Plenarprotokoll 18/216

Deutscher

Stenografischer Bericht

216. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. Januar 2017

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 28: (CDU/CSU)...... 21660 D a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Verbesserung der Fahndung Zusatztagesordnungspunkt 5: bei besonderen Gefahrenlagen und zum Eidesleistung der Bundesministerin für Schutz von Beamtinnen und Beamten Wirtschaft und Energie der Bundespolizei durch den Einsatz , Bundesministerin BMWi. . . . 21661 D von mobiler Videotechnik Drucksache 18/10939...... 21649 B b) Erste Beratung des von der Bundesre- Tagesordnungspunkt 29: gierung eingebrachten Entwurfs eines Antrag der Abgeordneten , Susanna Gesetzes zur Änderung des Bundesda- Karawanskij, , weiterer Abge- tenschutzgesetzes – Erhöhung der Si- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Euro- cherheit in öffentlich zugänglichen groß- pa- und Verfassungsrecht wahren – Vorläu- flächigen Anlagen und im öffentlichen fige Anwendung von CETA verhindern Personenverkehr durch optisch-elek­ Drucksache 18/10970...... 21662 B tronische Einrichtungen (Videoüberwa- chungsverbesserungsgesetz) Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 21662 B Drucksache 18/10941...... 21649 B Brigitte Zypries, BMWi ...... 21663 C Dr .Thomas de Maizière, Bundesminister BMI...... 21649 C Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 21664 C Frank Tempel (DIE LINKE)...... 21651 A Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 21665 D Uli Grötsch (SPD)...... 21651 D Andreas G . Lämmel (CDU/CSU)...... 21666 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 21652 C Hansjörg Durz (CDU/CSU)...... 21667 D (Altötting) (CDU/CSU). . . . . 21653 C (DIE LINKE)...... 21669 B (DIE LINKE)...... 21655 A (SPD)...... 21670 C Marian Wendt (CDU/CSU)...... 21655 C Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 21671 D (SPD)...... 21656 B Dr . (CDU/CSU)...... 21672 C Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 21657 B Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 21674 C Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 21658 B Dr . Heribert Hirte (CDU/CSU)...... 21675 A Matthias Schmidt (Berlin) (SPD)...... 21659 D (SPD)...... 21675 C II Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Tagesordnungspunkt 30: (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 21692 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (SPD)...... 21693 B Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städtebaurecht und zur Stärkung des neu- en Zusammenlebens in der Stadt Tagesordnungspunkt 32: Drucksache 18/10942...... 21677 A Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr . Barbara Hendricks, Bundesministerin , Renate Künast, , BMUB...... 21677 B weiteren Abgeordneten und der Fraktion (DIE LINKE) ...... 21678 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des (CDU/CSU) ...... 21679 C Gesetzes über die Entschädigung für Opfer Caren Lay (DIE LINKE) ...... 21680 A von Gewalttaten (Opferentschädigungsge- setz – OEG) Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ Drucksache 18/10965...... 21694 A DIE GRÜNEN)...... 21681 A Katja Keul (BÜNDNIS 90/ Claudia Tausend (SPD)...... 21682 C DIE GRÜNEN)...... 21694 A Dr . (CDU/CSU)...... 21683 C Jutta Eckenbach (CDU/CSU)...... 21695 B (Kleinsaara) (CDU/CSU). . . . 21684 D (DIE LINKE)...... 21696 C Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD)...... 21697 C Tagesordnungspunkt 31: Dr . h . c . (CDU/CSU) ...... 21698 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Dr . Karl-Heinz Brunner (SPD)...... 21699 D schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Wissen- Nächste Sitzung ...... 21700 D schaftskooperation mit Partnern in Sub- sahara-Afrika stärken Berichtigung...... 21700 D Drucksachen 18/10632, 18/10973 ...... 21686 A Dr . Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU) . . . . 21686 B Anlage 1 (DIE LINKE) ...... 21687 D Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . 21703 A Dr . (SPD)...... 21689 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 21690 C Anlage 2 Dr . (CDU/CSU)...... 21691 D Amtliche Mitteilungen...... 21704 A Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21649

(A) (C)

216. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. Januar 2017

Beginn: 10 .30 Uhr

Vizepräsident : Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- Noch unter dem Eindruck der eben zu Ende gegange- nern: nen Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne ich die Sitzung. Bitte nehmen Sie Platz. beginne mit der Darstellung von ein paar Szenen; sie sind gleichermaßen schrecklich und skrupellos . 16 . Mai Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf: 2015, Berlin, S-Bahnhof Wuhletal: Eine Schülerin wird a) Erste Beratung des von der Bundesregierung auf dem Heimweg grausam erdrosselt . 27 .Oktober 2016, eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- Berlin, U-Bahnhof Hermannstraße: Einer jungen Frau besserung der Fahndung bei besonderen Ge- wird völlig unvermittelt brutal in den Rücken getreten, fahrenlagen und zum Schutz von Beamtinnen sie stürzt die Treppe hinab . 24 .Dezember 2016, Heilig- und Beamten der Bundespolizei durch den abend, Berlin, U-Bahnhof Schönleinstraße: Ein schla- Einsatz von mobiler Videotechnik fender Obdachloser wird in Brand gesetzt . Die schockie- (B) renden Szenen sind tausendfach über die Bildschirme (D) Drucksache 18/10939 geflackert und wurden in den sozialen Netzwerken ver- Überweisungsvorschlag: breitet . Sie haben bundesweit für Erschütterung gesorgt, Innenausschuss (f) für Wut und für Entsetzen . Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss Digitale Agenda Die Ermittlung der mutmaßlichen Täter gelang nur deshalb, weil die Taten aufgezeichnet, dadurch Ermitt- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- lungsansätze vorhanden und der Verfolgungsdruck auf gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- die Täter hoch waren . Die Szenen haben den Ruf nach rung des Bundesdatenschutzgesetzes – Erhö- einer größeren und erweiterten Videoüberwachung öf- hung der Sicherheit in öffentlich zugänglichen fentlicher Räume weiter verstärkt . großflächigen Anlagen und im öffentlichen Personenverkehr durch optisch-elektronische Nun lösen Debatten um Videomaßnahmen in Deutsch- Einrichtungen (Videoüberwachungsverbesse- land reflexhaft Gegenreaktionen aus. Kritiker zeichnen rungsgesetz) regelmäßig düstere Bilder, Bilder einer total kontrollier- ten, gleichgeschalteten und von Menschlichkeit befreiten Drucksache 18/10941 Gesellschaft, ganz nach George Orwells Buch 1984. Mit Überweisungsvorschlag: dem Rechtsstaat, in dem wir leben, hat das überhaupt Innenausschuss (f) nichts zu tun; uns geht es um eine vernünftige Auswei- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz tung der Videoüberwachung . Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss Digitale Agenda (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Die immer gleiche Rhetorik wird auch durch stetes diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Widerspruch Wiederholen nicht besser . Oft heißt es, Videoüberwa- erhebt sich dagegen keiner . Dann ist dies so beschlossen . chung verhindere keine Verbrechen, sie helfe bestenfalls Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- bei der Aufklärung und sie erhöhe nur die gefühlte Si- ner dem Bundesminister Dr .Thomas de Maizière das cherheit . Ich frage: Sind Aufklärung von Straftaten und Wort . die Verbesserung des subjektiven Sicherheitsgefühls der Bevölkerung keine verfolgenswerten Ziele? Genau diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ziele verfolgen wir mit diesem Gesetzentwurf . ordneten der SPD) Es käme niemand auf die Idee, auf DNA-Reihenun- Herr Minister, bitte sehr . tersuchungen, auf den Abgleich von Autokennzeichen 21650 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière (A) oder Fingerabdrücken zu verzichten, weil dadurch keine daran . Noch ist das Zukunftsmusik; aber es ist, glaube (C) Straftaten verhindert werden . Mich überzeugt das jeden- ich, etwas, was wichtig ist und hilft . falls nicht . Ich sage klar: Straftaten mithilfe dieser Instru- mente aufzuklären, ist besser, als auf diese Instrumente Ich habe nach den Anschlägen von Würzburg und zu verzichten und damit die Aufklärung zu erschweren Ansbach und dem Amoklauf in München im August ver- oder sogar erfolglos beenden zu müssen . gangenen Jahres eine Reihe von Maßnahmen vorgeschla- gen, um die Sicherheit in Deutschland zu erhöhen . Das, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) was wir jetzt vorschlagen, ist ein Teil dieser Maßnahmen . Dann gibt es das Argument – das werden wir vielleicht Dazu gehören auch neue Befugnisse für die Bundespo- wieder hören; ich habe es in der letzten Debatte schon lizei in Bezug auf den Einsatz von Body-Cams und die einmal erwähnt –: Macht doch lieber mehr Polizeiprä- Nutzung von automatischen Kennzeichenlesesystemen, senz statt Videoüberwachung . Als ob das eine das andere die mit dem zweiten Gesetz beschlossen werden sollen . ausschlösse! Es ist schlicht lebensfremd, eine Polizei- Auch das ist eine große Hilfe bei der polizeilichen Arbeit . dichte zu fordern, die Kameras überflüssig macht. Ein In vielen Ländern gibt es das bereits . Das wird und kann solches Versprechen abzugeben, ist einfach unlauter . aber nicht flächendeckend erfolgen; darauf weist die Bundesdatenschutzbeauftragte heute hin . Das ist auch Richtig an diesem Argument ist: Das Personal der Si- gar nicht beabsichtigt, sondern der Einsatz ist beabsich- cherheitsbehörden muss wachsen . Im Bund haben wir tigt, wenn er sinnvoll ist, wenn er nützlich ist, wenn er bei dafür auch gesorgt, und das massiv . Sie kennen die Zah- der Fahndung hilft, wenn er bei Kriminalitätslagebildern len: rund 7 500 Stellen zusätzlich für die Bundespolizei unterstützen kann, wie es bereits in sechs, sieben, acht und 1 300 Stellen für das Bundeskriminalamt . Das sind Bundesländern geschieht, die zum Teil rot-grün regiert 20 Prozent bzw . beim Bundeskriminalamt über 25 Pro- sind . Nicht mehr und nicht weniger als das, was die Lan- zent mehr Personal innerhalb von fünf Jahren . Es wäre despolizeien an Befugnissen haben, soll auch der Bun- schön, wenn die Länder dem folgen würden . Wer das hier despolizei zugestanden werden . Und das ist sinnvoll . kritisiert, von dem erwarte ich das gleiche Engagement in den Bundesländern, um dort für entsprechende Haus- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) haltsaufwüchse zu sorgen . Besonders am Herzen liegt mir, dass wir nach einer Uns allen ist klar, dass Videotechnik kein Allheilmit- Pilotphase jetzt auch den Bundespolizisten Body-Cams tel ist . Sie ist aber auch kein Dämon . Kameras leisten geben, also Kameras, die ihre Arbeit aufzeichnen . Das einen entscheidenden Beitrag zu mehr Sicherheit . Sie hat auch mit der zunehmenden Zahl von Angriffen auf helfen, Straftäter zu identifizieren, festzunehmen und zu Bundespolizisten in der letzten Zeit zu tun . Da sage ich (B) bestrafen . Sie verhindern auch Straftaten . Über die ge- noch einmal ganz klar: Wenn Repräsentanten unseres (D) neralpräventive Wirkung von Videoüberwachung gibt es Staates persönlich angegriffen werden, nur weil sie Po- zahlreiche Studien, auch widersprüchliche Studien . Man lizisten sind, dann werden auch wir als demokratische muss kein Kriminologe sein, um zu wissen, dass Kame- Gesellschaft, als Abgeordnete, als Minister, als gesamte ras nicht global gegen jede Form von Kriminalität helfen, Gesellschaft politisch angegriffen, und das verlangt eine vor allem dann nicht, wenn Täter im Affekt handeln oder klare Antwort . es ihnen gerade auf eine breite Öffentlichkeit ankommt. Aber deliktsspezifisch differenziert verhindert Video- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) überwachung auch Straftaten, und das wirksam . Indem wir unsere Polizisten mit Body-Cams ausstat- Ich freue mich, dass wir uns in der Koalition darü- ten, schrecken wir Gewalttäter von Exzessen ab oder ber einig sind und den Entwurf des Gesetzes zur Verbes- dokumentieren diese wenigstens, um im Anschluss serung der Videoüberwachung heute in erster Lesung die Täter schnell zur Verantwortung ziehen zu können . beraten. Die neuen Regelungen schaffen für diejenigen Gleichzeitig kann auch die Rechtmäßigkeit des Han- Erleichterung, die Sportstätten, Einkaufszentren und an- delns von Polizisten besser bewiesen, entkräftet oder dere große öffentliche Einrichtungen oder Fahrzeuge des jedenfalls zum Gegenstand von Betrachtungen gemacht öffentlichen Personennahverkehrs betreiben. Ein Anlass werden . Wenn wir das machen, ist das sozusagen ein pas- für dieses Gesetz war der Amoklauf in München . Dort siver Schutz von Polizeibeamten . Wir werden sehr bald gab es eine Videoüberwachung bei McDonald’s . Wäre in diesem Bundestag auch darüber diskutieren – darü- der Täter in ein Kaufhaus gegangen, hätte es auch dort ber besteht in der Koalition Einvernehmen –, dass wir eine Videoüberwachung gegeben . Nur weil er in ein Ein- die Strafandrohung bei Angriffen gegen Polizisten und kaufszentrum lief, gab es keine Videoüberwachung, und Rettungskräfte verschärfen wollen, und zwar nicht nur die Sicherheitsbehörden wussten über lange Zeit nicht, bei Vollstreckungshandlungen, sondern auch bei Dienst- wo sich der Täter befand . Die Ungleichbehandlung von handlungen . Das ist ein doppelter Schutz für die Polizis- Kaufhäusern und Einkaufszentren hat sich mir nie er- ten. Angriffe gegen sie werden härter bestraft, und Bo- schlossen; wir beenden sie jetzt . dy-Cams schützen davor, dass es überhaupt zu solchen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Angriffen kommt. Meine Damen und Herren, Videomaßnahmen sind (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nicht isoliert zu betrachten . Intelligent mit Systemen zur Gesichtserkennung verknüpft, können sie in Zukunft Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass Sie diese auch ein effektives Fahndungsmittel sein. Wir arbeiten Gesetzentwürfe schnell beraten. Ich hoffe auch, dass wir Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21651

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière (A) möglichst gemeinsam zu einer Verabschiedung kommen, aufklären zu können? Sie haben ja eine 30‑tägige Auf- (C) und ich freue mich auf eine große Zustimmung . bewahrungspflicht, unter anderem zur Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung rechtmäßigen polizeilichen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Handelns, in diesen Gesetzentwurf hineingeschrieben . Kann es aber Aufzeichnungen über unrechtmäßiges Han- Vizepräsident Johannes Singhammer: deln überhaupt geben, wenn der Polizeibeamte individu- Der Kollege Frank Tempel spricht jetzt für die Frak- ell und ohne Regeln entscheiden kann, was aufgezeich- tion Die Linke . net wird und was nicht? Das ist eine schwierige Frage, die wir gerne mit Ihnen diskutieren wollen . Denn wir (Beifall bei der LINKEN) brauchen, denke ich, schon klare Regelungen, was und wann aufgezeichnet werden darf und muss . Frank Tempel (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und Herren! Sehr geehrter Herr Minister! Ich möchte mich als ehemaliger Polizeibeamter mit dem Vorschlag Es gibt aber noch weitere offene Fragen und damit zur Ausrüstung von Bundespolizisten mit Body-Kameras auch Hausaufgaben, Herr Minister, damit wir das be- beschäftigen . Laut Gesetz sollen diese ja zum Schutz von schließen können. Im Gesetzentwurf finden sich kei- Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei, zur Verfol- ne Regelungen zur Manipulationssicherheit relevanter gung von Straftaten, zur Verfolgung von Ordnungswid- Aufzeichnungen für eine richterliche Nutzbarkeit – ich rigkeiten mit erheblicher Bedeutung und auf Verlangen erinnere nur an das Verfahren gegen den Pfarrer König von Betroffenen zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit in Dresden, wo die Polizei manipuliertes Videomaterial polizeilicher Maßnahmen dienen . Sie machen da also zur vorgelegt hat –: keine Datenschutzbestimmungen, keine Abwechslung mal in der Innenpolitik einen Vorschlag, Regelungen zu den Zugriffsrechten, keine Regelungen der tatsächlich diskussionswürdig ist . Wir werden darü- zu den Beschäftigtenrechten – auch das wird die Beam- ber diskutieren, ob die Body-Cam das leisten kann, was ten interessieren –, keine Regelungen zu einer Kontrol- sie verspricht, und wir müssen sicherstellen, dass die Re- le durch Datenschutzbeauftragte oder das Parlament . Da gelungen zur Einschränkung von Datenschutz und Bür- muss nachgearbeitet werden . gerrechten in verfassungskonformer Verhältnismäßigkeit Ich möchte aber noch einmal betonen: Ideen für mehr stehen; das ist ja unsere Aufgabe . persönliche oder rechtliche Sicherheit steht die Linke Wenn ich an meinen früheren Alltag als Polizeibeam- sehr aufgeschlossen gegenüber . Wenn uns Polizeibeam- ter denke, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass die Bo- te sagen, dass die Body-Cam mehr Sicherheit bringen (B) dy-Cam, wenn sie läuft, zum Beispiel die Hemmschwelle könnte, nehmen wir das sehr ernst . Wenn uns aber Bür- (D) hebt, einen Polizeibeamten anzugreifen . Und das wäre ger sagen, dass sie glauben, dass kritische Aspekte zu ein Erfolg . Ich habe in den letzten Tagen in digitalen Me- wenig berücksichtigt wurden, dann nehmen wir auch das dien viele Polizeibeamte gefragt, was sie selbst davon sehr ernst . Deswegen schlage ich ernsthaft vor, dass wir halten . Zu meiner Überraschung waren die Meinungen zu diesem Thema eine Expertenanhörung im Innenaus- relativ kontrovers, Pro und Kontra waren gleichermaßen schuss durchführen, um uns mit diesen offenen Fragen, dabei . Auch Studien helfen uns nicht weiter; denn sie be- die Sie in Ihrem Gesetzentwurf komplett vergessen ha- ziehen sich momentan auf sehr wenige Fälle und sagen ben, noch einmal zu beschäftigen, damit dieses Hilfsmit- uns erst einmal noch nicht viel . Ich schlage vor, wenn wir tel, das ein Nützliches sein kann, tatsächlich beschlossen uns für eine Einführung entscheiden – und ich kann mir werden kann; denn ohne Regelungen geht es nicht . das durchaus vorstellen –, eine begleitende wissenschaft- (Beifall bei der LINKEN) liche Evaluierung gleich mit zu beschließen . Vorher, meine Damen und Herren, müssen wir uns Vizepräsident Johannes Singhammer: aber über die Ausgestaltung des Gesetzes unterhalten . Der Kollege Uli Grötsch spricht jetzt für die SPD . Da fehlt einiges, worüber wir tatsächlich reden müssen . Nach Ihrem Vorschlag funktioniert das ja so: Der Poli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zeibeamte kündigt die Aufzeichnung, wenn er die Zeit der CDU/CSU) dafür hat, an, und dann zeichnet die Body-Cam auf . Sie zeichnet also nicht permanent auf . Auf der einen Seite Uli Grötsch (SPD): ist das richtig: Sie wollen verdeckte Aufzeichnungen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vermeiden, an die das Bundesverfassungsgericht ja hohe Gesetzentwurf, über den wir heute in erster Lesung de- Hürden geknüpft hat . Auf der anderen Seite kann der Be- battieren, enthält im Wesentlichen drei Maßnahmen, die amte so natürlich willkürlich entscheiden, welche Situa- die Arbeit der Beamtinnen und Beamten der Bundespo- tion und vor allen Dingen welchen Teil einer Situation er lizei effizienter machen sollen und auf die ich in meiner aufzeichnet und speichert . Rede im Wesentlichen eingehe . Meine Damen und Herren, Sie können sich vorstellen, Erstens wollen wir, dass unsere Bundespolizisten mit dass das natürlich auch Besorgnis hervorruft . Oft werden Body-Cams ausgestattet werden . Damit erfüllen wir auch wir nur einen Teil einer Situation auf Video haben, und eine langjährige Forderung der GdP, der Gewerkschaft das kann zu einer einseitigen Wertung führen . Wie sieht der Polizei . Wir haben gute Erfahrungen mit Pilotpro- es mit der Hoffnung aus, polizeiliches Fehlverhalten jekten in den Ländern gemacht, die die deeskalierende 21652 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Uli Grötsch (A) und präventive Wirkung von Body-Cams belegt haben . ständlich . Nicht nur, wenn Bombendrohungen eingehen, (C) Die offenen Aufzeichnungen mit mobiler Videotechnik, sondern auch, wenn jemand etwa mit Selbstmord droht, die beispielsweise an der Schulter getragen wird, dienen muss die Bundespolizei in der Lage sein, noch mal rein- auch der Strafverfolgung, aber vor allem dem Schutz der- zuhören, um alle Informationen aufzunehmen . Deshalb jenigen, die etwa im bahnpolizeilichen Brennpunktbe- ist das eine überfällige und ganz sicher vernünftige Re- reich jeden Tag ihre Gesundheit und ihr Leben für unsere gelung . Sicherheit riskieren . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dass Body-Cams inzwischen notwendig sind, ist leider eine bittere und traurige Wahrheit . Die Kriminal- Sehr geehrte Damen und Herren, diese Maßnahmen statistik zeigt, dass die Zahl der Angriffe auf Polizisten sind ein Teil eines umfassenderen Pakets an Gesetzen mit merklich zugenommen hat . Deshalb ist es sehr richtig Augenmaß, die wir in der Koalition beschlossen haben, und wichtig, dass wir im aktuellen Haushalt 5 Millionen um die Sicherheit in diesem Land zu erhöhen . Weil das in Euro für eine breit angelegte Imagekampagne bereitge- unser aller Sinne ist und es sich hierbei um angemessene, stellt haben . Wir haben nicht nur das Personal der Bun- milde Mittel handelt, bitte ich im folgenden Beratungs- despolizei auf Rekordniveau aufgestockt, sondern auch verfahren um konstruktive Mitarbeit aller Fraktionen . Mittel für die erforderliche Ausrüstung zur Verfügung gestellt. Daher finde ich, dass wir, was den Schutz unse- Vielen Dank . rer Beamtinnen und Beamten angeht, den richtigen Weg eingeschlagen haben . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir werden aber auch ein schärferes Vorgehen gegen Gewaltdelikte gegen Polizisten gesetzlich regeln . Die Vizepräsident Johannes Singhammer: neue Regelung wird dann auch für Kräfte der Feuerwehr oder etwa der Rettungsdienste gelten, die tätlich ange- Nächste Rednerin ist die Kollegin Irene Mihalic für griffen werden. All diese Maßnahmen senden ein klares Bündnis 90/Die Grünen . Signal aus: Wer Polizisten, Rettungsärzte oder Feuer- wehrleute angreift, der greift den Staat an . Das dulden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wir nicht . Dagegen gehen wir mit der erforderlichen Här- Irene Mihalic te vor . Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- be Kollegen! In einem der beiden Gesetzentwürfe steht (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ja sogar im Titel, dass es um besondere Gefahrenlagen Eine zweite wesentliche Maßnahme nach den Bo- geht . Dabei denken wir natürlich alle an die furchtbaren (B) (D) dy-Cams ist die anlassbezogene automatische Kfz-Kenn- Anschläge vom Breitscheidplatz oder von Würzburg und zeichenerfassung . Mit diesen mobilen Kameras darf die Ansbach und auch an den Amoklauf in München . Bundespolizei Autokennzeichen scannen und mit den einschlägigen polizeilichen Datenbanken abgleichen . Um eines vorweg zu sagen: Wir sind natürlich vereint Zum einen liegt hierbei die Betonung auf anlassbezo- in der Trauer um die Opfer, aber auch hinsichtlich der gen, also nicht flächendeckend, sondern bei bestimmten drängenden Frage, was wir besser machen können, um Gefahrensituationen, wie Gefahr für Leib oder Leben, terroristische Anschläge oder andere schwere Verbrechen Schutz der öffentlichen Sicherheit oder schwere Strafta- in Zukunft zu verhindern . Wir Grüne diskutieren mit Ih- ten, die gegen die Sicherheit der Grenze gerichtet sind . nen dabei alle Vorschläge, die in der Sache zielführend Zum anderen werden die erhobenen Kennzeichen sofort sind und die einen tatsächlichen Sicherheitsgewinn auf und spurlos wieder gelöscht, wenn es sich nicht um einen rechtsstaatlichen Grundlagen bringen . Treffer handelt. Die Daten werden sogar gelöscht, wenn der Treffer im Fahndungsbestand nicht im Zusammen- Und ja, da kann man auch über einen verbesserten po- hang mit den bestimmten Gefahrensituationen steht, die lizeilichen Videoeinsatz nachdenken . Denn es kann einen wir in diesem Gesetz regeln . ja auch nicht zufriedenstellen, dass die Videoaufnahmen zum Beispiel von der Fussilet-Moschee, die Amri kurz Ich denke, das ist ein maßvolles Mittel, um der Bun- vor dem Anschlag zeigen, erst Wochen später ausgewer- despolizei eine bessere Fahndung, auch und speziell im tet wurden . Doch das, was Sie jetzt vorschlagen, meine Grenzgebiet, und eine schnelle und effiziente Strafverfol- Damen und Herren, ist Sicherheitspolitik ins Blaue hi­ gung zu ermöglichen . Eine solche Arbeitserleichterung nein . Privatleute sollen mehr Kameras aufhängen und ist für unsere Bundespolizisten, die bereits Millionen länger Bildmaterial speichern . Ist das Ihre Teilantwort – Überstunden durch die Migrationslage angehäuft haben, wie Sie sagen – auf den Terrorismus? Wenn es so wäre, dringend notwendig . Ich meine, wenn wir bei vielen dann würde mich ein Teil Ihrer Antwort zugegebenerma- Gelegenheiten über die Stärkung der Schleierfahndung ßen sehr verunsichern . Denn private Stellen, die Video- diskutieren, müssen wir das auch in einem Gesetz umset- kameras betreiben, haben doch gar keine Möglichkeit, zen, wenn wir Gelegenheit dazu haben . Das tun wir mit im Falle eines Falles einzugreifen oder irgendetwas zu diesem Gesetz . verhindern . Das Einzige, was hier passiert, ist, dass Sie Die dritte wesentliche Maßnahme eröffnet der Bundes- gewaltige Datenberge schaffen, von Flensburg bis Ro- polizei die Möglichkeit, wenn für die Aufgabenerfüllung senheim, um im Fall eines Attentates ein paar mehr Bil- erforderlich, in Einsatzleitstellen eingehende Telefon- der vom Tatort zu bekommen . Und am Ende dauert die anrufe aufzuzeichnen . Das klingt eigentlich selbstver- Auswertung – wie im Fall Amri – womöglich wochen- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21653

Irene Mihalic (A) lang . Ja wen wollen Sie mit diesem Placebo eigentlich Vielen Dank . (C) beruhigen, meine Damen und Herren? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Frank Tempel [DIE LINKE]) sowie des Abg . Frank Tempel [DIE LINKE]) Vizepräsident Johannes Singhammer: Das Gleiche gilt für die automatische Kennzeichener- Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Stephan fassung . Bei einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben Mayer . kann doch die Kennzeichenfahndung an der Grenze nicht die Antwort auf die aktuelle Sicherheitslage sein . Kollege (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Grötsch, es geht dabei eben nicht um die Strafverfolgung, ordneten der SPD) sondern es ist eine Maßnahme nach dem Bundespolizei- gesetz . Also geht es um Gefahrenabwehr und eben nicht Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): um Strafverfolgung . Deswegen fragt man sich natürlich, Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolle- welches konkrete Szenario Sie da eigentlich im Kopf ha- ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Beide Gesetzentwürfe, ben . Denn Anschläge wie der vom Breitscheidplatz kön- die wir heute in erster Lesung beraten, sind sachlich not- nen es ja nicht gewesen sein, weil solche Anschläge mit wendig, sie sind sachlich erforderlich, sie sind aber allem gestohlenen Fahrzeugen innerhalb von wenigen Stunden voran maßvoll, sie sind verhältnismäßig, und sie erhalten begangen werden, noch bevor irgendein Kennzeichen die nachdrückliche Unterstützung der CDU/CSU-Frakti- zur Fahndung ausgeschrieben werden kann, und nach ei- on . Beide Gesetzentwürfe dienen aber nicht der Skanda- nem solchen Anschlag fehlt es den Behörden sicher nicht lisierung und der Empörung . an Daten, die ausgewertet werden können, aber es fehlt an Personal . Oder haben Sie auch nur eine Minute darü- Frau Kollegin Mihalic, wenn Sie davon sprechen, ber nachgedacht, wie personalintensiv schon allein die durch beide Gesetzentwürfe würde kein Funken mehr Si- Bearbeitung der vielen Fehltreffer ist? cherheit generiert und dass wir nur der Technikgläubig- keit nachhängen, dann trifft das einfach nicht den Kern. Sie sagen es ja selber, Herr Minister, dass einige Län- Ich gehe ja gar nicht so weit, zu sagen: Allein durch diese der bereits über ein solches Fahndungsinstrument ver- beiden Gesetze wird in Zukunft mit hundertprozentiger fügen und dass die Bundespolizei jetzt im Grunde ge- Sicherheit ein Terroranschlag in Deutschland verhin- nommen nichts anderes tun soll . Wozu das führen wird, dert . Ich bin aber der festen Überzeugung, dass beide ist mir schon klar: Es wird doppelte Abgleiche geben, Gesetzentwürfe, sowohl die Novellierung des Bundes- (B) es wird dreifache Abgleiche geben . Da braucht man gar polizeigesetzes als auch die maßvolle Erweiterung der (D) nicht bei den vielen Fehltreffern anzufangen, um zu er- Videoüberwachung, ein weiterer wesentlicher Schritt zur ahnen, was es bedeutet, am Ende die doppelte und drei- Verbesserung der Sicherheit in Deutschland sind . fache Arbeit zu bewältigen . Jedenfalls hat Ihr Vorschlag Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, mit Terrorabwehr nicht das Geringste zu tun . Auch hier zunächst zur maßvollen Erweiterung der Videoüberwa- ist es wieder die pure Technikgläubigkeit ohne einen chung . Worum geht es denn ganz konkret? Es geht da- Funken mehr Sicherheit . rum, dass wir § 6b des Bundesdatenschutzgesetzes dahin gehend ändern, dass in Zukunft in privaten Einrichtun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen, beispielsweise in Einkaufszentren, aber auch in Ver- sammlungs-, Vergnügungs- und Sportstätten, unter er- Da fällt Ihr Vorschlag zu den Body-Cams in diesem leichterten Bedingungen Videoüberwachung stattfinden Gesetzespaket ja fast schon positiv auf . Jedenfalls gibt kann, dass die Themen „Freiheit“, „Schutz des Lebens“ es gute Gründe für deren Einsatz, auch wenn man natür- und „Schutz der Gesundheit“ von besonderem Interesse lich gespannt sein darf, ob die Body-Cams am Ende auch sind, wenn es darum geht, abzuwägen, ob im konkreten die Erwartungen, die an sie gerichtet sind, erfüllen wer- Einzelfall Videoüberwachung zulässig ist oder nicht . Das den . Aber Sie haben natürlich recht: Gewalt gegen Poli- ist aus meiner Sicht vollkommen maßvoll und verhältnis- zeibeamte ist ein sehr ernstes Thema . Und wenn es der mäßig und entspricht überhaupt nicht dem, was teilweise Bundespolizei bei der Erfüllung ihrer rechtsstaatlichen seitens der Opposition daraus gemacht wird . Aufgaben hilft, dann ist die Einführung von Body-Cams sicher einen Versuch wert . Nur beim Datenschutz soll- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ten Sie auf jeden Fall noch nacharbeiten, zum Beispiel, ordneten der SPD) was die notwendige Verschlüsselung der Daten betrifft. Es gibt aus meiner Sicht gute Gründe für die Vi- Das gilt für die dienstrechtliche Seite genauso wie für deoüberwachung . Herr Minister de Maizière hat den die Rechte der Betroffenen. Es geht aber auch um die Amoklauf in München angesprochen . Damals war über Frage, wo die Aufnahmen aufbewahrt werden und wer Stunden hinweg unklar, wo sich der Attentäter, der eigentlich darüber entscheidet, was weiterhin aufbewahrt Amok­läufer aufhält, es war damals auch die Rede davon, wird, was noch benötigt wird oder was gelöscht werden dass der Anschlag möglicherweise von mehreren Perso- kann . Das ist im Gesetzentwurf bisher leider noch nicht nen verübt wurde . Vor dem Hintergrund ist es schon ein geregelt. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass wir Mehrwert an Sicherheit, wenn insbesondere in größe- wenigstens in diesem Bereich zu einer vernünftigen Lö- ren Einkaufszentren, in Sportstätten und in Sportstadien sung kommen werden . Videoüberwachung stattfinden kann. Die Bevölkerung 21654 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Stephan Mayer (Altötting) (A) goutiert dies übrigens . 81 Prozent der Bundesbürger sind Die wird ja jetzt auch nicht vom Bund erfunden . (C) dafür, dass man die Videoüberwachung ausweitet . Manche Länder haben die Body-Cams sehr erfolg- Natürlich ist Videoüberwachung kein Allheilmittel, reich eingesetzt, allen voran das Land Hessen . Ich bin und natürlich geht es auch darum, dass wir verstärkt auf auch dem hessischen Innenminister Peter Beuth sehr mehr Polizeipräsenz setzen . Gerade der Bund hat in der dankbar, dass er dieses Thema mit Nachdruck vorange- laufenden Legislaturperiode so viel zur Stärkung der Si- bracht hat . cherheitsbehörden getan wie noch nie zuvor . Allein im (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zeitraum zwischen 2016 und 2020 wird die Zahl der NEN]: Schade, dass Sie mir nicht zugehört Stellen bei der Bundespolizei um 7 500 erhöht, das ent- haben!) spricht 20 Prozent der Belegschaft . Beim Bundeskrimi- nalamt wurde die Zahl der Stellen im gleichen Zeitraum Vor dem Hintergrund sind wir nachdrücklich der Auf- sogar um 25 Prozent, also um ein Viertel, erhöht . Ich fassung, dass auch die Ermöglichung des Tragens von glaube, das kann sich wirklich sehen lassen . Body-Cams für Bundespolizisten ein sinnvolles Mittel ist . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin der festen Überzeugung: Eine moderate, maß- Ja! Da sind wir uns ja einig!) volle Ausweitung der Videoüberwachung, die bei wei- tem nicht der eines Überwachungsstaates entspricht, Es geht bei dem Gesetzentwurf auch darum, dass stärkt die Arbeit der Sicherheitsbehörden sowohl in der wir in Zukunft dahin gehend Klarheit schaffen, dass die präventiven Arbeit, weil sie abschreckende Wirkung hat, Daten von Personen, deren Zurückweisung an der deut- als auch bei der Verfolgung von Straftaten, weil sie die- schen Außengrenze ermöglicht werden soll, über INPOL se erleichtert . Ich glaube, uns allen sind die schreckli- in das Schengener Informationssystem eingespeist wer- chen Bilder in guter Erinnerung – oder besser gesagt: in den können . schlechter Erinnerung –, als eine Gruppe von Jugendli- Ebenso sind wir der Auffassung, dass die automati- chen vor wenigen Wochen in einem U-Bahnhof hier in sche Kennzeichenerfassung ein wichtiges Hilfsinstru- Berlin versucht hat, einen Obdachlosen anzuzünden . Die ment ist . Auch hier sei wieder klar gesagt: Das ist kein Jugendlichen haben sich dann sehr schnell „freiwillig“ – Allheilmittel . Von vielen Bundesländern – allen voran in Anführungszeichen – gestellt, weil die vorhandenen Bayern – ist dieses Mittel aber schon sehr erfolgreich Videoaufzeichnungen so gut waren, dass sie davon aus- eingesetzt worden. Es geht nicht um eine flächende- gehen mussten, dass sie sehr schnell überführt werden . (B) ckende Erfassung der Pkws oder Lkws, die die deutsche (D) Daran sieht man ganz konkret, dass Videoüberwachung Grenze überqueren, sondern um eine anlassbezogene Er- auch zur Strafverfolgung einen sehr wertvollen Beitrag fassung der Kfz-Kenneichen . Auch hier, weil das Stich- leisten kann . wort „Datenschutz“ heute schon gefallen ist, sei gesagt: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Es kommt nicht zur Speicherung Unbeteiligter und von ordneten der SPD) Pkws, die keinen Treffer auslösen. Die werden nicht mal eine Sekunde lang gespeichert . Vielmehr kommt es nur Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir dann zur Speicherung, wenn ein konkreter Treffer vor- novellieren aber auch das Bundespolizeigesetz . Es geht liegt . Ich glaube, dass das wirklich maßvoll und verhält- insbesondere darum, Bundespolizisten besser zu schüt- nismäßig ist . Vor dem Hintergrund erfährt auch dies die zen . Gestatten Sie mir auch hier ein klares Wort: Es läuft nachdrückliche Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion . derzeit in manchen Medien – auch in einer Boulevardzei- tung – eine Kampagne gegen Polizisten in Ausbildung, Meine sehr verehrten Damen und Herren, als letzten die sehr pauschal diskreditiert werden . Folgende Zahlen Punkt zum Inhalt des Gesetzentwurfs möchte ich er- seien einmal dagegengestellt: Im Jahr 2015 sind 64 371 wähnen, dass die Möglichkeit besteht, in Zukunft die in Polizisten Opfer von Straftaten geworden . 64 371! Im Einsatzzentralen eingehenden Anrufe zu speichern . Aus Jahr 2014 waren es 62 770 und im Jahr 2013 59 044 meiner Sicht ist das in der heutigen Zeit eine Selbstver- Polizisten . Das heißt, dass fast jeder dritte Polizist in ständlichkeit, sodass die Möglichkeit besteht, sich solche Deutschland einmal im Jahr entweder bespuckt, belei- Anrufe noch einmal anzuhören . digt, diskriminiert, diskreditiert oder sogar körperlich Wie gesagt: Diese beiden Gesetzentwürfe sind ein angegriffen wird. Vor dem Hintergrund sind wir es aus Schritt nach vorn . Sie sind Bestandteil eines größeren meiner Sicht den Personen, die für uns den Kopf hin- Sicherheitspakets, das wir in den nächsten Wochen und halten, schuldig, sie besser zu schützen, sowohl was die Monaten – noch in der laufenden Legislaturperiode – im persönliche Ausstattung als auch was Technik anbelangt . Deutschen Bundestag voranbringen werden . Das hat, Kollegin Mihalic, überhaupt nichts mit Tech- nikgläubigkeit zu tun . Es gibt aufgrund der Entwicklung Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, wir nehmen Gott sei Dank neue Möglichkeiten, und die mobile Vi- Ihren Appell sehr ernst und werden das Gesetzgebungs- deotechnik gehört dazu . verfahren in der gebotenen Qualität zügig und schnell durchführen . Wir werden, Herr Kollege Tempel, selbst- (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verständlich auch eine Anhörung dazu durchführen . NEN]: Haben Sie mir zugehört? Ich fand die Auch das ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir auch Body-Cams sogar gut!) die Expertise von außen hinzuziehen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21655

