„Cap Arcona“ – Der Befehl

Die Frage nach der Verantwortung für die Räumung des KZ Neuengamme und für die Verlegung der Häftlinge auf die Schiffe in der Lübecker Bucht beschäftigte nach dem Kriegsende die britischen Besatzungsbehörden. Gegen den früheren Höheren SS- und Polizeiführer im Wehrkreis X, Georg Henning Graf von Bassewitz-Behr, wurde ein Unter- suchungsverfahren eingeleitet, in dessen Verlauf viele an der Verlegungsaktion Beteiligte vernommen wurden. Den britischen Untersuchungsorganen ging es um die Klärung folgender Fragen:

• Wer gab den Befehl zur Räumung des KZ Neuengamme?

• Auf wessen Initiative und in wessen Verantwortung wur- den die Schiffe für die Häftlinge bereitgestellt?

• Wer war verantwortlich für die Zustände auf den Schiffen?

• Welche Absicht stand hinter der Verlegung der Häftlinge auf die Schiffe?

KZ-Gedenkstätte Neuengamme | Reproduktion nicht gestattet 2 „Cap Arcona“ – Der Befehl

Die im Folgenden zitierten Passagen aus Aussagen einzelner Beteiligter beantworten diese Fragen zwar nicht restlos, eini- ges lässt sich aus ihnen jedoch erkennen:

• Alle Aussagen zeigen das Bestreben der Befragten, die eigene Verantwortung so weit wie möglich auf andere ab- zuwälzen.

• Einen ausdrücklicher Plan, die KZ-Häftlinge z. B. durch Versenken der Schiffe zu ermorden, scheint es nicht ge- geben zu haben.

• Die politische und die militärische Führung in waren sich einig, dass bei der von ihnen angestrebten kampflosen Übergabe der Stadt an die Alliierten die An- wesenheit von mehreren Tausend KZ-Häftlingen in Neu- engamme und im Innenstadtgebiet hinderlich gewesen wäre. Daraus resultierte das Bestreben, die Häftlinge aus der Stadt zu bringen.

• Ausweichlager standen zur Aufnahme der KZ-Häftlinge nicht mehr zur Verfügung. Die Unterbringung auf Schif- fen als „Ersatzlagern“ wurde als einzige noch zu realisie- rende Lösung gesehen und unter Mitwirkung aller betei- ligten Instanzen schnellstmöglich verwirklicht. „Cap Arcona“ – Der Befehl 3

Die vorliegenden Quellen lassen keine Aussagen darüber zu, ob es konkrete Pläne gab, was mit den Häftlingen in den schwimmenden Konzentrationslagern geschehen sollte. Äußerungen, dass die Übernahme der Häftlinge durch das Schwedische Rote Kreuz geplant gewesen sei, wurden von Graf Folke Bernadotte, dem Vizepräsidenten des Schwe- dischen Roten Kreuzes, nicht bestätigt. Trotzdem geben mehrere der Befragten übereinstimmend an, am 29. April sei die Nachricht eingetroffen, dass die Reichsführung der SS einer Übergabe der Häftlinge an das Rote Kreuz zustimmen würde. Möglicherweise wurde hier eine Nachricht, die sich auf eine andere Evakuierungsaktion bezog, falsch interpre- tiert: Tatsächlich sind am 30. April 1945 350 französische, belgische und niederländische Häftlinge im Lübecker Hafen durch das Rote Kreuz vom Frachtschiff „Thielbek“ geholt und anschließend nach Schweden gebracht worden. 4 „Cap Arcona“ – Der Befehl

Georg Henning Graf von Bassewitz-Behr, ehemaliger Höhe- rer SS- und Polizeiführer im Wehrkreis X. Aus der Nieder- schrift vom 7. März 1946 in dem gegen ihn geführten briti- schen Ermittlungsverfahren:

