir dann den Menschen, die es nicht alleine schaffen, helfen müssen, Gudrun Kopp (FDP): die notwendigen Investitionen zu tätigen, um zum Bei- Es ist immer gut, wenn auch im politischen Alltag spiel stromfressende Geräte durch moderne, energiespa- Verlässlichkeit besteht. rende Geräte zu ersetzen. Auch dafür gibt es entspre- chende Töpfe, zum Beispiel Marktanreizprogramme. Herr Kollege Hempelmann, sind Sie bereit, zuzuge- Aber das kann und muss man natürlich entsprechend stehen, dass in einem durchschnittlichen Drei-Personen- ausweiten. Haushalt mit einer Stromrechnung von 62 Euro im Mo- nat allein 10 Euro davon auf die Mehrwertsteuerbelas- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tung und 6 Euro auf die Ökosteuer – sprich: Strom- steuer – zurückzuführen sind? Ich frage mich, ob man Wir wünschen uns, dass die Unternehmen hier ein dabei von Peanuts sprechen kann. Schließlich kommen Stück weit von dem Verkauf von Mengen an Kilowatt- noch viele weitere Belastungen hinzu. Sind Sie bereit, stunden wegkommen. Das ist ein veraltetes Geschäfts- damit aufzuhören, das ständig herunterzuspielen, und modell. Wir wollen, dass die Unternehmen ihr Geld ver- sich dieser Frage zu stellen? dienen, indem sie den Kunden Energiedienstleistungen mit möglichst wenig Energieverbrauch, mit wenig Kilo- (Beifall bei der FDP) wattstunden verkaufen. Das Contracting, das Bilden von Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18057

Rolf Hempelmann (A) Verträgen mit den Kunden, macht nicht nur Sinn bei Händler berichtet, dass immer mehr Kunden ihre Rech- (C) Großunternehmen als Partnern, sondern auch beim Ein- nungen für Öl über Kredite begleichen. Das ist eine be- zelkunden und bei einzelnen Haushalten. Das muss die ängstigende Entwicklung. Ziellinie sein. Ich denke, dass wir eine Reihe von Dingen Wenn man gleichzeitig hört, dass beispielsweise im- auf den Weg gebracht haben, die uns diesem Ziel ein mer mehr Haushalten der Strom abgestellt wird, weil die Stück näherbringen. Rechnungen nicht mehr bezahlt werden, dann kann man Stichwort Sozialtarife. Sicherlich ist es irreführend, das nicht mehr nur auf das Thema Angebot und Nach- wenn das Wort „Sozialtarif“ für all das benutzt wird, was frage reduzieren. Hier geht es um Menschen, Haushalte, zurzeit in den Fraktionen an Überlegungen existiert. Eltern mit Kindern. Deswegen müssen wir irgendetwas Auch das ist ein hochkomplexes Thema. In einer großen unternehmen. Fraktion wie der SPD-Fraktion ist es in der Tat so, dass (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Gedanken aus allen Richtungen zusammengetragen wer- Winkelmeier [fraktionslos]) den. Manche verdienen ganz klassisch den Begriff So- zialtarif, andere aber gehen eher in eine andere Richtung. Das Bedauerliche an dieser Debatte ist wieder einmal, dass alle in der Analyse, dass die Preise zu hoch sind, Ich kann Ihnen heute sagen, dass es von der Tendenz übereinstimmen, dass aber, wenn man die Regierungs- her in unserer Fraktion so aussieht – wir führen dazu ge- mehrheit fragt, was denn geschehen soll, keine Bereit- rade Fachgespräche mit Betroffenen –, dass die Unter- schaft erkennbar ist, sich auf irgendeine Maßnahme zu nehmen, eingeleitet zum Beispiel durch die Veränderun- einigen, es sei denn, man reduziert das auf die Tatsache, gen beim Mess- und Zählwesen, durch ihre dass nun die Entscheidung getroffen wurde – das begrü- Tarifstruktur Anreize dafür schaffen, dass tatsächlich ßen wir –, die Heizkosten beim Wohngeld zu berück- alle, nicht nur bestimmte Bürgerinnen und Bürger, spar- sichtigen. Aber das ist nur eine minimale Lösung. Wir sam mit Energie umgehen. Ein effizienter Umgang mit brauchen eine wirklich durchgreifende Lösung. Energie soll also belohnt werden. Möglich ist – das hat sich aus Gesprächen mit Unternehmen entwickelt –, dass Sie mögen mit unseren Anträgen nicht einverstanden man entweder auf die Grundgebühr verzichtet, sie senkt sein. Aber unsere Position ist – das möchte ich deutlich oder etwa die ersten 500 Kilowattstunden günstiger an- sagen –: Wenn Sie Anträge einbringen, die zu einer Ver- bietet, weil das ein Anreiz sein kann, mit Energie spar- besserung der Situation der Haushalte führen, werden sam umzugehen. wir ihnen zustimmen; denn wir sind nicht der Meinung, dass das, was wir vortragen, der Weisheit letzter Schluss (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sein muss. Wir werden dazu Vorschläge vorlegen, die der Kom- (B) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (D) plexität dieses Themas gerecht werden. Schwarz-Weiß- Winkelmeier [fraktionslos]) Malerei macht keinen Sinn. In diesem Sinne wünsche ich uns gute Beratungen. Die Anträge müssen wir leider Das gilt auch für die Anträge der FDP. Dabei möchte ich ablehnen, weil sie zu kurz greifen und der Komplexität nur auf einen Sachverhalt hinweisen. Aus Erfahrung nicht gerecht werden. wissen wir, dass steuerliche Ermäßigungen nicht unbe- dingt über die Preise weitergegeben werden. Es wäre zu Vielen Dank. klären, wie wir sicherstellen können, dass beispielsweise (Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: eine Reduktion der Mehrwertsteuer beim Endverbrau- Nicht nur nicht gerecht werden, sondern sie cher tatsächlich ankommt. Es gibt hinreichende Erfah- sind falsch!) rungen, dass das oft nicht der Fall ist. Ich sage das nur, um ein Sachargument in die Debatte einzuführen, und nicht, um Ihren Antrag abzuqualifizieren. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Für uns geht es hier auch um eine grundsätzliche Kollege Oskar Lafontaine. Frage. Was verstehen wir unter sozialer Marktwirt- schaft? Ich habe heute wieder interessante Aufsätze und (Beifall bei der LINKEN) Interviews zu diesem Thema gelesen. Ich ermutige je- den, der das Wort „soziale Marktwirtschaft“ in den Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Mund nimmt, zu sagen, was er darunter versteht. Heute Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und habe ich gelesen, dass das etwas mit Einstieg und Auf- Herren! Übereinstimmend wurde in diesem Hause fest- stieg zu tun habe. Ob damit etwas Brauchbares oder Ver- gestellt, dass die Energiepreise in den letzten Jahren da- wertbares gesagt ist, weiß ich nicht. vongelaufen sind. Die Zahlen zu Beginn dieses Jahres (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert kennen die meisten: Der Strompreis hat sich um rund Winkelmeier [fraktionslos]) 25 Prozent erhöht, die Benzinpreise um ein Drittel, und der Ölpreis hat sich verdoppelt. Ich möchte für meine Fraktion festhalten: Für uns ist eine Marktwirtschaft dann sozial, wenn sie fallende Konkret sieht das so aus, dass sich viele nicht mehr Löhne sowie Monopol- bzw. Oligopolpreise verhindert. das Leben leisten können, das sie sich in den Jahren da- So einfach ist die Definition. vor geleistet haben. Im letzten Winter haben mir Händler erzählt, dass sie Leute haben frieren sehen, weil sie sich (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert kein Öl leisten konnten. Auch im letzten Jahr haben mir Winkelmeier [fraktionslos]) 18058 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Oskar Lafontaine (A) Fallende Löhne führen zu fallenden Renten und sinken- der Ärmeren unserer Bevölkerung wäre vielleicht ein (C) den sozialen Leistungen. Steigende Preise führen, wie Thema, auch für die Mehrheit dieses Hauses. wir es jetzt erleben, zu einer Verarmung der Bevölke- rung. Weil Sie diesen Zusammenhang nicht herstellen, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert gab es im letzten Jahr die Entwicklung, dass die Löhne Winkelmeier [fraktionslos]) und Renten gefallen sind, während die Energiepreise ge- Nun sind einige kurzfristige Maßnahmen zu treffen. stiegen sind. Das führt zu einer systematischen Verar- Das Bedauerliche ist ja, dass hier herumgeredet, herum- mung der Bevölkerung. Die Schuld daran trägt die geredet und noch einmal herumgeredet wird. Mehrheit dieses Hauses. So simpel ist der Zusammen- hang. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wer redet denn am meisten herum?) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Wir könnten durch eine einzige Entscheidung die Pro- bleme lösen. Nehmen wir doch nur einmal die Pendler- Als hätte unsere verehrte Bundeskanzlerin mir heute pauschale, mit der Sie von der CDU/CSU einen lächer- ein Argument liefern wollen, hat sie in einem Interview lichen Zirkus aufführen. Man hat fast den Eindruck, als zur sozialen Marktwirtschaft auf die Frage, was sie denn hätte sich die CDU mit der CSU abgesprochen, das eigentlich bewirkt und erreicht habe, geantwortet: Weni- Theater bis zur bayrischen Landtagswahl aufzuführen, ger Staat ist ein Zugewinn an Freiheit für viele Bürger. – wobei das Thema Pendlerpauschale immer wieder durch Jetzt müssen Sie klatschen. Mit diesem Satz steht die die CSU auf die Tagesordnung gesetzt wird und die verehrte Bundeskanzlerin in krassem Gegensatz zum CDU diese Forderung mit dem Hinweis auf die Haus- Aufklärer Rousseau, der gesagt hat: haltskonsolidierung blockiert. Das ist unredlich. Kom- Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es men Sie endlich zu irgendeiner Entscheidung! Sagen Sie die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das Ja, oder sagen Sie Nein! Das steht schon so in der Bibel. befreit. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Nun stehen wir vor der schwierigen Frage, wer recht hat: Winkelmeier [fraktionslos]) Frau Merkel oder der Aufklärer Rousseau? Wenn man Dasselbe gilt für die Sozialtarife. Dazu ist einiges die Geschichte der Menschheit betrachtet, sieht man: von meinem Vorredner gesagt worden. Es gibt verschie- Überall dort, wo die Schwachen durch Gesetze nicht ge- dene Modelle. Auch hier würden wir sagen, Herr Kol- schützt werden, werden sie in größere Schwierigkeiten lege Hempel – – kommen und ihr Leben immer weniger bewältigen kön- nen. (Zurufe von der SPD: Hempelmann!) (B) (D) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert – Hempelmann, Entschuldigung. Jetzt können Sie über- Winkelmeier [fraktionslos]) legen, warum ich hier gestockt habe. Nun gut. Frau Merkel hat überhaupt keine Kenntnis von den phi- (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) losophischen Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft. Das war nicht böse gemeint. Ich habe hier schlicht ge- Das ist der Punkt, über den wir hier reden. Solange man stockt. – Sie haben eine Reihe von Fällen genannt. Wir diesen Zusammenhang nicht sieht, sind viele Menschen würden jedes Modell mittragen, aber es nützt doch in der Armutsfalle. Ich könnte sie auch Merkel-Falle nichts, dass wir hier endlose Debatten führen und nichts, nennen: auf der einen Seite Verweigerung eines gesetzli- aber auch gar nichts geschieht. chen Mindestlohns, auf der anderen Seite steigende Energiepreise. Dann wundern Sie sich auch noch, dass (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert immer mehr Haushalte in Schwierigkeiten kommen. Wa- Winkelmeier [fraktionslos] – Ulrich Kelber rum erkennen Sie diese Zusammenhänge nicht? [SPD]: Wieso schlagen Sie kein Modell vor, das funktioniert?) Aufgrund verfehlter Politik haben wir in Deutschland mit 25 Prozent einen riesigen Niedriglohnsektor, den Deshalb sagen wir: Sozialtarife sind eine Möglichkeit. größten aller Industriestaaten. Trotz wachsender Wirt- Wir wären bereit, jeden Vorschlag zu akzeptieren, aber schaft sind im letzten Jahr die Löhne und Renten in es geschieht nichts. An dieser Stelle wird immer wieder Deutschland gefallen. Mittlerweile gibt es laut eigenem gesagt, wir hätten das Geld dazu nicht. Es ist aber für je- Bericht 5,2 Millionen Haushalte mit 500 bis 900 Euro den, der das gutwillig überprüft, nachvollziehbar, dass Nettoeinkommen. Was ist das denn für eine Lage? Die das Geld selbstverständlich da ist. Eben ist von den Ge- Kanzlerin hat vor ein paar Monaten gesagt: Deutschland winnen aus dem Emissionshandel die Rede gewesen. Ei- hat Grund zur Zuversicht. Sie reden immer von Haus- ner hat von 1 Milliarde Euro in diesem Jahr gesprochen. haltskonsolidierung. Es gibt viele Menschen, die darüber Das Öko-Institut hat ausgerechnet, dass in den nächsten nachdenken, was damit gemeint sein könnte. Es gibt vier Jahren Gewinne in Höhe von 35 Milliarden Euro viele Haushalte, die froh wären, wenn sie von Haushalts- anfallen. konsolidierungen reden könnten. Aber im Moment gera- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ten viele Privathaushalte in immer größere Schwierig- Für die Unternehmen!) keiten, weil sie aufgrund der Entwicklung der Löhne und Renten sowie der Preise nicht mehr in der Lage sind, ihr Es mag richtig sein, dass nur die Hälfte dieser Summe Leben zu gestalten. Haushaltskonsolidierung aus Sicht anfällt. Das heißt aber, dass Geld da ist, um den Men- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18059

Oskar Lafontaine (A) schen entgegenzukommen und ihre Lebenssituation zu Schauen Sie sich einmal den Verbraucherpreisindex vom (C) verbessern. Warum tun Sie denn nichts? Mai an! Er ist um 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr ge- stiegen. Mehr als die Hälfte davon ist auf den Anstieg (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert der Energiepreise zurückzuführen. Das ist in der Tat dra- Winkelmeier [fraktionslos]) matisch. Dasselbe gilt für die Mehrwertsteuer. In diesem Zu- Die entscheidende Frage ist: Was tun wir? Da nützen sammenhang gibt es verschiedene Rechnungen. Viele Schnellschüsse nichts, Herr Lafontaine; vielmehr ist ent- haben ausgerechnet, dass allein die Mehreinnahmen aus scheidend, dass man analysiert, was der Grund für die- der Mehrwertsteuer, die aus der Strompreisentwicklung sen Preisanstieg ist. resultieren, ausreichen würden, einen Einstieg in die So- zialtarife zu finanzieren. Warum tun Sie denn nichts? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Warum kassieren Sie nur die Mehrwertsteuer und sind sowie bei Abgeordneten der SPD) nicht bereit, Sozialtarife einzuführen und die Mehrein- nahmen an die Menschen weiterzugeben? Aus unserer Sicht – immer mehr Experten teilen unsere Ansicht – geht das Zeitalter des billigen Öls zu Ende, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Längerfristig – auch das möchte ich noch sagen – sind und zwar deshalb, weil die Nachfrage auch in den nächs- Strukturmaßnahmen zu ergreifen, um den Energie- ten Jahren dramatisch ansteigen wird und die Ölförde- preisanstieg durch nationalstaatliche Entscheidungen zu- rung an ihre Grenzen stößt. Wenn mittlerweile sogar die mindest zu dämpfen. Wir schlagen dazu nach wie vor die Internationale Energie-Agentur, die das bisher immer Rekommunalisierung der Energieversorgung vor; geleugnet hat, sagt, dass Angebot und Nachfrage immer denn wir wissen doch aus eigener Erfahrung, dass wir zu weiter auseinanderklaffen werden – das heißt, das Ange- der Zeit, als wir in den Städten eine eigene Erzeugung bot wird knapp sein und die Nachfrage wird steigen –, hatten, solche Entscheidungen noch selbstständig treffen dann wissen doch alle, was das bedeutet: höhere Öl- konnten. Das ist ein Zugewinn an Demokratie. Deshalb preise auch in den nächsten Jahren. Wenn wir nicht ge- sind wir für die Rekommunalisierung der Energieversor- meinsam die Gründe dafür analysieren, dann werden wir gung. auch nicht zu den richtigen Lösungen kommen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Winkelmeier [fraktionslos]) In diesem Zusammenhang muss ich feststellen, dass (B) Dass man bei den Netzen eine wie auch immer gear- die FDP mit ihrer Antwort auf das Problem daneben- (D) tete stärkere staatliche Kontrolle braucht, versteht sich liegt. Wenn Ihre einzige Antwort auf die versiegenden von selbst. Ich freue mich, dass innerhalb der SPD-Frak- Ölquellen und die steigende Nachfrage Chinas nach Öl tion der Diskussionsprozess fortgeschritten ist und dass ist, in Deutschland die Steuern zu senken, dann bedeutet die Abqualifizierung durch den Bundesumweltminister, das in der Tat, Frau Kopp, dass Sie die Menschen für was die Verstaatlichung der Netze angeht, mittlerweile dumm verkaufen. Nicht die anderen, sondern Sie ver- anderen Einsichten gewichen ist. kaufen die Menschen für dumm. Ich fasse zusammen: Die Entwicklung der Energie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN preise ist für viele Haushalte – nicht für uns alle hier – sowie bei Abgeordneten der SPD) ein großes Problem. Ein Problem für diese Haushalte ist Wenn es nach Ihnen geht, dann dürfen die Leute noch aber auch, dass wir uns zwar einig sind, dass das einmal ganz kurz an die Tankstelle und ordentlich voll- schlimm ist, dass die Koalition aber nicht in der Lage ist, tanken, bevor ihnen durch die nächste Preisexplosion so- irgendeine Entscheidung zu treffen. zusagen all das weggenommen wird, was Sie ihnen für (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert kurze Zeit geschenkt haben. Winkelmeier [fraktionslos]) (Gudrun Kopp [FDP]: Dummes Zeug!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Deshalb ist es keine Lösung, die Steuern zu senken. Die Nun hat das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die eigentliche Lösung des Problems ist es, endlich einmal Grünen die Kollegin Bärbel Höhn. auf Energieeinsparungen und erneuerbare Energien zu setzen. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir reden heute in der Tat über ein dramatisches Pro- blem. Die Energiepreise steigen. Ich glaube, keiner von Herr Lafontaine, ich habe mir Ihren Antrag genau an- uns hätte vor einem Jahr voraussagen können, wie sich gesehen. Die Preisaufsicht wieder an die Länder zu ge- der Ölpreis entwickelt. Die Entwicklung in den letzten ben, ist auch keine ernsthafte Lösung. Die Länder hatten Monaten ist wirklich dramatisch. doch schon einmal die Aufsicht. Was war die Folge? Sie haben mit den jeweiligen Energiekonzernen verhandelt (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie haben – übrigens mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen –, das doch immer gewollt!) und am Ende haben die Energiekonzerne gesagt: Der hö- 18060 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Bärbel Höhn (A) here Preis ist doch staatlich abgesegnet. Was wollt ihr ei- von Gebäuden – am Ende nur zu halbherzigen Lösungen (C) gentlich? – Das ist keine Lösung des Problems. kommen. Meine Damen und Herren, gerade für Haus- halte mit kleinen Einkommen sind Dämmungen in den Wir meinen, die Antwort auf die weitere Verknap- Mietwohnungen notwendig; denn der nächste kalte Win- pung und Verteuerung der Energie heißt: weniger Ener- ter kommt bestimmt. Wir können nicht damit rechnen, gieverbrauch. dass jeder Winter so warm wird, wie der letzte es war. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der letzte warme Winter war nämlich auch ein Grund dafür, dass das Problem nicht explodiert ist. Wenn der Mit Blick auf die weitere Entwicklung muss es doch hei- Winter kalt ist und dann noch die Heizkosten steigen, ßen: Wir müssen das Öl verlassen, ehe es uns verlässt. – wird das Problem immer größer. Sonst geraten wir in eine Spirale, die wir nicht mehr auf- halten können. (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Das hätten Sie alles machen können!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Konsequente Energiepolitik sieht anders aus. Deshalb Die Leute haben das verstanden. Vor wenigen Tagen sagen wir: Helfen Sie den Verbrauchern, indem Sie auf ist in einer Umfrage im Morgenmagazin zu diesem Energieeinsparungen und erneuerbare Energien setzen. Thema gefragt worden, was der Staat tun kann und was Einfach nur „Steuern runter“ und „Preiskontrolle“, das er tun sollte. An erster Stelle – 44 Prozent der Befragten sind keine Lösungen, mit denen das gravierende Pro- haben das gesagt – stand die Antwort: Förderung von blem, das uns auch in Zukunft begleiten wird, endlich Energiespartechnologien. Das war die Antwort der gemeistert werden kann. Menschen – und sie tun auch schon etwas dafür: Sie fah- ren mehr mit dem Fahrrad, bilden Fahrgemeinschaften Vielen Dank. und verbringen ihren Urlaub öfter in der Nähe. Sie ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ändern ihren Lebensstil. Auch das gehört dazu. Es wird notwendig sein, mit weniger auszukommen, um diesem Preisdiktat zu entgehen. Wir müssen auch unseren Le- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bensstil ändern. Nächster Redner ist der Kollege Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir brauchen eine Energiesparoffensive. Wir brau- chen sie insbesondere – das stimmt – im Zusammenhang Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): mit der Förderung von Haushalten mit kleinen Einkom- (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- (D) men. Aber zu den sozialen Aspekten wird der Kollege gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kurth gleich noch etwas sagen. Frau Höhn, Sie sind es doch gewesen, die immer be- Ich sage eindeutig und klar: Der Weg, den die Bun- hauptet hat, dass der Benzinpreis bei 5 Euro liegen desregierung momentan einschlägt, ist der falsche. Sie müsste. haben beim IKEP, beim Integrierten Klima- und Ener- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gieprogramm, Investitionen in Energieeinsparungen NEN) – ich habe mehrfach Minister Glos dazu gehört – immer noch als Belastungen definiert. Das ist der falsche An- – Bei 5 DM; das sind etwa 2,50 Euro. – Die Benzin- satz. Investitionen in Energieeinsparung sind eine Ent- preise bewegen sich leider in diese Richtung. Sie haben lastung und keine Belastung. Solange Sie das nicht ver- auch alles dafür getan. Also tun Sie jetzt hier bitte nicht standen haben, werden Sie zu den falschen Lösungen so, als würde es Sie fürchterlich schocken, dass es sich kommen. aufgrund der Politik der Ölländer so entwickelt! Wir müssen alles dafür tun, dass sich die Energiepreise so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wenig wie möglich erhöhen; denn dieses Land hätte un- Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das Geld fällt ter immer höheren Energiepreisen heftig zu leiden. vom Himmel!) Die Bundesregierung lässt die Verbraucher bei den Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: steigenden Energiekosten im Stich. Sie lassen sie im Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Stich, wenn Kanzlerin Merkel auf EU-Ebene gegen spar- Kollegin Höhn? samere Autos ankämpft. Es ergibt sich keine Entlastung bei den Benzinkosten, wenn Sie weiterhin für die Sprit- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): schlucker Lobbyarbeit machen. Das brauche ich jetzt nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie lassen die Menschen im Stich, wenn Sie den Aus- Weil Sie sich nicht trauen!) tausch von ineffizienten Nachtspeicherheizungen verzö- Ich habe mir das eben lange genug angehört. gern. Sie lassen die Menschen im Stich, weil Sie sie in eine Kostenfalle laufen lassen, aber ihnen keinen Aus- In meinem Wahlkreis gibt es ein Unternehmen der pa- weg anbieten. Sie lassen sie auch im Stich, wenn Sie pierverarbeitenden Industrie. Ich meine die Firma Kim- zum Beispiel im Wärmebereich – Stichwort: Isolierung berly-Clark. Sie stellt Kleenex her; dieses Produkt ken- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18061

Dr. Michael Fuchs (A) nen viele. Diese Firma hat nicht nur an vielen Orten in stellt man fest: In Deutschland kostet der Strom in einem (C) Deutschland, sondern auch in Nachbarländern Papierfa- Haushalt mit einem jährlichen Verbrauch von 3 500 Kilo- briken. In all diesen Fabriken stehen baugleiche Maschi- wattstunden 21,48 Cent pro Kilowattstunde. In Frank- nen. Eine Maschine dieser Firma in Koblenz verbraucht reich kostet dieser Strom 12,18 Cent pro Kilowattstunde. im Jahr Strom in Höhe von 25 Millionen Euro. Die glei- Warum? Das ist ziemlich einfach – das wird Sie nicht che Maschine in Rouen in Frankreich verbraucht im Jahr wundern; denn Sie wissen es alle –: weil 87 Prozent des Strom in Höhe von 17 Millionen Euro. Es wird nicht Stroms in Frankreich in Kernkraftwerken erzeugt wer- ewig dauern, bis Amerikaner in Dallas entscheiden, dass den. Was machen wir? Wir verteuern, verteuern und ver- es sinnvoll wäre, die Maschine in Koblenz nach Rouen teuern. oder an einen anderen Ort in Frankreich zu verlagern. (Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) Was passiert dann, Herr Lafontaine? Dann wird es unso- zial; denn dann gehen Arbeitsplätze verloren. – Ich habe überhaupt nichts gegen erneuerbare Energien, Herr Kelber. Allerdings müssen die erneuerbaren Ener- Wir müssen mit einer vernünftigen Energiepolitik gien mit Maß gesehen werden: Sie werden unser Strom- verhindern, dass in Deutschland Arbeitsplätze im mittel- problem nicht lösen. ständischen Bereich verloren gehen, weil sie den Strom nicht mehr bezahlen können. (Ulrich Kelber [SPD]: Sind die Baukosten in Frankreich bereits im Strompreis enthalten? (Beifall bei der CDU/CSU) 100 Milliarden Euro!) Das haben Sie nur nicht kapiert. In all Ihren Anträgen 70 Prozent unseres Stroms werden nicht aus erneuerba- fordern Sie doch nichts anderes als Umverteilung von ren Energien herstellbar sein. oben nach unten. Das machen wir sowieso. Sie reden von einem Armutsland. Ich glaube, in keinem anderen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Land ist die Gesellschaft so reich und wohlhabend wie in Herr Kollege, ich unterbreche Sie ungern. Gestatten Deutschland. Das wollen wir doch einmal festhalten. Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst von der (Widerspruch bei der LINKEN) Fraktion Die Linke? Ich kann Ihr Gerede von der Armutsfalle einfach nicht mehr hören. Sie reden dieses Land schlecht und wissen Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): genau, dass das Gegenteil richtig ist. Das tue ich mir erst recht nicht an. (Lachen bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (B) Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den kann ich nicht ernst nehmen; deswegen macht es (D) Unglaublich! Sie sehen ja gar nicht die Pro- keinen Sinn, sich eine Frage anzuhören. Er muss sich bleme!) erst einmal mit seinen Aufsichtsräten bei Fichtel & Sachs auseinandersetzen und sollte mich hier in Ruhe Ich sage Ihnen noch eines. Wenn Ihnen mit Ihrem lassen. Linkspopulismus nichts Besseres einfällt, als ständig Umverteilung zu fordern, dann erwähnen Sie bitte auch, Wir haben genau dieses Problem – ich sage es noch dass 53 Prozent dieses Bundeshaushalts für Soziales, einmal deutlich –: Wir sind nicht bereit, zur Kenntnis zu also für die von Ihnen geforderte Umverteilung, ausge- nehmen, dass wir in eine Falle laufen, wenn wir bei der geben werden. Diese Regierung hat gerade beschlossen, Erzeugung von Strom nicht umdenken. Es wird aller- das Wohngeld zum 1. Januar 2009 von 90 Euro auf höchste Zeit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die ganze 143 Euro anzuheben. Diese Maßnahmen haben wir ge- Welt das anders sieht. Warum ist es so, dass wir in meinsam auf den Weg gebracht. Bitte nehmen Sie das al- Deutschland anscheinend die Einzigen sind, die so tech- les einmal zur Kenntnis! Anscheinend geht es an Ihnen nikfeindlich und so ängstlich sind? vorbei. Die Anträge, mit denen Sie uns hier nerven, kos- (Ulrich Kelber [SPD]: Wie viele Länder haben ten uns Zeit. In dieser Zeit können wir keine vernünftige Atomkraft?) Politik machen. Sie sollten das eigentlich wissen. Ich kann es nach wie vor nicht verstehen. Vielleicht hat Was all Ihre Forderungen nach Umverteilung angeht, Voltaire recht, Herr Lafontaine. Er hat nämlich einmal muss man einmal erwähnen: Die 10 Prozent der Bevöl- gesagt: Am Grunde eines Problems sitzt immer ein kerung in Deutschland mit den höchsten Einkommen Deutscher. – Wahrscheinlich sind Sie das Problem. zahlen 53 Prozent der Steuern. Die 20 Prozent der Be- völkerung in Deutschland mit den höchsten Einkommen Noch einmal: Wenn wir nicht umdenken und nicht zahlen 83 Prozent der Steuern. langsam, aber sicher zur Kernkraft zurückkommen, werden wir das Strompreisproblem nicht lösen. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommen Sie mal zum Thema!) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht die Lösung!) Das alles scheint Ihnen entgangen zu sein, weil es mit Ihrem Populismus nicht in Einklang zu bringen ist. Die einzige Chance, die wir haben, auch unter klimapoli- tischen Aspekten, die Strompreise für die Haushalte mit Ich muss Ihnen noch ein paar andere Zahlen vorhal- kleinen Einkommen einigermaßen bezahlbar zu halten, ten. Vergleicht man die neuesten Strompreise in Europa, ist – da bin ich mit dem Kollegen Meyer einig – die 18062 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Dr. Michael Fuchs (A) Kernkraft; das muss immer wieder und überall deutlich (Beifall bei der LINKEN) (C) gesagt werden. Sie haben sich als ein Lobbyist der Atomindustrie profi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) liert – das nehmen wir zur Kenntnis –, aber die Lösun- gen für die Menschen bleiben Sie schuldig. Eines schönen Tages wird dieses Land diese Chance nut- zen, auch wenn das dann, hoffentlich, eine andere Regie- (Beifall bei der LINKEN) rung organisiert. Wir haben mit der Bundesregierung vernünftig rea- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: giert. Wir haben zum Beispiel die GWB-Novelle be- Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth für die schlossen. Sie ist zum 1. Januar 2008 in Kraft getreten. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Mit dieser Novelle haben wir eine Beweislastumkehr vorgenommen, um die Stromkonzerne zu zwingen, ihre Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Situation besser darzulegen. Außerdem haben wir dem Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kartellamt die Möglichkeit gegeben, besser einzugrei- Es ist wohl Zeit, ein Zwischenresümee der Debatte zu fen. Das ist auch notwendig. Wir müssen die vier Vier- ziehen. Nachdem ich Herrn Fuchs, Frau Kopp und Herrn telmonopolisten in diesem Land schon sehr intensiv kon- Lafontaine gehört habe, muss ich sagen: Es ist wirklich trollieren. erschütternd, in welcher Art und Weise Sie die grundle- Fazit: Wenn wir die Energiepreise im Griff behalten genden Probleme – als einzige Rednerin hat Frau Höhn wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als eine Gesamt- diese Probleme angesprochen – ignorieren. Wir befinden energiepolitik zu betreiben. Darin muss die Kernkraft uns in einem epochalen Wandel. Wir befinden uns in ei- eine Rolle spielen; sonst laufen uns die Preise davon. ner fundamentalen Neubewertung sämtlicher Energie- preise an den Märkten. Das muss man einmal zur Kennt- (Gudrun Kopp [FDP]: Nur zu! – Bärbel Höhn nis nehmen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mein Gott! Was ist das für eine Lösung?) Das betrifft nicht nur das Öl. Das Öl ist natürlich der wichtigste Rohstoff. Anderthalb Generationen haben ihn Wer das nicht sagt, ist unredlich. Aber das kennen wir ja einfach so verschleudert. Auch die Preisindikatoren für von Ihnen, Herr Lafontaine. alle anderen Energieträger – Steinkohle, Gas oder auch (Beifall bei der CDU/CSU) die von Ihnen so geliebte Kernenergie bzw. das dafür er- forderliche Uran – zeigen nach oben. Deswegen gibt es nur eine Antwort, nämlich zu sparen und die erneuerba- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (B) ren Energien auszubauen. Das kann gar nicht oft genug (D) Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kol- wiederholt werden, und das wiederholt fast nur unsere lege Ernst. Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Klaus Ernst (DIE LINKE): sowie bei Abgeordneten der SPD – Ulrich Herr Kollege Fuchs, nachdem Sie den Blick auf die Kelber [SPD]: Den letzten Halbsatz haben wir Realität verweigert und geleugnet haben, dass es in die- nicht gehört!) sem Land tatsächlich Armut gibt, haben Sie sich auch noch auf die Umverteilung eingelassen und diese kriti- Von wenigen Ausnahmen abgesehen, Herr Kelber, siert. Ist Ihnen bekannt, Herr Fuchs, was das Institut für müssten eigentlich Sie alle, die Sie hier sitzen, von der Makroökonomie und Konjunkturforschung festgestellt Linken über die CDU/CSU bis zur FDP, jede Rede zur hat? Es hat festgestellt, dass in dem von Ihnen so gelob- Energiepolitik erst einmal mit einer Entschuldigung ge- ten Aufschwung nur eine Gruppe tatsächlich profitiert genüber Bündnis 90/Die Grünen beginnen. hat, nämlich die Gruppe derer, die ihr Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen beziehen – sie ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ben im letzten Aufschwung über 20 Prozent Zuwachs er- Widerspruch bei der SPD, der FDP und der zielt –, LINKEN) (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Und die 1,6 Millio- Vor zehn Jahren haben wir bereits mit einem ambitio- nen, die Arbeit bekommen haben?) nierten Programm, das eine gezielte und berechenbare Steigerung der Energiepreise eingeschlossen hat – dass die Rentner an diesem Aufschwung überhaupt nicht partizipieren, sondern ein Minus haben, und dass die Ar- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie haben beitnehmereinkommen in diesem Aufschwung um die Benzinpreise erhöht!) 1,4 Prozent gesunken sind. wir haben es leider nur in Teilen umsetzen können –, Angesichts dessen kann ich nur sagen: Es findet eine versucht, den von uns vorhergesehenen Anstieg der Umverteilung statt, ohne dass wir sie wollen, nämlich Energiepreise gezielt vorwegzunehmen. Wir hätten zehn eine Umverteilung von unten nach oben. Deswegen Jahre für den Umbau Zeit gehabt. Jetzt müssen wir es in- haben wir auch das Problem, dass die Menschen ihre nerhalb von zwei bis drei Jahren schaffen, eine Verdopp- Stromrechnung und ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen lung oder gar Verdreifachung der Energiepreise zu ver- können. Auf diesen Punkt haben Sie in Ihrer ganzen kraften. Das Problem kann angesichts dieser Rede nicht eine Silbe verwendet. fundamentalen Grundwerte – – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18063

Markus Kurth (A) (Zurufe des Abg. Dr. [DIE Weiteres mit den Instrumenten des Marktes geregelt (C) LINKE]) werden kann. So werden wir, wie ich denke, selbstver- ständlich auch über die Frage der Grundkontingentie- – Die machen Sie auch nicht durch Ihr Geschrei weg. rung diskutieren. Wir werden uns auch der Frage nähern (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE müssen – das prognostiziere ich; denn die Armut der ei- LINKE]) nen ist der Überfluss der anderen –, wie wir Vielverbrau- cher sanktionieren, damit diese ihren Energieverbrauch – Seien Sie doch einmal still, und hören Sie zu! Der liebe senken. Gott hat Ihnen zwei Ohren und einen Mund gegeben: also zweimal Zuhören und nur einmal Rufen. Abschließend möchte ich in die Diskussion werfen, dass zum Beispiel in Norwegen aus ökologischen Grün- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ den eine Zusatzsteuer für Besitzer eines Porsche Ca- DIE GRÜNEN) yenne erhoben wird. Dort kostet dieses Fahrzeug da- Wir stehen vor der Herausforderung, dass wir nun die durch 52 000 Euro mehr. An diesem Hinweis sehen Sie, Umstellung hin zu Energieeinsparungen dort beschleuni- was im europäischen Ausland los ist. Wir sollten das ein- gen müssen, wo die Not am größten ist, und diesen Um- mal einbeziehen, um unsere Debatten hier zu bereichern. stellungsprozess deshalb in den Bereichen abfedern (Olav Gutting [CDU/CSU]: Und damit die müssen, die davon am stärksten betroffen sind. Hier deutsche Automobilindustrie kaputtmachen! – denke ich insbesondere an soziale Brennpunkte, an be- Franz Obermeier [CDU/CSU]: Die Grünen stimmte Wohnviertel und -formen, wo der Heizenergie- fahren ohnehin Toyota!) verbrauch nicht zu den günstigsten zählt. Wir müssen aber auch bestimmten Personenkreisen dabei helfen, Vielen Dank. sich energiesparendere Elektrogeräte zu kaufen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vor diesem Hintergrund bin ich schon sehr enttäuscht über das Klimapaket der Bundesregierung. Warum Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: haben Sie kein Programm zur energetischen Sanierung Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Kelber für die von Wohnungen in sozialen Brennpunkten aufgelegt? SPD-Fraktion. Warum haben Sie nicht – das war ja angedacht – ein Mietminderungsrecht für Mieter eingeführt, die in Woh- (Beifall bei der SPD) nungen leben, die energetisch unzulänglich ausgestattet sind? Das wäre eine wichtige Anreizmöglichkeit gewe- Ulrich Kelber (SPD): (B) sen. Warum machen Sie keine verpflichtenden Vorgaben (D) für die Sanierung von Wohnungen im Altbaubestand? Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute nicht zum ersten Mal das (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Und wer be- Thema „steigende Energiepreise“. Ich bin mir sicher, wir zahlt das?) werden das heute auch nicht zum letzten Mal tun. Die Menschen erwarten eine Antwort der Politik, aber eine Wir wissen doch, dass dort verstärkt sozial Schwächere durchdachte. Sie erwarten keine Schnellschüsse oder gar wohnen. Beschlüsse, die das Gegenteil von dem bewirken, was Was machen Sie im Bereich Mobilität, insbesondere man sich unter einer guten Antwort vorstellt. im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs? In , Wenn die Menschen heute die Debatte verfolgt haben, einer Stadt, in der die Grünen mitregieren, gibt es das werden sie an einer Stelle enttäuscht sein. Sie werden als bundesweit günstigste Sozialticket, und nicht in einer Hauptantwort der bisherigen Redner von FDP und CDU/ Stadt, in der die Linken mitregieren. Für den Betrag von CSU gehört haben: Atomenergie. Das hätten Sie auch 15 Euro, der im Regelsatz vorgesehen ist, kann man in ohne steigende Energiepreise eingeworfen. Auch die Dortmund den öffentlichen Nahverkehr benutzen. Rede von der Linkspartei, Herr Kollege Lafontaine, war (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – zu 80 Prozent die Standardrede, mit ein, zwei Dingen Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Berlin ist garniert. auch etwas größer als Dortmund!) Herr Fuchs, vielleicht wenigstens eine inhaltliche Es ist zwar völlig richtig, dass wir uns nicht nur auf Entgegnung auf Ihren Beitrag: Wenn Sie die französi- Arbeitslosengeld-II-Bezieher konzentrieren sollten schen Strompreise nennen, dann sollten Sie auch erwäh- – von den Problemen der Energiepreissteigerung sind nen, dass die französische Regierung davon spricht, dass wesentlich breitere Schichten betroffen –, aber natürlich über 100 Milliarden Euro Rückbaukosten noch nicht eta- muss deren Regelsatz erhöht werden. Der Anteil für tisiert sind. Das wird der Steuerzahler zahlen. Auch das Haushaltsenergie jenseits der Heizkosten im Regelsatz Versicherungsrisiko zahlt der Steuerzahler in Frank- beträgt nämlich nur knapp 22 Euro für einen Alleinste- reich, ebenso die zig Milliarden, einen zweistelligen henden. Ein Alleinstehender kann sich damit gerade ein- Milliardenbetrag, für das Endlager. Es ist also alles sub- mal 1 000 Kilowattstunden Strom kaufen. Das reicht ventioniert. Sie unterstützen heute eine Art Sozialtarif, nicht aus. Hier muss zusätzlich nachgesteuert werden. den Sie sonst ablehnen. Ich glaube, wir werden hier noch eine Reihe interes- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten santer Diskussionen führen, ob das Ganze wirklich ohne des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 18064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Ulrich Kelber (A) Es gibt eine einzige Antwort auf steigende Energie- Zweiter Teil meiner Antwort: Ich schicke Ihnen gerne (C) preise: weniger verbrauchen und auf die preisstabilen er- morgen – früher geht es leider nicht mehr – die von der neuerbaren Energien umstellen. Das sagen Ihnen alle Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie des Deut- Experten, die das Thema ohne eigene Lobbyinteressen schen Zentrums für Luft- und Raumfahrt zu, die deutlich verfolgen. macht, dass wir bis 2050 bereits 80 Prozent der Strom- versorgung aus erneuerbaren Energien tätigen können (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Bei den er- und wenige Jahre später die vollständige Stromversor- neuerbaren Energien gibt es keine Lobbyinte- gung. ressen?) (Gudrun Kopp [FDP]: Und zu welchen Kos- Da ist ein Punkt aber ganz wichtig: Die Energiepreise al- ten?) leine, also der Markt, reichen nicht aus, den nötigen Im- puls zu setzen. Es gibt viele Menschen in diesem Land, – Die Kosten werden in der Studie genannt. Sie werden deren Einkommen nicht reicht, selber die Investitionen überrascht sein. Tun Sie mir den Gefallen: Lesen Sie sie, zu tätigen, die nötig sind, um weniger Energie zu ver- zumindest die Zusammenfassung von drei Seiten bitte! brauchen. Das sind nicht nur Menschen, die arbeitslos (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ sind, sondern das geht bis weit in die Mittelschicht hi- DIE GRÜNEN – Gudrun Kopp [FDP]: nein. Aus diesem Grund sind die Förderprogramme so Gleichfalls!) wichtig. Deswegen ist es unglaublich, dass die FDP hier sagt, die Förderprogramme der Bundesregierung seien Unsere Hauptaufgabe ist, den Menschen zu helfen, falsch und sie wolle sie nicht haben. Nein, diese Förder- die es nicht selber leisten können, weniger Energie zu programme müssen ausgebaut werden, um den Men- verbrauchen und umzustellen. schen zu helfen, weniger Energie zu verbrauchen. (Uwe Barth [FDP]: Deshalb erhöhen Sie die (Beifall bei der SPD) Steuern!) Dann müssen wir aber auch darüber sprechen, dass wir Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bei schnell steigenden Energiepreisen soziale Härten ab- Herr Kollege Kelber, gestatten Sie eine Zwischen- federn müssen. Wir sind eigentlich seit zehn Jahren auf frage der Kollegin Kopp? dem richtigen Weg. Kein anderes Land ist so gut vorbe- reitet auf den Prozess, weniger Energie zu verbrauchen und mehr erneuerbare Energien einzuführen. Aber die Ulrich Kelber (SPD): Geschwindigkeit, mit der jetzt die Energiepreise steigen, Ja, selbstverständlich. überfordert immer mehr Menschen. Deswegen müssen (B) (D) wir unsere Anstrengungen beschleunigen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich finde es unredlich, Kollege Lafontaine, wenn Sie Frau Kopp, bitte. eine Lösung wie die Erhöhung des Wohngelds, die 800 000 Haushalten helfen wird, als einen Minimalvor- Gudrun Kopp (FDP): schlag abtun. Diesen 800 000 Haushalten wird im nächs- ten Jahr an einer bedeutenden Stelle geholfen. Deshalb Vielen Dank. – Herr Kollege Kelber, Lobbyisten gibt war dieser Schritt wichtig. es in allen Bereichen, ob bei der konventionellen Kraft- werksindustrie oder bei den erneuerbaren Energien. Da (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fallen mir viele ein, die reine Lobbyinteressen verfolgen. der CDU/CSU) Das nur vorweg. Ich gehe kurz auf die beiden Anträge der Opposi- Wollen Sie hier im Parlament wirklich sagen, dass der tionsparteien Linkspartei und FDP ein. Der Antrag der gesamte Strombedarf in Deutschland, insbesondere der Linkspartei ist typisch. Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Grundlaststrombedarf, allein durch erneuerbare Ener- Macht doch irgendetwas! – Nein, es muss das Richtige gien zu decken ist, und das vor dem Hintergrund, dass getan werden. Es ist eben nicht, wie bei anderen The- fast 100 Prozent des Grundlaststroms derzeit von Kern- men, damit getan, dass die SPD über ein Thema disku- kraftwerken und von Kohlekraftwerken produziert wer- tiert, die Linkspartei ein paar der Schlagworte aufnimmt den? und schnell einen Antrag mit namentlicher Abstimmung stellt. Sie waren einmal im Vorstand eines Stadtwerks. Den Vorschlag eines Sozialtarifs, den Sie machen, leh- Ulrich Kelber (SPD): nen die Stadtwerke und die Verbraucherverbände aus ei- Ich gebe Ihnen eine zweigeteilte Antwort. Zu Ihrer nem einfachen Grund ab: Sie sagen, das würde die Stadt- ersten Bemerkung: Ich bin vor über 20 Jahren aus der werke schädigen und die großen Energiekonzerne Umweltbewegung in die Politik gegangen, und ich bin würden die lukrativen Kunden abwerben. stolz darauf, seit 25 Jahren Lobbyist für die erneuerbaren Energien zu sein. Deswegen haben wir einen anderen Vorschlag, und zwar einen, der wettbewerbsneutral ist und die Standorte (Beifall bei Abgeordneten der SPD) fördert. Das unterscheidet das Durchdenken von einem schnellen Zur-Abstimmung-Stellen eines Antrags. Ich bin halt unbezahlter Lobbyist; das unterscheidet mich von dem einen oder anderen. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18065