Stephan Mayer (Altötting) (A) Ich bitte gerade angesichts der derzeitigen brisanten gelbombenanschlag eben nichts zur Effizienz der Ermitt- (C) Sicherheitslage in unserem Land darum, dass wir uns alle lungen beitrugen? darauf konzentrieren und das Gesetzgebungsverfahren diszipliniert, schnell und zügig vorantreiben . (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wie kommen Sie darauf?) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit . Auch dieses Versprechen ist leer . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das Gesetz wird also nichts besser machen . Doch was macht das Gesetz schlimmer? Videoüberwachung ist ein Vizepräsident Johannes Singhammer: intensiver Eingriff. Sie beeinträchtigt alle, die den betrof- Die Kollegin Martina Renner spricht jetzt für die fenen Raum betreten . Sie dient dazu, belastende hoheitli- Fraktion Die Linke . che Maßnahmen vorzubereiten und das Verhalten der den Raum nutzenden Personen zu lenken . (Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Johannes Singhammer: Martina Renner (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des ren! Als Innenpolitikerin spreche ich nicht das erste Mal Kollegen Wendt? zur Videoüberwachung . Wir sollten es sachlich tun . Es geht hier nicht um den Einsatz der Technik zur Überwa- Martina Renner (DIE LINKE): chung von Kriminalitätsschwerpunkten . Es geht darum, Herr Wendt, bitte . Videoüberwachung tatsächlich flächendeckend einzu- führen und auch zu nutzen . Marian Wendt (CDU/CSU): Der grauenhafte Terroranschlag auf dem Breitscheid- Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit zur platz hat der Frage nach öffentlicher Sicherheit traurige Zwischenfrage .– Sie sagten, dass die Videoüberwa- Aktualität verliehen . Der vorgelegte Gesetzentwurf ist chung von Herrn Amri – er hat hämisch in die Kamera jedoch die falsche Antwort auf diese Frage . Er bedeu- gegrinst – zu keinem Erfolg geführt hat . Hätte sie Ihrer tet ein Mehr an Überwachung, aber nicht ein Mehr an Meinung nach aber zu einem Erfolg geführt, wenn wir Sicherheit . Die Fraktion Die Linke wird daher den Ge- eine Videoüberwachung mit Gesichtserkennung gehabt setzentwurf ablehnen, weil er nichts besser, aber einiges hätten und ein Foto von Herrn Amri in der Datenbank schlechter machen wird . hinterlegt worden wäre? Dann hätte in dem Moment, in (B) Was wird er nicht besser machen? Die Ausweitung der dem Herr Amri hämisch in die Kamera lachte, im La- (D) Überwachung öffentlicher Räume taugt nicht einmal als gezentrum der Polizei ein Alarm losgehen können: Herr Placebo; denn anders als ein Placebo hilft Überwachung Amri hat eben in diese Kamera gelacht .– Das hätte doch selbst dann nicht, wenn man daran glaubt . Schauen wir zu einem Erfolg geführt, oder? auf die beiden zentralen Versprechen, mit denen dieser Eingriff in Datenschutz und Bürgerrechte gerechtfertigt Martina Renner (DIE LINKE): werden soll . Wir reden doch hier über die Nutzung von Aufnah- Zum einen wird gesagt, Videoüberwachung erhöhe die men durch Private . Sie wollen doch jetzt nicht ernsthaft Sicherheit der Bevölkerung . Das ist nachweislich falsch . der Überlegung das Wort reden, in Zukunft Kameras in Die flächendeckende Videoüberwachung in Großbritan- Supermärkten technisch so zu konfigurieren, dass dort nien, wo ein Passant etwa 300-mal am Tag von Kameras auch ein Gesichtserkennungsprogramm läuft . Haben Sie erfasst wird, verhinderte nicht die Anschläge in London . eine Vorstellung davon, welchen Missbrauch Sie damit Ein Rückgang der Kriminalität, insbesondere der Ge- ermöglichen würden? Wenn das möglich wäre, gäben wir waltkriminalität, ist im Land der 4,5 Millionen Kameras ein komplettes Bewegungsbild an Dritte . nicht feststellbar, und die abschreckende Wirkung nimmt (Dr . [DIE LINKE]: Ihm fehlt jede ab . Dies räumen inzwischen auch die Behörden in Groß- Vorstellung davon!) britannien ein . Der Leiter von Scotland Yards Videoüber- wachungsabteilung bilanzierte 2010 zur Kameraüberwa- Herr Wendt, ich glaube, das ist ein vollkommen falscher chung, sie sei ein – Zitat – „völliges Fiasko“ . Dies gilt für Vorschlag und ein verfehlter Einwand . die Strafverfolgung wie für die Prävention . Das in dem (Beifall bei der LINKEN) Gesetzentwurf formulierte Versprechen – Zitat –, „die Sicherheit der Bevölkerung präventiv zu erhöhen“, wird Ich möchte zurückkommen auf das Zitat des Bundes- also nicht eingelöst . verfassungsgerichts, das ich vorhin verlesen habe . Darin wird ganz klar ausgedrückt, wie intensiv der Eingriff ist Das andere Versprechen lautet, dass die Ermittlungen und dass maßgebliche Verhaltungsänderungen mit einer effektiver werden. Ist die Linke eigentlich die Einzige, Videoüberwachung einhergehen . die sich an Amris hämische Geste nach der Tat erinnert, deren Erfassung durch eine Kamera am Bahnhof Zoo Ich möchte darauf verweisen, dass in dem Gesetzent- exakt gar nichts zur Ergreifung beitrug? Sind wir die wurf eine einheitliche und klare Normierung von Lö- Einzigen, die sich daran erinnern, dass die Aufnahmen schungsfristen nicht vorgesehen ist . Auch das muss man der NSU-Terroristen von Kameras in Köln vor dem Na- meiner Meinung nach als Kritikpunkt erwähnen . 21656 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Martina Renner (A) Um es noch einmal zusammenzufassen und im Klar- lichen Raums werden durch private Akteure betrieben, (C) text darzulegen: Wer beobachtet wird, ändert sein Ver- und es kann doch nicht sein, dass wir genau dort keine halten . Jeder von uns kennt das: Wenn die Kamera hier Videoüberwachung ermöglichen . angeht, laufen, sitzen und reden wir anders, als wenn wir Wir machen es nicht einfach so, dass, wenn das Si- unbeobachtet sind . Videoaufzeichnungen können in viel- cherheitsgefühl subjektiv infrage steht, jeder das irgend- fältiger Weise missbraucht werden, nicht nur von Priva- wie machen kann, wie er will . Nein, wir geben klare ten und Firmen . Auch der Staat hat kein Recht, immer zu Leitplanken vor, indem wir eine klare Vorgabe für eine wissen, wo wir sind und was wir genau tun . Schon jetzt Abwägung hinsichtlich der Schutzgüter der körperlichen ist klar, dass die Benachrichtigungspflichten, die sich aus Unversehrtheit und des Lebens ins Gesetz schreiben . Wir den Maßnahmen gegenüber den Betroffenen ergeben, regeln, dass es nur in den Fällen, wo es notwendig und nicht erfüllt werden können . erforderlich ist, gemacht wird . Nein, das Gesetz wird nichts besser machen, und des- Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt; halb können wir ihm nicht zustimmen . Wir sehen es als ich sagte es . Die Statistiken, die genannt worden sind, eine Maßnahme, die gesellschaftlicher Verunsicherung bezogen sich vor allem auf Probleme des Schutzes von begegnen soll, die wesentlich auch Ergebnis unsozialer Polizistinnen und Polizisten; dieser muss verbessert wer- Politik ist . Doch anders als in der Mathematik ergeben den . Andere Zahlen zeigen, dass es in den vergangenen Minus und Minus hier kein Plus . Wir werden deshalb zehn Jahren in Deutschland wesentlich sicherer gewor- weiterhin für eine Politik streiten, die öffentliche und so- den ist . Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Gewalt- ziale Sicherheit als Einheit begreift . verbrechens zu werden, ist um 17 Prozent niedriger als Vielen Dank . vor zehn Jahren . Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bank­ überfall stattfindet, ist um drei Viertel zurückgegangen. (Beifall bei der LINKEN) Gleichzeitig ist Deutschland in einer paradoxen Lage: Denn wenn wir über das subjektive Sicherheitsgefühl Vizepräsident Johannes Singhammer: sprechen, so merken wir, dass die Angst zugenommen Der Kollege Sebastian Hartmann spricht jetzt für die hat, Angst, Opfer eines Verbrechens, von Gewalt oder SPD . Terrorismus zu werden . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verantwortungsvolle Politik muss darauf reagieren . der CDU/CSU) Auf der einen Seite sieht man, dass es sicherer gewor- den ist, auf der anderen Seite muss man aber auch die- sem subjektiven Sicherheitsgefühl begegnen und eine (SPD): (B) Sebastian Hartmann entsprechende Regelung auf den Weg bringen, damit (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und die Menschen sich sicherer fühlen . Auch das subjektive Kollegen! Die wichtigste Nachricht vorab: Wir leben in Sicherheitsgefühl ist entscheidend; diese Ängste müssen einem der sichersten Staaten der Welt . wir ernst nehmen . Aber wir wollen dabei nicht, dass es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten uferlos wird . Wir wollen nicht anlasslos handeln . Viel- der LINKEN) mehr wollen wir in ganz konkreten Fällen besser werden . Dass das so bleibt und dass das Sicherheitsniveau jeden Durch die Technik haben wir verbesserte Möglichkei- Tag weiter verbessert wird, ist unsere gemeinsame Ver- ten . Wenn jetzt seitens der Opposition gesagt wird: „Na antwortung, und zwar aller Teile dieses Hauses, sowohl ja, dann schafft man Hundertausende von Fotos, die sich der Opposition, die schon versucht, Brücken zu bauen, niemand anschauen wird, und unklare Speicherfristen“, um mit uns mitzugehen auf dem Weg der Verbesserung dann entgegne ich Ihnen, liebe Frau Kollegin: Wenn ein der inneren Sicherheit, als auch der die Regierung tragen- einziges Foto ausreicht, eine Tat aufzuklären, oder sogar den Fraktionen, die gemeinsam einen Gesetzentwurf auf dazu führt, dass ein Täter seine Vorbereitungshandlung den Weg gebracht haben, um die öffentliche Sicherheit im öffentlichen Raum, zum Beispiel in einem Einkaufs- in Deutschland noch weiter zu verbessern . Genau darum zentrum, nicht so durchführen kann, wie er sich das vor- geht es . Das werden wir gemeinsam tun . gestellt hat, und wir ihn auf dem Weg zur Tat stoppen können, dann hat es sich gelohnt, das Gesetz an dieser Wir haben verschiedene Vorschläge gemacht; Kollege Stelle klarer zu fassen und privaten Akteuren eine klare Grötsch ist schon darauf eingegangen . Was den Schwer- Vorgabe zu geben, was ihre Verantwortung ist, damit wir punkt der Videoüberwachung angeht: Wenn man das gemeinsam für mehr Sicherheit sorgen . Da können Sie Gesetz daraufhin bewertet, sollte man sich den Text des uns begleiten . Gesetzes dazu genau ansehen: Wir reden über 3 100 Ka- meras in bestimmten abgegrenzten Bereichen, und zwar (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten immer dort, wo es eine Lücke in den Bestimmungen gibt, der CDU/CSU) nämlich wo es um große, öffentlich zugängliche Räume Es handelt sich immer um eine Kombination . Herr In- geht, nenminister, ich gebe Ihnen völlig recht: Die Videoüber- (Zuruf der Abg . Irene Mihalic [BÜND- wachung ist nicht die Kernfrage der inneren Sicherheit . NIS 90/DIE GRÜNEN]) Es geht um eine Kombination von Maßnahmen . Wenn wir, Länder und Bund gemeinsam, über mehr Polizei re- die durch private Akteure betrieben werden, zum Bei- den, wenn wir über mehr Personal reden, das wir zukünf- spiel ein Einkaufszentrum. Immer mehr Teile des öffent- tig mithilfe von Body-Cams besser schützen werden, Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21657

Sebastian Hartmann (A) wenn wir die Möglichkeiten der Digitalisierung und von ber nicht nur in diesem Lichte, sondern die Debatte über (C) mehr Videoüberwachung an bestimmten Punkten nutzen, die Sicherheitsstruktur bzw . -architektur und über die dann führt diese Kombination zu einem handlungsfähi- Maßnahmen, die zulässig sind, hat bereits vorher statt- gen starken Staat, der dafür sorgt, dass Deutschland ein gefunden . Sie wurde zum Beispiel geführt, als wir über sicheres Land bleibt . Rechtsextremismus, Rechtsterrorismus und den NSU ge- redet haben . Außerdem haben wir uns mit verschiedenen Dass dies die Leitlinie der Sozialdemokratie ist, kann Verfassungsgerichtsurteilen und mit der Vorratsdaten- man daran erkennen, dass wir eben nicht auf das Spiel speicherung beschäftigt . hereinfallen, Freiheit gegen Sicherheit auszuspielen; denn Freiheit und Sicherheit gehören untrennbar zu- Was mich betroffen macht, ist: Wir haben über so sammen . Das eine geht nicht ohne das andere . „Freiheit viele Gesetze geredet, am Ende sind wir doch wieder ist unmöglich, wenn sie nicht durch den Staat gesichert in Karlsruhe gelandet, und die Richter haben gesagt: Es wird“, hat Karl Popper einmal formuliert . Das ist doch hat keine hinreichende Abwägung der Rechte stattge- die Linie; man muss beides zusammen denken . Deswe- funden .– Oder wir enden in einer Situation, in der wir gen: Schauen Sie in den Gesetzentwurf, und lesen Sie, feststellen: Schon existierende Regelungen werden in der was da drinsteht . Praxis gar nicht angewandt . Es erschüttert mich, meine (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Damen und Herren, dass wir mit Verve ein Sicherheits- NEN]: Der liegt ja auf dem Tisch!) versprechen abgeben, Ich möchte es der Opposition einfach machen . Ich lese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es Ihnen vor, damit Sie wissen, was in diesem Gesetzent- wurf steht . aber es gar nicht hinbekommen, im Alltag auf Bundes- und Länderebene das zu tun, was wir tun könnten . (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Bei- fall des Abg . Uli Grötsch [SPD]) Gerade der Fall Amri, der hier schon angesprochen wurde, zeigt ein Vollzugsdefizit. Maßnahmen, die mög- Es geht um den Einsatz der Videoüberwachung „in Ein- lich gewesen wären, wurden nicht angewandt, Material richtungen und Fahrzeugen des öffentlichen Schienen-, wurde nicht ausgewertet . Die Aufnahmen einer Kamera, Schiffs- und Busverkehrs und öffentlich zugänglichen die sie 24 Stunden, 7 Tage in der Woche macht, wurden großflächigen Anlagen, wie Sport- und Vergnügungs- nur wegen des Anschlags überhaupt ausgewertet . Wir stätten, Einkaufszentren und Parkplätzen“ . Genau darum diskutieren hier über ein neues Verhältnis von Sicher- geht es . Wenn man den Gesetzentwurf gelesen hat, weiß heit, Freiheit und Grundrechten wie dem auf informati- man es . Es handelt sich – so ungefähr in der Abschät- onelle Selbstbestimmung . Wir als Grüne wollen darüber (B) zung – um 3 100 Kameras . wirklich ernsthaft diskutieren. Wir wollen die öffentliche (D) Das Gute ist: Wenn man einen Eingriff in Grundrech- Sicherheit verbessern . Aber wir werden genau hinse- te wie die informationelle Selbstbestimmung vornimmt, hen . Ich zitiere Herrn Lammert, der letzte Woche in der dann ist dies mit einem Verfallsdatum doppelter Art ver- Gedenkstunde ganz klar gesagt hat: Sicherheit braucht sehen . Ein solches Verfallsdatum ist der 25 .Mai 2018; Freiheit . – Gehen wir doch nicht los, geben ein Sicher- denn dann wird durch europäisches Recht eine klare heitsversprechen ab und blasen etwas auf! Denn nachher Regelung für ganz Europa getroffen. Europa ist schließ- entsteht Verdruss, weil wir nur geredet haben und unsere lich der größte Raum von Freiheit, Recht und Rechts- Maßnahmen gar nicht für mehr Sicherheit gesorgt haben . staatlichkeit, und Deutschland ist ein starker Teil davon . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hinzu kommt, dass wir eine Abschätzung vorgenommen haben, um wie viele Kameras es überhaupt geht; ich habe Der Deutsche Anwaltverein, aber auch der Deutsche die Zahl genannt . Wir werden das evaluieren, damit wir Richterbund haben in ihren Stellungnahmen zu diesen auf unserem Weg, Deutschland zu einem der sichersten Gesetzen schon festgestellt: Es gibt verfassungsrechtli- Staaten der Welt zu machen und dafür zu sorgen, dass che Bedenken . – Der Deutsche Richterbund – auch seine dies so bleibt, beurteilen können, wie viel Erfolg wir bis- Mitglieder haben ja einen Eid auf die Verfassung geleis- lang damit hatten . tet – hat gesagt, es würden überwiegend Personen über- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit . wacht, die selbst keinen Anlass zu einer Überwachung böten, und die Ausweitung des Einsatzes von Kameras (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) im öffentlichen Raum führe zu einem diffusen Gefühl des permanenten Überwachtwerdens . Das ist etwas, was man Vizepräsident Johannes Singhammer: beachten muss . Denken Sie daran: Das Bundesverfas- Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, sungsgericht hat in verschiedenen Entscheidungen sehr Bündnis 90/Die Grünen . deutlich ausgeführt: Es gibt sehr, sehr hohe Anforderun- gen, wenn ereignislos und verdachtslos intensive und un- gezielte Grundrechtseingriffe erfolgen. – Genau das ist Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): es, worum es hier geht . Wollen Sie hier Vorschläge ma- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir dis- chen, mit denen Sie demnächst in Karlsruhe landen und kutieren über dieses Thema heute auch im Lichte des scheitern? Das verbessert doch kein Sicherheitsgefühl! Terroranschlags am Breitscheidplatz am 19 . Dezember letzten Jahres; zu beklagen waren 12 Tote, 50 Verletzte Schauen wir einmal genau hin: Mir ist in dieser Debat- und viele Schwerverletzte . Aber wir diskutieren darü- te aufgefallen, dass die Redner der CDU/CSU das Wort 21658 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Renate Künast (A) „Grundrechte“ kein einziges Mal genannt haben . Dort Deutschland noch dachten, Sicherheit sei besser gewor- (C) besteht Ihre rechtliche Schieflage. den und wir könnten Polizei abbauen, so war das leider ein Trugschluss . Wir müssen heute gegensteuern . Frau (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Keine Belehrung!) Künast, „Sicherheit braucht Freiheit“, haben Sie hier zitiert . Aber Freiheit ohne Sicherheit ist überhaupt nicht Sie fragen, ob die Aufklärung von Straftaten und die Er- möglich . höhung des subjektiven Sicherheitsgefühls keine verfol- genswerten Ziele sind . Natürlich! Das sind doch Dinge, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . die uns auch beschäftigen . Aber schauen wir auf das, Sebastian Hartmann [SPD]) was Sie vorschlagen: Herr de Maizière hat vor etwa ei- ner Stunde hier gefragt: Fingerabdrücke nehmen – ist Ich denke – es wurde von mehreren Rednern auch ge- das etwa falsch? – Nein, natürlich ist das nicht falsch . sagt –, wir als Staat haben die Pflicht, für unsere Bürger Aber hier geht es zum Beispiel nicht darum, dass von alles uns Mögliche zur Sicherheit zu leisten . Das verlan- einer einzigen verdächtigen Person Fingerabdrücke ge- gen und erwarten die Bürger von uns, und wir sind auch nommen werden, sondern es geht um die anlasslose, ver- dafür gewählt worden, dies zu leisten . Jeder von uns hat dachtslose, ungezielte Speicherung, meine Damen und auch im privaten Bereich umdenken müssen . Nachdem Herren . wir vor Jahren noch relativ sorglos waren, so haben wir (Beifall des Abg . Frank Tempel [DIE auch zu Hause einiges verändert, seien es die Türen, LINKE]) die Fenster oder anderes . Wir haben also mehr für un- sere eigene Sicherheit getan . Das müssen wir auch vom Wir kritisieren auch die Body-Cam überhaupt nicht . Sie Staat verlangen . Wir stehen in der Verantwortung . Frau kann situationsbezogen eingesetzt werden, und sie ist gut Mihalic, wir wollen mit dem Gesetz heute nicht beruhi- für den Schutz von Polizeibeamten . Das haben sie ver- gen . Wir wollen einfach handeln; denn Nichtstun ist ga- dient . Sie ist auch gut für den Schutz des Bürgers gegen rantiert der falsche Weg . Übergriffe. Diskutieren wir es! Aber geben Sie doch zu – das haben Sie nicht getan –, dass die von Ihnen benannte (Zurufe der Abg . Irene Mihalic [BÜND- Bundesdatenschutzbeauftragte Frau Voßhoff bezüglich NIS 90/DIE GRÜNEN] und der Erfassung von Autokennzeichen gesagt hat, dass sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) das so nicht will und sie nicht richtig ist . Das Bundes- verfassungsgericht hat einzelne Regelungen der Länder Auch wenn bei jedem Gesetz die Möglichkeit besteht, dazu längst, 2008, als nicht verfassungsgemäß bezeich- dass etwas nicht hundertprozentig funktioniert: Nichts zu net . (B) tun, ist überhaupt keine Lösung . (D) Wir haben Verantwortung, aber diese soll sich nicht Meine Damen und Herren, einzelne Punkte des Ge- beziehen auf ein subjektives Gefühl, sondern auf wirk- setzes sind bereits von mehreren Rednern erwähnt wor- lich hergestellte Sicherheit: mehr Sicherheit, aber auch den, deshalb nur kurz: Beim Videoüberwachungsverbes- mehr Schutz für die Grundrechte der Bürgerinnen und serungsgesetz geht es um öffentlich zugängliche Plätze; Bürger, keine falschen Versprechungen, sondern viel- mehr Maßnahmen, die wirklich helfen und die Grund- die Regelung für den privaten Raum ist bereits diskutiert rechte wahren . Wie Herr Lammert hier sagte: Sicherheit worden . Das müssen wir einfach leisten . Frau Renner, braucht Freiheit . die Abwägung zwischen Datenschutz und Sicherheit ist immer in der Diskussion, gar keine Frage . Aber wir ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben ja gerade an Beispielen aus der letzten Zeit gemerkt, sowie der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]) dass uns Videoaufnahmen geholfen haben . Wenn wir die U-Bahn-Station Schönleinstraße in Berlin sehen, wo Vizepräsident Johannes Singhammer: Chaoten einen Obdachlosen angezündet haben, Der Kollege Günter Baumann spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion . (Dr .Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch etwas ganz anderes!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) so war es dort nur durch Videoüberwachung möglich, dass die Täter erkannt worden sind . Günter Baumann (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Dr .Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben wir Kollegen! Die Sicherheitslage in Deutschland hat sich gar nicht in Abrede gestellt!) verändert . Wir haben eine Zunahme terroristischer Be- Wir können dankbar sein, dass dort Kameras installiert drohung, und wir haben eine Zunahme an Kriminalität waren und schnell gehandelt werden konnte . Bei dem generell . Wir haben eine Zunahme an Wohnungseinbrü- schrecklichen Anschlag am 19 . Dezember 2016 in Berlin chen, Autodiebstählen und Rauschgiftdelikten . Wir ken- nen die Statistiken . Es beunruhigt uns alle . hatten wir eben keine Aufnahme, weil die Berliner Poli- zei das relativ restriktiv sieht . Wir haben in den letzten Jahren eine Reihe von Ge- setzen in Kraft gesetzt, um die Sicherheit zu erhöhen, (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Darüber strei- und merken: Es reicht nicht aus . Wenn wir vor Jahren in ten wir ja gar nicht, Herr Kollege!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21659

Günter Baumann (A) Am Ende haben wir Bürger gefragt, ob jemand Handy- Zuhören! – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE (C) aufnahmen hat, um uns zu helfen . GRÜNEN]: Den falschen Zettel herausgeholt! Lesen Sie einmal den richtigen Zettel vor! (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dann verstehen wir uns!) NEN]: Vorher an der Moschee hatten wir Auf- nahmen!) – Okay . Sie haben ja gesagt: Wir wollen darüber reden . – Das ist schon mal ein Angebot . Ich denke, das ist schon Bei den Videoaufnahmen geht es also sowohl um die ein Ansatz . Identifizierung als auch um die Rekonstruktion einer Tat. Wenn wir die Möglichkeit haben, dann müssen wir sie Zum Thema Kennzeichenerfassung ist mir etwas Selt- einfach auch nutzen . sames eingefallen . Daneben ist bei Videokameras auch die Prävention (Dr .Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben wir entscheidend, da sich viele abschrecken lassen, wenn sie gemerkt!) Kameras sehen und wissen: Hier wird überwacht; hier kann ich nicht das tun, was ich vielleicht vorhatte . – Nein .– Das Seltsame ist, dass ich vor etwa 15 Jahren auch an diesem Pult stand und dasselbe Thema schon (Frank Tempel [DIE LINKE]: Das ist ja nun einmal diskutiert habe . Damals, vor 15 Jahren, hatten wirklich widerlegt!) wir eine rot-grüne Regierung . Ich bin damals beschimpft Zum Thema „Mobile Videotechnik/Body-Cams“: In worden, dass wir das nicht brauchen, weil die Sicher- Deutschland ist die Hemmschwelle von Chaoten total heitslage gar nicht so schlimm ist . Der Datenschutz ging gesunken; das ist etwas ganz Schlimmes . Zum Teil haben über alles . Dann haben wir das zu den Akten gelegt . sie überhaupt keine Hemmschwelle mehr . Steine auf Po- Seitdem hat sich die Lage wesentlich verschärft, ge- lizisten zu werfen, ist bei manchen Veranstaltungen schon rade in den Grenzregionen . Wer aus den Grenzregionen fast normal . Wenn wir sehen, dass 2015 64 000 Strafta- kommt, weiß, was sich dort abspielt: Crystal Meth, Au- ten registriert wurden, bei denen es um Angriffe gegen todiebstähle, hohe Kriminalität, organisierte Kriminali- Polizisten ging – es gab alleine 7 Tötungsversuche gegen tät . Dort müssen wir einfach die Möglichkeiten nutzen – Polizisten –, wird klar, Frau Mihalic: Es ist unverant- nicht generell, sondern anlassbezogen, bei bestimmten wortlich, wenn wir als Staat hier nicht handeln . Deswe- Situationen und in bestimmten Regionen . Dort müssen gen müssen wir die Möglichkeiten nutzen . wir Videoaufnahmen anfertigen . Sie werden sofort ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- löscht, wenn es keine Treffer gibt. Jedenfalls können sie ordneten der SPD) absolut helfen, etwas aufzuklären . (B) Im Freistaat Sachsen gab es vor kurzem das ganz Die Aufzeichnung von Notrufen ist, denke ich, das (D) schlimme Beispiel, dass bei dem Brand eines Asylbe- Selbstverständlichste der ganzen Welt . Ein Notruf bei der werberheimes Feuerwehrleute angegriffen worden sind. Polizei muss aufgezeichnet werden . Man muss sich noch Das muss man sich einmal vorstellen: Bürger sind eh- einmal anhören können, was genau gesagt wurde, und renamtlich bei der Feuerwehr tätig, opfern ihre Freizeit, man muss nachrecherchieren können . Die Länder, in de- sind für andere da und werden bei dem Einsatz an einem nen das schon lange gang und gäbe ist, würden über uns Gebäude, in dem sich Menschen befinden, von Chaoten lachen, wenn wir das nicht erlauben würden . Deswegen angegriffen! Und wir als Staat sagen: Na ja, gut, okay; können wir diesen Punkt ganz schnell abschließen . das ist halt so . – Nein, wir müssen hier alle Möglichkei- Meine Damen und Herren, die vorliegenden zwei Ge- ten nutzen, um Polizisten und Rettungskräfte zu schützen setzentwürfe helfen, die Sicherheit zu verbessern . Sie und ihnen zu helfen, weil das einfach nicht so sein kann . können sie nicht komplett garantieren, aber verbessern . Ich sage aber auch: Das ist nur ein Baustein, den wir Vor allen Dingen schützen diese Gesetzentwürfe unsere für Sicherheit brauchen . Das allein wird nicht alles re- Polizei noch mehr, und dazu sind wir verpflichtet. geln, aber alles zusammen, im Komplex, kann helfen . Herzlichen Dank . Die Polizei in Hessen hat einen entsprechenden Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- such gemacht. Die Zahl der Angriffe auf Polizisten ist um ordneten der SPD) 38 Prozent zurückgegangen . Wenn das nicht zum Nach- denken Anlass gibt, dann kann man Ihnen einfach nicht mehr helfen . Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner ist der Kollege Matthias Schmidt für Kollege Tempel, bei den Body-Cams geht es um den die SPD . Schutz der Polizei . Dass es Fehler geben kann, indem man die Kamera zu zeitig oder zu spät einschaltet oder (Beifall bei der SPD) in die falsche Richtung hält, ist klar – das kann alles pas- sieren –, aber nichts zu tun, ist zu hundert Prozent falsch . Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): (Frank Tempel [DIE LINKE]: Das habe ich Vielen Dank .– Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen ja wohl auch nicht gesagt! Sie haben ein und Kollegen! Prägnantes Merkmal unserer Arbeit ist Problem mit dem Zuhören offensichtlich! – das Abwägen – das Abwägen verschiedener Individual­ Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- interessen, um das Gemeinwohlinteresse herauszufiltern NEN]: Sie haben wohl ein Problem mit dem und sie zu einem Kompromiss zu bündeln . 21660 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Matthias Schmidt (Berlin) (A) Sie, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer auf den schließend mit den Aufnahmen um? Wie ist es um die (C) Tribünen, sehen heute hierfür ein sehr gutes Beispiel: die Eingriffs­tiefe in die Grundrechte tatsächlich bestellt? – verschiedenen Argumente für und gegen die Videoüber- Es macht einen großen Unterschied, ob die Bilder live in wachung und das Abwägen von uns Parlamentariern . einem Kontrollzentrum von Polizisten oder elektronisch Auslöser der Debatte sind drei furchtbare Anschläge im ausgewertet werden oder ob sie, wie in der U-Bahn üb- Juli letzten Jahres in Bayern: der Axtangriff in Würzburg, lich, 48 Stunden gespeichert werden, um sie nutzen zu der Sprengstoffanschlag in Ansbach und der Amoklauf können, wenn eine Straftat begangen worden ist . Die Bil- im Einkaufszentrum in München . Aber eine dramatische der in der U-Bahn, die nur gespeichert werden, werden Steigerung hat diese Debatte am 19 .Dezember 2016 hier sofort in die Leitzentrale geschaltet, wenn ein Notruf- in Berlin mit dem Attentat auf dem Weihnachtsmarkt am knopf gedrückt wird . Sie sehen, es gibt sehr viele Schat- Breitscheidplatz erfahren . Zeitgleich mit dem Anschlag tierungen . Wir müssen sehr intensiv miteinander um eine auf den Breitscheidplatz gab es zwei weitere abscheuli- Lösung ringen . che Verbrechen in Berlin, die mittels Videotechnik relativ schnell aufgeklärt wurden . Der erste Vorfall: Ein Mann Die Gesetze, die wir hier im Bundestag formulieren, hatte auf dem U-Bahnhof Hermannstraße eine Frau ge- müssen sich stets in der Realität bewähren . Trauriger An- treten, die daraufhin die Treppe herunterstürzte und sich lass sind hier die verübten Attentate . Mit den jetzt vor- schwer verletzte . Der andere Vorfall ereignete sich auf gelegten Gesetzentwürfen der Bundesregierung haben dem U-Bahnhof Schönleinstraße, wo ein Obdachloser wir eine sehr gute Diskussionsgrundlage für unsere Aus- angezündet wurde . schussberatungen . Ich wünsche uns allen eine saubere Abwägung im wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse . In diesem Zusammenhang hat mir ein Bürger, den ich sehr schätze, eine E-Mail geschrieben . Der Kernsatz Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit . lautete: Gegen Videoüberwachung kann doch wirklich niemand etwas haben . – In diesem Kernsatz war der ver- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zweifelte Ruf nach einem Gegenargument enthalten . Er wollte nicht, dass es eine flächendeckende Videoüberwa- Vizepräsident Johannes Singhammer: chung gibt, sondern wollte hören, dass wir dies sehr wohl Zum Abschluss dieser Aussprache hat der Kollege abwägen . Ja, Sie erleben es auch in dieser Debatte: Wir Marian Wendt für die CDU/CSU das Wort . Abgeordneten wägen die Argumente sehr intensiv ab . Selbstverständlich birgt jede Überwachung auch die (Beifall bei der CDU/CSU) Möglichkeit des Missbrauchs . Eine Lehrerin hat mir kürzlich erzählt: Sie hatte einen schweren Fahrradunfall . Marian Wendt (CDU/CSU): (B) (D) Der Klassiker, beim Rechtsabbiegen hat sie ein Lkw er- Herr Präsident ! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die wischt . Nach langem Krankenhausaufenthalt ist sie zum beiden vorliegenden Gesetzentwürfe gehen in die rich- Glück gesundet . Jetzt aber geht die juristische Debatte tige Richtung . Das Gesetz zur Verbesserung von Video- los, ob sie an dem Unfall eine Teilschuld hat oder nicht . aufzeichnungen konkretisiert und stellt klar, in welchen Der Vater einer ihrer Schüler ist Polizist . Er hat sie eines öffentlichen und halböffentlichen Bereichen videoüber- Morgens begrüßt mit der Aussage, er habe einmal in ihre wacht werden darf, nicht mehr und nicht weniger . Eine Akte geschaut, das sei ja wirklich ein furchtbarer Vor- Rechtsklarstellung ist immer im Sinne eines Rechtsstaa- gang .– Daran sieht man: Es gibt immer Missbrauchs- tes . Das Gesetz zur Einführung von Body-Cams ist für möglichkeiten . Wir müssen sehr gut aufpassen, dass sie mich ein wesentlicher Schritt hin zum weiteren Schutz nicht genutzt werden . unserer Polizistinnen und Polizisten . Neben der Zulas- Berlin – wir haben die Beispiele gehört – ist im Grun- sung von Kennzeichenlesegeräten und der Aufzeichnung de gut aufgestellt . Die Vorfälle in der U-Bahn in Berlin in Dienststellen eingehender Anrufe komplettieren die- wurden aufgeklärt; das ist positiv . Die Gesetzeslage ist se Gesetzentwürfe das Bündel der Maßnahmen, die die nicht so schlecht, dass keine Aufklärung erfolgen konn- Polizei ergreifen kann, um ihrer Arbeit so effizient wie te . Insgesamt gibt es in Berlin 15 000 Videokameras im möglich nachzugehen . Wir, also Sie und ich, liebe Kol- öffentlichen Raum, die meisten davon im öffentlichen leginnen und Kollegen, haben die Verantwortung und Personennahverkehr . Interessanterweise gibt es sie so gut die Pflicht, den Polizisten das Material, das Rechtsin­ wie gar nicht bei der S-Bahn . Dort gibt es zwar auf den strument und die Ausrüstung zur Verfügung zu stellen, Bahnsteigen ein paar Kameras; diese zielen aber eher auf die sie brauchen, um ihre Arbeit bestmöglich zu erfüllen . die Türen, um Abfertiger einzusparen . In den Zügen der Dabei weiß ich um den Widerspruch in unserem Land S-Bahn gibt es die Videoüberwachung noch gar nicht . in Bezug auf unsere Polizei . Tägliches Brot der Polizei Sie wird es mit der neuen Baureihe geben, die in vier ist der Schutz unseres Zusammenlebens, der Schutz der Jahren eingeführt wird . Bei der U-Bahn hingegen gibt es freiheitlich-demokratischen Grundordnung . Das ist eine die Videoüberwachung schon flächendeckend. ehrenvolle und wichtige Aufgabe . Einerseits wird der Po- Die Videokameras bei der U-Bahn führen mich zu lizei mit besonders hohen Vertrauenswerten in Umfragen einem weiteren Gedanken . Videotechnik ist – auch im dafür gedankt. Andererseits sind Polizisten – das finde übertragenen Sinne – nicht nur schwarz-weiß . Man kann ich schlecht – viel zu oft Objekt von Pöbeleien, Belei- nicht sagen: Mit Videotechnik ist es gut, ohne Video- digungen, Gewalt und Hass, von Stein- und Flaschen- technik ist es schlecht . Ganz wichtige Fragen, die hier würfen, bis hin zu Angriffen mit Molotowcocktails. Das bisher kaum diskutiert wurden, sind: Wie gehen wir an- Lagebild „Gewalt gegen Polizisten“ des Bundeskrimi- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21661

