Plenarprotokoll 15/75

Deutscher

Stenografischer Bericht

75. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Inhalt:

Benennung des Abgeordneten Stephan – zu der Unterrichtung durch die Mayer (Altötting) als stellvertretendes Mit- Bundesregierung: glied in das Kuratorium der Stiftung „Erinne- Mitteilung der Kommission an rung, Verantwortung und Zukunft“ ...... 6407 A den Rat und das Europäische Erweiterung der Tagesordnung ...... 6407 B Parlament Nukleare Sicherheit im Rahmen Absetzung der Tagesordnungspunkte 19 und der Europäischen Union 24 b ...... 6408 A KOM (2002) 605 endg.; Ratsdok. 15875/02

Tagesordnungspunkt 3: – zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: a) Erste Beratung des von den Fraktionen Vorschlag für eine Richtlinie der SPD und des BÜNDNISSES 90/ (EURATOM) des Rates zur Fest- DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- legung grundlegender Verpflich- wurfs eines Zweiten Gesetzes zur tungen und allgemeiner Grund- Änderung des Erneuerbare-Ener- sätze im Bereich der Sicherheit gien-Gesetzes (EEG) kerntechnischer Anlagen (Drucksache 15/1974) ...... 6408 B Vorschlag für eine Richtlinie b) Antrag der Abgeordneten Ulrike (EURATOM) des Rates über die Flach, , weiterer Abge- Entsorgung abgebrannter Brenn- ordneter und der Fraktion der FDP: elemente und radioaktiver Abfälle Energiespeicherforschung vorantrei- KOM (2003) 32 endg.; Ratsdok. ben – Höchsttechnologien für die 8990/03 Speichertechnik entwickeln (Drucksachen 15/503 Nr. 1.3, 15/1153 (Drucksache 15/1605) ...... 6408 B Nr. 2.20, 15/1781) ...... 6408 C c) Antrag der Abgeordneten Angelika Horst Kubatschka SPD ...... 6408 D Brunkhorst, Birgit Homburger, weite- Dr. Peter Paziorek CDU/CSU ...... 6410 D rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Perspektiven für eine markt- Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ wirtschaftliche Förderung erneuer- DIE GRÜNEN ...... 6413 C barer Energien Angelika Brunkhorst FDP ...... 6414 D (Drucksache 15/1813) ...... 6408 B Michael Müller (Düsseldorf) SPD ...... 6416 A d) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. CDU/CSU ...... 6418 B Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 6420 C II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Eckart von Klaeden CDU/CSU ...... 6422 A c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Birgit Homburger FDP ...... 6423 A Gesetzes zu dem Vertrag vom Marco Bülow SPD ...... 6424 A 18. Oktober 2001 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und Bos- Doris Meyer (Tapfheim) (CDU/CSU) ...... 6425 C nien und Herzegowina über die För- derung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen Tagesordnungspunkt 4: (Drucksache 15/1847) ...... 6444 C Antrag der Abgeordneten Dr. Peter d) Erste Beratung des von der Bundesre- Paziorek, Marie-Luise Dött, weiterer Ab- gierung eingebrachten Entwurfs eines geordneter und der Fraktion der CDU/ Gesetzes zur Neuordnung der Statis- CSU: Nationalen Allokationsplan als tiken der Rohstoff- und Produktions- Parlamentsgesetz gestalten wirtschaft einzelner Wirtschafts- (Drucksache 15/1791) ...... 6427 A zweige (Rohstoffstatistikgesetz – RohstoffStatG) Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (Drucksache 15/1849) ...... 6444 C CDU/CSU ...... 6427 B e) Erste Beratung des von der Bundesre- Jürgen Trittin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6429 A gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) Vierunddreißigsten Gesetzes zur CDU/CSU ...... 6429 B Änderung des Lastenausgleichsge- setzes (34. ÄndGLAG) SPD ...... 6429 C (Drucksache 15/1854) ...... 6444 C Kurt-Dieter Grill CDU/CSU ...... 6430 A f) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Birgit Homburger FDP ...... 6432 C über die Finanzierung der Beseiti- Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ gung von Rüstungsaltlasten in der DIE GRÜNEN ...... 6434 B Bundesrepublik Deutschland (Rüs- tungsaltlastenfinanzierungsgesetz – Marie-Luise Dött CDU/CSU ...... 6436 B RüstAltFG) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker SPD ...... 6437 B (Drucksache 15/1888) ...... 6444 C g) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Ulrich Petzold CDU/CSU ...... 6438 D gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ zur Führung des Handelsregisters, DIE GRÜNEN ...... 6439 C des Genossenschaftsregisters, des Partnerschaftsregisters und des Ver- Kurt-Dieter Grill CDU/CSU ...... 6440 C einsregisters durch von den Ländern Rolf Hempelmann SPD ...... 6442 C bestimmte Stellen (Register-Füh- rungsgesetz – RFüG) (Drucksache 15/1890) ...... 6444 D Tagesordnungspunkt 23: h) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht der Bundesregierung a) Erste Beratung des von der Bundesre- über die Umsetzung von Gender gierung eingebrachten Entwurfs eines Mainstreaming in Wissenschaft und Gesetzes zu dem Vertrag vom Forschung 6. März 2002 zwischen der Bundes- (Drucksache 15/720) ...... 6444 D republik Deutschland und der Re- publik Mosambik über die Förde- in Verbindung mit rung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksache 15/1845) ...... 6444 B Zusatztagesordnungspunkt 2: b) Erste Beratung des von der Bundesre- a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 6. Au- Ersten Gesetzes zur Änderung des gust 2001 zwischen der Bundesrepu- MAD-Gesetzes (1. MADGÄndG) blik Deutschland und dem König- (Drucksache 15/1959) ...... 6444 D reich Marokko über die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen b) Erste Beratung des von den Fraktionen Schutz von Kapitalanlagen der SPD, der CDU/CSU, des BÜND- (Drucksache 15/1846) ...... 6444 B NISSES 90/DIE GRÜNEN und der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 III

FDP eingebrachten Entwurfs eines b) Beschlussempfehlung und Bericht des Gesetzes zur Änderung rehabilitie- Ausschusses für Kultur und Medien zu rungsrechtlicher Vorschriften dem Antrag der Abgeordneten Günter (Drucksache 15/1975) ...... 6445 A Nooke, (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Umsetzung des Tagesordnungspunkt 24: Bundestagsbeschlusses zur Wie- dererrichtung des Berliner Stadt- a) Zweite Beratung und Schlussabstim- schlosses mung des von der Bundesregierung (Drucksachen 15/1094, 15/2002) . . . . 6446 D eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Zustimmung zur Ände- rung der Satzung des europäischen Zusatztagesordnungspunkt 4: Systems der Zentralbanken und der Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frak- Europäischen Zentralbank tion der CDU/CSU: Die aktuelle Russ- (Drucksachen 15/1654, 15/2008) . . . . 6445 B landpolitik der Bundesregierung c) Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 6447 A Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa 6448 B vom 2. Juli 2001 zwischen der Bun- Harald Leibrecht FDP ...... 6449 A desrepublik Deutschland und der Republik Österreich über den Ver- (Augsburg) BÜNDNIS 90/ lauf der gemeinsamen Staatsgrenze DIE GRÜNEN ...... 6450 A im Grenzabschnitt „Salzach“ und in CDU/CSU ...... 6451 B den Sektionen I und II des Grenz- abschnitts „Scheibelberg-Bodensee“ SPD ...... 6452 B sowie in Teilen des Grenzabschnitts Melanie Oßwald CDU/CSU ...... 6453 A „Innwinkel“ Dr. Ludger Volmer BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 15/1655, 15/2006) . . . . 6445 C DIE GRÜNEN ...... 6454 A d) Zweite und dritte Beratung des von der Hermann Gröhe CDU/CSU ...... 6455 B Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- Dr. Rolf Mützenich SPD ...... 6456 B men vom 18. September 2002 zwi- Erich G. Fritz CDU/CSU ...... 6457 B schen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, den Jelena Hoffmann (Chemnitz) SPD ...... 6458 C Vereinten Nationen und dem Sekre- Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 6459 C tariat des Übereinkommens zur Er- haltung der wandernden wild leben- SPD ...... 6460 B den Tierarten über den Sitz des CDU/CSU ...... 6461 C Sekretariats des Übereinkommens (Drucksachen 15/1473, 15/1826) . . . . 6445 D Tagesordnungspunkt 5: e)– h)Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses: Sammelübersichten 74, Erste Beratung des von den Abgeordnet 75, 76 und 77 zu Petitionen Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, (Drucksachen 15/1881, 15/1882, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 15/1883, 15/1884) ...... 6446 A der SPD sowie der Abgeordneten , Irmingard Schewe-Gerigk, weite- in Verbindung mit rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Verletzten Zusatztagesordnungspunkt 3: im Strafverfahren (Opferrechtsreform- a) Zweite und dritte Beratung des von der gesetz – OpferRG) Bundesregierung eingebrachten Ent- (Drucksache 15/1976) ...... 6462 C wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung Joachim Stünker SPD ...... 6462 C aufsichtsrechtlicher Bestimmungen Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) zur Sanierung und Liquidation von CDU/CSU ...... Versicherungsunternehmen und Kre- 6464 C ditinstituten Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/1653) ...... 6446 B DIE GRÜNEN ...... 6465 D IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Jörg van Essen FDP ...... 6467 A Tagesordnungspunkt 8: Daniela Raab CDU/CSU ...... 6468 A Antrag der Abgeordneten , , Bundesministerin BMJ . . . . 6469 B Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) LKW-Sonntagsfahrverbot in Deutsch- CDU/CSU ...... 6470 B land beibehalten Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 6472 A (Drucksache 15/1876) ...... 6501 C Joachim Stünker SPD ...... 6472 D Renate Blank CDU/CSU ...... 6501 C CDU/CSU ...... 6474 B , Parl. Staatssekretärin BMVBW ...... 6502 C (Bayreuth) FDP ...... 6503 C Tagesordnungspunkt 6: Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ Unterrichtung durch die Bundesregierung: DIE GRÜNEN ...... 6504 C Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Neure- CDU/CSU ...... 6505 C gelung der geringfügigen Beschäfti- gungsverhältnisse auf den Arbeits- SPD ...... 6505 D markt, die Sozialversicherung und die öffentlichen Finanzen (Drucksache 15/758) ...... 6475 D Tagesordnungspunkt 9: Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär BMGS . . 6476 A Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu der Unter- Matthäus Strebl CDU/CSU ...... 6477 C richtung durch den Wehrbeauftragten: Markus Kurth BÜNDNIS 90/ Jahresbericht 2002 (44. Bericht) DIE GRÜNEN ...... 6479 C (Drucksachen 15/500, 15/1837) ...... 6506 C Dr. Heinrich L. Kolb FDP ...... 6481 A Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages ...... 6506 C Peter Dreßen SPD ...... 6482 C Petra Heß SPD ...... Dr. Heinrich L. Kolb FDP ...... 6482 D 6508 A Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...... 6484 A Anita Schäfer (Saalstadt) CDU/CSU ...... 6509 C fraktionslos ...... 6486 D Marianne Tritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 6511 A SPD ...... 6487 C Helga Daub FDP ...... 6512 A , Parl. Staatssekretär BMVg . . 6513 A Tagesordnungspunkt 7: Petra Pau fraktionslos ...... 6514 C a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 6515 B wurfs eines Vierten Gesetzes zur Än- derung des Filmförderungsgesetzes Walter Kolbow SPD ...... 6516 C (Drucksachen 15/1506, 15/1958) . . . . 6489 B Hedi Wegener SPD ...... 6517 A b) Beratung der Großen Anfrage der Ab- Günther Friedrich Nolting FDP ...... 6518 A geordneten Bernd Neumann (Bremen), Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ver- Tagesordnungspunkt 10: besserung der Rahmenbedingungen für den deutschen Film Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, (Drucksachen 15/1034, 15/1554) . . . . 6489 B Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Stromrech- Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . . 6489 C nungen transparent gestalten Bernd Neumann (Bremen) CDU/CSU . . . . . 6491 D (Drucksache 15/761) ...... 6518 D SPD ...... 6495 C Gudrun Kopp FDP ...... 6519 A Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/ Dr. SPD ...... 6519 C DIE GRÜNEN ...... 6496 A Dr. Michael Fuchs CDU/CSU ...... 6521 D Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 6497 D Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ Gisela Hilbrecht SPD ...... 6499 A DIE GRÜNEN ...... 6524 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 V