Ulrich Kelber (A) Zur FDP. Die FDP legt einen Antrag vor, mit dem sie niert hätte, wie es damals in der Begründung beschrie- (C) verspricht, dass der Staat Milliarden an die Bürger zu- ben wurde. rückgibt, damit sie die Energiepreise länger zahlen kön- nen. Einiges Gute dazu hat Frau Kollegin Höhn gesagt. Wären Sie drittens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, Sie geben natürlich keine Antwort darauf, woher der dass in den letzten fünf Jahren der Bundeshaushalt vom Staat die Milliarden nehmen soll. Aber viel schlimmer Aufschwung mit Steuermehreinnahmen in Höhe von ist, dass durch den Antrag etwas ganz anderes erreicht 110 Milliarden Euro profitiert hat und dass deswegen würde: Es fließen nämlich nicht Milliarden vom Staat an genügend Geld vorhanden ist? Die Frage ist nur, wofür die Bürger, sondern es würden Milliarden aus den Ta- man dieses Geld ausgibt. schen der Bürger in die Taschen der großen Energiekon- Sind Sie viertens nicht auch der Meinung, dass man zerne fließen. zumindest den Rentnerhaushalten, die aufgrund Ihrer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Politik – Sie stehen jetzt zehn Jahre in der Regierungs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) verantwortung – wiederholt reale Kaufkraftverluste zu erleiden hatten, helfen müsste, indem man ihnen bei den Ich will Ihnen das an zwei Beispielen deutlich ma- Energiekosten eine gezielte Entlastung zuteil werden chen. Alle Experten sagen, dass angesichts des Mono- lässt? Sind Sie mit Ihrer Politik nicht vollkommen falsch pols in der Energieversorgung ein großer Teil des durch aufgestellt, und müssten Sie jetzt nicht anfangen, einen die Senkung der Energiesteuern eingesparten Geldes für Kurswechsel einzuleiten, indem Sie den FDP-Anträgen höhere Gewinnmargen verwendet werden würde. Die zustimmen? Importpreise würden erhöht, und die Preise der vier gro- ßen Stromkonzerne, die einen Anteil von 90 Prozent an (Beifall bei der FDP) der Stromerzeugung haben, würden ebenfalls erhöht. Ulrich Kelber (SPD): Wenn Sie von der Senkung der sogenannten Öko- steuer sprechen – das ist der Teil der Stromsteuer, der da- Lassen Sie mich einmal raten: Sie sind Jurist, oder? mals erhöht wurde –, dann müssen Sie den Menschen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Ich bin auch sagen, dass dieser Teil vollständig als Zuschuss für Wirtschaftswissenschaftler!) die Rentenversicherung verwendet wird. Das heißt, nach dem FDP-Vorschlag würde dieser Zuschuss gekürzt wer- Diesen Eindruck erwecken Sie nämlich mit Ihrer forma- den. len Argumentation, es sei keine Abgabe, sondern eine Steuer. Wenn Sie eine bestimmte Summe bei einer (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Quatsch!) Steuer einnehmen und genau diese Summe als Zuschuss (B) Das hat zur Folge: niedrigere Nettolöhne aufgrund höhe- an die Rentenversicherung geben, dann haben Sie poli- (D) rer Beiträge und niedrigere Renten. Sie haben heute also tisch die Zweckbindung dieser Steuer erreicht. den Antrag vorgelegt, die Renten in Deutschland zu sen- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist vollkom- ken und die Rentenbeiträge zu erhöhen. mener Quatsch!) (Beifall bei der SPD) Sie können das im Haushalt schwarz auf weiß nachlesen. Das ist Inhalt des Antrags der FDP, der heute auf dem Wenn Sie den Zuschuss senken wollen, dann wollen Tisch liegt. Sie die Rente senken. Ansonsten müssten Sie darlegen, aus welchem Topf Sie die Differenz bezahlen wollen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Aber bisher sprechen Sie nur von einer Senkung des Zu- Herr Kollege Kelber, es gibt nun die Bitte des Kolle- schusses, das heißt also weniger Rente und höhere Bei- gen Dr. Kolb um eine Zwischenfrage. träge. Sie können nicht drum herumreden: Sie wollen die Renten senken und die Rentenversicherungsbeiträge er- Ulrich Kelber (SPD): höhen. Das muss festgehalten werden. Ja, bitte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ich habe davon gesprochen, dass die meisten Exper- Herr Kollege Kelber, wären Sie erstens bereit, zur ten sagen, eine Senkung würde nichts bringen, weil diese Kenntnis zu nehmen, dass die Ökosteuer eine Steuer und sofort zu Preissteigerungen durch die Energieversorger keine Abgabe ist und deswegen nicht zweckgebunden führen würde. Nehmen wir aber einmal an, die FDP im Bundeshaushalt verwendet werden kann? hätte recht, Wären Sie zweitens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben dass sich die bei der Verabschiedung der Ökosteuer er- recht!) weckten Erwartungen, dass es zu einer deutlichen Ab- senkung des Rentenbeitrags kommt, nie erfüllt haben dass Steuersenkungen dazu führen, dass Benzin, Gas und dass sich zu keinem Zeitpunkt eine Entwicklung in und Strom billiger werden. Dann wäre es aber für die gewünschte Richtung ergeben hat? Eigentlich müss- Deutschland gut gewesen, wenn es die FDP in der Re- ten wir heute bei einem Rentenbeitrag von deutlich unter gierung nie gegeben hätte. Dann würde nämlich der Li- 19 Prozent liegen, wenn es mit der Ökosteuer so funktio- ter Benzin in diesem Land 80 Cent kosten. 18066 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Ulrich Kelber (A) Ich habe mir einmal eine Liste mit Mineralölsteuer- Arbeitslosengeld II – sind die Heizkosten im Rahmen (C) erhöhungen in Deutschland ausdrucken lassen. der Mietabrechnung hinzuzurechnen und werden von der öffentlichen Hand erstattet. Ähnliches gilt für die (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja neue Wohngeldregelung: Diejenigen, die aus der Grund- interessant!) sicherung herausfallen und kein Arbeitslosengeld II be- Diese Steuer wurde 1950 mit Zustimmung der FDP ein- kommen, können die Heizkosten in Anrechnung brin- geführt. gen. Diese können Sie also auch nicht meinen. (Zurufe von der SPD: Oh!) Wen meinen Sie denn dann? Sie meinen wahrschein- lich diejenigen, die relativ gut verdienen, eine große Fa- 1951, 1953, 1955, 1960, 1964 haben Sie sie erhöht. 1967 milie haben und eine große Wohnung haben müssen. waren Sie an der Erhöhung nicht beteiligt, weil sie zu Diejenigen, die eine größere Familie haben, werden bei dieser Zeit nicht an der Regierung waren. 1972, 1973, uns weitgehend über das Steuerrecht entlastet. Wenn es 1981, 1985, 1986, 1987, 1988, 1989, zweimal 1991, nach der CSU geht, dann wird im neuen Steuerrecht der 1993 und 1994 haben Sie die Mineralölsteuer erhöht. Freibetrag pro Person einer Familie auf 8 000 Euro er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE höht. Das würde bedeuten, dass bis zu 32 000 Euro des GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Oh!) Einkommens einer vierköpfigen Familie steuerfrei blei- ben. Das ist Sozialpolitik, und dem gehen wir nach. 80 Prozent der heutigen Mineralölsteuer gehen zurück auf Erhöhungen, die mit FDP-Stimmen beschlossen (Beifall bei der CDU/CSU – Alexander wurden. Das muss man an dieser Stelle einmal deutlich Dobrindt [CDU/CSU]: Davon verstehen die sagen. Kommunisten aber nichts!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lassen Sie mich bitte ein paar Dinge richtigstellen, DIE GRÜNEN) damit wieder einigermaßen Sachlichkeit in die Debatte einkehrt. Es wurde vorhin behauptet, dass sich der Immer wenn Sie an der Regierung sind, erhöhen Sie Strompreis an der Börse in Leipzig bildet. Das stimmt die Steuern, und wenn Sie in der Opposition sind, dann aber nur zum Teil. Wir alle wissen, dass in Leipzig nur versuchen Sie das Etikett „Steuersenkungspartei“ zu be- ein geringer Teil des Strompreises ermittelt wird. Der kommen. Das ist ein widersprüchliches Verhalten, und Preis für den weitaus größeren Teil des Stroms, der in es ist für jeden durchschaubar. Deutschland gehandelt wird, wird auf dem Markt frei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vereinbart. Es ist es sehr wohl von größter Bedeutung, DIE GRÜNEN – Dr. [SPD]: Das wie im Stromhandel die gesamten Kosten ermittelt wer- (B) saß!) den. (D) Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit sagen, dass Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wir in den zurückliegenden Monaten erlebt haben, dass Nächster Redner ist der Kollege Franz Obermeier für die Bundesnetzagentur zum ersten Mal erreicht hat, dass die CDU/CSU-Fraktion. die Übertragungskosten für Strom reduziert wurden – wenn auch gering, aber immerhin. Wir sollten diese (Beifall bei der CDU/CSU) Dinge nicht verschweigen.

Franz Obermeier (CDU/CSU): Vorhin wurde die Frage gestellt: Was ist denn zu tun, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! um die Energiekosten insgesamt wieder in einen Rah- Der objektive Betrachter dieser Bundestagsdebatten men zu bringen, der für unsere Bürgerinnen und Bürger erträglicher ist? Ich möchte daran erinnern, dass diese (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bundesregierung die Problematik des Energieeinsatzes Jetzt kommt er wieder mit der Atomkraft!) sehr grundsätzlich und fundamental angeht. Wir haben das Marktanreizprogramm und das CO -Minderungspro- wird sich heute verwundert die Augen reiben. Meist de- 2 gramm aufgelegt, was natürlich zu erheblichen Einspa- battieren wir in diesem Hohen Hause neue Regelungen rungen führt. Die Entkoppelung von wirtschaftlichem und Gesetze, die zur Folge haben, dass die Energiepreise Wachstum und Energieverbrauch ist schon vor zehn Jah- steigen. Heute beschweren sich zwei Fraktionen über die ren gelungen. Das sind Fortschritte auf diesem Sektor. Frage, warum die Energiepreise so hoch sind. Es ist von Sozialtarifen die Rede. Ich sage das deswegen, weil sich der Energiepreis na- türlich über Angebot und Nachfrage entwickelt. Wir Im Antrag der Kommunisten dieses Hauses heißt es, brauchen von der linken Seite dieses Hauses überhaupt (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sie brau- keine Nachhilfe, wenn es darum geht, wie sich die so- chen einen neuen Friseur!) ziale Marktwirtschaft auf dem Energiesektor definiert. Ich habe mir von den Grünen über Jahre sagen lassen dass die Geringverdiener entlastet werden sollen. Beim müssen, dass wir in Deutschland eine besonders Lesen dieses Antrags habe ich mir die Frage gestellt: schlechte Stromwirtschaft deswegen haben, weil wir im Wer ist denn da gemeint? Die Leute, die Grundsicherung Strombereich extreme Überkapazitäten haben. erhalten, und die Leute, die Arbeitslosengeld II erhalten, werden wohl nicht gemeint sein. Denn in beiden Fällen (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – sowohl bei der Grundsicherung als auch beim Haben wir ja auch! Immer noch!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18067

Franz Obermeier (A) Die Überkapazitäten beim Strom sind weitgehend abge- werke möchte. Lieber Herr Lafontaine, alle Stadtwerke (C) baut. können in Deutschland ein Kraftwerk bauen. Sie müssen es nur tun. Wenn man mit der Stromproduktion und dem (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vertrieb von Strom wirklich so viel Geld verdienen Nein! Das ist nicht wahr!) kann, frage ich mich, warum die Stadt Saarbrücken nicht In der jetzigen Situation müssten wir das Angebot ei- weitere Kraftwerke baut und betreibt. Warum haben wir gentlich dringend erhöhen. denn nicht mehr Produzenten auf diesem Sektor? Diese Frage ist hochinteressant. ( [CDU/CSU]: So ist es! Genau!) (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: So ist es!) Wir brauchten dringend neue Player auf dem Markt. Wir müssen die Nachfrage nach Energie weiter be- Merkwürdigerweise sind Investoren im Bereich der grenzen. Die Instrumente, die die Bundesregierung und Stromproduktion in Deutschland aber relativ dünn gesät. die sie tragende Koalition beschlossen haben, sind rich- tig. Mit dem Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz sind wir mit Sicherheit auf dem richtigen Weg. So können Strom Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und Wärme weiterhin hocheffizient produziert werden. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Wir sind auch insgesamt auf einem guten Weg. Eine Kollegin Höhn? übertriebene Preisgestaltung wird die Bundesnetzagen- tur, die vor kurzem aufgebaut wurde, verhindern. Ich Franz Obermeier (CDU/CSU): habe das Gefühl, dass die Bundesnetzagentur relativ gut Ja, selbstverständlich. in Schwung kommt. Den Rest wird der Wettbewerb auf dem Markt regeln, wenn wir in diesem Haus die richti- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die haben gen Rahmenbedingungen setzen. Darum werden wir uns wir heute doch genug gehört!) bemühen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vielen Dank. Frau Höhn, bitte. (Beifall bei der CDU/CSU)

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, Sie haben eben gesagt, dass die Strom- Das Wort zu einer Kurzintervention erhält nun der überproduktion weitgehend abgebaut ist. Können Sie be- Kollege Dr. Kolb. stätigen, dass die letzte Statistik über Export und Import (B) von Strom besagt, dass wir einen Nettoexportüberhang (D) haben, der der Leistung von vier bis fünf Kraftwerken Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): entspricht, wir also sehr viel mehr exportieren als impor- Herr Kollege Kelber, ich habe mich nach Ihrer Rede tieren und wir in Deutschland nach wie vor über unsere zu einer Kurzintervention gemeldet, weil das, was Sie Nachfrage hinaus Strom produzieren? gesagt haben, so nicht stehen bleiben kann. Sicher ist es wohlfeil, eine illustre Kette von Daten zu präsentieren und eine Verbindung zu Steuererhöhungen herzustellen. Franz Obermeier (CDU/CSU): Ich kann bestätigen, dass wir Strom exportieren. Al- Ich will auf Folgendes hinweisen: Das Gros der lerdings ist das übers Jahr gerechnet marginal. Mineralölsteuererhöhungen wurde nach dem Jahr 1990 verabschiedet. Ich frage Sie: Können Sie sich noch er- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: innern, was damals war? Das war die Zeit der deutschen Ne, ne! Gucken Sie einmal in die Statistik, ehe Einheit. Wir wollten die deutsche Einheit. Wir sind stolz Sie so etwas sagen!) darauf. Es war die SPD, namentlich ihr damaliger Spit- Meines Wissens exportieren wir nur 3 bis 4 Prozent des zenkandidat Oskar Lafontaine, heute bei den Linken, die gesamten Stroms, der produziert wird. sich dieser Aufgabe von nationaler Bedeutung verwei- gert hat. Frau Höhn, das Hauptproblem auf dem Stromsektor ist, dass wir zu wenig Produzenten haben. Vorhin wurde (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vorgeschlagen, die Rekommunalisierung der Strom- der CDU/CSU) erzeugung zu betreiben. Wir wollten die deutsche Einheit und haben damals die (Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Finanzierung ermöglicht. Dazu stehen wir auch heute NEN] nimmt wieder Platz) noch. Ich denke, man kann das nicht aus dem Kontext herausreißen. – Frau Höhn, ich beantworte immer noch Ihre Frage. Sie haben gesagt, dass wir die Renten senken woll- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ten. Das ist eine Umkehrung der tatsächlichen Verhält- Ne, ne, ne! Sie beantworten überhaupt nicht nisse. In keinem Abschnitt der bundesdeutschen Ge- meine Frage! – Dr. Martina Krogmann [CDU/ schichte haben die Rentner in der Art an Kaufkraft CSU]: Stehen bleiben!) verloren wie in den zehn Jahren SPD-Regierung, seit- dem Sie an der Macht sind. – Sie dürfen sitzen bleiben. – Herr Lafontaine hat vorhin gesagt, dass er eine Rekommunalisierung der Kraft- (Beifall bei der FDP) 18068 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Sie haben darüber hinaus vor vier Jahren ein Gesetz drückt hätte, und das ohne eine Grundsicherung im Al- (C) für die Zukunft verabschiedet, das Rentenversicherungs- ter, die es heute gibt. Sie oder zumindest Ihre Partei wa- Nachhaltigkeitsgesetz, mit dem das Niveau der Renten ren da in der Regierung. in Deutschland planmäßig noch einmal um 20 Prozent abgesenkt werden wird. Das sind Fakten. Das ist das Er- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich war dabei!) gebnis einer SPD-Politik, die Sie mitzuverantworten ha- Sie wollen die Steuern kürzen, mit denen wir heute ei- ben. Hören Sie bitte auf, hier so zu tun, als wäre es die nen großen Zuschuss zur Rentenversicherung zahlen. FDP, die den Rentnern in die Tasche greifen will. Das Zum ersten Mal in der Geschichte nehmen wir nicht Gegenteil ist der Fall: Wir kümmern uns und haben aus Geld aus der Rentenversicherung für versicherungs- diesem Grund heute unseren Antrag vorgelegt, um min- fremde Leistungen heraus, sondern geben einen Steuer- destens bei den Energiesteuern den Menschen etwas zu- zuschuss hinein. Wenn Sie diese Steuer wegnehmen, rückzugeben und die Belastungen auszugleichen, die sie dann nehmen Sie den Zuschuss weg. Das heißt, die Ren- durch Sie erfahren haben. tenbeiträge steigen. Wenn die Rentenbeiträge steigen, (Beifall bei der FDP) sinken die Renten. Das ist der Antrag, den Sie heute vor- gelegt haben. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, nein!) Herr Kollege Kelber, bitte. Sie können ihn nicht verleugnen.

Ulrich Kelber (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich kann mir vor- stellen, dass es weh tut, wenn man hier über die Mine- Sie waren damals, als Sie das gemacht haben, sogar ralölsteuer spricht und der Redner der Regierung Ihnen Staatssekretär. Unglaublich! nachweist, dass Sie an 80 Prozent der heutigen Mineral- ölsteuer bzw. an den Beschlüssen, sie zu erhöhen, betei- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ligt waren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt darf ich Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) noch um Aufmerksamkeit für die beiden letzten Redner in dieser Debatte bitten. Man kann versuchen, sich in die Begründung zu flüch- ten, dass man das nach 1990 aufgrund bestimmter Kos- Zunächst hat das Wort für die SPD-Fraktion der Kol- ten vorübergehend so gemacht hat. Aber ich habe Ihnen lege Michael Müller. ja aufgezählt, an wie vielen dieser Erhöhungen – das ist (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) die Mehrzahl – Sie außerhalb dieses Zeitraums bereits beteiligt waren. Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Sie haben in Ihren Regierungszeiten Spitzensteuer- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein gro- belastungen in Deutschland zu verantworten. Nachdem ßes Nachrichtenmagazin hat diese Woche geschrieben: Sie abgewählt waren, sind alle diese Steuerbelastungen Die Debatte über die Energiepreiserhöhungen – über die auch im Bereich der Einkommensteuer gesenkt worden. Energiepreisexplosion muss man eigentlich sagen – (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist kein Problem wird wahrscheinlich die Debatte der großen Vereinfa- der Rentner! Wir reden über die Renten!) cher. Leider hat das Blatt, wenn man einige der Beiträge hier hört, recht. Es ist in der Tat ein viel tiefer gehender Als Sie die Regierung verließen, lag der Spitzensteuer- Bruch, der sich im Augenblick vollzieht. Denn wir müs- satz bei 53 Prozent; er ist auf 45 Prozent gesunken. Als sen begreifen: 150 Jahre lang waren billige Energie und Sie die Regierung verließen, lag der Eingangssteuersatz billige Rohstoffe das Schmiermittel für Beschäftigung bei 25,9 Prozent; jetzt liegt er bei 15 Prozent. Sie sind und Wohlstand. Jetzt ist diese Phase vorbei. Ich finde, da die Steuererhöhungspartei hinsichtlich der Mineralöl- kann man nicht über Pflaster auf den Wunden diskutie- steuer. ren, sondern muss über die Ursachen und den Umbau re- Es ist unredlich, zu sagen, die 60 oder 55 Cent, die die den. Das ist die eigentlich Herausforderung, die es jetzt FDP zu verantworten hat, seien gute Mineralölsteuer- gilt, zu bewerkstelligen. erhöhungen gewesen und der kleine Rest, den die ande- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren gemacht haben, sei böse und zocke die Bürger ab. der CDU/CSU) Das glaubt Ihnen doch niemand! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischen- Zur Rente. Sie sprechen hier vom Nachhaltigkeits- frage des Kollegen Fell? faktor, den wir eingeführt haben. Ich weiß nicht, ob Sie damals schon Mitglied des Bundestages waren. Der Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Nachhaltigkeitsfaktor hat den Demografiefaktor der Ich habe zwar noch nicht viel gesagt, aber er kann, FDP-Regierung ersetzt, der selbst bei den Kleinstrenten wenn er seine vorgefertigte Frage loswerden will, gerne hineingeschnitten und sie unter Sozialhilfeniveau ge- fragen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18069

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (C) Bitte sehr, Herr Kollege Fell. CDU/CSU) Angesichts der Ernsthaftigkeit dieses Themas sollten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wir die parteitaktischen Spielchen lassen. Das bringt Herr Staatssekretär Müller, Sie haben gerade gesagt, doch nichts. dass wir begreifen müssen, dass die Phase der billigen Energien vorbei ist und dass wir einen Umbruch in der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gesellschaft haben. Sie sprechen ja für die Bundesregie- Das bringt uns übrigens genauso wenig wie der Beitrag rung. Deshalb frage ich Sie, ob Sie hierzu eine andere von Oskar Lafontaine, der sich permanent auf Willy Meinung haben als die Bundesregierung insgesamt. Brandt beruft. Willy Brandt hat einmal gesagt: Erfolgrei- Vor wenigen Wochen, am 28. Mai dieses Jahres, habe che Politik setzt voraus, dass man auf der Höhe der Zeit ich die Bundesregierung gefragt, von welchen Ölpreis- ist. – Oskar Lafontaine ist aber nicht auf der Höhe der prognosen sie ausgeht. Wir erinnern uns: An diesem Tag Zeit. ist der Ölpreis auf über 135 Dollar pro Barrel hochge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie schossen. Die Antwort der Bundesregierung auf meine bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Frage war, sie gehe für 2010 und 2020 von einem realen NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ölpreis von etwa 53 bzw. 49 Dollar pro Barrel aus. Das sind absurde, weltfremde Annahmen, die nicht einmal Er hat in seiner Rede nicht einmal über das Thema Öko- mit der heutigen Realität übereinstimmen! logie geredet. Er hat nur über die Folgen geredet, nicht ein einziges Mal über die Ursachen. Er ist ein Politiker, Es kommt noch viel schlimmer: Sie sagten, dass sich der noch an die alte Philosophie eines grenzenlosen diese Situation gerade weltweit verändert. Mir hat die Wachstums glaubt. Sonst könnte er seine Positionen so Bundesregierung geantwortet, sie halte die weltweiten überhaupt nicht vertreten. Ölreserven zur Deckung des projizierten Nachfrage- wachstums bis 2030 für ausreichend. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: So ein Quatsch!) Ich frage Sie: Kennt die Bundesregierung nicht die wissenschaftlichen Ergebnisse, die völlig andere Pro- Er ist von gestern, und das wird er auch bleiben; denn er gnosen beinhalten? Warum nimmt die Bundesregierung ist nicht lernfähig. die Probleme nicht wahr? Warum berufen Sie sich ledig- lich auf die Internationale Energieagentur in Paris, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- (B) noch im Jahre 2004 für 2008 einen Ölpreis von 22 Dol- (D) lar pro Barrel prognostiziert hat? Heute beträgt er übri- SES 90/DIE GRÜNEN) gens 140 Dollar pro Barrel. Angesichts der Antworten, Lassen Sie uns auf die Punkte zurückkommen, die die mir die Bundesregierung noch vor wenigen Tagen heute relevant sind. Zu Beginn dieses Jahres betrug der gegeben hat, frage ich mich: Wie absurd ist eigentlich Ölpreis pro Barrel an der New Yorker Börse 100 Dollar; die Betrachtungsweise der Bundesregierung? jetzt sind es 139 Dollar. Vor dem Irak-Krieg lag der Öl- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) preis in 2003 übrigens bei 28 US-Dollar pro Barrel. Da- ran sieht man, dass er explosionsartig gestiegen ist. Hinzu kommt, dass das nicht nur bei Gas und Öl ein Pro- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): blem ist. Bei fast jedem Rohstoff kam es zu exorbitanten Lieber Kollege Fell, manche Fragen sollte man lieber Preiserhöhungen. nicht stellen. Ich will nur drei Beispiele nennen: Der Preis für (Vereinzelt Heiterkeit) Kokskohle hat sich innerhalb eines Jahres von 98 auf Beispielsweise gibt es auch eine Aussage der Bundesre- 300 Dollar erhöht, der Preis für Eisenerz ist um gierung aus dem Jahre 2000 – damals war Jürgen Trittin 90 Prozent gestiegen und der für Feinerz um 68 Prozent. Umweltminister –, in der es heißt, dass der Ölpreis nicht Ich kenne keinen wichtigen Rohstoff, dessen Preis sich auf mehr als 35 Dollar steigen wird. seit dem Jahre 2000 nicht mindestens verdreifacht hat. Daraus muss man Schlussfolgerungen ziehen. Und das (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der ist ein gewaltiges Umverteilungsprogramm; auch das se- CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn hen wir mit Sorge. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da können wir doch nichts dafür! Wer war damals eigent- Herr Meyer, Sie haben völlig recht: Von diesen Preis- lich Wirtschaftsminister?) erhöhungen sind alle Menschen in der Gesellschaft be- troffen. Aber natürlich gibt es manche, die davon über- Seien Sie also bitte vorsichtig und zurückhaltend. Lassen durchschnittlich betroffen sind; darauf müssen wir Sie uns über die Fakten reden. Es gibt immer Punkte, in reagieren. Nach einer Studie aus Nordrhein-Westfalen denen ich anderer Meinung bin als andere. Es wird auch werden die unteren 20 Prozent der Bevölkerung durch in der Bundesregierung nie eine einheitliche Meinung die Erhöhung der Energiepreise mit 8,2 Prozent belastet geben. Ich möchte es einmal so auf den Punkt bringen: – das ist der Anteil der Energiekosten an ihren durch- Kein Mitglied der Bundesregierung ist angesichts der schnittlichen Haushaltsausgaben –, bei den oberen steigenden Energie- und Rohstoffpreise nicht in Sorge. 20 Prozent sind es nur 2,4 Prozent. 18070 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Michael Müller (Düsseldorf) (A) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass hier eine ge- werden sich auf die Weltwirtschaft auswirken, sie wer- (C) waltige Umverteilung stattfindet. Darauf darf man nicht den sich auf die Beschäftigung auswirken. Wir brauchten nur mit wenigen kleinen Korrekturen reagieren, sondern die gesamte Kreativität dieses Hauses, um neue Wege zu man braucht eine Strategie, die lautet: Der viel zu hohe finden, die zu Wohlstand und Beschäftigung führen. Energieverbrauch muss massiv reduziert werden, und man muss in erneuerbare Energien umsteuern, um eine ( [CDU/CSU]: Es reicht!) ökologische Orientierung unserer Wirtschaft herbeizu- – Herr Kauder, ich bin sicher, dass Sie diesen Weg mit- führen. Wir haben keine andere Chance. gehen werden. (Beifall des Abg. [BÜND- (Jörg Tauss [SPD]: Wir sind guter Hoffnung!) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir haben eine Chance, wenn die Bundesrepublik zum Das eigentliche Problem ist, dass wir über das, was energie- und ressourceneffizientesten Land der Welt heute passiert, schon seit 30 Jahren Bescheid wissen, wird. Diese Vision sollten wir gemeinsam verwirklichen. dass wir in den letzten 30 Jahren aber zu wenig getan ha- ben. Das ist das eigentliche Problem, darüber müssen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir reden. Ich sage das auch mit Blick auf die FDP, die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) häufig genug den Wirtschaftsminister gestellt hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Manfred Zöllmer, SPD-Fraktion. Zum hochgelobten Frankreich will ich nur sagen: Bei der Energieeffizienz liegt Frankreich weit hinter (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutschland, bei den erneuerbaren Energien erst recht. Woran liegt das? Frankreich hält an Strukturen fest, die Manfred Zöllmer (SPD): nicht zukunftsfähig sind. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wer heutzutage die Tankrechnung präsentiert bekommt, sagt sich häufig: Eigentlich wollte ich die Tankstelle Frankreich hat zehnmal so viel Küste wie Deutschland, nicht mitkaufen. wäre ein ideales Land für Windenergie. Frankreich ge- winnt aber nur ein Zehntel so viel Windenergie wie (Volker Kauder [CDU/CSU]: Haha!) Deutschland. Warum? Weil Windräder die nicht abge- Die Nachzahlungen bei Strom und Gas bringen in vie- schriebenen Atomkraftwerke stören, die sich nur rech- (B) len Haushalten das Budget aus dem Lot. Die jährliche Be- (D) nen, wenn viel Energie verbraucht wird. Man will keine lastung eines durchschnittlichen dreiköpfigen Haushaltes Konkurrenz; das ist der eigentliche Grund. stieg von 2000 bis heute von 1 300 Euro auf 2 200 Euro (Beifall bei Abgeordneten der SPD) im Jahr. Nach Auskunft des Bundes der Energieverbrau- cher wird jährlich circa 800 000 Haushalten Strom bzw. Das Wichtigste, was wir erreicht haben, ist, dass wir Gas abgestellt. in Deutschland den Markt für erneuerbare Energien geöffnet haben. Ich hätte mir gewünscht, dass wir in der Hätte ein Wirtschaftsexperte vor zwei Jahren die ak- Vergangenheit noch mehr für die Energieeffizienz getan tuellen Energiepreise vorauszusagen gewagt, wäre er für hätten. Nun muss das nachgeholt werden. verrückt erklärt worden. Ein Zusammenbruch der Welt- wirtschaft wäre prognostiziert worden. Die Weltwirt- Lassen Sie mich ein paar Punkte nennen, die ich mit schaft ist nicht zusammengebrochen; aber sie ächzt ver- Sorge sehe. Herr Kurth, ich hätte es gut gefunden, wenn nehmlich unter den Preisen. Sie einmal selbstkritisch eingestanden hätten: Wir Grüne haben bei der Ökosteuer das Prinzip der Aufkommens- Zur weiteren Entwicklung der Preise haben die Kolle- neutralität vertreten. – Sie haben das damals mit aller gen bereits einiges gesagt. Ich will mich dem anschlie- Härte durchgesetzt, obwohl sich ein nicht unerheblicher ßen: Es ist naiv zu glauben, dass Energie wieder so billig Teil des Bundestages dafür ausgesprochen hat, einen Teil wird wie in den letzten Jahrzehnten. Wir müssen weiter des Aufkommens zur Stabilisierung des öffentlichen steigende Energiepreise einkalkulieren. Nahverkehrs zu verwenden. Das wäre auch unter sozia- Was ist zu tun? Die FDP schlägt mit ihrem Antrag len Gesichtspunkten richtig gewesen. vor, die Energiesteuern zu senken. Ein toller Vorschlag, Ich will auch nicht verhehlen: Unter Jürgen Trittin ist liebe Frau Kopp! Die Energiekonzerne würden sich das Thema Energieeffizienz nicht mit der Priorität be- freuen: Sie würden die Steuerersparnis dankend als Sub- handelt worden, die es verdient gehabt hätte. vention vereinnahmen. Nach kürzester Zeit hätten wir wieder das alte Preisniveau. Wollen Sie die Steuern dann (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: erneut senken? Die Preise würden abermals steigen. Ir- Der Gabriel ist auch nicht besser!) gendwann können Sie die Steuern nicht mehr senken. – Ich sage ja: Wir alle sollten nicht selbstgerecht argu- Was machen Sie dann? mentieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- groß. Die Veränderungen treffen unseren Wohlstand, sie NEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18071

Manfred Zöllmer (A) Das wäre radikale Umverteilung zulasten der Verbrau- Wir wollen letztendlich Schluss mit einer Tarifgestal- (C) cher, zulasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. tung machen, bei der derjenige weniger zahlt, der mehr Für uns Sozialdemokraten stehen nicht die Interessen der verbraucht. Energiesparen ist der beste Weg zu niedrige- Energiekonzerne, sondern die Interessen der Verbrau- ren Ausgaben. Diesen Anreiz wollen wir geben. cherinnen und Verbraucher im Vordergrund. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nun kommt die Linke mit einem Antrag. Sie wollen die Energieversorgungsunternehmen verpflichten, für Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Haushalte mit geringem Einkommen Sozialtarife einzu- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des führen, die mindestens 50 Prozent unter dem günstigsten Kollegen Hill? Tarif liegen. Das soll hier jetzt gesetzlich beschlossen werden. Ich sage: Genau das will die SPD-Fraktion Manfred Zöllmer (SPD): nicht. Das wäre zum einen ein Freifahrtschein für Ener- Herr Hill, bitte. gieverschwendung. Zum anderen wäre das der sichere ökonomische Tod unserer Stadtwerke und damit ein si- (Ulrich Kelber [SPD]: Er hat auch keine Rede- cherer Weg zu einer weiteren Marktkonzentration sowie zeit vom Fraktionsvorsitzenden bekommen!) zu größerer Marktmacht von wenigen EVUs mit dem Er- gebnis zusätzlich steigender Preise. Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Herr Kollege Zöllmer, ich will es Ihnen nachsehen, (Beifall bei der SPD) dass Sie unseren Antrag in seiner Komplexität nicht Nein, das ist ein Populismuswahn. In diesem Populis- komplett gelesen haben und dass Sie in Ihrem Beitrag muswahn verzapft die Linke den größten anzunehmen- nicht auf die Umweltmechanismen und all das, was da- den Unfug. mit zusammenhängt, eingegangen sind. Daneben besteht der Antrag ja aus vier Komponenten und nicht nur aus (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einer. Die Annahme Ihres Antrags würde ein Vernichtungs- Sie sagen, die SPD denke darüber nach. Mich würde programm für kommunale Stadtwerke bedeuten; denn jetzt einfach interessieren, wie lange Sie denn noch als Grundversorger bedienen sie häufig und in ganz star- nachdenken wollen und wann Sie uns das Ergebnis Ihres kem Maße einkommensschwache Haushalte. Das wür- Nachdenkprozesses präsentieren werden; denn die ein- den viele Stadtwerke nicht überleben. Lieber Kollege kommensschwachen Haushalte haben jetzt und nicht erst Lafontaine, begeben Sie sich in Saarbrücken doch ein- in der nächsten Legislaturperiode das Problem. fach einmal in Ihre Stadtwerke und reden Sie vor Ort mit (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) den Beschäftigten. Sie würden Ihnen genau das, was ich hier gesagt habe, auch erklären. Wenden Sie sich doch einfach einmal den Menschen zu. Manfred Zöllmer (SPD): Herr Kollege Hill, der Unterschied zwischen uns und (Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: der Linksfraktion ist, dass wir erst nachdenken und dann Das sollte man sich einmal überlegen: im eige- mit den Betroffenen reden. Im Moment tagt zum Bei- nen Wahlkreis!) spiel eine Arbeitsgruppe, bei der ich eigentlich auch sein müsste und die sich mit diesem Thema beschäftigt. Ver- Ist es von einer Partei denn eigentlich zu viel verlangt, schiedene Stadtwerke und der VKU wurden eingeladen. statt hier über philosophische Grundlagen der sozialen Mit ihnen gemeinsam diskutieren wir über mögliche Marktwirtschaft zu fabulieren, auch einmal die Konse- Modelle. Das heißt, wir machen uns erst Gedanken und quenzen von Forderungen zu durchdenken? Sie haben gehen dann an die Öffentlichkeit. Das unterscheidet uns hier gesagt, Sie würden irgendeine Lösung fordern. Wir fundamental von der Linkspartei. fordern nicht irgendeine Lösung, die Unsinn ist und zur Vernichtung von Wettbewerb und Arbeitsplätzen führt, (Beifall bei der SPD – Uwe Barth [FDP]: Die sondern der richtige Weg kann nur sein, eine vernünftige auch nichts davon versteht!) Lösung zu finden. Ich habe eben deutlich gemacht, dass wir gemeinsam Wir Sozialdemokraten diskutieren Lösungen, die auch mit den Stadtwerken eine Lösung suchen werden; denn den Normalverdienern zugutekommen; denn die Ener- die Stadtwerke als Grundversorger fürchten natürlich, giepreise liegen mittlerweile auf einem Niveau, das nicht dass sie allein die wirtschaftlichen Konsequenzen tragen nur den Einkommensschwächsten, sondern auch den müssen. Das darf und wird nicht so sein. Wir wollen eine Normalverdienern in großem Umfang zu schaffen macht. wettbewerbsneutrale Lösung finden, mit der den Belan- gen der Stadtwerke Rechnung getragen wird. Wir brau- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen die kommunalen Versorger, die wir nicht schwä- chen, sondern stärken wollen. Wir wollen eine mögliche Entlastung der Bürgerinnen und Bürger aber mit dem Effizienzgedanken verbinden. Wir brauchen ein soziales Ressourcenmanagement, Deshalb diskutieren wir darüber, dass eine bestimmte das die Herausforderungen unserer Zeit ernst nimmt und Energiemenge möglicherweise zu einem geringeren angemessene Antworten findet. An erster Stelle steht Preis abgegeben werden muss. Wer darüber hinaus ver- mehr Wettbewerb im Energiesektor. Er sorgt nicht für braucht, zahlt dann mehr als jetzt. niedrige, aber für faire Preise. Die notwendigen Maß- 18072 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Manfred Zöllmer (A) nahmen dazu sind eingeleitet worden. Die Kolleginnen in die geförderte Altersvorsorge (Eigenheim- (C) und Kollegen haben das bereits ausgeführt. Ich will nicht rentengesetz – EigRentG) näher darauf eingehen. – Drucksache 16/8869 – Wir haben den Wettbewerb in vielen Punkten erfolg- reich gestärkt. In der letzten Woche haben wir ein Pro- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gramm zur Energieeinsparung und zum Klimaschutz be- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes schlossen. Wir nehmen das Problem ernst und arbeiten zur verbesserten Einbeziehung der selbstge- in vielen Punkten daran. Wir müssen als Große Koalition nutzten Wohnimmobilie in die geförderte Al- zu einer vernünftigen Regelung für das soziale Ressour- tersvorsorge (Eigenheimrentengesetz – cenmanagement kommen. EigRentG) Lieber Kollege Meyer, es geht uns nicht um Subven- – Drucksachen 16/9274, 16/9449 – tionen – das ist ein völlig falscher Zungenschlag in der Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Diskussion –, sondern um eine sachgerechte und ver- schusses (7. Ausschuss) nünftige Lösung, die den Effizienzgedanken mit dem so- zialen Gedanken verbindet. Darüber sollte auch die – Drucksachen 16/9641, 16/9670 – CDU/CSU-Fraktion noch einmal nachdenken. Berichterstattung: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Abgeordnete Olav Gutting Dr. Hans-Ulrich Krüger (Beifall bei der SPD) Carl-Ludwig Thiele Dr. Barbara Höll Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Ich schließe die Aussprache. gemäß § 96 der Geschäftsordnung Wir kommen zur Abstimmung. Zum Tagesordnungs- – Drucksache 16/9642 – punkt 28 stimmen wir ab über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Berichterstattung: Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Energie- Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme kosten für Privathaushalte mit geringem Einkommen so- (Erfurt) fort wirksam senken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8264, den An- Dr. Gesine Lötzsch (B) trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7745 ab- Alexander Bonde (D) zulehnen. Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion Die der FDP vor. Linke namentlich über die Beschlussempfehlung ab. Ich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe und höre sehenen Plätze an den Urnen einzunehmen. – Sind die dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah- Plätze an den Urnen besetzt? – Ich sehe, das ist der Fall. ren. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine ner dem Kollegen Hans-Ulrich Krüger für die SPD- Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fraktion das Wort. Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird 1) Ihnen später bekannt gegeben. Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Wir kommen zum Zusatzpunkt 9. Interfraktionell wird Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9595 und Kollegen! Die SPD tritt für die Förderung des Al- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse tersvorsorgesparens ein. vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir auch!) sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. – Gut. Mit dem heute zu beschließenden Eigenheimren- tengesetz – wir sprechen allerdings lieber von Wohn- Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 29 auf: Riester – fügen wir das Wohneigentum als weiteren Bau- – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- stein in die Riester-Rente ein. Dadurch schließen wir nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten eine Lücke. Neben der Geldrente wird künftig auch das Entwurfs eines Gesetzes zur verbesserten Ein- mietfreie Wohnen im Alter staatlich gefördert. Damit beziehung der selbstgenutzten Wohnimmobilie kann für viele Menschen der Traum vom Leben in den eigenen vier Wänden wahr werden. 1) Ergebnis Seite 18074 A (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18073