Marian Wendt (A) nalamtes weist für das Jahr 2015 über 33 000 Gewaltta- Bereichen notwendig ist . Wir dürfen unsere Anstrengun- (C) ten gegenüber Polizisten aus. Das finde ich beschämend. gen nicht ruhen lassen . (Beifall bei der CDU/CSU) Ich freue mich auf die Gesetzesberatungen und hoffe, dass wir diese zügig und erfolgreich abschließen . Vor allem finde ich es beschämend, weil ich davon über- zeugt bin, dass wir Menschen, die uns dienen – nicht nur Vielen Dank . die Polizei, sondern beispielsweise auch die Feuerwehr und das THW –, doch mit Respekt begegnen müssen . (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Sebastian Hartmann [SPD]) Damit kommen wir zur Ausgangsfrage: Wieso brau- chen wir eigentlich Body-Cams, wie im Gesetzentwurf Präsident Dr. : vorgesehen? Weil es leider in Deutschland eine Unkul- tur des Hasses und der Gewalt gegen Sicherheitskräfte Ich schließe die Aussprache . gibt . Die Tatsache, dass es eine solche Unkultur gibt, ist Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwür- völlig inakzeptabel, unabhängig davon, ob die Gewalt fe auf den Drucksachen 18/10939 und 18/10941 an die in von links oder von rechts kommt oder von vorgeblich der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- unpolitischen Tätern . Es ist unsere Aufgabe, dieser Ge- gen .– Andere Vorschläge liegen mir nicht vor und sind walt entgegenzuwirken . Dieses Problem lässt sich aber auch nicht erkennbar . Dann sind die Überweisungen so nicht allein mit Body-Cams lösen; denn hinter den An- beschlossen . griffen auf unsere Sicherheitskräfte stehen eine Unkultur und ein Hass, der viel tiefer geht . Die Gewalt gegen Po- Ich rufe nun unseren Zusatzpunkt 5 auf: lizisten beginnt nicht erst bei einem Steinwurf, sondern bereits bei Beleidigungen . Wo „Bullenschweine“- oder Eidesleistung der Bundesministerin für Wirt- „All Cops Are Bastards“-Rufe gang und gäbe sind und schaft und Energie entsprechende Plakate gezeigt werden, ist auch die kör- Der Herr Bundespräsident hat mir soeben mitgeteilt, perliche Gewalt gegen Polizisten nicht fern . Aus Worten dass er am 27 .Januar – das ist heute – gemäß Artikel 64 werden Taten; denn sie erzeugen ein Klima, in dem to- Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik leriert, ja sogar akzeptiert wird, dass das Gegenüber als Deutschland auf Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin Mensch weniger wert ist und Gewalt gegen ihn somit ge- den Bundesminister des Auswärtigen, Herrn Dr . Frank- rechtfertigt ist. Deswegen sind nach meiner Auffassung – Walter Steinmeier, und den Bundesminister für Wirt- um die Unversehrtheit von Polizistinnen und Polizisten schaft und Energie, Herrn , aus ihren (B) und allen anderen Einsatzkräften zu gewährleisten – auch Ämtern als Bundesminister entlassen und Herrn Sigmar (D) Beleidigungen unter Strafe zu stellen . Gabriel zum Bundesminister des Auswärtigen und Frau Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Brigitte Zypries zur Bundesministerin für Wirtschaft und vorigen Jahr zum Ruf „All Cops Are Bastards“ hat ge- Energie ernannt hat . zeigt: Es mangelt uns an einer gesetzlichen Grundlage, Nach Artikel 64 Absatz 2 des Grundgesetzes leistet gegen solche auch gegen die freiheitlich-demokratische ein Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Arti- Grundordnung gerichteten Beleidigungen vorzugehen . kel 56 vorgesehenen Eid . Herr Gabriel hat diesen Eid als Es ist grundsätzlich möglich, solche Beleidigungen unter Minister in dieser Wahlperiode bereits geleistet und wird Strafe zu stellen . Darum müssen wir uns weiterhin küm- daher nicht erneut vereidigt . mern . Die entsprechenden Straftatbestände werden ein weiterer Baustein zum Schutz unserer Polizistinnen und Frau Zypries, ich darf Sie zu mir bitten, um den im Polizisten sein . Dazu haben wir uns als sächsische Union Grundgesetz vorgesehenen Eid zu leisten . einstimmig verpflichtet. Wir haben auch eine mögliche Änderung des Strafgesetzbuches mit einem neuen § 90c (Die Anwesenden erheben sich) mit Unterstützung der Gewerkschaft der Polizei erarbei- tet . Brigitte Zypries, Bundesministerin für Wirtschaft und Energie: Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist der Beginn dieses von mir skizzierten Kulturwandels und eines bes- Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des seren Schutzes der Polizisten auf Bundesebene . Diejeni- deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha- gen, die uns schützen – wir müssen das wahrscheinlich den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze auf die Feuerwehr, das THW und auch auf Politessen im des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge- Alltag ausweiten –, haben einen hohen Schutz verdient . wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann Die hohen Vertrauenswerte für diese Sicherheitskräfte üben werde . zeigen das auch . Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Frau Bundesministerin, Sie haben den im Grundgesetz vorgesehenen Eid geleistet . Ich gratuliere Ihnen herzlich Weil es eine kleine Minderheit in diesem Land gibt, zur Übernahme dieses Amtes und wünsche Ihnen für die die Gewalt gegen Sicherheitskräfte ausübt, ist dieses Ge- Wahrnehmung der damit verbundenen Aufgaben viel Er- setz nötig . Ich denke aber auch, dass Prävention in allen folg . 21662 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

(A) Brigitte Zypries, Bundesministerin für Wirtschaft Unsere inhaltlichen Vorbehalte gegen CETA – übri- (C) und Energie: gens auch die Vorbehalte vieler Sozialdemokraten, vie- Vielen Dank . ler Kommunalpolitiker der Union, vieler Verbände, Ge- werkschaften und weiter Teile der Öffentlichkeit – sind (Beifall – Bundesministerin Brigitte Zypries bisher keinesfalls ausgeräumt worden . Im Gegenteil: Sie nimmt Gratulationen entgegen – Abg . Thomas kritisieren wie wir – ich sage es noch einmal: auch sehr Oppermann [SPD] und viele Sozialdemokraten –, dass mit CETA Konzernson- [SPD] überreichen Blumensträuße) derklagerechte zementiert werden, anstatt sie zwischen entwickelten Rechtsstaaten abzuschaffen, dass die Be- Präsident Dr. Norbert Lammert: griffe „faire und gerechte Behandlung“ und „indirekte Enteignung“ weiter im Vertrag stehen – obwohl den So- Meine Damen und Herren, nach der in der Tages- zialdemokraten etwas anderes versprochen wurde –, dass ordnung nicht vorgesehenen, aber absehbaren Gratula- es eben keinen Sanktionsmechanismus bei Verstößen ge- tionscour an die neue Bundesministerin will ich doch gen Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards gibt und dass die Gelegenheit nutzen, dem neuen Bundesminister des die öffentliche Daseinsvorsorge nicht umfassend ausge- Auswärtigen, Sigmar Gabriel, auch für diese neue Auf- nommen wurde . Sie kritisieren auch, wie es in einer Stu- gabe alle guten Wünsche des Hauses mit auf den Weg die von Nettesheim heißt, dass – ich zitiere jetzt – „das zu geben . ‚right to regulate’ … nur innerhalb der Liberalisierungs- (Beifall) strukturen von CETA wahrgenommen werden“ kann . Deshalb kann der Staat nicht mehr frei Regeln im Sinne Dem Kollegen Frank-Walter Steinmeier möchte ich des Allgemeinwohls setzen . für seine Tätigkeit in der Bundesregierung herzlich danken . Er bleibt uns ja, wenn vielleicht auch nicht bis Die sozialdemokratische Regierung der Wallonie, die zum Ende der Legislaturperiode, so doch eine Weile als tapfer Widerstand leistete, wurde – das wissen Sie alle – Mitglied dieses Hauses erhalten . Dann sehen wir einmal massiv unter Druck gesetzt und von einem Mitglied der weiter . EU-Kommission als „Kommunisten“ diffamiert. Nur mit List und Tücke wurde der Widerstand auch der SPD-Mit- In diesem Sinne können wir diesen Tagesordnungs- glieder ausgebremst . punkt abschließen . (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 29 auf: Bernd Westphal [SPD]: Ach, Unsinn! Mal sachlich bleiben!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus (B) Ernst, Susanna Karawanskij, Jutta Krellmann, Den Widerstand gegen CETA dadurch brechen zu wol- (D) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE len – jetzt wird es wirklich geschmacklos –, dass man LINKE CETA-Gegner und damit auch Teile der eigenen Partei mit Trump in einen Topf wirft, wie es gestern hier ge- Europa- und Verfassungsrecht wahren – Vor- schehen ist, das ist eine ganz üble Entgleisung und bedarf läufige Anwendung von CETA verhindern eigentlich einer Entschuldigung . Drucksache 18/10970 (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Überweisungsvorschlag: neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sie diffamieren Teile Ihrer eigenen Partei gleich mit, wenn Sie das durchgehen lassen . Ich weiß nicht, wie Sie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für das gegenüber denen rechtfertigen wollen, die im Eu- die Aussprache 60 Minuten vorgesehen .– Dazu höre ich ropaparlament und in dessen Ausschüssen gegen CETA keinen Widerspruch. Offenkundig können wir so verfah- gestimmt haben . Sind die auch für Trump, oder wie? So ren . einen Unfug wie die Äußerungen vom Genossen Heil Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen gestern habe ich selten in diesem Parlament gehört . Klaus Ernst für die antragstellende Fraktion das Wort . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese Rhetorik vergiftet die politische Debatte . Ihr einzi- Klaus Ernst (DIE LINKE): ger Sinn besteht darin, den politischen Gegner zu diffa- mieren und sich damit der inhaltlichen Argumentation zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst entziehen . Das ist nicht in Ordnung . einmal die besten Wünsche an die neue Wirtschaftsmi- nisterin, Frau Zypries . Alles Gute für Ihr neues Amt! (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wir haben heute CETA erneut auf der Tagesordnung, Meine Damen und Herren, die Positionierung der Zi- weil dies die letzte Gelegenheit für eine Aussprache vor vilgesellschaft, von Mitgliedern Ihrer Partei und vieler der Abstimmung über CETA im Europaparlament ist . politischen Akteure ist kein Protektionismus à la Trump . Sie wollen, dass die Anwendung in Kraft tritt, bevor die Selbstverständlich sind wir für Handel, und selbstver- Nationalstaaten entschieden haben . Das wollen wir mit ständlich sind wir für fairen Handel; aber der sogenann- unserem Antrag verhindern . te Freihandel im Rahmen von CETA ist eben kein fairer Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21663

Klaus Ernst (A) Handel . Wodurch zeichnet sich denn fairer Handel aus? Ich danke für die Aufmerksamkeit . (C) Fairer Handel zeichnet sich dadurch aus, dass Regeln ge- schaffen werden, dass sich in der globalen Konkurrenz (Beifall bei der LINKEN) eben nicht der Billigste durchsetzt, sondern der mit ho- hen Sozial- und Umweltstandards . Präsident Dr. Norbert Lammert: (Claudia Tausend [SPD]: Genau!) Nun erhält für die Bundesregierung die neue Bun- deswirtschaftsministerin das Wort . – Bitte schön, Frau Fairer Handel zeichnet sich dadurch aus, dass regiona- Zypries . le Wirtschaftsstrukturen berücksichtigt werden, erhalten bleiben und nicht dem Profitstreben international tätiger (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Großunternehmen geopfert werden . der CDU/CSU) ( [SPD]: Deshalb muss es Bundesministerin für Wirtschaft aber geregelt werden!) Brigitte Zypries, und Energie: Fairer Handel zeichnet sich dadurch aus, dass alle Regi- Vielen Dank .– Herr Präsident! Meine sehr geehrten onen der Welt eine reale Chance für ihre wirtschaftliche Damen und Herren! Man muss sich ja fast bedanken für Entwicklung haben und eben nicht dazu gezwungen wer- die Chance, wenige Minuten nach der Ernennung schon den, ihre Märkte zu öffnen und ihre eigenen Wirtschafts- die erste Rede halten zu dürfen, und das an diesem Ort, strukturen damit zu zerstören . den Frank-Walter Steinmeier gestern sinngemäß als den Ich weiß, Sie wissen das alles, und Sie wissen auch, Ort der demokratischen Auseinandersetzung bezeichnet dass CETA diesen Anforderungen nicht gerecht wird . hat, also als einen Ort, wo Themen diskutiert werden, Auch die Grundwertekommission der SPD findet – ich die die Gesellschaft beschäftigen, und wo wir vor allen zitiere –, dass „eine Aussetzung des vorläufigen Inkraft- Dingen über die Lösungen diskutieren, über die Gesetze, tretens sachlich betrachtet erforderlich und ein Akt poli- mit denen wir die Gesellschaft in unserem Sinne gerecht tischer Klugheit“ wäre . Es ist ganz und gar absurd, ein gestalten wollen . Abkommen in Teilen in Kraft zu setzen, solange, erstens, Natürlich machen wir das auch und gerne öfter zum die Verfassungsmäßigkeit noch nicht endgültig geklärt selben Thema, so zum Beispiel bei CETA . Ich weiß nicht ist, solange, zweitens, erhebliche Zweifel an der Verein- genau, der wievielte Antrag der Linken zu CETA das barkeit mit den Verträgen der EU bestehen und solange, heute ist; sehen Sie es mir nach . drittens, überhaupt nicht klar ist, wie man diese vorläufi- ge Anwendung wieder beenden kann – und das ist nicht (Dr . Heribert Hirte [CDU/CSU]: Das kann (B) klar . man nicht mehr zählen!) (D) (Beifall bei der LINKEN) Ich weiß aber, dass das Bundesverfassungsgericht schon zweimal entschieden hat, dass alles, was wir mit CETA Nach Ansicht der EU-Kommission und des Juristi- machen, im Sinne der Verfassung ist . schen Dienstes des Europäischen Parlaments kann die vorläufige Anwendung nur durch Ratsbeschluss beendet (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu- werden . Der frühere Bundeswirtschaftsminister behaup- rufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tete, dass ein EU-Mitglied die vorläufige Anwendung Zuletzt am 7 . Dezember letzten Jahres hat der Zweite einseitig beenden kann . Wer hat nun recht? Senat festgestellt, dass die Bundesregierung die vom (Dr . Heribert Hirte [CDU/CSU]: Das Bundes- Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Maßnahmen verfassungsgericht!) über die Unterzeichnung und auch, Herr Ernst, über die vorläufige Anwendung von CETA korrekt umgesetzt hat. – Aha . Es entscheidet aber nicht über das, was in der EU Das heißt: Was wir machen, ist von der Verfassung ab- passiert . gesegnet . (Dr . Heribert Hirte [CDU/CSU]: Doch!) Jetzt können Sie einwenden: Das ist ja alles nur ein Der frühere Bundeswirtschaftsminister hat etwas an- Eilverfahren; die Entscheidung in der Hauptsache steht deres behauptet, als die EU letztlich gesagt hat . noch aus . Ich weiß ja, wie es ausgeht: Sie werden den Antrag (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!) ablehnen . Aber ich sage Ihnen: Der Widerstand gegen Diesem Urteil sehen wir gelassen entgegen, meine Da- CETA wird weitergehen. Keinesfalls ist die Ratifizie- men und Herren. Wir sind der Auffassung, dass mit CETA rung in allen Mitgliedstaaten sicher . Selbst im Bundesrat die demokratischen Rechte nicht beschnitten werden . ist eine Mehrheit für CETA offen. Deshalb sage ich Ih- Vielmehr haben wir mit dem Abkommen jetzt endlich die nen – das richtet sich an die Sozialdemokraten –: Hören Chance, einen modernen Investitionsschiedsgerichtshof Sie einmal auf Ihre Grundwertekommission! Sie ist sehr zu schaffen und damit auch Maßstäbe für künftige Han- klug . Sie sagt: CETA so lange nicht endgültig in Kraft delsverträge zu setzen . setzen, solange die offenen Fragen nicht geklärt sind. – Es wäre schön, wenn sich die sozialdemokratische Frak- In Zeiten, in denen in Nordamerika Mauern gebaut tion auf das beziehen würde, was auch in ihrer Partei werden und mit protektionistischen Schutzzöllen gedroht diskutiert wird . wird, ist es wichtiger denn je, dass wir Europäer uns einig 21664 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) sind: Wir stehen zusammen, und wir stehen gemeinsam Wir wollen es als Blaupause für künftige Abkommen (C) für faire und für offene Handelsbeziehungen. nehmen . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Besten Dank . In einer globalisierten Welt kann der Bau von Mauern (Beifall bei der SPD und der CDU) keine Antwort sein . (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Präsident Dr. Norbert Lammert: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Wort erhält nun die Kollegin Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . CETA bedeutet Fortschritt auf dem Weg zu einer so- zialen und nachhaltigen Gestaltung der Globalisierung . Deutschland steht für offene Märkte. Unsere Volkswirt- Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schaft hängt fundamental von den internationalen Vernet- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und zungen und von dem Marktzugang ab, den wir weltweit Kollegen! Sehr geehrte Frau Zypries, zunächst einmal brauchen . Wer, wenn nicht wir, muss deshalb für fairen auch von mir herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Ernen- und freien Handel einstehen? nung als Wirtschaftsministerin. Ich hoffe, dass wir wei- terhin so intensive und kontroverse Debatten miteinander (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- führen können wie mit Ihrem Vorgänger . ten der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ist er denn fair?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sigmar Gabriel hat das getan, und ich denke, es gebührt Jetzt zum Antrag der Linken . Aus meiner Sicht ist es ihm aller Dank dafür, dass er CETA mit neuen Ideen und sehr richtig und wichtig, dass wir heute noch einmal über auch mit großem Engagement zu dem fortschrittlichsten das Handelsabkommen CETA diskutieren . Denn wenn Handelsabkommen fortentwickelt hat, das wir je hatten . das Europaparlament in der nächsten Sitzungswoche über das CETA-Abkommen entscheidet und, so wie es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten jetzt aussieht, dem Abkommen zustimmen wird, startet der CDU/CSU) hier in Deutschland der Ratifizierungsprozess. Natürlich wäre es schön, Herr Ernst – das ist es ja, was Damit startet ein Prozess, in dem für uns als Parla- Sie kritisieren –, wenn wir es schaffen könnten, dieses ment weiterhin viele Fragen offen sind, Fragen, die wir Handelsabkommen für die ganze Welt abzuschließen . versucht haben in den letzten drei Jahren miteinander zu (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dieses brauchen diskutieren, Fragen, auf die wir aber gerade von Ihnen (B) wir nicht!) als denjenigen, die CETA umsetzen wollen, keine Ant- (D) worten bekommen haben, Fragen, mit denen sich jetzt Leider aber ist die Welthandelsorganisation wenig bereit, das Bundesverfassungsgericht beschäftigen und die es Verhandlungen mit allen zu führen und zu Beschlüssen im Mai oder Juni entscheiden wird . zu kommen . Das ist der Grund dafür, dass wir so viele bilaterale und multilaterale Handelsabkommen schließen Dazu gehört zum Beispiel die Frage: Was passiert ei- müssen . gentlich, wenn dieses Abkommen abgeschlossen wird? Dann gibt es nämlich Gremien, die den Vertragstext fort- Ich denke, CETA ist ein Handelsabkommen, das entwickeln und verändern können, Gremien, von denen die richtigen Standards setzt, sowohl bei der Frage der wir nicht wissen, welche Kompetenzen sie haben, Gre- Schiedsgerichte als auch in der Frage der Beibehaltung mien, von denen wir nicht abschließend wissen, wie sie der Arbeitnehmerrechte und der Wahrung der kulturellen zusammengesetzt sind, Gremien, die aber gegebenenfalls Vielfalt . Wir stellen mit diesem Abkommen sicher, dass über die Zukunft dieses Vertrages entscheiden können, wir Maßnahmen zur Gestaltung und zur Organisation der ohne dass sichergestellt ist, dass Sie, dass wir als Parla- Daseinsvorsorge aufrechterhalten . Es ist klar, dass das ment über dieses Abkommen noch mitentscheiden kön- „right to regulate“ nicht angetastet wird. Von daher fin- nen, weder im Europaparlament noch hier im Deutschen de ich, dass wir mit CETA ein gutes Abkommen haben; Bundestag. Diese Frage ist offen. Diese Frage haben wir es ist ein wichtiges Signal gegen Protektionismus . Das der Bundesregierung zigfach gestellt . Auf diese Frage Abkommen wurde in einem fairen, offenen Prozess von haben wir bis heute keine Antwort bekommen . Genau den Mitgliedstaaten unterzeichnet . Es wird jetzt in einem das ist sinnbildlich für Ihren Umgang mit diesem Ab- demokratischen Verfahren weiterbehandelt . Es wird von kommen . Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir allen nationalen Parlamenten sowie vom Europäischen hier im Parlament dieses Abkommen immer wieder zum Parlament legitimiert und ratifiziert. Thema machen . Ein solches Abkommen gerade in diesen international (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN politisch problematischen Zeiten so zu diskreditieren, und bei der LINKEN) halte ich nicht für richtig . Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, jetzt über die in- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ternationale Handelspolitik zu diskutieren, weil sich ja Ich bedanke mich deshalb bei all denen, die mit uns ge- in den letzten Monaten ungeheuer viel in der internati- meinsam diesen Weg gehen und sagen: Jawohl, wir ste- onalen Debatte verschoben hat . Auch damit müssen wir hen zu CETA . CETA ist ein gutes Abkommen und wird als Parlament uns beschäftigen . Die Wahl von Donald den Handel zwischen Kanada und Europa verbessern . Trump hat zu einer Achsenverschiebung geführt . Seine Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21665

Katharina Dröge (A) Ankündigungen, auf Einfuhren ausländischer Unter- Westphal [SPD]: Das machen wir doch seit (C) nehmen Strafzölle zu verhängen, eine nationalistische Jahren, und Sie verweigern sich! Das ist der Wirtschaftspolitik durchzusetzen, nur noch auf bilaterale Punkt!) Abkommen zu setzen, das Brechen der WTO-Regeln in Sie könnten als Antwort auf Donald Trump, der die Kauf zu nehmen und gegebenenfalls auch gezielt eine fortschrittliche Finanzmarktregulierung der letzten Jahre Schwächung der Europäischen Union zu provozieren, zurückdrehen will, sagen: Wir setzen uns mit Kanada für sind Herausforderungen, die völlig neu sind . All das gute Regeln auf den Finanzmärkten ein . – Das steht im sind Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen Abkommen aber nicht drin . und vor deren Hintergrund jetzt auch ein Innehalten und Nachdenken notwendig wäre . (Gabriele Katzmarek [SPD]: Wie oft wollen Sie das noch machen?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie könnten als Antwort auf May, als Antwort auf Trump, Angesichts dieses Erstarkens des Nationalismus und die Steuerdumping wollen, sagen: Wir vereinbaren mit angesichts dieser Herausforderungen, vor denen wir ge- Kanada gute Regelungen zur Bekämpfung von Steuer- rade stehen, fand ich es umso bedenklicher, wie wir die hinterziehung .– Das steht im Abkommen aber nicht drin . gestrige Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht hier im Parlament geführt haben . Ich fand es ebenso bedenk- lich, dass ein ehemaliger Bundeswirtschaftsminister und Vizepräsidentin : künftiger Außenminister nichts anderes zu dieser Debat- Erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung te zu sagen hatte außer: Wir machen einfach so weiter von Herrn Ernst? wie bisher . Wir ziehen CETA durch .– Sie überlegen noch nicht einmal mehr, ob es einen Moment gibt, wo Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): man analysieren und nachdenken muss . Die Antwort ist Ja . Das ist übrigens meine erste Zwischenfrage in die- einfach nur: Ich habe recht, weil ich es immer schon so sem Parlament überhaupt . Voll cool . gemacht habe .– Und all diejenigen, die das nicht sehen, sind entweder auf der Seite von Donald Trump oder – (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ noch schlimmer – verstehen einfach nicht, was Sigmar DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Gabriel sich da Geniales gedacht hat . Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Es ist manchmal schwierig, bei Ihnen dazwischenzu- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – kommen . Bernd Westphal [SPD]: Dann müssen Sie zu- (B) hören!) (D) Klaus Ernst (DIE LINKE): Gerade diese Art ist jetzt nicht angemessen . Gerade Kollegin Dröge, das liegt daran, dass sich die anderen jetzt wäre es wichtig, innezuhalten und zu schauen: Was nicht trauen . ist da in den USA eigentlich passiert? Ich habe folgende Frage: Sie haben von neuen As- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN pekten gesprochen . Wir haben den Fakt: Donald Trump und bei der LINKEN) schottet sein Land ab . Das heißt, der Handel der Europä- Wenn wir die Debatte in den USA beobachten, dann er mit den Amerikanern wird eher schwieriger werden . sehen wir, dass es da ein Zerrbild gibt zwischen einer Gleichzeitig können die Amerikaner, die Dependancen in unregulierten Globalisierung auf der einen Seite und Kanada haben, den Vorteil des CETA-Abkommens nut- Donald Trump auf der anderen Seite, der sagt: Wir ma- zen . Durch die Abschottung der Amerikaner können die chen die Grenzen dicht . Ich verspreche euch: Wenn ich Europäer nicht gegenüber den Amerikanern die Vorteile, die Grenzen schließe, dann bleiben die Jobs hier im die immer erwähnt werden, nutzen . Stimmen Sie aus Ih- Land, und dann werde ich diese Jobs sichern . – Genau rer Sicht zu, dass auch das allein schon ein Grund wäre, diese Verkürzung, dieses Schwarz-Weiß-Bild, dieses dass man die vorläufige Anwendung des Abkommens Zerrbild ist es, was Probleme in der Gesellschaft provo- nicht macht und abwartet, was passiert? ziert . Genau dieses Zerrbild ist es, das die Rechten und (Andreas G . Lämmel [CDU/CSU]: Dann Nationalisten erst stark macht . Deshalb ist es so wichtig, warten wir noch drei Jahre!) eine Debatte zu führen, die Alternativen aufzeigt, eine Debatte zu führen, die zeigt, wie eine faire Handelspoli- Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tik aussieht . Dazu hätten Sie hier die Chance, wenn Sie einmal nachdenken würden . Wenn Sie CETA zum An- Sehr geehrter Herr Kollege Ernst, wir sind uns in der lass nehmen würden, jetzt mit den Kanadiern, mit einer Sache einig, dass wir die vorläufige Anwendung dieses neuen kanadischen Regierung, die uns durchaus näher Abkommens stoppen wollen, und zwar aus vielen inhalt- ist als ihre Vorgängerregierung, neu zu verhandeln, dann lichen Gründen, die wir hier im Parlament miteinander könnten Sie sagen: Wir Europäer zeigen der Welt jetzt, diskutiert haben . Hinsichtlich der Frage des Verhältnisses wie ein gutes Abkommen aussieht . – Das wäre Ihre Auf- zwischen den USA und Kanada stehen auch die kanadi- gabe . schen Kolleginnen und Kollegen vor vielen Fragen, vor vielen Herausforderungen, weil Trump auch angekündigt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat, dass er das Freihandelsabkommen NAFTA auf den sowie bei Abgeordneten der SPD – Bernd Prüfstand stellen wird . Was das für die Kanadier bedeu- 21666 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Katharina Dröge (A) tet, werden sie erst in den nächsten Wochen und Mona- Tag! – Nächster Redner: Andreas Lämmel für die CDU/ (C) ten sehen . Was das im Umkehrschluss für ein mögliches CSU-Fraktion . Abkommen mit der Europäischen Union und Kanada (Beifall bei der CDU/CSU) bedeutet, kann man jetzt nicht abschließend beurteilen . Deswegen müssen wir abwarten, müssen wir schauen, was passiert . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Schönen guten Tag, Frau Präsidentin! Frau Ministerin Weil auch die Kanadier vor der Herausforderung ste- Zypries, herzlichen Glückwunsch zur Ernennung! Wir hen, dass NAFTA als Freihandelsabkommen – das hat- sind uns nicht fremd . Wir arbeiten schon viele Jahre mit te für sie durchaus Nachteile, aber natürlich auch wirt- Ihnen gut zusammen, als Sie noch als Staatssekretärin schaftliche Vorteile – gegebenenfalls zur Debatte steht, im Amt waren. Ich hoffe, wir werden noch die restlichen ist gerade jetzt ein wichtiger Zeitpunkt, um mit den Ka- acht Monate eine fruchtbare Zeit für die deutsche Wirt- nadiern noch einmal darüber zu sprechen, wie ein gutes schaftspolitik haben . Abkommen aussehen könnte . Gerade jetzt ist die Gele- genheit da, zu sagen: Wir machen einen Neustart bei den Frau Dröge, gestern hat Ihr Spitzenkandidat, Herr Gesprächen mit den Kanadiern und reden noch einmal Özdemir, sich als großer Kämpfer für Handelspolitik dar- darüber, ob wir es nicht schaffen, ein vorbildliches Ab- gestellt . Heute haben Sie die Wendung nach hinten voll- kommen mit guten Regeln und ohne Schiedsgerichte, zogen . Im Prinzip sind Sie genau in das Muster gefallen, die Sie implizit mit Ihrer Frage gemeint haben, zu veran- das Sie seit Monaten hier bieten . Sie müssen sich doch kern . Das wäre jetzt die Chance . Dass die Bundesregie- mal Ihre eigenen Argumente auf der Zunge zergehen rung überhaupt nichts tut, dass sie einfach nur sagt: „Wir lassen . Sie haben die Begründung dafür, dass wir CETA machen die Augen zu, wir ziehen CETA durch“, ist das jetzt schnellstmöglich abschließen sollten, eigentlich Problem . Das müssen wir jetzt thematisieren . selbst geliefert (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Nee!) und bei der LINKEN) Denn CETA, also das Abkommen zwischen der Europä- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich kann ischen Union und Kanada, ist das modernste Handelsab- nur an Sie appellieren. Wir haben jetzt eine Verpflich- kommen, das es weltweit gibt . tung, nachzudenken, innezuhalten, alle miteinander in eine vernünftige parlamentarische Debatte einzusteigen . Sie haben NAFTA, also das Abkommen zwischen Ka- Schuldzuweisungen und „Augen zu“ werden nicht funk- nada, den USA und Mexiko, angesprochen . Es ist fast 30 Jahre alt . Inhaltlich liegt CETA meilenweit vor dem (B) tionieren . Wir bieten Ihnen unsere Zusammenarbeit an . (D) Trauen Sie sich einfach, haben Sie Mut, lassen Sie da- NAFTA-Abkommen . Alle Themen, die hier im Hause von ab, es durchzuzwingen . Ich weiß, dass Sie von der diskutiert worden sind, die draußen in der Zivilgesell- SPD Schwierigkeiten haben, dies mit der CDU/CSU schaft diskutiert worden sind, die auf den Großdemons­ durchzusetzen . Nur ist dort leider weniger Erkenntnis trationen eine Rolle spielten, die Sie von den Linken und vorhanden als bei Ihnen . Deshalb appelliere ich an Sie, den Grünen mit angeführt haben, sind im Prinzip verhan- weil Sie schon jetzt Teile in Ihrer Fraktion haben, die im delt und im Abkommen berücksichtigt worden . europäischen Handelsausschuss, aber auch hier im Par- Unser Wirtschaftsminister hat – ich glaube, misstrau- lament gesagt haben: Ihr erkennt wenigstens einen Teil isch beäugt von den europäischen Partnern, denn es ist unserer Kritik an .– Das ist bei der CDU/CSU deutlich ja kein deutsches, sondern ein europäisches Abkom- schwieriger . men – noch viele Dinge durchsetzen können, was man vielleicht vor einem Dreivierteljahr überhaupt nicht er- Lassen Sie uns gemeinsam handeln und sagen: Wir ahnen konnte . Ich kann also Ihre Kritik überhaupt nicht wagen jetzt den Neustart . Leider hat Herr Gabriel – und verstehen – im Gegenteil . Sie sagen, wir brauchen ein auch Herr Heil – gestern gesagt, dass sich alle, die CETA modernes Abkommen . Wenn Sie das erreichen wollen, kritisieren, auf die Seite von Trump stellen . Hören Sie heißt das: Wir müssen das Abkommen jetzt in Kraft set- damit auf und sagen Sie: Wir nutzen gemeinsam die zen . Es ist wichtig – vor allem hat es einen enorm hohen Chance für eine faire Handelspolitik und beweisen den symbolischen Wert –, dass wir uns gerade in dieser Zeit, Menschen, dass es geht, dass Globalisierung Gewinner die Sie ja auch beschrieben haben, mit einem US-Präsi- erzeugt, wenn sie fair ausgestaltet ist; gewinnen sollen denten, der Handelsabkommen sozusagen mit einem Fe- alle Menschen in diesem Land, gewinnen soll sowohl die derstrich beendet und seine ganzen Partner ohne Zögern Umwelt als auch die Unternehmen . Das wäre eine Rie- vor den Kopf stößt, senchance und eine großartige Antwort auf den erstar- kenden Nationalismus . (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist an- tiamerikanisch! Wie können Sie so was sa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Lämmel ist sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Antiamerikaner!) zu einem Handel zu fairen Konditionen bekennen – ge- Vizepräsidentin Claudia Roth: nau so, wie Sie es gesagt haben . Dafür bietet CETA die beste Basis . Vielen Dank, Katharina Dröge .– Schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, an diesem bewegenden (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21667

Andreas G. Lämmel (A) Vor allen Dingen würde dies zeigen, dass Europa hand- voranschreiten kann? Das sind doch die grundsätzlichen (C) lungsfähig ist, meine Damen und Herren . Fragen . Ich will es mal so sagen: Sie sagen nie, dass die Dis- Ich kann festhalten: Die Gerichte in Deutschland ha- kussion in anderen europäischen Ländern ganz anders ben erst einmal entschieden . Sie haben die Anträge der verläuft, Linken, auch die Eilanträge, abgewiesen . Das heißt, der Weg ist jetzt erst einmal frei. Dann muss das Ratifizie- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: In der Wallonie rungsgesetz eingebracht werden. Im Rahmen des Ratifi- zum Beispiel!) zierungsprozesses haben wir noch so viele Stunden Zeit, dass Deutschland sozusagen als Bremser im Bremser- über all diese Dinge zu diskutieren . Die Linken werden häuschen sitzt, anstatt als Lokomotive vorneweg zu fah- den 150 .Antrag schreiben, in dem immer das Gleiche ren . steht . (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wie viele haben (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wallonie, Öster- Sie denn gemacht, Herr Lämmel? Gar kei- reich!) nen!) Das ist doch das Problem . Man kann nur sagen: Das, – Es kam von Ihnen kein einziges neues Argument, Herr was Sie jetzt hier machen, spielt all jenen Leuten in die Ernst . Sie führen nur das weiter, was Sie hier schon seit Hände, die sowieso europafeindlich eingestellt sind, die fünf Jahren erzählen . In Ihrem Antrag steht immer nur: gegen die Globalisierung sind . können, können, können, möglicherweise, können, kön- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Antiameri- nen, können . Das ist im Prinzip also nur ein Können-kön- kanisch!) nen-können-Antrag, aber Sie können es eben nicht rich- tig; das ist das Problem . – Genau . – Bei dem Spiel machen Sie mit . Frau Dröge, damit werden Sie letztendlich keinen Beitrag zur Ent- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – wicklung der Wirtschaftspolitik in Deutschland leisten . Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und Sie machen es nicht mal! Die Koalition macht parlamen- Man muss einmal sagen: Natürlich wäre es schön, tarische Arbeitsverweigerung in dieser Frage!) wenn man das umsetzen könnte, was Herr Ernst immer Ich kann nur sagen: Die substanziellen Punkte, die verkündet: Wir brauchen weltweite Abkommen .– Aber wir in der politischen Diskussion über CETA besprochen jeder, der die Verhältnisse in der WTO kennt, weiß, dass haben, sind aufgenommen worden . Vieles ist in dem Ab- dort schon seit Jahren kaum ein Millimeter Fortschritt zu kommen untergebracht worden . Ich kann nur darauf ver- erzielen ist, weil zum Beispiel Länder wie Indien immer (B) weisen: Im Ratifizierungsprozess können wir uns lange (D) auf der Bremse stehen und Russland auf der Bremse ge- genug darüber unterhalten . standen hat . Wenn man eben kein weltweites Abkommen in der Art und Weise, wie wir uns ein modernes Abkom- Ich finde, Ihr heute vorgelegter Antrag war überflüs- men vorstellen, zustande bekommt, dann muss man eben sig . versuchen, erst einmal über bilaterale Abkommen einen (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Ihre Rede!) Schritt weiterzukommen . Wir werden Ihrem Antrag natürlich nicht zustimmen Ich habe es schon gestern vor dem Plenum gesagt: können . Es läuft im Moment der G-20-Prozess . Deutschland hat die Präsidentschaft in der G 20 . Ein Kernpunkt der Vielen Dank . G-20-Präsidentschaft ist die Diskussion über die Chan- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr . Petra Sitte cen und die Risiken der Globalisierung . Dieser Punkt [DIE LINKE]: Oh, das überrascht mich!) passt genau ins Bild; denn man weiß ja überhaupt nicht, was Herrn Trump eigentlich bewegt oder was er vorhat: Will er sich sozusagen – wie er es im Moment macht – Vizepräsidentin Claudia Roth: völlig abschotten, Mauern bauen, Handelsabkommen be- Vielen Dank, Andreas Lämmel .– Nächster Red- enden, will er sozusagen in seinem eigenen Saft weiter ner: Hansjörg Durz für die CDU/CSU-Fraktion, Augs- schmoren, und gelten eigentlich überhaupt keine Abspra- burg-Land . chen mehr, die in den letzten Jahrzehnten gemacht wor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – den sind? Insofern ist dieser G-20-Prozess im Moment Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU einer der wichtigsten Diskussionsprozesse, in dem sich und der SPD) die amerikanische Politik letztendlich zu klaren Aussa- gen bekennen muss: Hansjörg Durz (CDU/CSU): ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank .– Sehr geehrte Frau Präsidentin! Mei- NEN]: Oh! „Klare Aussagen“?) ne sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich darf der Ministerin zunächst Wollen wir weiterhin freien Handel in der Welt haben? ganz herzlich gratulieren . Ich freue mich auf die Zusam- Wollen wir Handelsschranken weiterhin abbauen? Wol- menarbeit . len wir zu modernen Handelsabkommen kommen, damit der Wohlstandszuwachs in der Welt, der in den letzten Sie haben schon erwähnt, dass wir zum x-ten Mal über Jahrzehnten mit der Globalisierung einherging, weiter einen Antrag zu CETA beraten . Heute versuchen die Lin- 21668 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Hansjörg Durz (A) ken – diesmal mit juristischer Argumentation –, das Ab- der vierte Arbeitsplatz in Deutschland hängt am Export . (C) kommen in irgendeiner Weise zu bremsen, zu verhindern . Ohne den Zugang zu internationalen Märkten fiele das Die im vorliegenden Antrag infragegestellte Konformität Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland um gut 50 Prozent der vorläufigen Anwendung von CETA steht im Wider- niedriger aus . Unsere Exportquote lag 2015 bei 46,9 Pro- spruch zur Auffassung des Bundesverfassungsgerichts. zent des Bruttoinlandsprodukts . Es ist erwähnt worden: Der Zweite Senat hat vor kur- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Alles ohne zem eindeutig festgestellt, dass die Bundesregierung die CETA!) vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Maßgaben vor der Zustimmung zur vorläufigen Anwendung von Diese Zahlen zeigen: Der internationale Handel ist CETA umgesetzt hat . Weder hat die Bundesregierung Grundlage unseres Wohlstandes . einer vorläufigen Anwendung von CETA in bestimmten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sachgebieten wie Investitionsschutz, Portfolioinvestitio- ordneten der SPD) nen, Anerkennung von Berufsqualifikationen oder dem Arbeitsschutz zugestimmt, noch hegt das Bundesverfas- Angesichts dessen muss es in unserem ureigenen Inte- sungsgericht Zweifel an der Möglichkeit Deutschlands resse liegen, erfolgreichen Außenhandel voranzutreiben . gemäß Artikel 30 des Vertrages, die vorläufige Anwen- Mit ausgewogenen Freihandelsabkommen verbessern dung von CETA einseitig zu beenden . Die Bundesregie- wir die Marktzugangsmöglichkeiten, schaffen Rechtssi- rung habe diese Erklärung in völkerrechtlich erheblicher cherheit in den internationalen Handelsbeziehungen und Weise abgegeben und eindeutig notifiziert. – Dem ist im ermöglichen es auch, die Gestaltung internationaler Han- Grunde nichts hinzuzufügen . delsregeln zu prägen . Das Freihandelsabkommen CETA hat in dieser Wo- Die Entwicklungen in der Welt deuten aktuell aber in che eine weitere wichtige Hürde genommen . Der Han- eine andere, in eine besorgniserregende Richtung . Wir delsausschuss des Europäischen Parlaments stimmte mit beobachten einen zunehmenden Rückzug ins Nationale . großer Mehrheit für den Vertrag und hat damit den Weg Freihandel gerät unter Druck . Was vor kurzem noch un- zur Verabschiedung von CETA im Europäischen Parla- denkbar schien: Sowohl in den USA als auch in Großbri- ment im kommenden Monat freigemacht . Das sind gute tannien sind anstelle von grenzüberschreitendem Handel Nachrichten: gute Nachrichten für den freien Handel und und offenen Märkten Protektionismus und Abschottung gute Nachrichten für die wirtschaftliche Entwicklung . auf dem Vormarsch, und das – wie wir feststellen, wenn wir die Berichterstattung in den letzten Tagen verfol- (Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich gen – offensichtlich in atemberaubendem Tempo. [DIE LINKE]: Und schlechte Nachrichten für (B) die Arbeitnehmer und für die Umwelt!) Der Ausstieg der USA aus dem transpazifischen Frei- (D) handelsabkommen hat zwei Dinge verdeutlicht: Mit CETA liegt ein exzellentes Freihandelsabkommen auf dem Tisch . CETA wird bestehende Handelshemmnis- Erstens . Der neue US-Präsident macht Ernst, all das se spürbar reduzieren, indem Zölle für Industriegüter um- umzusetzen, was er im Wahlkampf angekündigt hat . Er fassend abgebaut und der Marktzugang im Bereich der ist fest entschlossen, sich auf das Nationale zurückzu- öffentlichen Beschaffung verbessert wird. Es bekräftigt ziehen und den freihandelspolitischen Rückzug der USA soziale und ökologische Standards und schützt europäi- anzutreten . sche und kanadische Eigenheiten und Errungenschaften . Zweitens . China ist fest entschlossen, das dadurch ent- Es stellt sicher, dass wir Maßnahmen zur Gestaltung und stehende Vakuum zu seinen Gunsten zu nutzen . Organisation der Daseinsvorsorge und zur Regulierung in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Soziales, Was- Wie reagieren wir auf diese Situation? Wir müssen serversorgung, Kultur und Medien auch zukünftig in un- verdeutlichen, dass Protektionismus die falsche Antwort verändertem Umfang ergreifen können . Und CETA wird auf die Herausforderungen der Globalisierung ist . Er ist anstelle der traditionellen Schiedsgerichte mit Schieds- die scheinbar einfache Antwort auf Sorgen und Ängste richtern erstmals die Einrichtung eines Investitionsge- derer, die fürchten, im weltweiten Wettbewerb nicht mehr richts vorsehen, dessen Richter von den CETA-Vertrags- mithalten zu können . Protektionistische Maßnahmen – parteien ernannt werden . Das Verfahren ist transparent, etwa Strafzölle und die damit verbundene Verteuerung und es gibt eine Berufungsinstanz . von Importen –, das klingt für viele offensichtlich verfüh- (Dr . Heribert Hirte [CDU/CSU]: Das hatten rerisch und mag kurzfristig vielleicht sogar Effekte erzie- wir vorgeschlagen!) len . Mittel- bis langfristig wird die Wirtschaft, werden die Arbeitnehmer bis ins Mark getroffen. Gleiches gilt All das zeigt: CETA setzt Maßstäbe dafür, wie interna- für die Aufkündigung von geplanten oder bestehenden tionaler Handel, wie Globalisierung nachhaltig und fair Handels- und Investitionsabkommen . Es ist geradezu ein gestaltet werden können . Wir brauchen CETA aber auch, Paradoxon unserer Zeit, dass vor allem jene Menschen in weil wir wissen, welch überragende Bedeutung offene den traditionellen Industriestaaten der USA einen Präsi- Märkte und freier Handel gerade für uns in Deutschland denten ins Amt gewählt haben, dessen erste Amtshand- haben . lung massive Auswirkungen auf ihre soziale Sicherheit entfalten könnte und wahrscheinlich auch entfalten wird . Gestern haben wir hier im Parlament über den Jah- reswirtschaftsbericht und die herausragende Lage auf Und selbstverständlich hätten Zölle auf Autos in Höhe dem deutschen Arbeitsmarkt debattiert . Wir wissen: Je- von 35 Prozent auch beträchtliche Folgen für die hiesige Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21669

