KYUNG-HO CHA Transparente Insekten. Für eine Mediengeschichte der Biologie um 1900

In diesem Artikel wird ein unbekanntes Kapitel der Biologiegeschichte um 1900 aufgeschlagen. Es verzeichnet Theorien und experimentelle Praktiken, mit denen Biologen wie Physiker den Nachweis erbringen wollen, dass die organismische Oberfläche einiger Insektenarten gleich einer fotografischen Platte auf das Licht reagiert. Aufgrund der in ihrer Epidermis ablaufenden fotochemischen Prozesse seien die besagten Insektenarten deshalb imstande, ihre Umwelt zu fotografieren und damit ein genaues Abbild ihrer Umwelt auf ihren Körpern hervorzubringen. Bei dem Naturphänomen, an dem das ›Fotografie-Konzept‹ beobachtet wird, handelt es sich um die Mimikry, einem der bekanntesten evolutionsbiologischen Phänomene, unter dem – gemäß einer seiner damaligen wissenschaftlichen Be- stimmungen – Formen der phänotypischen Ähnlichkeit gezählt werden, die zwi- schen einem Organismus und seiner Umwelt (zum Beispiel einem Blatt, Stein, Zweig et cetera) bestehen.1 Insekten, die mit ihren Körpern fotografieren: Dass diese aus heutiger Sicht kuriose Auffassung inzwischen aus der Biologie verschwunden ist, verwundert nicht. Die biologische Forschung beschäftigt sich bereits seit den 1920er Jahren nicht mehr mit dem ›Fotografie-Konzept‹, das stets stark umstritten gewesen ist.2 Die historischen Bedingungen, welche die Einführung des mechanomorphen Fotografie-Konzepts in die biologische Forschung einst ermöglichten, sind daher heute nur noch schwer nachvollziehbar.3 Aus diesem Grund ist die wissenschafts-

1 Tarnphänomene, wie etwa die Pflanzenähnlichkeit, werden in der deutschen biologischen For- schung nicht mehr als Mimikry, sondern als Mimese bezeichnet. Da diese Entwicklung auf die deutschsprachige zoologische Forschung einzuschränken und weil die Unterscheidung von Mimikry und Mimese eine neue terminologische Errungenschaft ist, die sich erst seit den 1960er Jahre durchsetzt, wird im Folgenden auf den Begriff der Mimese verzichtet, um die historische Semantik möglichst genau wiederzugeben. 2 Die historische Überschneidung von Fotografie und Mimikry ist bislang nur ansatzweise unter- sucht worden. Sie lässt sich noch bei Roger Caillois und Jacques Lacan auffinden, die sich seit den 1930er Jahren mit der Mimikry beschäftigt haben. Vgl. zur kulturhistorischen Faszination der Mimikry Andreas Becker et al. (Hg.). Mimikry. Gefährlicher Luxus zwischen Natur und Kultur. Schliengen 2008. Vgl. zur Mimikry in der Militärtechnik Hillel Schwartz. The Culture of the Copy. Striking Likenesses, Unreasonable Facsimiles. New York 1996, S. 178-186; Birgit Schneider. Gefleckte Gestalten. Die von Schiffen im Ersten Weltkrieg. In: Claudia Blümle, Armin Schäfer (Hg.). Struktur, Figur, Kontur. Berlin 2008, S. 141-158. 3 Sich mit einem vergessenen und sogar als Irrtum abgetanen Modell aus einer wissenschaftshistori- schen Perspektive anzunehmen, mag zunächst seltsam erscheinen, doch entspricht dies genau dem Anliegen der Untersuchung, die auf eine kleine Wissenschaftsgeschichte der Biologie abzielt. Ihre Pfade verlaufen abseits einer großen, sich mit erfolgreichen Paradigmen auseinandersetzen- den Wissenschaftsgeschichte, wie sie etwa durch Thomas Kuhn vertreten wird. Im Sinne einer counterfactual history of science sollen daher einst marginalisierte Theorien und Praxen wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Für einen vergleichbaren methodologischen 128 KYUNG-HO CHA historische Rekonstruktion dieser einmaligen epistemischen Konstellation von Medien- und Biologiegeschichte darauf angewiesen, auf jene verschütteten Wis- senselemente Rekurs zu nehmen, die zwar aus heutiger Sicht als falsch beurteilt werden, welche aber in der damaligen Zeit durch ein epistemisches Netz mitein- ander verbunden sind, dessen Wissenslücken und Vereinfachungen noch nicht als störend wahrgenommen werden. Die Untersuchung nimmt ihren Ausgang von der folgenden Frage: Was macht die Fotografie für die Biologen so attraktiv, dass sie die Grundlage für ein wissen- schaftliches Konzept abgeben kann? Es soll gezeigt werden, dass die Antwort in der Idee der Transparenz zu finden ist. Die hier vorgeschlagene Verwendung des Begriffs der Transparenz bedarf zu- nächst einiger Erklärungen, soll er doch nicht wie sonst üblich im Sinne einer Lichtdurchlässigkeit gebraucht werden. Stattdessen meint Transparenz hier und im Folgenden den der Bildgebung vorgängigen Prozess des Unsichtbarwerdens und Verschwindens des Bildträgers.4 Der Begriff impliziert einen Akt der Eska- motage sowie der Illusionierung und Täuschung des Beobachters, der zwar das Bild wahrnimmt, aber nicht das, was dahinter steckt. Im Falle der Mimikry ist es das Insekt.5 Offensichtlich interessieren sich Biologen für die Fotografie, weil sie