Dr. Hans-Ulrich Krüger (A) Die Riester-Rente wird dadurch noch attraktiver und tersvorsorge erhalten. Das heißt, wir helfen hier einem (C) die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zum priva- Personenkreis, der aufgrund seines Schicksals ganz be- ten Altersvorsorgesparen weiter erhöht. Dies ist trotz des stimmten Einschränkungen unterworfen und damit auch bereits erreichten hohen Verbreitungsgrades der Riester- in besonderem Maße schutzbedürftig ist. Rente deshalb wichtig, weil wir damit noch mehr Er- werbstätige ermuntern und ermutigen, sich auf ihre Zu- Ferner haben die Koalitionsfraktionen bei den Bera- kunft im Alter ausreichend vorzubereiten. tungen über den Gesetzentwurf Anregungen der Sachver- ständigen und Verbände aus der öffentlichen Anhörung Das Eigenheimrentengesetz eröffnet demjenigen, der aufgenommen. Hervorzuheben sind zwei Regelungen, Wohneigentum erwerben möchte, verschiedene Förder- durch die besondere Anreize auch für junge Sparer gesetzt möglichkeiten. Künftig kann das in einem Altersvorsor- werden, früh zu beginnen, damit die besten Ausgangsbe- gevertrag angesparte Vermögen ganz oder teilweise für dingungen für eine lückenlose Altersvorsorge geschaffen den Kauf einer Wohnimmobilie entnommen werden, werden. Zum einen sehen wir bei der Wohnungsbauprä- ohne dass eine Rückzahlungsverpflichtung besteht. Al- mie eine Ausnahme von der Zweckbindung für Jugendli- ternativ kann das angesparte Vermögen zu Beginn der che unter 25 Jahren vor. Zum Vergleich: Es ist sicherlich Auszahlungsphase zur Entschuldung genutzt werden. richtig, dass wir mit dem Eigenheimrentengesetz eine Außerdem werden – das ist der Clou – laufende Spar- Zweckbindung der Wohnungsbauprämie eingeführt ha- und Tilgungsleistungen auf einen Bausparvertrag oder ben, um eine zielgerichtete Verwendung der Fördermittel ein Baufinanzierungsdarlehen wie Altersvorsorgebei- sicherzustellen. Richtig ist aber auch, zur Förderung der träge staatlich gefördert. Sparneigung der Jugendlichen eine einmalige Ausnahme für sieben Jahre zuzulassen. Die SPD hat auch darauf geachtet, dass neben dem Wohneigentum auch der Erwerb von Geschäftsanteilen ( [CDU/CSU]: Die Erkennt- von Wohnungsgenossenschaften förderfähig gemacht nis ist sehr gut!) wird; denn auch durch genossenschaftliches Wohnen lassen sich die Wohnkosten im Alter reduzieren. Wir Zum anderen gestalten wir den Berufseinsteigerbonus helfen damit gerade denjenigen Personen, die eben über bei der Riester-Rente attraktiver. Das heißt, der Bonus kein großes Eigenkapital verfügen, und bieten ihnen die wird nicht in Höhe von 100, sondern in Höhe von 200 Möglichkeit der Absicherung im Alter. Das begrüße ich Euro gewährt, und zwar ebenfalls allen Jugendlichen bis sehr. zum Alter von 25 Jahren. (Beifall bei der SPD) Hervorzuheben ist, dass der Verbraucherschutz bei (B) diesem Gesetz seinen ordnungsgemäßen Rang behält (D) Wie sehr sich die Förderung lohnt, lässt sich anhand und verbraucherschutzrechtliche Aspekte hinreichend eines bereits von dieser Stelle vorgetragenen, aber mit berücksichtigt wurden, vor allen Dingen bei den soge- Recht zu wiederholenden Beispiels darstellen. Unterstel- nannten Kombiprodukten im Bausparbereich. Durch die len wir eine Familie mit zwei Kindern, Vater und Mutter verpflichtende Angabe eines Gesamteffektivzinses des berufstätig, mit einem Einkommen von insgesamt Bausparkombikredits wird nunmehr dem mündigen Ver- 50 000 Euro. Diese Familie nimmt ein Darlehen von braucher klar und nachhaltig vor Augen geführt, wie 40 000 Euro auf. Wenn sie das Darlehen nach 20 Jahren teuer, billig, preisgünstig oder maßgeschneidert diese Fi- getilgt hat, hat die Familie aus eigenen Mitteln gut nanzierungsform für ihn ist. Schließlich und endlich 24 000 Euro beigetragen, der Staat durch Zulagen knapp wird die Kündigungsfrist bei Bausparverträgen im Fall 16 000 Euro. Dieses Ergebnis von Riester kann sich eines Anbieterwechsels oder einer Kapitalentnahme auf wahrlich sehen lassen. drei Monate verkürzt. Das heißt, für Bausparverträge gelten dieselben Kündigungsfristen wie für andere Anla- (Beifall bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele geprodukte. [FDP]: Wer ist Riester? War er dabei?) Mit der Riester-Rente haben wir eine umfassende Für die SPD ist und war es entscheidend, dass wir Förderung der zusätzlichen Altersvorsorge geschaffen. eine gleichberechtigte Integration des Wohneigentums in Mit dem Eigenheimrentengesetz ergänzen wir die bishe- die Riester-Rente erreicht haben. Das heißt, die Förde- rige Alterssparproduktpalette um das selbst genutzte rung in der Ansparphase erfolgt durch die Gewährung Wohneigentum als eigenständige Form der Alterssiche- von Zulagen und Sonderausgabenabzug, und in der Aus- rung. Die Opposition wird das sicherlich anders sehen, zahlungsphase erfolgt eine nachgelagerte Besteuerung. aber das ist ein großer Erfolg der Großen Koalition, ein Nur diese Gleichstellung des Wohneigentums mit ande- Erfolg, der das harte Ringen um tragfähige Kompro- ren Vorsorgeformen ermöglicht die echte Wahlfreiheit misse wert gewesen ist. Ich bedanke mich daher aus- für Bürgerinnen und Bürger. drücklich bei den Berichterstatterkollegen der Union und den Mitarbeitern des Bundesfinanzministeriums, die mit Außerdem enthält das Eigenheimrentengesetz noch uns kompetent und vertrauensvoll zusammengearbeitet eine weitere wichtige Neuerung für die Riester-Rente. haben. Künftig können auch Personen, die eine Rente wegen vollständiger Erwerbsunfähigkeit oder eine Versorgung Ich danke Ihnen. wegen vollständiger Dienstunfähigkeit beziehen, eine Riester-Förderung für den Aufbau einer zusätzlichen Al- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 18074 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Frak- (C) Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, tion Die Linke mit dem Titel „Energiekosten für Privat- komme ich auf den Tagesordnungspunkt 28 zurück und haushalte mit geringem Einkommen sofort wirksam sen- gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schrift- ken“ bekannt: Abgegebene Stimmen 507. Mit Ja haben führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- gestimmt 461, mit Nein 46. Damit ist die Beschlussemp- mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses fehlung angenommen.

Endgültiges Ergebnis Hans-Joachim Fuchtel Abgegebene Stimmen: 507; Dr. Jürgen Gehb Wilhelm Josef Sebastian davon Dr. Max Lehmer Kurt Segner ja: 461 Ralf Göbel nein: 46 Josef Göppel Dr. Klaus W. Lippold Peter Götz Christian Freiherr von Stetten Ja Dr. Wolfgang Götzer Dr. Michael Luther Stephan Mayer (Altötting) Andreas Storm CDU/CSU Reinhard Grindel Wolfgang Meckelburg Hermann Gröhe Dr. (Heilbronn) Michael Grosse-Brömer Laurenz Meyer (Hamm) Lena Strothmann Markus Grübel Michael Stübgen Monika Grütters Dr. h. c. Hans Peter Thul Dr. Karl-Theodor Freiherr Dr. Eva Möllring Thomas Bareiß zu Guttenberg Olav Gutting Carsten Müller Volkmar Uwe Vogel Dr. Holger Haibach (Braunschweig) Andrea Astrid Voßhoff Günter Baumann Gerda Hasselfeldt Stefan Müller (Erlangen) Ernst-Reinhard Beck Uda Carmen Freia Heller Dr. Gerd Müller (Reutlingen) Hildegard Müller (Bremen) Peter Weiß (Emmendingen) Otto Bernhardt Ernst Hinsken Gerald Weiß (Groß-Gerau) Clemens Binninger Dr. Georg Nüßlein (B) Christian Hirte Franz Obermeier Karl-Georg Wellmann (D) Robert Hochbaum Eduard Oswald Anette Widmann-Mauz Klaus Hofbauer Klaus-Peter Willsch Wolfgang Börnsen Franz-Josef Holzenkamp Rita Pawelski Willy Wimmer (Neuss) (Bönstrup) Joachim Hörster Ulrich Petzold Elisabeth Winkelmeier- Wolfgang Bosbach Anette Hübinger Dr. Becker Klaus Brähmig Susanne Jaffke-Witt Sibylle Pfeiffer Dagmar Wöhrl Michael Brand Dr. Wolfgang Zöller Dr. Hans-Heinrich Jordan Willi Zylajew Dr. (Konstanz) Dr. SPD Cajus Caesar Bartholomäus Kalb Dr. Hans-Werner Kammer Peter Rauen Leo Dautzenberg (Potsdam) Bernhard Kaster Klaus Riegert (Neuruppin) Alexander Dobrindt Siegfried Kauder (Villingen- Franz Romer Thomas Dörflinger Schwenningen) Johannes Röring Dr. Hans-Peter Bartels Maria Eichhorn Volker Kauder Kurt J. Rossmanith Dr. Stephan Eisel Dr. Norbert Röttgen Sören Bartol (Lübeck) Jürgen Klimke Dr. Christian Ruck Sabine Bätzing Julia Klöckner (Weiden) Klaus Uwe Benneter Dr. Hans Georg Faust Peter Rzepka Dr. Kristina Köhler (Wiesbaden) Anita Schäfer (Saalstadt) Ingrid Fischbach Manfred Kolbe Hermann-Josef Scharf Hartwig Fischer (Göttingen) Norbert Königshofen Dr. Wolfgang Schäuble (Heidelberg) Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Hartmut Schauerte Dr. Hartmut Koschyk Dr. Klaus-Peter Flosbach Karl Schiewerling Norbert Schindler Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Günter Krings Georg Schirmbeck Dr. (Hof) Dr. Martina Krogmann Klaus Brandner Erich G. Fritz Dr. Hermann Kues (Berlin) Jochen-Konrad Fromme Dr. Karl Lamers (Heidelberg) Dr. Dr. Michael Fuchs Andreas G. Lämmel Dr. Ole Schröder (Hildesheim) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18075

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Volker Kröning Dr. Ditmar Staffelt Detlef Parr (C) Marco Bülow Angelika Krüger-Leißner Dieter Steinecke Dr. Hans-Ulrich Krüger Andreas Steppuhn Gisela Piltz Jürgen Kucharczyk Jörg Rohde Dr. Michael Bürsch Helga Kühn-Mengel Christoph Strässer Frank Schäffler Ute Kumpf Dr. Peter Struck Marion Caspers-Merk Joachim Stünker Carl-Ludwig Thiele Dr. Christian Lange (Backnang) Dr. Rainer Tabillion Dr. Herta Däubler-Gmelin Dr. Jörg Tauss Christoph Waitz Waltraud Lehn Jella Teuchner Dr. Guido Westerwelle Dr. Carl-Christian Dressel Helga Lopez Dr. h. c. Wolfgang Thierse Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Elvira Drobinski-Weiß Gabriele Lösekrug-Möller Jörn Thießen Martin Zeil Dirk Manzewski Franz Thönnes Detlef Dzembritzki Lothar Mark Rüdiger Veit BÜNDNIS 90/ Simone Violka DIE GRÜNEN Jörg Vogelsänger Siegmund Ehrmann Kerstin Andreae Dr. Marlies Volkmer Petra Merkel (Berlin) Volker Beck (Köln) Hedi Wegener Petra Ernstberger Ulrike Merten Andreas Weigel Karin Evers-Meyer Detlef Müller (Chemnitz) Birgitt Bender Gunter Weißgerber Annette Faße Michael Müller (Düsseldorf) Alexander Bonde Elke Ferner Franz Müntefering Ekin Deligöz (Wiesloch) Dr. Rolf Mützenich Dr. Thea Dückert Dr. Rainer Wend Rainer Fornahl Dr. Uschi Eid Lydia Westrich Gabriele Frechen Thomas Oppermann Hans Josef Fell Dr. Peter Friedrich Holger Ortel Kai Gehring Andrea Wicklein Iris Gleicke Heinz Paula Katrin Göring-Eckardt Engelbert Wistuba Renate Gradistanac Johannes Pflug Bettina Herlitzius Dr. Angelika Graf (Rosenheim) Joachim Poß Waltraud Wolff Dieter Grasedieck Christoph Pries Peter Hettlich (Wolmirstedt) Gabriele Groneberg Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Heidi Wright Achim Großmann Bärbel Höhn Wolfgang Grotthaus Dr. Thilo Hoppe Wolfgang Gunkel Manfred Zöllmer Brigitte Zypries Ute Koczy Hans-Joachim Hacker Gerold Reichenbach Sylvia Kotting-Uhl Dr. Carola Reimann (B) FDP Undine Kurth (Quedlinburg) (D) Klaus Hagemann Christel Riemann- Markus Kurth Michael Hartmann Hanewinckel Jens Ackermann (Wackernheim) Dr. Karl Addicks Nicole Maisch Sönke Rix Jerzy Montag Dr. Reinhold Hemker René Röspel (Münster) Kerstin Müller (Köln) Rolf Hempelmann Dr. Uwe Barth Winfried Nachtwei Dr. Barbara Hendricks Michael Roth (Heringen) Omid Nouripour Brigitte Pothmer Petra Heß Marlene Rupprecht Mechthild Dyckmans (Augsburg) Gabriele Hiller-Ohm (Tuchenbach) Jörg van Essen Stephan Hilsberg Anton Schaaf Ulrike Flach Manuel Sarrazin (Essen) Axel Schäfer (Bochum) Otto Fricke Elisabeth Scharfenberg Gerd Höfer Dr. Paul K. Friedhoff Christine Scheel (Wismar) (Bayreuth) Irmingard Schewe-Gerigk Frank Hofmann (Volkach) Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Dr. Eike Hovermann (Nürnberg) Hans-Michael Goldmann Rainder Steenblock Klaas Hübner Dr. Frank Schmidt Joachim Günther (Plauen) Silke Stokar von Neuforn Lothar Ibrügger Heinz Schmitt (Landau) Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Wolfgang Strengmann- Johannes Jung (Karlsruhe) Carsten Schneider (Erfurt) Heinz-Peter Haustein Kuhn Hans-Christian Ströbele Johannes Kahrs Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Harald Terpe Ulrich Kasparick Reinhard Schultz Hellmut Königshaus Jürgen Trittin Dr. h. c. Susanne Kastner (Everswinkel) Gudrun Kopp Wolfgang Wieland Ulrich Kelber (Spandau) Jürgen Koppelin Josef Philip Winkler Heinz Lanfermann Hans-Ulrich Klose Frank Schwabe Dr. Angelica Schwall-Düren Harald Leibrecht Nein Fritz Rudolf Körper Dr. Martin Schwanholz Michael Link (Heilbronn) DIE LINKE Karin Kortmann Markus Löning Rolf Kramer Rita Schwarzelühr-Sutter Horst Meierhofer Hüseyin-Kenan Aydin Wolfgang Spanier Patrick Meinhardt Dr. Dietmar Bartsch Ernst Kranz Dr. Margrit Spielmann Jan Mücke Karin Binder Nicolette Kressl Jörg-Otto Spiller Burkhardt Müller-Sönksen 18076 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Eva Bulling-Schröter Inge Höger Dorothée Menzner Dr. (C) Dr. Barbara Höll Kornelia Möller Dr. Sevim Dağdelen Ulla Jelpke Kersten Naumann Dr. Diether Dehm Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Jörn Wunderlich Werner Dreibus Dr. Hakki Keskin Elke Reinke Sabine Zimmermann Dr. Monika Knoche Paul Schäfer (Köln) Klaus Ernst Katrin Kunert Volker Schneider fraktionslose Abgeordnete Wolfgang Gehrcke Oskar Lafontaine (Saarbrücken) Dr. Michael Leutert Dr. Herbert Schui Henry Nitzsche Lutz Heilmann Ulla Lötzer Dr. Ilja Seifert Gert Winkelmeier Hans-Kurt Hill Dr. Gesine Lötzsch Dr. Cornelia Hirsch Ulrich Maurer Frank Spieth

Wir fahren in der Debatte fort. Ich erteile das Wort Wir unterhalten uns auf der einen Seite über Bürokratie- dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele für die FDP-Fraktion. abbau und Steuerreformen, aber alleine bei diesem Ge- setz müssen wir feststellen, dass die Große Koalition (Beifall bei der FDP) 13 Paragrafen des Einkommensteuergesetzes ändert. Etwa 2 000 Wörter werden in das Einkommensteuerge- Carl-Ludwig Thiele (FDP): setz eingefügt bzw. geändert. Allein die beiden neuen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Paragrafen 92 a und 92 b enthalten 1 181 Wörter. Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade an dem (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE Wortbeitrag des Kollegen Krüger gesehen, wie weit die GRÜNEN]: Haben Sie das alles gezählt?) Einigkeit in der Großen Koalition geht. Wir debattieren heute in zweiter und dritter Beratung über den Entwurf Wer von dieser Koalition noch einmal das Wort „Büro- eines Eigenheimrentengesetzes, welches vom Kollegen kratieabbau“ in den Mund nimmt, der redet anders, als er Krüger permanent als Eigenheim-Riester-Gesetz be- handelt. zeichnet wurde. Wenn sich die Große Koalition noch (Beifall bei der FDP – Leo Dautzenberg nicht einmal über die Überschrift eines Gesetzes einig [CDU/CSU]: Wie haben Sie das zählen las- ist, dann zeigt das, wie es um den Zustand in der Großen sen?) Koalition tatsächlich bestellt ist. (B) (D) – Ich kann das erklären: Mit dem Computer geht das in- (Beifall bei der FDP) zwischen, aber dazu muss man natürlich gewisse Grund- Es gibt keine kraftvollen Reformen mehr. Die Wirklich- kenntnisse haben. – keit sind Stillstand, Selbstbeschäftigung und Formel- (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!) kompromisse. Das erleben wir auch bei diesem Gesetz. – Wenn ich gefragt werde, wie das geht, dann kann ich Mit dem Eigenheimrentengesetz wird der Eindruck das nachher gern erklären. erweckt, als würde damit der Weg zu mehr Wohneigen- tum in Deutschland geebnet. Grundsätzlich halten wir für richtig, dass das Wohnei- gentum gefördert wird. Aber die größte Schwachstelle Aber dieses Gesetz kann überhaupt nicht die fortgefal- dieses Gesetzentwurfs liegt in der Problematik der nach- lene Eigenheimzulage kompensieren. Es ist unzurei- gelagerten Besteuerung. chend, ungenügend und ungeeignet, mehr Wohneigentum in nennenswertem Umfang in Deutschland zu schaffen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja!) (Frank Schäffler [FDP]: Ein bürokratisches Monster!) Im Zusammenhang mit den anderen Gesetzen, die ge- schaffen werden, um Kapital zu bilden, erhält man im Damit ignoriert die Große Koalition leider den Wunsch Alter Kapitalzuflüsse. Wenn Zuflüsse erfolgen, kann von 85 Prozent der Bevölkerung, die das Ziel haben, in man eine Steuer auf diese erheben, und die Steuer kann den eigenen vier Wänden leben zu können. Das hier vor- aus dem Kapitalzufluss bestritten werden. Das ist beim gelegte Eigenheimrentengesetz wird nicht zu einer nen- Eigenheimrentengesetz komplett anders, weil zum Zeit- nenswerten Erhöhung der Wohneigentumsquote beitra- punkt der Besteuerung, im Alter, überhaupt kein Geld gen können. Das Fördervolumen von nur 20 Millionen fließt. Es wird eine fiktive Einnahme unterstellt, die in Euro im ersten Jahr ist viel zu gering. Hinzu kommt die Wirklichkeit nicht erzielt wird. Wenn dieses fiktive Ein- Tatsache, dass das Gesetz seine volle Wirkung erst nach kommen einer Besteuerung unterzogen wird, dann kann 25 Jahren erreichen wird. Zudem – darauf hat auch mein das dazu führen, dass jemand im Jahr der Fälligkeit auf- Kollege Schäffler immer wieder hingewiesen – ist das grund der Steuerlast nur noch ein Einkommen unterhalb Gesetz ein bürokratisches Monster. Es führt zu einem seines Existenzminimums erhält. Das halte ich für ver- fiktiv geführten Kapitalanlagekonto, welches die Bürger fassungswidrig. Entsprechende Fragen dazu sind bislang überhaupt nicht verstehen können. nicht überzeugend beantwortet worden. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18077

Carl-Ludwig Thiele (A) Deshalb haben wir als FDP in den Beratungen vorge- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (C) schlagen, im Rahmen des Eigenheimrentengesetzes von DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon mal was der nachgelagerten Besteuerung abzusehen. Die Besteu- von der schrumpfenden Bevölkerung gehört?) erung sollte durch eine niedrigere Förderung in der An- sparphase ersetzt werden. Dann kann man von der Be- Wir brauchen allerdings Ansparvorgänge. Amerika steuerung zum Zeitpunkt des Zuflusses, also im Alter, erlebt gerade, was passiert, wenn privates Wohneigen- absehen. Die Förderung wäre einfach und transparent, tum ohne Eigenkapital finanziert werden soll. Die Folge und es könnte auf das bürokratische Monster eines fikti- ist die Subprime-Krise. Es ist gut, dass in Deutschland ven Kapitalanlagekontos verzichtet werden. Die Akzep- etwa 30 Prozent Eigenkapital vorhanden sind, wenn tanz in der Bevölkerung würde steigen, weil man dann Wohneigentum erworben wird. Dieser Weg muss ge- tatsächlich wüsste, was man erwirbt und wie sich das stärkt werden. Deshalb halten wir die Einschränkung der über die ersten Jahre entwickelt. Bausparförderung an dieser Stelle nicht für geeignet, wenn in unserem Lande mehr Wohneigentum erworben (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden soll. NEN]: Das unterstützen wir!) (Beifall bei der FDP) – Auch die Grünen unterstützen dies. – Bei der An- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir ha- nahme einer solchen Regelung könnte man den Umfang ben einen Entschließungsantrag in den Deutschen Bun- dieses Gesetzes um mehr als die Hälfte, wenn nicht so- destag eingebracht, der die Forderung nach einer verein- gar um zwei Drittel eindampfen. Das wäre ein wirklicher fachten Förderung beinhaltet. Wir wünschen uns, dass Bürokratieabbau. dieser Antrag eine breite Zustimmung – der anderen Op- Wohneigentum ist ein Eckpfeiler der liberalen Gesell- positionsfraktionen, aber möglicherweise auch der schaftsordnung. Wohneigentum verschafft den Bürgerin- Union oder Einzelner in der Union – findet. Denn ur- nen und Bürgern Freiheit und Unabhängigkeit im priva- sprünglich hat die Union dieses Modell selbst einmal ten Bereich. Die Bürger müssen zwar auf Konsum vertreten. Und es darf ja wohl nicht sein, dass die Argu- verzichten, aber dafür erwerben sie Eigentum, und damit mentation der CDU/CSU ausschließlich der Logik von erwerben sie Sicherheit. Zudem ist Wohneigentum ein Karl Valentin folgt, der einmal gesagt hat: „Mögen hät- wesentliches Element der Altersvorsorge. Im Durch- ten wir schon wollen, doch dürfen haben wir uns nicht schnitt vermeiden Rentnerhaushalte, die über selbstge- getraut.“ nutztes Eigentum verfügen, 500 Euro Kaltmiete im Mo- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von nat. Das macht sich im Alter bemerkbar. Deshalb ist es der Union, geben Sie sich einen Ruck! Stimmen Sie auch nicht verwunderlich, dass Umfragen zufolge doch auch einmal Vorschlägen zu, die Sie in der Sache (D) (B) 85 Prozent der Deutschen eigenen Wohnraum als eine für richtig halten. Denn so, wie dieses Gesetz angelegt ideale und erstrebenswerte Altersvorsorge betrachten. ist, wird es nicht dafür sorgen, dass in Deutschland nen- Als FDP setzen wir uns schon seit Jahren für mehr Teil- nenswert mehr Wohneigentum geschaffen wird und Bü- habe der Bevölkerung an den Werten unseres Landes rokratie in Deutschland endlich abgebaut wird. ein. Deshalb ist es gelungen, in den Jahren von 1992 bis 2003 die Wohneigentumsquote von 39 auf 43 Prozent zu Herzlichen Dank. steigern. In den neuen Bundesländern – das war wegen ihres Hintergrunds aus der Zeit vor der deutschen Ein- (Beifall bei der FDP) heit besonders wichtig – ist die Wohneigentumsquote so- gar um 30 Prozent gestiegen. 1,5 Millionen Haushalte Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: haben zusätzlich Eigentum erwerben können. Bei einer Der nächste Redner ist der Kollege Eduard Oswald durchschnittlichen Haushaltsgröße von 2,2 Personen pro für die CDU/CSU-Fraktion. Haushalt wohnen jetzt 3,3 Millionen mehr Menschen in selbstgenutztem Eigentum. Das halten wir für den richti- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen Weg, und dieser Weg sollte weitergegangen werden. (Beifall bei der FDP) Eduard Oswald (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber wir Deutschen bilden bei der Wohneigentums- Ja, lieber Kollege Carl-Ludwig Thiele, so ist das mit der quote im europäischen Vergleich nahezu das Schluss- Koalition. Eine Koalition setzt immer Kompromisse vo- licht. In Spanien wohnen 86 Prozent der Bevölkerung in raus. den eigenen vier Wänden, in Irland 83 Prozent, in Groß- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- britannien sind es 70 Prozent, in Österreich 57 Prozent NEN]: Die meistens schlecht sind!) und in Frankreich immerhin 56 Prozent. Der Trend zur Steigerung der Wohneigentumsquote in unserem Land Wir als Union haben natürlich viele Zugeständnisse ge- darf nach Auffassung der FDP nicht abbrechen. Deshalb macht, um zu einer Lösung im Interesse der Verbrauche- ist es beängstigend – auch für die Wirtschaft –, dass in rinnen und Verbraucher, der Bürgerinnen und Bürger zu diesem Jahr die Zahl der Baugenehmigungen unter kommen. Ich räume ein, es ist nicht so einfach gewesen, 200 000 liegt. Das ist nicht gut für die Wirtschaft unseres wie ich es mir ursprünglich vorgestellt habe. Aber mit Landes. Das ist auch nicht gut mit Blick auf die Mög- dem Eigenheimrentengesetz setzt die Große Koalition lichkeiten, Eigentum zu erwerben. ein Signal für mehr Wohneigentum. Wir sind überzeugt, 18078 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Eduard Oswald (A) dass die Wohneigentumsbildung mit diesem Gesetz kräf- Die vorgesehene Einschränkung bei Verwendung der (C) tigen Rückenwind erhält. Wohnungsbauprämie wird nicht auf junge Menschen aus- gedehnt, die bei Vertragsabschluss jünger als 25 Jahre Mit diesem Gesetz zeigen wir auch politische Hand- sind. Die Wichtigkeit, junge Menschen zum Sparen an- lungsfähigkeit. Wir schaffen zumindest im Ansatz einen zuregen, ist angesichts der demografischen Entwicklung Ersatz für die Eigenheimzulage, die aus Gründen der und der Erfahrungen mit der US-Immobilienkrise von Haushaltskonsolidierung Ende 2006 auslaufen musste. weitreichender Bedeutung. Familien und jungen Menschen, die sich ein Haus oder eine Wohnung zulegen wollen, geben wir mit diesem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gesetz eine neue Unterstützung an die Seite. Eine der SPD) aktuelle Umfrage hat erst wieder bestätigt, dass 61 Pro- Für unsere Fraktion ist Wohneigentum Gesellschafts- zent der Deutschen eine eigene Wohnimmobilie für die politik. Für uns ist das Grundrecht, Eigentum zu bilden, beste Altersvorsorge halten. Diesem eindeutigen Votum es auch zu vererben, elementarer Teil unserer freiheitli- der Bevölkerung wird nun Rechnung getragen. chen Gesellschaft. So wie wir Leistungswillen fördern, Mit diesem Gesetz wird auch bestätigt, dass das Bau- unterstützen wir die Vermögensbildung. Viele Menschen sparen als millionenfach bewährter Weg zur Bildung von verzichten auf Konsum, um sich die eigenen vier Wände Eigenkapital und zur sicheren zinsgünstigen Wohnungs- leisten zu können. Wohneigentum setzt Vermögensbil- baufinanzierung einen ganz wesentlichen Beitrag zur Al- dung voraus und fördert das öffentliche wie persönliche tersvorsorge mit Wohneigentum leistet. Denken und Handeln in langfristigen Zeiträumen. Spa- ren und Investieren, Bewahren und Vererben sind Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) haltensweisen, die Wohlstand ermöglichen. Angespartes Riester-Vermögen kann zukünftig voll- (Beifall bei der CDU/CSU) ständig und ohne Rückzahlungsverpflichtung für den Er- werb einer Immobilie genutzt werden. Kollege Krüger Die Förderung der Eigentumsbildung liegt auch des- hat auf diese Punkte im Detail hingewiesen. Die Til- wegen im Interesse des Gemeinwohls. Wir wollen mög- gungsleistungen für Darlehen zum Erwerb oder zum Bau lichst vielen Menschen die Möglichkeit eröffnen, selbstgenutzten Wohneigentums werden wie Sparleis- Wohneigentum zu erwerben. Mit dieser Form der tungen bei geförderten Altersvorsorgeverträgen bewertet Wohneigentumsbildung setzen wir auch unsere traditio- und gefördert. Die jährliche staatliche Förderung kann nell konservative deutsche Baufinanzierungskultur fort. zur zusätzlichen Darlehenstilgung genutzt werden. Die Die amerikanische Finanzierungsform kann uns jeden- Grundzulage beträgt jährlich 154 Euro, die Kinderzulage falls nicht als Vorbild dienen. (B) 185 Euro pro Kind. Für 2008 oder später geborene Kin- (Beifall bei der CDU/CSU – Carl-Ludwig (D) der gibt es eine erhöhte Zulage von 300 Euro pro Jahr. Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Zugleich erhöhen wir den im Gesetz vorgesehenen Wir hoffen, dass dieses Gesetz auch der Wohnungs- Berufseinsteigerbonus von 100 Euro auf 200 Euro und und Bauwirtschaft Rückenwind geben wird; denn dies das Auszahlungshöchstalter vom 21. auf das 25. Lebens- ist dringend notwendig. Die Genehmigungszahlen im jahr. Somit können Studenten ebenso wie nicht studie- Wohnungsbau sind gegenüber 2006 um 27 Prozent zu- rende junge Menschen in der Berufsausbildung in den rückgegangen. Bei Eigenheimen betrug der Einbruch so- Genuss der Förderung kommen. Im Kern geht es darum, gar 35 Prozent. In vielen Teilen Deutschlands ist die Si- dass Spar- und Tilgungsleistungen für selbstgenutztes tuation so, dass bezahlbarer Wohnraum bereits knapp Wohneigentum die gleiche steuerliche Förderung erhal- geworden ist. Wir wissen, die Zahl der Haushalte steigt ten wie die bestehenden Riester-Produkte, also Renten- weiter, und zwar mindestens noch eine Dekade. Gerade versicherungen, Bank- und Fondssparverträge, mit de- junge Menschen bekommen bei der familiengerechten nen Geldvermögen für eine zusätzliche Rente im Alter Wohnungsversorgung Probleme. gebildet wird. Wir sind überzeugt, dass mit diesem Eigenheimren- (Beifall bei der CDU/CSU) tengesetz – so steht es auf dem Gesetzentwurf; das ist der eigentliche Titel, auch wenn außerhalb dieses Parla- Das geförderte Kapital soll nachgelagert, also mit Be- ments manches anders formuliert wird – durch eine ver- ginn des Ruhestands, versteuert werden. Wir machen besserte Einbeziehung von selbstgenutzten eigenen keinen Hehl daraus, dass gerade dies für die Union ein Wohnimmobilien und selbstgenutzten Genossenschafts- zentrales Problem war. wohnungen in die steuerlich geförderte Altersvorsorge (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) weitere wirksame Anreize für eine zusätzliche private Altersvorsorge geschaffen werden. Damit vergrößert Wir haben in der Koalition intensiv auch über die sich insgesamt das Angebot an steuerlich begünstigten Frage der Wohnungsbauprämie gesprochen. Sie soll Altersvorsorgemodellen, die es dem Förderberechtigten künftig nur noch gewährt werden, wenn das angesparte erlauben, aus verschiedenen, steuerlich gleichermaßen Kapital in Wohnimmobilien investiert wird. Bisher kann geförderten Vorsorgeformen das für den Einzelnen ge- es nach Ablauf der Sperrfrist von sieben Jahren für an- nau Passende auszuwählen. Das Ziel der Förderung ist dere Zwecke verwendet werden. Das Wohnungsbauprä- es, das durch die gesetzliche Rente gelegte Fundament miengesetz wird damit stärker auf wohnungswirtschaft- zu verstärken und gleichzeitig das Versorgungsniveau liche Maßnahmen ausgerichtet. der Begünstigten zusätzlich zu erhöhen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18079

Eduard Oswald (A) Nachdem wir gemeinsam einen Kompromiss gefun- besteuerung sorgen dafür, dass rein rechnerisch die ge- (C) den haben, sage ich, auch wenn ich sonst ein Freund von währten staatlichen Zuschüsse erst nach circa 20 Jahren Karl Valentin bin: Jetzt müssen wir dieses Gesetz verab- der Rentnerin oder dem Rentner zugute kommen. schieden. Etwas Besseres können wir in dieser Großen Koalition nicht erreichen. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Da muss man schon verdammt alt (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: In der Koalition nicht werden!) mehr! Das stimmt! Da hat er recht!) Dank der von der Regierung beschlossenen schrittwei- Es ist ein Gesetz, das für die Verbraucher notwendig ist. sen Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre Es dient der Eigentumsbildung. Nachdem wir uns schon müsste sie oder er also mindestens 87 Jahre alt werden, so angestrengt haben, Kollege Krüger, sollten wir es um etwas von den Zuschüssen zur Riester-Rente zu ha- jetzt auch verabschieden. Ich bitte Sie, ihm zuzustim- ben. men. Nun lag im Jahr 2007 die durchschnittliche Lebens- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – erwartung für Neugeborene um über fünf Jahre darunter. Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Von der Großen Für die Angehörigen der anderen Generationen ist sie Koalition ist Besseres nicht zu erwarten!) noch niedriger. Hinzu kommt: Je geringer das Einkom- men ist, umso geringer ist in Deutschland auch die Le- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: benserwartung der Menschen. 44 Prozent aller Riester- Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat das Wort für die Sparerinnen und -Sparer sind Geringverdiener mit einem Fraktion Die Linke. Jahreseinkommen von unter 20 000 Euro. Im Durch- schnitt wird diese Gruppe daher nicht von der Riester- (Beifall bei der LINKEN) Rente profitieren. Von der staatlichen Förderung hat sie nichts. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Es stellt sich natürlich die Frage: Wer profitiert dann? Kollegen! Das System der Riester-Rente ist der Einstieg Das ist ganz eindeutig zu beantworten: die privaten Ver- in die Privatisierung und Individualisierung der Renten- sicherungskonzerne. Sie bekommen 25 Prozent von den versicherung. Das lehnen wir als Linke ab. Risikoüberschüssen, also von den Beträgen, die dank des Jonglierens mit Sterbetafeln unterm Strich übrig bleiben. (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg Ist die Riester-Rente also ein Erfolgsmodell ohne Wenn [CDU/CSU]: Das ist die Wohnblockbetrach- und Aber, wie Sie von der Koalition uns weismachen (B) tung!) wollten? Mitnichten! Die Riester-Rente ist ein Skandal. (D) Damit wird die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Ihr Konzept, die Riester-Rente nun mit der Förderung Reich weiter vorangetrieben. Zukünftige Rentnergenera- des Wohneigentums zu kombinieren, knüpft nahtlos da- tionen werden aus einem wachsenden Teil von Rentnern ran an. mit kärglichen Renteneinkommen und einem privilegier- ten kleinen Teil von Rentnern mit guter Absicherung be- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das durchlö- stehen. chert den Antagonismus der Klassen! Das ist ja klar!) Die Zeitschrift Finanztest hat im letzten November ermittelt, dass der Abschluss eines Riester-Vertrages erst Das Eigenheimrentengesetz soll jetzt kräftigen Rücken- ab einem Bruttomonatseinkommen von 1 900 Euro zu wind für die Eigentumsbildung bringen; Herr Oswald einer Aufbesserung der Alterseinkünfte führt. Wer weni- hat es noch einmal bestätigt. Es soll kurzfristig wirken. ger verdient, erleidet reale Einkommensverluste im Wunderbar! Sie beklagen den Einbruch beim Häuserbau. Lebensverlauf. Sie oder er landet am Ende bei der Al- Wer hat denn die Eigenheimzulage gestrichen, sodass es tersgrundsicherung, mit der dann die Riester-Rente ver- zu diesem Einbruch kam? Wer hat denn dieses Gesetz rechnet wird. Das heißt im Klartext: Ein Leben lang um- verabschiedet? sonst gespart, im Alter trotzdem arm und auf staatliche Hilfe angewiesen! Ich zitiere einmal Norbert Blüm: (Beifall bei der LINKEN) Das ist die Riester-Hilfe für den Staatshaushalt, fi- Es ist skurril, was Sie hier bieten. nanziert von denen, die eine geringe Rente, nämlich unterhalb der Höchstgrenze der Grundsicherung, Man muss einmal die Zahlen vergleichen. Die Eigen- haben. heimzulage verursachte 2004 Steuermindereinnahmen – über alle Gebietskörperschaften hinweg – in Höhe von Er hat damit recht – leider. knapp 7,2 Milliarden Euro. Demgegenüber kalkulieren Sie beim Eigenheimrentengesetz mit einer vollen Jahres- (Beifall bei der LINKEN) wirkung in Höhe von 940 Millionen Euro, also nicht ein- Aber selbst für Menschen mit einem höheren Monats- mal 1 Milliarde Euro. Die volle Wirkung entfaltet sich einkommen erweist sich die Riester-Rente als Mogelpa- – das kommt ja schrittweise – allerdings erst in ckung. Fachleute und Presse machen darauf aufmerk- 25 Jahren. Für das nächste Jahr planen Sie immerhin sam, dass bei der Riester-Rente höchst unfair kalkuliert schon mit ganzen 20 Millionen Euro. Und das soll dann wird. Der Mechanismus der Riester-Rente und die Nach- den Boom in der Bauwirtschaft auslösen? 18080 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Dr. Barbara Höll (A) (Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Aber Leistungen der Grundsicherung und angemessene Kos- (C) bestimmt!) ten der Unterkunft in Höhe von insgesamt 663 Euro. Ihre laufenden Wohnkosten betragen circa 500 Euro monat- Im Vergleich dazu war mit der damaligen Eigenheim- lich. Sie hat die Wahl, entweder von 163 Euro zu leben förderung mit ihren klaren Einkommensgrenzen und der und weiter ihr Haus zu unterhalten oder zuzusehen, wie sonstigen Ausgestaltung wenigstens eine soziale Aus- die Bank ihr Haus kassiert, weil die Verbindlichkeiten richtung verbunden. Ihr Wohn-Riester hingegen ist in nicht weiter beglichen werden können. Nach ihrem letz- erster Linie ein Förderprogramm für die Versicherungs- ten Rentenbescheid kann sie eine Rente von 520 Euro wirtschaft. erwarten. (Beifall bei der LINKEN) Erzählen Sie doch nicht, dass Wohneigentum ohne je- Wie sonst ist es zu erklären, dass Sie auch Kombina- des Wenn und Aber eine gute Form der Alterssicherung tionsmöglichkeiten aus tilgungsfreiem Darlehen und ei- ist, wenn solche Fälle im Gesetz noch nicht einmal rich- nem Bausparvertrag mit in die Förderung einbeziehen? tig geklärt sind. Es macht ja nun wirklich keinen Sinn, parallel zu einem (Beifall bei der LINKEN) Kredit zu sparen, da der Kreditzins in der Regel höher als der Sparzins ist. Diese Finanzierungskombinationen Es bleibt als Fazit: Es gab und gibt keine Notwendig- sind für diejenigen, die das nutzen wollen, überhaupt keit, das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung nicht zu durchblicken und in vielen Fällen nachteilig. In abzusenken. Selbst die Berechnungen der Versiche- die gleiche Richtung weist auch, dass Sie die wohnungs- rungswirtschaft haben gezeigt, dass es möglich ist, zum wirtschaftliche Zweckbindung der Wohnungsbauprämie früheren Rentenversicherungssystem zurückzukehren und für Jüngere aufgehoben haben. Unwirtschaftliche Pro- dabei das ursprüngliche Niveau zu halten. Dies würde dukte werden durch Subventionen für junge Menschen im Jahre 2030 einen Beitragssatz von 25,2 Prozent erfor- attraktiv gemacht. Das ist doch eigentlich Betrug. derlich machen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Na, na! Den Betrug an der Bevölkerung, den Sie angerich- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tet haben, bezahlen wir noch immer! – Eduard Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Oswald [CDU/CSU]: Da kann man nur den Kopf schütteln!) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Bei Ihrem eigentumsfixierten Ansatz blenden Sie völlig Ich komme zum Ende. – Unter der Bedingung, dass die Risiken aus, die mit der Einbeziehung von Wohn- ein solcher Beitragssatz paritätisch aufgeteilt würde, also (B) eigentum in die Altersvorsorge verbunden sind. Ange- auch die Arbeitgeber ordentlich daran beteiligt würden, (D) sichts der Turbulenzen auf den Immobilienmärkten und wäre eine solidarische gesetzliche Rentenversicherung der demografischen Entwicklung ist nicht sichergestellt, tatsächlich möglich. dass Wohneigentum überhaupt einmal oder werterhal- tend verkauft werden kann. Hierfür sprechen immer Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mehr Gründe: Es gibt steigende Mobilitätsanforderun- Frau Kollegin! gen, und die Notwendigkeit altersgerechten Wohnens (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es wird der nimmt zu. Das wird oftmals in frühen Lebensphasen Stecker herausgezogen, wenn nicht gleich nicht so beachtet. Verbraucherschützer warnen deshalb Schluss ist!) davor, tatsächlich Wohn-Riester zu nutzen.