Hansjörg Durz (A) Automobilindustrie, für unsere Wirtschaft insgesamt . Es Ich bin mal gespannt, wann bei Ihnen, den regierungs- (C) ist der Weg in den Verlust von Arbeitsplätzen . tragenden Fraktionen, dieser Widerspruch ankommt, dass es uns nicht um Personen geht, um Verträge mit Protektionismus kennt nur Verlierer . Protektionismus Ländern, sondern um die Inhalte . Deshalb lehnen wir ist die falsche Antwort auf die Herausforderungen der TTIP und CETA ab . Das hat mit fairem Handel überhaupt Globalisierung . nichts zu tun . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Stattdessen müssen wir deutlich machen, dass wir Freihandel gestalten wollen und auch gestalten können . Frau Wirtschaftsministerin, das war kein guter Start, als Sie hier zum Ausdruck gebracht haben – das haben Der chinesische Präsident hat in Davos angedeutet, auch Herr Lämmel und mein Vorredner gesagt –, wir wie China auf den Rückzug der USA zu reagieren ge- würden hier zu oft über CETA diskutieren . Ich möchte denkt . Die Ankündigung Australiens, sich nach dem festhalten: Über TTIP und CETA ist in diesem Parlament Ende des transpazifischen Abkommens künftig mögli- fast nur aufgrund unserer Anträge und aufgrund von An- cherweise China zuzuwenden, muss uns beschäftigen . trägen der Grünen geredet worden . Wenn es nach der Re- Ein Freihandel nach chinesischen Vorstellungen, ge- gierung gegangen wäre, hätten wir über dieses Thema im prägt von Marktöffnung ohne Standards, ohne Regeln Parlament fast nie debattiert . Aber wir brauchen eine De- und ohne Schutzmechanismen, darf uns nicht kalt lassen . batte hier im Parlament, insbesondere vor so wichtigen Deutlich wie nie zeigt sich: Wenn wir die Standards nicht Entscheidungen wie der über die vorläufige Anwendung. setzen, dann setzen sie andere . Wir können dann zwar noch Handel treiben – aber zu den Bedingungen, die an- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- dere setzen . Darum brauchen wir Abkommen wie CETA . NIS 90/DIE GRÜNEN – Bernd Westphal [SPD]: Das fängt ja nicht bei null an!) Mit kaum einem anderen Land haben wir solche Schnittmengen wie mit Kanada – vor allem auch an Wer- Ich frage mich langsam: Was muss denn noch alles ten und freiheitlichen Grundvorstellungen . Gestern hat – passieren, damit man endlich einmal politisch reagiert wir müssen jetzt sagen: Ex-Wirtschaftsminister – Sigmar auf Ereignisse wie den Brexit oder die Trump-Wahl? Gabriel im Parlament gesagt: Kanada ist europäischer als Immer nach solchen Ereignissen werden Analysen er- so manches Land in Europa .– Dem kann man sicher zu- stellt – es gibt Globalisierungsverlierer; wir müssen die stimmen . Menschen ernst nehmen; wir müssen die Menschen mit- (B) nehmen –, aber dann wird die Politik einfach so fortge- (D) Wenn dieses Abkommen nicht gelingt, dann wohl setzt . Was muss denn noch passieren, damit endlich klar keines mehr . Und ich bin der festen Überzeugung, dass wird: Dieser unfaire Handel ist mit ein Grund dafür, dass CETA ein sehr gutes Abkommen, ein faires Abkommen die Rechten stärker werden, er ist mit ein Grund dafür, ist, dass CETA als erfolgreiches Abkommen zukünftig dass sich Länder auf das Nationale zurückziehen? Wir Vorbild für weitere Abkommen sein muss und sein wird . hätten jetzt die Chance für einen Neustart mit CETA, um Deutschland muss den freien und fairen Handel voran- diesen rechten Rattenfängern endlich das Wasser abzu- treiben . Wir tun dies . graben; aber dazu sind Sie nicht bereit . Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ordneten der SPD) NEN] – Bernd Westphal [SPD]: Was muss noch alles herhalten?)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Schade ist auch, dass wir die Debatte hier nicht Vielen Dank, Hansjörg Durz .– Nächster Redner: mehr mit Sigmar Gabriel führen können . Es war immer Alexander Ulrich für die Linke . schön, hier im Bundestag darüber zu diskutieren, wie der (Beifall bei der LINKEN) SPD-Parteivorsitzende mit seiner eigenen Partei Ach- terbahn gefahren ist . Wenn es einen Grund gibt, warum Sigmar Gabriel als Parteivorsitzender gescheitert ist, Alexander Ulrich (DIE LINKE): dann den, dass er hier immer im Geist der Agenda 2010 Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! weitergemacht hat, Es gibt Veränderungen in der Rhetorik . Wer wie wir bis vor kurzem mit Hunderttausenden in Deutschland oder (Bernd Westphal [SPD]: Quatsch!) mit Millionen in Europa gegen CETA und TTIP demons- triert hat, wurde als antiamerikanisch hingestellt . auch bei solchen Freihandelsverträgen, während seine eigene Partei auf diesem Weg kaum mehr mitzunehmen (Zuruf von der LINKEN: Genau!) war . Wenn er, wie er sagt, keine ausreichende Unterstüt- Jetzt sind wir auf der Seite des US-Präsidenten . zung durch seine Partei hatte, dann hing das auch damit zusammen, dass die SPD im Prinzip anders tickte als ihr (Heiterkeit des Abg . Klaus Ernst [DIE Parteivorsitzender . Daran ist Sigmar Gabriel gescheitert . LINKE]) Aber auch jetzt merkt man nicht, dass die SPD endlich 21670 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Alexander Ulrich (A) erkennt, dass sie ihre Politik verändern muss, um wieder Bernd Westphal (SPD): (C) bessere Umfragewerte zu bekommen . Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst herzlichen Glückwunsch an die neue (Beifall bei der LINKEN – Bernd Westphal Bundeswirtschaftsministerin . Viel Erfolg, viel Kraft und [SPD]: Völliger Unsinn!) viel Glück in Ihrem neuen Amt! Schauen wir uns jetzt einmal an, was im Einzelnen Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aufforderung, beschlossen worden ist . dass die Debatte hier weitergehen soll, ist völlig richtig; aber es kann ruhig etwas niveauvoller sein . (Bernd Westphal [SPD]: Beeindruckt keinen, das Argument!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das Niveau haben Wir sind anders als meine Vorredner nicht der Auffas- wir gestern gemerkt!) sung, dass die Bundesregierung die Vorgaben des Bun- desverfassungsgerichts in ausreichendem Maße einge- Neue Argumente, die wirklich schlagkräftig sind, und halten hat . eine seriöse Auseinandersetzung habe ich vonseiten der Linksfraktion hier noch nicht erlebt . (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat das Bun- desverfassungsgericht anders gesehen!) In dieser Woche haben wir hier in diesem Hause und auch im Wirtschaftsausschuss über den Jahreswirt- Schauen wir uns die einzelnen Punkte an, zuerst den In- schaftsbericht 2017 diskutiert . Im Zentrum dieser De- vestorenschutz . Beim Investorenschutz hat man zwar die batte stand die Bedeutung, die Wichtigkeit des globalen Klagerechte herausgenommen, aber alles andere bleibt Handels, den wir brauchen . Unsere exportorientierte wie bisher . Auch die schwierigen Marktzugangsregeln Wirtschaft ist Voraussetzung dafür, dass wir Zugang zu bleiben wie bisher . Was haben Sie damit erreicht? Die Märkten haben . Sie sichert nicht nur die Zukunft unserer Protokollerklärungen, die verabschiedet werden sollen, Wirtschaft, sondern auch den Wohlstand unseres Landes . haben rechtlich überhaupt keine Verbindlichkeit . Wenn man verfolgt, was die Regierungschefin May (Claudia Tausend [SPD]: Das ist nicht rich- in Großbritannien zurzeit auf ihrer politischen Agenda tig!) hat, fällt auf, dass sie in erster Linie Gespräche darüber führt, wie sie den Zugang zu Märkten sichern kann; denn Alles, was gesagt worden ist, um deutlich zu machen, sie muss Freihandelsabkommen aushandeln, um die Per- man habe tatsächlich etwas erreicht im Sinne von Ver- spektiven der britischen Wirtschaft abzusichern . besserungen für die Arbeitnehmer oder im Sinne des (B) Jetzt liegt hier dieser Antrag vor, um CETA zu verhin- (D) Verbraucherschutzes, ist nur heiße Luft . Sie versuchen, dern; es ist nicht der erste Antrag zu diesem Thema . Das mit Protokollerklärungen etwas rechtsverbindlich zu ma- ist Ihr gutes Recht . Allerdings gehen Sie diesmal noch chen, was nicht rechtsverbindlich zu machen ist . einen Schritt weiter . Sie formulieren, dass Sie CETA als (Beifall bei der LINKEN) europa- und verfassungsrechtlich problematisch einstu- fen . Dabei sind die Linken bereits mit Eilanträgen vor Deshalb bleibt der Druck gegen CETA und TTIP wei- dem Bundesverfassungsgericht gescheitert, mit denen sie terhin aufrechterhalten . Wir werden diese Themen auch die vorläufige Anwendung von CETA verhindern woll- in den Bundestagswahlkampf tragen . Ich glaube nicht, ten . Ich war selbst bei den Verhandlungen vor dem Bun- dass Sie sich trauen, den Ratifizierungsprozess noch vor desverfassungsgericht in Karlsruhe dabei und habe die der Bundestagswahl abzuschließen, weil auch Sie wis- Argumentation der Richter sehr genau verfolgt . Hören sen, dass es im Bundesrat keine Mehrheit dafür geben Sie endlich auf, das zu bekämpfen, was unserem Land wird . Also wird das ein Thema im Bundestagswahl- nutzt! kampf . Wir müssen deutlich machen: CDU, CSU und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – SPD stehen für unfairen Handel, für eine Politik gegen Widerspruch bei der LINKEN) Verbraucherschutz, für eine Politik gegen Umweltschutz, für eine Politik gegen Arbeitnehmerrechte; und wir Lin- Seit genau drei Jahren diskutieren wir hier an dieser ke wollen fairen Handel, wollen diese Interessen berück- Stelle über immer mehr Anträge mit immer weniger Ar- sichtigt wissen . gumenten . Sie zaubern immer wieder neue Argumente aus dem Hut, die von Gerichten widerlegt werden . Nun In diesem Sinne: Vielen Dank . Die Debatte geht wei- fordern Sie in Ihrem Antrag ein ausführliches Gutachten ter . des Europäischen Gerichtshofs, bevor über die vorläufi- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der ge Anwendung Fakten geschaffen werden. Warum wird CDU/CSU: Seite an Seite mit Herrn Trump!) diese Forderung nicht an Ihre Kollegen im Europaparla- ment gestellt? Warum muss sich der Deutsche Bundestag überhaupt mit dieser Fragestellung befassen, wenn erst Vizepräsidentin Claudia Roth: einmal das Europaparlament zuständig ist? Vielen Dank, Alexander Ulrich . – Nächster Redner für (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ratifizierung!) die SPD-Fraktion: Bernd Westphal . – Die Ratifizierung kommt danach. Erst einmal muss (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das Europaparlament beschließen . – Das wäre der Platz Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21671

Bernd Westphal (A) für die Forderung nach solch einem Gutachten gewesen . den . Inzwischen haben sich vier Ausschüsse des Europa- (C) Dort gibt es diese Forderung allerdings nicht . Ich will Sie parlaments mit CETA befasst und darüber beraten . Die fragen: Warum haben Sie sich nicht mit Ihren Kollegen Zustimmung des Europaparlaments steht kurz bevor und im Europaparlament in einem Dialog über diese Dinge ist Voraussetzung für die Ratifizierung. Am 15. Februar ausgetauscht? wird sich das Parlament damit beschäftigen . (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Haben wir doch!) Wir als SPD haben uns immer für fortschrittliche und faire Handelsabkommen ausgesprochen . Gerade Sigmar Diese wurden bereits im November 2016 im Europapar- Gabriel hat auf europäischer Ebene wie auch mit der lament mit satter Mehrheit abgelehnt . Jetzt beantragen kanadischen Seite mit Politik auf wirklich höchstem Ni- Sie das Gleiche hier im Deutschen Bundestag . Keine veau eine ganze Reihe von Verbesserungen in den aus- wirklich originelle Idee! gehandelten Text einbringen können . Wir haben immer Ihre politische Ablehnung von CETA soll juristisch gesagt, dass wir mit globalem Handel nicht nur freien aufgewertet und mit angeblichen schwierigen europa- Handel, sondern auch faire Bedingungen wollen . Genau und verfassungsrechtlichen Problemen in Verbindung diese sind hier verankert . Helmut Schmidt hat einmal gebracht werden . Man mag zu CETA stehen, wie man gesagt: „Märkte sind wie Fallschirme: sie funktionieren will, aber ich bin grundsätzlich nicht der Meinung, dass nur, wenn sie offen sind.“ die Legitimität europäischer Abkommen und Institutio- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, gerade nen deshalb hinterfragt werden kann, weil gewisse Ent- vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwick- scheidungen, zum Beispiel im Handelsbereich, nicht ge- lungen – die USA sind hier einige Male genannt wor- fallen sind . den – sind Sie mit Ihrem Antrag auf dem Holzweg . Des- Sie fordern die Bundesregierung auf, die Notifizierung halb werden wir ihn ablehnen . an Kanada zur Inkraftsetzung der vorläufigen Anwen- Vielen Dank . dung von CETA zu verhindern . Damit sollen die vorläu- fige Anwendung und auch CETA insgesamt verhindert (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) werden . Sie bezweifeln in Ihrem Antrag die Möglichkeit Deutschlands zur einseitigen Beendigung der vorläufi- Vizepräsidentin Claudia Roth: gen Anwendung; allerdings hat das Bundesverfassungs- Vielen Dank, Bernd Westphal .– Die nächste Redne- gericht genau das in seinem Beschluss am 7 . Dezember rin: Bärbel Höhn für Bündnis 90/Die Grünen . 2016 eindeutig festgestellt .

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Europäer Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) sagen was anderes!) (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, das sollten Sie berücksichtigen . Die Bundes- Ich möchte gerne die Worte der neuen Wirtschaftsminis- regierung hat eine entsprechende Erklärung in völker- terin Zypries, dass hier der Ort der Auseinandersetzung rechtlich erheblicher Weise abgegeben . Die Juristischen ist, aufgreifen . Wir sollten diese Diskussion in der Tat Dienste der Kommission und auch des Europäischen hier führen . Gerade angesichts der Wahl in den USA und Parlaments gehen davon aus, dass das Investitionsschutz- weil Trump dort jetzt Protektionismus und Nationalis- system, wie in CETA vorgeschlagen, EU-rechtskonform mus vorantreibt, können wir sie viel weiter fassen und ist . Das ist also eine klare juristische Bewertung, die zu dürfen sie nicht auf CETA beschränken . einem anderen Ergebnis kommt als dem, das Sie in Ihrem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Antrag zum Ausdruck bringen . Insbesondere Sie von der SPD möchte ich bitten, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Europäer sich noch einmal genau zu überlegen, was Sie im letz- sehen das anders!) ten Herbst auf Ihrem Parteikonvent beschlossen haben . Das Bundesverfassungsgericht hat schon am 13 .Ok - Einer Ihrer Beschlüsse war: Das Europaparlament soll tober 2016 CETA behandelt und klargestellt, dass die noch einmal ganz intensiv über diese Verträge diskutie- Bundesregierung CETA im Rat zustimmen und sich auch ren . – Das ist nicht passiert . Im Handelsausschuss haben für die vorläufige Anwendung aussprechen kann. Es gilt die Grünen den Antrag gestellt, zu beschließen: Solange also auch weiterhin: Eilanträge, die vor dem Bundesver- wir noch nicht einmal wissen, wie bzw . ob das Europa- fassungsgericht – zuletzt vor zwei Wochen – verhandelt parlament überhaupt eingebunden wird, ob es also einen wurden, blieben erfolglos . Die Antragsteller hatten er- Platz im Joint Committee bekommt, in dem ganz wich- neut gegen die vorläufige Anwendung geklagt und hatten tige Entscheidungen gefällt und die Annexe des Vertra- damit keinen Erfolg . ges verändert werden können, sollten wir diesem Vertrag nicht zustimmen . Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bun- destag hat am 22 . September 2016 – es gab auch eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN namentliche Abstimmung dazu – über den CETA-Ver- und bei der LINKEN) tragstext debattiert . In der Plenardebatte wurde die Es wäre richtig, jetzt innezuhalten und noch einmal über Notwendigkeit von Handelsabkommen nochmals un- die Wirkungen dieser Handelsverträge nachzudenken . terstrichen . Es wurde darauf hingewiesen, dass sie eine Bereicherung für die Weltwirtschaft sind und welche Es hat übrigens auch Sozialdemokraten gegeben, die Bedeutung die Standards haben, die dort definiert wur- CETA im Handelsausschuss nicht zugestimmt haben . Es 21672 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Bärbel Höhn (A) gab bei Ihnen also ein gespaltenes Abstimmungsverhal- Verpflichtungen überhaupt nicht erfüllen können. Das (C) ten . Insofern möchte ich an Sie appellieren, innezuhalten funktioniert nicht, meine Damen und Herren . und noch einmal nachzudenken . Denn in der Tat haben wir durch die Wahl von Trump auch die große Chance, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Welt gemeinsam mit Kanada zu zeigen, dass es an- und bei der LINKEN) ders geht als nationalistisch und mit Mauerbau und Pro- tektionismus . Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank, Bärbel Höhn .– Nächster Redner: und bei der LINKEN – Claudia Tausend Dr . Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion . [SPD]: Das machen wir doch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Trudeau hat den CETA-Vertrag doch gar nicht ausge- handelt; das war Harper . Trudeau und auch Freeland ha- Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): ben CETA vor der Wahl sogar kritisiert . Selbst Harper hat Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! noch versucht, im Hinblick auf die Schiedsgerichte das Liebe Zuhörer! Auch von mir – wenn sie noch da wäre, Schlimmste zu verhindern, weil Kanada im Rahmen von würde ich es ihr persönlich sagen – herzliche Glückwün- NAFTA das Land ist, das am häufigsten verklagt wird. In sche an die neue Bundeswirtschaftsministerin! Es freut rund 60 Prozent der Schiedsverfahren geht es um Um- mich ganz besonders, dass wir mit ihr eine Juristin ha- welt- und Energiefragen . Kanada weiß, dass es negativ ben, die sich, wenn es um einen solch juristischen Text betroffen ist, und wollte das eigentlich vermeiden. und ein solch juristisches Thema geht, auskennt . Sie hat ja eben schon die wesentlichen Punkte angesprochen . Weil gerade die Grüne Woche stattfindet, sollten wir uns auch die Frage stellen: Was haben Handelsverträge Wir beraten hier über Ihren Antrag „Ein“ – ich sage überhaupt mit der Landwirtschaft, mit unserem Essen zu gleich: angeblich – „europa- und verfassungswidriges tun? Wir alle wissen: CETA wird dazu führen, dass der CETA-Abkommen verhindern“ . Ehrlich gesagt, der An- Druck auf die Schweinebauern hierzulande stark steigen trag ist eine Dreistigkeit . wird; gleichzeitig wird der Milchmarkt in Kanada zer- stört . Wollen wir das? Wollen wir, dass noch mehr bäuer- (Zurufe von der LINKEN: Oh!) liche Familienbetriebe in beiden Ländern aufgeben? Das Denn Sie sind mit dem Versuch gescheitert, mit einer wollen wir nicht . Deshalb müssen wir auch diese Wir- einstweiligen Anordnung vor dem Bundesverfassungsge- kungen der Verträge im Blick haben . richt die Zustimmung der Bundesregierung zur einstwei- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ligen Inkraftsetzung dieses Abkommens zu verhindern . (D) und bei der LINKEN) Sie sind nicht nur einmal gescheitert, Sie sind zweimal gescheitert; denn natürlich hat die Bundesregierung – Ich möchte sagen: Wir sollten nicht nur über CETA, das war dann der zweite Antrag – die Maßgaben, die es sondern zum Beispiel auch über die Handelsverträge mit vor einer Zustimmung von Bundeswirtschaftsminister Afrika diskutieren . Gabriel im Ministerrat für nötig gehalten hat, korrekt umgesetzt . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Jetzt ziehen Sie einen der Punkte, mit denen Sie schon der SPD) in Karlsruhe gescheitert sind, erneut aus der Tasche, weil der Juristische Dienst des Europäischen Parlaments eine Das, was da passiert, ist wirklich unsinnig: Der Land- von der Auffassung der deutschen Bundesregierung ab- wirtschaftsminister sorgt dafür, dass ganz viel Fleisch weichende Auffassung vertritt. Es geht um die Frage, ob und Milch billig nach Afrika exportiert werden, dort ge- die Bundesregierung in dem – erst einmal völlig unwahr- hen die Märkte kaputt, und dann kommen die Menschen, scheinlichen – Fall, dass das Bundesverfassungsgericht weil sie in ihrem Land keine Perspektiven mehr haben, das Abkommen endgültig als verfassungswidrig ansehen als Flüchtlinge zu uns . Das alles hängt zusammen, meine sollte, einseitig kündigen kann . Das sei, so der Juristische Damen und Herren . Dienst, nicht möglich . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lieber Kollege, es tut wirklich not, sich einmal anzuse- und bei der LINKEN sowie der Abg . Claudia hen, was das Bundesverfassungsgericht dazu gesagt hat . Tausend [SPD] – Zurufe von der CDU/CSU) Genau damit – wir haben es ansatzweise schon mehrfach gehört – hat sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Es ist unsinnig, dass das Landwirtschaftsministerium zweiten Entscheidung auseinandergesetzt und gesagt: wahnsinnig viel Geld ausgibt und damit die Märkte in Afrika zerstört und dann das Entwicklungsministerium Die Bundesregierung hat diese Erklärung durch die versucht, mit seinem Marshallplan ein wenig diese Feh- beiden Schreiben des Ständigen Vertreters … an ler zu beseitigen . Machen Sie endlich eine vernünftige, den Generalsekretär des Rates sowie den Ständigen ganzheitliche Politik, die all das berücksichtigt! Sie kön- Vertreter Kanadas … in völkerrechtlich erheblicher nen nicht auf der einen Seite in New York die Sustain- Weise abgegeben und notifiziert. Etwaige Zweifel able Development Goals und in Paris den Klimavertrag an der Bedeutung dieser Erklärung werden jeden- unterzeichnen und auf der anderen Seite Handelsverträge falls dadurch ausgeräumt, dass die Schreiben des abschließen, die dazu führen, dass wir die eingegangenen Ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutsch- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21673

Dr. Heribert Hirte (A) land bei der Europäischen Union zur Erläuterung anderes, als man sich irgendwann einmal in der Historie (C) der darin erhaltenen Erklärung auf das Urteil des dazu gedacht haben könnte . – Auch das ist Irreführung . Senats (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – des Bundesverfassungsgerichts – NEN]: Nein, das ist absoluter Unsinn!) . .verweisen, . das hinsichtlich der Erforderlichkeit, Der zweite Punkt – EUZBBG: Wir werden in den Aus- die vorläufige Anwendung ... beenden zu können, schüssen bei allen Fragen beteiligt . Das ist schon jetzt eindeutig ist . so . Es besteht keinerlei Handlungsbedarf auf der Seite des nationalen Verfassungsrechts . Auch das ist schlicht So steht es in Randnummer 32 . falsch . (Abg . Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu einer Zwischenfrage .) NEN]: Das ist einfach die Unwahrheit!)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Dann kommen Sie mit der Frage: Warum wurde das nicht alles vorab mit dem EuGH geklärt? Klar, man kann Herr Dr .Hirte, erlauben Sie eine Frage? viele Fragen mit den Gerichten klären . Der entscheiden- de Punkt ist aber: Was sich darin eigentlich offenbart, ist Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): ein falsches Demokratieverständnis; denn die Gerichte Er redet die ganze Zeit . Jetzt möchte ich zu Ende re- kommen doch erst zum Zuge, wenn wir hier entschieden den . haben, und Sie haben eben schon gehört – Herr Westphal war es, glaube ich, der es sagte –, Sie hätten doch einen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und entsprechenden Antrag mit Ihren Freunden im Europäi- der SPD – Zuruf des Abg . Klaus Ernst [DIE schen Parlament einbringen können . Das haben Sie nicht LINKE]) gemacht . Sie fördern mit solchen Anträgen das Demo- Jetzt könnte man natürlich sagen: zwei Juristen, drei kratiedefizit, das Sie angeblich beseitigen wollen. Denn Meinungen . wir, die Deutschen, wollen mit Mehrheit Freihandel, weil wir davon leben, und wir haben über diese Frage (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Fünf!) x-mal – auch das haben wir mehrfach gehört – beraten und entschieden . Diese Mehrheitsentscheidung wollen Das stimmt hier nicht . Denn wenn tatsächlich der Fall Sie konterkarieren . eintreten sollte, dass das Abkommen vom Bundesver- fassungsgericht als verfassungswidrig qualifiziert wür- Im Übrigen wollen Sie, dass der Europäische Ge- (B) de, Deutschland einseitig kündigen würde, die EU das richtshof angerufen wird . Die Entscheidung des Bundes- (D) nicht bestätigen würde und dann auch noch der Europä- verfassungsgerichts akzeptieren Sie nicht . Würden Sie ische Gerichtshof die abweichende Auffassung der EU denn die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bestätigen würde, wäre die Lage nach unserem Verfas- akzeptieren? Auch nicht! Ihnen geht es nicht um die Sa- sungsrecht völlig eindeutig; denn wir hätten es mit ei- che . nem ausbrechenden Rechtsakt zu tun, der von uns nicht zu beachten wäre . Sie bauen hier einen Popanz auf, den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- es rechtlich nicht gibt, und das, finde ich, ist ein Unding. ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ich kann nur sagen: Die Mehrheit der Bürger unseres ordneten der SPD) Landes und die Mehrheit der Bürger der Europäischen Union möchten eine starke Europäische Union, eine Ich empfehle Ihnen – ich habe es Ihnen vorgelesen –: starke, auf Wettbewerb und Freiheit gegründete Gemein- Sie sollten die Entscheidungen des Bundesverfassungs- schaft . Das ist das, was Sie zerstören . gerichts lesen – wir tun das –, statt hier Zirkusvorführun- gen zu machen . (Zurufe von Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Oh!) (Lachen der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]) Deshalb bin ich, ehrlich gesagt, erschrocken, als ich gesehen habe – das muss man am Rande hier einfüh- Vor allen Dingen: Führen Sie die Menschen nicht in die ren –, dass dem englischen Parlament gestern ein Gesetz- Irre! entwurf vorgelegt wurde, mit dem der britischen Regie- rung die Erlaubnis zur Stellung des EU-Austrittsantrages Eine Zwischenbemerkung an die Kollegin Dröge: eingeräumt werden soll, der gerade einmal zwei Sätze Sie fragen nach der Diskussion vor dem Bundesverfas- umfasst. Wenn wir eine öffentliche Diskussion brauchen, sungsgericht und sagen, es fehle die Rückbindung der stellt sich die Frage, ob eine solche Basis für das engli- Ausschüsse an unsere Parlamente . Das Bundesverfas- sche Parlament reicht. Wenn wir eine inhaltliche öffentli- sungsgericht hat sich in der mündlichen Verhandlung che Diskussion brauchen, dann ist es nicht die öffentliche ausführlich – wir waren gemeinsam da – mit dieser Frage Diskussion über Freihandel, sondern über die Kosten des befasst und gesagt: Ja, Abkommen werden weiterentwi- Protektionismus . Das können Sie Ihren englischen Kol- ckelt; denn Texte entwickeln sich weiter . Auch der Präsi- legen gerne zurufen . dent des Bundesverfassungsgerichts hat genau zu diesem Punkt gesagt: Auch wir als Richter sagen später etwas (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 21674 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Dr. Heribert Hirte (A) Das Schlimme ist: Mit solchen Anträgen fördern Sie Klaus Ernst (DIE LINKE): (C) die Enttäuschung über die Politik und das Misstrauen . Herr Kollege Dr .Hirte, Sie haben gesagt, wir hätten Wenn wir es nicht mit Kanada hinbekommen – Frau ein Demokratiedefizit. Glauben Sie nicht, dass es des- Höhn hat gerade selber gesagt: Kanada ist ein guter Part- halb ein Demokratiedefizit gibt und die Zustimmung der ner für uns –: Mit wem sonst bekommen wir Freihandel Bürgerinnen und Bürger fehlt, weil man von Anfang an hin? Vielleicht mit Nordkorea? Ist das Ihre Vorstellung? versucht hat, solche Abkommen hinter dem Rücken der Lieber Herr Ernst, wir haben öfter über diese Frage dis- Menschen zu verabschieden? kutiert . (Beifall bei der LINKEN) (Lachen bei der LINKEN – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Jetzt wird das Niveau aber unterir- Glauben Sie nicht, dass das Demokratiedefizit auch mit disch!) dem Eindruck zu tun hat, dass verhindert werden sollte, dass nationale Parlamente und die Bürger Europas über- – Wir kommen weiter nach oben . Bei Ihnen ist es unter- haupt mitreden? Besteht das Demokratiedefizit darin, irdisch . dass die von den Bürgern Europas gestartete Bürgeriniti- Ich zitiere jetzt Sie vom 27 . Februar 2015 . Sie sagten: ative nicht angenommen wurde? Ich möchte das Thema, bei dem ich vorhin war, Das alles sind Demokratiedefizite! noch einmal aufgreifen, weil das wirklich sehr Ist ein Demokratiedefizit vielleicht auch dadurch ent- wichtig ist . Entstehen in Deutschland und in Euro- standen, dass es fast ausschließlich die Opposition war, pa wirklich Riesenprobleme, wenn wir bei diesem die dieses Thema hier im Bundestag angesprochen hat, Abkommen und dass man den Eindruck hatte, dass Sie sich jeweils – gemeint war TTIP – darüber aufregen, dass sie das tut, weil Sie die Debatte gar nicht wollten? Könnte das vielleicht die Ursache ei- nicht dabei sind? Ich glaube das nicht . Wir werden nes Demokratiedefizits sein? weiter nach Amerika liefern, weil unsere Produkte dort auch dann verkauft werden, wenn die Standards (Abg . Dr . Heribert Hirte [CDU/CSU] erhebt bei uns höher sind, und wir werden weiterhin Pro- sich vom Platz) dukte von anderen kaufen . . Auf keinen Fall wird ein Arbeitsplatz in Deutschland gefährdet, wenn wir – Herr Dr . Hirte, ich bin noch nicht fertig . uns hier nicht beteiligen . Sie haben erzählt, dass wir vor dem Bundesverfas- sungsgericht gescheitert sind . Herr Dr . Hirte, ja, wir ha- (B) Heute wissen wir: Genau das ist mit Ihrer Blockade- (D) politik gegenüber dem Abkommen in Gefahr . Wir hätten ben das nicht so hingekriegt, wie wir es wollten, aber die deshalb besser gestern als erst irgendwann in ferner Zu- Bundesregierung hat Auflagen bekommen. kunft die entsprechenden Abkommen geschlossen . Dann Die erste Auflage – ich war dabei –, die erteilt worden hätten wir etwas für die freie Wirtschaft und die freie ist, war, dass all die Bereiche von der vorläufigen An- Welt getan . Das versuchen Sie zu verhindern . wendung ausgenommen werden müssen, die nicht „EU (Beifall bei der CDU/CSU) only“ sind . Das haben Sie überhaupt nicht gemacht . Es ist naiv, zu glauben, dass wir von unseren Standards Die zweite Auflage, die erteilt wurde, war, dass ge- als gegeben ausgehen können und dass es nicht auch Re- klärt wird – jetzt sind wir bei dem Punkt, den Sie ange- gierungen in der Welt gibt, die über Rückentwicklungen sprochen haben –, dass die Bundesrepublik durch eigene nachdenken . Mit dieser Begründung Freihandel zu tor- Entscheidung aussteigen kann . Es ist gut und schön, dass pedieren, bringt alle diese Grundwerte, die uns einigen, die Verfassungsrichter auf der Grundlage des nationalen in Gefahr . Rechts, also der Verfassung, urteilen; das ist ihr Job . Aber die Europäer sehen dies ganz anders . Sie sagen: Es gibt Daher liegt gar nicht so verkehrt, wenn europäische Verträge, in denen der Ausstieg bei solchen er sagt: Fragen wie etwa die vorläufige Anwendung geklärt wird. Zehntausende linke und rechte TTIP-Gegner haben Da sagen Sie: Das interessiert uns alles nicht . – In die- ihren Wunschpräsidenten . sem Fall brauchen wir solche Verträge nicht zu schlie- ßen; denn Verträge müssen eingehalten werden . Sie wer- (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Übel! Übel!) den sehen: Da werden wir noch ein Problem bekommen . Mit Ihrem Antrag machen Sie Werbung für den Pro- tektionismus von Donald Trump . Wir machen das nicht Die dritte Auflage war, sicherzustellen – so die Verfas- mit . sungsrichter –, dass die Entscheidungen der Ausschüsse auf EU-Ebene eine demokratische Rückkopplung an die (Beifall bei der CDU/CSU) nationalen Parlamente und an die demokratische Ebene haben. Offensichtlich sahen auch die Verfassungsrichter die Konstruktion so, dass das nicht gegeben ist . Das muss Vizepräsidentin Claudia Roth: geklärt werden . Ich sage Ihnen: All das ist nicht geklärt . Danke schön, Dr . Heribert Hirte .– Bevor Frau Tausend das Wort hat, hat der Kollege Ernst das Wort zu Warten Sie einmal ab, was in der endgültigen Entschei- einer Kurzintervention . dung der Verfassungsrichter als Ergebnis herauskommt . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21675