Nachdem die Kriegslage die Wahrscheinlichkeit einer Feindbesetzung des Raumes Groß-Hamburg erkennen ließ, schnitt Kaufmann in einer der täglichen Besprechungen, ich glaube, es war in den ersten Tagen des Monats April 1945, die Frage der Sicherung der Bevölkerung Groß- Hamburgs vor Ausschreitungen von ausländischen Zivil- arbeitern und KZ-Häftlingen bei Feindbesetzung an. Kauf- mann vertrat die Meinung, dass das Vorhandensein des

HSSPF: KZ-Lagers Neuengamme vor den Toren der Stadt und das Höherer SS- und Polizeiführer Vorhandensein von ca. 80 000 ausländischen Zivilarbeitern in Hamburg: Bassewitz-Behr und einigen Außenlagern des KZ-Lagers Neuengamme in Reichskommissar für die Seeschif�- der Stadt eine außerordentliche Gefahr für die Sicherheit fahrt: Verfügte über den Einsatz von Frachtschiffen. Die Zuständigkeit für der Bevölkerung bedeute. Ich vertrat die Meinung, dass ein Passagier- und Tankschiffe lag bei der Kriegsmarine, die große Passagierschiffe Verbleiben der genannten Gruppen in ihren alten Lagern als Unterkünfte für Marineangehörige, eine viel geringere Gefahr in sich schlösse, als wenn durch als Lazarettschiffe und zum Transport von Flüchtlingen nutzte. Die Marine lehnte Verlegungen erst Unruhe hineingebracht würde. Das Er- es ab, Verantwortung für Verladung von gebnis dieser Besprechungen war aber doch die Aufrecht- KZ-Häftlingen auf die „Cap Arcona“ zu übernehmen, und entließ das Schiff aus erhaltung der Forderung von Kaufmann. [...] Pauly erhielt ihrer Nutzung. darauf den Auftrag, [...] sich so schnell wie möglich nach einem anderweitigen Ausweichlager im Holsteinischen : der NSDAP und Reichsstatthal- oder Mecklenburgischen Raum umzusehen. [...] ter von Hamburg, Reichskommissar für die Seeschiffahrt

Max Pauly: Inzwischen hatten Pauly und meine Dienststelle festge- SS-Obersturmbannführer, Kommandant stellt, dass trotz eifrigster Bemühungen ein geeignetes des KZ Neuengamme 1942–1945 Ausweichlager in den genannten Räumen nicht zu finden Wöbbelin: Außenlager des KZ Neuengamme war (eine zunächst greifbar erscheinende Möglichkeit der in Mecklenburg und Ziel von Räu- Verlegung nach Wöbbelin in Mecklenburg-Vorpommern mungstransporten aus Außenlagern des KZ Neuengamme zerschlug sich meines Wissens leider). [...] „Cap Arcona“ – Der Befehl 5

Erneute Besprechungen mit Kaufmann, der an seinem Ver- legungsbefehl festhielt, führten dann zu dem Vorschlag, der meiner Erinnerung nach aus dem Kreis seiner Mitarbei- ter kam, ein Ausweichlager auf einem oder mehreren Schif- fen, ähnlich den Wohnschiffen der Marine, einzurichten. In seiner Eigenschaft als Reichskommissar für die Seeschiff- fahrt bot Kaufmann zunächst die „Cap Arcona“, später zwei weitere Schiffe an. Da durch die Verlegung auf Schiffe mir die Frage der Beschaffung von Versorgungsanlagen (Kü- chen, Latrinen, usw.), die bei Neueinrichtung eines Lagers so schnell kaum hätten beschafft werden können, und die Frage der Bewachung des Lagers (keine Einzäunung notwendig) sehr einfach zu lösen erschien, griff ich diesen Vorschlag auf und beauftragte Pauly, sich sofort mit dem Reichskommissar für die Seeschiffahrt in Verbindung zu setzen und mit dessen Beauftragten an Ort und Stelle die Möglichkeit der Errichtung eines Ausweichlagers auf die- sen Schiffen zu prüfen. Nachdem Pauly diese Möglichkeit grundsätzlich bejahte [...], erhielt er von mir bzw. meiner Dienststelle den Befehl, die Verlegung so schnell wie mög- lich durchzuführen, zumal Kaufmann mich täglich drängte und die Zahlen der Verlegten wissen wollte.