Während Sie hier jetzt Wohneigentum als die beste Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Altersvorsorge verkaufen, haben Sie an anderer Stelle Es gibt keine bessere Alternative für ein würdevolles den Schutz des Wohneigentums längst unterhöhlt. Leben im Alter als eine solche Regelung. Für diese tre- (Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Wir respek- ten wir ein. tieren die Entscheidungsfreiheit des Riester- Ich danke Ihnen. Sparers!) (Beifall bei der LINKEN) Hier liegt der Zusammenhang mit dem Arbeitslosen- geld II. Da wir uns darüber im Ausschuss schon intensiv unterhalten haben, bringe ich Ihnen jetzt einmal ein Bei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: spiel. Als Nächste hat Christine Scheel für Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Eine 55-jährige Frau hat 30 Jahre gearbeitet. Sie hat 1995 als Mutter von zwei Kindern mit staatlicher Förde- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da bin ich rung und Eigenmitteln von über 80 000 DM ihr Haus in mal gespannt!) Eigenverantwortung als Alterssicherung gebaut. Die Kinder sind zwischenzeitlich erwachsen und ausgezo- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen. Das selbstgenutzte Haus hat eine Wohnfläche von Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 102 Quadratmetern auf einem 776 Quadratmeter großen Auch ich halte es für richtig, dass geklärt wird, wie mit Grundstück. Seit 2005 ist sie Bezieherin von Hartz IV, solchen Fällen, die Frau Dr. Höll jetzt gerade beispiel- also ALG II. Nach langem Kampf bekommt sie nunmehr haft genannt hat, umgegangen wird. Ich halte es aller- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18081

Christine Scheel (A) dings für unverantwortlich, zu suggerieren, wir könnten Daran haben auch die parlamentarischen Beratungen im (C) in Zukunft ohne private und betriebliche Altersvorsorge Finanzausschuss und in anderen Ausschüssen wenig ge- auskommen. ändert. Die Große Koalition nimmt eine Menge Geld in die Hand, etwa 1 Milliarde Euro, und schafft eine hoch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN komplizierte, sehr verwaltungsaufwendige und sehr kos- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tenintensive Regelung. Das ist das Ergebnis, und das be- CDU/CSU – Volker Schneider [Saarbrücken] dauern wir sehr. [DIE LINKE]: Wir können!) – Die Debatte darüber, welche Beitragserhöhungen für Bei der öffentlichen Expertenanhörung, bei der wir die Arbeitnehmer, aber auch auf Arbeitgeberseite damit alle anwesend waren – wir haben das auch noch einmal verbunden sind, hatten wir hier schon des Öfteren bei nachgelesen –, war von einem kaum verständlichen, bü- der Rentendiskussion; denn wir alle wissen, welche ver- rokratischen Moloch die Rede. Noch problematischer heerenden Beschäftigungswirkungen das hätte. Deswe- war aber die Einschätzung der Experten, dass die Bür- gen will ich diese Debatte an dieser Stelle nicht weiter- gerinnen und Bürger den Wohn-Riester zwar durchaus führen. nutzen werden, aber nur weil sie die Konsequenzen, die mit der nachgelagerten Besteuerung des Wohneigentums Auch ich finde, dass die Idee, selbstgenutztes auf sie zukommen, eigentlich nicht absehen können. Wohneigentum in die private Altersvorsorge zu integrie- ren, richtig ist Trotz dieser warnenden Stimmen hat die Große Ko- alition an der nachgelagerten Besteuerung festgehalten, (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Na also!) auch wenn es eine Option gibt. Aber Fakt ist, dass dann und dass dies der Lebensrealität vieler Bürgerinnen und sehr viele im Alter Steuern zahlen, obwohl ihnen keine Bürger entspricht. liquiden Mittel zufließen, aus denen sie die Steuern be- zahlen können. Das ist sehr schwer vermittelbar, und es (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Haben wir kann in einzelnen Fällen letztendlich zur finanziellen schon gewonnen!) Überforderung führen. Die Umfragen zeigen, dass 80 Prozent sich wünschen, Allerdings – das ist das Schwierige – ist es so, dass ihren Ruhestand im eigenen Haus oder in der eigenen diese Problemfälle erst in 20 bis 30 Jahren auftreten wer- Wohnung verbringen zu können, und für viele Menschen den. Auch insoweit ist diese Eigenheimrente ein typi- die selbstgenutzte Wohnimmobilie bei der zusätzlichen scher Koalitionskompromiss, wie wir ihn kennen: Die Altersvorsorge an erster Stelle steht. Das ist so. Der Kol- Probleme werden in die Zukunft verlagert. lege von der FDP, Herr Thiele, hat es angesprochen, und (B) ich teile diese Auffassung. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) NEN]: Ja, so machen sie es immer!) Wir Grünen haben, weil das so ist, bei der Einführung der Riester-Rente damals zusammen mit der SPD eine Das heißt, man hat jetzt ein Gesetz, aber die Probleme, Öffnung für Wohneigentum durchgesetzt. Wir haben al- die daraus entstehen können, tauchen erst in der Zukunft lerdings darüber hinaus ein Altersvorsorgekontokonzept auf. Da sagen wir: So geht es nicht. entwickelt, das eine unkomplizierte Wohneigentumsför- derung enthält. Vorgesehen ist, dass das Finanzierungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kapital für selbstgenutztes Wohneigentum vollständig sowie bei Abgeordneten der FDP) steuerfrei aus diesem Altersvorsorgekonto entnommen Es muss ein klares Konzept auf den Tisch, mit dem keine und wieder eingelegt werden kann. Alternativ kann man Probleme für die Zukunft verbunden sind. eine um 30 Prozent abgesenkte Förderung zum Beispiel zur Tilgung eines Bauspardarlehens wählen. Eine nach- Es wird argumentiert, die große Komplexität beim gelagerte Besteuerung findet nicht statt. Das ist, glaube Wohn-Riester entstehe aus der Komplexität der Riester- ich, der Dreh- und Angelpunkt, an dem wir uns inner- Förderung selbst. Ich kann dem nur zustimmen; es ist so. halb der Opposition mit der FDP einig sind. Aber es ist doch der falsche Weg, auf eine sehr kompli- zierte Regelung eine noch kompliziertere Regelung (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sogar mit der draufzusetzen. Union!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Auch mit vielen in der Union, vielleicht auch mit man- und bei der FDP) chen in der SPD. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein, eben nicht! Stattdessen müsste man überlegen, ob man das ganze Dann hätten wir es ja gehabt!) Projekt nicht entbürokratisiert, weniger kompliziert macht und ein bisschen mehr öffnet. Ich glaube, dass es Aber leider ist es ja nun einmal anders. auch in der Union viele für den richtigen Weg hielten, Wir hatten ein schönes, einfaches Konzept. Und was eine einfache, flexible Lösung für die zusätzliche Alters- ist passiert? Es gibt einen Gesetzentwurf der Großen vorsorge zu schaffen, sie für alle Bürgerinnen und Bür- Koalition, in dem das leider nicht mehr einfach ist, son- ger zu öffnen und damit die gesamte Altersvorsorgeför- dern völlig anders. derung unter einem Dach zusammenzuführen. Das wäre eine vernünftige Lösung, die wir von grüner Seite vorge- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) schlagen haben. Wir hoffen, dass wir in den nächsten 18082 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Christine Scheel (A) Monaten mehr Unterstützung von Ihrer Seite in dieser Weise, wie Sie die zusätzliche Altersvorsorge denunziert (C) Sache bekommen werden. haben, halte ich für unverantwortlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will nicht verhehlen, dass die Ausschussberatun- gen einige Verbesserungen gebracht haben. Wir bewer- Wer Menschen Angst vor Altersarmut macht und gleich- ten immer sehr differenziert die einzelnen Punkte. Es zeitig den Weg, sich zusätzliche Möglichkeiten zu schaf- gibt durchaus Entscheidungen, die wir für richtig halten. fen, kaputtredet, der handelt nicht nur politisch inkor- Ich nenne den verdoppelten Berufseinsteigerbonus; denn rekt, sondern auch unverantwortlich. Ich kann aus Ihren es macht Sinn für junge Leute, frühzeitig mit dem Spa- Äußerungen nur schließen, dass Sie Politik ausschließ- ren zu beginnen. Auch die vereinfachte Berechnung der lich mit der Angst der Menschen machen wollen. Das Effektivzinsen im Sinne der Verbraucherinnen und Ver- kann nicht unser gemeinsamer Weg hier sein. braucher ist eine richtige Entscheidung. Wir begrüßen es (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem auch, dass die Riester-Sparenden ihre Mitteilungen wei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker terhin in Papierform erhalten. Auch wenn wir im Com- Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das puterzeitalter leben, hat nicht jeder einen Internetan- machen Sie schon!) schluss. Ich will ganz kurz die Grundprinzipien der Riester- Es gibt zwar einige – wenn auch wenige – positive Förderung erläutern, weil sich daraus in der logischen Entwicklungen im Detail. Aber insgesamt bleibt die Kri- Konsequenz die Regelungen für die Eigenheimförde- tik der Grünen voll und ganz bestehen: Die gute Idee rung ergeben. Das Grundprinzip ist, dass der Staat in der „Wohneigentum im Alter“ wird schlecht umgesetzt. Die Ansparphase in einem erheblichen Umfang, entweder Chance zur Vereinfachung wurde leider vertan. Sie steuerlich oder mit direkten Hilfen, den Aufbau der Al- schaffen ohne Not einen neuen Bürokratiemoloch. Man tersvorsorge mit Grundzulagen und Kinderzulagen un- hätte es leicht besser machen können. terstützt und die sich später ergebenden Altersleistungen Wir werden uns heute enthalten, weil wir zwar die der sogenannten nachgelagerten Besteuerung unterwirft. Grundidee richtig finden, aber die Umsetzung für falsch Die im Rahmen dieses Gesetzes geregelte Förderung halten. der Eigenheimrente passt in dieses Konzept im Grund- Danke schön. satz genau hinein. In allen Säulen der Altersvorsorge halten wir uns an die gleichen Prinzipien und Grundli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nien; denn es macht überhaupt keinen Sinn, die Regeln (B) Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das Welten- zu ändern. Das würde es nach meiner Überzeugung nicht (D) kind in der Mitte!) einfacher, sondern verwirrender machen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der SPD) Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä- Im Mittelpunkt dieses Gesetzes steht die verbesserte rin Nicolette Kressl. Einbeziehung von selbstgenutztem Eigentum und von (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Dem Minister ist selbstgenutzten Genossenschaftswohnungen in die Riester- das Gesetz nicht wichtig genug!) Rente. Es ist wichtig, deutlich zu machen: Bisher ge- hörte die Bildung von Wohneigentum nicht zu den un- mittelbar begünstigten Anlageprodukten. Für viele Bür- Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin beim Bun- gerinnen und Bürger – das ist schon gesagt worden – desminister der Finanzen: stellt aber das Wohneigentum im Alter eine der Geld- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rente vergleichbare Möglichkeit der individuellen Al- Es ist in unserer Gesellschaft inzwischen unbestritten, tersvorsorge dar. Das berücksichtigen wir nun in diesem dass es der beste Weg zu einer sicheren Altersvorsorge Gesetz. ist, diese auf mehreren Säulen aufzubauen. Es ist auch klar, dass die gesetzliche Rentenversicherung weiterhin Zum einen kann steuerlich gefördertes Altersvorsor- die erste und wichtigste Säule der Altersvorsorge bleibt, gekapital zukünftig besser für eine wohnungswirtschaft- dass aber der ergänzende Bereich immer wichtiger wird. liche Verwendung genutzt werden; die Kolleginnen und Die Menschen erwarten natürlich, dass hierfür die richti- Kollegen haben schon beschrieben, auf welche Weise. gen Rahmenbedingungen gesetzt werden. Zum anderen fördern wir so Tilgungsleistungen für ein Darlehen zur Anschaffung oder Herstellung einer selbst- Einen wichtigen Beitrag dazu hat die Riester-Rente genutzten Wohnimmobilie. geleistet, die 2001 eingeführt worden ist. Am Anfang war sie heftig umstritten, aber inzwischen wird sie nicht Wir haben uns gleichzeitig entschieden, den Kreis de- nur von den Experten, sondern – Gott sei Dank – auch rer, die diese Unterstützung nutzen können, möglichst von den Menschen akzeptiert. Die letzte uns bekannte weit zu fassen. Deshalb ist die ausdrücklich gute Ent- Zahl besagt nämlich, dass 11 Millionen Menschen einen scheidung, wie ich finde, gefallen – dies ist schon er- Riester-Vertrag abgeschlossen haben. wähnt worden –, auch Anteile an Genossenschaftswoh- nungen in die Möglichkeit der Altersvorsorge und der Frau Höll, bitte erlauben Sie mir, in diesem Zusam- staatlichen Förderung dieser Ansparungen hineinzuneh- menhang auf Ihre Rede zurückzukommen. Die Art und men. Die Einbeziehung der selbstgenutzten Wohnimmo- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18083

Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl (A) bilie ist so ausgestaltet – ich habe es schon erwähnt –, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C) dass die bisherige Systematik erhalten bleibt und die be- stehenden Verfahrensstrukturen – auch das gehört dazu – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: parallel und sofort genutzt werden können. Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol- Wir haben – das soll nicht unerwähnt bleiben; dies legin Barbara Höll. habe ich bei einigen Rednerinnen und Rednern, glaube ich, überhört – gleichzeitig die Möglichkeit eingebaut, Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): bei der Besteuerung den „schnelleren Weg“ zu wählen. Frau Staatssekretärin, Ihre Behauptung, die Linke be- Es gibt nämlich ein einmaliges Recht der Wahl zwischen treibe unverantwortliche Politik, weise ich hiermit strikt der nachgelagerten jährlichen Besteuerung – dies ist die zurück. Diesen Vorwurf müssen Sie sich schon selbst eine Möglichkeit – und einer sofortigen Einmalbesteue- ans Revers heften. Sie erzählen den Menschen doch seit rung des Kapitals, das angespart worden ist. Insofern Jahren, die gesetzliche Rentenversicherung sei nicht in gibt es ein Stück mehr Freiheit für die Menschen; denn der Lage, ein würdevolles Leben im Alter zu ermögli- die persönliche, individuelle Besteuerungssituation ist chen. Sie haben die Beiträge für die Arbeitgeber abge- natürlich während der Rente unterschiedlich. Diese kann dann bei der Entscheidung mitberücksichtigt werden. senkt, und zwar auf Kosten einer Beitragserhöhung auf- seiten der Arbeitnehmer. Und dann sagen Sie ihnen Die Entscheidung dafür, dass dieser Gesetzentwurf noch, dass möglichst viel privat vorgesorgt werden verabschiedet wird, ist also eine grundlegende Weichen- muss. Das lehnen wir ab. stellung für die Altersvorsorge durch Wohneigentum. Wir geben den Menschen Hoffnung. Wir zeigen ihnen Wir ergänzen – auch das soll nicht unerwähnt blei- einen Weg in die Zukunft. Wir haben ein Konzept und ben – weitere Punkte, nämlich dass es im Rahmen der zeigen auf, dass eine paritätische Finanzierung möglich Grundzulage einen zusätzlichen einmaligen Bonus von ist, dass es möglich ist, Arbeitnehmer und Arbeitgeber 200 Euro für alle Menschen gibt, die jünger als 25 Jahre gleichermaßen einzubeziehen. Wir zeigen, dass eine ge- sind und sich für eine Riester-Förderung entscheiden. setzliche Altersversicherung durchsetzbar ist, die ein Ich halte das für einen wichtigen finanziellen Anreiz ge- würdevolles Leben im Alter ermöglicht. rade für junge Leute, die sich zwar oft genug – das spürt man in persönlichen Gesprächen – Sorgen über ihre (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wie das bei Rente später machen, aber gleichzeitig sich noch nicht den DDR-Rentnern war?) entscheiden, so früh wie möglich Geld anzulegen. Je frü- Herr Oswald hat vorhin das Recht auf die Bildung her sie das tun, desto effizienter ist dies. Deshalb ist die von Eigentum betont. Diesbezüglich stimme ich Ihnen (B) Verwendung von Steuermitteln für diesen Anreiz richtig zu. Die Menschen haben aber auch das Recht, dass ihre (D) angelegt. Das ist ein guter Weg, um ein Stück Motiva- Arbeit anständig bezahlt wird; denn das ist die Voraus- tion zu erreichen. setzung, um überhaupt fürs Alter vorsorgen zu können. (Beifall bei der SPD – Volker Schneider [Saar- Das heißt, sie haben ein Recht auf Mindestlohn. Dieses brücken] [DIE LINKE]: Werbegeschenke zah- Recht müssen Sie erst einmal gewährleisten. Ich muss len normalerweise Vertragspartner!) erst einmal Arbeit haben und ordentlich bezahlt werden, damit ich Eigentum bilden kann. – Da ich höre, dass Sie das schon wieder denunzieren, will ich es noch einmal deutlich machen: Ich halte es für Wir haben Konzepte, die zukunftsweisend sind, Sie wichtig, zu überlegen, wie wir Steuermittel einsetzen. hingegen nicht. Sie geben staatliche Mittel nicht in die An dieser Stelle sind sie gut eingesetzt. Wir unterstützen gesetzliche Rentenversicherung, sondern finanzieren im Übrigen in diesem Zusammenhang die langfristige (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eigentum!) Vorsorge der Menschen für ihr Alter. mit Steuergeldern letzten Endes doch nur die Versiche- Ich will noch einen Punkt ansprechen. Wir verändern rungswirtschaft. die Wohnungsbauprämie. Wir reduzieren ihre Verwen- dung auf die wirkliche Verwendung im wohnungswirt- (Beifall bei der LINKEN – Eduard Oswald schaftlichen Sinn. In diesem Zusammenhang haben die [CDU/CSU]: Es gibt jetzt einen Fleißpunkt Fraktionen allerdings gesagt: Wir wollen junge Leute bei von Lafontaine und Gysi! Einen Eintrag ins der Überlegung: „Weiß ich schon jetzt, ob ich bauen Buch! Das wird vermerkt!) will?“ davon abhalten, aufgrund dieser Zweckbindung nicht auf diese Art und Weise zu sparen. Deshalb haben wir uns entschieden, für Menschen unter 25 Jahren Öff- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nungen einzubauen. Frau Kressl, bitte.

Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetz die notwendi- Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin beim Bun- gen Rahmenbedingungen für die Altersvorsorge verbes- desminister der Finanzen: sern. Jetzt muss es noch durch die Entscheidung der Menschen, darin zu investieren, unterstützt werden. Das Sehr geehrte Frau Kollegin Höll, wer Ihre Rede ge- können wir alle auf den Weg bringen, indem wir für die- rade gehört hat, hat ganz sicher vergeblich nach ir- ses Gesetz in der Öffentlichkeit werben. gendeinem Ansatz für ein Konzept gesucht. Alle hier ha- ben gehört, dass Sie ausschließlich Punkt für Punkt Vielen Dank. erklärt haben, was nicht geht. Sie haben Ihre Interven- 18084 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl (A) tion durch Ihre Rede selbst ad absurdum geführt. Das nutzte Immobilie im Rahmen der Riester-Rente fördern, (C) muss ich nicht weiter erläutern. was wir jetzt tun, und steuersystematisch stringent vor- gehen wollen, dann können wir dies eigentlich nur über Ich will noch einmal deutlich machen, dass die Regie- die nachgelagerte Besteuerung, über das Wohnförder- rungsfraktionen ein Konzept haben. Wir wollen, dass konto tun. junge Menschen für sich selbst vorsorgen, und bieten da- für staatliche Unterstützung an. Wir wollen gerade den In den Beratungen konnten wir an wichtigen Stellen jungen Leuten die Möglichkeit bieten, so früh wie mög- dieses Gesetzentwurfes deutliche Verbesserungen errei- lich in eine „unterstützende Säule“ der Altersvorsorge zu chen. investieren. Ein Beweis dafür, dass dieser Weg gut ist – sofern es überhaupt eines Beweises bedarf –, ist die (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Tatsache, dass sich 11 Millionen Menschen für diesen Hervorzuheben ist die schon mehrmals angesprochene Weg entschieden haben. Ich finde, die Menschen können Ausnahmeregelung bei der Zweckbindung von Woh- manchmal besser beurteilen, was gut ist, als wir, die wir nungsbauprämien für unter 25-Jährige. hier im Bundestag über die Theorie diskutieren. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Da habt ihr gut zusammengearbeitet!) der CDU/CSU) Der Anreiz zum Sparen ist gerade für junge Menschen wichtig. Wir haben vorhin schon gehört: Die US-Immo- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: bilienkrise hat gezeigt, dass die Vergabe von Krediten Der Kollege Olav Gutting hat jetzt das Wort für die für Immobilien ohne das Vorhandensein von genügend CDU/CSU. Eigenkapital definitiv der falsche Weg ist. (Beifall bei der CDU/CSU) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!)

Olav Gutting (CDU/CSU): Wir haben in Deutschland mit fast 32 Millionen Bau- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! sparverträgen ein funktionierendes System der Eigenka- Im Gegensatz zur Linken in diesem Hause glaubt die pitalbildung. Union nicht, dass Eigentum etwas Schlechtes ist und (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!) man die Menschen davor schützen muss. Mit der von uns erreichten Privilegierung von jungen (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Menschen bei der Wohnungsbauprämie haben wir es ge- Wer hat denn das gesagt?) schafft, einen bereits seit Jahren gut funktionierenden (B) (D) Wir in der Union glauben, dass Eigentum, insbesondere Anreiz zu bewahren, um junge Menschen zum Sparen Wohneigentum, etwas Gutes ist. Wir wollen die Men- anzuregen. Wir haben damit die Grundidee des Bauspa- schen beim Erwerb dieses Eigentums unterstützen. rens gestärkt. Denn ohne ausreichende Neuabschlüsse funktioniert das Bausparsystem nicht. Die Zuteilung von (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Freiherr Bausparverträgen, also die Auszahlung, ist unter ande- von Stetten [CDU/CSU]: Die beste Altersvor- rem vom Geldeingang und von der Zahl der abgeschlos- sorge ist das!) senen Verträge abhängig. Mehr Neuzugänge bedeuten Die Integration der selbstgenutzten Wohnimmobilie schnellere Zuteilung, mehr Mittel zum Wohnungsbau, in die staatlich geförderte private Altersvorsorge ist ein mehr Bautätigkeit und damit bessere Aussichten für die wichtiger Baustein. Mit dem Eigenheimrentengesetz Bauwirtschaft. vergrößern wir das Angebot staatlich geförderter Alters- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vorsorgemodelle und beenden die Diskriminierung der neten der SPD – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wohnimmobilie gegenüber anderen Formen der Alters- Da wird wohl niemand widersprechen!) vorsorge. Natürlich ist die Eigenheimrente kein vollwer- tiger Ersatz für die weggefallene Eigenheimzulage. Die- Wir konnten auch in einem weiteren Punkt eine deutli- sen Anspruch hat dieses Gesetz auch nicht. Mit diesem che Verbesserung erzielen. So ist es gelungen, den vorge- Gesetz setzen wir aber ein Signal. Ich bin davon über- sehenen Berufseinsteigerbonus von 100 Euro auf 200 Euro zeugt, dass von diesem Eigenheimrentengesetz ein Im- zu verdoppeln und den Altersrahmen bei diesem Bonus puls für Investitionen im Baubereich ausgehen wird. von 21 auf 25 Lebensjahre anzuheben. Auch das ist ein unmissverständliches Signal an junge Menschen, bereits (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wird schon!) in einem frühen Lebensabschnitt mit dem Sparen zu be- Es ist ein wichtiger Schritt, dass nunmehr die Anschaf- ginnen und an die Altersvorsorge zu denken. fung, die Herstellung und die Entschuldung von selbst- (Zuruf von der LINKEN: Aha!) genutztem Wohneigentum wieder eine Förderung er- fährt. Denn fehlende Ansparungen in jungen Jahren können durch die inzwischen entgangenen Zulagen und vor al- Es ist kein Geheimnis, dass wir in der Union uns ein lem durch den Zinseszinseffekt später nicht mehr aufge- unbürokratischeres Modell zur verbesserten Einbezie- holt werden. hung der Immobilie in die Altersvorsorge gewünscht hätten. Hierzu hätten wir aber von der nachgelagerten Man kann natürlich immer noch mehr fordern. Die Besteuerung abweichen müssen. Wenn wir die selbstge- Kritiker des Gesetzentwurfes halten die Fördersätze für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18085

Olav Gutting (A) zu bescheiden. Darüber kann man streiten. Aber Fakt ist Festzuhalten bleibt: Die Zahl der Bundesbürger, die (C) – das haben die Berechnungen gezeigt –, dass Darle- private Altersvorsorge betreiben, nimmt stetig zu. Schon hensnehmer bei Inanspruchnahme dieser Förderung jetzt haben 72,7 Prozent der Deutschen im erwerbsfähi- durch das Eigenheimrentengesetz fast fünf Jahre eher ihr gen Alter eine private Altersvorsorge. Das ist eine gute finanziertes Eigentum ihr Eigen nennen können als ohne und wichtige Entwicklung. diese Förderung. Sie sind fünf Jahre früher entschuldet, Insgesamt, meine Damen und Herren, wird dieses Ge- fünf Jahre früher im Eigenheim. Das ist ein Wort. setz dazu beitragen, die mit 43 Prozent im Vergleich zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und anderen EU-Staaten relativ geringe Eigentumsquote in der SPD) Deutschland zu erhöhen. Die Erhöhung der Eigentums- quote ist ein wichtiger, wenn auch sicher nicht der ein- Zusammenfassend darf man sagen: Dieses Gesetz zige Schritt zur Verhinderung von Altersarmut. Denn kann die Eigenheimzulage nicht ersetzen, aber es ist ein wenn man keine Miete zahlen muss – oder im Fall der wichtiger Impuls für die Bauwirtschaft. Es wird mehr Genossenschaftsanteile nur eine geringe Miete –, ist das Menschen in Deutschland in die Lage bringen, sich ihren ein großer Beitrag zu mehr Sicherheit im Alter. Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Natürlich ist das Eigenheimrentengesetz auch eine Als Berichterstatter darf ich mich an dieser Stelle für positive Nachricht für unsere Bauwirtschaft, die in den die gute Zusammenarbeit mit den Kollegen aus der letzten Jahren die Folgen des Bevölkerungsrückgangs, Koalition und mit dem Ministerium bedanken. Hierfür aber auch – das ist unbestritten – den Wegfall der Eigen- ein herzliches Dankeschön! heimzulage zu verkraften hatte.

Ich möchte sagen: Es lohnt sich, diesem Gesetzent- Wie schon vom CO2-Gebäudesanierungsprogramm, wurf heute zuzustimmen. mit dem alleine im Jahr 2007 mehr als 200 000 Häuser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Wohnungen energieeffizient saniert oder neu errich- neten der SPD) tet werden konnten und das sich als wahrer Jobmotor für Bau und Handwerk erwiesen hat, werden auch von die- sem Gesetz Impulse für Umsatz und Beschäftigung aus- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gehen. Jetzt hat Sören Bartol das Wort für die SPD-Fraktion. Dass der zusätzlichen privaten Vorsorge vor dem Hin- (Beifall bei der SPD) tergrund des demografischen Wandels eine immer grö- ßere Bedeutung zukommen wird, ist unbestritten; das ist von meinen Vorrednern bereits gesagt worden. Aufgabe Sören Bartol (SPD): (D) (B) der Politik muss hierbei sein, die erforderlichen Rah- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und menbedingungen zu schaffen. Genau das haben wir mit Kollegen! Im Koalitionsvertrag hatten wir die Integra- dem vorliegenden Gesetzentwurf getan. tion der Immobilie in die staatlich geförderte Altersvor- sorge festgeschrieben. CDU/CSU favorisierten das Mo- Wie von den Berichterstattern der beiden beteiligten dell Sofa, meine Fraktion das Modell Kanapee. Aus Fraktionen schon gesagt wurde, ist das Eigenheimren- beidem hervor ging der Entwurf des wenig klangvollen, tengesetz auch ein Beleg für die gute Zusammenarbeit in dafür inhaltlich überzeugenden Eigenheimrentengeset- der Großen Koalition – sie ist zwar nicht immer ganz zes, den wir hier und heute in zweiter und dritter Lesung einfach, kommt aber zu Ergebnissen – und für eine Fi- behandeln. Mit diesem Gesetz wird es uns gelingen, das nanz- und Wohnungspolitik, die sowohl die Gegenwart selbstgenutzte Wohneigentum als gleichberechtigtes als auch die Zukunft im Blick hat. Element der Riester-Rente zu etablieren. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Indem der Kauf oder Bau, die Entschuldung einer (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wohnung oder eines Hauses sowie der Erwerb – auch das möchte ich hier ausdrücklich erwähnen – von Ge- nossenschaftsanteilen in die Riester-Förderung aufge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nommen werden, erhöhen wir die Attraktivität der Jetzt spricht der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/ Altersvorsorge und schreiben die Geschichte des Er- CSU-Fraktion. folgsmodells Riester-Rente fort. Dieses Modell wird (Beifall bei der CDU/CSU) heute von mehr als 11 Millionen Menschen in Deutsch- land in Anspruch genommen; damit hat sich die Zahl der Otto Bernhardt (CDU/CSU): Riester-Verträge in den letzten zwei Jahren nahezu ver- doppelt. Allein im ersten Quartal dieses Jahres sind Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und 570 000 Neuverträge abgeschlossen worden; die Frau Herren! Ausgangspunkt dieser Debatte ist der Tatbe- Staatssekretärin hat das gerade schon gesagt. Diese Zahl stand, dass über 80 Prozent der Deutschen gerne eine ei- möchte ich an dieser Stelle noch einmal all denen entge- gene Wohnung oder ein eigenes Haus hätten, bisher aber genhalten, die immer wieder das Argument ins Feld füh- nur etwa die Hälfte diesen Wunsch realisieren konnte. ren, die Riester-Rente sei zu kompliziert und werde nicht (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) angenommen. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Wir wissen, dass wir damit in Europa ganz weit unten (Beifall bei der SPD) stehen. Andere Länder wie Spanien und Irland haben be- 18086 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Otto Bernhardt (A) reits Eigentumsquoten von 80 Prozent erreicht. Dieses gelagerte Besteuerung gehört zur privaten Altersvor- (C) Gesetz soll ein Beitrag sein, um diesem Ziel in Deutsch- sorge; da haben Sie recht. Aber sie passt nicht zur Immo- land näher zu kommen. bilie; da haben wir recht. Wir haben uns auf einen Kompromiss geeinigt, der – das gebe ich zu – unter dem Wir fördern den privaten Wohnungsbau seit Bestehen Gesichtspunkt des Bürokratieabbaus nicht der beste sein der Bundesrepublik. Lange Zeit war § 7 b des Einkom- mag. mensteuergesetzes das Stichwort, später § 10 e. Im Jahre 1996 haben wir mit der Eigenheimzulage einen (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist liebevoll ganz großen Wurf gemacht. Sie führte letztlich dazu, formuliert!) dass eine Normalfamilie, bestehend aus vier Personen – so die Statistik, heute wäre das leider keine Normalfa- Beim Eintritt in den Ruhestand kann nun eine Einmal- milie mehr –, Zuschüsse in einer Größenordnung von zahlung von 30 Prozent erfolgen. Auch dies ist ein Kom- 22 500 Euro bekam. Das war natürlich ein toller Beitrag. promiss, mit dem man leben kann, auch wenn wir uns weniger Bürokratie gewünscht hätten. Ich sage aber für (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Über acht Jahre!) meine Fraktion: Mit beiden Kompromissen können wir gut leben. Wir sollten nicht den Fehler machen, dieses In den Koalitionsverhandlungen haben wir festge- Gesetz nach außen als schlecht zu verkaufen. Es ist ein stellt, dass die Eigenheimzulage die teuerste Einzelsub- gutes Gesetz. Wir haben gute Kompromisse gefunden. vention im Haushalt ist und pro Jahr Belastungen von Dieses Gesetz ist ein Beitrag zur Stärkung der privaten bis zu 10 Milliarden Euro verursacht. Als die Große Ko- Altersvorsorge. Es verdient breite Zustimmung in die- alition die Verantwortung übernahm, stand das Ziel der sem Hause. Haushaltssanierung ganz weit oben. Es hat nach wie vor eine große Bedeutung. Allerdings sind wir bereits ein (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Stück vorangekommen. Deshalb haben wir zwei Punkte in den Koalitionsvertrag aufgenommen: das Auslaufen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Eigenheimzulage und die Einbeziehung der privat Ich schließe die Aussprache. genutzten Immobilie in die staatlich geförderte Alters- vorsorge. Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak- tionen CDU/CSU und SPD sowie von der Bundesregie- Unsere Diskussion hat gezeigt, dass mit Ausnahme rung eingebrachten Entwürfe eines Eigenheimrentenge- der Linken alle Fraktionen dieses Hauses die Auffassung setzes. vertreten, dass die privat genutzte Immobilie ein sehr wichtiges – nach Meinung der Mehrheit der Deutschen Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- (B) sogar das wichtigste – Instrument der Altersvorsorge ist. empfehlung auf Drucksache 16/9641, die genannten Ge- (D) Es ist vernünftig, zu planen, die eigene Wohnung bis 65 setzentwürfe, Drucksachen 16/8869, 16/9274 und 16/9449, abzubezahlen, sodass man dann keine Kaltmiete mehr, zusammenzuführen und als Entwurf eines Eigenheim- sondern nur noch Nebenkosten zahlen muss. Dieses rentengesetzes in der Ausschussfassung anzunehmen. Konzept müssen wir unterstützen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – neten der SPD und des Abg. Carl-Ludwig Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Thiele [FDP]) Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Große Koalition, Gegenstimmen der Fraktion Die Linke Es gab bei den Auseinandersetzungen zwei kritische und Enthaltung bei Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Punkte. Schon meine beiden Kollegen haben in ihren Reden auf diese beiden Punkte aufmerksam gemacht. Dritte Beratung Der erste Streitpunkt war, dass wir keine Notwendigkeit sahen, das Gesetz über das Prämienbausparen zu verän- und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetz zustimmen dern. Wir meinen, das Prämienbausparen ist ein tolles will, möge sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Ent- Instrument, es ist einer der Gründe für die solide Haus- haltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Bera- finanzierung in Deutschland. Die Sozialdemokraten hat- tung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor an- ten gute Argumente – sie konnten sich dabei auf den genommen. Bundesrechnungshof stützen –: Es geht hier um öffentli- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- che Förderung, und die sollte auf wohnwirtschaftliche schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache Zwecke konzentriert werden. Das ist ein Standpunkt, 16/9648. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – den man gut vertreten kann. Mit dem Kompromiss, den Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ent- wir gefunden haben – bis 25 bleibt es bei der bisherigen schließungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch die Regelung und wenn man älter ist, wird auf wohnwirt- Fraktionen FDP und Bündnis 90/Die Grünen und Ableh- schaftliche Zwecke begrenzt –, können beide leben. nung im übrigen Haus. Denn es ist natürlich schwierig, einem 16-Jährigen, der zu sparen anfängt, zu sagen: Du darfst damit nur eine Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 30 auf: Wohnung erwerben. – Ab 25 sieht man das anders. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Ich gebe zu, dass der zweite Streitpunkt, die Frage der gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes nachgelagerten Besteuerung, schwieriger ist. Die nach- zur Einführung der nachträglichen Siche- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18087