Klaus Ernst (A) Warten Sie vor allen Dingen ab, was auf EU-Ebene he- her den Parteitagen und die anderen den Parlamenten (C) rauskommt. Warten Sie ab, ob alle Staaten ratifizieren. vorgelegt . (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Suggerieren Sie den Bürgern nicht, es gäbe ein Demo- kratiedefizit! Wir haben kein Demokratiedefizit. Alles, Vizepräsidentin Claudia Roth: was wir wollen – deshalb sitzen wir hier zusammen –, geben wir nach oben an die Regierung weiter . Gerade Vielen Dank, Herr Ernst .– Jetzt hat Herr Dr . Hirte die zum Thema Schiedsverfahren habe ich Vorschläge ge- Möglichkeit einer Kurzinterventionsantwort . macht, und das Wirtschaftsministerium hat sie aufgegrif- fen . Das ist die jetzige Entscheidungsgrundlage . Reden Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Sie den Menschen nichts ein, was unwahr ist! Herr Ernst, Sie wiederholen nur all die Punkte, die Sie eben schon genannt haben . In der Frage der einseitigen Vielen Dank . Kündigungsmöglichkeit habe ich genau erklärt, was das (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE Bundesverfassungsgericht dazu ausgeführt hat . LINKE]: Sie sind klüger, als Sie meinen!) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und ich, was die Europäer gesagt haben!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen herzlichen Dank . Das ist lebendiges Parla- Für uns ist die Entscheidung des Bundesverfassungs- ment .– Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Claudia gerichtes maßgeblich . Wenn Sie sich ein bisschen mit Tausend für die SPD-Fraktion . dieser Rechtsfrage beschäftigen würden – die Bundes- wirtschaftsministerin ist jetzt leider nicht mehr da, sonst (Beifall bei der SPD) würde sie es Ihnen erklären –, dann wüssten Sie: Die Fra- ge der Reichweite der Integration ist vom Bundesverfas- Claudia Tausend (SPD): sungsgericht entschieden, nicht vom Europäischen Ge- richtshof . Insofern ist das maßgeblich, was in Karlsruhe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und entschieden wird . Herren! Kolleginnen und Kollegen! Manchmal hilft es, darauf zu schauen, woher man kommt, um zu wissen, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Schauen wir wohin man will .– Ich möchte Sie einladen, diesen Weg mal!) für die nächsten fünf Minuten konzentriert mit mir zu gehen . Das, was Sie verbreiten, ist schlicht falsch . Lassen Sie mich einen Blick zurück auf die Anfangs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) zeit dieser Diskussion werfen, nämlich auf den Winter (D) Stichwort „Demokratiedefizit“. Es ist falsch, dass bei 2013/2014 . Damals wurden die beiden transatlantischen diesen Verhandlungen irgendetwas verheimlicht wurde . Handelsabkommen TTIP und CETA erstmals in der brei- Gehen Sie einmal auf die Homepage der Europäischen ten Öffentlichkeit diskutiert. Auch hier im Deutschen Kommission. Dort finden Sie alle Entwürfe und alle Ab- Bundestag haben wir uns seitdem mit den Abkommen kommen sowie alle Stellungnahmen . Genauso war es intensiv und kritisch auseinandergesetzt . auch bei CETA und bei TTIP . Es ist richtig: Es gab auf jeden Fall ein beklagenswer- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Nicht mal das tes Demokratie- und Transparenzdefizit. Verhandlungen Mandat war öffentlich! Jetzt erzählen Sie doch wurden in der europäischen Handelspolitik bisher hinter keinen Unfug!) verschlossenen Türen geführt . Auch wir als Abgeordnete waren ungenügend eingebunden . Es gab private Schieds- – Jetzt rede ich! – Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Nie- gerichte, bei denen internationale Anwälte, die sonst für mand hat sich dafür interessiert . Nicht einmal der Deut- Großkonzerne arbeiten, über Milliardenentschädigungen sche Gewerkschaftsbund oder der Europäische Gewerk- von Unternehmen entscheiden sollten . Es gab schwam- schaftsbund haben sich dafür interessiert . Erst als sie mige Formulierungen, die nicht sicherstellten, dass So- gemerkt haben, dass sie mit Amerika – das ist auch mit zial-, Umwelt- oder Arbeitnehmerstandards ausreichend Blick darauf zu sehen, dass CETA als Blaupause dient – geschützt sind . Es gab Klauseln, die es hätten ermögli- ein Feindbild haben, das ihnen in den Kram passt, haben chen können, Bereiche der Daseinsvorsorge zu privati- sie angefangen, herumzuwühlen und in dieser Richtung sieren . Es gab also sehr wohl Dinge, mit denen wir uns weiter vorzugehen . intensiv auseinandersetzen mussten . (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken und der Noch ein Wort zum Stichwort „Demokratiedefizit“. Grünen, keine Partei hat sich so intensiv mit beiden Ab- An all diesen Abkommen sind die Parlamente beteiligt . kommen – zunächst mit TTIP, das im Blickpunkt der Das ist auch nicht anders als bei Koalitionsvereinbarun- Öffentlichkeit stand, aber später auch mit CETA – ausei- gen . Ich kann nur sagen – da schaue ich die Kollegin nandergesetzt wie die bundesdeutsche Sozialdemokratie . Dröge an –: Wir haben in Köln eine Koalitionsvereinba- (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung geschlossen; die Koalition läuft übrigens gut . Diese NEN]: Echt witzig!) Vereinbarung wurde zwischen den Führungen genauso vereinbart, wie ein Abkommen zwischen Regierungen Ich glaube, wir waren die einzige Partei, die zwei The- vereinbart wird . Die einen Vereinbarungen werden nach- menparteitage – bei uns werden sie „Parteikonvente“ 21676 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Claudia Tausend (A) genannt – veranstaltet hat und sich gemeinsam mit der Netz einzustellen . Das ist ein großer Erfolg . Ich bitte Sie, (C) Zivilgesellschaft und den Gewerkschaften, aber auch mit das anzuerkennen . der neuen kanadischen sozialliberalen Regierung und Cecilia Malmström intensiv mit dem Thema auseinan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dergesetzt hat . Wir haben vieles durchgesetzt . der CDU/CSU) Wir haben daran gearbeitet, der Globalisierung faire (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Regeln zu geben und die internationale Handelspolitik Frau Kollegin Höhn, ich hätte eine Synopse weiterzuentwickeln . Die handelspolitische Weltordnung war – ich blicke noch einmal auf den Winter 2013/14 (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zurück – stabil . Wir hätten das Endergebnis vielleicht NEN]: Die habe ich auch! Das machen wir!) ablehnen müssen, wenn wir diesen guten Weg nicht hätten gehen können . Aber heute – das ist mehrfach unserer Parteikonventbeschlüsse und der Umsetzungen angeklungen – hat sich die bisher als sicher erachtete vonseiten der Europapolitiker im Angebot . Gerne könnte Grundordnung des Welthandels eklatant verändert . Wir ich das eine oder andere zitieren, wenn Sie eine Nachfra- haben es mit einem amerikanischen Präsidenten zu tun, ge haben . der China einen Handelskrieg androht und der Unterneh- (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mer mit Strafzöllen belegen will, wenn sie nicht in den NEN]: Machen Sie doch mal!) USA produzieren wollen . Selbst deutsche Unternehmen wie BMW sind nicht ausgenommen . Donald Trump hat Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie: Vergleichen angekündigt, aus der WTO auszutreten . Damit müssen Sie ernsthaft die Situation 2013 mit der 2017! Wir ha- wir uns auseinandersetzen . Das wäre das Ende des freien ben jetzt ein CETA, das zum ersten Mal mit den priva- Welthandels . Das wäre die Rückkehr zum Protektionis- ten Schiedsgerichten bricht . ISDS gibt es so nicht mehr . mus und zum Recht des Stärkeren . Das kann doch nie- Stattdessen werden wir einen multilateralen Handels- mand von uns wirklich wollen . gerichtshof schaffen – mit ordentlichen Richtern, Beru- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fungsinstanz und transparenten Verhandlungen . Gerade deshalb muss Europa jetzt in diesen Zeiten hand- (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lungsfähig sein . CETA kann ein Impuls für das Welt- NEN]: Aber nicht in CETA! – Bärbel Höhn handelssystem sein; es kann ein Vorbild sein . Es bietet [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt mittel- und langfristig die Möglichkeit für weitere faire doch gar nicht! Der Handelsgerichtshof Handelsabkommen, die auch den Partnerstaaten nutzen . kommt doch gar nicht mit CETA!) (B) Zum Antrag der Linken . Wir müssen uns jetzt ent- (D) Das ist ein außerordentlicher Erfolg unseres mittlerweile scheiden, Herr Kollege Ernst: Wollen wir das protekti- ehemaligen Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel, onistische Modell Trump zulassen? Wollen wir der Han- delsmacht China die Führung überlassen, oder wollen wir (Beifall bei der SPD) die Globalisierung mit europäischen Werten prägen? In der sich zusammen mit den sozialdemokratischen Amts- Ihrem Antrag geht es um pure Verzögerung . Wir wissen: kollegen und der Zivilgesellschaft gegen alle Widerstän- Ein Rechtsgutachten des Europäischen Gerichtshofs, wie de durchgesetzt hat . von Ihnen gefordert, würde zwei, drei Jahre in Anspruch nehmen . So lange wären die parlamentarischen Verhand- Wir haben durchgesetzt, dass die Daseinsvorsorge lungen gestoppt . umfassend geschützt ist . Wir können Unternehmen der öffentlichen Hand und Dienstleistungen ohne Einschrän- Der Juristische Dienst – das kam ja auch im Beitrag kungen wieder rekommunalisieren . Kanada hat zugesagt, von Ihnen vor – hat die Zusatzabkommen noch einmal die letzte der acht ILO-Kernarbeitsnormen – sieben sind geprüft und hat festgestellt, dass sie sowohl integraler bereits ratifiziert – demnächst zu ratifizieren. Das sind Bestandteil von CETA als auch juristisch verbindlich große Erfolge . sind .

(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Vizepräsidentin Claudia Roth: Dr . Heribert Hirte [CDU/CSU]) Frau Kollegin . Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, das anzuerken- nen . Es sind unsere Erfolge, die Erfolge der Zivilgesell- Claudia Tausend (SPD): schaft, der Nichtregierungsorganisationen, der Verbände Insofern ist es, glaube ich, in der Tat nicht nötig, ein und der Gewerkschaften . Aber schlussendlich sind es weiteres Rechtsgutachten einzufordern . auch Ihre Erfolge . Sie haben oft den Finger in die Wunde gelegt . Wir haben uns intensiv damit auseinandergesetzt (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das gibt es aber! und sehr viele Kritikpunkte aufgegriffen. Wir haben jetzt Wegen der Wallonen!) ein sehr gutes Abkommen und übrigens ein Modell für Ich komme zum Schluss . weitere Handelsabkommen . Cecilia Malmström hat zu- gesagt, künftig alle Verhandlungsmandate für Handels- abkommen sofort zu veröffentlichen, sofort in die natio- Vizepräsidentin Claudia Roth: nalen Parlamente einzubringen und alle Dokumente ins Ja, bitte . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21677

(A) Claudia Tausend (SPD): teten, die vor Ort integriert werden wollen und müssen . (C) Lassen wir bitte die politische Verantwortung in den Weil die Bundesregierung diese Herausforderungen ernst Parlamenten! Schieben wir sie nicht auf den EuGH ab! nimmt, hat sie im November den entsprechenden Gesetz- Schieben wir sie nicht auf Gutachten ab! Und lassen Sie entwurf zum Maßnahmenpaket „Neues Zusammenleben uns in diesen Zeiten für eine fortschrittliche Handelspo- in der Stadt“ beschlossen . Ein wesentlicher Baustein ist litik streiten! die Novelle des Bauplanungsrechts, die wir heute in ers- ter Lesung beraten . Ich danke fürs Zuhören . Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der neuen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Baugebietskategorie „Urbane Gebiete“ wollen wir den der CDU/CSU) Kommunen ein Instrument an die Hand geben, mit dem sie insbesondere in innerstädtischen Gebieten eine nut- Vizepräsidentin Claudia Roth: zungsgemischte Stadt mit kurzen Wegen verwirklichen Ich schließe die Aussprache . können . Mir geht es dabei ganz ausdrücklich darum, den Kommunen neue Spielräume zu verschaffen, und nicht Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf etwa darum, ihnen etwas vorzuschreiben . Die Kommu- Drucksache 18/10970 an die in der Tagesordnung auf- nen sollen die neuen Instrumente nutzen können, nicht geführten Ausschüsse vorgeschlagen . – Damit sind Sie nutzen müssen . Unsere Bürgermeisterinnen und Bürger- einverstanden . Dann ist die Überweisung so beschlossen . meister, die Stadträte und die Magistrate können verant- Ich bitte, bevor wir zum neuen Tagesordnungspunkt wortungsvolle Entscheidungen für ihre Kommunen sehr kommen, die Plätze, falls nötig, zu wechseln, damit wir wohl selbst treffen. Sie brauchen dafür aber natürlich schleunigst weiterkommen . auch die geeigneten Instrumente, den passenden Rah- men . Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf: Urbane Gebiete sollen dem Wohnen dienen und Erste Beratung des von der Bundesregierung gleichzeitig Gewerbebetriebe ermöglichen sowie sozia- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um- le, kulturelle und andere Einrichtungen stärken . Damit setzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städte- lehnen wir uns bewusst an die „Leipzig Charta zur nach- baurecht und zur Stärkung des neuen Zusam- haltigen europäischen Stadt“ an . Eine Stadt der kurzen menlebens in der Stadt Wege verringert den Verkehr und kann gleichzeitig für Drucksache 18/10942 mehr Lebendigkeit und Vielfalt im öffentlichen Raum sorgen . Überweisungsvorschlag: (B) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) sicherheit (f) Innenausschuss Wir wollen eine flexiblere Nutzungsmischung. Sie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend muss daher in Abgrenzung zum Mischgebiet ausdrück- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur lich nicht gleichgewichtig sein . Notwendige Lärmschutz- Ausschuss für Tourismus regeln sollen kleinere Gewerbebetriebe nicht verdrän- Haushaltsausschuss gen . Deshalb wollen wir in einem parallelen Verfahren Ich bitte, die Plätze einzunehmen . auch die TA Lärm ändern . Die Immissionsrichtwerte für urbane Gebiete sollen die Mischgebietswerte um 3 Dezi- Interfraktionell sind für die Aussprache 38 Minuten bel übersteigen dürfen . Über die konkrete Ausgestaltung vorgesehen .– Auch dazu gibt es keinen Widerspruch . werden wir natürlich im Gespräch bleiben . Ich glaube, Dann ist das so beschlossen . dass dieser Wert für einen angemessenen Interessenaus- Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in die- gleich sorgt und vor allem auch die nötige Flexibilität für ser Debatte ist die Ministerin Dr . Barbara Hendricks . das gewünschte Nebeneinander von Wohnen, Leben und Arbeiten ermöglicht . Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um- Begleitend wollen wir aber hinsichtlich dieser höheren welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Lärmaußenwerte im Gesetz ausdrücklich festhalten, dass Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Kommunen die Möglichkeit haben, passive Schall- Unsere Städte erleben seit Jahren eine Renaissance, weil schutzmaßnahmen festzusetzen und damit die Auswir- das Leben in den Städten und Ballungsräumen für viele kungen für die Bewohner zu reduzieren . und aus ganz unterschiedlichen Gründen immer attrak- (Beifall bei der SPD) tiver geworden ist . Wie bei den meisten Veränderungen haben wir es dabei mit Chancen, aber auch mit Heraus- Dann könnte zum Beispiel das „Hamburger Fenster“ zum forderungen oder gar Problemen zu tun . Deshalb ist die Einsatz kommen, oder es könnte Investoren vorgegeben Politik aufgerufen, ein gutes Zusammenleben der Men- werden, einen begrünten Lärmschutzwall zu errichten . schen zu ermöglichen und den sozialen Zusammenhalt in An die Länder gerichtet betone ich hier nochmals, dass den Kommunen und Quartieren zu stärken . es um Möglichkeiten für Kommunen geht, mit denen diese verantwortlich umgehen können und werden . Bund An erster Stelle steht eine so von uns vor einigen Jah- und Länder sollten den Kommunen diesen zusätzlichen ren nicht erwartete Binnenwanderung unserer Bürgerin- Spielraum nicht verweigern . nen und Bürger . Es folgt der Zuzug von Menschen aus Europa, und hinzugekommen sind die zu uns Geflüch- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 21678 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) Wir können unseren Kommunen schon etwas zutrauen . Wir brauchen Rechtssicherheit für die betroffenen Feri- (C) enwohnungen . Liebe Kolleginnen und Kollegen, in urbanen Gebie- ten soll auch von vornherein eine höhere Dichte mög- (Beifall bei der LINKEN) lich sein . Auf gleicher Fläche kann somit mehr Raum für Wir wissen aber zugleich, dass es auch Missbrauch Wohnungen entstehen . Denn bei allen Diskussionen über mit Ferienwohnungen gibt . An den Küsten haben wir Details sollten wir das große Ziel nicht aus den Augen beispielsweise oft das Problem, dass Zweitwohnungen, verlieren: Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum, die nur wenige Wochen im Jahr genutzt werden, dafür (Beifall der Abg . [SPD]) sorgen, dass die auch dort zum Teil angespannten Woh- nungsmärkte weiter belastet werden . Viele Menschen, und es gibt viele Menschen, die dringend darauf ange- die dort in der Gastronomie arbeiten, ein kleines Einkom- wiesen sind, dass wir dafür eben auch die richtigen Rah- men haben, finden in den Küstenorten gar keine Woh- menbedingungen setzen . nungen mehr . Wir haben das Problem mit langweiligen sogenannten Rollladensiedlungen, die Städte und Dörfer (Ulli Nissen [SPD]: Die Stadt Frankfurt ist veröden lassen, und wir erleben vor allen Dingen in den dafür dankbar!) Großstädten, dass es massive Probleme mit dem enor- Es geht aber bei weitem nicht nur um einen erhöhten men Missbrauch von Wohnungen als Ferienwohnungen Immissionsrichtwert . So erfordert zum Beispiel die geän- gibt, was die Wohnungsmärkte weiter anspannt . Des- derte Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung ein wegen finden wir es richtig, dass die Kommunen eine neues Verfahren, wenn Bauleitpläne aufgestellt werden . Handhabe haben, dies zu regulieren; denn sie können am besten entscheiden, ob es sinnvoll ist, Ferienwohnungen Ein weiteres Thema dieses Gesetzentwurfs sind Fe- zuzulassen, oder ob einfach ein Missbrauch vorliegt . rienwohnungen . Die Rechtsprechung des Oberverwal- tungsgerichts Greifswald hat die Frage aufgeworfen, ob Meine Damen und Herren, wir begrüßen auch einen Ferienwohnungen in klassischen Baugebieten überhaupt weiteren wichtigen Punkt, nämlich dass die Planungs- zulässig sind . Dies hat vor allem in touristischen Regio- verfahren beschleunigt werden und gleichzeitig die Um- nen die Kommunen und die privaten Ferienwohnungsbe- weltverträglichkeitsprüfungen gestärkt werden . Auch das treiber verunsichert . Hier wollen wir durch Klarstellung findet unsere Unterstützung. die nötige Rechtssicherheit herstellen und zugleich den Jetzt zum zentralen Punkt des Vorhabens, zu den so- Kommunen mehr planerische Möglichkeiten geben . genannten urbanen Gebieten . Wir wollen – ich denke, wir sind uns darin sicherlich einig – lebendige Städte mit (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Caren kurzen Wegen, in denen Wohnen, Arbeiten, Erholung, (B) Lay [DIE LINKE]) (D) Gastronomie und Kultur sowie kleine Handwerksbetrie- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesetzgebungs- be nebeneinander ihren Platz haben können . Das ent- vorhaben ist in den vergangenen Monaten bereits sehr spricht heute für viele dem Idealbild . Wir wollen nicht intensiv diskutiert worden . Ich möchte Sie daher um Ihre mehr Städte, wo das Wohnen an einem Ort stattfindet Unterstützung bitten. Die Kommunen und die Betroffe- und das Arbeiten, verbunden mit langen Wegen, an an- nen warten durchaus auf dieses Gesetz . derer Stätte, wo es nachts langweilig ist und wo man die Bürgersteige hochklappen kann . Die beliebten Gründer- Herzlichen Dank . zeitviertel in den Großstädten garantieren beispielsweise genau dieses Leben . Sie sind deswegen so beliebt und für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten viele das Idealbild . Heute könnten sie so gar nicht mehr der CDU/CSU) genehmigt werden, weil das Baurecht es gar nicht mehr zulässt . Deswegen ist es richtig, für diese Art von leben- Vizepräsidentin Claudia Roth: digen Wohnvierteln eine Gesetzesgrundlage zu schaffen. Vielen Dank, Barbara Hendricks . – Nächste Rednerin: (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Caren Lay für die Linke . Claudia Tausend [SPD]) (Beifall bei der LINKEN) Ich denke, angesichts der Mietenexplosion in den Großstädten ist es unausweichlich, dass wir Brachflächen Caren Lay (DIE LINKE): bebauen, dass wir sie dichter als bisher bebauen, dass wir Bahngelände bebauen . Von daher ist es richtig, entspre- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und chende innerstädtische Flächen zu aktivieren und dichter Herren! Ferienwohnungen an der Nord- und Ostseeküste und auch höher bauen zu können . ermöglichen vielen Familien mit kleinem, mit mittlerem Einkommen einen preiswerten Urlaub für die schönsten Diskutiert werden urbane Gebiete aber vor allen Din- Wochen im Jahr . Und für viele Einheimische ist der Tou- gen im Zusammenhang mit dem Thema Lärm . Ich bin rismus ein willkommener Zuverdienst, manchmal sogar froh, dass für bestehende Wohn- und Mischgebiete die die Lebensgrundlage . Leider haben diverse Gerichtsur- derzeitigen Regeln weitergelten werden . Es muss also teile dafür gesorgt, dass nun quasi Tausende Ferienwoh- niemand, der jetzt in einem ruhigen Wohngebiet wohnt, nungen an der Küste in die Rechtsunsicherheit, zum Teil befürchten, dass es bei ihm lauter wird; das ist gut so . in die Illegalität gedrängt wurden . Viele Menschen fürch- Ich finde gleichzeitig: Wer in die Nähe von bestehendem ten um ihre Einkünfte . Deswegen sagen auch wir Linken: Kleingewerbe, von bestehenden Bars, Klubs und Dis- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21679

Caren Lay (A) kotheken zieht, der muss auch bereit sein, eine höhere Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) Lärmbelastung zu akzeptieren . Er wird andererseits ja Vielen Dank, Kollegin Lay . – Nächster Redner: Kai mit einem lebendigen Stadtteil belohnt . Deswegen sagen Wegner für die CDU/CSU-Fraktion . auch wir: Ja, wir brauchen einen Bestandsschutz für be- stehende Bars, für bestehendes Kleingewerbe, für beste- (Beifall bei der CDU/CSU) hende Klubs und Diskotheken .

Die Frage ist aber aus meiner Sicht, wie wir die Lärm- Kai Wegner (CDU/CSU): konflikte, die es hier geben wird, lösen. Da hat die Regie- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und rung, finde ich, in ihrem Entwurf auf das falsche Pferd Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Städte gesetzt . Sie sagen zwar „man könnte“, „man müsste“ und in Deutschland sind im Kommen . Sie sind Wachstums­ „alles toll“, aber im Gesetzentwurf steht bisher etwas an- treiber, Zukunftslabore und für viele Menschen auch deres; dort steht, man wolle die Lärmschutzgrenzen pau- echte Sehnsuchtsorte . Bei allen Herausforderungen, die schal nach oben setzen. Ich finde, da setzen Sie auf das dadurch entstehen, freue ich mich als überzeugter Stadt- falsche Pferd . Es gibt viele technische Möglichkeiten . Es mensch sehr über die neue Urbanität in unserem Land . gibt zum Beispiel das sogenannte Hamburger Fenster . Es gibt die Möglichkeit, in den Bebauungsplänen entspre- Klar ist aber zugleich, dass mit der Renaissance der Städte neue Herausforderungen einhergehen . Das Wachs- chende Vorschriften zu machen . tum der Städte müssen wir gestalten . Deshalb ist es gut, ( [SPD]: Das hat die Ministe- dass wir auch im Städtebaurecht neue Antworten suchen, rin doch gerade gesagt!) neue Antworten geben . Eine zentrale Herausforderung ist in der Tat die Schaf- Das wäre im Interesse der Mieterinnen und Mieter und fung von bezahlbarem Wohnraum . Es darf nicht sein, letztlich auch im Interesse des bestehenden Gewerbes, dass die Menschen in Stadtvierteln nach Einkommen ge- weil es die Lärmkonflikte minimieren würde. Ich glaube, trennt leben . Das zerstört Vielfalt, das zerstört Kreativi- darüber werden wir im weiteren Verfahren noch sprechen tät, und es spaltet letztlich die Gesellschaft . müssen. So, wie es jetzt im Gesetzentwurf steht, finde ich es falsch . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ebenso falsch und kontraproduktiv ist der letzte Punkt; Wir wollen in unseren Städten keine Pariser Verhältnisse, er wird dazu führen, dass wir als Linke dem so nicht zu- sondern wir wollen die gesunde Durchmischung in un- seren Städten erhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen . (B) stimmen können . Auf den letzten Metern hat nämlich (D) eine Regelung in den Gesetzentwurf Eingang gefunden, die es ermöglichen würde, dass die Außenbereiche von (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Mindrup Städten und Dörfern im Eilverfahren bebaut werden . [SPD]: Dafür braucht es ein Mietenpaket II! – Caren Lay [DIE LINKE]: Mietpreisbremse!) ( [CDU/CSU]: Richtig!) Um zu verhindern, dass Menschen aus ihren angestamm- ten Wohnvierteln verdrängt werden, müssen wir der stei- Das hat die CSU ja nachträglich durchgesetzt . Das Ziel genden Wohnraumnachfrage auch ein steigendes Ange- dieser Novelle, nämlich die Innenstadtentwicklung zu bot an Wohnungen entgegensetzen . stärken, wird durch diesen Paragrafen völlig konterka- riert . Wir müssen die weitere Zersiedlung und den weite- Von der linken Seite war wieder das Schlagwort ren Flächenfraß verhindern . „Mietpreisbremse“ zu hören . Ich sage Ihnen eines: Eine Mietpreisbremse schafft keine einzige neue Wohnung im (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie bezahlbaren Bereich, meine Damen und Herren . des Abg . Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch der Abg . Caren Lay [DIE LINKE] – Claudia Frau Hendricks, Sie haben sich selber mit den Worten Tausend [SPD]: Aber sicher!) zitieren lassen, dass dies im Widerspruch zu allen um- weltpolitischen Bemühungen steht . Sie haben gesagt, Sie Das müssen auch Sie endlich einmal verstehen . Wenn könnten es in keiner Weise akzeptieren . Sie haben dann wir mehr bezahlbaren Wohnraum sichern wollen, dann auch Ihre Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass diese gibt es nur eine Maßnahme, liebe Kolleginnen und Kol- Änderung, auf den letzten Metern von der CSU durchge- legen: Bauen, Bauen und noch einmal Bauen! setzt, keine Mehrheit finden wird. Das finden wir auch. (Beifall bei der CDU/CSU) Diese Änderung lehnen wir ab . Wir werden dazu auch einen Änderungsantrag einbringen . Dann, meine Damen Das ist die einzige und richtige Maßnahme . und Herren, wird es auch an Ihnen liegen, ob der Wunsch von Frau Hendricks hier eine Mehrheit finden wird. Ja, wir müssen bauen: für Familien, für ältere Men- schen, für Singles, für Gutverdiener, aber eben auch für Vielen Dank . Geringverdiener. Jeder soll die Wohnung finden, die sei- nen Ansprüchen und seinen Bedürfnissen genügt, liebe (Beifall bei der LINKEN) Kolleginnen und Kollegen . 21680 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: Meine Damen und Herren, es ist richtig und wich- (C) Herr Wegner, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder tig, über das „Urbane Gebiet“ die Innenentwicklung zu -bemerkung? stärken . Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir oftmals auch an die Grenzen von Verdichtung stoßen und Wider- stand angestammter Bewohner erleben . Kai Wegner (CDU/CSU): Ja, gerne . Nach allen Schätzungen benötigen wir in Deutschland jährlich mindestens 350 000 neue Wohnungen . Wir wer- den diese große Zahl von neuen Wohnungen nicht allein Vizepräsidentin Claudia Roth: durch Geschossaufstockungen und das Schließen von Gut . Baulücken im Innenbereich liefern können . Wir dürfen unsere Städte allerdings nicht so verdich- Caren Lay (DIE LINKE): ten, dass man irgendwann den Himmel nicht mehr sieht . Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen .– Auch in zentralen Lagen brauchen wir Freiräume, Grün- Sie haben als Rezept für bezahlbares Wohnen die Losung flächen und Parkanlagen. Unsere Städte müssen auch in „Bauen, Bauen, Bauen!“ ausgegeben . Deswegen möch- Zukunft mehr als nur Steine und Beton sein . te ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass nach aktuellen Uns als Union war es deshalb sehr wichtig, dass der Studien in den 20 größten Städten in Deutschland nur notwendige Wohnungsneubau auf zwei Säulen ruht . circa 10 Prozent der neu gebauten Wohnungen überhaupt Die erste Säule ist die Nachverdichtung in den Zentren . im bezahlbaren Bereich liegen? „Bezahlbar“ ist nach Dazu kommt aber noch eine zweite Säule, nämlich das dem Durchschnittsverdienst definiert; wir reden dabei beschleunigte Planungsverfahren im siedlungsnahen Au- gar nicht über arme Menschen bzw . über Sozialwohnun- ßenbereich . gen . Also: Ist Ihnen bekannt, dass nur circa 10 Prozent der neu gebauten Wohnungen für Durchschnittsverdiener Der erleichterte Wohnungsbau am Ortsrand wird die bezahlbar sind? Und können Sie angesichts dieser Tatsa- Innenstädte entlasten und vielen Bürgern die Chance che Ihre These, dass Bauen, Bauen, Bauen die einzige auf eine bezahlbare Wohnung eröffnen. Gerade weil ich Lösung für bezahlbares Wohnen ist, noch irgendwie auf- weiß, dass es im Ministerium hier zunächst Bedenken rechterhalten? gab, danke ich für die Bewegung in diesem Punkt . Die Regelung, die wir gefunden haben, gilt für Gebiete klei- ner als 10 000 Quadratmeter und ist bis 2019 befristet . Kai Wegner (CDU/CSU): Ich denke, das ist eine sehr maßvolle Regelung, die wir Frau Lay, das ist ja genau der Punkt . Wenn es so ist, gefunden haben, und dazu ein fairer Kompromiss insbe- (B) wie Sie es beschreiben, dann hilft eine Mietpreisbremse sondere im Sinne der Menschen, die davon profitieren (D) auch nicht; werden . (Caren Lay [DIE LINKE]: Doch! Selbstver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ständlich! Ohne die Ausnahmen!) ordneten der SPD) denn dann bleibt es ja bloß bei den 10 Prozent . Deswe- Meine Damen und Herren, auch für die Bauplanungs- gen sage ich noch einmal: Wir brauchen ein Bündel an rechtsnovelle gilt: Kein Gesetzentwurf ist so gut, dass er Maßnahmen, um auch bezahlbaren Wohnraum sicherzu- nicht im parlamentarischen Verfahren weiter verbessert stellen, und die beste Maßnahme ist in der Tat: Bauen, werden könnte . Dazu wird sicher auch die Anhörung bei- Bauen, Bauen . tragen, die wir im Ausschuss durchführen werden . Wir Wir brauchen ein Mehr an Angebot . Es muss über- sollten bei der Städtebaurechtsnovelle an die gute Tra- haupt erst einmal ein Angebot an bezahlbaren Wohnun- dition anknüpfen, Änderungen des Baurechts in einem gen für die Menschen geben . Deshalb muss der Staat al- breiten Konsens aller Fraktionen zu beschließen . Hierzu les daransetzen, dass Wohnungsbaugesellschaften, aber lade ich auch ausdrücklich die Opposition ein . auch private Firmen bauen können, um dieses Angebot (Beifall bei der CDU/CSU) zu vergrößern . Das ist die Antwort, die wir geben müs- sen, und zwar in einem Maßnahmenpaket . Es gibt keine Einen Punkt möchte ich zudem ansprechen, der mir Antwort, die für sich allein stehen kann . besonders wichtig ist und der im Regierungsentwurf noch keine Berücksichtigung gefunden hat: das Dauer- Wir setzen bei der Bauplanungsrechtsnovelle an, und wohnen in Erholungsgebieten . Derzeit haben die Kom- wir schaffen in der Tat den neuen Baugebietstypus „Ur- munen keine Möglichkeit, dort dauerhaftes Wohnen zu banes Gebiet“ . So ermöglichen wir eine höhere Bebau- genehmigen, obwohl die Lebensrealität vielerorts anders ungsdichte und damit den Bau zusätzlicher Wohnungen aussieht . Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Politik in den urbanen Zentren . Das „Urbane Gebiet“ wird zu- beginnt mit dem Betrachten der Lebenswirklichkeit . Ich dem die funktionale Durchmischung in unseren Städten kenne die prekäre Situation der Betroffenen aus eigener stärken . Wir fördern ganz bewusst das Nebeneinander Anschauung . In meinem Wahlkreis in Berlin-Spandau von Arbeiten, Wohnen und Wohlfühlen . Dabei lassen wir befindet sich die Wohnsiedlung Hakenfelde. Die Bewoh- uns von der Erkenntnis leiten, dass gemischte Quartiere ner dieser Wohnsiedlung leben in ständiger Furcht, aus eine Stadt der kurzen Wege ermöglichen und letztlich der ihren Häusern vertrieben zu werden . Ähnliche Wochen- Garant für Lebensqualität, für Wohnzufriedenheit, für endsiedlungen gibt es im ganzen Bundesgebiet . Viele Standortbindung und für Identitätsbildung sind . entstanden bereits in den 20er-Jahren, schon damals mit Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21681