Tagesordnungspunkt 11: Dr. CDU/CSU ...... 6542 D Unterrichtung durch die Bundesbeauf- Dr. BÜNDNIS 90/ tragte für die Unterlagen des Staatssicher- DIE GRÜNEN ...... 6543 B heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik: Sechster Tä- Eckhardt Barthel (Berlin) SPD ...... 6543 C tigkeitsbericht der Bundesbeauftragten Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 6544 D für die Unterlagen des Staatssicher- heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Eckhardt Barthel (Berlin) SPD ...... 6545 B Demokratischen Republik – 2003 (Drucksache 15/1530) ...... 6526 A Tagesordnungspunkt 13: Barbara Wittig SPD ...... 6526 B Antrag der Abgeordneten Jörg Tauss, Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU . . 6528 A Eckhardt Barthel (Berlin), weiterer Abge- Dr. Dieter Wiefelspütz SPD ...... 6529 B ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker BÜNDNIS 90/ Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und DIE GRÜNEN ...... 6530 B der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Gisela Piltz FDP ...... 6531 B GRÜNEN: Chancengleichheit in der glo- balen Informationsgesellschaft sichern – Marga Elser SPD ...... 6532 D VN-Weltgipfel zum Erfolg führen Dorothee Mantel CDU/CSU ...... 6533 D (Drucksache 15/1988) ...... 6546 A

Tagesordnungspunkt 12: Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Erste Beratung des von den Abgeordneten Gauweiler, Günter Nooke, weiterer Abge- Christian Freiherr von Stetten, Marita ordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sehn und weiteren Abgeordneten einge- sowie der Abgeordneten Hans-Joachim brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Otto (Frankfurt), Dr. derung des Baugesetzbuchs (Kommu- und der Fraktion der FDP: Errichtung nale Rechte bei Windkraftanlagen einer Stiftung „Staatsoper Unter den stärken) Linden“ (Drucksache 15/513) ...... 6546 C (Drucksache 15/1790) ...... 6535 A Nächste Sitzung ...... 6546 D in Verbindung mit

Berichtigung ...... 6546 D Zusatztagesordnungspunkt 5:

Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Anlage 1 Bernd Neumann (Bremen), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 6547 A CSU sowie der Abgeordneten Hans- Joachim Otto (Frankfurt), Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP: Anlage 2 Staatsvertrag für die Hauptstadtkultur (Drucksache 15/1973) ...... 6535 B Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) zur Abstim- Dr. Peter Gauweiler CDU/CSU ...... 6535 C mung über die Beschlussempfehlung: Umset- zung des Bundesstaatsbeschlusses zur Wie- Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/ dererrichtung des Berliner Stadtschlosses DIE GRÜNEN ...... 6537 A (Zusatztagesordnungspunkt 3 b) ...... 6547 B Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . . 6538 A Dr. Peter Gauweiler CDU/CSU ...... 6539 B Anlage 3 Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 6540 A Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/ Petra Pau (fraktionslos) zur Abstimmung über DIE GRÜNEN ...... 6541 A die Beschlussempfehlung: Umsetzung des Bundesstaatsbeschlusses zur Wiedererrich- Günter Nooke CDU/CSU ...... 6541 B tung des Berliner Stadtschlosses Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP . . . . 6542 A (Zusatztagesordnungspunkt 3 b) ...... 6547 D VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Anlage 4 Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Chancengleichheit in der globa- des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung len Informationsgesellschaft sichern – VN- des Baugesetzbuches (Kommunale Rechte bei Weltgipfel zum Erfolg führen Windkraftanlagen stärken) (Tagesordnungspunkt 13) ...... 6548 A (Tagesordnungspunkt 14) ...... 6555 B Jörg Tauss SPD ...... 6548 B Wolfgang Spanier SPD ...... 6555 B Dr. Martina Krogmann CDU/CSU ...... 6552 B CDU/CSU ...... 6556 B Grietje Bettin BÜNDNIS 90/ Peter Hettlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 6553 D DIE GRÜNEN ...... 6557 D Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP...... 6554 D Marita Sehn FDP ...... 6558 C