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) rungsverwahrung bei Verurteilungen nach Ju- lichkeit gegeben, Einfluss auf die Prognoseentscheidung (C) gendstrafrecht zu nehmen. – Drucksache 16/6562 – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Sicherungsverwahrung? Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Gehen Sie einmal dahin und schauen Sie sich schusses (6. Ausschuss) das an! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE – Drucksache 16/9643 – GRÜNEN]: Nicht einmal die Zuständigkeit ist geklärt!) Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb – Jetzt komme ich erst einmal zu den Hürden, Herr Kol- Joachim Stünker lege. Jörg van Essen Wir haben besonders hohe Hürden definiert: Erstens Wolfgang Nešković muss der Täter zu einer Jugendstrafe von mindestens sie- Jerzy Montag ben Jahren verurteilt worden sein, zweitens muss es sich Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion bei der Tat um ein Gewaltverbrechen gegen das Leben, Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. die sexuelle Selbstbestimmung oder die körperliche Un- Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattie- versehrtheit gehandelt haben – das heißt mit anderen ren. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so be- Worten: Vermögensdelikte und Ähnliches scheiden aus –, schlossen. drittens ist die Sicherungsverwahrung nur möglich, wenn diese Taten zu einer schweren seelischen oder kör- Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in die- perlichen Schädigung bei dem Opfer geführt haben, und ser Debatte spricht Bundesministerin Brigitte Zypries. viertens muss die Wahrscheinlichkeit bzw. Prognose be- stehen – diese muss durch Gutachten belegt sein –, dass Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: der Täter nach seiner Entlassung wieder solche Strafta- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ten begehen wird. Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidung über den Gesetzentwurf, der heute zur Abstimmung Nun gibt es Kritik an diesem Gesetzentwurf. Es gibt steht, ist nicht einfach. sie von der einen Seite, die sagt, dass diese Vorausset- zungen viel zu hoch angesetzt sind, und es gibt sie von (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das stimmt!) der anderen Seite, die sagt, dass diese Voraussetzungen Es geht um die Einführung der nachträglichen Siche- viel zu niedrig angesetzt sind. Die einen sagen, die Si- (B) rungsverwahrung für Straftäter, die nach dem Jugend- cherungsverwahrung sei generell nichts für Jugendliche (D) strafrecht verurteilt worden sind. Das sind junge Men- und dürfe es für sie gar nicht geben, die anderen sagen, schen, die in sehr jungen Jahren eine Straftat begangen wir müssten sie schon bei sehr viel weniger schweren haben und dann, wenn sie entlassen werden sollen, na- Delikten und geringeren Strafen zulassen. türlich längst aus dem Jugendlichenalter heraus sind. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Die Sicherungsverwahrung bedeutet für die Betroffe- GRÜNEN]: Das kommt alles! Leider!) nen einen schwerwiegenden Freiheitseingriff. Auf der Auch hier ist es so, wie das bei den Gesetzentwürfen anderen Seite müssen wir aber auch sehen, dass wir die im Bereich der Justiz, die wir hier beraten, in der Regel Allgemeinheit wirksam vor Schwerststraftätern schützen der Fall ist: Es gibt Kritik von beiden Seiten, und der Ge- müssen. Deswegen haben wir lange und auch kontrovers setzentwurf geht in der Regel in der Mitte durch. über diesen Gesetzentwurf diskutiert. Wir waren uns aber einig, dass wir bei ganz wenigen jugendlichen (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die goldene Straftätern – quasi als Ultima Ratio – auch diese Mög- Mitte!) lichkeit der Sicherungsverwahrung brauchen. Es war uns Damit zeigt sich, dass wir das gefunden haben, was der immer klar: Eine Sicherungsverwahrung für junge Men- Abgeordnete Benneter mit Recht die „goldene Mitte“ schen ist ein sehr viel schärferer Eingriff, als dies bei Er- nennt. Vielen Dank für die Hilfe. wachsenen der Fall ist, weil man bei der Prognose hin- sichtlich der Entwicklung junger Menschen sagt, dass (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie sich auch ändern können. NEN]: Die SPD und die goldene Mitte?) Deswegen haben wir Zweierlei getan: Zum einen ha- Deswegen glaube ich, dass das richtig ist. ben wir die Hürden ausgesprochen hoch gesetzt, zum an- Es ist wichtig, dass wir reagieren können, wenn es er- deren haben wir geregelt, dass die Zeitabstände zwi- forderlich ist. Wir wissen aus den Bundesländern, dass schen den Überprüfungen geringer als bei der normalen es Einzelfälle gibt, in denen es zum Schutze der Opfer Sicherungsverwahrung sind. Hier wird künftig immer und zum Schutze der Allgemeinheit erforderlich ist, si- schon nach einem Jahr überprüft, ob die Angebote, die in cherzustellen, dass die entsprechenden Täter nicht wie- den Haftanstalten gemacht werden, wahrgenommen der die Möglichkeit haben, andere zu vergewaltigen oder wurden und auch gefruchtet haben; denn natürlich wer- andere schwerste Straftaten an Personen zu begehen. den all diese Täter, für die eine Sicherungsverwahrung festgelegt wurde, weiter therapiert bzw. werden ihnen Wie gesagt: Ich weiß um die Schwierigkeit dieses Therapieangebote gemacht. Ihnen wird also die Mög- Projektes. Die Tatsache, dass wir lange darüber disku- 18088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) tiert haben, zeigt Ihnen, dass wir die Debatte durchaus gelfall keine andere Situation darstellen als bei anderen (C) ernst genommen haben. Ich danke für die konstruktive Erwachsenen im Strafvollzug. Diskussion innerhalb der Koalition und hoffe, dass wir dieses schwierige Projekt mit der Abstimmung heute zu Wie aber stellt sich die Situation dar, wenn jemand einem guten Abschluss bringen werden. sehr früh mit 14 oder 15 Jahren unmittelbar nach Errei- chen der Strafmündigkeit eine schwere Straftat began- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen hat, für längere Zeit in Jugendhaft gekommen ist der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜND- und dann beurteilt werden muss? In diesem Fall sind wir NIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu einem Abschluss auf eine sichere Prognose angewiesen; denn für einen werden wir kommen! Gut ist er aber nicht!) Jugendlichen ist die Entscheidung, dass er in Siche- rungsverwahrung kommt, sehr schwerwiegend. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für meine persönliche Entscheidung war in diesem Jetzt hat der Kollege Jörg van Essen für die FDP- Zusammenhang ein Gespräch sehr wichtig, das ich mit Fraktion das Wort. einem der renommiertesten Sachverständigen für Ge- (Beifall bei der FDP) richtspsychiatrie geführt habe, der mir gesagt hat, er könne eine solche Entscheidung in einer solchen Kon- stellation in aller Regel nicht verantwortungsvoll treffen. Jörg van Essen (FDP): Seine Begründung leuchtet, glaube ich, ein. Er sagt, die- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ser Jugendliche sei schon sehr früh in Strafhaft gekom- Frau Ministerin Zypries, ich danke Ihnen für den nach- men und habe nie unter normalen Umständen gelebt; denklichen Ton, den Sie bei diesem Thema angeschla- deshalb sei die Prognose fast oder ganz unmöglich. In ei- gen haben. Ich glaube, das ist auch angemessen. Ich ner solchen Konstellation sollte eine Entscheidung für hätte mir gewünscht, dass auch die abschließenden Bera- die Sicherungsverwahrung auch nicht getroffen werden. tungen im Rechtsausschuss in diesem Ton durchgeführt worden wären. Ich werde mich bemühen, das in dieser (Joachim Stünker [SPD]: Dann wird sie auch Debatte genauso zu tun wie Sie. nicht getroffen!) Das Thema, zu dem wir zu entscheiden haben, ist in Ich glaube, wir sollten noch eine zweite Kontrollüber- vielfältiger Form mit verfassungsrechtlichen Fragen, legung anstellen. Wir können bald das 100-jährige Jubi- aber auch mit Fragen der Menschenrechte verknüpft. Vor läum des Jugendrechts in Deutschland feiern, das sich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind außerordentlich bewährt hat. Es muss nachdenklich ma- mehrere Verfahren anhängig. Der Gerichtshof wird in chen, dass in den fast 90 Jahren seit Bestehen des Ju- (B) wenigen Wochen dazu verhandeln. Da ich die Eilbedürf- gendrechts in Deutschland das Thema der Sicherungs- (D) tigkeit der heutigen Entscheidung nicht sehe, hätte ich verwahrung für Jugendliche nie diskutiert worden ist, mir gewünscht, dass wir die Entscheidung zunächst ab- und zwar, wie ich finde – mein bisheriger Beitrag hat das gewartet hätten, um zu wissen, welche Konsequenzen auch deutlich gemacht –, aus guten Gründen. für uns daraus folgen. Es gibt auch keine äußeren Gesichtspunkte, die uns (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ nahelegen, die Sicherungsverwahrung für Jugendliche DIE GRÜNEN) einzuführen. Denn die Situation hat sich nicht geändert. Es gibt keinen dramatischen Anstieg von Mordtaten Ju- Wenn man bei der verfassungsrechtlichen Prüfung gendlicher, um nur dieses Beispiel zu nennen. Deshalb bleibt, dann muss man auch auf die Rechtsprechung des ist die Entscheidung meiner Fraktion klar und eindeutig: Bundesverfassungsgerichts hinweisen. Das Bundesver- Wir werden dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. fassungsgericht hat gesagt, dass es eine Ultima-Ratio- Entscheidung ist, jemanden in Sicherungsverwahrung zu Aber ich will noch einen zweiten Gedanken anfügen. bringen. Ist es das wirklich noch? Die Entwicklung in Wir haben in den letzten zehn Jahren sechs Neuregelun- den zehn Jahren von 1996 bis 2006 zeigt, dass die Zahl gen im Bereich der Sicherungsverwahrung durchgeführt. der Sicherungsverwahrten in Deutschland allein in die- Es war sehr eindrucksvoll, was der von der SPD be- sem Zeitraum von 176 auf 375 gestiegen ist. Das ist ein nannte Sachverständige, der von mir sehr geschätzte Anstieg um 125 Prozent. Insofern stellt sich die Frage, ehemalige Richter am Bundesgerichtshof Dr. Schäfer, ob das wirklich noch eine Ultima-Ratio-Entscheidung vorgetragen hat. Er hat uns gemahnt, uns das Thema ist. noch einmal vorzunehmen, zu einer Bereinigung zu Den zweiten Punkt, der für mich besonders wichtig ist, kommen, die Dinge zu glätten und vernünftige Regelun- hat das Bundesverfassungsgericht auch angesprochen, gen zu finden. nämlich die Frage der Prognosesicherheit, die insbeson- Ich habe mit Interesse gehört, Frau Ministerin, dass dere im Zusammenhang mit Jugendlichen von Bedeu- Ihr Parlamentarischer Staatssekretär gesagt hat, die Bun- tung ist. Sie kann manchmal sehr leicht zu beantworten desregierung arbeite daran. Das ist eine Aufgabe für uns sein, wenn jemand, der zu einer Jugendstrafe verurteilt alle. worden ist, zum Zeitpunkt der Verurteilung vielleicht 20 Jahre alt war, eine acht- oder neunjährige Haftstrafe (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verbüßt hat und dann, wenn sich die Gutachter mit ihm NEN]: Von der Ministerin haben wir dazu befassen müssen, um die 30 ist. Dann wird sich im Re- nichts gehört!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18089

Jörg van Essen (A) – Leider nicht. Deswegen spreche ich sie ausdrücklich fassungsgerichts, Herr Nešković, namentlich auch die (C) an, Herr Kollege. Wir brauchen hier dringend eine Be- vom 5. Februar 2004 und vom 10. Februar 2004, nachle- reinigung, eine Zusammenführung der verschiedenen sen. All das ist im 109. Band auf Seite 133 f. oder auf Regelungen. Wir jedenfalls legen darauf größten Wert. Seite 233 f. abgedruckt. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Nun wird uns der Großmeister der Vorlesekunst, Herr Nešković von den Linken, gleich mit lauter Stimme und Der Grund dafür ist, dass wir wissen, dass wir eine entsprechender Betonung, ohne seinen Blick auch nur Verantwortung gegenüber den Opfern haben. Auch diese ein Jota vom Manuskript wegzubewegen, um den Blick- sehen wir und werden deshalb verantwortlich entschei- kontakt zum Auditorium zu suchen, vortragen, dass der den. Grundsatz ne bis in idem noch nie ausdrücklich vom Vielen Dank. Bundesverfassungsgericht geprüft worden ist. Herr Nešković, es muss eine lässliche Sünde sein, wenn das (Beifall bei der FDP) Bundesverfassungsgericht die nachträgliche Sicherungs- verwahrung im Allgemeinen und auch in den besonde- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ren Fällen für verfassungsgemäß hält und es weiß Gott Als Nächster spricht für die CDU/CSU-Fraktion der übersehen haben sollte, dass es außer dem Art. 103 Kollege Jürgen Gehb. Abs. 2 des Grundgesetzes, nulla poena sine lege, noch den Abs. 3 des gleichen Artikels, ne bis in idem, gibt. Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Aber Sie werden uns das gleich erklären. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ins- (Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Sie ver- titut der Sicherungsverwahrung ist ein Mittel, zu dem stehen es nur leider nicht!) der Gesetzgeber sicherlich nicht gerne greift. Nun kommt es nicht darauf an, ob wir unsere Aufgaben gerne Nun schließen wir eine weitere Lücke. Es geht um wahrnehmen oder nicht. Regelungen für Straftäter, die nach Jugendstrafrecht be- straft werden. Das ist etwas anderes als Sicherungsver- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wahrung für Jugendliche. Deswegen war die heutige NEN]: Wir machen es schon gerne!) Presseerklärung, verehrte Frau Ministerin, mit der Über- schrift „Bundestag verabschiedet nachträgliche Siche- Die Gewährleistung des Schutzes vor Verurteilten, die rungsverwahrung nach Jugendstrafrecht“ ein bisschen selbst nach Verbüßung einer langjährigen Freiheitsstrafe verfänglich. immer noch für Leib, Leben, Gesundheit und sexuelle Selbstbestimmung anderer eine erhebliche Gefahr dar- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) (D) stellen, ist ein überragendes Gemeinwohlinteresse. Die NEN]: Außerdem stand dort, es sei schon be- Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten, ist eine schlossen worden!) Aufgabe des Staates, ob er sie gerne macht oder nicht. Welches Mittel wir anwenden, um die Gesellschaft zu Wer die Begriffe nicht genau kennt, kann natürlich auch schützen, ist dem weiten Gestaltungsspielraum des Ge- in der Diskussion nicht bestehen. Das ist deshalb ein setzgebers überlassen. großer Unterschied, weil es sich zwar zum Zeitpunkt der Verurteilung um einen Jugendlichen handelt, aber er Bei Erwachsenen und Heranwachsenden, die nach Er- zum Zeitpunkt, in dem es um die Anordnung der nach- wachsenenstrafrecht bestraft werden, kennen wir seit träglichen Sicherungsverwahrung geht, mindestens langem die Rechtsfigur der Sicherungsverwahrung: die 21 Jahre alt ist; damit haben wir eine sehr hohe Hürde originäre Sicherungsverwahrung, die mit dem Schuld- eingebaut. Die Union hätte sich als Voraussetzung auch spruch und der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe aus- eine Anlasstat vorstellen können, die mit fünf Jahren be- gesprochen wird, die vorbehaltene Sicherungsverwah- straft wird. Aber wir haben uns in der Koalition auf min- rung, bei der sich der Richter nicht sicher ist, ob das jetzt destens sieben Jahre geeinigt. Sieben Jahre bekommen schon zu entscheiden ist, aber sich die Entscheidung bis Sie in Deutschland vor einer Jugendgerichtskammer für zur Entlassung des Strafgefangenen vorbehält, und Taten, die denen des Hannibal Lecter in „Das Schweigen schließlich als bisherigen Höhepunkt, wenn man das so der Lämmer“ nicht nur in nichts nachstehen, sondern in will, oder auch Schlusspunkt die nachträgliche Siche- einzelnen Fällen sogar weit darüber hinausgehen. rungsverwahrung. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist peinlich!) NEN]: Trauriger Höhepunkt!) Ich habe mir ernsthaft überlegt, ob ich Beispiele nen- Sämtliche damit verbundenen verfassungsrechtlichen nen soll oder nicht; denn man setzt sich schnell dem Vor- Fragen, Probleme und Implikationen sind inzwischen in wurf aus, den Boulevard und die niedrigen Instinkte zu Literatur und Rechtsprechung nachgerade ausgepaukt. bedienen. Ich will es dennoch tun, weil Herr van Essen Ob es um Vertrauensschutz geht, um Rückwirkung, eben gesagt hat, es bestehe kein Handlungsbedarf. Wir echte Rückwirkung, unechte Rückwirkung, Menschen- haben momentan in Bayern den Fall eines Täters, der würde, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Alles ist entschie- nach dem Jugendstrafrecht zu zehn Jahren Haft wegen den. Selbst wenn man nicht allzu fleißig ist, kann man folgender Tat verurteilt worden ist: Er hat völlig ohne das im Urteil des BGH vom 15. April dieses Jahres mit Anlass ein wildfremdes Mädchen beim Joggen im Wald Verweis auf zahlreiche Entscheidungen des Bundesver- abgefangen, es mit Bremskabeln an einem Ast bestia- 18090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Dr. Jürgen Gehb (A) lisch erwürgt, anschließend ihr Geschlechtsteil entblößt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) und auf die Leiche bis zum Samenerguss onaniert. Das Wolfgang Nešković spricht jetzt für die Linke. ist nur ein Fall aus der Kriminalgeschichte. Es gibt noch viel schlimmere. Herr van Essen, da Sie sagten, es be- (Beifall bei der LINKEN) stehe im Moment kein Anlass: Dieser Mann droht dem- nächst entlassen zu werden, wenn wir heute nicht den Wolfgang Nešković (DIE LINKE): vorliegenden Gesetzentwurf in zweiter und dritter Le- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen sung verabschieden. Ich möchte nicht mit den Eltern und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Zypries! Vor eines weiteren Opfers diskutieren, ob die Prognose unsi- mehr als 50 Jahren schrieb ein amerikanischer Autor cher war oder nicht. Natürlich ist jede Prognose- eine Kurzgeschichte mit dem Titel Minority Report. Die entscheidung mit Unsicherheit behaftet. Das hat das Geschichte handelt davon, dass eine Abteilung der Bundesverfassungsgericht bei seinen Prüfungen wieder- Washingtoner Polizei mit angeblich verlässlichen hell- holt eingeräumt. Aber es ist nicht so, dass der Schließer seherischen Fähigkeiten noch nicht geschehene Morde oder der Gefängnisdirektor mal eben sagt: Das Bürsch- vorhersieht, die Täter im Vorfeld ermittelt und bereits chen in Zelle 3 dürfen wir, glaube ich, nicht entlassen. vor dem Verbrechen in Verwahrung nimmt. Nun schrieb das Bundesministerium der Justiz einen Gesetzentwurf, Nun kommt die nächste hohe Hürde. Die Entschei- nach dem die Strafgerichte künftig schwere Straftaten dung über die Anordnung der nachträglichen Siche- junger Menschen vorhersehen und die Täter auf unbe- rungsverwahrung wird von einem Gericht in der Beset- stimmte Zeit wegsperren sollen. Fiktion und Realität nä- zung von drei Berufsrichtern und zwei Laienrichtern hern sich an. nach Einholung sachverständiger Gutachten in einem al- (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: len rechtsstaatlichen Kautelen gerecht werdenden foren- Unverschämtheit!) sischen Verfahren getroffen, wenn kein vernünftiger Zweifel mehr übrig bleibt und das Maß der Gewissheit, In der Kurzgeschichte und im Gesetzentwurf schlägt das dass der betreffende Mann gefährlich ist, so hoch ist, zwischen Freiheit und Sicherheit schwingende Pendel dass man nach Abwägung aller Gesichtspunkte sagt: nur in eine Richtung aus, das ist die Richtung der Sicher- Den Mann können wir nicht mehr auf die Menschheit heit. Die Gerichte werden künftig mithilfe von Sachver- loslassen. Dieses Prozedere wird nicht nur nach den ers- ständigen entscheiden müssen, ob junge Menschen mit ten sieben Jahren durchgeführt. Nein, meine Damen und hoher Wahrscheinlichkeit furchtbare Verbrechen ver- Herren, anders als bei der nachträglichen Sicherungsver- üben können. wahrung für Erwachsene wird dieses Prozedere bei Ju- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die ha- gendlichen jedes Jahr durchgeführt, um festzustellen, ob (B) ben vorher schon eines verübt! Das sollte man (D) die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der ein- nicht vergessen!) mal angeordneten Sicherungsverwahrung weiter beste- hen. Hier liegt das Grundproblem des Konzeptes der Si- cherungsverwahrung. Die Gerichte werden vor eine fast Wer wie Herr Montag vor dem Hintergrund dieser ho- nicht lösbare Aufgabe gestellt. Es ist aus wissenschaftli- hen Anforderungen, die wir uns selber gesetzt haben, in cher Sicht kaum möglich, eine verlässliche Prognose der vorgestrigen Sitzung des Rechtsausschusses davon über die künftige Begehung schwerwiegender Straftaten spricht, dass man im Grunde alle möglichen Taten, zu abzugeben. Jeder Mensch ist und bleibt Träger von denen ein Hang besteht, zum Anlass für eine Siche- Chance und Risiko; deshalb bleiben seine Wege letztlich rungsverwahrung nehmen könne, übersieht völlig, dass unergründlich. Für junge Menschen gilt dies umso mehr. das nur bei bestialischen Tötungsdelikten gilt. Wer noch Schließlich ist ihre Lebensgeschichte erst kurz, und ihre eineinhalb draufsetzt und bei Berufung auf nur einen Persönlichkeitsentwicklung dauert noch an. Weiter Sachverständigen – Herr Nešković, Sie werden das in kommt erschwerend hinzu, dass die Situation des Straf- den vier Minuten, wenn Sie ein bisschen schneller vorle- vollzugs, in der die Prognose erfolgt, eine Kunstwelt ist, sen, wahrscheinlich ansprechen; Sie haben sich aber die die keine belastbaren Prognosen bezüglich des Verhal- Auffassung dieses Sachverständigen zu eigen gemacht – tens in Freiheit ermöglicht. Dessen sind Sie sich im die Menschen glauben machen will, der Gesetzgeber sei Grunde bewusst. Sie sind sich auch dessen bewusst, dass auf dem besten Weg, die Anordnung der nachträglichen Sie gerade bei Jugendlichen für die Gefährlichkeitspro- Sicherungsverwahrung ohne jede Anlasstat zuzulassen, gnose auf den Schutzwall der Voraussetzung der neuen verrät entweder ein hohes Maß an Mangel jeglichen Tatsachen verzichten. Sie wissen auch, welch verhee- Sachverstandes – hinter dem Schutzschild der Ahnungs- rende Folgen es für die Prognosebasis hat, dass sich die losigkeit kann man sich am besten verbergen – oder ein Gutachter im Regelfall nur auf eine einzige Anlasstat noch höheres Maß an bösartiger, verleumderischer Ener- stützen können. Sie haben deshalb ein schlechtes Gewis- gie. Tertium non datur: Eine dritte Möglichkeit sehe ich sen. für diese Auffassung nicht. Das schlechte Gewissen hat Sie dazu getrieben, unter Vielen Dank, meine lieben Kolleginnen und Kolle- anderem die hohe Siebenjahreshürde für die Anlassver- gen. urteilung aufzustellen. Das ist aber ein fauler Ablasshan- del. Ein ungeeignetes und in der Folge ungerechtes In- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- strument wird nicht dadurch geeignet und gerecht, dass neten der SPD) es weniger Menschen ungerecht der Freiheit beraubt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18091

Wolfgang NeškoviNeškoviæć (A) Unrecht bleibt Unrecht, auch wenn es weniger Men- Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung in den letzten (C) schen trifft. Führen Sie die mit gutem Grund eingeführte zehn bis fünfzehn Jahren entwickelt hat. Schauen wir Befristung der Jugendstrafe nicht dadurch ad absurdum, uns die Zahlen an: 1995 befanden sich in Deutschland dass Sie eine unbefristete Maßregel auf sie folgen lassen. 183 Personen in Sicherungsverwahrung. 2000 waren es Es bedeutet einen unerträglichen Widerspruch, wenn ein 219 Personen, 2006 401, 2007 415. Mit Stichtag zum Jugendlicher für eine tatsächlich begangene Straftat wie 30. November 2007 waren 424 Personen in Sicherungs- die, die Sie geschildert haben, und mag sie noch so verwahrung. Von denjenigen, die im Jahre 2006 in Si- scheußlich sein, höchstens zehn Jahre Jugendstrafe er- cherungsverwahrung untergebracht worden sind, sind halten kann, für eine aber noch gar nicht begangene knappe 20 Prozent, Herr Gehb, nicht wegen Gewalttätig- Straftat lebenslanges Wegsperren befürchten muss. keiten – Mord, Totschlag –, sondern wegen Diebstahl, Betrug oder Untreue in Sicherungsverwahrung gekom- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb men. [CDU/CSU]: Das ist doch das Wesen der Maß- nahme!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aber das ist nicht unser Thema heute!) Verlangen Sie von unserem Rechtsstaat nicht, mit ge- spaltener Zunge zu sprechen! Er wird sich daran ver- – Ich habe gesagt: Heute ist ein guter Tag, um sich über schlucken. die Sicherungsverwahrung insgesamt zu unterhalten. Die Sicherungsverwahrung in Deutschland ist nicht auf (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was einem guten Weg, sondern auf einem schlechten. schlagen Sie denn vor?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Deswegen: Stimmen Sie dem Entschließungsantrag bei der FDP und der LINKEN) meiner Fraktion zu! Meine Fraktion fordert die Einset- zung einer Expertenkommission, Es wäre ganz sinnvoll – deswegen haben wir Grüne heute unseren Entschließungsantrag eingebracht –, wenn (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Ah!) die Bundesregierung die gesetzlichen Grundlagen und die sich einmal die grundsätzliche Frage stellt, wie wir die praktischen Auswirkungen der Sicherungsverwah- mit dem Institut der Sicherungsverwahrung insgesamt rung umfassend untersuchen und dann eine entspre- umgehen. Das haben die Sachverständigen gefordert, chende Bilanz vorlegen würde, ehe wir zu einer weiteren aber Sie ignorieren sie. Das ist typisch für Ihre Politik. Ausweitung der Sicherungsverwahrung kommen. Denn Dann kann es eine vertretbare Lösung für den Rechts- die Sicherheitslage in Deutschland, meine Damen und staat geben. Herren, ist nicht so, dass wir in 2008 mehr als doppelt so (B) viele Menschen wie in 1995 in Sicherungsverwahrung (D) Die eingangs erwähnte Kurzgeschichte verdankt im nehmen müssten. Übrigen ihren Namen der Tatsache, dass einige der Hell- seher Minderheitenvoten verfasst haben, die geheim ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN blieben sind. Die Wahrheit ist: Die Hellseher sind sich und bei der FDP) über die Zukunft gar nicht einig. Wie die Gutachter in ei- nem Fall der Sicherungsverwahrung, so verfügen auch Jetzt zu Ihrem Gesetzentwurf: Um wen geht es? In sie in Wahrheit nur über Annahmen zu dieser Zukunft, der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf schreiben Sie und wie bei der Sicherungsverwahrung wurden die Men- auf Seite 9 – ich zitiere: schen in dieser Kurzgeschichte lediglich aufgrund von Denn es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass sich in Annahmen in die Verwahrung genommen. Die Begab- Einzelfällen bereits zum Zeitpunkt des ursprüngli- teste der Hellseherinnen verschafft einem der Verfolgten chen Urteils erhebliche Hinweise auf eine hohe dann die nötige Einsicht zu seiner Zukunft mit einem künftige Gefährlichkeit zeigen. einzigen Satz: Du hast die Wahl. – Erkennen auch Sie an, dass junge Menschen immer die Wahl haben, das Hierbei geht es um ganz wenige Jugendliche, bei de- Gute oder das Schlechte zu tun. Niemand kann diese nen schon kurze Zeit nach der Tat – nach einer wie der Wahl mit ausreichender Sicherheit vorhersehen. Auch von Ihnen beschriebenen oder einer noch schlimmeren Sie haben jetzt die Wahl. Machen Sie guten Gebrauch Tat – zur Diskussion steht, wie es am Ende mit ihnen davon! Lehnen Sie diesen Gesetzentwurf ab! weitergeht. Vielen Dank. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das können wir ja nicht originär!) (Beifall bei der LINKEN) Vergleichen Sie jetzt einmal die Situation der wenigen nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Heranwach- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: senden mit der jener Jugendlichen, für die hier eine Re- Jetzt spricht Jerzy Montag für das Bündnis 90/Die gelung getroffen werden soll. Bei den Heranwachsenden Grünen. kennen wir den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung. In den Fällen, in denen das Gericht unsicher ist, bringt es Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dies auch zum Ausdruck. In diesen Fällen weiß der Ver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! urteilte, was ihm drohen kann. Deswegen steht im Ge- Liebe Frau Justizministerin Zypries! Heute ist ein guter setz, dass er nur bei neuen, nachträglichen Tatsachen Tag, um einmal darüber nachzudenken, wie sich das – dabei ist ja eine eigene Einflussmöglichkeit gegeben – 18092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Jerzy Montag (A) eventuell in acht oder zehn Jahren in die Sicherungsver- gen; man geht davon aus, dass diese Person, wenn sie (C) wahrung gebracht werden kann. wieder in Freiheit ist, bei passender Gelegenheit wieder straffällig wird –, weil ihm nichts anderes übrig bleibt. Diese Heranwachsenden kommen bis zum 27. Le- Irgendwann danach begeht er erneut eine solche Straftat. bensjahr in eine sozialtherapeutische Anstalt, damit sie Ich verweise auf das Beispiel mit dem Opfer im Wald, Gelegenheit haben, selber daran mitzuwirken, nicht in das Herr Gehb genannt hat. Sicherungsverwahrung zu kommen. Den Jugendlichen, um die es jetzt geht, soll aber we- Frau Ministerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der ein Signal gegeben werden, dass sie in Sicherungs- wir uns die Regelung, die wir Ihnen hier vorschlagen, verwahrung kommen könnten, noch die Gelegenheit, nicht leicht gemacht haben. Aus unserem Gesetzentwurf dem in einer Sozialtherapie entgegenzuwirken. Das be- ergibt sich, dass wir alle Sicherheitsvorkehrungen einge- deutet: Wenn ein Jugendlicher ab jetzt die formalen Vo- baut haben, um zu verhindern, dass irgendjemand, bei raussetzungen für eine Sicherungsverwahrung erfüllt, dem sich Rückfälligkeit nicht mit Sicherheit prognosti- dann wird er bis zum letzten Tag seiner Haft nicht sicher zieren lässt, in Sicherungsverwahrung genommen wird. sein, ob eine Sicherungsverwahrung verhängt werden Dieses Verfahren ist nicht so, wie es Herr Kollege van wird oder nicht. Es stellt sich die Frage, ob sie aufgrund Essen hier vorgetragen hat. Der entsprechende Täter hat neuer oder alter Tatsachen verhängt wird. Sie drehen ein eine Jugendstrafe verbüßt, die länger war als sieben einziges Wörtchen um: In § 66 b StGB und in § 106 des Jahre. Er hat aus sexuellem Anlass ein schwerstes Ge- Jugendgerichtsgesetzes steht: waltdelikt, meistens ein Tötungsdelikt, begangen. In der werden nach einer Verurteilung … Tatsachen er- Haft ist er in Sozialtherapie gewesen. Die Sozialthera- kennbar … peuten sagten am Ende: Es tut uns leid; wir haben auch nach zehn Jahren nicht herausgefunden, wo diese Per- In diesem Gesetzentwurf steht: sönlichkeitsstörung eigentlich sitzt; wir müssen davon sind nach einer Verurteilung … Tatsachen erkenn- ausgehen, dass er, wenn er in Freiheit kommt, das Glei- bar … che wieder tun wird. „Werden“ wird zu „sind“. Damit will ich schließen. Die Möglichkeit, eine Sicherungsverwahrung anzu- Warum diese Änderung? In großer Offenheit schreiben ordnen, besteht nur dann – hier liegt Ihr Denkfehler, Sie in der Begründung dazu Folgendes: Herr van Essen –, wenn ein Gericht, eine erfahrene Ju- gendstrafkammer, eine Kammer, für die Schwurgerichts- Dabei ist der Wortlaut („sind […] erkennbar“ und sachen zum täglich Brot gehören, die sich mit diesen nicht „werden […] erkennbar“) so gefasst, dass für (B) Verfahren also genau auskennt – sie muss zwei weitere (D) die nachträgliche Anordnung der Sicherungsver- Sachverständige hinzuziehen; sie muss diese Person wahrung nicht ausnahmslos und stets erhebliche noch einmal begutachten –, neu verhandelt hat und zu „neue“ Tatsachen vorauszusetzen sind, die sich aus dem Ergebnis kommt: Jawohl, sie ist noch gefährlich. der Entwicklung während des Vollzugs ergeben … Sicherungsverwahrung kann also nicht angeordnet wer- Ergo: Sie behandeln die Jugendlichen nach diesem den, wenn dieses Gericht zu dem Ergebnis kommt: Wir Gesetz, wenn man bei der Idee der Sicherungsverwah- können es nicht beurteilen; es gibt keine sichere Pro- rung bleibt, mehrfach auch noch schlechter als die He- gnose. Dann gilt der Zweifelssatz. Wenn Zweifel beste- ranwachsenden. Alleine schon deswegen muss dieses hen, kann man keinen Schuldspruch fällen – Herr van Gesetz abgelehnt werden. Essen, das wissen Sie ganz genau –; das geht einfach nicht. Gegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, kann man sich im Wege der Revision wenden. Der Bun- bei der FDP und der LINKEN – Widerspruch desgerichtshof kann diese Entscheidung überprüfen. des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]) Ich habe solche Verfahren in meinem – wie ich immer Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sage – vorigen Leben als Richter häufig geführt; ich war Joachim Stünker hat jetzt das Wort für die SPD-Frak- jahrelang Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer. Ich tion. kann nur sagen: Es ist leider so – wir wünschen uns et- was anderes –, dass es voll schuldfähige Personen mit Persönlichkeitsstörungen gibt, die nicht so krankhaft Joachim Stünker (SPD): sind, dass sie zu verminderter Schuldfähigkeit oder Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schuldunfähigkeit führen; dann hätten wir die Möglich- Herr Montag, bei Ihren fulminanten Ausführungen hat keit der Unterbringung. Ich meine, daher ist das, was wir mir eines gefehlt: auch einmal einen Gedanken an die Ihnen hier vorschlagen, verantwortbar. Ich bitte Sie um Opfer zu verwenden. Zustimmung. Man muss hinzufügen: Nach Anordnung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der Sicherungsverwahrung muss Jahr für Jahr überprüft werden, ob sich eine Veränderung ergeben hat. Man stelle sich vor: Der Staat entlässt sehenden Au- ges einen jungen, aber erwachsenen Menschen nach Wir schlagen Ihnen also keine leichte Regelung vor; zehn Jahren Strafverbüßung – Gutachter haben zuvor be- das ist überhaupt keine Frage. Ich glaube, es ist aber eine stätigt, dass diese Person gefährlich ist; diese Person hat Regelung, die im Interesse der Sicherheit der Menschen aus sexuellen Gründen schwerste Tötungsdelikte began- in unserem Land und auch der Täter – auch ihnen tut Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18093

Joachim Stünker (A) man keinen Gefallen, wenn man sie wieder in die Frei- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (C) heit entlässt und sie die nächste Straftat begehen – ist. DIE GRÜNEN Schönen Dank. Den 17. 5. als offiziellen Tag gegen Homopho- bie begehen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) – Drucksachen 16/5291, 16/9366 – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Berichterstattung: Ich schließe die Aussprache. Abgeordnete Holger Haibach Angelika Graf (Rosenheim) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Burkhardt Müller-Sönksen desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einfüh- Michael Leutert rung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Ver- Volker Beck (Köln) urteilungen nach Jugendstrafrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker sache 16/9643, den Gesetzentwurf der Bundesregierung Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Alexander auf Drucksache 16/6562 anzunehmen. Ich bitte diejeni- Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Handzeichen. – Die Gegenstimmen! – Die Enthaltun- Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bise- gen! – Damit ist der Gesetzentwurf in der zweiten Bera- xuellen, Transgendern und Intersexuellen tung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen weltweit sicherstellen – Yogyakarta-Prinzipien der Opposition angenommen. unterstützen Wir kommen zur – Drucksache 16/9603 – dritten Beratung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) und Schlussabstimmung. Wer für diesen Gesetzentwurf Auswärtiger Ausschuss stimmen möchte, möge sich erheben. – Die Gegenstim- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und men! – Die Enthaltungen! – Damit ist der Gesetzentwurf Entwicklung in der dritten Beratung und Schlussabstimmung mit dem Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bünd- gleichen Stimmverhältnis wie vorher angenommen. nis 90/Die Grünen zu ihrer Großen Anfrage vor. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent- Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie- (B) schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs- ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann soll so (D) antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9649? – verfahren werden. Die Gegenstimmen! – Die Enthaltungen! – Der Ent- schließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Die Linke mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Kollegen Volker Beck. FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abge- lehnt. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- schäftigen uns in dieser Debatte mit der Menschen- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9650? – rechtssituation für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Die Gegenstimmen! – Die Enthaltungen! – Damit ist der Transgender weltweit. Wenn man ins Internet schaut Entschließungsantrag gegen die Stimmen von Bünd- oder die Tagespresse Revue passieren lässt, sieht man, nis 90/Die Grünen, FDP und großen Teilen der Fraktion wie vielfältig die Verfolgung und die Beeinträchtigungen Die Linke mit den Stimmen der Koalition bei einer Ent- der Menschenrechte dieser Gruppe weltweit leider sind, haltung aus der Fraktion Die Linke abgelehnt. auch auf unserem Kontinent. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 31 a und den Im Oktober 2007 verbietet der Bürgermeister von Vil- Tagesordnungspunkt 31 b sowie Zusatzpunkt 10 auf: nius in Litauen eine Demonstration von Schwulen und 31 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Lesben. Das ist ein Beispiel von vielen aus osteuropäi- Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid, Kai Gehring, schen Staaten, in denen die Versammlungsfreiheit nicht weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- respektiert wird. NIS 90/DIE GRÜNEN Es gab im Mai die Entscheidung des obersten Beru- Zur Lage der Menschenrechte von Lesben, fungsgerichts in Ankara, das die Homosexuellenorgani- Schwulen, Bisexuellen und Transgendern sation Lambda Istanbul verboten hat. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Organisation geht in die Berufung. – – Drucksachen 16/2084, 16/2800 – Das ist meines Erachtens ein alarmierendes Signal aus diesem Land. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Menschenrechte und In Moldawien wurden in diesem Jahr ebenfalls De- humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag monstrationen von Schwulen und Lesben verboten. Es der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Irmingard kam zu erheblichen Gewalttätigkeiten, wobei die De- Schewe-Gerigk, Birgitt Bender, weiterer Abge- monstranten nicht ordnungsgemäß von der Polizei ge- 18094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Volker Beck (Köln) (A) schützt worden sind. Das Europäische Parlament hat sich terial. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregie- (C) hierüber sehr besorgt geäußert. rung sich die skandinavischen Staaten, Tschechien und andere Länder zum Vorbild nehmen und dieses Doku- In diesem Monat hat die UNO bei ihrer Unterorgani- ment zur Grundlage ihrer Menschenrechtspolitik für die sation UNAIDS auf Initiative der Länder Ägypten, Ja- genannte Gruppe machen würde. Leider hat die Bundes- maika und Simbabwe drei Homosexuellengruppen von regierung in einer Antwort auf die entsprechende An- einem entsprechenden Kongress ausgeschlossen. frage einer anderen Fraktion geantwortet, sie halte das Vor wenigen Wochen wurden zwei Spanier in Gambia lediglich für einen wichtigen Beitrag der Zivilgesell- wegen ihrer Homosexualität verhaftet. schaft. Ich glaube, hier geht es um mehr als einen Bei- trag der Zivilgesellschaft. Hier wird durchbuchstabiert, Das alles sind nur Beispiele dafür, dass weltweit die wie Menschenrechte für diese Gruppe wirklich aussehen Menschenrechte von Schwulen und Lesben noch nicht müssen. garantiert und noch nicht gewährleistet sind. Was die bürgerlichen und politischen Freiheiten angeht, ist das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, oftmals auch in osteuropäischen Ländern der Fall. Welt- bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg. weit, insbesondere in den afrikanischen und islamischen Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Ländern, gibt es leider auch ganz fundamentale Men- Ob wirkliche Menschenrechtspolitik betrieben wird, schenrechtsverletzungen; dort stehen die homosexuellen erweist sich letztlich immer daran, ob die Rechte jeder Handlungen selbst unter Strafe. In über 80 Ländern sind Minderheit in einer Gesellschaft, seien es die Bahai im einvernehmliche homosexuelle Handlungen unter Er- Iran oder in Ägypten, seien es die Homosexuellen in wachsenen strafbar. In über sieben Ländern steht darauf Afrika oder jüdische oder christliche Minderheiten in is- die Todesstrafe. lamischen Ländern, geschützt werden. Umgekehrt kann Die Antwort der Bundesregierung hierauf finde ich man am Umgang mit diesen Minderheitenrechten sehen, beachtlich. Mir sind aus den letzten Jahren leider eine wie es um die Menschenrechtslage insgesamt bestellt ist. Reihe von Exekutionen von Homosexuellen in Ländern Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Neben der wie Iran und Saudi-Arabien bekannt; der Bundesregie- dramatischen Lage, die auf der Welt bei diesem Thema rung offensichtlich nicht. herrscht, gibt es auch Anlass zur Hoffnung. Am 31. Mai Ich finde, da sollte man genauer hinschauen. Solche 2008 hat die Organisation Amerikanischer Staaten ein- Todesurteile sollten nämlich Anlass für Demarchen sein. stimmig das Thema „Menschenrechte von Lesben, Diesen Menschen sollte man im Rahmen einer men- Schwulen, Bisexuellen und Transgendern“ auf ihre (B) schenrechtsorientierten Außenpolitik helfen, indem man Agenda gehoben. Damit ist die weltweit zweite regio- (D) sich bemüht, sie zu retten, und gegebenenfalls auch be- nale Organisation bei diesem Thema engagiert. Ich reit ist, sie in Deutschland aufzunehmen. finde, das gibt Anlass zur Hoffnung, dass die Initiative von Brasilien, die vor einigen Jahren im Menschen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, rechtsrat in Genf gescheitert ist, noch einmal aufgegrif- bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abge- fen wird. Die Bundesrepublik Deutschland sollte da ordneten der CDU/CSU und der SPD und des zwar nicht eine Leader-Rolle übernehmen, aber wir soll- Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) ten, wenn sich engagierte Länder aus der Dritten Welt, die ein ähnliches Menschenrechtsverständnis wie wir ha- Sozusagen als ganz klassisches Gegenbild, als Gegen- ben, an die Spitze stellen, alles tun, um sie dabei zu un- entwurf zur realen Menschenrechtssituation von Lesben terstützen. und Schwulen auf dieser Welt, wurden im Jahre 2006 unter Mary Robinson, der ehemaligen UN-Hochkom- missarin für Menschenrechte, die Yogyakarta-Prinzi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: pien entworfen. Aus diesen geht hervor – das ist eine Herr Kollege! gute Handlungsanleitung für jeden Politiker –, dass es in jedem Menschenrechtsbereich – ich nenne zum Beispiel Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): das Recht auf Gesundheit, das Recht auf einen fairen Prozess, das Recht auf Leben, das Recht auf bürgerliche So könnte es gelingen, dass eines Tages die Men- und politische Rechte – spezifische Aspekte gibt, die bei schenrechte von Lesben und Schwulen nicht nur auf dem einer Menschenrechtsgarantie für Lesben und Schwule Papier stehen, sondern auch tatsächlich überall aner- zu berücksichtigen sind. Auf diese Aspekte muss man kannt werden. leider immer wieder aufmerksam machen, weil es immer Vielen Dank für Ihre Geduld. irgendein Land auf der Welt gibt, wo sie zumindest punktuell nicht gewährleistet sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Ich finde es sehr gut, dass uns die entsprechende Stu- Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) die, die mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes ge- druckt wurde, weil es bisher keine amtliche Übersetzung dieser Studie ins Deutsche gab, von der Hirschfeld- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Eddy-Stiftung zur Verfügung gestellt wird. Dabei han- Der Kollege Holger Haibach spricht jetzt für die delt es sich, wie ich glaube, um ein wichtiges Arbeitsma- CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18095