Kai Wegner (A) eingestreuter Dauerwohnnutzung . Wir sollten die Bau- bendiges, tolerantes und kreatives Miteinander“, „Nach- (C) planungsrechtsnovelle nutzen, um die rechtliche Situa- haltigkeit“, „saubere Umwelt“ und „intaktes Klima“ . tion der seit Jahrzehnten gelebten Praxis anzugleichen . Das sind schöne Worte . Es handelt sich sicher um eine Es ist höchste Zeit, den Bewohnerinnen und Bewohnern gute Gesetzesvorlage . Wir unterstützen auch das urbane dieser Siedlungen endlich die Rechtssicherheit zu geben, Gebiet . Aber Ihre Gesetzesnovelle, Frau Hendricks, hat die sie verdienen . einfach zwei Pferdefüße . Auf diese möchte und muss ich hier bei der ersten Lesung eingehen . (Beifall bei der CDU/CSU) Der erste Punkt ist: Sie versprechen eine flächenspa- Meine Damen und Herren, die deutschen Städte sind rende Siedlungsentwicklung . Das ermöglicht das urba- attraktiv und ziehen viele Menschen an . Dieses Wachs- ne Gebiet. Ich muss ja, um Grünflächen in der Stadt zu tum wollen, dieses Wachstum werden wir gestalten . Die halten, höher und dichter bauen, wenn ich Druck im In- Städtebaurechtsnovelle ist ein weiterer Baustein für eine nenbereich habe. Ich finde, diesbezüglich ist dieses Ge- lebenswerte Zukunft in unseren Städten und Gemeinden . setz ein gutes Gesetz . Aber dass Sie sich dann aus dem Deshalb freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuss, Bauministerium in München einen Paragrafen ins Gesetz hoffe, mich dann letztlich auch über ein gutes Ergebnis diktieren lassen, sozusagen eine BauGB-Novelle mit für die Menschen in unseren Städten freuen zu können . einer Ausnahme für Bayern – wieder einmal –, ist, fin- Ihnen allen wünsche ich ein schönes Wochenende . de ich, umweltpolitisch und städtebaulich vollkommen Herzlichen Dank . falsch . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ordneten der SPD) sowie der Abg . Caren Lay [DIE LINKE]) Der § 13b, den Sie in das Baugesetzbuch hineinschrei- Vizepräsidentin Claudia Roth: ben wollen, sorgt doch dafür, dass Bürgerbeteiligung Vielen Dank, Kai Wegner, auch für das schöne Wo- ausgehebelt wird – im Jahr 2017 –, Umweltprüfung aus- chenende .– Nächster Redner: Chris Kühn für Bünd- gehebelt wird und Ausgleichsmaßnahmen beim Natur- nis 90/Die Grünen . schutz ausgehebelt werden . Wir reden über Biodiversität, wollen aber keine Ausgleichsmaßnahmen machen . Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE (Dr .Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Wir reden GRÜNEN): von den Menschen!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Ich glaube, das passt nicht zusammen . Wir Grüne werden (B) nen und Kollegen! Im Jahr 1959 ist ein Buch des Autors den § 13b nicht mitragen . (D) Hans Reichow erschienen . Es hatte den Titel Die auto- gerechte Stadt. Dieses Buch hat in der Stadtentwicklung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) große Wirkung entfaltet und hat dazu geführt, dass unse- Liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU, § 13b gilt re Städte heute sind, wie sie sind: Sie sind nämlich fürs nicht nur in Gebieten mit Wohnraummangel, sondern er Auto gebaut und nicht für die Menschen . gilt in ganz Deutschland, also auch in Gebieten, in denen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Bevölkerungsentwicklung rückläufig ist. Ich bin froh, dass wir uns mit der heutigen BauGB-No- (Dr .Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Wir den- velle von dieser Idee der autogerechten Stadt ein Stück ken auch an die Menschen im ländlichen weit verabschieden und endlich Städte für Menschen Raum!) bauen, das menschliche Maß in den Mittelpunkt nehmen Das hat mit Flächensparen nichts zu tun . Ich glaube, die und eben nicht das Maß des Autoverkehrs, CSU hat die Dorfkerne und die Kleinstädte längst aufge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geben . Das ist nämlich das Signal des § 13b, das Sie von der CSU senden . Städte, in denen Leben, Arbeiten, Freizeit auf engem Raum möglich sind . Die Stadt der kurzen Wege ist eine (Dr .Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Dann grüne Idee, die wir in vielfältigen Anträgen in den letzten kennen Sie meine Heimatregion noch nicht!) 30 Jahren in Kommunalparlamenten, Landesparlamen- Frau Hendricks, ich kann nicht verstehen, dass Sie ten und hier im Bundestag eingebracht haben . Insofern solch einen Paragrafen in den Gesetzentwurf aufgenom- ist es auch ein Erfolg der grünen Partei, dass wir diese men haben . Sie sind doch die Ministerin, die für Flä- BauGB-Novelle heute im Deutschen Bundestag beraten chensparen zuständig ist, und sind trotzdem beim Flä- und auf den Weg bringen . chensparen auf einem Auge blind . Ich glaube, Sie nähern Für uns ist Urbanisierung ein wichtiges und zentrales sich da vom Niveau her dem Verkehrsminister Dobrindt Thema. Es geht darum, Bauflächen im Innenbereich zu mit seinem Bundesverkehrswegeplan an . erschließen . Innen- vor Außenentwicklung ist ganz zen- Der zweite Pferdefuß ist die Gesundheit und der tral . Ich glaube, die Zukunft der Stadt zu sichern, kann Lärmschutz in der Stadt . 3 dB(A) sind eben kein ange- nur dann gelingen, wenn wir uns wirklich in Urbanität messener Interessenausgleich . Das kann ich überhaupt und Innenentwicklung diesem Idealbild von Stadt annä- nicht erkennen . hern . Sie schreiben in der Einleitung zu diesem Gesetz ja Dinge wie „soziale Gerechtigkeit und Teilhabe“, „le- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 21682 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Christian Kühn (Tübingen) (A) 3 Dezibel mehr bedeuten doppelten Schallschlag . Das ist Claudia Tausend (SPD): (C) gesundheitsgefährdender Lärm . Ich kann nicht erkennen, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und dass man so gesunde und lebenswerte Städte bauen kann . Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr froh, Das hat nichts mit ungestörtem Schlaf zu tun und auch Herr Kollege Kühn, dass wir heute in erster Lesung über nichts mit ungestörter Kommunikation in der eigenen die Änderung wichtiger Bereiche des Baugesetzbuches Wohnung . Vielmehr heißt das dann: Das Fenster muss beraten können . Mitte letzten Jahres – hier gebe ich Ihnen geschlossen bleiben . – Ich glaube, das ist heutzutage kei- völlig recht – war durchaus nicht sicher, dass wir in die- ne adäquate Lösung mehr . ser Legislaturperiode noch zu einem guten gemeinsamen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ergebnis kommen würden . Dabei warten gerade unsere sowie der Abg . Caren Lay [DIE LINKE]) Städte – Frau Ministerin hat darauf hingewiesen – hände- ringend darauf, dass das Bauen auch im innerstädtischen Die Länder Hamburg und Bremen haben mehr techni- Bereich erleichtert wird, um den nötigen Wohnraum zü- schen Lärmschutz gefordert . Den werden auch wir Grü- gig herstellen zu können . ne bei dieser Baugesetzbuchnovelle einfordern . Das ist nämlich, wie ich glaube, eine adäquate Lösung, wie wir Wir als Bundesgesetzgeber haben zwei Stellschrau- Lärmschutz auf der einen Seite und gute Stadtentwick- ben, die wir bewegen können, um den Städten zu helfen . lung und Innenentwicklung auf der anderen Seite kombi- Wir können einerseits finanzielle Mittel zur Verfügung nieren und voranbringen können . stellen, und wir können andererseits die Mobilisierung von Bauland erleichtern . Wir haben vonseiten des Bun- Frau Hendricks, Sie selbst haben ja in Ihrer Rede vom des den Kommunen bereits mit einer Verdreifachung der „Hamburger Fenster“ gesprochen . Bis jetzt hieß es im- Mittel für die Förderung des sozialen Wohnraums maß- mer: Das geht alles nicht . Das ist umweltrechtlich gar geblich geholfen . Wir haben gesehen: Erste Erfolge sind nicht möglich .– Wenn Sie selbst es hier ansprechen, greifbar . Die Anzahl der Baugenehmigungen ist in den dann hätten Sie es mit dieser Gesetzesnovelle auf den ersten zehn Monaten des letzten Jahres auf 340 000 an- Weg bringen können und den technischen Lärmschutz gestiegen . Das ist ein Plus von 23 Prozent . Ich glaube, endlich rechtlich absichern können . das ist ein erster schöner Erfolg . Heute geht es in einem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zweiten Schritt darum, die Rahmenbedingungen für den sowie der Abg . Caren Lay [DIE LINKE]) Bau von Wohnungen zu verbessern und die Mobilisie- rung des knappen Baulands zu erleichtern . Zum Schluss möchte ich noch etwas zum Verfahren sagen . Auch Sie, Frau Hendricks, haben ja gesagt: Die Es wurde mehrfach angesprochen: Eine maßgebliche Menschen haben schon sehr lange gewartet, bis diese Ge- Rolle spielt dabei das „Urbane Gebiet“, eine neue Ge- (B) setzesnovelle kam . Jetzt solle sie doch sehr zügig durch bietskategorie, die wir in der Baunutzungsverordnung (D) das Parlament gehen . Für mich stellt es sich so dar: In der einführen wollen . Das „Urbane Gebiet“ soll die Gebiets- Abenddämmerung der Großen Koalition bringen Sie ein kategorien „Mischgebiet“ und „Allgemeines Wohnge- Gesetz auf den Weg, was Sie selbst über Jahre blockiert biet“, die ja noch auf der Idee einer möglichst weit ge- haben . Es liegt demnach nicht am Parlament oder der henden Trennung der Nutzungen fußen und einer Stadt Opposition, sondern daran, dass Sie als Große Koalition der kurzen Wege oftmals entgegenstehen, ergänzen und die Gesetzesnovelle nicht zustande gebracht haben . Sie durch eine flexiblere Handhabung hinsichtlich Wohnen hätte schon im Sommer letzten Jahres kommen sollen . und Gewerbe Nutzungsvielfalt und Durchmischung in Sie liegt jetzt vor, und wir müssen sie jetzt in einem sehr den Quartieren sicherstellen, um so die schon mehrfach schnellen Verfahren beraten . angesprochene Urbanität des Wohnens herzustellen . Wir wollen ein vernünftiges Verfahren, damit die (Beifall der Abg. Waltraud Wolff [Wol- Standards des Baugesetzbuches so weiterentwickelt wer- mirstedt] [SPD]) den, dass es am Ende zu einer guten Stadtentwicklung kommt . Wir stehen zu der Gebietskategorie „Urbanes Um es jetzt ein bisschen verständlicher zu machen, Gebiet“ . Wir werden dazu Änderungsvorschläge, auch schließe ich an die Ausführungen der Kollegin Lay an . für das Verfahren, einbringen . Wenn Sie bereit sind, un- Umfragen zeigen, dass mindestens jeder zweite Deutsche sere Änderungsvorschläge gemeinsam zu debattieren gerne in München leben würde – und vielleicht den einen oder anderen zu übernehmen, werden wir auch gemeinsam vorankommen . (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Was? Köln ist viel schöner!) Wir Grüne sind überzeugt: Die Stadt ist für die Men- schen da und nicht für den Lärm oder den Verkehr . zumindest behaupten wir Münchener das, und die Zu- Danke schön . zugsraten deuten auch darauf hin . Aber, Kolleginnen und Kollegen, mit München gemeint sind Schwabing und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Maxvorstadt, die Isarvorstadt, die Ludwigsvorstadt und natürlich Haidhausen . Das sind die ganz dicht be- Vizepräsidentin Claudia Roth: bauten Gründerzeitquartiere mit einem vielfältigen und Vielen Dank, Chris Kühn .– Nächste Rednerin: bunten Angebot an Gaststätten, kulturellen Nutzungen Claudia Tausend für die SPD-Fraktion . und Kleingewerbe direkt vor der Haustür . So kann man natürlich schon seit Jahrzehnten nicht mehr bauen; denn (Beifall bei der SPD) dieser Städtebau ist noch der Charta von Athen gefolgt . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21683

Claudia Tausend (A) Um nicht missverstanden zu werden: Wir wollen jetzt keit, in Bebauungsplänen einen passiven Schallschutz (C) weder zurück in die Gründerzeit – denn die damaligen vorzusehen . Ich würde mir aber auch eine Regelung in Ansprüche an Belichtung, Besonnung und Belüftung von § 34 Baugesetzbuch wünschen . Wohnraum und an Grün- und Freiräume im Wohnumfeld Ich komme zum Schluss, Kolleginnen und Kollegen . würden wahrscheinlich jedem Stadtplaner den Schweiß Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geben wir den auf die Stirn treiben –, noch wollen wir Neubaugebiete Kommunen wesentliche Instrumente zur Mobilisierung künftig nur noch als urbane Gebiete bauen . Die Men- von Bauland an die Hand und leisten damit einen weite- schen haben unterschiedliche Ansprüche an ihr Wohn- ren Beitrag nicht nur zur Schaffung von mehr Wohnraum, und Lebensumfeld, und um diesen Ansprüchen gerecht sondern vor allem auch zur Schaffung von bezahlbarem zu werden, wollen wir Angebote schaffen. Wohnraum . Als Bundesgesetzgeber wollen wir nun den Kommu- Ich bedanke mich . nen die Möglichkeit geben, dort höher und dichter zu bauen, wo es Sinn macht, zum Beispiel – das wurde auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schon angesprochen – auf gewerblichen Brachen oder der CDU/CSU) in Umstrukturierungsgebieten mit einer Gemengelage, die dann stärker in Richtung Wohnen entwickelt werden Vizepräsidentin Claudia Roth: könnten – Vielen Dank, Frau Kollegin Tausend .– Nächste Red- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nerin: Dr .Anja Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion . und zwar, Kolleginnen und Kollegen, in Richtung bezahl- (Beifall bei der CDU/CSU) bares Wohnen . Denn mit der Einführung der urbanen Ge- biete schaffen wir neues Baurecht und können dann über Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): städtebauliche Verträge auch sicherstellen, dass nicht nur Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und teurer Wohnraum – wie oft bei Nachverdichtungsvorha- Kollegen! „Billig Wohnen geht nur weit ab vom Schuss“, ben nach § 34 Baugesetzbuch der Fall – entsteht, sondern „Die Mieten werden immer teurer“, „Wohnen müssen auch sozial orientierter Wohnraum . alle“ – das sind nur einige Schlagzeilen aus den letzten (Beifall bei der SPD) Wochen und Monaten zum Thema „Wohnen und Bauen“ . Kolleginnen und Kollegen, das ist für uns zentral; denn Die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum in Bal- für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist lungsgebieten ist eine der drängendsten Herausforde- Wohnen kein Luxusgut, sondern ein Grundrecht . rungen, vor der wir stehen . Immer mehr Menschen zieht (B) es in die Städte, und dadurch wird der Wohnraum dort (D) Das urbane Gebiet – auch darauf wurde hingewie- immer knapper und auch immer teurer . Diese Wohnungs- sen – hat eine ökologische Komponente und leistet ei- knappheit wird in den Städten zunehmend zum Problem . nen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz . Es ermöglicht ressourcenschonendes und flächensparendes Bauen, Wir haben in dieser Wahlperiode schon vieles auf den wirkt der Zersiedelung von Landschaften und dem um Weg gebracht, um genau dem entgegenzuwirken; denn es sich greifenden Flächenverbrauch entgegen . Wir wollen muss doch auch der Krankenschwester oder dem Polizis- auch künftig, Kolleginnen und Kollegen, der Innenent- ten möglich sein, bezahlbaren Wohnraum in den Stadt- wicklung der Städte gegenüber der Bebauung des Au- zentren zu finden. Mietpreisbremse, Wohngeldreform ßenbereichs Priorität einräumen. In diesem Sinne hoffe und die deutliche Erhöhung der Mittel für die soziale ich, dass vonseiten der Kommunen bei der Baulandmo- Wohnraumförderung von 500 Millionen auf 1,5 Milliar- bilisierung vorrangig die Chance des urbanen Gebiets den Euro jährlich – das sind alles wichtige Instrumente . genutzt wird . Diese Gelder – das betone ich jedes Mal aufs Neue – müssen von den Ländern zielgenau für die soziale Wohn- Wir gehen aber auch den Weg mit, einen neuen § 13b raumförderung eingesetzt werden . Baugesetzbuch zu schaffen, der ein beschleunigtes Bau- leitplanverfahren auch für den Außenbereich vorsieht, (Klaus Mindrup [SPD]: Hat Bayern das ge- aber nur dort, wo sich die Bauvorhaben an zusammen- macht?) hängende Ortsteile anschließen, und auch das nur befris- – Bayern macht das sehr vorbildlich, ganz genau . Wir tet bis zum 31. Dezember 2019. Ich hoffe und erwarte, gehen mit gutem Beispiel voran . dass die Kommunen dieses Instrument sorgfältig und be- hutsam und nur zur Arrondierung von Siedlungsrändern Das beste Instrument – das betone ich auch noch ein- nutzen werden . Ich kenne den § 13a, der 2007 eingeführt mal – für mehr bezahlbaren Wohnraum, Frau Lay, ist und wurde, aus der Praxis . Zumindest in meiner Heimatstadt bleibt: Bauen, bauen, bauen . Es gibt bekanntlich auch München wurde von diesem Instrument in untergeordne- den Sickerungseffekt. Wer eine teure Wohnung mietet, tem Maße Gebrauch gemacht . macht eine günstigere Wohnung frei . Ich glaube, zum Thema Lärmschutzmöglichkeiten ist (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ von den Kolleginnen und Kollegen alles gesagt worden . DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder gehen wir mit Welche Studie belegt denn den Sickerungsef- den Lärmemissionswerten um 3 Dezibel hoch, oder wir fekt? Den gibt es nicht! Das ist ein Ammen- schaffen alternativ mit einer Neuinterpretation der Tech- märchen! Es gibt keine Studie! Welche Studie nischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm die Möglich- denn?) 21684 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Dr. Anja Weisgerber (A) – Dazu gibt es Studien . Wir haben darüber auch schon Gemeinden möchten wir dieses Instrument an die Hand (C) auf vielen Podiumsdiskussionen gesprochen . Wer eine geben; teurere Wohnung mietet, macht eine andere Wohnung (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ frei . Das ist Fakt .– An genau dieser Stelle setzen wir mit DIE GRÜNEN]: Dann beschränken wir das der Novelle an . Ganze doch einfach gemeinsam!) Der derzeitige rechtliche Rahmen ermöglicht das Ne- denn neben dem freien Wohnungsbau kann auch der so- beneinander von Wohnen und Gewerbe, aber den Bau ziale Wohnungsbau davon profitieren, wenn dieses Inst- zusätzlicher Wohnungen in urbanen Zentren nur einge- rument besteht . schränkt . Mit der neuen Baugebietskategorie „Urbanes Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist eine Gebiet“ wollen wir das ändern . Wir wollen das Baupla- gute Grundlage, um die Herausforderungen, vor die uns nungsrecht und das Immissionsschutzrecht flexibilisie- der Wohnraummangel stellt, an der Wurzel zu packen . ren, das heißt: mehr Innenverdichtung, es kann dichter An einer Stelle wünschen wir eine Ergänzung . Denn und höher gebaut werden . Und dadurch ermöglichen wir nach der aktuellen Rechtslage können Gemeinden keinen eine Nutzungsmischung von Wohnen und Gewerbe, auch Bebauungsplan aufstellen, der dauerhaftes Wohnen in von Kultur- und Sporteinrichtungen . Das, meine Damen Erholungsgebieten ermöglicht; das wurde bereits ange- und Herren, ist genau der richtige Schritt . sprochen . Hier möchten wir eine Verbesserung erreichen . Gerade in stadtnahen Erholungsgebieten ist es nämlich Aber ich sage auch – Herr Kühn, hören Sie mir bit- Realität, dass dort auch gewohnt wird . Im Zuge dieser te zu –: Allein durch die Innenentwicklung werden wir Baurechtsreform sollten wir versuchen, diese unklare Si- es nicht schaffen, den Bedarf an Wohnraum zu decken; tuation der gelebten Realität anzupassen . denn wir brauchen 350 000 bis 400 000 neue Wohnun- Ich freue mich auf die weiteren – auch parteiüber- gen pro Jahr . Einige Städte – München ist dafür ein gutes greifenden, fraktionsübergreifenden – Diskussionen im Beispiel – platzen schon jetzt schier aus allen Nähten . anstehenden Gesetzgebungsverfahren, die dazu führen Auch in Berlin wird die Situation – ich habe mich gestern werden, dass wir am Ende ein gutes Gesetz bekommen . erst mit einem Berliner darüber unterhalten – auf dem Wohnungsmarkt immer schwieriger . Vielen Dank für die Aufmerksamkeit . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Für mehr neuen und vor allem bezahlbaren Wohnraum ordneten der SPD) benötigen wir mehr Bauland .

(B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: (D) Vielen Dank, Frau Kollegin Weisgerber .– Der letzte Fehlendes Bauland ist ein wesentlicher Preistreiber beim Redner in dieser Debatte: Volkmar Vogel für die CDU/ Wohnen und Bauen . Das hat übrigens auch – Sie haben CSU-Fraktion . gerade nach Studien gefragt – die Baukostensenkungs- (Beifall bei der CDU/CSU) kommission ganz deutlich herausgearbeitet: Fehlendes Bauland ist ein Preistreiber .– Deshalb haben wir uns Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): als Union – als CDU und CSU – uns für ein Signal am Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ortsrand starkgemacht . Wir haben schließlich einen Ich möchte noch einmal daran erinnern: Wir bringen heu- Kompromiss gefunden . Kommunen sollen künftig im te das Gesetz zur Stärkung des neuen Zusammenlebens beschleunigten Verfahren Bebauungspläne für den Orts- in der Stadt ein . Die Diskussion, die eben stattgefunden rand aufstellen können, allerdings unter strengen Voraus- hat, zeigt mir, dass wir da auf einem guten Weg sind setzungen: nur auf drei Jahre befristet, in engen Grenzen, und sicherlich eine gemeinsame Position finden werden. und der Vorrang der Innenentwicklung als Grundsatz der Wir setzen damit eine EU-Richtlinie um, aber unter dem Bauleitplanung bleibt selbstverständlich bestehen . Es ist Strich kann man sagen: Wir ändern in dieser Legislatur- so, wie Frau Tausend gerade gesagt hat: Es liegt in der periode auch das Baugesetzbuch, insbesondere das Pla- Hand der Kommunen, verantwortungsvoll mit diesem In- nungsrecht . strument umzugehen . Sie bekommen dieses Instrument, Frau Ministerin, unabgesprochen habe ich auf mei- um auf die aktuelle Situation an den Wohnungsmärkten nem Spickzettel auch vermerkt, dass es wichtig ist, dass zu reagieren, ohne dass wir strukturelle Veränderungen wir schnell zu einem Ergebnis kommen . Deswegen vie- im Baurecht vornehmen . len Dank auch an Ihr Haus, dass wir mit der Einbringung nicht im Verzug sind . Es kommt jetzt darauf an, dass sich Das beschleunigte Verfahren kommt gerade den Ge- der Bundesrat schnell – am 10 .Februar – damit beschäf- meinden zugute, die mit der Nachverdichtung und der tigt, dass wir unsere Anhörung konstruktiv durchführen Innenentwicklung an ihre Grenzen stoßen . Herr Kühn, und noch im März hier zu einem Ergebnis kommen . Die wir machen im Bereich der Ortskernrevitalisierung sehr Menschen und die Kommunen warten aus mehreren viel mit LEADER-Mitteln, auch in meinem Heimatland- Gründen darauf . Die Kommunen warten darauf, damit kreis – Besucher aus meiner Heimat sitzen oben auf der Rechtsklarheit bei der Anpassung im Bereich Ferien- Tribüne; die können das bezeugen –, aber es gibt den- wohnungen herrscht . Klar ist, wir wollen nicht die so- noch Gemeinden, die da an ihre Grenzen stoßen . Diesen genannten Rollladensiedlungen, sondern wollen Wohnen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21685

Volkmar Vogel (Kleinsaara) (A) möglich machen . Aber wir brauchen auch Rechtsklarheit Lassen Sie mich noch ein Wort zum ländlichen Raum (C) für die Bestände . Das ist für diejenigen wichtig, die in sagen . Mir ist sehr daran gelegen, dass wir bei dem, was diesem Bereich tätig sind . wir jetzt für die Städte auf den Weg gebracht haben – Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Woh- Stichwort „urbanes Gebiet“ –, auch an die kleinen Städte nungssituation ist vor allem in den Ballungsräumen und und an die Dörfer denken . Die kleinen Städte und Dörfer in den sogenannten Schwarmstädten schwierig . Wir haben sich gewandelt . Die Industrieentwicklung der letz- müssen hier zwei Strategien fahren, eine kurzfristige und ten 70 Jahre hat dazu geführt, dass sie oftmals nur noch eine, die langfristig wirken kann . Was die kurzfristige Schlafdörfer sind . Aber Dörfer waren eigentlich etwas Strategie angeht, ist es richtig, dass wir unter bestimm- anderes . Dörfer waren eigentlich, im übertragenen Sinne, ten Voraussetzungen auch ein vereinfachtes Planungs- Gewerbegebiete, wo Landwirtschaft, wo Handwerk, wo recht zulassen und dies – das möchte ich noch einmal Mittelständler, wo kleine Betriebe auf engem Raum des ausdrücklich betonen – zeitlich begrenzen . dörflichen Lebens zusammengearbeitet haben. Ich bin (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ der festen Überzeugung, dass so etwas in Zukunft wieder DIE GRÜNEN]: Vereinfachte Handlungsfä- besser möglich sein muss . higkeit ohne Bürgerbeteiligung, ohne Um- weltprüfung!) Ich glaube, das urbane Gebiet, das wir jetzt für Bal- lungszentrum und große Städte auf den Weg gebracht Wir sollten die Zeit aber auch nutzen, langfristig wir- haben, ist ein gutes Beispiel . Das sollten wir auch in den kende Instrumente auf den Weg zu bringen . Dazu gehört Dörfern anwenden, damit der Schmied wieder im Ort ar- meiner Meinung nach insbesondere – wir hatten Mitt- beiten kann . Die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsum- woch ein Expertengespräch dazu –, dass es möglich ist, feld für einen Schmied und einen Schlosser haben sich in den Kommunen – auch mit Unterstützung des Bun- des und der Länder – Brachflächen zu erschließen – ob enorm gewandelt, genauso wie für einen Tischler oder Brachflächen der Bahn oder Militärkonversionsflächen einen Bäcker . Manch ein Bäcker möchte seine Bäckerei sei dahingestellt –, um auf diese Art und Weise zusätzli- vielleicht aus praktischen Erwägungen heraus erweitern, ches Bauland zu schaffen. Denn wie sollen wir ansonsten weil zwei, drei Asylsuchende da sind, die gute Falafel jungen Familien erklären, die aus ihrer Mietwohnung he- backen . Das würde zu einem größeren Angebot führen, rauswollen und sich Wohneigentum bilden wollen – sei es und die Asylsuchenden würden integriert und könnten durch ein eigenes Haus oder eine Eigentumswohnung –, hier arbeiten . dass wir dem durch die ungenügende Bereitstellung von Bauland – noch dazu zu überhöhten Preisen – einen Rie- Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Satz sagen: (B) gel vorschieben? Deswegen ist es auch wichtig – das Wir wollen das Baugesetz erneut novellieren; das haben (D) ist zwar nicht unser Thema –, dass wir bei der Wohn- wir in der vergangenen Legislatur auch getan . Ein we- immobilienkreditrichtlinie eine Änderung auf den Weg sentlicher Punkt, der damals eine Rolle gespielt hat, ist gebracht haben . Auch das wird uns sehr dabei helfen . die Privilegierung landwirtschaftlicher Betriebe im Au- Aber das Kernstück, wenn es um das bessere Leben in ßenbereich . Ich bitte darum, dass wir da sehr sorgfältig der Stadt geht, ist das urbane Gebiet . Ich kann mich da- vorgehen und, wenn es um den Bau neuer Ställe geht, ran erinnern, wie wir vor drei Jahren in unserer Fraktion die landwirtschaftlichen Betriebe im Außenbereich von darangingen, die Baunutzungsverordnung zu ändern . Da rein gewerblichen Ansiedlungen unterscheiden, weil ein war die Diskussion noch eine ganz andere . Aber ich den- Landwirt, dessen Familie den Hof vielleicht schon seit ke, wir haben es gut auf den Weg gebracht, dass die urba- Generationen betreibt und die vor Ort notwendige wirt- nen Gebiete hier eingeführt werden . Dadurch können wir schaftliche Tätigkeit ausübt, zu unterscheiden ist von je- zum einen Abstandsflächen verändern, um zusätzlichen mandem, der als Fremder kommt, um eine gewerbliche Wohnraum zu schaffen, und zum anderen auch dafür Tätigkeit auszuüben . Deswegen sollten wir zwischen de- sorgen, dass unsere Städte lebenswerter und attraktiver nen unterscheiden, die da sind, und denen, die dazukom- werden . men . Die, die da sind, sollten wir nicht verteufeln . Ich will hier ausdrücklich sagen: Es geht nicht darum – denn auch die Diskussion hatte ich –, Wohnen in Gewer- begebieten zuzulassen. Damit würde man neue Konflikte Vizepräsidentin Claudia Roth: verursachen . Es geht darum, Wohnen und Arbeiten zu Herr Vogel . verbinden; denn die Arbeitswelt hat sich verändert . Sie ist nicht mehr mit derjenigen von vor 50 Jahren zu ver- gleichen – so alt ist die jetzige Baunutzungsverordnung . Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn das nicht Wir sollten aber dafür sorgen, dass die schwarzen unsere Aufgabe ist, bitte ich doch darum, dass wir sehr Schafe, die die Regelungen in irgendeiner Art und Weise sorgfältig vorgehen, wenn es um Veränderungen von ausnutzen, zur Rechenschaft gezogen werden . Verwaltungsvorschriften geht . Ich meine hier insbeson- dere die TA Luft und die TA Lärm, die die Grundlage Vielen Dank . für das Verwaltungshandeln bilden . Bei diesem Thema dürfen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sondern müssen sehr sorgfältig vorgehen . ordneten der SPD) 21686 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: wichtig: nicht „für Afrika“ . Sein Ziel ist es, Afrika als (C) Vielen Dank, Herr Vogel . Manchmal ist ein Satz sehr Chancenkontinent zu begreifen und partnerschaftlich die lang . Entwicklung Afrikas zu Wohlstand und Frieden voran- zutreiben . (Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Sie hätten mir stundenlang zuhören können, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: oder?) Das ist kein neuer Gedanke, aber ein guter!) – Ich kann Ihnen selbstverständlich stundenlang zuhören, Dafür müssen wir eine andere Brille aufsetzen, und zwar vor allem, wenn ein Satz eine Stunde dauert . in allen Politikbereichen . Ich schließe die Aussprache . In unserem Antrag fangen wir heute damit an . Hier schauen wir auf den Kontinent aus der Perspektive von Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs Wissenschaftskooperationen mit Partnern in Subsaha- auf Drucksache 18/10942 an die in der Tagesordnung ra-Afrika . Zugegeben, manch einer reagiert dann er- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . – Es gibt keine staunt und sagt: Wenn wir an Spitzenforschung oder erst- anderweitigen Vorschläge . Dann ist die Überweisung so klassige Hochschulausbildung denken, fällt uns nicht als beschlossen . Erstes diese Weltregion ein . Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 31 auf: Lassen Sie uns heute versuchen, an einem anderen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Bild von Afrika weiterzuzeichnen . Als Bildungspoliti- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung kerin sehe ich Folgendes quasi als Grundierung unse- und Technikfolgenabschätzung (18 . Ausschuss) res Bildes: Das größte Potenzial Afrikas ist seine junge zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU Generation . Schon heute ist die Hälfte der afrikanischen und SPD Bevölkerung jünger als 18 Jahre . Bis zum Jahr 2050 wird sich die Bevölkerung des Kontinents wahrscheinlich auf Wissenschaftskooperation mit Partnern in über 2 Milliarden Menschen verdoppeln . Wenn eines klar Subsahara-Afrika stärken ist, dann das: Alle diese jungen Menschen brauchen gute Drucksachen 18/10632, 18/10973 Bildung als Voraussetzung, um dieses Potenzial wirklich entfalten zu können . Interfraktionell wurden 38 Minuten für die Ausspra- che vorgesehen . – Alle sind einverstanden . Das Hochschul- und Wissenschaftssystem spielt dabei eine entscheidende Rolle – für eine gute Lehrerbildung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Claudia als Voraussetzung für gute Schulen, für den Hochschul- (B) Lücking-Michel für die CDU/CSU-Fraktion . lehrernachwuchs, für Studienangebote, die arbeitsmarkt­ (D) orientiert ausbilden, für Forschung, die neue Lösungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- für die wirtschaftliche, aber auch die gesellschaftliche ordneten der SPD) Entwicklung ermöglicht . Außerdem könnten Hochschu- len auch qualifizierte Beratung für Politik und Verwal- Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU): tung anbieten . Wir schlagen deshalb eine ganze Serie von Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Maßnahmen in unserem Antrag vor . Nur einige will ich Liebe Gäste auf der Tribüne! Alle sprechen gerade von nennen . Afrika . Doch welches Bild haben Sie eigentlich vor Ih- rem geistigen Auge, wenn der Name dieses Kontinents Erstens . Künftig wollen wir zum Beispiel afrikanische fällt? Seien wir ehrlich: Nach wie vor tragen wir hier in Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die durch- Deutschland nur allzu häufig ein sehr einseitiges Bild von aus in großer Zahl überall in der Welt arbeiten, als so- Afrika mit uns herum. Dabei täuscht schon der Begriff als genannte Flying Faculties für kurzzeitige Lehraufträge solcher eine Einheitlichkeit vor, die es so gar nicht gibt . an Hochschulen in ihren Heimatländern gewinnen, um So viele Sprachen, Religionen, Kulturen und Nationen, damit die Qualität der Lehre dort langsam, aber stetig zu so viele verschiedene Wirklichkeiten werden hier zusam- verbessern . mengefasst . Eigentlich müsste man sagen, wir brauchten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nicht ein Bild, sondern eine ganze Bildergalerie vor unse- ordneten der SPD) rem geistigen Auge . Aber in unserer Wahrnehmung über- wiegen die Krisenmeldungen aus Afrika im Vergleich zu Zweitens . Bereits jetzt vergeben wir viele Stipendien . den guten Botschaften . Oft wird Henning Mankell zitiert: Rund 1 000 Stipendien für die qualitätsvolle Ausbildung von Hochschullehrern vor Ort sollen hinzukommen . Wenn wir uns am Bild der Massenmedien orientie- ren, lernen wir heute alles darüber, wie Afrikaner Wir fordern drittens noch mehr Mittel für Rückkehrsti- sterben, aber nichts darüber, wie sie leben . pendien . Menschen mit all ihren Talenten und all ihrem Wissen sind mobil . Sie ziehen durch die Welt, gerade die Leider stimmt das allzu häufig – bisher jedenfalls. Hochqualifizierten. Davon profitieren alle am Austausch beteiligten Seiten . Das ist die Idee der Brain Circulation . Ich bin überzeugt, dass unsere Afrika-Politik in Zu- kunft ganz andere Bilder liefern kann und wir einen an- Viertens wollen wir gerade die Süd-Süd-Kooperation deren Ansatz verfolgen werden . Anfang dieser Woche stärken . Die afrikanischen Wissenschaftssysteme sollten hat Entwicklungsminister Müller sein Konzept vorge- sich viel stärker untereinander vernetzen . Einen guten stellt, das er „Marshallplan mit Afrika“ nennt . Das ist Ausgangspunkt dafür sehen wir im African-German Net- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21687

Dr. Claudia Lücking-Michel (A) work of Excellence in Science, Kurzform AGNES . Es nen zwischen Deutschland und Subsahara-Afrika weiter (C) bringt etablierte Nachwuchsforscherinnen und -forscher fördern, konkret das Projekt der deutsch-afrikanischen aus Subsahara-Afrika bereits jetzt zusammen . Fachhochschulen . Auch hier kann man sagen, dass sich solche Partnerschaften als ein erfolgreiches Instrument, Als Forschungspolitikerin entdecke ich auf meinem um gemeinsame Problemlösungen zu erarbeiten, be- Bild von Afrika täglich viele spannende Einzelheiten . währt haben . Ich bin beeindruckt von Innovationen, die in Afrika er- dacht wurden, zum Beispiel eine Erfindung aus Kenia: Zum Schluss ein kühner Blick in die Zukunft . Stellen M-Pesa . Dies bedeutet auf Suaheli mobiles Geld . Per wir uns vor, der nächste Einstein kommt zum Beispiel SMS können afrikanische Mobilfunkkunden – ein Han- aus dem Senegal . Es gibt nämlich schon eine ganze Rei- dy besitzen zum Glück die meisten – Geld überweisen, he von Initiativen, die die mathematische Forschung in auch wenn sie kein eigenes Bankkonto haben . Das war Subsahara-Afrika stärken wollen . die Ursprungsidee . Mittlerweile ist das Handy zum gän- (René Röspel [SPD]: Karamba! – Heiterkeit gigen Zahlungsmittel geworden . Man kann per Handy im bei Abgeordneten der SPD) Supermarkt zahlen, seine Stromrechnung begleichen und sogar günstige Kleinkredite bei Banken anfragen . Ein – Gut ausgewählt, nicht? Genau .– Wir fördern den Auf- anderes Beispiel, eine Idee, die zurzeit in Ruanda von bau neuer Lehrstühle für Mathematik . einem Start-up-Unternehmen erprobt wird: Um Medika- mente und Blutkonserven trotz mangelnder Infrastruktur (René Röspel [SPD]: Chemie!) dort hinzubringen, wo sie gebraucht werden, verschickt – Das wäre doch etwas für dich, Karamba . Wer weiß? man sie nicht per Transport auf der Straße, sondern gleich mit Drohnen . Karamba ist hier, aber vielleicht studiert oder forscht der nächste Einstein ja schon an einer der neuen mathe- Auch über solche technologischen Sprünge sollten wir matischen Fakultäten dort . Das wäre doch durchaus re- reden, wenn wir von Afrika sprechen . Sie gehören zu ei- alistisch . Ein afrikanischer Einstein – damit würde un- nem vollständigen Bild von Afrika dazu . Unser Ziel ist seren Bildern von Afrika jedenfalls eine kräftige neue deshalb, mit unserem Antrag auch dafür zu sorgen, dass Farbe hinzugefügt werden . Ich bitte Sie jedenfalls um die die Bundesregierung die europäische Forschungspolitik Unterstützung unseres Antrags, damit wir die Bildergale- in Zukunft noch besser mit der afrikanischen verknüpft rie Afrikas gemeinsam erweitern . und verzahnt . Danke schön . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass wir (B) (D) die Herausforderungen der Zukunft nur gemeinsam und Vizepräsidentin Claudia Roth: nur als Partner bewältigen können, als Partner aus dem Vielen Dank, Claudia Lücking-Michel .– Nächste globalen Norden und Süden mit unterschiedlichen He- Rednerin: Christine Buchholz für die Linke . rangehensweisen . Denn wieder einmal gilt: Spitzenfor- schung lebt vom Austausch der Ideen, von unterschied- (Beifall bei der LINKEN) lichen Blickwinkeln, von Differenzerfahrung. Ob es um die Ernährungssicherung oder die Behandlung global Christine Buchholz (DIE LINKE): bedrohlicher Krankheiten geht, wir benötigen Innovatio- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und nen, die wir nur gemeinsam entwickeln können . Herren! Die Koalition möchte die Wissenschaftskoope- Es gibt zum Glück zu zentralen Forschungsthemen ration zwischen der Bundesrepublik Deutschland und schon eine Reihe von erfolgreichen Kooperationen zwi- den Ländern in Subsahara-Afrika vertiefen . Dadurch sol- schen deutschen Institutionen und Partnern aus Sub- len Chancen genutzt und „entscheidende Hebel“ in Be- sahara, zum Beispiel die sogenannten Klimakompetenz- wegung gesetzt werden, um dort Wachstum, Wohlstand zentren im westlichen und südlichen Afrika . Dort wird und sozialen Frieden zu schaffen und damit den Flucht- geforscht, damit es auch in Zeiten des Klimawandels ursachen zu begegnen . noch Ernten geben kann und die Artenvielfalt nicht wei- (René Röspel [SPD]: Ja, ist doch gut! – ter reduziert wird . Aber das Besondere an diesen Kom- Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist gut!) petenzzentren ist – der Name sagt es schon –, dass die Erkenntnisse der Wissenschaft gleich an die ansässigen So heißt es im vorliegenden Antrag von Union und SPD . Bauern und die lokale Verwaltung weitergegeben wer- Keine Frage: Selbstverständlich unterstützt die Linke den . Dort entsteht also Expertise bei afrikanischen For- internationale Wissenschaftskooperationen, insbesonde- schern, die von der Gesellschaft vor Ort gleich in neue re mit den armen und ärmsten Ländern der Welt . Kompetenzen umgesetzt werden kann und konkret an- gewandt wird . (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Bloß zustim- men will die Linke wieder nicht!) Wir wollen die Klimaforschung – so ist es in unse- rem Antrag formuliert – in Zukunft dringend um die Denn viele von ihnen sehen sich gegenwärtig kaum in Forschung zum Katastrophen- und Risikomanagement der Lage, gute Forschung und Lehre aus eigener Kraft ergänzen . Auch hier sollen die gewonnenen Erkenntnisse zu entwickeln und zu betreiben . Wir sollten uns schon so aufbereitet werden, dass sie angewandt werden kön- damit beschäftigen, welche Gründe das hat . Es sind die nen . Wir wollen darum auch die Hochschulkooperatio- Spätfolgen des Kolonialismus und eine jahrzehntelange 21688 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Christine Buchholz (A) Politik der Unterentwicklung, die auch von Europa und teressen von europäischen und deutschen Unternehmen, (C) Deutschland betrieben wurde . Es liegt daran, dass wirt- die dort billig produzieren lassen wollen . schaftliche Interessen, auch die der deutschen Politik, primär die Politik gegenüber Afrika bestimmen und dass (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Schwachsinn die Eliten in den verschiedenen Ländern – nicht nur in ist das! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) denen Subsahara-Afrikas – vorrangig ihre eigenen In- – Nun regen Sie sich nicht auf! Das ist die bittere Wahr- teressen und nicht die der breiten Bevölkerung im Sinn heit . haben . (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Was?) (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD – Dr .Daniela De Ridder [SPD]: Das ist nur ein Zweifellos kann Wissenschaftskooperation dazu bei- Teil der Wahrheit!) tragen, gesellschaftlichen Fortschritt in diesen Ländern zu erreichen . Die Bundesregierung sieht jedoch darin In Kenia führen übrigens dieser Tage Tausende Ärzte zentrale Hebel für gesellschaftlichen Fortschritt, und da- an öffentlichen Kliniken einen erbitterten Streik für die von kann doch wirklich nicht die Rede sein . Umsetzung ihres Tarifvertrages . Diesen hat die Regie- rung in den letzten Jahren immer wieder gebrochen . (Beifall bei der LINKEN – René Röspel [SPD]: Also für die Sozialdemokratie war Bil- (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Fahren Sie dung immer ein Punkt von Fortschritt!) doch einmal hin!) Es gibt viel zentralere Hebel, die Sie gar nicht erst Dies zeigt deutlich: Die fehlende Hochschulbildung ist anfassen . Nehmen wir beispielsweise ein 17 Jahre altes eben nicht das zentrale Hemmnis im Gesundheitssystem Versprechen der Bundesrepublik: 0,7 Prozent des Brut- oder der Hauptgrund für schlechte Löhne, sondern dahin- toinlandsproduktes soll für Entwicklungszusammenar- ter stehen ganz andere Interessen . beit zur Verfügung stehen . Das ist schon nicht besonders viel. 2015 betrugen die deutschen öffentlichen Ausgaben Ein weiteres Beispiel: Der guten Versorgung der für die Entwicklungszusammenarbeit gerade einmal Bevölkerung mit Medikamenten steht nicht die unter- 0,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes . Damit ist die entwickelte Wissenschaft im Wege . Nein, es sind die Bundesregierung – wie in jedem Jahr zuvor – ihren Ver- Patentrechte der Pharmaindustrie, mit denen sich die pflichtungen nicht nachgekommen. europäischen Unternehmen überteuerte Preise und satte Gewinne sichern können . Dort könnten Sie doch auch Um die jeweiligen Anstrengungen einmal ins Verhält- einmal aktiv werden! nis zu setzen: Für den Bundeswehreinsatz in Mali wur- (B) den die Ausgaben von 35 Millionen Euro im letzten Jahr (Beifall bei der LINKEN – Dr . Karamba (D) auf 163 Millionen Euro in diesem Jahr angehoben, also Diaby [SPD]: Ihr habt unseren Antrag dazu innerhalb eines Jahres um mehr als 100 Millionen Euro . abgelehnt!) Das zeigt doch die falschen Prioritäten Ihrer Afrika-Po- litik! Das Wichtigste, Frieden für die Menschen in Afrika, wird nicht vorrangig durch Bildung und Wissenschaft (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg . erreicht . Viele der blutigsten Diktatoren Afrikas haben René Röspel [SPD]) selbst studiert – übrigens viele von ihnen auch in Euro- Schauen wir noch einmal in den Bildungsbereich . Ich pa –, aber Afrika wurde allein dadurch nicht friedlicher denke, ein zentrales Thema ist die Grundschulbildung, und freier; denn Frieden und Entwicklung kann es nur und die höchste Rate von Analphabeten finden wir in die- geben, wenn die gesamte Bevölkerung endlich von dem ser Region . Jetzt sollen die Mittel für den Fonds der Glo- massiven Reichtum ihres Kontinents profitiert. balen Bildungspartnerschaft 2018 von 7 auf 9 Millionen (Beifall bei der LINKEN – René Röspel Euro steigen . [SPD]: Genau! – Dr . (Dr . [SPD]: Immerhin!) [SPD]: Da haben Sie recht! – Dr . Daniela De Ridder [SPD]: Das sagen Sie immer! Darauf Jedoch wären 100 Millionen Euro nötig, um zumindest reiten Sie immer herum!) die selbstgesteckten Ziele zu erreichen . Angesichts des- sen ist das doch mehr als erbärmlich . Das setzt einen Bruch mit der bisherigen Afrika-Politik der Bundesregierung voraus, die auf wirtschaftliche Inte- (Beifall bei der LINKEN) ressen, eine Sicherheitsstrategie und Flüchtlingsabwehr Sie deuten in Ihrem Antrag an, dass Hochschulbildung setzt . vor Armut schützen würde . Seien Sie doch ehrlich: Nach- haltigen Schutz vor Armutslöhnen beispielsweise bieten Sie sprachen davon, dass der nächste Einstein aus vor allem starke und durchsetzungsfähige Gewerkschaf- Afrika kommen könnte .– Ja, davon bin ich auch über- ten und Bewegungen . zeugt . (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Ach!) (Dr . Karamba Diaby [SPD]: Dann könnt ihr dem Antrag zustimmen!) Wie sonst könnten den inländischen und vor allem den ausländischen Unternehmen höhere Löhne abgerungen Aber wir müssen uns einem Problem stellen: Der nächste werden? Aber das kollidiert natürlich dann mit den In- Einstein, wenn er denn aus Afrika kommt und sich auf Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21689