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(A) (C) Redetext

75. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : – Drucksache 15/1653 – Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die (Erste Beratung 66. Sitzung) Sitzung ist eröffnet. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass aus dem Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung – Drucksache 15/2009 – und Zukunft“ der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl als stell- Berichterstattung: Abgeordnete vertretendes Mitglied ausscheidet und an seine Stelle der Klaus-Peter Flosbach Kollege (Altötting) treten soll. Sind Sie Hubert Ulrich damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Carl-Ludwig Thiele Dann ist der Kollege Stephan Mayer in das Kuratorium b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des der Stiftung entsandt. Ausschusses für Kultur und Medien (21. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Neumann (Bremen), Renate Blank, weiterer Abgeordne- (B) (D) Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge- ter und der Fraktion der CDU/CSU: Umsetzung des Bundestagsbeschlusses zur Wiedererrichtung des Ber- führten Punkte zu erweitern: liner Stadtschlosses 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Hal- – Drucksachen 15/1094, 15/2002 – tung der Bundesregierung zu Plänen, eine Ausbildungs- platzabgabe einzuführen Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Barthel (Berlin) (siehe 74. Sitzung) Günter Nooke 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- Dr. Antje Vollmer gänzung zu TOP 23) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: ten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Die aktuelle Russlandpolitik der Bundesregierung MAD-Gesetzes (1. MADGÄndG) 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, – Drucksache 15/1959 – Bernd Neumann (Bremen), Renate Blank, weiterer Abgeord- Überweisungsvorschlag: neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne- Verteidigungsausschuss (f) ten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Dr. Wolfgang Gerhardt Innenausschuss und der Fraktion der FDP: Staatsvertrag für die Haupt- Rechtsausschuss stadtkultur b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der – Drucksache 15/1973 – CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Überweisungsvorschlag: der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ausschuss für Kultur und Medien (f) Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften Ausschuss für Tourismus – Drucksache 15/1975 – Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung Rechtsausschuss (f) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Innenausschuss des Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundesgrenz- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung schutzgesetzes Haushaltsausschuss – Drucksachen 15/1861, 15/1965 – 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Er- (Erste Beratung 72. Sitzung) gänzung zu TOP 24) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordne- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ten , Hartmut Koschyk, Thomas eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung Strobl (Heilbronn), weiteren Abgeordneten und der aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zur Sanierung Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- und Liquidation von Versicherungsunternehmen und nes Gesetzes zur wirksamen Bekämpfung organisier- Kreditinstituten ter Schleuserkriminalität (Gesetz zur Änderung des 6408 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundesgrenz- Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) schutzgesetzes) der FDP – Drucksache 15/1560 – Perspektiven für eine marktwirtschaftliche (Erste Beratung 66. Sitzung) Förderung erneuerbarer Energien Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses – Drucksache 15/1813 – (4. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/2005 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Berichterstattung: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Abgeordnete Hans-Peter Kemper Landwirtschaft Günter Baumann Ausschuss für Bildung, Forschung und Silke Stokar von Neuforn Technikfolgenabschätzung Dr. Ausschuss für Tourismus b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab- d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- geordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) der Fraktion der CDU/CSU: Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweiterung tauglich machen – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung – Drucksachen 15/1328, 15/2005 – Berichterstattung: Mitteilung der Kommission an den Rat und Abgeordnete Hans-Peter Kemper das Europäische Parlament Günter Baumann Nukleare Sicherheit im Rahmen der Euro- Silke Stokar von Neuforn päischen Union Dr. Max Stadler KOM (2002) 605 endg.; Ratsdok. 15875/02 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- weit erforderlich – abgewichen werden. rung Außerdem ist vereinbart, die Tagesordnungspunkte 19 Vorschlag für eine Richtlinie (Euratom) des – EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie – und 24 b Rates zur Festlegung grundlegender Ver- – Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens pflichtungen und allgemeiner Grundsätze auf See – abzusetzen. Sind Sie mit den Vereinbarungen im Bereich der Sicherheit kerntechnischer (B) einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist Anlagen (D) das so beschlossen. Vorschlag für eine Richtlinie (Euratom) des Rates über die Entsorgung abgebrannter Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: Brennelemente und radioaktiver Abfälle KOM (2003) 32 endg.; Ratsdok. 8990/03 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- – Drucksachen 15/503 Nr. 1.3, 15/1153 Nr. 2.20, brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur 15/1781 – Änderung des Erneuerbare-Energien-Geset- zes (EEG) Berichterstattung: Abgeordnete Horst Kubatschka – Drucksache 15/1974 – Dr. Michaele Hustedt Überweisungsvorschlag: Birgit Homburger Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ich erteile dem Kollegen Horst Kubatschka, SPD- Fraktion, das Wort. Energiespeicherforschung vorantreiben – Höchsttechnologien für die Speichertechnik (Beifall bei der SPD) entwickeln Horst Kubatschka (SPD): – Drucksache 15/1605 – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Überweisungsvorschlag: möchte mich zuerst mit den Richtlinienvorschlägen der Ausschuss für Bildung, Forschung und EU-Kommission zur Sicherheit kerntechnischer Anla- Technikfolgenabschätzung (f) gen und zur Entsorgung abgebrannter Brennelemente Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auseinander setzen. Sie sind für uns ein Trojanisches Pferd, mit dem sich Brüssel zusätzliche Kompetenzen c) Beratung des Antrags der Abgeordneten im Bereich der Energiepolitik aneignen will. Die Wei- Angelika Brunkhorst, Birgit Homburger, Michael chen zugunsten der Atomenergie sollen neu gestellt wer- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6409

Horst Kubatschka (A) den. Unter dem Etikett der Verbesserung der Sicherheit wendigkeit für eine Ausweitung der atompolitischen (C) sollen erhebliche Kompetenzen nach Brüssel verlagert Kompetenzen der EU-Kommission. werden. Sie sollen den Einzelstaaten entzogen werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber: Ein Oberkontrolleur aus Brüssel ist nicht not- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wendig. Die Pro-Atom-Haltung der zuständigen Gene- Morgen wird ein erstes sichtbares Zeichen des Atom- raldirektion Energie und Verkehr der EU-Kommission konsenses gesetzt: Das Atomkraftwerk Stade geht vom wird von uns nicht geteilt. Sie ist mit unserer Politik der Netz. Beendigung der Atomkraftnutzung und der Modernisie- rung unserer Energieversorgung nicht deckungsgleich. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Per Knopfdruck wird der mittelfristige Ausstieg aus der Die Zeichen der Nachhaltigkeit werden nicht erkannt. Kernenergie in Deutschland eingeleitet. Das Atomkraft- Wir werden die Rückgängigmachung des Atomaus- werk Stade wird abgeschaltet, weil die rot-grüne Koali- stiegs durch die Brüsseler Hintertür nicht mitmachen. tion am 12. Dezember 2001 das Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Erzeugung von Elektrizität – in Kurzform: Atomkon- sens – beschlossen hat. Nach ausführlichen und nicht Vielmehr ist es unsere Aufgabe, auf einen europäischen einfachen Verhandlungen mit der Atomwirtschaft Konsens beim Ausstieg aus der Kernenergie hinzuwir- wurde dieser Konsens erreicht. Wir haben nie einen ken. In der heutigen Europäischen Union ist nur eine Hehl daraus gemacht, dass wir uns einen anderen und Minderheit für die weitere Nutzung der Kernenergie. Die vor allem einen schnelleren Ausstieg gewünscht haben. Mehrheit der heutigen EU-Staaten ist in die Nutzung der Der Atomkonsens war sozusagen keine Liebesheirat. Er Atomenergie nicht eingestiegen bzw. plant den Ausstieg. war ein Kompromiss zwischen den Beteiligten. Wir ste- Daraus müsste die EU eigentlich die notwendigen Kon- hen aber zu diesem Konsens. Auf unsere Politik und sequenzen ziehen. auf die mit uns geschlossenen Vereinbarungen ist Ver- Hinzu kommt, dass die Vorschläge der Kommission lass. Ich appelliere mit allem Nachdruck an alle Betei- kaum materielle sicherheitstechnische Verbesserungen ligten, sich auch ihrerseits an den Atomkonsens zu hal- bringen. Vielmehr ist zu befürchten, dass der Status quo ten, und zwar auch im Geiste. festgeschrieben werden soll. Damit ist eine dynamische (Beifall bei der SPD) Weiterentwicklung des Standes von Wissenschaft und Eon nennt wirtschaftliche Gründe für die Abschaltung (B) Technik nicht mehr ausreichend berücksichtigt. (D) des Kernkraftwerkes Stade. Das zeigt wieder einmal, wie Die Vorgaben der Kommission zur Entsorgung radio- wenig Verlass auf die Aussagen der EVUs ist und wie sie aktiver Abfälle sind angesichts der weiterhin bestehen- ihre Argumentation nach der jeweiligen Interessenlage den Kontroverse über geeignete Endlagerstätten unrealis- ausrichten. Als vor vier Jahren die ersten Gespräche be- tisch. Schlimmer: Sie sind geeignet, falsche Erwartungen gannen, wurden erhebliche Schadensersatzforderun- zu wecken. Es besteht auch die Gefahr, dass es zu unzu- gen der Betreiber für den Fall angedroht, dass Rot-Grün reichenden Lösungen kommt. Wir wollen nicht die Op- die Atomkraftwerke per Gesetz und ohne Zustimmung tion zur Errichtung europäischer Endlager. Sie hebelt den der EVUs abschalten werde. Genannt wurde eine wirt- Grundsatz der Betreiberverantwortung aus. Unsere Posi- schaftliche Lebensdauer von 60 Jahren, die den Schadens- tion war bisher – das galt eigentlich parteiübergreifend –: ersatzberechnungen zugrunde gelegt wurde. Jetzt wird Die Entsorgung radioaktiver Abfälle muss in nationaler das Atomkraftwerk Stade nach 31 Betriebsjahren abge- Zuständigkeit erfolgen. Wir stehen nach wie vor zu dem schaltet. Nach Angaben der Betreiber geschieht das, weil Primat der nationalen Entsorgungsverantwortung. es sich nicht mehr rechnet. Ist das glaubwürdig? Einen europäischen Atommülltourismus wird es mit uns nicht geben. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nein!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Natürlich hat die Stilllegung der Kernkraftwerke Aus- wirkungen auf die Arbeitsplätze, auf die Arbeitnehmer. Die SPD-Fraktion will ebenfalls den Vorrang der Beim allmählichen Ausstieg aus der Kernenergie hat die nicht nuklearen Energieforschung in der Gemeinschaft Arbeitsplatzfrage für uns Sozialdemokraten immer eine erreichen. Die nukleare Energieforschung soll auf die wichtige Rolle gespielt. Als Berichterstatter für Kern- Fragen des Gesundheitsschutzes, der Sicherheit sowie energie der SPD-Fraktion habe ich selbstverständlich der Zwischen- und der Endlagerung begrenzt werden. Gespräche mit meiner Fraktionskollegin Dr. Margrit Die mittel- und osteuropäischen Länder sollen weiterhin Wetzel geführt und sie hat mir versichert: Die Lichter bei der Verbesserung der Sicherheit der bestehenden An- gehen nicht aus! Der Konsens zum Kernenergieausstieg lagen unterstützt werden. Dies gilt auch für die Entsor- hat vielmehr das Ende der Kernkraftwerke berechenbar gung. gemacht. Das gilt für alle Kernkraftwerke. Die SPD-Fraktion bzw. die rot-grüne Koalition lehnt Es gibt auch keine Auswirkungen auf die energiein- die Richtlinienvorschläge der EU-Kommission in der tensive Industrie der betroffenen Region. Für die Mitar- zurzeit vorliegenden Fassung ab. Wir sehen keine Not- beiter in den Kernkraftwerken ist die Zukunft durch den 6410 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Horst Kubatschka (A) Konsens planbar. Außerdem bleibt das Kernkraftwerk Diese kritischen Töne sollten sich die EVUs zu Eigen ma- (C) Stade noch viele Jahre als Arbeitgeber erhalten. Der chen. Rückbau beschäftigt die Hälfte der Mitarbeiter für die Blicken wir nicht zurück, blicken wir voraus! Im En- nächsten zehn Jahre. Wer wollte, konnte an andere ergiebereich liegen immense Aufgaben vor uns. Das Standorte innerhalb des Konzerns versetzt werden. Laut EEG ist nur ein Schritt auf dem Weg zu einem nachhalti- Aussage der Eon-Sprecherin Petra Uhlmann wird sich gen Umbau der Energiesysteme in Deutschland. Unsere für die 300 Beschäftigten voraussichtlich fast nichts än- heutige Energieversorgung muss kritisch hinterfragt dern. Sie sagte wörtlich: werden. Zentrale Großeinheiten, bei denen bis zu zwei Die Mitarbeiter werden am Samstag ganz normal Drittel der eingesetzten Energie als Abwärme anfallen zur Schicht gehen. und damit verschwendet werden, sind nicht zukunftsfä- hig. Wir erleben eigentlich eine merkwürdige Situation: Das AKW Stade wird abgeschaltet; gleichzeitig führen Es sei auch ganz deutlich gesagt: Große Offshore- einige Stromkonzerne eine halb öffentliche Diskussion Windkraftwerke allein sind kein Ersatz für die Atom- über eine Verlängerung der Laufzeiten der Reaktoren. energie. Sie sind ein wichtiger Bestandteil eines vielfäl- Ich frage mich: Passt das zusammen? Der baden- tigen und vernetzten Systems innovativer und überwie- württembergische Wirtschaftsminister Döring fordert als gend dezentraler Energietechnik. Ein anderer Baustein treu sorgender Vertreter der Interessen der heimatlichen ist die Nutzung der Erdwärme in der Grundlast. EnBW eine Verlängerung der Laufzeit auf 50 Jahre, da- Ich will hier die verschiedenen Bausteine nicht weiter mit das AKW Obrigheim nicht 2005, sondern erst 2018 aufführen, weil mir dafür die Zeit fehlt; der Herr Präsi- vom Netz geht, und droht mit einer Klage vor dem Bun- dent ermahnt mich. Die Zukunft liegt auf jeden Fall in desverfassungsgericht. einem innovativen, vernetzten, dezentralen System, das Der Eon-Vorstandsvorsitzende setzt noch einen drauf wir für unsere Kinder und Kindeskinder vorbereiten und verlangt gleich eine Verlängerung auf 60 Jahre, wo- müssen. mit die Meiler seines Unternehmens noch länger laufen Ich danke Ihnen fürs Zuhören. dürften, als sie schon in Betrieb sind. Auch der RWE- Vorstand Maichel lässt in seiner Eigenschaft als Präsi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dent des Deutschen Atomforums keine Gelegenheit un- DIE GRÜNEN) genutzt, den Atomausstieg als Unsinn zu bezeichnen. Präsident Wolfgang Thierse: (Heidi Wright [SPD]: Unglaublich!) Ich erteile dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSU- (B) (D) Wenn sich diejenigen Stromkonzerne, die den Atom- Fraktion, das Wort. konsens mit ausgehandelt und unterzeichnet haben, di- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rekt oder indirekt aus der Vertragstreue stehlen und den Konsens zur Disposition stellen, dann halte ich das für Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): unverantwortlich und für eine nicht hinnehmbare Provo- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im August kation. dieses Jahres hat der Umweltminister seinen Referenten- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ entwurf zur Novellierung des Erneuerbare-Energien-Ge- DIE GRÜNEN) setzes vorgelegt. Seitdem konnten wir einen langen Streit zwischen Umwelt- und Wirtschaftsminister mitverfolgen, Das geht gegen den Geist des Konsenses. einen Streit, der die Branche der erneuerbaren Energien Es gibt auch Spekulationen über eine deutsche Betei- stark verunsichert, Investitionen behindert und Arbeits- ligung an Atomkraftwerken in Frankreich. Diese Speku- plätze gefährdet hat, einen Streit, der aber auch die Kon- lationen wurden von den Stromkonzernen zwar zurück- zeptionslosigkeit dieser Bundesregierung in der Klima- gewiesen; ich möchte trotzdem klar sagen: Eine schutz- und Energiepolitik deutlich gemacht hat. Beteiligung der deutschen EVUs an den Kernkraftwer- (Beifall bei der CDU/CSU) ken in Frankreich würden wir als ein Bekenntnis zum Wiedereinstieg in die Kernenergie auslegen. Dies würde Nach wie vor fehlt es der rot-grünen Bundesregierung sicherlich ein erneutes Nachdenken über den Konsens an einem in sich schlüssigen Energieprogramm für die erforderlich machen. nächsten 30 Jahre. (Peter Dreßen [SPD]: Das hätten Sie gern!) Dietmar Kuhnt, einer der vier Unterzeichner des Atomkonsenses seitens der EVUs, hat vor kurzem eine Dies stellt sich gerade jetzt als ein großes Versagen der zum Teil beachtenswerte Rede gehalten, als er von der Regierung heraus. Kerntechnischen Gesellschaft zum Ehrenmitglied er- (Peter Dreßen [SPD]: Ach Gott! Glauben Sie nannt wurde. Er hat in der Höhle des Löwen ausgeführt, den Unsinn, den Sie da erzählen?) dass die Nutzung der Kernenergie mit erheblichen Proble- men verbunden sei, die man nüchtern und selbstkritisch Wenn wir über die zukünftige finanzielle Förderung der analysieren sollte. Die Nutzung der Kernenergie sei nicht erneuerbaren Energien diskutieren, dann kann dies sinn- mehrheitsfähig. Es mangele an gesellschaftlichem Ver- vollerweise nur auf der Grundlage eines breiten energie- trauen in den sicheren Betrieb von Kernkraftwerken. – politischen und Klimaschutzkonzepts erfolgen. Wir kön- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6411