(A) Holger Haibach (CDU/CSU): entspricht, eine solche Einstellung zu haben. Selbst (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und wenn es so wäre: Es gibt internationale Verträge, es gibt Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, an die der Kollege Beck sicherlich recht: Natürlich hat der Um- sich auch Staaten halten müssen, die eine andere Le- gang einer Gesellschaft mit Minderheiten eine große bensweise haben. So einfach ist das an dieser Stelle. Aussagekraft darüber, wie eine Gesellschaft sich insge- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP samt zum Thema Menschenrechte stellt. Dass natürlich und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie besonders Gruppen, die sich nicht im Mainstream einer bei Abgeordneten der LINKEN) Gesellschaft befinden, auf Schwierigkeiten stoßen, und das besonders in Ländern, in denen es um die Menschen- Mir fällt in letzter Zeit immer mehr auf, dass es viele rechtssituation ohnehin problematisch bestellt ist, ist in Länder gibt, in denen Homosexuelle, Transgender, Inter- diesem Hause, wie ich glaube, auch unstrittig. sexuelle, wenn sie sich denn dazu bekennen können, für Dinge angeklagt werden, die mit ihrer sexuellen Orien- Deswegen ist es nicht nur eine Frage von Regierungs- tierung eigentlich nichts zu tun haben. Wir stellen insge- handeln – natürlich auch das –, sondern darüber hinaus samt bei Menschen, die sich für Menschenrechte einset- auch eine Frage der Mentalität der gesamten Bevölke- zen, fest, dass ein Vorwand gesucht wird. Aber bei dieser rung in einem Land, die darüber entscheidet, ob eine Gruppe sieht das manchmal ein bisschen aus wie eine Gruppe wie zum Beispiel Schwule, Lesben, Transgen- moderne Form von Hexenjagd. der, Intersexuelle in einer Gesellschaft leben kann. Wir brauchen in unserer eigenen Geschichte nicht sehr weit Für uns ergibt sich daraus die Frage: Was können wir zurückzugehen, um festzustellen, dass auch in zivilisier- tun? Ich denke, der vorliegende Antrag, der sich mit den ten Ländern durchaus Dinge geschehen sind, die wir weltweiten Prinzipien beschäftigt – insgesamt beraten heute gerne ungeschehen machen würden, wenn wir es wir heute über drei Anträge –, zeigt einige wichtige denn könnten. Dinge auf. Wir werden das sicherlich sehr intensiv im Ausschuss diskutieren. Nichtsdestoweniger noch einmal zurück zum Thema Mentalitäten. Ich halte es für wichtig, dass Regierungs- Aber wir sollten eben auch schauen, welche Möglich- handeln – Handeln unserer Bundesregierung und anderer keiten wir innerhalb unserer eigenen Gremien haben. Ich Regierungen – dieses Thema aufnimmt und da einen finde den Hinweis auf den Europäischen Gerichtshof für Schwerpunkt setzt. Ich halte es aber für mindestens ge- Menschenrechte in diesem Zusammenhang ausgespro- nauso wichtig, dass wir insgesamt dafür sorgen, dass chen wichtig. Der Gerichtshof für Menschenrechte in eine Mentalität, wie sie sich hoffentlich in unserem Land Straßburg ist für viele Menschen, besonders aus den ost- herausgebildet hat, im Zusammenhang mit diesem europäischen Staaten, aus dem Kaukasus-Raum und aus (B) (D) Thema auch in andere Länder getragen wird. Russland, die letzte Möglichkeit, ihr Recht einzuklagen und zu erstreiten. Dass der Gerichtshof große Probleme Ich kann mich noch gut an eine Debatte in der Parla- hat, haben wir hier mehr als einmal festgestellt. Auch mentarischen Versammlung des Europarates erinnern, dass wir alles tun müssen, damit der Gerichtshof wieder wo der russisch-orthodoxe Patriarch erklärt hat, die Pa- arbeitsfähig wird, haben wir hier gemeinschaftlich fest- rade in Moskau, an die der Kollege Beck, wie ich in mei- gestellt. Aber das gilt besonders für solche Gruppen, die ner letzten Rede so schön gesagt habe, noch schmerzli- in ihren eigenen Ländern marginalisiert sind; denn sie che Erinnerungen haben dürfte, sei ungefähr so gewesen, werden am Ende noch viel weniger die Möglichkeit ha- als habe man für Diebstahl Werbung gemacht. Was mich ben, sich an irgendeine Stelle in ihrem Land zu wenden. persönlich noch mehr erschüttert hat als die Tatsache, Die Menschen in Ländern, deren Justizsystem von vorn- dass er, ein Kirchenführer, ein Führer einer christlich-or- herein nicht auf Unabhängigkeit und rechtsstaatlichen thodoxen Kirche, das gesagt hat, war, dass von den etwa Prinzipien basiert, brauchen diesen Gerichtshof; denn er 150 anwesenden Kolleginnen und Kollegen – die meis- ist ihre letzte Hoffnung. ten kamen aus Osteuropa, den Kaukasus-Staaten und Russland – etwa 100 lautstark und anhaltend applaudiert (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der haben. Ich finde, diese Geisteshaltung darf von diesem FDP) Haus nicht unterstützt werden. Ich will mich nicht davor drücken, auch über den An- (Beifall im ganzen Hause) trag zu sprechen, der den Tag gegen Homophobie be- trifft. Wir werden diesem Antrag nicht zustimmen. Das Richtig ist auch, dass Diskriminierung in sehr unter- hat aber nichts mit unserer grundsätzlichen Einstellung schiedlicher Art und Form stattfinden kann. Es kann zu tun, sondern mit der Frage nach den Mitteln, die ich sein, dass diese Gruppe in einem Land „nur“ gesell- vorhin schon einmal aufgeworfen habe. schaftlich nicht sehr angesehen ist. Es kann sein, dass der Staat duldet, dass Verfolgung stattfindet. Es kann Ich habe das letzte Mal vorgelesen – ich verzichte aber auch sein, dass der Staat – darauf hat der Kollege deshalb jetzt darauf –, welche internationalen Feiertage, Beck zu Recht hingewiesen – sogar Strafmaßnahmen ge- Gedenktage und Erinnerungstage an dem Tag der dama- genüber Menschen mit einer solchen Lebensweise er- ligen Debatte stattfanden. Man ist über die Menge über- greift. Wir haben mit dem Menschenrechtsausschuss Us- rascht. Würde man noch nationale Feier- und Gedenk- bekistan und Turkmenistan besucht, zwei Länder, in tage hinzunehmen, würde die Liste wesentlich länger denen das so ist. Die Antwort, die man dann immer be- werden. Ich weiß, dass Symbole an der einen oder ande- kommt, ist, dass es nicht der jeweiligen Lebensweise ren Stelle notwendig sind. Aber der inflationsartige Ge- 18096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Holger Haibach (A) brauch von Symbolen würde der Sache nicht gerecht 60 Ländern aufgerufen werden, Initiativen gegen die (C) werden. Deswegen halten wir dieses Vorgehen nicht für Diskriminierung von Homosexuellen zu ergreifen. den richtigen Weg. Nichtsdestoweniger ist es wichtig, dieses Ziel zu verfolgen. Die Liberalen im Deutschen Bundestag begrüßen diese Resolution sehr, in der es vor allem um die politi- Ich komme zum Schluss. Ich habe vorhin zufällig ein sche Arbeit gegen staatliche Verfolgung und Diskrimi- Buch mit dem Titel „Solidarität, die ankommt“ von Peter nierung aufgrund der sexuellen Orientierung geht. Hesse, einem Christdemokraten, in die Hand bekom- Zentral ist auch die Forderung nach dem Schutz Homo- men. Auf der Rückseite des Buches stehen zwei Sätze, sexueller vor Diskriminierung durch Dritte. Die Resolu- die ich in diesem Zusammenhang für sehr erwägenswert tion ist vor allem als Signal in den Ländern wichtig, in halte: denen es alles andere als selbstverständlich ist, sich für Die Entwicklung unseres globalen Dorfes zu einer die Grundrechte Homosexueller einzusetzen. Hier gibt Gemeinschaft, in der alle Menschen friedlich und es auch für einige liberale Parteien noch einiges zu tun. würdevoll als „Einheit in Vielfalt“ in einer Balance Diese selbstkritischen Worte will ich in die eigene Fami- leben können, ist eine Vision. Es ist aber auch eine lie senden. Notwendigkeit, wenn die Lebensform „Mensch“ Wenn ich es mir recht überlege, hört sich ein „Tag ge- sich nicht selbst vernichten oder ihre geistigen gen …“ per se nicht positiv an. Diese Formulierung ist Werte verlieren will. einfach negativ. In der Bezeichnung des Tages, den die Ich glaube, das fasst zusammen, warum wir uns heute Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Grünen am mit diesem Thema beschäftigen. 17. Mai einführen wollen, steht auch noch ein Fremd- wort. Mit dem Wort „Homophobie“ kann der normale Herzlichen Dank. Bürger aber nur schwerlich die Nachricht verbinden, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP dass es eigentlich um den Einsatz für das hohe Gut der und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Menschenrechte geht. Auch deshalb stehen wir der Ein- führung eines neuen Gedenktages kritisch gegenüber und sind nicht wirklich davon überzeugt, dass damit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Besserungen in der Sache erreicht werden können. Au- Der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen ist der ßerdem gibt es bereits – bestens in Deutschland einge- nächste Redner für die FDP-Fraktion. führt – den Christopher Street Day. Wir fänden es kon- struktiver, würden wir uns weltweit auf einen CSD Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): einigen, anstatt einen neuen Gedenktag einzuführen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) Meine Damen und Herren, die FDP im Deutschen (D) Wir sind uns alle darin einig, dass wir Politikerinnen und Bundestag setzt eher auf politische Initiativen, um sich Politiker gegen Menschenrechtsverletzungen jeglicher für die Rechte von Transgendern, Bisexuellen, Lesben Art vorgehen müssen. Das bedeutet natürlich auch eine und Schwulen stark zu machen, als auf das Begehen von klare Ablehnung von Diskriminierung, Unterdrückung offiziellen Tagen. Wir haben in der letzten Wahlperiode und Gewalt gegen Transgender, Bisexuelle, Schwule mit dem Ergänzungsgesetz das bislang weitgehendste und Lesben. Gesetz zur Rechtsstellung von eingetragenen Lebens- Aus diesem Grunde haben wir vor kurzem zusammen partnern vorgelegt. Wir sehen aber immer noch eine mit den Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Grü- Übermacht an Pflichten für die Paare im geltenden Le- nen einen Änderungsantrag zum Antrag zur Einführung benspartnerschaftsrecht. Wesentliche Rechtsbereiche eines offiziellen Tages gegen Homophobie eingebracht, wie zum Beispiel das Steuer-, Beamten- und Ausländer- der die Problematik der Homophobie geografisch erwei- recht bergen noch sehr viele unzureichende Regelungen. tert. Uns ging es vor allem darum, festzuhalten, dass nicht nur in Polen, sondern auch in vielen anderen Län- Auch ein weiteres Recht ist noch nicht durchgesetzt: dern – ich nenne nur Rumänien und die baltischen Staa- das gemeinsame Adoptionsrecht für eingetragene Le- ten – ein bedrückendes Klima der Intoleranz gegenüber benspartner. Dieses Recht ist auf die Stiefkindadoption Homosexuellen herrscht. reduziert, was ganz klar hinter den gesellschaftlichen Entwicklungen zurückbleibt. Auch beim Adoptionsrecht (Beifall bei der FDP) für gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner muss Leider wurde dieser Antrag von Ihnen, den Kolleginnen und wird das Kindeswohl an erster Stelle stehen. Ende und Kollegen der Koalitionsfraktionen, abgelehnt. Mai hat die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag in Form eines Antrages auf eine weitere Schwachstelle in Als Partei der Bürgerrechte treten wir natürlich für einem deutschen Gesetz hingewiesen: Wir haben einen den Grundgedanken der Gleichberechtigung gleichge- Antrag zur „Reform des Transsexuellengesetzes für ein schlechtlicher Partnerschaften und deren Würdigung ein. freies und selbstbestimmtes Leben“ eingebracht. In eini- Dazu gehört auch, die Rechte von Transgendern, gen bisherigen Regelungen des Transsexuellengesetzes Bisexuellen, Lesben und Schwulen in allen gesellschaft- gibt es schwerwiegende Grundrechtsverstöße, die unbe- lichen Bereichen weltweit durchzusetzen. In diesem dingt korrigiert werden müssen, wie zum Beispiel die Sinne haben die Liberalen Internationalen auf ihrem Verpflichtung zur Ehelosigkeit, die Voraussetzung der 55. Kongress vor gut einem Monat eine Resolution ver- dauernden Fortpflanzungsfähigkeit und die geschlechts- abschiedet, in der die liberalen Parteien von über anpassende Operation. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18097

Burkhardt Müller-Sönksen (A) Sie sehen, es bleibt auch in Deutschland noch viel zu Wir haben im Kampf gegen Homophobie auch in (C) tun. Natürlich sind wir in vielen Bereichen weiter als in Deutschland noch längst nicht alle Ziele erreicht. Gewalt anderen Ländern. Um auch dort Fortschritte in der gegen Schwule und Lesben ist in unserer Gesellschaft Durchsetzung der Menschenrechte von Transgendern, weiterhin ein Thema. Nicht ohne Grund ist das diesjäh- Bisexuellen, Lesben und Schwulen zu erreichen, braucht rige Motto des Berliner CSD der Hass gegen Schwule, es noch eine Menge Geduld, Aufklärungsarbeit und poli- Lesben und Transgender. Denn leider ist homophobe tischen Druck. Gewalt immer noch alltäglich, insbesondere in sozialen Brennpunkten unserer Städte. Gegen Homophobie müs- Aber zum Glück gibt es von fachlicher Seite immer sen wir vorgehen, vor allem durch Aufklärung bei Ju- wieder Unterstützung. Vor zwei Jahren haben zahlreiche gendlichen. Hier sind insbesondere die für den Bereich internationale namhafte Menschenrechtsexpertinnen und Bildung zuständigen Bundesländer gefragt, die Integra- -experten eine systematische Gesamtschau auf die Men- tionspolitik, aber auch unsere Bundesfamilienministerin, schenrechtsgewährleistung für Lesben, Schwule, die das Thema Homophobie bei Jugendlichen anspre- Bisexuelle und Transgender erarbeitet – ich darf auf die chen und anpacken muss. Ausführungen des Kollegen Beck verweisen; er hat es schon erwähnt –: die Yogyakarta-Prinzipien, verabschie- (Mechthild Rawert [SPD]: Sehr wichtiges det im November 2006. Thema!) Jeder Mensch muss ein selbstbestimmtes Leben füh- Von einer wirklichen Gleichstellung sind wir in ren können – ob er schwul, lesbisch, bisexuell oder Deutschland noch weit entfernt. Eine Hauptursache da- transsexuell ist. Dafür haben wir uns immer sehr stark für ist, dass das damals von Rot-Grün eingebrachte eingesetzt, und das werden wir auch weiter tun. Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz im Bundesrat ge- scheitert ist. Vielen Dank. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP) Ein Skandal!) – Ein Skandal. Da gebe ich Ihnen recht. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt spricht Angelika Graf für die SPD-Fraktion. (Mechthild Rawert [SPD]: Wohl wahr!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der Europäische Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass die Schlechterbehandlung eingetragener Lebens- partner gegenüber Ehegatten in der Hinterbliebenenver- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): sorgung eine willkürliche Benachteiligung ist. Meiner (B) (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ansicht nach besteht auch in vielen weiteren Punkten Weltweit sind Menschen wegen ihrer sexuellen Orientie- Handlungsbedarf. Die SPD setzt sich dafür ein, dass die rung Strafverfolgung und Diskriminierung ausgesetzt. Benachteiligungen ausgeräumt werden. Den gleichen Das hat die Große Anfrage der Grünen bestätigt. Um Pflichten in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft diesen Zustand zu ändern, muss die deutsche Politik müssen endlich auch gleiche Rechte folgen. klare Signale senden – innerhalb Deutschlands, in Europa, aber auch in der Welt. Denn nur eine Politik, die Im Rahmen des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes nicht diskriminiert, kann ein glaubwürdiger Botschafter setzen wir uns für die Gleichstellung aller Bundesbeam- gegen Homophobie in der Gesellschaft und international ten ein. Bei der Reform der Erbschaftsteuer sind wir sein. schon ein Stück weiter, denke ich; hoffe ich zumindest. Hier stehen die Chancen meines Erachtens gut, dass wir Es gibt weltweit Fortschritte, aber auch Rückschläge die bisherigen Nachteile grundsätzlich ausräumen kön- bei der Entwicklung der Menschenrechte von Schwulen, nen. Ich kann in diesem Zusammenhang nur an unseren Lesben, Bisexuellen und Transgendern; Kollege Beck Koalitionspartner appellieren, den Widerstand gegen die hat bereits darauf hingewiesen. Deutschland war unter Beseitigung der Nachteile endlich aufzugeben. anderem mit der Einführung der eingetragenen Lebens- partnerschaft unter der rot-grünen Bundesregierung ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorreiter in der Welt für mehr Akzeptanz von gleichge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schlechtlichen Partnerschaften. Das hat nicht nur die LINKEN und der Abg. Burkhardt Müller- konkrete Lebenssituation von schwulen und lesbischen Sönksen [FDP] und Gert Winkelmeier [frak- Paaren erheblich verbessert. Wir haben damit in die Ge- tionslos]) sellschaft auch das Signal ausgesandt, dass der Staat Es nützt der Institution Ehe überhaupt nichts, wenn Sie gleichgeschlechtliche Paare als Teil unserer Gesellschaft eingetragene Lebenspartnerschaften schlechter stellen. anerkennt, sie respektiert und ihnen einen Rechtsrahmen für ihre Partnerschaft anbietet. (Mechthild Rawert [SPD]: Wohl wahr!) (Beifall bei der SPD) Aufgabe der Politik ist es, willkürliche Benachteili- gungen abzuschaffen. Diesen Kurs hat die SPD auch in Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Staat, der zu der Großen Koalition beibehalten und das Allgemeine Benachteiligung, Ausgrenzung und Verfolgung ganz Gleichbehandlungsgesetz durchgesetzt. Dabei haben wir klar Nein sagt, damit Toleranz und Akzeptanz in der Ge- die Benachteiligung wegen der sexuellen Orientierung sellschaft stärkt. nicht nur, wie von der EU vorgeschrieben, im arbeits- 18098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Angelika Graf (Rosenheim) (A) rechtlichen, sondern darüber hinaus auch im zivilrechtli- wenn es um das Recht auf Meinungs- und Versamm- (C) chen Teil untersagt. Das war ein harter Kampf. Das wis- lungsfreiheit geht. Der Kollege Beck hat darauf schon sen alle, die daran beteiligt waren. Wir haben damit hingewiesen. Ich bin deshalb sehr froh darüber, dass es deutlich gemacht, dass eine Schlechterstellung von uns in der Großen Koalition gelungen ist, einen gemein- Schwulen und Lesben in Deutschland nicht hingenom- samen Antrag zugunsten des weltweiten Rechts auf Mei- men wird, weder im Arbeitsleben noch bei Vertrags- nungs- und Pressefreiheit zu verabschieden. Das war abschluss. Wir haben außerdem deutlich gemacht, dass gestern der Fall. Darüber freue ich mich ausdrücklich. Diskriminierung keine Rangordnung und keine Hierar- chie kennt. (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt, dass das Euro- Das Recht, gegen Benachteiligungen die Stimme zu päische Parlament mit den Stimmen der sozialdemokra- erheben, ist nur ein Teil, wenn es um gleiche Rechte tischen Fraktion, der Grünen und der Liberalen den geht. Bundesregierung und Bundestag müssen sich mei- Schutz vor Benachteiligung europaweit ausweiten ner Ansicht nach weiterhin vehement – so wie es in der möchte, auch für das Merkmal sexuelle Orientierung. Vergangenheit der Fall war – mit einem klaren Nein zu Wir haben uns dafür bei Kommissionspräsident Barroso Benachteiligung, Ausgrenzung und Gewalt aufgrund se- eingesetzt und freuen uns, dass die EU-Kommission die- xueller Orientierung positionieren. Da sind wir uns, ses Votum nicht ignoriert hat und einen entsprechenden denke ich, alle einig. Es gibt viele konkrete Punkte, an Richtlinienentwurf fertigt. denen man arbeiten kann und muss. Ein Teil dieser kon- kreten Punke steht in dem Entschließungsantrag, den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vorgelegt haben. Wir werden uns mit ihm und den ande- Damit würde eine Angleichung der Antidiskriminie- ren Punkten, die Sie in Ihren Anträgen aufgeschrieben rungsvorschriften in der EU auf deutschem Niveau erfol- haben, sicherlich noch ausführlich im Ausschuss be- gen. Deutschland wäre Vorbild für Europa. schäftigten. Ich habe vorhin schon über die in diesem sensiblen Zum Schluss noch einen Satz zu der Forderung nach Themenbereich nötige Vorbildfunktion gesprochen. Die einem offiziellen Tag gegen Homophobie in Deutsch- Antidiskriminierungsstelle spielt hierbei meiner Ansicht land am 17. Mai. Einerseits ist sich, denke ich, sicherlich nach eine wichtige Rolle. Ich bedauere deshalb aus- kaum noch jemand von der heutigen jungen Generation drücklich die unglücklichen und missverständlichen Äu- – ich spreche ausdrücklich von der jungen Generation – ßerungen der Leiterin dieser Stelle, Frau Dr. Köppen, in der Symbolik dieses Datums bewusst. der FA Z. (B) (Jörg van Essen [FDP]: Richtig! Ja!) (D) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Was § 175 des Strafgesetzbuches bedeutet hat, wissen Rawert [SPD]: Ja!) die Älteren und die schwul-lesbische Community, aber andere Menschen wissen es meist nicht. Ich glaube, das Nach meiner Auffassung ist es Aufgabe der Antidiskri- kann man mit einem Gedenktag nicht reparieren. Ich be- minierungsstelle, den Diskriminierten entgegenzukom- dauere es, dass das niemand mehr weiß. Auf der anderen men und ihre Interessen wahrzunehmen. Seite teile ich die Einschätzung des Kollegen Haibach. Es gibt viele internationale Gedenktage, ohne dass diese (Mechthild Rawert [SPD]: Skandalös!) Tage ein deutsches Pendant haben. Heute ist zum Bei- Das macht man nicht dadurch, dass man sich trotz nach- spiel der Weltflüchtlingstag. Bei der Forderung nach weislich ausgebliebener Prozessflut Vorbehalte der deut- einem internationalen oder europäischen Tag gegen schen Wirtschaft öffentlich zu eigen macht, die sich Homophobie haben Sie mich persönlich, liebe Kollegin- gegen die Ausweitung der EU-Richtlinie und eine An- nen und Kollegen von den Grünen, voll auf Ihrer Seite; passung an das – wohlgemerkt – deutsche Niveau rich- da bin ich anderer Meinung als Kollege Haibach. Aber ten. eine deutsche Entsprechung halte ich aus den vorgetra- genen Gründen für nicht zielführend und lehne dies des- (Mechthild Rawert [SPD]: Skandalös war halb ab. das!) (Jörg van Essen [FDP]: Ja!) Für mich steht fest: Eine Politik, die Schwule und Lesben zum Sündenbock für Probleme wie den Gebur- Deswegen werden wir diesem Antrag von Ihnen nicht tenrückgang verantwortlich macht – man lese nur die zustimmen. Leserbriefseiten mancher Zeitungen –, sorgt für ein Klima der Intoleranz und befördert Gewalt gegen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sexuelle Minderheiten. Letztlich befördert eine solche der CDU/CSU und der Abg. Dr. Barbara Höll Politik auch Menschenrechtsverletzungen. [DIE LINKE]) (Mechthild Rawert [SPD]: Außerdem Unkenntnis!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Barbara Höll hat jetzt das Wort für die Linke. Das Zusammenspiel von Politik und gesellschaftli- chen Auswirkungen wird besonders deutlich sichtbar, (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18099

(A) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): lich nicht unser Gewicht auf der internationalen Ebene, (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wenn wir andere Staaten bewegen wollen, auf diesem Gebiet etwas zu unternehmen. Diskriminierung und Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ist ein Un- Es gibt Nachbesserungsbedarf im Asylrecht und im recht genau wie Rassismus. Wir haben die Apart- Flüchtlingsrecht. Der Status muss vielfach immer noch heid in Südafrika überwinden können. Wir werden vor Gericht erkämpft werden. Dort heißt es dann sogar auch die Homophobie überwinden. noch: Diejenigen, die sich in anderen Staaten offen als schwul zu erkennen geben, hätten das ja nicht tun müs- Diese Worte schrieb der Erzbischof und Friedensno- sen. Dann wären sie auch nicht verfolgt worden. belpreisträger Desmond Tutu zum Geleit des kürzlich er- schienenen Buches Sexuelle Vielfalt erlernen. Wenn wir (Holger Haibach [CDU/CSU]: Das gilt für heute über die Rechte von Lesben, Schwulen und Trans- religiöse Verfolgung aber auch!) gendern sprechen, tun wir dies im Wissen um die aktuel- Das ist doch absurd. Dagegen müssen wir etwas tun. len Diskriminierungen und Verfolgungen. In vielen Tei- len der Welt werden Menschen drangsaliert, verhaftet, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. gefoltert oder gar ermordet, weil sie anders lieben. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Allein in sieben Staaten droht ihnen die Todesstrafe, in NEN]) 80 lange Haftstrafen und selbst in einigen Ländern der EU ist es ihnen verwehrt, zu demonstrieren. Grundle- Wir müssen bei uns selbst anfangen, und das können wir gendste Bürger- und Menschenrechte werden Lesben, auch. Schwulen und Transsexuellen vorenthalten, weil sie an- Frau Graf, leider ist in Rheinland-Pfalz, wo Herr ders sind. Beck Ministerpräsident ist, im Beamten- und Versor- Der Kampf gegen diese Diskriminierungen ist inter- gungsrecht noch keine Angleichung erfolgt. Im Berliner national. Im Jahr 2006 setzten sich Expertinnen und Ex- Abgeordnetenhaus hat der Rechtsausschuss am Mitt- perten im indonesischen Yogyakarta zusammen. Sie woch auf Initiative der Linken durchleuchteten die Menschenrechte unter dem Blick- (Mechthild Rawert [SPD]: Na ja! Das ist jetzt winkel sexueller und geschlechtlicher Diskriminierung aber sehr großzügig ausgedrückt!) und formulierten Prinzipien, die die Bürgerrechte sowie die sozialen Rechte für Lesben, Schwule und Transgen- – das geschah übrigens in Zusammenarbeit mit der SPD der stärken sollen. und mit Unterstützung aller Fraktionen; das will ich her- vorheben – entschieden, das sogar rückwirkend zu ma- (B) Auf meine Anfrage an die Bundesregierung, wie sie chen. Es wäre schön, wenn das in allen Bundesländern (D) die Yogyakarta-Prinzipien bewertet, antwortete sie mir geschehen könnte. überraschend positiv. Die Regierung versicherte, dass sie sich auf internationaler Ebene seit Jahren konsequent ge- (Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert gen die Diskriminierung sexueller Minderheiten ein- [SPD]: Als Berlinerin unterstütze ich diese setzt. Gut, aber ich sage Ihnen: Sie als Bundesregierung Position natürlich!) und wir als Bundesrepublik werden natürlich umso Nun noch kurz zum Antrag, einen Gedenktag zu be- glaubwürdiger und können umso besser international gehen. Man muss sich einmal vergegenwärtigen: Von agieren und mehr Gewicht erlangen, je besser die Situa- diesem Pult in diesem Hohen Hause hätte ich das Wort tion im eigenen Lande ist. „schwul“ im Jahre 1987 noch nicht einmal in den Mund (Beifall bei der LINKEN) nehmen dürfen. Dann hätte Frau Präsidentin sagen müs- sen, dass das verboten ist, da das kein parlamentarischer Deshalb muss man bei der Diskussion über Diskrimi- Sprachgebrauch ist. Inzwischen ist das erlaubt. 1994 ist nierungen in anderen Ländern auch immer hier ins Land der § 175 des Strafgesetzbuches aufgehoben worden; das schauen. ist gut. Aber die Menschen, die damals aufgrund dieses (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Paragrafen bestraft wurden, sind heute noch nicht reha- GRÜNEN]: Das stimmt!) bilitiert. Hier besteht noch Handlungsbedarf. Deshalb unterstützen wir diesen Antrag, der an die Diskriminie- Es gibt nicht ein bisschen Gleichheit. Die eingetragene rung erinnern und das Problem der Homophobie, das in Partnerschaft muss endlich mit der Ehe gleichgestellt unserer Gesellschaft immer noch verbreitet ist, ins Be- werden. Lesben und Schwule sind gleiche Staatsbürger. wusstsein rücken soll. Deshalb gibt es keinen Grund, sie im Steuerrecht, im Erb- recht und im Adoptionsrecht ungleich zu behandeln; das Ich danke Ihnen. aber tun wir. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Ein Fall wie der Maruko-Fall, in dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesregierung Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ aufgefordert hat, sie möge doch endlich die Diskriminie- Die Grünen auf Drucksache 16/9651 soll zur federfüh- rung von Lesben und Schwulen beenden, erhöht natür- renden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte 18100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) und Humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Aus- Jörg van Essen (C) wärtigen Ausschuss und den Ausschuss für die Ange- Wolfgang Nešković legenheiten der Europäischen Union überwiesen wer- Jerzy Montag den. – Damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist das so beschlossen. c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus- eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des ses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Europarats vom 23. November 2001 über Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Computerkriminalität Titel „Den 17.5. als offiziellen Tag gegen Homophobie begehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- – Drucksache 16/7218 – empfehlung auf Drucksache 16/9366, den Antrag der Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5291 schusses (6. Ausschuss) abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die – Drucksache 16/9645 – Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Großen Ko- alition, bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grü- Berichterstattung: nen und der Linken und bei Enthaltung der FDP ange- Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen- nommen. Schwenningen) Dirk Manzewski Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Jörg van Essen Drucksache 16/9603 an die in der Tagesordnung aufge- Wolfgang Nešković führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein- Jerzy Montag verstanden. Dann ist das so beschlossen. Zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 c wurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbe- auf: schlusses des Rates der Europäischen Union zur Be- a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des kämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs der Kinderpornografie liegen ein Änderungsantrag des eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsan- vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über trag der Fraktion Die Linke vor. die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- (B) (D) Kinderpornografie sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich sehe, dass Sie auch damit einverstanden sind. Es handelt – Drucksache 16/3440 – sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen), Helga schusses (6. Ausschuss) Lopez, Jörg van Essen, Wolfgang Nešković, Jerzy Montag und Brigitte Zypries. – Drucksache 16/9644 – Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Berichterstattung: desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen- dem Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Schwenningen) Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, Christine Lambrecht die Kinderprostitution und die Kinderpornografie. Der Jörg van Essen Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Wolfgang Nešković lung auf Drucksache 16/9644, den Gesetzentwurf der Jerzy Montag Bundesregierung auf Drucksache 16/3440 anzunehmen. b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltun- zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des gen? – Der Gesetzentwurf ist bei Zustimmung der Koali- Rates der Europäischen Union zur Bekämp- tionsfraktionen, bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd- fung der sexuellen Ausbeutung von Kindern nis 90/Die Grünen und bei Enthaltung von FDP und und der Kinderpornografie Linken angenommen. – Drucksache 16/3439 – Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Euro- schusses (6. Ausschuss) päischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeu- – Drucksache 16/9646 – tung von Kindern und der Kinderpornografie. Berichterstattung: Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen- empfehlung auf Drucksache 16/9646, den Gesetzent- Schwenningen) wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/3439 in Christine Lambrecht der Ausschussfassung anzunehmen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18101

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ich habe alle, (C) nis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. die noch hier im Plenum sind, für 19 Uhr zu Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache einem kleinen Umtrunk ins Schloss Bellevue 16/9652? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Än- eingeladen! – Heiterkeit im ganzen Hause) derungsantrag ist bei Zustimmung der Opposition und – Das haben Sie gut gemacht. Das kann natürlich nie- Gegenstimmen der Koalition abgelehnt. mand ausschlagen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es ist aber an- der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- gemessene Kleidung vorgesehen – da haben zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge- einige hier schon ein Problem!) setzentwurf ist in zweiter Beratung bei Zustimmung der Koalition und Ablehnung der Opposition angenommen. – Ich habe gelesen, man kann auch in Tracht kommen. (Heiterkeit) Dritte Beratung Nichtsdestotrotz würde ich jetzt gerne Tagesordnungs- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem punkt 33 aufrufen: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhält- Michael Goldmann, Sabine Leutheusser- nis wie zuvor angenommen. Schnarrenberger, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck- Verbraucherschutz beim Telefonmarketing sache 16/9653. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- verbessern – Callcenter erhalten trag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – – Drucksache 16/8544 – Überweisungsvorschlag: Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung von Rechtsausschuss (f) Linken und FDP, Gegenstimmen der Koalition und Ent- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie haltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Wiederum wird interfraktionell vorgeschlagen, die desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu Reden zu Protokoll zu geben. – Damit sind Sie einver- dem Übereinkommen des Europarates vom 23. No- standen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen (B) vember 2001 über Computerkriminalität. und Kollegen Dr. Günter Krings, Dirk Manzewski, (D) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Hans-Michael Goldmann, Karin Binder, Nicole Maisch empfehlung auf Drucksache 16/9645, den Gesetzent- und Brigitte Zypries. wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7218 an- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf zunehmen. Drucksache 16/8544 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- verstanden. Dann ist es so beschlossen. men wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Ent- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei Zustimmung der Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesord- Koalition und Ablehnung der Opposition angenommen. nung. (Zuruf von der CDU/CSU – Heiterkeit bei der Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- CDU/CSU) destages auf Mittwoch, den 25. Juni 2008, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. – Können wir den Witz bitte zu Protokoll nehmen, damit ich ihn auch erfahre? (Schluss: 15.13 Uhr)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18103

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Akgün, Lale SPD 20.06.2008 Klug, Astrid SPD 20.06.2008 Andres, Gerd SPD 20.06.2008 Dr. Kofler, Bärbel SPD 20.06.2008 Annen, Niels SPD 20.06.2008 Korte, Jan DIE LINKE 20.06.2008 Becker, Dirk SPD 20.06.2008 Künast, Renate BÜNDNIS 90/ 20.06.2008 DIE GRÜNEN Beckmeyer, Uwe SPD 20.06.2008 Dr. Küster, Uwe SPD 20.06.2008 Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 20.06.2008 Dr. Lammert, Norbert CDU/CSU 20.06.2008 Dr. Bisky, Lothar DIE LINKE 20.06.2008 Leutheusser- FDP 20.06.2008 Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 20.06.2008 Schnarrenberger, Sabine Dörmann, Martin SPD 20.06.2008 Lintner, Eduard CDU/CSU 20.06.2008* Dött, Marie-Luise CDU/CSU 20.06.2008 Meckel, Markus SPD 20.06.2008 Freitag, Dagmar SPD 20.06.2008 Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 20.06.2008 Gabriel, Sigmar SPD 20.06.2008 Merten, Ulrike SPD 20.06.2008 (B) Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 20.06.2008 (D) Merz, Friedrich CDU/CSU 20.06.2008 Gerster, Martin SPD 20.06.2008 Mogg, Ursula SPD 20.06.2008 Gloser, Günter SPD 20.06.2008 Naumann, Kersten DIE LINKE 20.06.2008 Golze, Diana DIE LINKE 20.06.2008 Raidel, Hans CDU/CSU 20.06.2008 Griefahn, Monika SPD 20.06.2008 Ramelow, Bodo DIE LINKE 20.06.2008 Griese, Kerstin SPD 20.06.2008 Reichel, Maik SPD 20.06.2008 Gruß, Miriam FDP 20.06.2008 Schily, Otto SPD 20.06.2008 Hänsel, Heike DIE LINKE 20.06.2008 Schmidt (Aachen), Ulla SPD 20.06.2008 Hartenbach, Alfred SPD 20.06.2008 Seehofer, Horst CDU/CSU 20.06.2008 Haßelmann, Britta BÜNDNIS 90/ 20.06.2008 DIE GRÜNEN Seib, Marion CDU/CSU 20.06.2008 Hauer, Nina SPD 20.06.2008 Dr. Solms, Hermann FDP 20.06.2008 Otto Heinen, Ursula CDU/CSU 20.06.2008 Stöckel, Rolf SPD 20.06.2008 Herrmann, Jürgen CDU/CSU 20.06.2008* Wächter, Gerhard CDU/CSU 20.06.2008 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 20.06.2008 DIE GRÜNEN Weis, Petra SPD 20.06.2008 Hörster, Joachim CDU/CSU 20.06.2008 Weisskirchen SPD 20.06.2008 (Wiesloch), Gert Hoff, Elke FDP 20.06.2008