Ansatz, siehe: Hasok Chang. Inventing temperature. Measurement and scientific progress. New York et al. 2004. 4 Bei diesem Verständnis von Transparenz stütze ich mich auf die Ausführungen Roland Barthes’ und Sybille Krämers. Für Roland Barthes ist die Fotografie das Medium der Transparenz par ex- cellence. Er beschreibt den fotosensiblen Bildträger als eine »transparente und leichte Hülle«, an welcher »der Referent [haften] bleibt«. Roland Barthes. Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. M. 1985, S. 12. Mit der Dialektik von Verbergen und Offenbaren ist, so Krämer, ein Grundmerkmal von Medien überhaupt gegeben, das sich in der Fotografie par ex- cellence manifestiert. Generell zeichneten sich Medien durch die Tendenz aus, ihre Materialität zum Verschwinden zu bringen, das heißt, unsichtbar zu werden, um so die Nachricht möglichst störungsfrei zu übermitteln. Vgl. Sybille Krämer. Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphy- sik der Medialität. Frankfurt a. M. 2008, besonders S. 27-30. 5 Wie sich bei der Fotografie das fotosensible Material nicht zeigt, unsichtbar und hinter dem Bild im Verborgenen zu bleiben scheint, so verschwindet das Insekt als biologischer Bildträger hinter dem Bild des Blattes. Getäuscht wird dabei der tierische wie menschliche Betrachter, indem der materielle Träger unsichtbar wird, sobald er unter dem Bild, das sich zeigt, verschwindet. Derje- nige, der getäuscht wird, ist entweder der Predator, dem das Mimikryinsekt im Kampf ums Da- sein auf diese Weise entkommt. Auf der anderen Seite steht das Aufbrechen der Transparenz, wenn sich das Mimikryinsekt nämlich in Bewegung setzt und sichtbar wird, im Zentrum vieler Anekdoten von Mimikryforschern, die beobachten, wie sich das Tier in der Bewegung langsam vom Hintergrund abhebt und erst dann erkennbar wird. Man lese beispielsweise ’ Beschreibung der paralekta: »This was not uncommon in dry woods and thickets, and I often endeavoured to capture it without success, for after flying a short distance it would enter a bush among dry or dead leaves, and however carefully I crept up to the spot I could never discover it till it would suddenly start out again and they disappaear in a similar place. At length I was fortunate enough to see the exact spot where the settled, and though I lost sight of it for some time, I at length discovered that it was close before my eyes, but that in its position of repose it so closely resembled a dead leaf attached to a twig as almost cer- tainly to deceive the eye even when gazing full upon it.« Alfred Russel Wallace. The Malay Ar- chipelago. The Land of the Orang-Utan and the Bird of Paradise. 17. Auflage. London 1880,