Dr. Peter Paziorek (A) nen den Stellenwert und die Größenordnung der zum 1. Januar 2004 zu ermöglichen und um so der be- (C) erneuerbaren Energien nicht losgelöst von einer solchen troffenen Wirtschaft noch rechtzeitig ein positives Signal Grundsatzentscheidung betrachten. Wir fordern von Ih- zu geben. nen seit Jahren die Vorlage eines solchen energiewirt- (Zuruf von der SPD: Das ist doch gut so!) schaftlichen Konzepts. Sie leisten dies nicht. Der ehema- lige Wirtschaftsminister Müller hat noch vor kurzem Richtig wäre es gewesen, die hier heute zu diskutierende hier in Berlin erklärt, dass bisher, also auch zu seiner Frage einer Förderung der Photovoltaik umfassend im Zeit als Minister, alle Versuche gescheitert sind, in der Rahmen der jetzt anstehenden EEG-Novelle zu erörtern. rot-grünen Koalition einen solchen energiepolitischen Rahmen zu verabschieden. Es stellt sich auch die Frage, warum nur die Regelung zur Photovoltaik vorgezogen wird. Sprechen Sie einmal Eine Klimaschutz- und Energiepolitik, die heute et- mit den interessierten Verbänden! Die Situation bei der was zum Atomausstieg, morgen etwas zu den erneuerba- Photovoltaik ist nicht einzigartig. Die gleiche katastro- ren Energien und irgendwann auch zu der Erneuerung phale Lage ist bei Biogas gegeben. Der gesamte Auf- des konventionellen Kraftwerkparks beschließt, ohne tragsbestand ist zusammengebrochen. Im Bereich der letztlich zu prüfen, wie das eigentlich zusammenpasst, Biomasse gibt es Zurückhaltung, weil Ihre Grundsatz- wird scheitern. Die Folgen Ihrer Streitigkeiten, die Fol- entscheidungen zu spät gekommen sind. gen Ihrer Konzeptionslosigkeit treten heute offen zutage. (Peter Dreßen [SPD]: Sie wollten (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. das doch gar nicht!) Birgit Homburger [FDP] – Lachen des Abg. Darüber hinaus hat der Minister die Chuzpe gehabt – das Peter Dreßen [SPD]) muss man einmal deutlich sagen –, sich vor dem Bran- Sie haben die Branche der erneuerbaren Energien zu- denburger Tor hinzustellen und zu erklären: „Wir haben tiefst verunsichert. uns hervorragend geeinigt“, in seiner Rede aber nicht zu sagen, wie die Einigung für Biomasse und Biogas aus- (Peter Dreßen [SPD]: Es ist unglaublich, was sieht. Für diese Bereiche soll unter der rot-grünen Regie- er da erzählt!) rung der Förderzeitraum von 20 auf 15 Jahre reduziert Das von Ihnen verursachte Durcheinander hat zu einer werden. Die Eckpunkte, die Sie vereinbart haben, führen Gefährdung der Existenz bestimmter Branchen wie Photo- zu dem Ergebnis, dass Biomasse und Biogas in Deutsch- voltaik, Biomasse und Biogas geführt. In diesen Berei- land keine Chance haben. Da kann man nur sagen: Sie chen sind die Märkte fast vollständig zusammengebro- fahren die Politik für die erneuerbaren Energien vor die chen und Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet. Wand. (B) (D) (Ulrich Kelber [SPD]: So ein Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. [CDU/CSU]: Leider wahr!) Das haben Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, ganz allein zu verantworten. Wie lange wissen Sie denn schon von dem Auslaufen des 100 000-Dächer-Programms für Photovoltaik? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Peter Dreßen [SPD]: Wer hat denn die Anteile gesteigert, Sie oder wir?) Es ist auch nicht akzeptabel, wie bei den absehbar unter- schiedlichen Positionen der beiden Minister für Umwelt Die Tatsache war schon seit Juni dieses Jahres bekannt. und Wirtschaft in dieser Koalition der Abstimmungspro- Aber Sie haben das Problem nicht angepackt und es ver- zess stattgefunden hat. Sie hätten dafür sorgen müssen, dass säumt, rechtzeitig entsprechende Nachfolgeregelungen Sie rechtzeitig zu vernünftigen Entscheidungen kommen. auf den Weg zu bringen. Sie haben einfach die Dinge So wie Sie in die Beratungen zur Novellierung des Erneuer- schleifen lassen und greifen nun zum Notnagel Vor- bare-Energien-Gesetzes hineingestolpert sind, darf man in schaltgesetz, weigern sich aber, uns zu erläutern, ob der Umweltpolitik nicht agieren. Das spüren immer mehr nicht eventuell auch ein anderes Förderprogramm in der Menschen in Deutschland, die sich für Umweltpolitik Nachfolge des 100 000-Dächer-Programms möglich ge- einsetzen. wesen wäre. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Wer sind Sie denn?) Sie haben die Angelegenheit vor die Wand gefahren und Inzwischen wird das von Ihnen wohl auch so gesehen. rufen nun das Parlament um Hilfe an. Sie sind inzwi- Anders ist der heute hier vorliegende Entwurf eines Vor- schen zu Vertretern einer völlig konzeptionslosen Um- schaltgesetzes zur Novellierung des Erneuerbare-Ener- weltpolitik geworden. Peinlich, peinlich, kann man da gien-Gesetzes gar nicht zu verstehen. Sie unternehmen nur sagen. damit jetzt den Versuch, die Versäumnisse und Fehler Ih- rer Politik aus den letzten Wochen und Monaten zumin- (Beifall bei der CDU/CSU) dest bei der Photovoltaik zu heilen. Es ist ja nicht das erste Mal – das sage ich, weil Sie Wir sehen, wozu die Handlungsunfähigkeit in den letz- laufend dazwischenrufen –, dass Sie so verfahren. Ich er- ten Wochen geführt hat. In einem Hauruckverfahren soll innere nur an das überstürzte Vorgehen bei der Härtefall- das Vorschaltgesetz zur Photovoltaik jetzt durch das regelung im vergangenen Jahr. Jetzt wollen Sie bei der Parlament gepeitscht werden, um so ein In-Kraft-Treten Photovoltaik das Gleiche wiederholen. Was Sie, meine 6412 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Peter Paziorek (A) Damen und Herren, bei den erneuerbaren Energien be- ergien verbindliche Ziele zu formulieren, die über das (C) treiben, ist reine Flickschusterei. Jahr 2010 hinausgehen, halten wir für falsch. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Ulrich Kelber [SPD]: Aha!) neten der FDP) Wir sollten uns erst einmal darauf konzentrieren, die be- In diesem Zusammenhang möchte ich für die Union stehenden Ziele zu erreichen. grundsätzlich feststellen: Das beschleunigte Verfahren Nachdem Sie, Herr Kelber, ja gerade so laut „Aha!“ mithilfe eines Vorschaltgesetzes werden wir aufgrund gerufen haben, erlaube ich mir zu entgegnen: Ich habe der besonderen Situation der Photovoltaikbranche in die- das bewusst vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit sem Fall akzeptieren. der Klimaschutzdebatte der letzten Tage und Wochen ( [CDU/CSU]: So sind wir gesagt. Wir haben da einschlägige Erfahrungen mit Ih- eben!) nen gesammelt. Von Ihnen werden nämlich laufend neue Ziele formuliert, während Sie sich gleichzeitig von den Die Photovoltaikbranche darf nicht zum Opfer Ihrer fal- alten Zielvorgaben klammheimlich verabschieden. schen und verfehlten Politik werden. (Ulrich Kelber [SPD]: Ja, ja!) (Beifall bei der CDU/CSU) Seit 1998 – übrigens auch in mehreren Koalitionsverein- Bei der großen Novelle zum Erneuerbare-Energien-Ge- barungen – wurde von Rot-Grün das Ziel der Regierung setz wird es aber ein Durchpeitschen mit uns nicht ge- Kohl, den CO -Ausstoß bis 2005 um 25 Prozent zu ver- ben. 2 ringern, mehrfach bekräftigt. Jetzt aber, wo absehbar ist, In dem Zusammenhang ist auf einen weiteren Aspekt dass Sie dieses Ziel mit Ihrer Politik nicht erreichen kön- hinzuweisen: Es war ja schon interessant, wie die Ar- nen, wird von Ihnen so getan, als ob Sie damit nichts zu beitsteilung zwischen dem Umwelt- und dem Wirt- tun hätten. schaftsministerium in den letzten Wochen und Monaten (Peter Dreßen [SPD]: Das, was Sie erzählen, wird verlaufen ist. durch Wiederholung auch nicht wahrer!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Deshalb ist Ihre Klimaschutzpolitik so unredlich: Sie Nur kein Neid!) formulieren Ziele bis 2050, Während der Umweltminister bei Umweltverbänden (Peter Dreßen [SPD]: Sie sind nur neidisch!) und Vertretern der erneuerbaren Energien eine bessere Förderung versprochen hat, sagte der Wirtschaftsminis- sind aber noch nicht einmal in der Lage, selbst gesteckte (B) ter bei den Wirtschaftsverbänden genau das Gegenteil. Ziele bis 2005 zu erreichen. Das muss man Ihnen vorhal- (D) So berichtet die „Neue Zürcher Zeitung“ vom 31. Okto- ten. ber 2003 von einer Vortragsveranstaltung der Handels- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kammer Deutschland-Schweiz, an der auch Wirtschafts- neten der FDP) minister Clement teilgenommen hat. Da wird wie folgt über den Minister geschrieben – ich darf zitieren, Herr Für uns stehen bei einer Novellierung des Erneuer- Präsident –: bare-Energien-Gesetzes die folgenden vier Ziele im Vor- dergrund: erstens die Förderung einer nachhaltigen Kli- Andererseits geißelte der Superminister der rot-grü- maschutzpolitik, zweitens die Schaffung effizienter nen Regierung jedoch die ständig neuen Auflagen Anreize, die zu einer weiteren Verbesserung der einzel- im Klima-, Umwelt- und Verbraucherschutz, denen nen Technologien und zu einer Senkung der Produk- die Industrie genügen muss … tionskosten führen, drittens die Begrenzung der Kosten- Das, Herr Müntefering, wäre ein berechtigter Anlass für belastung durch die EEG-bedingte Förderung für die einen Zwischenruf; aber ich sehe ja an Ihrem Gesicht, Stromverbraucher, insbesondere aber auch für stromin- dass Sie völlig konsterniert und entgeistert schauen. tensive Unternehmen, und viertens die Schaffung von Wettbewerbsfähigkeit und damit auch von Exportfähig- (Lachen bei der SPD) keit der erneuerbaren Energien. Das ist genau das Problem Ihrer Politik: Sie reden so, Die Förderung der erneuerbaren Energien dient dazu, wie es Ihrer Klientel gerade passt. möglichst schnell deren Marktreife zu erreichen – ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Grundsatz übrigens, der für alle Förderinstrumente gilt. neten der FDP) Daraus folgt natürlich auch, dass die Förderung zeitlich begrenzt sein muss und dass sie vom Gesamtrahmen her Deshalb kann ich Ihnen für meine Fraktion ausdrück- nicht aus dem Ruder laufen darf. lich sagen: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich zum Verdopplungsziel der Europäischen Union bei Aber noch haben die erneuerbaren Energien die den erneuerbaren Energien. Wir bekennen uns damit auch Marktreife nicht erreicht, auch wenn in den letzten Jah- zu dem Teilziel, das Deutschland innerhalb der Europäi- ren erhebliche technische Fortschritte und Effizienzstei- schen Union bis zum Jahre 2010 erreichen soll, nämlich gerungen erreicht werden konnten. den Anteil der erneuerbaren Energien auf 12,5 Prozent (Zuruf von der SPD: Aha!) beim Stromverbrauch zu erhöhen. Genauso deutlich sage ich aber auch: Jetzt schon bei den erneuerbaren En- Dieser Prozess muss beschleunigt werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6413