Dr. Hoyer, Werner FDP 20.06.2008 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union 18104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) Anlage 2 Untersuchungen in den letzten Monaten haben uns als (C) Klimapolitiker deutlich gezeigt, dass es bei den Kriterien Zu Protokoll gegebene Rede der Zusätzlichkeit und der Nachhaltigkeit Verbesse- zur Beratung der Anträge: rungsbedarf gibt. Einige Studien sprechen sogar davon, dass bis zu 40 Prozent der CDM-Projekte die Kriterien – Internationalen Klimaschutz sichern – Inte- nicht erfüllen. Vor dem Hintergrund, dass die Bedeutung grität und Wirksamkeit der CDM-Projekte dieser Projekte in den nächsten Jahren gewaltig zuneh- weiter verbessern men wird, muss schnell gehandelt werden. – Unterlaufen von Klimaschutzzielen durch Dazu gehört zum Beispiel die Verhinderung von Mit- CDM-Projekte beenden nahmeeffekten durch den Einsatz im Bereich von Kälte- mitteln wie HFKW-23. Dazu gehören transparente Kri- (169. Sitzung, Zusatztagesordnungspunkte 7 terien für die Anerkennung von Projekten. Dazu gehört und 8) die Überprüfbarkeit und Anfechtbarkeit von Entschei- dungen. Und es gehört dazu ein Ausbau der Möglichkei- Frank Schwabe (SPD): Klimaschutz ist eine Auf- ten des Exekutivrats. Das bedeutet auch ein höheres gabe, der sich der gesamte Deutsche Bundestag stellen Budget. muss – in der jeweiligen Verantwortung von Koalition In den Verhandlungen zu einem Nachfolgeabkommen und Opposition, aber auch dort gemeinsam, wo es ein des Kioto-Protokolls müssen diese Dinge eine Rolle hohes Maß an Übereinstimmung gibt. Das ist beim heute spielen. Die Bundesregierung hat dabei eine führende vorliegenden Antrag der Fall, dem in der vorliegenden Rolle übernommen. Sie drängt auf Maßnahmen, die die Fassung sicherlich alle Fraktionen des Hauses, CDU/ notwendige Integrität erhöhen. Der Deutsche Bundestag CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, unterstützt die Bundesregierung dabei nachhaltig. Wir zustimmen können. ermuntern sie zu einer konsequenten Verhandlung bei diesem Thema. Das ist die gemeinsame Botschaft des Klimaschutz muss national betrieben werden. Er führt heutigen Antrages. letztlich zu Innovationen und Effizienzverbesserungen im Inland. Wir bekennen uns ausdrücklich zur Notwen- digkeit einer Vorreiterrolle, um zu beweisen, dass hoher Anlage 3 Wohlstand, Schonung von Rohstoffen und Klimaschutz zusammengehen können. Am Ende geht es jedoch um Zu Protokoll gegebene Reden eine gemeinsame, weltweite Kraftanstrengung. (B) zur Beratung: (D) Ein Mechanismus einer Verkoppelung der notwendi- – Entwurf eines Gesetzes zu dem Fakultativ- gen nationalen Anstrengungen mit internationalen Maß- protokoll vom 25. Mai 2000 zum Über- nahmen im Emissionshandel bilden die sogenannten fle- einkommen über die Rechte des Kindes xiblen Mechanismen des Kioto-Protokolls. In diesem betreffend den Verkauf von Kindern, die Haus gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, in Kinderprostitution und die Kinderporno- welchem Maße internationale Maßnahmen auf nationale graphie Klimaschutzanstrengungen angerechnet werden dürfen. Ich gehöre dabei eher zu denen, die zurückhaltend mit – Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des diesem Mechanismus umgehen wollen. Über die Sinn- Rahmenbeschlusses des Rates der Europäi- haftigkeit des sogenannten Clean Development Mecha- schen Union zur Bekämpfung der sexuellen nism, also der Möglichkeit, CO2-Zertifikate über inter- Ausbeutung von Kindern und der Kin- nationale Maßnahmen zum Klimaschutz zu generieren, derpornographie gibt es jedoch keinen Zweifel. – Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkom- Von großer Bedeutung ist dabei, dass bei diesen Pro- men des Europarats vom 23. November 2001 jekten die ökologische, soziale und ökonomische Nach- über Computerkriminalität haltigkeit berücksichtigt wird. Wir brauchen keine wei- (Tagesordnungspunkt 34 a bis c) teren Projekte in Entwicklungsländern, von denen vor allem der Investor profitiert und die Menschen vor Ort nichts haben. Von großer Relevanz ist auch, dass die Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ Projekte nachweisbar zu Treibhausgaseinsparungen füh- CSU): Bündnis 90/Die Grünen rufen im Gleichklang mit ren, die andernfalls nicht erzielt worden wären. Das den Linken zum Boykott gegen den Rahmenbeschluss Prinzip der Zusätzlichkeit muss erfüllt sein. Ansonsten des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der wäre das Instrument unwirksam und würde in der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpor- Summe sogar zu einem höheren CO -Ausstoß führen. nografie auf. Es blieb dem Kollegen Montag vorbehal- 2 ten, im Rechtsausschuss dafür zu werben, den Rahmen- Es gibt allerdings die gemeinsame große Sorge, dass beschluss nicht in deutsches Recht umzusetzen, weil er diese Integrität des CDM in Zweifel steht. Soll heißen: das gewachsene und geschlossene System des deutschen Sind wirklich alle Maßnahmen zusätzlich, helfen sie Sexualstrafrechts auf den Kopf stelle. Nun mag es genü- nachhaltig und beachten sie auch die sozialen Randbe- gen, sich aus der Opposition heraus bei Gesetzgebungs- dingungen des Projekts? vorhaben zu verweigern. Geradezu paradox muss aber Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18105

(A) anmuten, dass Bündnis 90/Die Grünen sich vom Acker auf den über 18-Jährigen aufgehoben, obwohl europäi- (C) stehlen, obwohl gerade sie es waren, die unter rot-grüner sche Vorgaben das nicht gebieten. Auch ein Jugendli- Regierungsverantwortung am 22. Dezember 2003 in cher, der die Zwangslage einer unter 18-Jährigen zu se- Brüssel diesem Rahmenbeschluss zugestimmt haben, xuellen Handlungen missbraucht, verwirklicht unseres den es im Bereich der Kinderpornografie jetzt in deut- Erachtens strafwürdiges Unrecht, § 182 Abs. 1 StGB sches Recht umzusetzen gilt. neue Fassung. So verstehen wir effektiven Opferschutz. Kinderpornografie ist ein internationales Problem, In der zweiten Tatbestandsvariante des § 182 StGB, das durch die unzähligen Verbreitungs- und Austausch- § 182 Abs. 2 StGB neue Fassung, macht sich nur der möglichkeiten des Internets eine zusätzliche Dimension strafbar, der als über 18-Jähriger einer unter 18 Jahre al- gewonnen hat. Dies spiegelt sich auch in den Zahlen der ten Person für sexuelle Handlungen ein Entgelt, § 11 Strafverfolgungsstatistik wieder. Kam es im Jahr 2002 Abs. 1 Ziffer 9 StGB, anbietet. Damit wollen wir sexu- zu insgesamt 467 Verurteilungen wegen des Besitzes elle Annäherungen Minderjähriger, auch wenn ein Ent- kinderpornografischer Schriften – § 184 Abs. 5 StGB gelt fließt, straffrei halten – dies auch deshalb, weil der a. F. –, so waren es im Jahr 2003 bereits 739 und im Jahr Entgeltbegriff des § 11 Abs. 1 Ziffer 9 StGB weit gefasst darauf 938. Nach der Einführung des jetzigen § 184 b ist und eine Wertuntergrenze nicht enthält. Der oft zi- StGB, der Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderporno- tierte Fall, dass ein 16-Jähriger eine 17-Jährige gegen grafischer Schriften unter Strafe stellt, schnellte die Zahl deren Zusage, sexuelle Handlungen zuzulassen, ins Kino der Verurteilten im Jahr 2005 auf 1 410 hoch, um im einlädt, ist demnach straffrei. Jahr 2006 auf 1 580 Verurteilte zu steigen. Es überrascht daher nicht, dass sich die Staaten auf europäischer und Obwohl ebenfalls europarechtlich nicht vorgesehen, internationaler Ebene diesem grenzüberschreitenden stellen wir den Versuch des sexuellen Missbrauchs von Phänomen annehmen. Jugendlichen in § 182 Abs. 4 StGB unter Strafe, um ei- nen Wertungswiderspruch auszugleichen. Beim sexuel- So kam es auch zur Verabschiedung des bereits ge- len Missbrauch widerstandsunfähiger Personen ist nach nannten Rahmenbeschlusses, nach dem die Mitglied- geltendem Recht der Versuch strafbar, § 179 Abs. 4 staaten der Europäischen Union gehalten sind, folgende StGB. Warum soll dann der Versuch des sexuellen Miss- Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen: Gemäß Art. 2 brauchs von Jugendlichen straflos bleiben? Die Forde- des Rahmenbeschlusses die Vornahme sexueller Hand- rung der Opposition, bei § 182 StGB die Versuchsstraf- lungen mit einem Kind – wonach ausweislich der Be- barkeit auf die Fälle der Duldung oder Vornahme einer griffsbestimmung in Art. 1 Buchstabe a des Rahmenbe- sexuellen Handlung gegen Entgelt zu beschränken, löst schlusses ein Kind jede Person unter 18 Jahren ist –, diesen Wertungswiderspruch nicht. Im Bereich der Por- soweit Geld oder sonstige Vergütungen oder Gegenleis- nografie unterscheiden wir jetzt zwischen kinderporno- (B) (D) tungen dafür geboten werden, dass sich das Kind an se- grafischen Schriften, § 184b StGB, die das Alter der xuellen Handlungen beteiligt, sowie nach Art. 3 Abs. 1 Akteure mit bis zu unter 14 Jahren umfassen, und ju- des Rahmenbeschlusses die Herstellung, Vertrieb, Ver- gendpornografischen Schriften, § 184c StGB, die das breitung, Weitergabe, Anbieten oder sonstiges Zugäng- Alter der Akteure von 14 bis 18 Jahren umfassen. Dabei lichmachen sowie den Erwerb oder Besitz von Kin- soll – wie bei allen anderen Pornografiestraftatbestän- derpornografie. den – nicht nur die bildliche Darstellung unter Strafe ge- stellt werden, sondern jede verbotene pornografische Um es vorab klarzustellen: Wir Abgeordnete der Re- Schrift im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB. gierungskoalition fühlen uns bei der Übernahme des Rahmenbeschlusses zur Kinderpornografie normativ Festzuhalten bleibt, dass der Besitz solcher pornogra- frei. Wir wissen, dass und welchen Spielraum wir im na- fischer Schriften straflos bleibt, die mit Einwilligung ei- tionalen Recht bei der Umsetzung eines Rahmenbe- nes Jugendlichen durch einen Jugendlichen hergestellt schlusses haben, und wir wissen auch, dass wir – wo wir wurden und sich im Besitz des Herstellers befinden. Au- es rechtspolitisch für geboten halten – über die Vorgaben ßerdem bereinigen wir eine durch die Entscheidung des des europäischen Rechts hinausgehen dürfen. Auch da- Bundesgerichtshofs vom 2. Februar 2006 – 4 StR 570/05 – von machen wir in diesem Gesetzentwurf Gebrauch. entstandene Gesetzeslücke, indem wir in § 176 Abs. 4 Nr. 2 StGB klarstellen, dass auch derjenige strafbar ist, Im Opferinteresse ist es sinnvoll, die im deutschen der ein Kind zu aufreizendem und geschlechtsbetontem Recht bestehenden Schutzaltersgrenzen bei sexuellem Posing bestimmt. Missbrauch und im Bereich der Pornografie internatio- nalen Standards anzugleichen. Während im deutschen Der zur Abstimmung vorgelegte Gesetzentwurf füllt Sexualstrafrecht Kind eine Person unter 14 Jahren ist maßvoll den EU-Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der – Legaldefinition in § 176 Abs. 1 StGB –, ist dies nach sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpor- dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom nografie aus. Wo es unter Opfergesichtspunkten oder zur 20. November 1989 über die Rechte des Kindes jeder Beseitigung von Wertungswidersprüchen geboten er- Mensch, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. scheint, geht der Entwurf bewusst über die Vorgaben des Demgemäß werden wir beim sexuellen Missbrauch von Rahmenbeschlusses hinaus. Jugendlichen, § 182 StGB, das Schutzalter von derzeit unter 16 Jahren auf unter 18 Jahre anheben. Wer dem Gesetzentwurf nicht zustimmt, möge auch Folgendes bedenken: Mit der Anpassung des deutschen In der Tatbestandsvariante des Ausnutzens einer Rechts an europarechtliche und internationale Standards Zwangslage haben wir die Beschränkung des Täteralters schaffen wir die Grundlage dafür, dass Deutschland das 18106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) Fakultativprotokoll zur Kinderrechtskonvention und das chem Erscheinungsbild, also Scheinjugendliche sind, (C) Europarat-Übereinkommen zur Computerkriminalität, wird ebenfalls unter Strafe gestellt. Auch diese Vorgabe die sogenannte Cybercrime-Konvention, ratifizieren des Rahmenbeschlusses halte ich für richtig und wichtig. kann. Mit den beiden Zustimmungsgesetzen, die heute Zum Schluss will ich noch auf die Kritik aus den Rei- ebenfalls zur abschließenden Beratung und Abstimmung hen der Opposition eingehen. auf der Tagesordnung stehen, schafft der Deutsche Bun- destag die innerstaatlichen Voraussetzungen für die Rati- Ich hätte niemals vermutet, dass diesem Gesetz Ein- fizierung. Auch insoweit verweigert sich die Opposition. schränkung der sexuellen Selbstbestimmung von Ju- Sie setzt damit ein falsches Signal. Man kann nicht gendlichen unterstellt werden könnte, so wie es einige ernsthaft gegen Kinderschutz sein! Oppositionskollegen tun. Das Gegenteil ist der Fall. Was hat Pornografie mit freier sexueller Entfaltung von Ju- Geben Sie den Gesetzentwürfen Ihre Stimme. Sie gendlichen zu tun? Was hat das Ausnutzen einer Not- schützen damit Kinder und Jugendliche zum Beispiel lage, eine Nötigung, mit freier sexueller Entfaltung zu vor der Mitwirkung an der Herstellung von Kinder- bzw. tun? Und dabei, mit Verlaub, ist es vollkommen egal, Jugendpornografie ohne das sexuelle Selbstbestim- wie alt die Person ist, die bedrängt, nötigt und ausnutzt. mungsrecht von Jugendlichen zu beschränken. Viele Verbände, unter anderem UNICEF und ECPAT, Helga Lopez (SPD): Wir setzen heute den Rahmen- haben lange auf die deutsche Umsetzung des Rahmenbe- beschluss der EU zur Bekämpfung der sexuellen Aus- schlusses gewartet. Beim dritten Weltkongress zum beutung von Kindern und der Kinderpornografie in na- Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung in Brasilien tionales Recht um. Kurz zusammengefasst geht es dabei im November dieses Jahres können wir nun endlich darum, den strafrechtlichen Schutz vor sexuellem Miss- Vollzug melden. Es wäre gut, wenn dann auch die von brauch von Jugendlichen zu erweitern durch Einbezie- Deutschland bereits gezeichnete Konvention des Euro- hung der 16- und 17-Jährigen. Außerdem wird der parates zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung Anwendungsbereich der Strafvorschriften über porno- auch ratifiziert wäre. grafische Schriften, die sexuelle Handlungen von, an Wir – das sage ich insbesondere auch im Auftrag mei- oder vor Kindern zum Gegenstand haben, auf Jugendli- ner sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen im che zwischen 14 und 18 Jahren erweitert. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – begrüßen dieses Gesetz ausdrücklich. Im neugefassten § 182 Abs. 1 StGB geht es um den sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung einer Zwangs- lage. Zusätzlich zur Erweiterung der Schutzvorschrift Jörg van Essen (FDP): 1994 hat der Deutsche Bun- auf Jugendliche bis 18 Jahren haben wir hier die Alters- destag in der Rechtspolitik Großes geleistet. Mit der (B) grenze auf Täterseite aufgehoben; denn es ist für das Op- Strafrechtsreform zur Änderung des Sexualstrafrechts (D) fer vollkommen unerheblich, ob die tatausführende Per- haben wir die Schutznormen vereinheitlicht, Widersprü- son unter oder über 18 Jahre alt ist. che aufgehoben und Diskriminierungen beseitigt. Es ist gelungen, für diese Reform eine breite Mehrheit im Ein zweites Beispiel: Wir stellen in Zukunft alle por- Deutschen Bundestag zu finden. Neben den damaligen nografischen Schriften, die sexuelle Handlungen von, an Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP hat auch oder vor Personen unter 18 Jahren zum Gegenstand ha- die SPD der Reform zugestimmt. ben, unter Strafe. Auch diese Maßnahme halte ich für geboten. Durch die technischen Möglichkeiten – ich Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass die Wei- spreche hier nicht nur vom Internet, sondern auch vom chenstellungen, die wir damals getroffen haben, die Mobiltelefon – ist es heute sehr einfach, Bilder und Vi- Richtigen waren. Wir haben uns auf ein einheitliches deos zu verbreiten. Die Täter missbrauchen das Opfer Schutzalter von 16 Jahren geeinigt. Übereinstimmend nicht nur, sondern verhöhnen es zusätzlich durch das war der Bundestag auch der Auffassung, dass die Erpro- Weiterverbreiten von Bildern und Videos im Internet bung der Sexualität für die Jugendlichen unbelastet von oder über das Handy. Hier war höchste Zeit, zu handeln. der Befürchtung, in Strafverfahren verwickelt zu wer- den, stattfinden muss. Daher wurde bewusst eine Vor- Wir schließen auch die Strafbarkeitslücken beim so- schrift geschaffen, die jugendtypische, einvernehmliche genannten Posing, dem aufreizenden und geschlechtsbe- Beziehungen nicht erfassen soll. tonten Zur-Schau-Stellen von Kindern. Damit wird dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 2. Februar 2006 Ich war daher fassungslos, als die Bundesregierung Rechnung getragen. Das Posing fällt mit der Neurege- 2006 einen Gesetzentwurf verabschiedet hat, der den lung unter die Straftat der Kinderpornografie. Verbrei- Konsens im Sexualstrafrecht aufkündigt und uns gesell- tung, Erwerb und Besitz aller jugendpornografischen schaftspolitisch zurückwirft in die 50er-Jahre. Der Ge- Schriften, nicht nur bildlicher Darstellungen, werden setzentwurf setzt einen Rahmenbeschluss der EU um. über die kinderpornografischen Schriften hinaus unter Diesem Rahmenbeschluss hat die Bundesregierung in Strafe gestellt. Allerdings soll der Besitz jugendporno- rot-grüner Regierungszeit zugestimmt. Dass gerade Rot- grafischer Schriften weniger umfassend unter Strafe ge- Grün einen solchen Rechtsakt in Europa befördert hat, stellt werden als der Besitz kinderpornografischer ist ein bemerkenswerter Vorgang. Die Koalition von Schriften. CDU/CSU und SPD hat sich jedoch nicht darauf be- schränkt, den Rahmenbeschluss eng auszulegen und von Lassen Sie mich auch noch einen Satz zu den soge- den zahlreichen Ausnahmetatbeständen Gebrauch zu nannten Scheinjugendlichen sagen. Die Verbreitung von machen. Sie hat vielmehr die Vorschläge des Rahmenbe- Pornografie, deren Darsteller Erwachsene mit jugendli- schlusses weiter verschärft und ist erheblich über den Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18107

(A) Regelungsgehalt hinausgegangen. Während der Rah- worden. Die FDP-Bundestagsfraktion kann dem Gesetz- (C) menbeschluss keinerlei Aussage über das Täteralter entwurf daher nicht zustimmen. trifft, sieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, auf jegliches Täteralter zu verzichten. Mit gutem Grund Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Die Streitfrage hat sich der Bundestag in den 90er-Jahren dafür ent- zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung schieden, ein Täteralter von mindestens 18 Jahren vorzu- war nie, ob Kinder und Jugendliche Schutz vor sexueller sehen. Die Bundesregierung verabschiedet sich damit Ausbeutung benötigen. Zu dieser wichtigen Zielstellung von wesentlichen Grundprinzipien des Sexualstraf- sind wir uns hier im Haus hoffentlich alle einig. Die ent- rechts, wonach grundsätzlich von einem Erfahrungs- scheidende Frage ist, ob es diesem Ziel dient, zukünftig und Machtgefälle zwischen Täter und Opfer aufgrund alle Menschen in Deutschland unter 18 Jahren als Kinder des Altersunterschieds auszugehen ist. Auch bei der ge- zu behandeln. Denn so sieht es der Marschbefehl aus nerellen Anhebung des Schutzalters geht der Gesetzent- Brüssel vor, der dem aktuellen Gesetzentwurf zugrunde wurf deutlich über den Rahmenbeschluss hinaus. Wäh- liegt. rend die Anhebung auf 18 Jahre nur für den Missbrauch gegen Entgelt gefordert ist, erweitert die Bundesregie- Bevor uns dieser Marschbefehl aus Brüssel ereilte, rung die Regelung auch bei den Fällen unter Ausnutzung verfügten wir in Deutschland über ein unangezweifeltes einer Zwangslage. Auch im Bereich der Kinder- und und bewährtes System der Schutzaltersgrenzen. Das Jugendpornografie führen die Regelungen der Bundes- System beruhte auf der überzeugenden Idee, dass zwi- regierung zu Wertungswidersprüchen. Es ist anzuerken- schen Kindern und Jugendlichen für deren strafbewehr- nen, dass die Koalition in letzter Minute noch Änderun- ten Schutz unterschieden werden muss. Für Jugendliche gen an ihrem Ursprungsentwurf vorgenommen hat. Ich ist nun einmal typisch, dass diese ihre Sexualität gerade nenne hier die Differenzierung zwischen Kinder- und Ju- entdecken und entwickeln. Sie dürfen erwarten, dabei gendpornografie, die nun endlich die Unterschiede im Schutz vom Staat zu erhalten. Sie erwarten gleichzeitig, Unrechtsgehalt anerkennt. Es ist bis heute völlig unklar, dabei vom Staat in Ruhe gelassen zu werden. Die Lö- von welcher Motivation sich die Bundesregierung trei- sung dieses Widerspruchs liegt auf der Hand: Sie besteht ben lässt. Es wird nicht gelingen, in der Justiz einen für den Gesetzgeber in der Wahl des richtigen Verhält- Kronzeugen zu finden, der bestätigt, das geltende nisses zwischen dem geleisteten Schutz vor ungewollter Sexualstrafrecht habe sich nicht bewährt, enthalte Lü- Sexualität und der gewährten Freiheit für gewollte cken und müsse daher geändert werden. Sexualität. Für Kinder dagegen – also für Personen unter 14 Jahren – verbieten sich solche Differenzierungen völ- In einem Punkt sind wir uns alle einig: Sexueller lig; Kinder verdienen den absoluten Schutz des Strafge- Missbrauch von Kindern und die Verbreitung von Kin- setzgebers. Genau deshalb käme niemand in der Bevöl- derpornografie sind Verbrechen an der Seele von Kin- kerung auf den Einfall, für das Sexualstrafrecht ein (B) dern. Hier muss das Strafrecht mit aller Härte reagieren. fünfjähriges Kind mit einem siebzehnjährigen Jugendli- (D) Wahr ist aber auch, dass 17-jährige Jungen und Mädchen chen gleichzusetzen. Es wäre auch niemand in diesem keine Kinder sind. Es zeugt von völliger Unkenntnis des Hause auf einen solchen Einfall gekommen – hätte es Entwicklungsprozesses von Jugendlichen, wenn sie keinen Marschbefehl aus Brüssel mit ganz zweifelhafter strafrechtlich mit 6-jährigen Kindern gleichgesetzt wer- Rechtsgrundlage gegeben. den. Das zu schützende Rechtsgut im Sexualstrafrecht ist die sexuelle Selbstbestimmung, also die Freiheit der Wegen dieses Marschbefehls sah man sich im Bun- Person, über Ort, Zeit, Form und Partner sexueller Betä- desministerium der Justiz zum Systembruch gezwun- tigung frei zu entscheiden. Es ist jedoch nicht die Auf- gen. Man hebelte das fein austarierte deutsche Sexual- gabe des Strafrechts, die sexuelle Autonomie aufgrund strafrecht weitgehend aus. Ich zitiere aus einem von moralischen Anschauungen einzuschränken. Auf- Schreiben des Staatssekretärs vom 2. Juni dieses Jahres: gabe des Strafrechts ist es, Unrecht zu sanktionieren. Die Deutschland ist in der jetzigen Situation verpflichtet, den Moral als Leitschnur für das, was Recht und Unrecht ist, Rahmenbeschluss umzusetzen. – Das ist schlicht und zeugt von vergangenen Zeiten, von denen ich geglaubt einfach falsch. Ich zitiere wieder, diesmal das Bundes- habe, sie seien längst vergessen. verfassungsgericht. In seinen Ausführungen im Urteil zum Europäischen Haftbefehl heißt es: Es ist schier unfassbar, dass erst der große öffentliche Das Europäische Parlament, eigenständige Legiti- Druck die Koalition zum Einlenken bewegt hat. Die Än- mationsquelle des europäischen Rechts, wird in derungen in der Beschlussempfehlung gehen in die rich- dem Rechtsetzungsprozess lediglich angehört (vgl. tige Richtung, sind aber bei Weitem nicht ausreichend, Art. 39 Abs. 1 EU), was im Bereich der „dritten um den Gesetzentwurf zustimmungsfähig zu machen. Säule“ den Anforderungen des Demokratieprinzips Bis zuletzt hatte ich gehofft, dass die Koalitionsfraktio- entspricht, weil die mitgliedstaatlichen Legislativ- nen sich den Argumenten aus Praxis und Wissenschaft organe die politische Gestaltungsmacht im Rahmen öffnen und weitere Änderungen vornehmen. Es hat sich der Umsetzung, notfalls auch durch die Verweige- jedoch gezeigt, dass die Bundesregierung nicht bereit rung der Umsetzung, behalten. war, sich zu bewegen. Auf nachvollziehbare Argumente, warum sich CDU/CSU und SPD entschieden haben, wie Wenn man dann aber doch – entgegen der ausdrückli- sie sich entschieden haben, warten wir bis heute verge- chen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes – bens. Das Erfreuliche an der Rechtspolitik ist, dass viele den Rahmenbeschluss des Rates vom 22. Dezember Gesetzesvorhaben mit einer breiten Mehrheit des Parla- 2003 für umsetzungsbedürftig hielte, so wäre es dennoch ments verabschiedet werden. Dieser Konsens ist von der darauf angekommen, eine juristisch anspruchsvolle Um- Koalition beim Sexualstrafrecht bewusst nicht gesucht setzung zu meistern, die sich in das deutsche System der 18108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) Schutzaltersgrenzen einfügt und dabei umfassend von ben, ernsten Straftaten nachzugehen, etwa wenn es um (C) den Ausnahmebestimmungen des Rahmenbeschlusses Fälle sexuellen Missbrauchs geht oder um Kinderporno- Gebrauch macht. Für das Justizministerium aber wurden grafie. die Vorgaben des Rahmenbeschlusses gleichsam zu Soll- bruchstellen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich Weil es das System der Schutzaltergrenzen missach- möchte zu Beginn meiner Rede eines vorab deutlich be- tete, legte das Ministerium dem Bundestag einen ersten tonen: Wir Grünen unterstützen alle Anstrengungen, die Entwurf vor, der sehr viel antiquierte Moral und sehr helfen, Kinder umfassend und wirksam vor sexueller wenig modernes Recht zu bieten hatte. Dazu zwei Ausbeutung zu schützen. Kinderprostitution und Kin- Beispiele: Der Entwurf schloss eine Bestrafung von derpornografie gilt es entschieden zu bekämpfen. Doch 16- oder 17-jährigen Jugendlichen nicht aus, wenn diese dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, der heute in einvernehmlich und zur eigenen Verwendung von sich zweiter und dritter Lesung beraten wird, zielt – insoweit selbst erotische Fotos oder Filme anfertigen. Für die ist sein Titel irreführend – auf weit mehr als nur auf die Strafbarkeit pornografischer Schriften sollte es auch gar Bekämpfung sexueller Ausbeutung von Kindern. Er zielt nicht auf das wirkliche Alter der Darsteller ankommen, auf eine erhebliche Kriminalisierung einvernehmlicher sondern auf das scheinbare Alter. Die Strafbarkeit des Sexualkontakte Jugendlicher. Daran ändert auch nichts, Besitzes pornografischer Schriften, deren Darsteller dass die Koalition – nachdem die Öffentlichkeit dank nachweislich erwachsen waren, sollte sich gleichsam im guter Oppositionsarbeit von den Plänen erfuhr und sich Auge des beliebigen Betrachters entscheiden. Der erste erheblicher Widerstand gegen die ursprünglichen Pläne Entwurf traf wegen solcher und anderer Seltsamkeiten formierte – nun einen zweimal entschärften Vorschlag auf den einhelligen Widerstand der Opposition und der zur Abstimmung stellt. Ich will nicht verhehlen: Die von Öffentlichkeit. Es ist einigermaßen begrüßenswert, dass der Koalition vorgenommenen Änderungen gehen in die man daraufhin im Justizministerium und aufseiten der richtige Richtung, sie sind jedoch nach wie vor nicht Koalition wenigstens ein Mindestmaß an Einsehen hatte. weitgehend genug. Die gerade geschilderten Merkwürdigkeiten wurden je- Bislang sah das Sexualstrafrecht ein nach dem Alter denfalls gestrichen. der Betroffenen abstufendes, differenzierendes Schutz- Doch auch die aktuelle Fassung weist weiter ernste konzept vor. Es stellte so einen sachgerechten Ausgleich Mängel auf. Diese beruhen nicht länger auf der fälschli- her zwischen dem Recht junger Menschen, vor nicht ge- chen Annahme einer Umsetzungspflicht. Sie sind poli- wünschten sexuellen Handlungen geschützt zu werden tisch gewollt. Deswegen geht man auch erheblich über einerseits, und dem Recht von Jugendlichen, ihr Recht das vom Rahmenbeschluss Geforderte hinaus. Auch auf sexuelle Selbstbestimmung auch selbstbestimmt aus- dazu zwei Beispiele: leben zu können andererseits. Dieses gestufte Schutz- (B) konzept wird mit den vorgesehenen Änderungen infrage (D) Erstens. Der Rahmenbeschluss fordert lediglich, die gestellt. So soll der bewährte § 182 StGB mit seinem ge- bildliche Darstellung von jugendpornografischem Mate- stuften Schutzkonzept nivelliert und damit die Strafbar- rial unter bestimmten Voraussetzungen unter Strafe zu keit jugendlicher Sexualkontakte erheblich ausgeweitet stellen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung erfasst werden. Ich möchte betonen: in § 182 StGB geht es um jedoch darüber hinaus zum Beispiel auch Literatur und einvernehmliche Sexualkontakte von Jugendlichen. Des- Lieder. Was Sie mit dieser Kunstzensur bezwecken und halb forderte die bisherige Strafnorm, neben dem Han- wie sie es mit Art. 5 GG vereinbaren wollen, Nabokov, deln gegen Entgelt oder in Ausnutzungssituationen zu- Gide und die Punkband „Die Ärzte“ in die Nähe des sätzlich eine altersbedingte Überlegenheit des Täters Strafrechts zu rücken, darüber verlieren sie wohlweislich gegenüber dem Opfer. Denn diese Altersüberlegenheit kein Wort. prägt den Unwert des Handelns ganz entscheidend mit und wird deshalb zu Recht vorausgesetzt. Zweitens. Nach unserem Strafrecht darf eine 18-jäh- rige junge Frau mit einem 17-jährigen jungen Mann je- Die Regelung hat sich seit vielen Jahren in der Praxis den Spaß haben, den die beiden wollen. Das wollen Sie bewährt. Es ist mir schlicht unverständlich, warum die glücklicherweise nicht ändern; denn was einvernehmlich Koalition hier nun – ohne Not – umfangreiche Strafver- in deutschen Jugendschlafzimmern geschieht, das geht schärfungen vornimmt. Sie will das Altersgefälle eineb- schließlich den Staatsanwalt nichts an. Nach dem Ent- nen; in einigen Fällen soll gar ein umgekehrtes Altersge- wurf soll es den Staatsanwalt aber doch etwas angehen, fälle möglich sein: Da wird dann der 14-jährige Jüngling wenn die junge Frau von dem jungen Mann beim einver- strafbar, wenn er seine angehimmelte 17-Jährige in nehmlichen Spaß Fotos schießt oder nur davon ein Bild sexuellen Absichten zu sich einlädt, weil sie – wegen malt, auch wenn dies nur zum persönlichen Gebrauch Stress zu Hause – für die Nacht ein Bett sucht. Denn ge- dient. Die beiden dürfen also alles machen aber nichts nau diese Fälle fallen bereits unter die weite Tathandlung abbilden. Das ist unsinnig und widersprüchlich. Allein „Ausnutzen einer Zwangslage“ in § 182 StGB. Sie hat dass in diesem Bereich Ermittlungen möglich sind, be- mit Gewalt oder Zwang eben nichts zu tun, allenfalls mit lastet bereits das natürliche Bedürfnis von Jugendlichen, misslichen Situationen. Gerade wegen der Weite der ihre Sexualität unbehelligt von staatlicher Gängelung zu Strafnorm ist es aber auch notwendig, den Altersunter- entdecken und zu entwickeln. Wenn diese möglichen Er- schied zwischen älterem Täter und jüngerem Opfer bei- mittlungen dann tatsächlich geführt werden, tritt weite- zubehalten, um Überkriminalisierung zu vermeiden. rer Schaden hinzu: Es ist leider die typische Folge un- Gleiches gilt für die Tathandlung „gegen Entgelt“. Da sinniger Kriminalisierungen, dass sie den so zusätzlich „Entgelt“ jeden geldwerten Vorteil – also auch schon und nutzlos befassten Ermittlungsbehörden die Zeit rau- eine geschenkte Kinokarte – umfasst, ist wegen der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18109

(A) Weite der Fälle auch hier ein deutliches Altersgefälle Es ist fahrlässig und unverantwortlich von der Großen (C) zwischen Opfer und Täter als unrechtsbestimmendes Koalition, auf die von ihr beabsichtigten unglaublichen Moment unverzichtbar. Ausweitungen des Sexualstrafrechts nicht hinzuweisen, sondern sie schlicht zu beschönigen und zu vernebeln. Nur für die Tathandlung „gegen Geld“ halten wir die Wir Grünen fordern die Koalition auf, die überbordene von der Regierung vorgeschlagene Heraufsetzung des Kriminalisierung sexueller Handlungen Jugendlicher zu- Opferalters von 16 auf 18 Jahre, unter Beibehaltung des rückzunehmen. Die Regierung ist in der Pflicht, sich Täteralters von 18 Jahren, für diskussionswürdig, um auch auf internationaler Ebene für Regelungen einzuset- dem Abgleiten Jugendlicher in die Prostitution entge- zen, die nach Alter der Kinder und Jugendlichen diffe- genzuwirken. renzierende Schutzkonzepte im Sexualstrafrecht ermög- lichen. Zu weitgehend ist auch die neu eingeführte Versuchs- strafbarkeit in § 182 StGB. Lehnt das 17-jährige – ver- meintliche – Opfer zum Beispiel in einer Zwangslage se- Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Die xuelle Avancen nach § 182 StGB ab, so zeigt sich darin drei Gesetzentwürfe, die jetzt zur Abstimmung stehen, doch gerade seine sexuelle Selbstbestimmung; der straf- behandeln ein trauriges Thema. Es geht um die sexuelle rechtliche Schutz ist hier also gerade nicht erforderlich. Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen durch Prosti- tution und Pornoindustrie. Traurig ist aber nicht nur das Auch die strafrechtlichen Ausweitungen im Bereich der Schicksal der Opfer. Traurig ist auch das politische Ni- Jugendpornografie halten wir Grünen – nach wie vor – für veau, auf dem dieses Thema diskutiert wird. zu weitgehend. Die Neuregelung sieht vor, erstmals die pornografische Darstellung Jugendlicher in einem neuen Die Opposition wollte diesen Gesetzentwurf offenbar § 184 c StGB unter Strafe zu stellen, und geht dabei so- bewusst missverstehen. Sie hat in der Öffentlichkeit die gar deutlich über die Vorgaben des EU-Rahmenbe- Missverständnisse darüber gezielt geschürt. Es ist der schlusses hinaus. So soll sich zum Beispiel auch strafbar Eindruck erweckt worden, wir wollten hier eine über- machen, wer pornografische Aufnahmen Erwachsener holte Sexualmoral gesetzlich verordnen und das Liebes- verbreitet, die minderjährig erscheinen. Auch der einver- leben von Teenagern kriminalisieren. Um es ganz deut- nehmliche Tausch aufreizender Fotos jugendlicher Pär- lich zu sagen: Das alles ist grober Unfug. Dies will chen innerhalb ihrer Peergroup soll bestraft werden. Wa- niemand und das werden wir auch nicht tun. Es geht um rum hier ein Sanktionsbedürfnis bestehen soll, diese den Schutz der sexuellen Selbststimmung von jungen Antwort bleibt die Koalition leider schuldig. Menschen und nicht um deren Einschränkung. Was werden wir jetzt genau beschließen? Wir erhö- Mit unserem grünen Änderungsantrag, den wir auch hen zunächst das Schutzalter beim sexuellen Missbrauch (B) hier im Plenum zur Diskussion und Abstimmung stellen, von Jugendlichen von 16 auf 18 Jahre. Ich meine, es ist (D) zeigen wir Alternativen. Unser Entwurf hält an dem al- richtig, dass alte Männer, die minderjährige Mädchen für tersgestuften System des Sexualstrafrechts fest und be- Sex bezahlen, künftig nicht mehr straflos bleiben. Mir ist schränkt sich auf die nach europarechtlichen Vorgaben es unverständlich, wie man angesichts der Schicksale zwingend notwendigen Änderungen: In § 182 StGB von minderjährigen Prostituierten behaupten kann, wir wollen wir nur hinsichtlich des „Handelns gegen Geld“ wollten hier Teenager kriminalisieren, die ihre Freundin das Schutzalter auf 18 Jahre anheben; bei den übrigen ins Kino einladen. Auch zukünftig macht sich niemand Tathandlungen, also dem Handeln gegen sonstiges Ent- mit einer solchen Einladung strafbar, und zwar selbst gelt oder unter Ausnutzen einer Zwangslage, bleibt es dann nicht, wenn er darauf hofft, es werde dort oder spä- beim bisherigen Recht, insbesondere also beim erforder- ter zu Zärtlichkeiten kommen. Strafbar macht sich nur, lichen Altersunterschied zwischen Täter und Opfer. Die wer Jugendliche für sexuelle Handlungen in irgendeiner Versuchsstrafbarkeit wird allein auf die Alternative Weise „bezahlt“, und dies auch nur dann, wenn der Täter „Handeln gegen Geld“ erstreckt. Zusätzlich wird die selbst über 18 Jahre alt ist. Norm als relatives Antragsdelikt ausgestaltet und eine Strafabsehensmöglichkeit geschaffen, um Fälle geringen Der zweite Punkt, über den vehement diskutiert wor- Unrechts ausschließen zu können. den ist, ist die Strafbarkeit von Jugendpornografie. In Zukunft soll nicht nur Kinder-, sondern auch Jugend- Im Bereich Jugendpornografie werden nur die wirk- pornografie verboten sein. Das ist richtig, denn wir soll- lich strafwürdigen Fälle erfasst, indem erstens nur die ten alle Minderjährigen vor der Ausbeutung durch die Verbreitungsalternativen unter Strafe gestellt werden Pornoindustrie schützen. und zweitens die Norm auf kommerzielle Kontexte be- schränkt wird. Privataufnahmen Jugendlicher, ausge- Allerdings muss dabei eines ganz klar sein: Egal ob tauscht in der Peergroup, gehören nicht unter das scharfe Jugendlicher oder Erwachsener: Nicht jedes Nacktfoto Schwert des Strafrechts. Auch eine Besitzstrafbarkeit ist ist Pornografie. Andernfalls wäre der Playboy nicht an hier nicht sachgerecht, weil bei Jugendpornografie – an- jedem Kiosk öffentlich erhältlich. Ein harmloses Nackt- ders als bei Kinderpornografie – der Abbildung eben ge- foto, das ein Jugendlicher von seiner ersten Freundin rade kein sexueller Missbrauch vorausgegangen ist. macht, ist daher keine Pornografie und hier gar nicht er- Auch nicht tatsächliche Geschehen, also virtuelle Dar- fasst. Aber selbst wenn es sich um Pornografie handeln stellungen Jugendlicher und Darstellungen von nur sollte, bleiben Jugendliche straffrei. Nämlich dann, wenn scheinbar Jugendlichen, real aber Volljährigen, klam- sie die Aufnahmen mit Einwilligung der dargestellten mern wir – anders als der Koalitionsvorschlag – aus der Jugendlichen selbst hergestellt haben. Dies gilt auch für Strafnorm aus. den Fall, dass die Jugendlichen erwachsen werden. Kein 18110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) 17-Jähriger muss also befürchten, dass die Videoaufnah- derselbe Gedanke. Denn die meisten Punkte, die Sie in (C) men mit seiner Freundin am Tag seiner Volljährigkeit Ihrem Antrag ansprechen, sind auch von der Koalition strafbar werden. Ich denke, mit der Form, die der Ge- bereits angedacht und intern bereits besprochen worden. setzentwurf nun hat, sind die Irritationen gründlich aus- Ihren Antrag damit einem Gesetzentwurf der Koalition geräumt. Mein Dank gilt auch dem Rechtsausschuss, der unterzuschieben, ist ein netter Versuch, aber leider zum viel dafür getan hat, den Gesetzentwurf so zu formulie- Scheitern verurteilt. Das Thema steht seit einiger Zeit ren, dass nun wirklich keine Missverständnisse mehr auf der politischen Tagesordnung der Koalition, und die aufkommen können. Gespräche dazu gestalten sich so weit fortgeschritten, dass in allernächster Zeit mit einem Gesetzentwurf zu Wir halten uns mit diesem Gesetz eng an den Rah- rechnen ist. menbeschluss der EU, zu dessen Umsetzung wir selbst- verständlich verpflichtet sind. Wer Verpflichtungen ein- Ich will gerne die Punkte benennen, die uns als Union geht, muss sie auch erfüllen, so ist das nun einmal in besonders am Herzen liegen und möchte mich als Erstes einem Rechtsstaat. Es spielt dabei für mich keine Rolle, von den untergeschobenen Anträgen wieder hin zu den dass erst der Lissabon-Vertrag Sanktionen für die Nicht- untergeschobenen Verträgen bewegen. Denn die Vorge- umsetzung von Rahmenbeschlüssen einführen wird. Das hensweise bei den untergeschobenen Verträgen ist Ziel der europäischen Vorgaben und unseres Gesetzes ist besonders perfide. Hier existiert ein Dreipersonenver- nämlich völlig richtig: Wir wollen den Schutz von Ju- hälnis: bisheriger Telekommunikationsanbieter, Ver- gendlichen vor sexueller Ausbeutung durch Prostitution braucher und neuer Telekommunikationsanbieter. Der und Pornografie verbessern, und genau das tun wir auch. neue Telefonanbieter legt dem alten Telefonanbieter eine angebliche Kündigung vom Verbraucher vor. Der alte Telefonanbieter entlässt so häufig einen Verbraucher aus Anlage 4 einer Kundenbeziehung, die dieser eigentlich gar nicht beenden will. Um diese Unsitte einzudämmen, ist der Zu Protokoll gegebene Reden einzig richtige Weg für die Kündigung des Verbrauchers zur Beratung des Antrags: Verbraucherschutz einen schriftlichen Nachweis zu fordern. Daher sind wir beim Telefonmarketing verbessern – Callcenter an dieser Stelle konform mit dem FDP-Antrag: Kein erhalten (Tagesordnungspunkt 33) Nachweis, kein neuer Vertrag. Die Ausweitung des Widerrufs- und Rückgaberechts Dr. Günter Krings (CDU/CSU): „Bei Anruf: Wer- auf Verträge über die Lieferung von Zeitungen, Zeit- bung.“ So titelte vor kurzem eine Tageszeitung und schriften und Illustrierten und bei Verträgen zur Erbrin- spielte dabei auf den bekannten Hitchcock-Film „Bei gung von Wett- und Lotteriedienstleistungen findet (B) (D) Anruf: Mord“ an. Nun hat mit Sicherheit die Telefon- ebenfalls unsere Zustimmung. Sie deckt sich auch mit werbung nicht dieselben Folgen, wie es der Anruf im der Forsa-Untersuchung von 2007. Jeder zweite hat da- Hitchcock-Film hat. Aber eines gilt bestimmt auch für nach einen Anruf erhalten, der in die Kategorie „Wett- die Telefonwerbung: Sie ist nervtötend. und Lotteriedienstleistungen“ fällt. Jeder vierte hat im- merhin noch einen Anruf zur Bewerbung einer Zeitung Aus der eigenen Erfahrung und aus dem eigenen Be- oder Zeitschrift erhalten. Ursächlich für diese hohen kanntenkreis kennt man zur Genüge Beispiele für uner- Zahlen ist sicherlich der Umstand, das beide Kategorien laubte Telefonwerbung, und meistens erreicht sie einen aus dem Fernabsatzgesetz mit seinen Widerrufsmöglich- natürlich zu den unmöglichsten Zeiten und den unmög- keiten herausgenommen sind. Dass sich dies nun ändern lichsten Gelegenheiten. Und so überrascht es auch nicht soll, begrüßen wir ausdrücklich. weiter, dass bei einer Umfrage des Forsa-Instituts aus dem Jahre 2007 86 Prozent der Befragten angaben, sich Im Fernabsatzgesetz halten wir einen weiteren Punkt von Telefonwerbung belästigt zu fühlen. für unbedingt regelungsbedürftig. Es handelt sich dabei um die Problematik des untergeschobenen Tarifwech- Die bestehenden Regelungen greifen nur unzurei- sels. Insbesondere ältere Menschen klagen hier häufig chend, selbst wenn der Fall Tele2 aus dem letzten Jahr darüber, dass sie von den Telekommunkationsunterneh- eine andere Deutung zulassen würde. Gegen Tele2 men übervorteilt werden. Ein neuer Tarif muss keines- wurde zweimal eine Unterlassungsverfügung gerichtlich falls günstiger sein, wie es der Anrufer meistens angeordnet. Da Tele2 jedoch immer noch kein Einsehen suggeriert, und häufig merkt man erst später – wenn hatte und einfach weiter telefonisch auf Kundenfang überhaupt –, dass man sich einen neuen Tarif eingefan- ging, zog das Landgericht Düsseldorf die Notbremse gen hat. und verhängte ein Ordnungsgeld in Höhe von insgesamt 200 000 Euro. Die Firma Tele2 legte in einem Fall Be- Diese Praxis wollen wir unterbinden. Daher schlagen schwerde ein und einigte sich außergerichtlich auf wir ein Widerrufsrecht des Verbrauchers noch bis zur 240 000 Euro. vollständigen Vertragserfüllung durch beide Vertragspar- teien vor, wenn das Unternehmen den Verbraucher nicht Dieser Sachverhalt darf aber nicht über eine landläu- ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt hat. fige Ineffizienz bei den bestehenden Regelungen hin- wegtäuschen. Nicht nur die FDP hat dies erkannt, son- Das bedeutet im Klartext: Ist der Verbraucher nicht dern auch die Koalitionsfraktionen. In Ihrem Antrag über sein Widerrufsrecht belehrt worden, dann braucht sprechen Sie die Problematik der untergeschobenen Ver- er auch nichts zu bezahlen. Er kann sogar im Falle eines träge an. Als ich Ihren Antrag gelesen habe, kam mir Widerrufs erfolgte Leistungen ohne Wertersatz einbehal- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18111