Bassewitz-Behr gab zu, Mitte April einen Befehl vom Reichs- führer SS, Heinrich Himmler, erhalten zu haben, dem zu- folge er die Verantwortung dafür zu tragen gehabt habe, dass kein KZ-Häftling lebend in die Hand des Feindes falle. Er sagte weiterhin aus, dass er die Durchführung dieses Befehls niemals in Betracht gezogen und ihn auch nicht wei- tergeleitet habe.

(TNA (PRO), WO 309/408) 6 „Cap Arcona“ – Der Befehl

Aus der Aussage von Karl Kaufmann, ehemaliger Gauleiter der NSDAP und von Hamburg, Reichs- verteidigungskommissar und Reichskommissar für die See- schiffahrt, am 12. März 1946 im britischen Ermittlungsver- fahren gegen Bassewitz-Behr:

In meiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar hatte ich keine Befehlsgewalt über den HSSPF [...]. Die Räumung des KZ Neuengamme wurde zuerst von Bas- sewitz-Behr im März 1945 erwähnt, als er mir gegenüber seine Sorge wegen einer Überbelegung der KZ in seinem Befehlsgebiet zum Ausdruck brachte. Er sprach von den riesigen Mengen von ausländischen Arbeitern, Kriegsge- fangenen und KZ-Häftlingen, die aus den bedrohten Ost- und Westgebieten im Raum des Wehrkreises X zusammen- strömten. Diese Frage machte ihm aus Versorgungs- und Sicherheitsgründen große Sorgen. [...] Über Räumungs- maßnahmen von KZ ist damals noch nicht gesprochen wor- den. [...] Ich habe Bassewitz-Behr sofort zu überzeugen versucht, die Frage der Überführung der ausländischen KZ-Häftlinge von Neuengamme gleichzeitig mit der Rück- führung der Skandinavier aufzunehmen. Es ist meine Überzeugung, dass ein Transport dieser Häftlinge mit den Kraftfahrzeugen des Schwedischen und Dänischen Roten Kreuzes zu diesem Zeitpunkt durchaus möglich war. Ich Rückführung der Skandinavier: habe Bassewitz gedrängt, auch wegen der anderen auslän- Graf Folke Bernadotte, der Vizepräsi- dent des Schwedischen Roten Kreuzes, dischen KZ-Häftlinge selbst eine Entscheidung zu treffen, hatte von Himmler im März/April 1945 die Erlaubnis erhalten, im Rahmen einer um die noch bestehenden Transportmöglichkeiten bestens Hilfsaktion („Aktion der Weißen Busse“) zu nutzen. [...] Etwa drei bis fünf Tage später [nach Eintref- dänische und norwegische Häftlinge in ihre Heimat zurückzuführen. fen der Genehmigung zur Rückführung der Skandinavier] „Cap Arcona“ – Der Befehl 7

teilte mir Bassewitz mit, das Schwedische Rote Kreuz habe sich bereit erklärt, die nichtdeutschen Insassen von Neuen- gamme zur Entlassung in Schweden aufzunehmen. Da über 90 % der Insassen von Neuengamme Ausländer waren, hätte dies eine große Erleichterung der Lage be- deutet. [...] Er fragte mich, ob ich als Reichskommissar für Seeschiffahrt nicht mit Schiffen helfen könnte. Da die Fahrgastschiffe der Kriegsmarine unterstanden, erklärte ich mich zur Vermittlung bereit. Ich bat meinen Mitarbei- ter Horn hinzu, teilte ihm den Wunsch von Bassewitz mit und bat ihn, die Verbindung zwischen Bassewitz und der Kriegsmarine herzustellen. [...] Von diesem Zeitpunkt an war ich mit der Sache nicht mehr befasst. [...]