Dr. Peter Paziorek (A) Deshalb sage ich für meine Fraktion sehr deutlich: dazu beitragen, dass Ihre Fehlentscheidungen in diesem (C) Wer jetzt die Förderung der erneuerbaren Energien so Bereich korrigiert werden. Wenn dies gewährleistet ist, beschneiden will, dass sie in ihrer Existenz gefährdet können wir zustimmen. werden, wird bei der Union keine Unterstützung finden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das finde ich gut! – Horst Kubatschka Präsident Wolfgang Thierse: [SPD]: Sie appellieren an sich selber!) Ich erteile Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/ Denn eines muss man in diesem Zusammenhang hervor- Die Grünen, das Wort. heben: Wir fördern hier eine junge Industrie, deren Ge- schäftsfelder sich international gesehen erst entwickeln. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir gehen davon aus, dass auf diesem Gebiet zukünftig Guten Morgen, Herr Präsident! Sehr verehrte Kolle- große Chancen im Export liegen werden. gen und Kolleginnen! Dieser Tag wird von zwei großen Ereignissen eingerahmt: Morgen geht das AKW Stade (Beifall bei der CDU/CSU) vom Netz. Damit beginnt ganz konkret der Atomaus- Wir möchten nicht, dass, wenn in einigen Jahren neue stieg, für den besonders wir Grüne lange gekämpft ha- Geschäftsfelder erschlossen werden – wie im Offshore- ben. bereich, im Repowering, also bei der Leistungssteige- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung der Windkraft, oder bei Biomassekraftwerken, die sowie bei Abgeordneten der SPD) mit nachwachsenden Rohstoffen arbeiten –, diese dann von ausländischen Anbietern besetzt werden und wir Gestern wurde in Neustadt-Glewe das erste Erdwär- – wie schon in anderen Bereichen – das Nachsehen ha- mekraftwerk eingeweiht. Wenn auch das eine das an- ben. dere nicht konkret ersetzt, so sind diese beiden Ereig- nisse doch Ausdruck der rot-grünen Energiepolitik. Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze bei uns geschaffen werden, dass deutsche Unternehmen auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Weltmärkten bestehen können, dass die Technologie sowie bei Abgeordneten der SPD) bei uns entwickelt wird. Ein Eckpunkt der zukünftigen Energieversorgung steht, nämlich das gemeinsame Ziel der Minister für Aber dafür muss ein klarer Zeithorizont vereinbart Wirtschaft und für Umwelt sowie der beiden Fraktionen, werden. Eine Dauerförderung lehnen wir ab. Verbindli- dass wir bis zum Jahr 2020 20 Prozent der Stromversor- che Zielvorstellungen, die über 2010 hinausgehen, sind gung durch erneuerbare Energien bereitstellen wollen. (B) ohne ein energiepolitisches Gesamtkonzept, das festlegt, (D) wo wir insgesamt hinwollen, ein völlig falsches Signal. Ich freue mich, dass die CDU/CSU das mittelfristige Ziel, bis 2010 einen Anteil von 12 Prozent zu erreichen, Wir, die Unionsfraktion, wollen die Unsicherheit in unterstützt. Damit ist klar, dass all diejenigen, die in der der Photovoltaikbranche beseitigen und für die Unter- Sommerpause und auch jetzt Fundamentalopposition nehmen Rechts- und Planungssicherheit und damit hinsichtlich der erneuerbaren Energien betrieben haben, Investitionssicherheit schaffen. Der heute hier vorge- keine Chance haben, ihre Position durchzusetzen. Es legte Gesetzentwurf findet nur deshalb unsere Unterstüt- gibt im Parlament und in der Gesellschaft eine breite zung, weil wir uns unserer Verantwortung für die Photo- Mehrheit, die für die Förderung der erneuerbaren Ener- voltaikbranche und die vielen Tausend Arbeitsplätze gien ist. bewusst sind. Entscheidend für unser Abstimmungsver- halten in der nächsten Sitzungswoche wird aber sein, ob (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die angedachten Fördersätze in dieser Höhe eine Über- bei der SPD – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: förderung bedeuten oder nicht. Eine Überförderung, wie Das stimmt!) es sie zum Teil bei der Windkraft gab, darf nicht erneut Die erneuerbaren Energien kommen aus der Ökonische bei der Photovoltaik auftreten. heraus; denn sie werden ein substanzieller Bestandteil So stellt sich zum Beispiel die Frage, warum in Ihrem der zukünftigen Energieversorgung sein. Gesetzentwurf der Degressionssprung von heute 45,7 auf Es gibt die verlogene Debatte, Windkraft sei keine 43,4 Cent pro Kilowattstunde im Jahre 2004 nicht mehr wertvolle Energie. Vor dem Hintergrund, dass in Däne- auftaucht. Sie planen damit eine Erhöhung gegenüber der mark die Windenergie einen Anteil von 22 Prozent hat im EEG vorgesehenen Regelung. Auch müssen die Zu- und es dort keine Probleme damit gibt, und vor dem Hin- schläge in ihrer Wirkung überprüft werden: Ein Zubauen tergrund, dass wir einen schwankenden Verbrauch haben von Freiflächen in großem Umfang durch Photovoltaik- und die Energieversorger auch mit einer schwankenden anlagen wäre unter den Gesichtspunkten des Landschafts- Energieproduktion umgehen könnten – sie müssen nur und Naturschutzes kontraproduktiv. Die entscheidende wollen und einen entsprechenden Kraftwerkspark schaf- Frage wird für uns bei der Prüfung somit sein: Wie wer- fen; Pumpspeicherwerke, die durch den Ausstieg aus der den sich die Zuschläge auswirken? Atomenergie frei werden, könnten genutzt werden –, muss ich sagen, dass der Ausbau der Windenergie absolut Meine Damen und Herren, wir wollen bei diesem machbar und finanzierbar ist. Vorschaltgesetz zu einer ökonomisch und ökologisch sinnvollen Lösung kommen, die der Photovoltaikbran- (Birgit Homburger [FDP]: Machbar ja, finan- che neue Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir wollen zierbar nein!) 6414 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Michaele Hustedt (A) Deswegen sage ich: Diese Diskussion ist reine Propa- Zweitens. Ihr Modell wird in Großbritannien prakti- (C) ganda. ziert; es führt aber zu keinem weiteren Ausbau der Windkraft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Birgit Homburger [FDP]: Das stimmt nicht!) Das EEG ist ein reines Innovationsgesetz. Wir haben Gleichzeitig sind die Vergütungssätze wesentlich höher in der letzten Zeit eine Kostenreduktion von 60 Prozent als in Deutschland. erreicht. Herr Paziorek, Sie blasen die Backen so dick auf für einen Erfolg der erneuerbaren Energien. Ich freue Drittens. Sie sagen, Sie wollen Wettbewerb zwischen mich darüber. Trotzdem muss ich sagen: Zum einen ha- den Trägern der erneuerbaren Energien. Dann sagen Sie ben Sie beim ersten Mal gegen das EEG gestimmt; aber auch ganz ehrlich, dass Sie nur den Ausbau der Windkraft, aber keine Nutzung der Photovoltaik, der Bio- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Immer!) masse und der Erdwärme wollen. wir haben es gegen Ihren Widerstand durchsetzen müs- (Birgit Homburger [FDP]: Völliger Quatsch!) sen. Zum anderen werden wir sehen, ob Ihre Backen im- mer noch aufgeblasen sind, wenn es zur Abstimmung Denn in Konkurrenz zur Windkraft haben die anderen über das Gesetz kommt. Ich hoffe, dass Sie es diesmal erneuerbaren Energien keine Chance – noch keine unterstützen. Chance. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Birgit Homburger [FDP]: Stimmt doch gar und bei der SPD) nicht!) Wir jedenfalls wollen die breite Entwicklung der er- Seien Sie also ehrlich! neuerbaren Energien. Wir wollen eine Perspektive für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Offshore-Windparks, aber auch für den weiteren Aus- und bei der SPD) bau im Binnenland. Wir wollen eine dynamische Ent- wicklung im Bereich der Biomasse. Wenn die Vergü- Die Vision von einem Anteil in Höhe von 20 Prozent, tungssätze nicht ausreichen, werden wir in diesem Punkt perspektivisch von 50 Prozent – die Grünen sprechen nachbessern. Wir wollen eine dynamische Entwicklung von 100 Prozent – ist eine machbare und eine notwen- bei der Nutzung der Erdwärme und die Modernisierung dige Vision; denn wir brauchen den Klimaschutz jetzt der Großen Wasserkraft. Wir sagen auch klar, dass sich und in der Zukunft. Wir müssen die Abhängigkeit vom das Land Baden-Württemberg positiv zum EEG verhal- Öl reduzieren; wir dürfen nicht mehr am Tropf von fos- ten muss. Denn es ist ein Widerspruch, auf der einen silen Energieträgern aus Krisenregionen hängen. (B) Seite die Ausgaben, die mit dem EEG verbunden sind, (D) erhöhen zu wollen und auf der anderen Seite gegen das Wir sind auf einem guten Weg. Solange wir Grünen EEG zu sein. Das geht nicht! an der Regierung beteiligt sind, solange es eine rot-grüne Regierung gibt, werden wir diesen Weg unbeirrbar wei- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ ter beschreiten. DIE GRÜNEN und der SPD – Birgit Homburger [FDP]: Nur wegen einem Punkt?) Ich danke Ihnen. Wir wollen auch eine dynamische Entwicklung bei der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kleinen Wasserkraft. und bei der SPD) Bei der Photovoltaik haben wir uns zu einem Vor- schaltgesetz entschlossen. Wir wollen nämlich, dass die Präsident Wolfgang Thierse: nächste Photovoltaiksaison schon genutzt werden kann. Ich erteile das Wort Kollegin Angelika Brunkhorst, Die Menschen entscheiden sich im Frühjahr, wenn die FDP-Fraktion. Sonne wieder länger scheint, dass sie sich eine Anlage (Beifall bei der FDP) aufs Dach setzen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dass sie so eine blöde Angelika Brunkhorst (FDP): Regierung haben, denken sie sich im Frühjahr!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Diese Branche braucht Rechtssicherheit. Deswegen bitte von den Koalitionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die ich Sie, dass Sie das zügige Verfahren mittragen und Grünen vorgelegte Zweite Gesetz zur Änderung des EEG dass wir zum Wohle der Photovoltaikindustrie mit dieser zeigt vor allem eines: Das neue Hätschelkind der erneuer- Beratung schnell vorankommen. baren Energien soll die Solarenergie sein. Zur Kompen- sation des 100 000-Dächer-Programms wird mal eben Ein Wort zur FDP. Erstens. Sie sagen zwar immer, Sie schnell ein Vorschaltgesetz eingebracht. Das ist Klientel- seien für die erneuerbaren Energien. Auf der anderen politik. Seite sagen Sie aber, dass Sie einen Wechsel wollen. Dieser Wechsel der Instrumentarien würde eine große (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD und Verunsicherung der Branche bewirken. Denn allein dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich schon die Diskussion, die Herr Paziorek angeführt hat, Kelber [SPD]: Da kennt sich die FDP ja aus! – verunsichert die Branche. Ein Wechsel des Modells hätte Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Genau! dramatische Folgen. So weit zu diesem Punkt. Für den Mittelstand!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6415