(A) ten. Der Sumpf der unerlaubt vorgenommenen Tarif- menhang untergeschobenen Verträge haben dramatisch (C) wechsel dürfte so wirksam ausgetrocknet werden. zugenommen. Ebenfalls herrscht Einigkeit mit der FDP in Sachen Es ist daher völlig richtig, dass wir uns immer wieder Rufnummernunterdrückung. Es ist immer wieder ein Är- mit dieser Problematik befassen, zumal uns auch das gernis, bei einem unerlaubten Werbeanruf die Nummer Bundesjustizministerium in Kürze einen eigenen Vor- des Anrufenden nicht angezeigt zu bekommen. Eine schlag zur Bekämpfung des Problems vorlegen wird. Rückverfolgbarkeit des Anrufers wird so erfolgreich Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass es schon verhindert. Der Zwang zur Anzeige der Rufnummer heute eine Vielzahl von Sanktionsmöglichkeiten gibt, sollte auch im Interesse der Callcenter-Branche sein, da die aber offensichtlich nicht dazu geführt haben, uner- dies ein Weg ist, Transparenz gegenüber den Verbrau- wünschte Telefonanrufe tatsächlich einzudämmen. chern zu zeigen. So gibt es einen Unterlassungs-, einen Schadenersatz- Gleichzeitig sollte man aber, und hier beginnen dann sowie einen Gewinnabschöpfungsanspruch. Es bestehen die Unterschiede zur FDP, eine Rufnummernunterdrü- Anfechtungsansprüche und – da es hier um Fernabsatz- ckung als Ordnungswidrigkeit einstufen. Die Einführung verträge geht – umfassende Widerrufs- und Rückgabe- eines Bußgeldes ist eh eine alte Unionsforderung und rechte. Wir sollten uns daher langsam zweimal überle- sollte sich nicht nur auf die Rufnummernunterdrückung gen, welche Vorschläge wirklich Sinn machen, um die beziehen, sondern auch auf die unzumutbare Belästi- sogenannten Cold-Call-Anrufe wirksam zu unterbinden. gung nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG. Im Fall Tele2 ist es au- Wenn die FDP nun auch die Verpflichtung zur Ruf- genscheinlich geworden: Zivilrechtliche Verfahren ha- nummernanzeige vorschlägt, dann mag dieses helfen, ben nicht die Durchschlagskraft, die wir uns vorgestellt um den Initiator des Anrufs zu identifizieren. Ich be- haben. Ein effektiver Verbraucherschutz wird sich daher fürchte allerdings, dass die Angerufenen gleichwohl nur einstellen, wenn ein Bußgeld gegen den Telefonwer- nicht die Verbraucherschutzverbände informieren wer- bungssünder verhängt werden kann. Die Menschen in den, da dies – bei allem Ärger über den Anruf – mit wei- unserem Land erwarten, dass wir sie vor der Plage un- terem Aufwand für sie verbunden ist. Im Übrigen kann erlaubter Telefonwerbung schützen, und da heißt es nun: eine Rufnummeranzeige manipuliert werden und wird Daumenschrauben anziehen. nicht besonders weiterhelfen, wenn sich der Anrufer im Daher halte ich auch nichts von der Forderung der Ausland aufhält – und das wird verstärkt eintreten –, FDP, die Branche solle einen Ehrenkodex erarbeiten und liebe Kolleginnen und Kollegen. verabschieden, um damit das Prinzip der Eigenverant- Geradezu abenteuerlich finde ich in diesem Zusam- (B) wortung der Wirtschaft herauszustreichen. An diesen menhang den Vorschlag, dass nicht die Nummer des (D) Ehrenkodex werden sich eh nur die seriösen Callcenter Callcenters, sondern dessen Auftraggebers im Display beteiligen, die sich schon jetzt an die gesetzlichen Be- erscheinen sollte. Abgesehen davon, dass es den Ver- stimmungen halten. Ich bin dagegen, weiße Schafe noch braucherschutzverbänden oder Mitbewerbern nicht zu- weißer zu machen, weil es nicht daran ändert, dass die zumuten ist, dann den Streit darüber auszutragen, ob schwarzen Schafe schwarz bleiben. Mit unseren Maß- denn nun tatsächlich die Beauftragung eines Callcenters nahmen wollen wir gerade die unseriösen Unternehmen erfolgte oder nicht, will ich nicht die Callcenter aus der erreichen, die die unerlaubte Telefonwerbung im Mi- Verantwortung entlassen, mit dem Auftraggeber vorab nutentakt durchführen und nicht diejenigen, die nach abzuklären, ob es sich hierbei um Cold-Call-Anrufe han- Recht und Gesetz handeln. delt; denn es sind letztendlich ja die Callcenter, die die belästigenden Anrufe tätigen. Die Bekämpfung der unerlaubten Telefonwerbung ist uns ein wichtiges Anliegen, was wir auch schon ver- Interessanter ist da schon der Vorschlag einer einheit- schiedentlich zum Ausdruck gebracht haben. Daher gibt lichen Vorwahlnummer für alle Werber und Verkäufer es zurzeit intensive Gespräche innerhalb der Koalition per Telefon. Zwar ist die Belästigung bereits eingetreten, wie gesetzliche Veränderungen in diesem Bereich ausse- wenn ich beim Ablesen des Telefondisplays feststelle, hen können. Ich bin recht zuversichtlich, dass das BMJ dass mich ein Telefonwerber sprechen möchte; denn ich bin ja zumindest schon zum Telefon geeilt und werde schon bald einen abgestimmten Entwurf ins Kabinett das Telefon kaum ewig klingeln lassen. Ich könnte aber einbringen kann. Der durch unerlaubte Telefonwerbung diese einheitliche Vorwahlnummer dann bei meinem Te- belästigte Verbraucher hat es sich verdient. lefonanbieter sperren lassen, sodass diese Anrufe erst gar nicht an mich weitergeleitet werden, und das wäre Dirk Manzewski (SPD): Wir debattieren hier heute zumindest prüf- und überlegenswert. über einen Antrag der FDP zum Thema unerwünschte Dass das bestehende Widerrufs- und Rückgaberecht Telefonwerbung. Die Problematik ist bekannt und wurde nach Auffassung der FDP nunmehr auch auf Verträge zuletzt von uns im Zusammenhang mit einem Antrag zur Lieferung von Zeitungen und Zeitschriften sowie von Bündniss 90/Die Grünen hier im Plenum behandelt. zum Erbringen von Lottodienstleistungen ausgeweitet werden soll, finde ich richtig, zumal dies auch dem Vor- Leider ist es offenbar nicht nur so, dass unerwünschte schlag des Bundesjustizministeriums entsprechen wird. Telefonwerbung sich in letzter Zeit zu einer für die Ver- braucher immer schlimmer werdenden Belästigung ent- Zu Recht wird auch auf das besondere Problem unter- wickelt hat, sondern insbesondere die in diesem Zusam- geschobener Telefonverträge hingewiesen. Der Schutz 18112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) des Telefonkunden soll dort verstärkt werden, wo der Ich kann diesen Bürger verstehen und finde, er hat (C) neue Anbieter aufgrund einer angeblichen Bevollmächti- richtig gehandelt. Aber das ist doch kein brauchbarer gung den bisherigen Vertrag kündigt und den Anschluss Schutz, nur noch den Hörer aufzuknallen und am Abend über sich freischaltet. Dies soll nach Auffassung der den Netzstecker zu ziehen! Der Unmut dieses Bürgers FDP dadurch geschehen, dass bei diesem Massenmiss- führt zu einer Frage und zwar: Wie viele solcher Anrufe, brauch der vermeintlich neue Telefonanbieter dem bis- wie viele solcher Schreiben müssen noch ins Land herigen Telefonanbieter den Nachweis einer entspre- gehen, bis die Bundesregierung endlich wirksame In- chenden Kündigung vorlegt. Abgesehen davon, dass strumente vorlegt, die die sogenannten Cold Calls, die dies auch dem Vorschlag des Bundesjustizministeriums unerlaubten Werbeanrufe, eindämmt? „Bei Anruf Ver- entsprechen wird – die Kontakte der FDP dorthin schei- braucherschutz“ schreibt Ministerin Zypries auf ihrer nen immer noch hervorragend zu sein –, macht dieser Homepage mit Datum 11. März 2008 – bislang hat die Vorschlag das eigentliche Dilemma deutlich. Bundesregierung da aber nur eine ganz lange Leitung bewiesen. Vielmehr ist es höchste Zeit, dass die Bundes- Die Vorschläge der FDP werden meiner persönlichen regierung endlich ihr lang angekündigtes Maßnahme- Auffassung nach nämlich ebenso wie die schon gelten- paket hier in den Bundestag einbringt. Darauf warten wir den Sanktionsmöglichkeiten nur partiell weiterhelfen. und die Bürgerinnen und Bürger inzwischen schon viel Die Unseriösen werden Wege finden, diese zu umgehen. zu lange. Und um es deutlich zu sagen: Durch die zöger- Helfen wird meiner Meinung nach nur eine Art Bestäti- liche Haltung ist die Bundesregierung mitverantwortlich gungslösung. Worum geht es dem Telefonwerber denn für Hunderttausende von Belästigungen – einschließlich letztendlich? Natürlich um den Abschluss eines Vertra- der nachteiligen Verträge, die Bürger als Folge unerlaub- ges. Setzen wir bei dessen Wirksamkeit an, werden wir ter Werbeanrufe abgeschlossen haben. sehr schnell sehen, wie uninteressant diese Werbeanrufe werden. Die FDP-Bundestagsfraktion hat dagegen einen eige- nen Antrag abgestimmt und bereits am 12. März 2008 Abgesehen davon, dass schon nicht einzusehen ist, eingebracht. Unser Antrag wird hier und heute debat- warum der Verbraucher derjenige sein soll, der hinter tiert, und er enthält klare Forderungen an die Bundes- dem ihm aufgezwungenen oder untergeschobenen Ver- regierung. trag herzulaufen hat, setzen die Telefonwerber doch ge- Wenn ich auf die Ausgangslage schaue, ist klar: Nach rade darauf, dass nur ein Bruchteil der Betroffenen die dem geltenden Recht sind solche Anrufe verboten. Doch ihnen zustehenden Rechte kennt und auch einsetzt. Ge- unseriöse Callcenter kümmern sich um dieses Verbot nau das wird doch von vornherein mit einkalkuliert. nicht. Und darunter leiden sowohl die Bürgerinnen und Bürger – aber auch in erheblichem Maße die die Call- Wenn die FDP dies in ihrem Antrag grundsätzlich ab- (B) center, die für uns alle Aufträge wie etwa Buchungen (D) lehnt, muss sie sich von mir den Hinweis der Wider- oder Stornierungen entgegennehmen oder Rückfragen sprüchlichkeit gefallen lassen. Denn wenn man im Zu- abwickeln. sammenhang mit dem Wechsel eines Telefonanbieters einen Nachweis für die Kündigung des alten Vertrages Unser Antrag verbessert den Schutz der Verbraucher verlangt, dann ist dies nichts anderes als eine Bestäti- in drei zentralen Punkten. Vorrangig verbessert unser gung des Willens des Kunden. Antrag die Durchsetzbarkeit des geltenden Rechts. Zu- dem gibt er dem Konsumenten die Freiheit, das Ausmaß Ich möchte in diesem Zusammenhang allerdings da- an Werbung zu bestimmen, dass er in seinen eigenen rauf hinweisen, dass dies bislang nur meiner persönli- vier Wänden akzeptieren möchte. chen Meinung entspricht. Wir sollten aber zumindest in Wenn das Telefon klingelt und ich auf dem Display den nun folgenden Wochen auch über diesen Lösungsan- eine unterdrückte Rufnummer sehe, dann beginne ich satz ernsthaft diskutieren. mittlerweile generell zu zögern, ob ich den Anruf noch annehme. Das kann aber nicht im Sinne einer reibungs- Ich freue mich jedenfalls schon auf die anstehenden losen Kommunikation sein, in der wir rasch erkennen Beratungen. und entscheiden müssen. Wir fordern daher, dass die Bürgerinnen und Bürger frühzeitig in die Lage versetzt Hans-Michael Goldmann (FDP): Vor kurzem er- werden müssen, zu sehen, wer sie gerade anruft. hielt ich eine Zuschrift eines spürbar genervten Bürgers. Alle Unternehmen, die Werbeanrufe praktizieren, Ich zitiere mal aus dieser Mail: „Am Montag erhielt ich sollten verpflichtet werden, sich einer einheitlichen Vor- den ersten Anruf, ich habe mir erlaubt, einfach aufzule- wahlnummer zu bedienen. Jeder Werbeanruf würde dann gen! Ich wurde am selben Tag ein zweites Mal und ein zum Beispiel mit der Nummer 0500 beginnen. Der Ver- drittes Mal angerufen – ich habe wieder einfach aufge- braucher hat dann die Option: Nehme ich den Anruf an legt!“ Beim vierten Anruf ging der Schreiber dann ran oder nicht? Darüber hinaus kann er den Telefonanbieter und musste sich seiner Aussage nach nun eine Reihe von anweisen, gar keine Telefonate mit der entsprechenden Vorwürfen anhören. Sein Brief an mich endet recht kühl Vorwahlnummer durchzustellen. Damit ist er in ver- und unmissverständlich: „Ich machte den Anrufer darauf gleichbarer Weise vor Werbung geschützt wie gegen Re- aufmerksam, dass ich ein freier Mensch bin und ent- klame im Briefkasten. scheiden kann, mit wem ich wann reden will, und dass ich von dem Unternehmen keinerlei Telefonanrufe mehr Mithilfe der Nummer könnte der belästigte Verbrau- wünsche und sie mich aus ihrer Telefonliste streichen cher auch das Unternehmen identifizieren. Viele unse- sollen.“ riöse Callcenter vereiteln die Schutzmöglichkeiten des Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18113

(A) Verbrauchers durch eine Unterdrückung der Rufnum- Falle einer Nichtbeachtung Ordnungsgelder bis zu (C) mer. Die Bundesregierung denkt lediglich über ein Ver- 250 000 Euro je Verstoß zu verhängen. bot der Rufnummernunterdrückung nach. Mehr bringt Wir debattieren derzeit im Verbraucherschutz eine nach unserer Auffassung, nicht nur die Telefonnummer Reihe von Themen, bei denen wir feststellen, dass das des ausführenden Callcenters, sondern die Telefonnum- nötige Wissen und Können bei den Bürgerinnen und mer des Auftraggebers anzeigen zu lassen. Dann gehen Bürgern in Alltagsfragen deutlich mehr trainiert und die Beschwerden unmittelbar bei den Unternehmen ein, gestützt werden muss. Kurz gesagt: Notwendig ist Ver- für die die Werbung letztlich gemacht wird. Davon ver- braucheraufklärung. Es muss jedem klargemacht wer- sprechen wir uns eine erhebliche präventive Wirkung. den, dass er unerlaubte Werbeanrufe nicht dulden muss. Ein weiterer wichtiger Fortschritt ist die Ausdehnung Ich möchte die Verbraucherinnen und Verbraucher an und Vereinheitlichung des Widerrufsrechts für den Käu- dieser Stelle auch wachrütteln, eine höhere Sensibilität fer. Ausgenommen vom Widerrufsrecht sind im heutigen im Umgang mit den persönlichen Daten zu haben. Fernabsatzrecht Verträge über die Lieferung von Zeitun- Streuen Sie nicht wahllos Ihre Rufnummern und Mail- gen, Zeitschriften sowie die Erbringung von Wett- und adressen! Jeder Verbraucher muss sich hier auch seiner Lotteriedienstleistungen. Gerade diese Bereiche sind Eigenverantwortung bewusst sein – aber auch seine aber in vielen Fällen Gegenstand unerlaubter Telefon- Rechte kennen und wissen, wie und mit wessen Unter- werbung. Der Schutz des Verbrauchers durch ein umfas- stützung – beispielsweise der Verbraucherzentralen – er sendes Widerrufsrecht erfordert daher die Abschaffung sie durchsetzen kann. solcher Ausnahmebereiche. Ich fordere die Bundesregierung daher auf: Nehmen Bei der unendlichen Vielzahl von Telekommunika- sie diesen Antrag ernst, und setzen Sie zügig ein starkes tionstarifen tritt vermehrt das Problem auf, dass nach Signal, um dieses von vielen als Landplage des 21. Jahr- dem unerlaubten Werbeanruf sofort die Umstellung des hunderts beschriebene Vorgehen wirksam einzudämmen. neuen Tarifs eingeleitet wird. Im Gesetz muss klarge- stellt werden, dass dadurch ein Widerrufsrecht nicht er- Karin Binder (DIE LINKE): Obwohl in den Fach- lischt. ausschüssen das Thema schon mehrfach diskutiert und Wir halten es nicht für sinnvoll, darüber hinaus auch Lösungen versprochen wurden, ist eine Vorlage der Bun- noch die Wirksamkeit von telefonisch geschlossenen desregierung zu diesem Thema seit Monaten überfällig. Verträgen von einer schriftlichen Bestätigung des Ver- Der Antrag der FDP auf Drucksache 16/8544 mahnt jetzt brauchers abhängig zu machen. Damit schaffen wir für – zu Recht – die Behandlung an. Ob wir deshalb gleich den Verbraucher nur Verwirrung. Denn der Verbraucher die Callcenter als eine zu schützende Spezies ausweisen müsste zwischen erlaubten Werbeanrufen per Telefon müssen, das halte ich für überflüssig. Mir hat die gute (B) entscheiden, die zu wirksamen Verträgen führen, aber alte Kundenbetreuung eines Herstellers oder Dienstleis- (D) widerrufbar sind, und unerlaubten Anrufen, bei denen tungsunternehmens mit den eigenen sachkundigen und Verträge erst wirksam werden, wenn er sie schriftlich be- in der Regel ordentlich bezahlten Mitarbeiterinnen und stätigt. Niemand kann sich aber so ganz sicher sein, ob Mitarbeiter bisher in der Regel besser und schneller ge- er gelegentlich bei einer Teilnahme an Gewinnspielen holfen als ein ausgelagertes Callcenter, dessen Mitarbei- nicht doch durch eine im Kleingedruckten verborgene terinnen und Mitarbeiter zu dem Produkt, das sie an den Einwilligung zu Anrufen zugestimmt hat. Mann und an die Frau bringen sollen, keinerlei Bezie- hung haben. Das sind zwar meistens gut geschulte, aber Ein weiteres wettbewerbrechtswidriges Verhalten, ge- in der Regel deutlich unterbezahlte Spezialistinnen in gen das der Verbraucherschutz ausgebaut werden muss, Sachen Gesprächsführung; aber in der Sache selbst be- sind die sogenannten untergeschobenen Verträge. Ver- komme ich häufig nicht die gewünschte Auskunft. Klar, braucherinnen und Verbraucher werden mit angeblich diese Kolleginnen und Kollegen können ja auch nicht bestellten Telekommunikationsdienstleistungen, vor al- einfach mal kurz beim sachkundigen Kollegen in einer lem mit DSL-Anschlüssen, konfrontiert, obwohl sie Fachabteilung nachfragen. diese Anschlüsse gar nicht in Auftrag gegeben haben. Bürger finden sich plötzlich bei einem neuen Telefon- Aber der Antrag enthält auch unterstützenswerte anbieter wieder oder in einem neuen Tarif ihres bisheri- Ideen. Wir teilen die Forderungen nach einer ver- gen Anbieters, obwohl sie ihre alten Verträge gar nicht pflichtenden Rufnummernanzeige zur Identifikation des bewusst gekündigt haben. In Zukunft sollte daher der anrufenden Unternehmens und einer einheitlichen Vor- Nachweis einer solchen Kündigungserklärung ausdrück- wahlnummer für Callcenter, um den Angerufenen den lich verlangt werden. gewerblichen Zweck des Anrufenden sofort erkennen zu geben. Wir teilen auch die Forderung nach Ausweitung Während die Bundesregierung dafür die Textform des Widerrufs- und Rückgaberechts. Aber warum nur für verlangt, schlägt die FDP vor, für die Verbraucher eine Verträge für Zeitungen und Zeitschriften oder Lotterie- mündliche und am Telefon aufgezeichnete Erklärung spiele? Auch die geforderten Maßnahmen zum Wider- ausreichen zu lassen. Das wäre unbürokratisch und rufsrecht gegen sogenannte untergeschobene Verträge würde den gewollten Wechsel des Telefon- oder Handy- und die Maßnahmen gegen gesetzliche Lücken und Un- tarifs per Telefon nicht verhindern. klarheiten bei Verträgen mit Telekommunikationsunter- nehmen halten wir für hilfreich. Kein Bedarf besteht für eine Anhebung des Bußgelds auf bis zu 50 000 Euro. Verbraucherzentralen können Aber wäre es nicht für alle Menschen viel einfacher, eine Abmahnung mit strafbewehrten Unterlassungs- nachvollziehbarer und vor allem sicherer, insbesondere erklärungen versehen, die die Gerichte befähigen im bei längerfristigen dauerhaften Leistungen einen schrift- 18114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) lichen Vertrag in Händen zu halten, der erst gilt, wenn weil sie nach einem solchen Anruf einen ungewollten (C) sie ihn mit ihrer Unterschrift bestätigt und zurückgesandt Vertrag am Hals haben, wie zum Beispiel eine Versiche- haben? Wir meinen, das wäre eindeutig die bessere, weil rung, ein Zeitungsabonnement oder einen neuen Tele- sichere, Lösung. Wir meinen damit ausdrücklich nicht fonvertrag. Besonders betroffen von dieser Form der eine schriftliche Vertragsbestätigung für die telefonische Abzocke sind ältere Menschen, die ganz gezielt angeru- Pizzabestellung. Diese wird nämlich in der Regel nicht fen werden. vom Pizzabäcker telefonisch eingeworben, sondern ak- tiv per Anruf von dem Kunden, der Kundin beauftragt, Wir Grünen haben deshalb bereits im Januar 2007 den was doch einen deutlichen Unterschied im Sinne des Ge- Antrag „Verbot von Telefonwerbung zum Schutz der setzes gegen den unlauteren Wettbewerb machen Verbraucherinnen und Verbraucher wirksam durchset- müsste. Auch Aufklärung und Informationskampagnen zen“ in den Deutschen Bundestag eingebracht, mit dem sind gut. Wenn es allerdings um Imagewerbung für Call- wir unter anderem Nachbesserungen bei der Gewinnab- center gehen soll, dann sollen das bitte auch die Callcenter schöpfung und die Einflussnahme der Bundesregierung zahlen. Deshalb halte ich auch die Einführung eines Eh- in bundeseigenen Unternehmen und Aufsichtsräten ge- renkodexes, um die „Eigenverantwortung“ der Callcenter- fordert haben. Daraufhin hat auch die Bundesregierung Branche zu stärken, für ein ehrenwertes Ansinnen – mehr gemerkt, dass bei unerlaubter Telefonwerbung Hand- aber auch nicht. Die Einführung einer unabhängigen lungsbedarf besteht. Seit Herbst 2007 kündigen nun Frau – ich betone unabhängigen – zentralen Beschwerdestelle Zypries und Herr Seehofer einen Gesetzesentwurf an, halte ich dagegen für eine gute Idee. der unter anderem vorsieht, dass unerlaubte Telefonwer- bung und Rufnummernunterdrückung mit einem Buß- Was mich nicht wundert, was ich allerdings sehr be- geld belegt wird. Aber bislang wurde uns noch immer daure, ist die Tatsache, dass die FDP sich wieder einmal kein tauglicher Gesetzesvorschlag vorgelegt. Vielmehr mehr vor den Karren der Unternehmen spannen lässt. So bleibt es bei den wöchentlichen Willensbekundungen heißt es, die Callcenter-Branche sei an einer vom Ge- seitens der Bundesregierung. Aber vollmundige Ankün- setzgeber unterstützten „Selbstreinigung“ interessiert. digungen zum Weltverbrauchertag sowie Pressemit- Gleichzeitig sprechen Sie sich in Ihrem Antrag gegen je- teilungen reichen nicht aus und schützen die Verbrau- des Quäntchen mehr an staatlichen Sanktionierungen der cherinnen und Verbraucher vor allem nicht vor Abzocke Unternehmen aus: keine höheren Bußgelder und keine durch Werbeanrufe. Gewinnabschöpfung bei fahrlässigen Verstößen gegen das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb. Jetzt ließ die Bundesregierung verlauten, dass sie noch vor der Sommerpause ein Maßnahmenpaket vorlegen Sie lehnen höhere Bußgelder gegen die Verursacher will. Ich bin gespannt, ob den großen Ankündigungen ab, da die Behörden nicht über die erforderlichen Perso- diesmal endlich Taten folgen werden. Leider kommt der (B) nalkapazitäten für die Verfolgung der Verstöße verfügen Entwurf in jedem Fall viel zu spät und ist zu kurz gesprun- (D) würden. Dabei gehören Bußgelder zu den wenigen Mög- gen; denn er wird Mängel aufweisen. So ist eine schriftli- lichkeiten, die Unternehmen wegen unlauterer Telefon- che Bestätigung von telefonisch abgeschlossenen Verträ- werbung zu maßregeln. Das bestärkt unsere Auffassung, gen nach unlauteren Werbeanrufen noch immer nicht dass die Behörden personell besser ausgestattet werden vorgesehen. Aber genau das brauchen wir, wenn wir die müssen. Menschen in Deutschland wirksam vor ungewollten Ver- trägen nach Werbeanrufen schützen wollen. Sie wollen weiterhin, dass das Sanktionsinstrument der Gewinnabschöpfung nur in Ausnahmefällen, bei Wohlgemerkt reden wir hier nicht davon, dass bei ei- nachgewiesenem Vorsatz, zum Tragen kommt. Sie wis- ner telefonischen Pizzabestellung eine schriftliche Be- sen, wie schwierig es für die Verbraucherverbände ist, stätigung zu erfolgen hat. Dieses immer wieder vorge- diesen Nachweis zu führen. Dabei ist die Abschöpfung brachte Beispiel ist Polemik; das hat nichts mit dem von rechtswidrig erlangten Unternehmensgewinnen die Problem der unerlaubten Telefonwerbung zu tun. Aber einzig wirksame Waffe gegen unerlaubte Telefonwer- wir wollen sehr wohl, dass Verträge, die aufgrund von bung, weil allein sie den Unternehmen wirklich weh tut verbotenen – ich wiederhole: verbotenen – Werbeanru- und damit zu einer Disziplinierung beiträgt. fen zustande kommen, eine schriftliche Bestätigung brauchen, um überhaupt erst wirksam zu sein. Ein erwei- tertes Widerrufsrecht, wie es die FDP in ihrem Antrag Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das fordert, reicht hier nämlich nicht aus. Warum sollten eigentliche Thema der Debatte ist doch nicht der Erhalt Verbraucherinnen und Verbraucher, die aufgrund unlau- von Callcentern, sondern es geht um Verbraucherschutz, terer Anrufe Verträge untergejubelt bekommen, zum Wi- und zwar um vorsorgenden Verbraucherschutz. Ganz derruf verpflichtet werden? Es kann nicht sein, dass sie konkret bedeutet das: Wie können wir die Verbrauche- nachher auch noch den juristischen Ärger haben, zumal rinnen und Verbraucher in Deutschland endlich wirksam viele von ihnen kaum juristische Kenntnisse haben und vor unerlaubter Telefonwerbung schützen? Ihren Antrag, mit einem Widerruf überfordert wären. Wir setzen uns liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nehmen deshalb für die schriftliche Bestätigung und damit für ei- wir wohlwollend zur Kenntnis, aber ausreichend ist er nen vorsorgenden Verbraucherschutz ein. nicht. Fakt ist, dass gegen das Verbot von unerlaubter Telefonwerbung täglich tausendfach verstoßen wird. Das Offensichtlich haben die Länder dieses Problem eben- Ergebnis dieser Werbeanrufe sind nicht nur total falls längst erkannt. Denn, sehr verehrte Damen und genervte Menschen, sondern – und das ist noch viel Herren der Bundesregierung und der FDP, sie alle wer- schlimmer – Verbraucherinnen und Verbraucher, die den durch die Länderinitiativen bereits von links und durch unerlaubte Telefonwerbung abgezockt werden, rechts überholt. Ich will ihnen drei Beispiele nennen: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008 18115

(A) Am 23. Mai 2008 wurde ein entsprechender Gesetzent- mene Leistung schulden, wenn er auf diese Rechtsfolge (C) wurf aus Baden-Württemberg in den Bundesrat einge- hingewiesen worden ist und dennoch zugestimmt hat, bracht. Dieser sagt ganz klar, dass aus unlauterer Werbung dass die Leistung vorzeitig erbracht wird. Die Unterneh- hervorgegangene Verträge einer schriftlichen Bestäti- men handeln daher zukünftig bei „untergeschobenen“ gung bedürfen. Die Beweislast tragen die Unternehmen. Verträgen auf eigene Gefahr. Auf diese Weise machen Außerdem gibt es einen Antrag aus Nordrhein-Westfa- wir das Unterschieben von Verträgen wirtschaftlich un- len, getragen von SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen attraktiv. und sogar von der FDP, sowie einen gemeinsamen An- trag aus Bremen von SPD, CDU und Bündnis 90/Die Fünftens und letztens schaffen wir eine Regelung, die Grünen. Beide Anträge fordern genau wie der baden- vor allem beim Wechsel des Telefon- oder Energieanbie- württembergische Gesetzentwurf die schriftliche Bestä- ters relevant ist: Eine Kündigung des alten Vertrages tigung nach unlauteren Werbeanrufen. oder die Vollmacht hierzu bedarf in Zukunft der Text- form. Diese Regelung verhindert, dass der neue Anbieter Die Verbraucherminister der Länder und die Verbrau- durch bloßen Zuruf eigenmächtig in das Vertragsverhält- cherverbände sind allesamt auf dieser Linie. Deshalb nis des Verbrauchers mit seinem bisherigen Anbieter fordere ich Sie, liebe Frau Frau Zypries, lieber Herr eingreift, ohne dass der Verbraucher dies wünscht. Seehofer und sehr geehrte Damen und Herren der FDP, auf: Geben sie sich einen Ruck, und setzen auch Sie sich Alle diese fünf Maßnahmen werden wir in einem Ge- für die zu Recht von den Bundesländern, Verbraucher- setz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und verbänden und uns Grünen geforderte schriftliche Bestä- zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonde- tigung nach unerlaubter Telefonwerbung ein! ren Vertriebsformen verankern. Ihren Entwurf wird die Bundesregierung in diesem Sommer beschließen. Ich möchte Sie schon jetzt auffordern, den Gesetzentwurf Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Ich dann im Bundestag zu unterstützen. Unerlaubte Telefon- meine, wir sind uns über das Problem völlig einig: Uner- werbung ist ein Ärgernis und wir wollen die Verbraucher laubte Telefonwerbung ist für viele Menschen eine mas- davor noch besser schützen. sive Belästigung. Sie ist ein Eingriff in die Privatsphäre, und sie zwingt vielen Verbrauchern Auseinandersetzun- gen darüber auf, ob nun tatsächlich am Telefon Verträge Anlage 5 geschlossen worden sind oder nicht. Unerlaubte Telefon- werbung ist daher ein Missstand und wir wollen und wir Amtliche Mitteilungen werden dagegen etwas unternehmen. Der Bundesrat hat in seiner 845. Sitzung am 13. Juni Der vorliegende Antrag der FDP greift viele Ideen der (B) 2008 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- (D) Bundesregierung auf. Wir haben sie vor kurzem in ei- stimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 des nem Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der unerlaubten Grundgesetzes nicht zu stellen: Telefonwerbung vorgestellt. Wir planen vor allem fünf wichtige Rechtsänderungen und ich will sie noch einmal – Gesetz zur Rentenanpassung 2008 kurz zusammenfassen: – Erstes Gesetz zur Änderung des Jugendschutz- Erstens soll das bestehende Verbot der unerlaubten gesetzes Telefonwerbung im Gesetz gegen den unlauteren Wett- bewerb präzisiert werden. Bei Verstößen soll ein Buß- – Erstes Gesetz zur Änderung des Conterganstif- geld bis zu 50 000 Euro verhängt werden können. tungsgesetzes Zweitens wollen wir die Unterdrückung der Rufnum- – Fünftes Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur mern bei der Telefonwerbung verbieten. Dazu ändern Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verant- wir das Telekommunikationsgesetz und schaffen eben- wortung und Zukunft“ falls einen Bußgeldtatbestand. – Gesetz über die Anpassung von Dienst- und Ver- Drittens erhalten Verbraucher die Möglichkeit, be- sorgungsbezügen im Bund 2008/2009 (Bundes- stimmte telefonisch abgeschlossene Verträge zu widerru- besoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz fen. Das gilt für die Lieferung von Zeitungen, Zeitschriften 2008/2009 – BBVAnpG 2008/2009) und Illustrierten sowie bei Wett- und Lotteriedienstleis- tungen. In diesen Bereichen wird telefonische Werbung – Gesetz zur Änderung des Heimkehrerstiftungs- nämlich besonders häufig eingesetzt. aufhebungsgesetzes Viertens können Verbraucher künftig bei sämtlichen Fernabsatzverträgen über die Erbringung von Dienstleis- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mitgeteilt, tungen innerhalb der Widerrufsfrist die Verträge solange dass sie den Antrag Leben am Lebensende – Bessere widerrufen, bis der Vertrag vollständig erfüllt ist. Bis- Rahmenbedingungen für Schwerkranke und Ster- lang konnte man einen „untergeschobenen“ Vertrag dann bende schaffen auf Drucksache 16/5134 zurückzieht. nicht mehr lösen, wenn der Unternehmer damit begon- nen hatte, seine Leistung zu erbringen. Dies ist vor allem für Tarifwechsel im Telekommunikationsbereich rele- Der Vermittlungsausschuss hat in seiner 9. Sitzung vant. Im Fall des Widerrufs soll der Verbraucher zudem am 4. Juni 2008 folgenden Einigungsvorschlag be- nur dann Wertersatz für die bereits in Anspruch genom- schlossen: 18116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 170. Sitzung. Berlin, Freitag, den 20. Juni 2008

(A) Das vom Deutschen Bundestag in seiner 154. Sitzung Ausschuss für Gesundheit (C) am 10. April 2008 beschlossene – Unterrichtung durch die Bundesregierung Gesetz zur Änderung wehrrechtlicher und ande- Bericht über die Auswirkungen von Rabattvereinba- rer Vorschriften (Wehrrechtsänderungsgesetz rungen für Arzneimittel, insbesondere auf die Wirk- 2008 – WehrRÄndG 2008) samkeit der Festbetragsregelung – Drucksachen 16/7955, 16/8640, 16/9289 – – Drucksache 16/9284 – wird bestätigt. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben – Unterrichtung durch die Bundesregierung mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 Bericht über die Ergebnisse des PPP-Eignungstests zur der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses/Bau des nachstehenden Vorlagen absieht: Humboldt-Forums im Schlossareal – Drucksachen 16/8638, 16/8964 Nr. 1 –

Auswärtiger Ausschuss Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben – Unterrichtung durch die Bundesregierung mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Bericht der Bundesregierung zur Zusammenarbeit zwi- Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- schen der Bundesrepublik Deutschland und einzelnen, ner Beratung abgesehen hat. global agierenden, internationalen Organisationen und Institutionen im Rahmen des VN-Systems – Drucksache 16/5850 – Haushaltsausschuss Drucksache 16/8983 Nr. A.9 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 7683/08 Bericht der Bundesregierung über die Teilnahme der Bundeswehr an der zivil-militärischen Unterstützungs- aktion der Europäischen Union für die Mission der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Afrikanischen Union in Darfur (AMIS) Verbraucherschutz – Drucksachen 16/8851, 16/9196 – Drucksache 16/8815 Nr. A.17 Ratsdokument 7232/08

(B) Haushaltsausschuss (D) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/8815 Nr. A.19 Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006 Ratsdokument 6717/08 Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich- Drucksache 16/9169 Nr. A.11 tungsermächtigungen im ersten und zweiten Vierteljahr EuB-EP 1678; P6_TA-PROV(2008)0087 des Haushaltsjahres 2006 Drucksache 16/9169 Nr. A.12 Ratsdokument 7984/08 – Drucksachen 16/2488, 16/2548 Nr. 1.13 –

– Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006 Drucksache 16/6389 Nr. 1.3 Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich- EuB-EP 1512; P6_TA-PROV(2007)0218 tungsermächtigungen im dritten Vierteljahr des Haus- Drucksache 16/8609 Nr. A.10 haltsjahres 2006 EuB-EP 1653; P6_TA-PROV(2008)0023 – Drucksachenn 16/3588, 16/3702 Nr. 1.1 – Ausschuss für Bildung, Forschung und – Unterrichtung durch die Bundesregierung Technikfolgenabschätzung Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006 Drucksache 16/3897 Nr. 1.18 Über- und außerplanmäßige Ausgaben und Verpflich- Ratsdokument 15478/06 tungsermächtigungen im vierten Vierteljahr des Haus- haltsjahres 2006 – Drucksachen 16/4686, 16/4804 Nr. 1 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 16/4105 Nr. 1.7 Verteidigungsausschuss EuB-EP 1424 Drucksache 16/6389 Nr. 1.1 – Unterrichtung durch die Bundesregierung EuB-EP 1499; P6_TA-PROV(2007)0184 Drucksache 16/6389 Nr. 1.2 Erster Erfahrungsbericht der Bundesregierung gemäß EuB-EP 1503; P6_TA-PROV(2007)0196 § 24 des Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgeset- Drucksache 16/6715 Nr. 1.11 zes (Berichtszeitraum 1. Januar 2005 bis 31. Dezember Ratsdokument 12594/07 2006) Drucksache 16/7393 Nr. A.31 – Drucksache 16/7920 – Ratsdokument 14631/07

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