Christine Buchholz (A) den Weg nach Norden macht, hat eine sehr hohe Wahr- „Ich hatte eine Farm in Afrika am Fuße der Ngong-Ber- (C) scheinlichkeit, im Mittelmeer zu ertrinken . ge .“ (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Quatsch!) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jen- seits von Afrika! – Matthias W . Birkwald [DIE Deshalb müssen wir hier über Heuchelei sprechen, Heu- LINKE]: Oh, wie schön!) chelei Ihrer Politik . Wir wissen um die Bedeutung von Hochschulen und Forschung für die Entwicklung und un- So beginnt der Roman von Tania Blixen mit dem Titel terstützen dies auch, aber wir wollen hier nicht der Heu- Jenseits von Afrika, den viele von Ihnen hoffentlich ge- chelei das Wort reden, die Ihre Afrika-Politik dominiert . lesen haben . ( [CDU/CSU]: Machen Sie (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ich mal einen konkreten eigenen Vorschlag!) habe den Film gesehen!) Sie sollten vorsichtig sein, sich hier als Vorkämpfer für Tania Blixen beginnt mit einer Beschreibung der Land- Wachstum, Wohlstand und sozialen Frieden in Afrika schaft, und der erste Absatz endet mit folgendem Satz: darzustellen; denn das steht Ihnen wirklich nicht zu . „Alles in dieser Natur strebte nach Größe, Freiheit und hohem Adel .“ Vielen Dank, meine Damen und Herren . Liebe Claudia Lücking-Michel, ich bin dir sehr dank- (Beifall bei der LINKEN) bar für diesen Antrag, den wir gemeinsam entwickeln konnten . Ich will gerne zugeben, dass genau dieser Ro- Vizepräsidentin : man lange Zeit mein Afrika-Bild mitgeprägt hat . Vielen Dank .– Für die SPD-Fraktion erhält nun ( [CDU/CSU]: Gibt es Dr . Daniela De Ridder das Wort . doch jetzt noch Geschenke?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Möglicherweise habe ich dabei aber in der Tat übersehen, der CDU/CSU) wie scharf und hart das koloniale Erbe noch heute die Strukturen in Afrika und damit auch in Subsahara beein- Dr. Daniela De Ridder (SPD): flusst. Vielen Dank . – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Wir haben heute die Gelegenheit, vieles von dem zu Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Zuhö- korrigieren, Frau Buchholz, was Sie kritisiert haben – rerinnen und Zuhörer! Der Name Steinmeier, so sagte der vielleicht auch nicht immer ganz zu Unrecht . noch amtierende Bundespräsident Joachim Gauck heute, (B) steht für Unermüdlichkeit, dafür, weiter zu verhandeln, Ja, es geht aus gutem Grund darum, Partnerschaften (D) zu vermitteln und zu überzeugen . zwischen Deutschland und Subsahara-Afrika zu verstär- ken, und zwar auf Augenhöhe . Wir wollen nämlich einen Dem neuen Außenminister Sigmar Gabriel wünschte Brain-Drain vermeiden und Brain-Gain unterstützen und er für die schwierigen Zeiten und Herausforderungen fördern . mit Blick auf die Europäische Union und die transatlan- tischen Partnerschaften, die es zu verteidigen gilt, viel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Glück und gutes Gelingen . Die SPD-Fraktion und ich der CDU/CSU) schließen uns diesen guten Wünschen unumwunden an . Wissenschaftsförderung ist eine eminente Aufgabe im (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Gibt es da Rahmen der Zusammenarbeit zwischen uns und den afri- irgendeinen Dissens?) kanischen Ländern im Subsahara-Raum; denn es gilt, die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu meis- – Sie dürfen gerne mit einstimmen . tern: den Klimawandel, die Bekämpfung von Hunger Allen drei Herren und auch der neuen Wirtschaftsmi- und die Bekämpfung von Krankheiten, die es in Afrika – nisterin, Brigitte Zypries, wünsche ich für ihre Zukunft René Röspel wird nie müde, dies zu sagen – ohne den viel Erfolg, und ich gratuliere herzlich . Kolonialismus möglicherweise nie gegeben hätte . Auch hier haben wir eine deutsche Verantwortung . Bevor Sie sich räuspern: Gleich heute Morgen habe Es gilt in der Tat, Zukunftsperspektiven für die afrika- ich die Gelegenheit genutzt, dem neuen Außenminister nische Bevölkerung aufzuzeigen und, ja, durch die Bil- Sigmar Gabriel die Außenwissenschaftspolitik und da- dungs- und Wissenschaftspolitik auch Fluchtursachen zu mit auch den unterschätzten afrikanischen Kontinent ans bekämpfen; Herz zu legen . Wir werden das in den kommenden Wo- chen sicherlich noch deutlich vertiefen können . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frank-Walter Steinmeier hat gestern in seiner Ab- schiedsrede – viele von Ihnen waren ja dabei – noch denn Bildung ist eine ganz wesentliche Voraussetzung, einmal sehr deutlich gesagt, wie wichtig die Auswärtige um am Arbeitsmarkt partizipieren und den Fachkräftebe- Kultur- und Bildungspolitik ist und wie sehr die Wissen- darf, den Subsahara-Afrika zweifellos hat, befriedigen zu schaftspolitik unterschätzt wird . Ich bin ihm sehr dank- können . Bildung ist auch eine Voraussetzung für Autono- bar dafür; denn genau in diesem Kontext bewegt sich ja mie und Perspektiven auf dem unterschätzten Kontinent der heutige Antrag zu Wissenschaftskooperationen mit Afrika, und schließlich geht es darum, mit Bildung auch Partnern in Subsahara-Afrika . Empowerment zu betreiben – eine ganz zentrale Aufga- 21690 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Dr. Daniela De Ridder (A) be, die wir heute hier mit diesem Vorhaben unterstützen Wissenstransfer – auf gut Neudeutsch: Third Mission – (C) wollen . unterstützen wird .

Ja, mir ist es auch wichtig, dass wir die transnationa- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ len Bildungskooperationen noch einmal deutlich verstär- CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) ken, und zwar durch Bildungsketten von Anfang an . Ein ganz zentrales Element dabei – das haben wir in unserem Es bedarf einer Stärkung der Studierenden und der Wis- Antrag sehr deutlich gemacht – ist die Bildung von Leh- senschaftlerinnen und Wissenschaftler, damit in der Tat rerinnen und Lehrern, die ja die Schülerinnen und Schü- so etwas wie Brain-Gain gelingt . ler qualifizieren können müssen, damit sie überhaupt die Meine beiden Söhne – damit will ich enden – haben Chance haben, an Bildung zu partizipieren und um später mir – einen lieben Gruß an Till und Jonas –, als ich die auch Karriere zu machen . Legislaturperiode begann, mit auf den Weg gegeben: Es ist nicht deine Schuld – Sie kennen möglicherweise das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Zitat –, dass die Welt ist, wie sie ist . Es wär aber deine CDU/CSU) Schuld, wenn sie so bleibt .– Heute, meine sehr verehr- Es gilt, die Hochschullehrerinnen und Hochschulleh- ten Kolleginnen und Kollegen, haben wir die Chance, ein rer weiter zu qualifizieren und unser Know-how anzubie- Versprechen einzulösen . ten, nicht überzustülpen . Wir müssen bei der Stärkung Vielen lieben Dank . des Hochschulmanagements also möglicherweise auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beratend tätig werden . der CDU/CSU) Weiterhin ist es mit Sicherheit förderlich und kon- struktiv, die Politikfelder stärker interdisziplinär zu ver- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: netzen . Es ist egal, ob das die Wissenschafts- und Bil- Vielen Dank . – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht dungspolitik ist, ob wir als Hochschulpolitikerinnen und jetzt Kai Gehring . -politiker gefordert sind oder ob es – ich erwähnte des- halb die neue Ministerin und den neuen Minister – gilt, Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik und die Außen- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! politik zusammenzudenken . Meine sehr geehrten Damen und Herren! Beratungsge- genstand dieser Debatte ist ein Wohlfühlantrag der Koa- Der Antrag, den wir entwickelt haben, ist nicht ohne (B) litionsfraktionen zur Wissenschaftskooperation mit Sub- (D) das Zutun des Auswärtigen Amtes, des BMBF oder des sahara-Afrika nach dem Strickmuster: Fördere Gutes und BMZ entstanden . rede darüber . (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Das kann NEN]: Das merkt man!) man so sehen!)

Deshalb bin ich an dieser Stelle dankbar, dass es uns in In der Tat, der Antrag ist eine beeindruckende Leis- tungsschau über die Aktivitäten deutscher Wissenschafts- der Großen Koalition gelungen ist, diesen Antrag kon- organisationen in Afrika . Ihnen gebührt unser Dank . struktiv und produktiv voranzutreiben . Deshalb vielen Dank an die entsprechenden Ministerien . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der SPD) der CDU/CSU) Weniger beeindruckend ist, dass die Kolleginnen und Es ist unbedingt notwendig, längerfristige Förder- Kollegen von Union und SPD nur wenige eigene Ideen möglichkeiten voranzutreiben . Deshalb sind Stipendien- eingeflochten haben, wie sie die Wissenschaftskooperati- programme wichtig, die wir weiterführen und ausbauen on in Zukunft stärken wollen . wollen, aber nicht ohne unsere Partner . Hier nenne ich (Dr .Daniela De Ridder [SPD]: Genau lesen!) den Deutschen Akademischen Austauschdienst oder die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die wir finanziell un- Gar enttäuschend sind die Lücken in Ihrem Antrag . Da- terstützen und die wiederum das Geld, das wir ihnen zu- bei stürzt sich das halbe Bundeskabinett auf das Thema kommen lassen, gut investieren werden . Ja, wir brauchen Afrika: Entwicklungsminister Müller hat seit wenigen Tagen eine Skizze für einen Marshallplan für Afrika, Forschungsnetzwerke, um den Austausch, immer auch Forschungsministerin Wanka ihre eigene Afrika-Strate- mit Blick auf die regionalen und lokalen Arbeitsmärkte, gie und Innenminister de Maizière seine Flüchtlingsab- zu befördern . schreckungsagenda . Eine Idee, die wir mit Intensität verfolgen und von der (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und ich überzeugt bin, dass sie sich umsetzen lässt, ist die der SPD – Dr . Karamba Diaby [SPD]: Ach Errichtung einer Hochschule für angewandte Wissen- was! So etwas gibt es auch? – Gegenruf des schaften in Kenia . Die Blaupause dafür ist die German Abg . Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jordanian University in Jordanien, die mit Sicherheit den NEN]: Die Wahrheit tut weh!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21691

Kai Gehring (A) Anstelle dieses konfusen Durcheinanders erwarten matländer zurückkehren, wenn denn die Bedingungen (C) wir von der Ministerin und den Ministern und von den stimmen . Das sollten wir unterstützen; denn es muss einzelnen Bundesministerien den Willen und die Fähig- gehen um Nord-Süd- und Süd-Süd-Austausch, um zir- keit zur Kooperation, zu echter und funktionierender kuläre Migration und Brain Circulation . Es darf nicht um interministerieller Zusammenarbeit . Wir brauchen kei- Braindrain und Abwerbung gehen . ne Egotrips einzelner Kabinettsmitglieder, sondern eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wirklich konsistente Afrika-Strategie, die Partnerschaft Dr . Daniela De Ridder [SPD]: D’accord!) auf Augenhöhe und auf Herzenshöhe bringt . Aber wie sind die Bedingungen? Dazu eine kleine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Geschichte . Mouhamed Moustapha Fall forscht im Se- Wissenschaft, Forschung und Innovation leisten wich- negal an einem deutschen Forschungslehrstuhl, gefördert tige Beiträge zur nachhaltigen gesellschaftlichen, öko- von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung . Er sammelt logischen und ökonomischen Entwicklung der Länder Daten zu Fischfang und Fischvorkommen und will ein Afrikas . Ob Wohlstand, Chancen des Einzelnen, Frieden, mathematisch präzises Modell entwickeln, das prognos- Stabilität, Good Governance: Bildung und Wissenschaft tiziert, wie viele Fische die Fischer vor Ort fangen kön- sind Hebel und Schlüssel für die nachhaltigen Entwick- nen, ohne den Beständen zu schaden . Das ist ein durch- lungsziele, die SDGs der Vereinten Nationen . Dafür muss aus tolles Projekt. Wenn allerdings die EU-Fangflotten aber die Basis stimmen, also die Grundbildung . das Meer quasi leerfischen, beißt sich die Katze in den Schwanz . Ich will sagen: Mit Wissenschaft alleine lösen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir die Entwicklungsprobleme vor Ort nicht . Es braucht In vielen Ländern Afrikas gibt es hier Fortschritte . eine ressort- und themenübergreifende Afrika-Strategie, Immerhin acht von zehn Kindern aus Ländern Subsaha- idealerweise noch mit den europäischen Partnern zusam- ra-Afrikas besuchten 2015 eine Grundschule . Im Jahre men . 2000 waren es nur 60 Prozent . Das Entwicklungsziel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liegt aber weiterhin bei 100 Prozent: Alle Kinder sollen sowie der Abg . Dr .Claudia Lücking-Michel zur Schule gehen und hinterher tatsächlich lesen, schrei- [CDU/CSU]) ben und rechnen können . Das muss unser gemeinsames Ziel sein . In der nächsten Woche findet der EU-Gipfel in Val- letta statt . Es wäre das falsche Signal, dort einseitig die (Beifall des Abg . Dr . Ernst Dieter Rossmann Abwehr von Flüchtlingen zu verabreden . Fluchtursachen [SPD]) in Afrika zu bekämpfen, das ist der richtige Ansatz . Das muss aber heißen, gemeinsame strukturelle Reformen zu (B) Dieses Bekenntnis fehlt in Ihrem Antrag, und das ist (D) schlecht . verabreden in Bereichen wie Handel, Landwirtschaft, Fischerei, Klimaschutz, Abrüstung und nicht zuletzt in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bildung und Wissenschaft . Dr . Daniela De Ridder [SPD]: Dafür braucht es gute Lehrer!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was mich weiter stört, sind die blinden Flecken . Das In Afrika keimt immer mehr Hoffnung, bis hin zur Bildungs- und Forschungsministerium ist in 39 von 54 Aufbruchstimmung . Deutschland muss aus meiner Sicht Ländern Afrikas aktiv . Da geht noch etwas . Das gegen- alles dafür tun, dass daraus eine wirklich robuste Ent- seitige Interesse an Kooperation ist hoch und wächst wei- wicklung zum Wohle aller Menschen auf dem afrikani- ter . Die Stärken zu stärken und sich gleichzeitig blinden schen Kontinent wird . Da könnte Deutschland Antreiber Flecken zuzuwenden, das schließt sich doch nicht aus . sein, statt hinterherzuhecheln . Warum Sie ausgerechnet die Maghreb-Staaten komplett Vielen Dank . ausklammern, bleibt Ihr Geheimnis . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr . Karamba Diaby [SPD]: Wieso?) Gerade Bildung und Forschung könnten die Länder Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Nordafrikas zu sicheren Staaten entwickeln und der jun- Vielen Dank . – Als Nächster hat der Kollege gen Generation Perspektiven und damit Bleibegründe Dr .Thomas Feist, CDU/CSU-Fraktion, das Wort . verschaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ordneten der SPD) Dr .Daniela De Ridder [SPD]: Aber jetzt zu Subsahara!) Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): – So lange ist die Legislaturperiode nicht mehr . Vielen Dank .– Frau Präsidentin! Meine verehrten (Dr . Daniela De Ridder [SPD]: Wir kommen Kolleginnen und Kollegen! Es ist der Moment gekom- darauf zurück!) men, wo man aufhören muss, die Menschen aus dem Fluss zu ziehen. Man muss flussaufwärts gehen, um zu – Schauen wir einmal . Wir sind gespannt . schauen, warum sie hineingefallen sind . Etwas mehr als die Hälfte der Afrikanerinnen und Af- (René Röspel [SPD]: Beides sollte man ma- rikaner, die im Ausland leben, will wieder in ihre Hei- chen!) 21692 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Dr. Thomas Feist (A) – Sie alle – außer dem Kollegen Mutlu, der schaut, als ob Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): (C) er das noch nie gehört hätte – kennen dieses Zitat . Ich fühle mich dabei hervorragend . Wenn auch Sie (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Zwischenfrage haben, können Sie diese anmelden . NEN]: Wie kommen Sie nur darauf? Ich will Ansonsten würde ich gerne vorwiegend auf den Kollegen nur wissen, worauf du hinauswillst!) Gehring eingehen . Ich war am Mittwoch bei der Parlamentarischen Ver- Der Friedensnobelpreisträger Bischof Desmond Tutu sammlung des Europarates, deswegen konnte ich an der hat das im Jahr 1984 gesagt; damals war noch Heinz Sitzung des Ausschusses nicht teilnehmen und kann die Riesenhuber Forschungsminister . Das zeigt, dass die Situation nicht beurteilen . Außerdem würde ich von hier Unterstützung und Hilfe für Afrika kein Thema ist, das aus das Verhalten von Ministern, deren Geschäftsbereich schnell hochkocht und zu dem man dann einen Antrag wir heute nur am Rande streifen, nicht beurteilen . einbringt . Vielmehr verfolgen wir dieses Thema kontinu- ierlich seit vielen Jahren und Jahrzehnten . (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie haben also keine Ahnung!) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Erzähl das mal deinem Minister!) Ich finde es wichtig, dass wir nicht auf Regierungs- handeln warten, sondern als selbstbewusste Parlamen- – Es ist schön, dass der Kollege Mutlu wieder aufge- tarier sagen: Wir legen zu diesem Thema einen Antrag wacht ist und an der Debatte teilnehmen kann . vor und stellen Wissenschaftskooperation, Bildung, die (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vernetzung und die Forderung, dass das geschieht, in den NEN]: Was ist denn dein Problem?) Mittelpunkt . Wenn wir etwas für Afrika tun, dann ist das gut und (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wichtig . Aber es ist genauso wichtig, dass wir die guten Vor allem, wenn die Regierung Sie gleichzei- Initiativen aus den verschiedenen Ministerien noch stär- tig widerlegt!) ker als bisher zusammenführen . Denn es ist völlig klar: Ich finde es nicht schlimm, dass wir das machen. Ich fin- Wenn sich das Forschungsministerium, das Auswärtige de es im Gegenteil gut . Wenn Sie auf das Handeln der Amt, das Entwicklungshilfeministerium, das Landwirt- Regierung erst warten wollen, bevor Sie etwas tun, ist schaftsministerium, das Innenministerium und andere das Ihr Problem . Ministerien mit Afrika befassen, dann ist das gut . Aber es macht die administrative Arbeit nicht leichter . Deswegen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist es wichtig, dass wir als CDU/CSU gemeinsam mit der neten der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ (B) SPD einen Antrag vorgelegt haben, aus dem hervorgeht, DIE GRÜNEN]: Sie sollte Ihr Handeln nicht (D) wie wir die Hochschulkooperation speziell in diesem Teil konterkarieren!) Afrikas, der für uns besonders wichtig ist, stärken wollen . Ich finde es wichtig, dass wir in diesem Bereich vor allen Dingen auch auf die Wissenschaftsorganisationen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: eingehen, die die Arbeit vor Ort leisten – allen voran der Ich brauche das eigentlich gar nicht zu fragen: Gestat- Deutsche Akademische Austauschdienst und die Alexan- ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gehring? – der-von-Humboldt-Stiftung . Es ist ja so, dass diese Orga- Bitte schön, Herr Gehring . nisationen von verschiedenen Ministerien gefördert wer- den: vom Auswärtigen Amt, vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und natürlich auch von Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): unserem Bundesministerium für Bildung und Forschung . Sie haben sich gerade – wie es bereits in dem Antrag steht – für eine stärkere interministerielle Zusammenar- Die Arbeit, die vor Ort geleistet wird, stellt sich aber beit ausgesprochen . Diese Woche Mittwoch haben wir so dar, dass die Initiativen und die Projekte aus einem im Ausschuss Ihren Antrag beraten . Zeitgleich hat der Guss sind . Deswegen fordern wir in unserem Antrag, Entwicklungsminister ohne Absprache mit irgendeinem dass dieses Prinzip der Kohärenz weiter und konsequent anderen Haus seinen Marshallplan für Afrika, den ich durchgesetzt wird, weil wir nur dann nachhaltig – das eher als Skizze sehe, vorgestellt . müsste uns allen ein wichtiges Anliegen sein – etwas mit und für Afrika tun können . Wenn man sich diesen Plan einmal durchliest, stellt man fest, dass Bildung und insbesondere Wissenschaft Als Berufsbildungspolitiker ist es mir natürlich nicht und Forschung weitestgehend fehlen . Wie beurteilen Sie ganz unwichtig, dass dieses Thema im Antrag auch er- ein solches Verhalten, während gleichzeitig der Koaliti- wähnt wird, weil Forschung ohne eine gute Forschungs- onsantrag beraten wird? Wie wollen Sie das jetzt in den infrastruktur nur die halbe Miete ist . Natürlich müssen verbliebenen Wochen dieser Legislatur noch ändern? wir jungen Leuten über die Wissenschaft hinaus eine Wie wird der Marshallplan konkret durch die Wissen- Chance geben . Wenn ich mir die ganzen Debatten ver- schaftspolitik angereichert? gegenwärtige, die wir zu wissenschaftlichem und nicht- wissenschaftlichem Personal an den Hochschulen in (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschland geführt haben, stelle ich fest, dass es wich- NEN]: Und wie fühlen Sie sich dabei, völlig tig ist, auch diese Personengruppe, die dafür sorgt, dass ignoriert zu werden von Ihrem eigenen Minis- Forschung in Afrika überhaupt gelingen kann, im Blick ter?) zu haben . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21693

Dr. Thomas Feist (A) Insofern finde ich es wichtig, dass wir nicht nur auf die solchen Debatte kann man da den Dank nicht laut genug (C) Wissenschaftskooperation in Afrika abzielen, sondern sagen . uns auch in einer bilateralen Vereinbarung beispielswei- se mit Südafrika dafür einsetzen, ein Kompetenzzentrum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für die berufliche Ausbildung dort zu errichten. Das muss der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ ineinandergreifen . Natürlich haben wir alle gemeinsam DIE GRÜNEN) die Aufgabe, zu schauen, was vor Ort konkret passiert . Als Zweites möchte ich sagen, dass Europa und Deutschland eine besondere Verantwortung für Afrika Neben dem Antrag, den ich für wichtig und richtig haben, eine, die in der Vergangenheit auch aus meiner halte, ist es mir aber genauso ein persönliches Anliegen, Sicht nicht hinreichend wahrgenommen worden ist . Ich dass wir nicht nur reden, sondern auch handeln . Ich un- finde es deswegen ausdrücklich gut, dass sich die unter- terstütze beispielsweise seit zehn Jahren eine Schule in schiedlichen Teile der Bundesregierung nun auch stärker Accra in Ghana . Es handelt sich um eine Schule in den auf den Weg machen, sich damit auseinanderzusetzen . Slums mit dem Namen „Hope for Life“ . Dort wird den Beide Kontinente, Europa und Afrika, sind Nachbarn . jungen Menschen eine Chance gegeben, die sonst keine Ich will einmal daran erinnern, dass uns an einigen Stel- Chance hätten . len nur wenige Kilometer geografisch trennen. Ich habe für jemanden, der in dieser Schule groß ge- Wir sind aber nicht nur Nachbarn, sondern wir sind worden ist, eine Patenschaft übernommen . Er kann dort historisch miteinander verbunden . Die Kolonialzeit ist jetzt auch studieren . Das wäre mein Appell kurz vor die- angesprochen worden, eine Zeit von Unterdrückung, sem Wochenende an Sie, meine lieben Kolleginnen und Bevormundung, Erniedrigung, von Ausbeutung . All das Kollegen: Nicht nur reden, sondern auch handeln . Da prägt auch das Zusammenleben und die Geschichte, die kann jeder von uns mithelfen . Europa und Afrika verbinden . Vielen Dank . Daran jetzt anzuknüpfen und zu sagen, dieses Afrika, das sich auf den Weg gemacht hat, dieses Afrika, das sich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – erkennbar zusammenrauft, das Strukturen bildet – ich Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nenne einmal das Stichwort „Afrikanische Union“, die Fangen Sie mal an damit!) sozusagen immer stärker Fahrt aufnimmt –, dieses Afri- ka, das sich gemeinsame Entwicklungsziele gesetzt hat – Vizepräsidentin Ulla Schmidt: unter anderem in der Agenda 2063 –, Entwicklungsziele wie Demokratie, Frieden, Nachhaltigkeit, dieses Afrika, Vielen Dank .– Als letzter Redner zu diesem Tages- das wächst – im Jahr 2050 wird Afrika 20 Prozent der (B) ordnungspunkt hat jetzt der Kollege Martin Rabanus, (D) Weltbevölkerung stellen, wenn unsere Prognosen zutref- SPD-Fraktion, das Wort . fend sind –, dieses Afrika, das ein junger Kontinent ist – das Durchschnittsalter der afrikanischen Bevölkerung Martin Rabanus (SPD): beträgt 18 Jahre –, dieses Afrika zu unterstützen, dieses Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Afrika stark zu machen, das ist die Aufgabe, vor der wir Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende die- stehen . Die Koalition zeigt mit dem Antrag, dass bereits ser Debatte noch ein paar zusammenfassende Worte von vieles passiert ist, dass wir uns auch vieles vorgenommen mir. Ich finde es erst einmal gut und einen Wert an sich, haben und dass wir konsequent weitergehen wollen – in dass wir heute diese Debatte über Afrika führen – am Be- diesem Jahr, aber auch darüber hinaus –, um Bewusstsein ginn des Afrika-Jahres der Bundesregierung . für den Kontinent zu schaffen. Deswegen ist es gut, dass wir am Beginn des Afri- Es steht im Laufe des Jahres vieles im Zeichen die- ka-Jahres der Bundesregierung hier heute diese Debatte ses Kontinents, unter anderem auch im Rahmen der führen . Denn es ist wichtig, dass wir mehr Bewusstsein G-20-Präsidentschaft . Deswegen ist es gut, dass wir heu- für diesen Kontinent schaffen und dass wir dafür sorgen, te diese Diskussion führen und dass wir sie heute auch dass er einen festen Platz in unserem Kopf, aber auch in über die Wissenschaftskooperation mit Afrika führen, die unserem Herzen hat . natürlich nur ein kleiner Teil ist . Ich will jetzt gar nicht den Versuch unternehmen, die 24 Punkte, die wir in die- Herzlichen Dank . sem Antrag sozusagen anerkennen, würdigen, zu rekapi- tulieren . Wir haben ja gehört, dass selbst die Opposition (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sagt, dieser Teil des Antrags sei ausgesprochen gelungen und beeindruckend . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank . – Damit schließe ich die Aussprache . Ich will mich ausdrücklich dem Dank anschließen, den der Kollege Gehring ausgesprochen hat, nämlich Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- dem Dank an unsere Mittlerorganisationen, auch an die empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Stiftungen, die für uns in fast allen Staaten des afrikani- Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen schen Kontinents tätig sind . Nicht in allen, aber in fast der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Wissenschafts- allen Staaten sind wir vertreten . Da sind viele Menschen, kooperation mit Partnern in Subsahara-Afrika stärken“ . die sich unter nicht immer einfachen Bedingungen ein- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung setzen, die sich engagieren. Ich finde, im Rahmen einer auf Drucksache 18/10973, den Antrag der Fraktionen der 21694 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/10632 anzuneh- allerdings tatsächlich eine wirksame und wichtige Geset- (C) men . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer zesänderung vornehmen . Dem Opfer hilft nämlich eine stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- härtere Bestrafung am Ende wenig . Im Gegenteil: Wird empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- der Täter nicht nur wegen grober Fahrlässigkeit, sondern nen bei Enthaltung der Opposition angenommen . auch wegen Vorsatzes verurteilt, ist die Kfz-Haftpflicht- versicherung in jedem Fall raus aus der Haftung . Das ist Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf: für die Verletzten im Zweifelsfall eine Katastrophe, weil Erste Beratung des von den Abgeordneten Katja die Haftpflichtversicherung den umfassendsten Scha- Keul, Renate Künast, Luise Amtsberg, weiteren densersatz bietet und nun komplett ausfällt . Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ An dem Haftungsausschluss an sich wollen und kön- DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines nen wir nichts ändern; denn der Versichertengemeinschaft Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die kann sicher nicht zugemutet werden, für die Folgen von Entschädigung für Opfer von Gewalttaten Verbrechen zu haften. Eine Haftpflichtversicherung soll (Opferentschädigungsgesetz – OEG) bei fehlerhaftem Gebrauch eines Pkw aufkommen, aber Drucksache 18/10965 sicher nicht bei vorsätzlichem Missbrauch . Verbrechen sind eben nicht versicherbar . Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Dann sollten die Geschädigten aber wenigstens so be- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz handelt werden wie andere Verbrechensopfer auch, Haushaltsausschuss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für und bei der LINKEN) die Aussprache 38 Minuten vorgesehen .– Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Dann ist so beschlossen . und die haben, gerade wenn sie schwer verletzt und dau- erhaft geschädigt sind, Ansprüche nach dem Opferent- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Katja Keul schädigungsgesetz . Es ist doch nicht einzusehen, warum für Bündnis 90/Die Grünen . ich, wenn ich mit einem Baseballschläger zusammenge- schlagen worden bin, bessergestellt werden soll, als wenn Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ich vorsätzlich von einem Auto überfahren worden bin . Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Wenn es richtig ist, dass die Haftpflichtversicherer für Kollegen! Bevor ich über die Schließung von Gesetzes- solche Schäden nicht aufkommen müssen, dann muss es lücken spreche, möchte ich klarstellen, dass wir uns alle auf der anderen Seite richtig sein, dass es Entschädigun- (B) einig sind in der Trauer und dem Entsetzen über das Ver- gen für die Opfer solcher Straftaten nach dem Opferent- (D) brechen vom Breitscheidplatz . Neben der Aufarbeitung schädigungsgesetz gibt . Deshalb muss die Ausnahmevor- der Fehlerketten, die zu diesem furchtbaren Ereignis ge- schrift in § 1 Absatz 11 des Opferentschädigungsgesetzes, führt haben, muss es vor allem darum gehen, den Opfern wonach dieses Gesetz immer dann nicht zur Anwendung nicht nur unser Mitgefühl, sondern auch jede erdenkli- kommt, wenn die Straftat mittels eines Pkw erfolgt ist, che Hilfe zukommen zu lassen . Ich begrüße es deswe- gestrichen werden . gen ausdrücklich, dass die Bundesregierung einen Weg gefunden hat, in diesem speziellen Fall über eine Här- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tefallregelung Opferentschädigung zu gewähren, obwohl sowie bei Abgeordneten der LINKEN) das Gesetz dies eigentlich nicht vorsieht . Dafür auch von Diese Gesetzeslücke wird auch nicht durch den frei- unserer Seite unseren ganz herzlichen Dank . willigen Fonds des Vereins Verkehrsopferhilfe geschlos- (Beifall im ganzen Hause) sen, den die Haftpflichtversicherer für die Fälle -einge richtet haben, in denen sie aus Rechtsgründen nicht Diese Härtefallregelung im Einzelfall hilft allerdings einzustehen haben; denn aus diesem Fonds werden zum nicht über die Gesetzeslücke hinweg, wenn es generell einen keine Renten gezahlt, sondern es werden Mittel um die Opfer von Straftaten geht, in denen der Täter ein zum Ausgleich anderer Schäden wie Sachschäden oder Kraftfahrzeug zum Schaden eines anderen einsetzt; denn Schmerzensgelder bereitgestellt, die wiederum nicht von in § 1 Absatz 11 des Opferentschädigungsgesetzes steht: der Opferentschädigung erfasst sind, und zum anderen Dieses Gesetz ist nicht anzuwenden auf Schäden ist der Schadensersatz aus dem Fonds auf 7,5 Millio- aus einem tätlichen Angriff, die von dem Angreifer nen Euro pro Ereignis gedeckelt . Das kann bei mehre- durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines ren Schwerverletzten schnell nicht mehr ausreichen . Die Anhängers verursacht worden sind . Leistungen, die das Opferentschädigungsgesetz bietet, können dagegen lebenslang gelten und sind in der Höhe Das heißt, alle Gewalttaten mittels eines Kfz sind damit nicht gedeckelt . ausgenommen, egal ob Körperverletzung, Mord oder Totschlag . Aufgrund der Unterschiedlichkeit der Ansprüche muss der Verkehrsopferhilfefonds von der Streichung Denken Sie nur an die illegalen Autorennen . Da wol- der Ausnahmevorschrift im Opferentschädigungsgesetz len Sie ja demnächst sogar einen neuen Straftatbestand unberührt bleiben . Das heißt, wenn jemand künftig durch schaffen, um eine härtere Bestrafung zu ermöglichen. eine Vorsatztat mittels eines Pkw schwer verletzt und Wie Sie wissen, halte ich selbst nicht allzu viel von sym- dauerhaft geschädigt wird, sollte er nach wie vor Sach- bolhaften Strafverschärfungen . Für die Opfer könnten wir schaden- und Schmerzensgeld von der Verkehrsopferhil- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21695