Angelika Brunkhorst (A) Entgegen jeder Vernunft und Logik soll damit die un- – Ja. (C) wirtschaftlichste aller Regenerativenergien als erste be- dient werden. Laut Aussagen des BSi, des Bundesver- Wir reden heute zu meiner großen Enttäuschung im bandes Solarindustrie, wird Solarstrom erst am Ende des Zusammenhang mit diesem Vorschaltgesetz nur über Jahrhunderts mit herkömmlichem Strom konkurrieren Photovoltaik. Ich sehe hier wieder einmal eine vertane können. Das ist Schneckentempo. Chance von Rot-Grün, Energie- und Klimapolitik mit- einander zu verknüpfen und die Kioto-Instrumente wie (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: CDM zu nutzen. Wir fordern, bei klimarelevanten Inves- Quelle benennen! Wann und wo?) titionsprojekten im Rahmen der technischen Entwick- lungspolitik insbesondere auch den internationalen Zer- – Das hat der BSi auf einem Kongress vor acht Tagen tifikatehandel zu forcieren. selbst gesagt. Ich komme zu unserem eigenen Antrag, der Perspek- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: tiven für eine marktwirtschaftliche Förderung der erneu- „Economist“!) erbaren Energien aufzeigt. In unserem Modell wollen Die Bedeutsamkeit des Anteils der Solarenergie an wir das Klimaziel mit einem Mengenziel und durch Aus- den erneuerbaren Energien insgesamt lässt sich auch an schreibungsverfahren erreichen. Die erneuerbaren Ener- folgenden Zahlen ermessen: So wird durch Wasserkraft gien sind schnellstmöglich durch marktwirtschaftliche ein Anteil von 53,9 Prozent erzeugt, Windkraft erbringt Förderung zur Wettbewerbsfähigkeit zu führen. einen Anteil von 37,9 Prozent, Biomasse immerhin (Beifall bei der FDP) 8 Prozent und weit abgeschlagen folgt die Solarenergie mit 0,2 Prozent. Da frage ich mich an dieser Stelle: Wel- Wenn die erneuerbaren Energien darüber hinaus zukunfts- chen nennenswerten Anteil kann die Solarenergie hier in fähig werden sollen, müssen sie grundlastfähig werden. Da- Deutschland überhaupt zur Erreichung des Klimaziels bei darf die Netzeinspeisung bei weitem nicht die alleinige erbringen? Option bleiben. Eine auf Energiespeicherung aufbauende Nutzung der erneuerbaren Energien hätte den Effekt, (Beifall bei der FDP – Michaele Hustedt [BÜND- dass das Vorhalten von Regelenergie zunehmend ent- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles hat mal klein an- fiele. Beides vermeidet Kosten. Hier ist insbesondere an gefangen!) die Wasserstofftechnologie und die Brennstoffzelle ge- Mit dem heute hier eingebrachten Vorschaltgesetz soll dacht. die Basisvergütung noch einmal angehoben werden. Es Nicht zuletzt geht es auch um eine Einbindung des gibt eine Reihe von Aufschlägen zu den verschiedenen Verkehrssektors in ein klimapolitisches Gesamtkonzept. (B) Installationsvarianten. Insgesamt ist es eine komfortable (D) Verbesserung der Vergütungssätze. Auch Flächeninstal- In unserem Antrag zur Energiespeicherforschung, der lationen will man besonders forcieren. Eines ist merk- heute mit beraten wird, fordern wir, hochleistungsfähige würdig: An anderer Stelle erteilt der Umweltausschuss Energiespeicher zu entwickeln. Wir wollen hinausge- dem TAB den Auftrag, zu untersuchen, wie man die Flä- hend über die derzeit praktizierte anwendungsorientierte cheninanspruchnahme zurückfahren könnte. Forschung, bei der es um die Marktfähigkeit und die Wirtschaftlichkeit von bereits bekannten Energiespei- (Beifall bei der FDP) chersystemen – dies ist die so genannte Ressortfor- Meine Überzeugung ist: Die Solartechnologie sollte schung – geht, die Grundlagenforschung verstärken. In man vorwiegend in den Ländern installieren, die als son- unserem Energiespeicherantrag wollen wir aber auch mit nenreich bekannt sind, Blick auf eine zukunftsfähige Gesamtenergieversorgung die Bereiche Kernfusionsforschung und kerntechnische (Marco Bülow [SPD]: Baden-Württemberg, Sicherheitsforschung nicht vernachlässigt sehen. Bayern, Saarland! – Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch Schwachsinn, was Sie erzählen!) (Beifall bei der FDP) vor allem auch in den Entwicklungsländern, in denen Nur so kann sich Deutschland als Standort für die Ent- ein sehr großer Energiebedarf bislang nicht ausreichend wicklung und den Export energiewirtschaftlicher Hoch- gedeckt werden kann. technologie bedeutsam positionieren. (Beifall bei der FDP – Peter Dreßen [SPD]: Das ist Meine Damen und Herren, angesichts dieser Handlungs- die größte Dummheit, die Sie erzählen!) möglichkeiten und Herausforderungen ist der von Umwelt- minister Trittin vorgelegte Novellierungsentwurf eine – ich Ich möchte auch noch einmal auf folgende Kosten- muss dieses Wort noch einmal aufgreifen – ideenlose konstellation hinweisen: Die Vermeidung einer Tonne Flickschusterei. Die FDP fordert die Bundesregierung CO2 mit Solarenergie kostet in Deutschland 500 Euro, in auf, den erneuerbaren Energien endlich eine langfristig den Entwicklungsländern dagegen nur 5 Euro, ein Hun- tragfähige Perspektive zu eröffnen. Liberale Vorschläge dertstel. Das sollte man doch bitte einmal auf sich wir- liegen auf dem Tisch. ken lassen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Ist das wirklich eine Fraktionsmeinung?) (Beifall bei der FDP) 6416 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Dabei muss man auch sehen, dass die Branche das (C) Ich erteile das Wort Kollegen Michael Müller, SPD- völlig anders sieht, als Sie, Herr Paziorek, es hier be- Fraktion. hauptet haben. Sie haben gesagt, Rot-Grün habe die So- larenergie vor die Wand gefahren. Ich glaube, da werden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie bei denjenigen, die damit tagtäglich umgehen, keine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unterstützung finden. Aber das ist Ihr Problem und nicht unser Problem. Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selbst in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des der ökonomischen Debatte liegen Sie weit zurück. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das glaube ich nicht! (Volker Kauder [CDU/CSU]: Oje!) Die Äußerungen waren leider ganz anders!) Ich verweise auf einen Beitrag des „Economist“ in der Wir stehen vor einer grundlegenden Weichenstellung. vorletzten Woche. Darin wird deutlich herausgestellt, Die Notwendigkeit dieser Weichenstellung ist in den dass, wenn auf dem Energiesektor überhaupt eine Zu- letzten Monaten überall deutlich geworden, beispiels- kunftschance bestehen soll, dies nur die massive Förde- weise bei den großen Stromausfällen in Schweden, Nord- rung der Solarenergie und der erneuerbaren Energien amerika und Italien. Da hat man gesehen, dass im Strom- sein kann. Bei Ihnen gibt es in diesem Zusammenhang bereich der Markt allein, besonders wenn er nur auf die einen zentralen Widerspruch. Sie sagen, Sie wollten kurzfristige Sicherung von hohen Kapazitätsauslastun- diese Energien. Aber Sie wollen nichts dafür tun. Das gen ausgerichtet ist, keine Sicherheit geben kann. Der geht nicht. bisherige Weg ist heute ökonomisch, ökologisch und ge- sellschaftspolitisch fraglich. Diesen Weg, den Weg der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Großkapazitäten im alten Sinne, werden wir nicht gehen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Da gibt es Konflikte und diese Konflikte muss man aus- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tragen. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist: Heute können wir Das Grundproblem im Energiebereich ist, dass es hier durch die Verwendung von Informations- und Kommu- um lange Nutzungszyklen und hohe Kapazitäten geht. nikationstechnologien dezentrale Energietechniken Deshalb müssen am Anfang die notwendigen Weichen sehr viel besser miteinander verbinden. Wir brauchen durch den öffentlichen Sektor, auch durch den Staat, ge- nicht mehr die alte Philosophie, zu der immer größere stellt werden – natürlich mit dem Ziel, dass sich die er- Kraftwerke, immer größere Reserveleistungen und im- (B) neuerbaren Energien bald selbst tragen. Ohne eine Wei- (D) mer größere Entfernungen vom Kunden gehörten. Diese chenstellung des Staates werden sie sich nicht Chance müssen wir nutzen. Diese kleinteiligen Struktu- durchsetzen. Genau um diesen Punkt drücken Sie sich ren braucht die Energiepolitik der Zukunft. Auch da sind herum. Aber an diesem Punkt kommen Sie nicht vorbei, Sie auf der falschen Seite. wenn Sie es mit den erneuerbaren Energien ernst meinen. Herr Teufel spekuliert nämlich darüber, ob es zu ei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nem Neueinstieg in die Atomenergie kommt. Die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Atomenergie wird nicht nur aus Sicherheitsgründen und Es ist gut, dass das Parlament eine Energiedebatte führt. wegen der Entsorgungsproblematik von uns abgelehnt, Denn wir stehen wie kaum zuvor in einem Jahrzehnt mit sondern auch weil sie einer modernen, effizienten und grundlegenden Weichenstellungen im Energiebereich. Auf umweltverträglichen Energieversorgung im Wege steht. der einen Seite läuft eine alte Energiephilosophie aus. Diese Das ist der entscheidende Punkt. Wir öffnen den Weg in alte Energiephilosophie war ausschließlich darauf ausge- die Zukunft und Sie hängen an der Vergangenheit. Das richtet, hohe Kapazitäten zu schaffen und möglichst ist in der Energiepolitik deutlicher als in anderen Berei- niedrige Erzeugerpreise zu gewährleisten. Dabei wurde chen. aber nie darüber nachgedacht, ob das wirklich effizient (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und zukunftsfähig ist. Auf der anderen Seite müssen wir DIE GRÜNEN) in diesem Jahrzehnt darüber entscheiden, wie die Ener- giepolitik der Zukunft aussieht. Deshalb ist es gut, dass Klimaschutz werden wir nicht mit den ineffizienten wir im Bundestag intensiv darüber debattieren. Großstrukturen der Vergangenheit erreichen, bei denen zwei Drittel der Energie als Abwärme verloren gehen. Ich stelle fest: Mit den beiden zentralen Weichenstel- Das ist nicht der Weg; das kann er nicht sein. Zur Ener- lungen, die Rot-Grün bisher vorgenommen hat – der Ab- giepolitik der Zukunft gehören vielmehr Effizienz in der schied von der verschwenderischen Atomenergie, mit Erzeugung, Einsparen und Solarenergie. Diese drei Säu- der in der Tat keine Zukunft zu machen ist, und der Ein- len bestimmen den Weg von Rot-Grün. Das ist der Weg stieg in mehr Effizienz und in die Solarenergie –, liegen der Modernisierung unserer Gesellschaft und Wirtschaft. wir auf der richtigen Seite – das ist bei aller Kritik im Einzelnen der entscheidende Punkt –, Sie aber stehen auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der falschen Seite. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich komme auf den „Economist“ zurück. Wir müssen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lernen, was die großen Abhängigkeiten von den fossilen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6417