(TNA (PRO), WO 309/408) 8 „Cap Arcona“ – Der Befehl

Kurt Rickert, ehemaliger SS-Sturmbannführer im Stab des HSSPF. Aus der Aussage am 14. März 1946 im britischen Ermittlungsverfahren gegen Bassewitz-Behr:

Kurz nach meinem Dienstantritt zeigte mir Generalmajor Abraham ein Fernschreiben des Reichsführers SS an den HSSPF dahin gehend, dass er den HSSPF persönlich dafür verantwortlich mache, dass kein KZ-Häftling lebend in die Hand des Feindes falle. Generalmajor Abraham hielt die Ausführung dieses Befehls für unsinnig und war demzufol- ge für eine Übergabe des KZ Neuengamme an die Alliier- ten. Abraham hatte die gleiche Ansicht für das KZ Bergen- Belsen vertreten und sich durchgesetzt, möglicherweise gegen den Willen des HSSPF. Um den 20. April herum erklärte der HSSPF, dass die Häftlinge von Neuengamme

Walter Abraham: auf Schiffe in der Bucht von Lübeck zu verlegen seien und Kommandeur der Schutzpolizei Hamburg dass die Schiffe in kürzester Zeit vom Reichskommissar seit Anfang Januar 1945, Befehlshaber der Ordnungspolizei im Wehrkreis X für Seeschiffahrt besorgt würden. Die Überführung der Häftlinge von Neuengamme nach Lübeck wurde meines HSSPF: Höherer SS- und Polizeiführer Wissens von der Lagerführung durchgeführt. Schriftliche (hier: Bassewitz-Behr) Befehle sind, soviel ich weiß, nicht erteilt worden. Der Max Pauly: SS-Obersturmbannführer, größte Teil der KZ-Angelegenheiten wurde von Bassewitz- Kommandant des KZ Neuengamme 1942–1945 Behr persönlich und direkt mit Pauly behandelt.

(TNA (PRO), WO 309/408) „Cap Arcona“ – Der Befehl 9

Max Pauly, SS-Obersturmbannführer, Kommandant des KZ Neuengamme 1942–1945. Aus der Aussage am 30. März 1946 im britischen Ermittlungsverfahren gegen Bassewitz-Behr:

Von diesem Zeitpunkt an [Februar 1945] war der HSSPF mein unmittelbarer Vorgesetzter, der sämtliche Befehle erteilte, abgesehen von

a) der Genehmigung zur Freilassung der Dänen und Nor- weger und ihrer Übergabe an das Schwedische Rote Kreuz, die der RFSS und das RSHA erteilte; und

b) den Anweisungen über Exekutionen, die entweder vom RSHA oder den örtlichen Stapoleitstellen kamen. [...]

Ungefähr Mitte April erhielt ich einen direkten Anruf vom HSSPF. Er sagte mir, er habe eine geeignete Lösung ge- funden, sämtliche Häftlinge aus Neuengamme werden auf Schiffe verladen, die der Reichskommissar für Seeschiff- fahrt zur Verfügung stellen würde. Es wurde vom Reichs- kommissar für Seeschiffahrt, dem Gauleiter Kaufmann, der Hauptsturmführer Horn beauftragt, die Schiffe zu besorgen und mit der Kriegsmarine die notwendigen Verhandlungen zu führen. Von mir setzte ich den Sturmbannführer Gehrig ein, der auch in Hamburg war und dann nach Lübeck fuhr. HSSPF: Von der dritten Aprilwoche an sind Transporte fortlaufend Höherer SS- und Polizeiführer (hier: Bassewitz-Behr) von Neuengamme nach Lübeck abgegangen. Trotz gegen- teiliger Zusicherungen von Horn und Bassewitz-Behr war RFSS: Reichsführer SS in Lübeck nichts vorbereitet. [...] Ich erstattete dem HSSPF laufend Bericht, der trotz dieser Schwierigkeiten auf der RSHA: Reichssicherheitshauptamt Räumung und Verschiffung bestand.

(TNA (PRO), WO 309/408)