Katja Keul (A) fe bekommen und trotzdem eine Versorgungsrente nach Dazu zähle ich auch Freunde, Arbeitskollegen und Nach- (C) dem Opferentschädigungsgesetz erhalten . barn, die allesamt mit den Eindrücken und dem Verlust umgehen müssen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus ist global, unberechenbar und trifft Bürgerinnen und Bür- Das wäre auch angemessen und ist noch längst nicht so ger, Besucher und somit uns alle, egal ob es Anschläge in viel, wie die Kfz-Haftpflichtversicherung im Falle eines Frankreich, Istanbul, Brüssel oder Berlin sind . Die Täter fahrlässig verursachten Verkehrsunfalls zahlen würde . meinen unsere Lebensweise, unsere Werte, unsere De- mokratie und unseren Rechtsstaat, auf den wir wirklich Weil gerade von Schmerzensgeld die Rede ist: Seit sehr stolz sein können . Monaten kündigen Sie den Gesetzentwurf an, mit dem endlich auch ein Schmerzensgeld für Hinterbliebene ein- Die Wehrhaftigkeit unseres Rechtsstaates ist gerade geführt werden soll . Zwischenzeitlich hatte schon ein Re- jetzt gefordert, mehr als je zuvor . Wir müssen uns den- ferentenentwurf seine Runden gedreht, und was ich darin jenigen entgegenstellen, die unseren Lebensstil mit Ter- gelesen habe, war doch eigentlich gar nicht schlecht . Ei- ror zerstören wollen und unsere von Werten getragene nigen Sie sich doch endlich, damit auch dieses Vorhaben Gemeinschaft spalten wollen . Wir müssen uns aber auch auf den Weg gebracht werden kann! denjenigen entgegenstellen, die aus Terror Profit schla- gen wollen und in angeblicher Verteidigung des Abend- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) landes ebenfalls eine Abkehr vom Rechtsstaat und von Ich befürchte schon länger, dass Sie das trotz ständiger unserer Demokratie in Kauf nehmen, wenn nicht sogar Beteuerungen in dieser Legislaturperiode leider nicht beabsichtigen . mehr hinbekommen . Meine Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen bei allen Diskussionen über Folgen von Terrorakten, über die Tä- Lassen Sie uns also wenigstens über die Opferent- ter und über die Wehrhaftigkeit jedoch nicht die konkre- schädigung bei Straftaten reden . Vielleicht kriegen wir ten Opfer aus den Augen verlieren: unsere Mitbürger und da ja noch etwas hin . diejenigen, die als Gäste mit Neugier und Erwartungen Weil Sie bei unseren Anträgen – gerade wenn Ihnen unser Land besucht haben und gestorben sind oder ver- keine inhaltlichen Gegenargumente mehr einfallen – im- letzt wurden . Bundestagspräsident Norbert Lammert hat mer bemängeln, dass es keine Gesetzentwürfe seien, ha- dafür in der vergangenen Woche in diesem Hohen Hause ben wir Ihnen in diesem Fall sogar einen mundgerechten die richtigen Worte gefunden . Gesetzentwurf geliefert, dem Sie nur noch zustimmen Selbstverständlich ist es unsere Pflicht, den Verletz- (B) müssen . ten, den Hinterbliebenen und auch den traumatisierten (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Augenzeugen jegliche notwendige Hilfe zukommen zu lassen . Wir als staatliche Gemeinschaft werden dieser Für Verbesserungsvorschläge sind wir immer offen. Verantwortung gerecht . Wichtig wäre am Ende, dass wir zu einem Ergebnis Meine Damen und Herren, der heute eingebrachte Ge- zugunsten der Geschädigten kommen . In diesem Sinne setzentwurf macht die Entschädigungen der Opfer zum freue ich mich auf die Beratungen . Thema . Die Bundesregierung hat klargestellt, dass die Vielen Dank . verletzten Opfer, die Hinterbliebenen, auch die Hinter- bliebenen des Lkw-Fahrers Lukasz Urban, nun die erfor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) derlichen Leistungen je nach Fall erhalten . Sie erhalten Leistungen, zum Beispiel Schmerzensgeld aus dem Ent- schädigungsfonds über die Verkehrsopferhilfe . Hier wer- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: den die Ansprüche gegen den Kfz-Halter oder -Eigentü- Danke schön . – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht mer nun dem Entschädigungsfonds gegenüber geltend jetzt die Kollegin Jutta Eckenbach . gemacht . Sie erhalten Leistungen als Härteleistungen für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Opfer terroristischer Straftaten aus den Haushaltsmitteln des Bundestages, die vom Bundesamt für Justiz verwaltet werden, und – darum geht es heute vor allen Dingen – sie Jutta Eckenbach (CDU/CSU): erhalten Leistungen nach dem Opferentschädigungsrecht Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Ge- im Wege des Härteausgleichs . denktag für die Opfer des Nationalsozialismus in einer Sie erhalten den gesamten Umfang des Leistungs- Plenardebatte über die Opfer des Breitscheidplatzes zu spektrums, unter anderem einkommensunabhängige sprechen, ist zum Teil unfassbar; das fällt am heutigen monatliche Grundrenten, einkommensabhängige monat- Tage nicht leicht . liche Rentenleistungen zum Ausgleich wirtschaftlicher Die vergangenen Wochen waren von den Eindrücken und beruflicher Nachteile und weitere Leistungen. Die des Terroranschlags geprägt . Wir trauern sehr, und unsere Opfer und die Hinterbliebenen erhalten Leistungen nach Gedanken sind bei den Opfern, Verletzten und Hinter- dem Opferentschädigungsgesetz, obwohl im Opferent- bliebenen . schädigungsgesetz in § 1 Schäden aufgrund tätlicher An- griffe durch ein Kfz ausgeschlossen werden. Das OEG (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) greift trotz Kfz-Ausschluss, da die Tat in ihrer Gesamt- 21696 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Jutta Eckenbach (A) heit betrachtet werden muss . Dazu gehören eben auch und Aufstockungen Verbesserungen herbeiführen und (C) die Beschaffung des Lkws und der Mord am Fahrer. Hier dann alles in Ruhe analysieren . beginnt ja bereits die Gewalttat, in deren weiterer Folge (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die vielen Opfer zu beklagen sind . Den Kfz-Ausschluss NEN]: Ein paar Monate haben Sie ja noch jetzt zurückzunehmen, macht in Kenntnis der Härtefall- Zeit!) leistungen, die nach dem OEG möglich sind, momentan keinen Sinn . In einem weiteren Schritt muss es eine umfassende Reform der Opferentschädigung geben . Ich sage ganz of- Wo etwas verbessert werden kann, werden wir es tun . fen: Wenn sich bei der Analyse der aktuellen Fälle Hand- Wo zu wenig finanzielle Ressourcen bereitgestellt wer- lungsbedarf herausstellen sollte, werden wir auch darü- den, werden wir diese aufstocken . Sie gaukeln – Ent- ber reden . Gegebenenfalls muss dann das OEG um diese schuldigung – auch zu diesem ernsten Thema mit Ihrem Sachverhalte erweitert werden oder an anderer Stelle doch sehr mageren Gesetzentwurf vor, es gebe einfache eine Klärung erfolgen . Ich glaube, dass wir neben den Lösungen . Darüber bin ich etwas enttäuscht; denn das Diskussionen über sicherheitspolitische Maßnahmen, wird der Würde der Menschen an dieser Stelle nun wirk- das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung und die An- lich nicht gerecht . wendung bestehender Gesetze – es ist mir wichtig, das noch einmal zu erwähnen – auch darüber nachdenken (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sollten, wie wir den Opfern sehr unbürokratisch und sehr NEN]: Also, das war jetzt nicht nötig!) schnell die entsprechende Hilfe angedeihen lassen .

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Opferentschädi- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . gung ist ein sehr komplexes Feld; das steht doch ganz (Beifall bei der CDU/CSU) außer Frage .

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: NEN]: Machen Sie es doch besser!) Vielen Dank .– Nächste Rednerin ist Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke . Wer sich etwas ausführlicher mit Opferentschädigung (Beifall bei der LINKEN) befasst hat, weiß, wie schwierig diese Thematik ist . Es gibt sehr viele und sehr unterschiedliche Opfergruppen: Opfer von Gewalttaten, von Stalking, psychischer Ge- Ulla Jelpke (DIE LINKE): walt, staatlich angeordneter medizinischer Straftaten in Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir (B) der DDR, aber auch traumatisierte Eltern von ermordeten sehen, dass Terroristen sich immer perfidere Methoden (D) Kindern und viele andere mehr . Fest steht, dass sich vie- aneignen, um Terroranschläge zu begehen . Erst im letz- le Menschen vom derzeitigen Opferentschädigungsrecht ten Jahr sind 80 Menschen im französischen Nizza ums nicht hinreichend beachtet sehen . Wir haben dazu oft Leben gekommen, weil ein Lkw in eine Menschenmenge ausführliche Gespräche geführt, auch ich als Berichter- steuerte . Am 19 .Dezember 2016 riss Anis Amri mit ei- statterin für die CDU/CSU-Fraktion . Wir werden uns das nem entführten Lkw 11 Menschen auf dem Weihnachts- soziale Entschädigungsrecht insgesamt ansehen müssen . markt am Berliner Breitscheidplatz in den Tod und ver- letzte 50 Menschen zum Teil schwer . Übrigens hat es in (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den letzten Tagen einen ähnlichen Anschlag in Jerusalem NEN]: Gucken Sie nur nicht zu lange! Ent- gegeben . Dies zeigt – hier widerspreche ich der Kollegin scheiden Sie mal!) Eckenbach ganz klar –, dass wir eine neue Entwicklung haben . Daher müssen unsere Gesetze auch entsprechend Dieser Prozess dauert länger als gedacht, aber es wird angepasst werden . uns gelingen . Ziel muss es sein, den Opfern zu helfen . (Beifall bei der LINKEN) Diesen Anspruch lege ich auch an, wenn es um die Opfer von Terror in unserem Land geht . Es geht um schnelle, Wir geben den Grünen mit ihrem vorliegenden Gesetz- möglichst unbürokratische und ausreichende Hilfe . entwurf recht .

Es ist mir außerordentlich wichtig, eines noch zu er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wähnen: Die Hilfe sollte aus einer Hand oder wie aus und bei der LINKEN) einer Hand sein . Wir können nur erahnen, in welchem Meine Damen und Herren, wir reden über eine Än- Ausnahmezustand sich diese Menschen befinden. Wenn derung des Opferentschädigungsgesetzes, das Geschä- wir deren Situation etwas näher an uns heranlassen und digte von Gewalttaten und Verbrechen in Deutschland uns konkrete Behördengänge oder den Versicherungs- finanziell entschädigen soll. Das Problem ist: Aufgrund schriftverkehr vorstellen, wird unser Auftrag in diesem der Entstehungsgeschichte des Gesetzes, nämlich aus Hause sehr deutlich . Ich plädiere daher dafür, dass wir im dem Kriegsopferentschädigungsgesetz der Weimarer aktuellen Fall das Hilfesystem wirken lassen . Ich bin der Republik, kommt dieses Gesetz ausdrücklich nicht zum Überzeugung, dass die momentane Hilfe ausreichend ist Tragen, wenn ein Schaden durch ein Kraftfahrzeug ver- und dass sie auch wirklich vollumfänglich den Entschä- ursacht wurde . In diesem Fall – derzeit können Ersatzan- digungsgedanken widerspiegelt . Aber wir sollten auch – sprüche für Schäden durch Kraftfahrzeuge gegenüber das ist ja geschehen – mit Überbrückungsmechanismen einem Entschädigungsfonds geltend gemacht werden – Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21697

Ulla Jelpke (A) werden nur 7,5 Millionen Euro pro Ereignis gezahlt, un- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) abhängig von der Zahl der Opfer . Man kann sich einmal Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion hat jetzt durchrechnen, was das heißt . Waltraud Wolff das Wort. Zudem muss es den Menschen als unsäglich zynisch (Beifall bei der SPD) erscheinen, wenn sie Opfer von Anschlägen werden, die Terroristen und Amokläufer absichtlich mit einem Fahr- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): zeug herbeigeführt haben, und entschädigungstechnisch Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und zu Opfern von Verkehrsunfällen erklärt werden . Das geht Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fas- gar nicht . sungslos habe ich am 19 .Dezember auf die Bilder vom Breitscheidplatz geschaut . Fassungslos und geschockt (Beifall bei der LINKEN) bin ich eigentlich noch heute, wie wir alle . Der Gesetzentwurf ist deswegen richtig . Er wird, Aus kalter Berechnung wurden wahllos Menschen wenn wir ihn verabschieden würden, eine Schutzlücke getötet, verletzt, mit dem alleinigen Ziel, tiefe Angst zu schließen . Deswegen stimmt die Linke diesem Gesetz- schüren und zu schaffen. Meine Damen und Herren, ich entwurf zu . bin froh, dass das nicht gelungen ist . Das haben die Ber- liner, das hat die Bevölkerung gezeigt . Das ist sehr, sehr (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- gut . NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- wie der Abg . Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE Meine Damen und Herren, im Falle des Anschlages GRÜNEN]) auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz hat sich die Bundesregierung auf eine Härtefallregelung ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Schmerz der ständigt, allerdings – das muss man hier auch einmal Angehörigen und der Opfer kann ich nur erahnen . Eben- sagen – erst, nachdem die Anwälte der Opfer mit einer so kann ich nur erahnen, welche Folgen die Verletzungen Entschädigungsklage in dreistelliger Millionenhöhe ge- und die traumatischen Erlebnisse für die Überlebenden droht haben . Erst danach hat man sich bewegt . Ich will in der Zukunft haben werden . Umso wichtiger ist es, den aber hier, wie auch meine anderen Kollegen, deutlich sa- Opfern und Angehörigen unser Mitgefühl zu zeigen und gen: Wir begrüßen es ausdrücklich, dass es hier zu einer sie zu unterstützen, wo wir nur können . Sie müssen nach Extra-Regelung gekommen ist . dieser Tat weiterleben, und es ist unsere Aufgabe, ihnen so zu helfen, wie wir es können . (B) (D) Doch Opferentschädigung ist nur die eine Seite, die Frau Jelpke, Sie haben hier vom gerichtlichen Einkla- materielle Seite . Wir wissen, dass der Schmerz für die gen von Entschädigungen gesprochen . Mir ist so etwas Angehörigen, aber auch für die Verletzten mit Geld allein nicht bekannt . Das müssten Sie dann schon unterlegen . nicht aufgewogen werden kann . Deswegen muss auch an dieser Stelle gesagt werden: Gerechtigkeit kann es nur (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Anwälte drohten geben, wenn es eine wirkliche Aufklärung gibt . Hier damit! Mal richtig hinhören!) appelliere ich an das Haus . Zurzeit wird die Aufklärung Es geht hier, meine Damen und Herren, natürlich um eher blockiert . Der Anschlag war vor einem Monat . Die körperliche und seelische Folgen, die die Menschen da- Aufklärungsarbeiten werden immer mehr in das geheime vongetragen haben – aber nicht nur . Oft brechen bei Op- Parlamentarische Kontrollgremium verlegt . Es werden fern oder Angehörigen Einkommen weg . Es ist für mich Sonderkommissionen und Sonderbeauftragte eingesetzt . überhaupt keine Frage, dass wir diese Menschen nicht Es muss aber auch für die Opfer die Aufklärung statt- alleinlassen . Das hat sofort nach dem An- finden. Es müssen Fragen beantwortet werden: Warum schlag deutlich gemacht, und das war gut und richtig . wurde nie versucht, Amri aufgrund seiner zahlreichen Straftaten zu inhaftieren? Ist die Hand über ihn gehalten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten worden? Haben Geheimdienste ihn laufen lassen? Ist er der CDU/CSU) Lockvogel gewesen? Auch das wird zur Gerechtigkeit Direkt nach dem Anschlag hat das Land Berlin den Ver- beitragen und gehört zu diesem Thema . letzten und den Angehörigen der Opfer seine Traumaam- bulanzen zur Verfügung gestellt . Das war ein ganz wich- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- tiger Schritt . NIS 90/DIE GRÜNEN) Letzte Woche, meine Damen und Herren, wurde nun Wir sind fest davon überzeugt: Eine rückhaltlose Of- die weitere Entschädigung vereinbart . Liebe Kolleginnen fenlegung von Fehlern macht es auch möglich, dass wir und Kollegen, die Verletzten und Hinterbliebenen dieses daraus lernen und möglicherweise weitere Anschläge Anschlages erhalten das ganze Spektrum der Leistungen verhindern . nach dem Opferentschädigungsgesetz . Dafür wird der Härteausgleich genutzt . Die Hinterbliebenen und Ver- Ich danke Ihnen . letzten erhalten Leistungen aus dem Entschädigungs- fonds, der von der Verkehrsopferhilfe e .V . verwaltet (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- wird, und sie erhalten auch Härteleistungen für Opfer NIS 90/DIE GRÜNEN) terroristischer Straftaten . Ich persönlich bin sehr froh, 21698 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) dass die Bundesministerien für Arbeit und Soziales so- Streit zwischen den Trägern über die Zuständigkeit ge- (C) wie der Justiz und für Verbraucherschutz gemeinsam mit ben könnte . dem Land Berlin zügig eine ganz umfassende Lösung gefunden haben . Der Härteausgleich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dagegen bietet die Möglichkeit, unvorhergesehene Fälle Im konkreten Fall diskutieren wir natürlich, ob und abzudecken, und die Verwaltung ist ermächtigt festzule- wie so ein Anschlag hätte verhindert werden können . gen, dass das Opferentschädigungsrecht greift . Das hat Aber die traurige Gewissheit ist: Wir können nicht alle nach dem Anschlag auch gut funktioniert . Gewalttaten, wir können nicht alle Anschläge verhin- dern . Wir können auch nicht den Schmerz und die kör- Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach Anschlägen perlichen und seelischen Folgen lindern . Aber wir kön- wird oft mehr über die Täter als über die Opfer geredet . nen mit unserem Opferentschädigungsrecht helfen, die Oft nimmt man die Toten mehr wahr als die Überleben- gesundheitlichen und auch die finanziellen Folgen einer den . Umso wichtiger ist es, dass unser Opferentschädi- Gewalttat zumindest zu schmälern . gungsrecht gut funktioniert . Die Teile, die wir zusam- mengefügt haben, funktionieren richtig gut . (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Und was sagen Sie jetzt zu unseren (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Vorschlägen?) Dr . h . c .Albert Weiler [CDU/CSU]) – Ich komme noch darauf . Es ist ein wichtiges Zeichen unserer Gesellschaft an die Überlebenden: Wir nehmen euch wahr . Wir können Meine Damen und Herren, ich will keine Schelte ver- euer Leid zwar nicht stillen, aber wir wollen helfen, wo teilen; aber wenige Tage nach dem Anschlag wurde in wir können . den Medien die Frage, ob und welche Entschädigungen möglich sind, breit diskutiert . Viele haben auch berichtet, Herzlichen Dank . eine Entschädigung sei überhaupt nicht möglich . Was für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- eine Verunsicherung für die Opfer und die Hinterbliebe- ten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜND- nen! Meine Damen und Herren, richtig ist, dass zu die- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig schlecht! sem Zeitpunkt nicht klar war, dass der Härteausgleich ge- Meine Güte! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE nutzt werden kann . Aber: Dass der Entschädigungsfonds GRÜNEN]: Am Thema vorbei!) der Verkehrsopferhilfe greift, war bereits am nächsten Tag klar . Ich will einfach die Frage in den Raum stellen:

Wäre hier nicht mehr Sorgfalt angebracht gewesen? War Vizepräsidentin Ulla Schmidt: es wirklich notwendig, Opfer zu verunsichern? Vielen Dank . – Nächster Redner ist Dr .Albert Weiler, (B) CDU/CSU-Fraktion . (D) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: An wen richtet sich das denn, was Sie (CDU/CSU): da sagen?) Dr. h. c. Albert Weiler Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Es ist unser gemeinsames Anliegen, dass die Betroffe- und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das nen alle notwendige Hilfe bekommen . Jahr 2016 ging in Deutschland mit einem schrecklichen (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ereignis zu Ende . Es waren schwere Tage, in denen ich NEN]: Zu wem sprechen Sie denn?) wie Millionen Menschen in Deutschland entsetzt, er- schüttert und tief traurig war aufgrund der grausamen – Zu euch . – und letztlich unbegreiflichen Tat auf dem Breitscheid- platz in Berlin . (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ach! Wir verunsichern? – Renate Im Hinblick auf die Bedrohung durch Menschen, Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie die sich voller Hass gegen unsere Gemeinschaft stellen führen Selbstgespräche!) und unser friedliches Zusammenleben gefährden oder zerstören wollen, ist ein vereintes Vorgehen notwendig . Sie bekommen – und das ist jetzt auch klar – alle Leistun- Gemeinsam haben wir die Kraft, uns für ein freies und gen, die zur Verfügung stehen . Der Härteausgleich ist da offenes Leben, wie wir es in Deutschland leben wollen, ein richtig guter Weg . einzusetzen . Die Grünen schlagen heute in ihrem Gesetzentwurf Auch gut einen Monat nach dem Anschlag sind mei- vor, ne Gedanken weiterhin bei den zwölf Toten, den vielen (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verletzten, ihren Familien, Angehörigen und Freunden . NEN]: Endlich!) Angesichts der Katastrophe auf dem Weihnachtsmarkt in der Zukunft einen anderen Weg zu gehen . Sie wol- an der Gedächtniskirche ist es unsere Pflicht, über eine len die Ausnahme für Kraftfahrzeuge aus dem Opferent- angemessene Entschädigung zu diskutieren . Dies nicht schädigungsgesetz streichen . Die Abgrenzung zwischen zu tun, hieße, unserer politischen Verantwortung gegen- der Entschädigung über den Fonds der Verkehrsopfer- über denjenigen, die Trauer und Leid erfahren haben, hilfe und der Entschädigung nach dem Opferentschädi- nicht gerecht zu werden . Aus diesem Grund sage ich gungsgesetz würde dadurch schwieriger . Darüber hinaus ganz deutlich: Für die Opfer von Gewalttaten, auch wie befürchten Sie – so habe ich das interpretiert –, dass es im Fall vom vergangenen Dezember, müssen wir unein- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21699

Dr. h. c. Albert Weiler (A) geschränkte Hilfe leisten und eine schnelle, direkte und Ich möchte zudem anmerken, dass der von den Grünen (C) unbürokratische Entschädigung sicherstellen . Ich bin eingebrachte Gesetzentwurf aus meiner Sicht den Opfern erleichtert, dass dies im Anschluss an den Berliner An- nicht ganz gerecht wird und einer Überarbeitung bedarf . schlag auf der Grundlage des geltenden Gesetzes durch Insgesamt begrüße ich die Debatte aber und stelle zufrie- die Anwendung des Härteausgleichs nach § 1 Absatz 12 den fest, dass auch die Grünen einer hilfreichen Lösung Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit § 89 Bun- aufgeschlossen gegenüberstehen . desversorgungsgesetz aktuell schon geschieht . Ich bin überzeugt, dass wir als staatliche Gemein- Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das schaft eine gesteigerte Verantwortung gegenüber denen Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz tragen, die Opfer eines Terroranschlags geworden sind . sowie die Berliner Senatsverwaltung und das Landesamt Daher ermuntere ich alle Parteien, bei der weiteren Dis- für Gesundheit und Soziales haben sich bereits auf eine kussion nicht gegeneinander, sondern miteinander zu Lösung zur Entschädigung der Opfer verständigt . Die agieren, um die bestmögliche Entschädigung aller Opfer Verletzten und Hinterbliebenen des Anschlags erhalten sicherzustellen . nach dieser Lösung Leistungen nach dem Opferentschä- Ich hoffe auf eine sachliche Debatte in der weiterfüh- digungsgesetz im Wege des Härteausgleichs, Leistungen renden parlamentarischen Behandlung aus dem Entschädigungsfonds, der von der Verkehrsop- ferhilfe verwaltet wird, und Leistungen als Härteleistun- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gen für Opfer terroristischer Straftaten, welche vom Bun- Das hoffen wir auch!) desamt für Justiz verwaltet werden . mit dem Ziel einer optimalen Hilfe für alle Opfer, ihre Mir ist besonders wichtig, zu erwähnen, dass die Ent- Angehörigen und Anverwandten . schädigung aus dem Opferentschädigungsgesetz im Um- Vielen Dank . fang des gesamten Leistungsspektrums erbracht werden soll . Ergebnis dessen ist, dass alle Opfer des Berliner An- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schlags auf der Grundlage der heutigen Rechtslage wich- tige Leistungen erhalten . Das sind wir den Menschen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: auch schuldig . Vielen Dank . – Letzter Redner für die heutige Debatte (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist der Kollege Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion . NEN], an Waltraud Wolff [Wolmirstedt] (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten [SPD] gewandt: Das ist genau der Sprechzet- der CDU/CSU) tel, den Sie auch hatten! – Gegenruf der Abg . (B) Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ich habe (D) gar keinen Sprechzettel gehabt!) Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen – An der Stelle wäre es schön, wenn Sie zuhören würden, und Kollegen! Eigentlich ist dieser Tagesordnungspunkt anstatt dazwischenzureden; denn es ist wirklich ein ernst- heute, nach einer spannenden Sitzungswoche, als letzter haftes Thema . Dass wir hier reden, ist kein Selbstzweck, Tagesordnungspunkt fast an die falsche Stelle gesetzt; sondern wir debattieren hier, um Menschen helfen zu denn die Entschädigung der Opfer des Anschlags vom können . – Danke schön . Breitscheidplatz, die Würdigung der Leistungen für die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Menschen, die dort schweres Leid erlitten haben, hätten einen prominenteren Platz verdient . Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf soll die Ausnah- me von der Anwendbarkeit des Opferentschädigungsge- (Zuruf der Abg . Katja Keul [BÜNDNIS 90/ setzes bei Schäden aus einem tätlichen Angriff, die von DIE GRÜNEN]) einem Angreifer durch den Gebrauch eines Kraftfahr- Wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, wür- zeugs oder eines Anhängers verursacht werden, aufgeho- den uns – das sind vielleicht Vorurteile unserer Nach- ben werden . Die rechtssichere Versorgung und Entschä- barn – gerne von Szenarien treiben lassen, so sagt man, digung aller Opfer soll sichergestellt werden – sicherlich Ungewissheit in Bahnen zu lenken, fast so, als ob wir ein hehrer Vorsatz . Aber wir müssen uns die Frage stel- dem Schicksal ein Schnippchen schlagen wollten . Wohl len, ob eine Änderung der gesetzlichen Regelungen tat- gerade deshalb hat uns der Anschlag am Breitscheidplatz sächlich angebracht ist, und dies mit äußerster Vorsicht ganz besonders – ich sage: ins Mark – getroffen. Nein, angehen; meine Vorrednerin hat das eingehend dargelegt . nicht weil ein Teil der Opferentschädigung im Pflichtver- sicherungsgesetz geregelt ist – vielmehr, weil uns allen Inhaltlich teile ich den Anspruch, der diesem Gesetz- auf einmal bewusst wurde, dass Terror, dass Tod, Ent- entwurf zugrunde liegt, aus tiefstem Herzen . Als Gesetz- setzen, Hilflosigkeit eben nicht durch Gesetze und Vor- geber müssen wir allerdings auch sorgfältig prüfen, ob schriften, sondern nur durch unsere Solidarität, unsere die Sachlage tatsächlich nach einer Gesetzesänderung Empathie, Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Zuwen- ruft . Aktionistische Schnellschüsse sollten bei einer so dung gemildert werden können . wichtigen Angelegenheit unbedingt vermieden werden . (Beifall bei der SPD) (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen die Richtigen! Und was ist mit dem Ich jedenfalls glaube – ich habe dies in meinem Freun- Zehn-Punkte-Plan?) deskreis so erfahren –: An erster Stelle steht die Sorge 21700 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) um die Unversehrtheit derjenigen, die wir lieben, die wir Ich glaube, meine Kolleginnen und Kollegen, es ist (C) kennen, die uns nahe sind . Dann ist es das Entsetzen über sogar zweitrangig, wie viel Geld fließt; Hauptsache, es den Tod, den Verlust, der Schmerz darüber, Kind, Frau, fließt schnell und unkompliziert. Ich sage das, weil ich Mann, Partnerin, Partner, Tante, Onkel, Nachbarn verlo- als Berichterstatter im Verteidigungsausschuss oft mit ren zu haben – unwiederbringlich, endgültig, für immer . traumatisierten Soldatinnen und Soldaten zu tun habe Und in dieser Situation denkt niemand an Entschädigung, und weiß, dass manche der von Posttraumatischen Be- Haftungssummen oder Abwicklung . In diesen Stunden lastungsstörungen Betroffenen nicht die finanzielle Ent- braucht man jemanden, der auffängt, Halt gibt, tröstet. schädigung wollen, nicht die schnelle Hilfe, sondern Dass die Berlinerinnen und Berliner, dass die Menschen sofort das offene Ohr, Verständnis und Rechtssicherheit. dieses Landes dies taten, war großartig, und dafür mein persönlicher herzlicher Dank . Wir brauchen unkomplizierte Verfahren, Behörden, die mit dem richtigen Fingerspitzengefühl handeln, die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) finanziellen Mittel, aber auch die Unterstützung aus der Doch es folgt die Zeit danach . Ich bin den Grünen Gesellschaft heraus . Ich nenne beispielsweise den Wei- ausdrücklich dankbar dafür, die Frage der Opferentschä- ßen Ring, in dem sich viele Bürgerinnen und Bürger digung auch hier im Hohen Hause des Deutschen Bun- engagieren . Diesen Zusammenhalt in der Gesellschaft destages zu stellen, gerade weil in der Sensationspresse brauchen wir nach solchen Anschlägen in Deutschland, sofort spekuliert wurde, Opfer und Angehörige gingen den brauchen wir zur Abwicklung, zur Milderung der leer aus, das Opferentschädigungsgesetz greife nicht, Folgen und zur Opferentschädigung, und zwar über den weil das Attentat unter anderem mit einem Kraftfahrzeug Tag hinaus; denn Solidarität wiegt mehr als jede abge- begangen wurde . Mittlerweile sind wir alle schlauer . Un- schlossene Versicherung, mehr als jedes Opferentschä- sere Minister und Andrea Nahles brachten digungsgesetz . Sie kann nämlich die Gräben zuschütten, Licht ins Dunkel; denn bereits nach geltendem Recht er- die Ungewissheiten beseitigen und die Ängste besiegen . halten Verletzte und Hinterbliebene des Anschlags Ent- Nur sie kann dem Terror mutig ins Angesicht blicken und schädigungsleistungen, und zwar auch ohne Gesetzesän- Bollwerk sein für unser Leben, so wie wir es leben, in derungen . Freiheit . Es stimmt zwar, dass das Opferentschädigungsgesetz (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der laut § 1 Absatz 11 Taten mit einem Kfz ausschließt; da CDU/CSU) das Attentat jedoch als Gesamtgeschehen zu betrachten Ich wünsche Ihnen ein wunderschönes Wochenende ist, das mit dem tödlichen Schuss auf den Lkw-Fahrer und eine gute sitzungsfreie Woche . beginnt, liegt ein weiterer Teilakt vor, den der Täter, der (B) sich das Fahrzeug mit dem Ziel beschafft hat, es als Tat- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) waffe zu missbrauchen, begangen hat, sodass auch die Opfer am Breitscheidplatz unter das Gesetz fallen . Dies Vizepräsidentin Ulla Schmidt: hört sich fürchterlich juristisch an, ist aber nun einmal Realität . Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet . Dazu kommen noch die Leistungen aus dem besag- Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, den ten Kfz-Entschädigungsfonds der Versicherer sowie Gesetzentwurf auf Drucksache 18/10965 an die in der Härteleistungen für Opfer terroristischer Straftaten . Das Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen . klingt vielleicht hölzern, das klingt vielleicht zu juris- Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist tisch, das gibt uns aber ganz konkrete Mittel an die Hand, nicht der Fall . Dann ist so beschlossen . mit der Situation umzugehen und das zu tun, wofür wir da sind: zu helfen – den Opfern, den Angehörigen, den Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages- traumatisierten Menschen und sogar den auf den ersten ordnung . Blick unverletzten Besuchern des Weihnachtsmarkts am Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- 19 .Dezember 2016 . Den allen ist es vermutlich egal, tages auf Mittwoch, den 15 . Februar 2017, 13 Uhr, ein . welcher rechtliche Rahmen hilft; Hauptsache, er hilft . Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- schönes Wochenende . ten der CDU/CSU und des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]) (Schluss: 15 .08 Uhr)

Berichtigung 215 . Sitzung, Seite 21496 B, erster Absatz: Die Tages- ordnungspunkte 5 a und 5 b sind wie folgt zu lesen: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Renate Künast, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21701

(A) Zukunftsfähige Unternehmensverantwortung – (C) Wirksame Sanktionen bei Rechtsverstößen von Unternehmen Drucksache 18/10038 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Katja Keul, Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zukunftsfähige Unternehmensverantwortung – Menschenrechtliche Sorgfaltspflichten im deut- schen Recht verankern Drucksache 18/10255 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017 21703

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Barthle, Norbert CDU/CSU 27 .01 .2017 Petzold (Havelland), DIE LINKE 27 .01 .2017 Harald Bartke, Dr . Matthias SPD 27 .01 .2017 Pronold, Florian SPD 27 .01 .2017 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 27 .01 .2017 Rüthrich, Susann * SPD 27 .01 .2017 Bülow, Marco SPD 27 .01 .2017 Saathoff, Johann SPD 27 .01 .2017 Burkert, Martin SPD 27 .01 .2017 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 27 .01 .2017 Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/ 27 .01 .2017 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN Schäuble, Dr . Wolfgang CDU/CSU 27 .01 .2017 Eberl, Iris CDU/CSU 27 .01 .2017 Scheer, Dr . Nina SPD 27 .01 .2017 Feiler, Uwe CDU/CSU 27 .01 .2017 Schlecht, Michael DIE LINKE 27 .01 .2017 Fischer (Karlsruhe-­ CDU/CSU 27 .01 .2017 Land), Axel E . Schröder (Wiesbaden), CDU/CSU 27 .01 .2017 Dr . Kristina Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 27 .01 .2017 Schwartze, Stefan SPD 27 .01 .2017 Gohlke, Nicole DIE LINKE 27 .01 .2017 (B) Steffen, Sonja SPD 27 .01 .2017 (D) Gröhe, Hermann CDU/CSU 27 .01 .2017 Steineke, Sebastian CDU/CSU 27 .01 .2017 Groth, Annette DIE LINKE 27 .01 .2017 Storjohann, Gero CDU/CSU 27 .01 .2017 Gunkel, Wolfgang SPD 27 .01 .2017 Strothmann, Lena CDU/CSU 27 .01 .2017 Hänsel, Heike DIE LINKE 27 .01 .2017 Terpe, Dr . Harald BÜNDNIS 90/ 27 .01 .2017 Henn, Heidtrud SPD 27 .01 .2017 DIE GRÜNEN

Hochbaum, Robert CDU/CSU 27 .01 .2017 Timmermann-Fechter, CDU/CSU 27 .01 .2017 Astrid Hübinger, Anette CDU/CSU 27 .01 .2017 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ 27 .01 .2017 Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/ 27 .01 .2017 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN Walter-Rosenheimer, BÜNDNIS 90/ 27 .01 .2017 Korte, Jan DIE LINKE 27 .01 .2017 Beate DIE GRÜNEN

Krellmann, Jutta DIE LINKE 27 .01 .2017 Wawzyniak, Halina DIE LINKE 27 .01 .2017

Kudla, Bettina CDU/CSU 27 .01 .2017 Weinberg, Harald DIE LINKE 27 .01 .2017

Launert, Dr . Silke CDU/CSU 27 .01 .2017 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 27 .01 .2017

Lenkert, Ralph DIE LINKE 27 .01 .2017 Zdebel, Hubertus DIE LINKE 27 .01 .2017

Lerchenfeld, Philipp CDU/CSU 27 .01 .2017 Zeulner, Emmi * CDU/CSU 27 .01 .2017 Graf Zollner, Gudrun CDU/CSU 27 .01 .2017 Murmann, Dr . Philipp CDU/CSU 27 .01 .2017

Nord, Thomas DIE LINKE 27 .01 .2017 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes 21704 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 216 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 27 . Januar 2017

(A) Anlage 2 Drucksache 18/9605 Nr .A .13 (C) Ratsdokument 10991/16 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Drucksache 18/9605 Nr .A .15 Ratsdokument 11155/16 Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie Drucksache 18/9605 Nr .A .20 gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von Ratsdokument 11414/16 einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Drucksache 18/9605 Nr .A .21 absehen: Ratsdokument 11427/16 Drucksache 18/9605 Nr .A .22 Innenausschuss Ratsdokument 11428/16 Drucksache 18/9605 Nr .A .24 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 11610/16 Bericht der Bundesregierung zur Verzichtbarkeit Drucksache 18/9605 Nr .A .25 der Anordnungen der Schriftform und des persön- Ratsdokument 11611/16 Drucksache 18/9605 Nr .A .26 lichen Erscheinens im Verwaltungsrecht des Bun- Ratsdokument 11612/16 des Drucksache 18/9746 Nr .A .2 Drucksachen 18/9177, 18/9596 Nr. 1.3 Ratsdokument 11799/16 Drucksache 18/10116 Nr .A .5 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ratsdokument 11780/16 Drucksache 18/10116 Nr .A .6 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 12063/16 Drucksache 18/10116 Nr .A .8 Bericht über Verkehrsverlagerungen auf das nach- Ratsdokument 12370/16 geordnete Straßennetz in Folge der Einführung der Drucksache 18/10555 Nr . B .1 Lkw-Maut Ratsdokument 13699/16 Drucksachen 18/10567, 18/10696 Nr. 1.2 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Sportausschuss mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- Drucksache 18/5982 Nr .A .11 onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer EP P8_TA-PROV(2015)0233 Beratung abgesehen hat .

Ausschuss für Wirtschaft und Energie Innenausschuss Drucksache 18/9180 Nr .A .1 (B) Drucksache 18/6855 Nr .A .2 Ratsdokument 10819/16 (D) Ratsdokument 13621/15 Drucksache 18/9180 Nr .A .2 Drucksache 18/8470 Nr .A .5 Ratsdokument 10821/16 Ratsdokument 7762/16 Drucksache 18/8470 Nr .A .6 Ratsdokument 7763/16 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi- Drucksache 18/8470 Nr .A .7 cherheit Ratsdokument 7765/16 Drucksache 18/10706 Nr .A .10 Drucksache 18/8470 Nr .A .8 Ratsdokument 14299/16 Ratsdokument 7766/16 Drucksache 18/8470 Nr .A .9 Ratsdokument 7767/16 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Uni- Drucksache 18/8470 Nr .A .10 on Ratsdokument 7769/16 Drucksache 18/8936 Nr .A .3 Drucksache 18/8140 Nr .A .26 EP P8_TA-PROV(2016)0233 Ratsdokument 6317/16 Drucksache 18/9141 Nr .A .3 Drucksache 18/8140 Nr .A .27 Ratsdokument 9366/16 Ratsdokument 6318/16

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