Michael Müller (Düsseldorf) (A) Energieträgern bedeuten. Die Abhängigkeit vom Uran Erst muss man aussprechen, was wahr ist; dann hat man (C) ist übrigens mindestens genauso groß. Das wird immer eine Chance, etwas zu verändern. Sie sprechen aber verschwiegen. Was ist denn in der Golfregion passiert? nicht einmal aus, was wahr ist. Das ist Ihr Problem. Was passiert im Bereich des Kaspischen Meeres? Was passiert in großen Teilen der Welt? 2 Milliarden Men- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schen haben keinen guten Zugang zur Energieversor- Lassen Sie mich noch einmal zum Thema kommen. gung. Wir lösen dieses Konfliktpotenzial nur mit dezen- Wichtig ist, dass wir einen Weg der ökologischen Mo- tralen, kleinräumigen, effizienten Strukturen. Wir stoßen dernisierung gehen. Das ist ein Innovationsmotor für hier einen Teil einer friedlichen Weltinnenpolitik an. eine bessere Zukunft. Energiepolitik ist ein zentraler (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Punkt für ein modernes Europa und eine moderne Ge- DIE GRÜNEN) sellschaft. Wir wollen, dass sie eines der Markenzeichen der Modernisierungs- und Reformpolitik der Bundesre- Wir führen keinen Glaubenskrieg über große und gierung bleibt. Es geht eben nicht nur um den Umbau kleine Kraftwerke. Die entscheidende Frage ist: Wie in- der Sozialsysteme, sondern auch um bessere Technolo- novativ, wie erneuerungsfähig, wie modern ist das Ener- gien und Innovationen. Es geht darum, die Idee der giesystem? Die Bewältigung der Herausforderungen der Nachhaltigkeit in allen Bereichen zu verwirklichen. Das Zukunft ist unser Maßstab. gilt auch und gerade für die Energiepolitik, weil das ein (Volker Kauder [CDU/CSU]: Auf jeden Fall Schlüsselbereich für die Zukunft unserer Gesellschaft moderner als ihr insgesamt!) ist. – Das ist Herr Kauder aus Baden-Württemberg, wo man Deshalb ist es gut, dass wir morgen mit dem Abschal- zu 60 Prozent vom Atomstrom abhängt, aber vom ver- ten des Atomkraftwerks in Stade einen ersten wichti- nünftigen Energiemix redet. Da fasst man sich doch an gen Schritt tun. Das ist ein unverzichtbares Zeichen da- den Kopf. für, dass wir einen anderen Weg gehen wollen. Das muss sich nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ niederschlagen. Wir glauben, dass auch die Betreiber der DIE GRÜNEN) Atomenergie außer wenigen Hardlinern genau wissen, Sie sind so sehr von einem Energieträger abhängig und dass das der richtige Weg ist. Der Kollege Kubatschka reden von Modernität! hat hier zu Recht die Rede von Herrn Kuhn zitiert. (Dr. [CDU/CSU]: Ihr Wenn wir diesen ersten Schritt gehen, müssen wir redet von Kioto! – Volker Kauder [CDU/ aber auch den zweiten Schritt gehen. Es geht nicht nur (B) CSU]: Sie reden von Kioto!) um Strom, sondern um die ökologische Modernisierung (D) insgesamt: auch im Verkehrssektor oder im Wärmebe- Hier kommen die Sünden der Vergangenheit heraus, wo reich. In der Vergangenheit hat man Energiepolitik ein- Sie einseitig auf Atomkraft gesetzt haben, die erkennbar fach nur mit Strom gleichgesetzt und die Einweihung ei- nicht zukunftsfähig ist. nes neuen Kraftwerks als große energiepolitische Tat (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt doch gefeiert. gar nicht!) Energiepolitik der Zukunft setzt aber vor allen Dingen Diese Sünden holen Sie ein. Das ist doch heute Ihr Pro- auf die Vermeidung von unnötigen Energieeinsätzen. blem. Das ist ein ganz anderer, aber sehr viel intelligenterer Ansatz, für den wir stehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nennen Sie uns die Zahlen zur Biomasse!) DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Birgit Homburger [FDP]) – Wir haben auch bei der Biomasse mehr angestoßen als Sie in Ihren 16 Jahren Regierungszeit. So ist doch die – Wenn ich Sie immer höre, bedaure ich es wirklich, Wirklichkeit. Das wissen Sie ganz genau. dass Herr Baum nicht mehr im Parlament ist. Mit dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ konnte man über solche Fragen immer gut diskutieren. DIE GRÜNEN) Das ist auch ein Zeichen dafür, dass sich sehr viel geän- dert hat. Welche Fördersätze gab es denn zu Ihrer Zeit? – Die gab es doch gar nicht. (Peter Dreßen [SPD]: Das ist so ein Dino- saurier! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Gucken Sie eine Arroganz!) sich doch einmal Bayern und Baden-Württem- berg an! Hervorragende Zahlen!) – Da war die FDP noch eine Partei der Umweltpolitik. Das war damals ein positiver Beitrag für unser Land. Meine Damen und Herren, den Anstoß zur verstärk- ten Nutzung erneuerbarer Energien hat diese Bundes- Wir wollen einen Kurswechsel erreichen. Die Förde- regierung gegeben. Da beißt die Maus keinen Faden ab. rung erneuerbarer Energien ist ein Fortschritt und ein Da können Sie noch so toben. So ist es eben. Das sollten Ansatz gegen die Einfallslosigkeit, die in der Vergangen- Sie zugestehen. Es ist auch eine Frage der Psychologie: heit geherrscht hat. 6418 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Michael Müller (Düsseldorf) (A) Wir debattieren heute über zwei wichtige Punkte, und land Energiepreise, die im europäischen Maßstab wett- (C) zwar zum einen über den nationalen Allokationsplan, bewerbsfähig sind. Wir als Union wollen eine langfristig den wir gleich verhandeln, und zum anderen über das kostengünstige, international wettbewerbsfähige und EEG. Die Novelle des EEG, über die das Parlament noch umweltverträgliche Energieversorgung für Unternehmen ausführlich beraten wird, ist ein Zeichen für Kontinuität und Verbraucher. und Weiterentwicklung. Ich danke Ihnen übrigens dafür, dass Sie uns entgegen Ihrer bisherigen öffentlichen Aus- (Beifall bei der CDU/CSU) sagen dabei helfen, jetzt so kurzfristig über die Frage der Um dieses Ziel zu erreichen, benötigen wir eine Ener- Photovoltaik zu entscheiden. Das ist positiv. Das er- giepolitik aus einem Guss. Isolierte Aktivitäten in ein- kenne ich auch an. zelnen Sektoren helfen nicht weiter: hier der Ausstieg (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aus der Kernenergie mit der nach wie vor ungelösten DIE GRÜNEN) Entsorgungsfrage, dort die Aktivitäten zur CO2-Reduk- tion und der Einstieg in den Emissionshandel, dann Pla- Hinsichtlich der zwei gerade angesprochenen Punkte nungs- und Investitionsunsicherheit hinsichtlich des bitte ich darum, dass wir zu mehr Gemeinsamkeit fin- Ersatzbedarfs bei Kraftwerken – dies ist schon angespro- den. Zum Thema Klimaschutz herrschte in diesem Land chen worden; der Ausstieg aus der Kernenergie erfordert einmal große Gemeinsamkeit und das ist diesem Land einen Ersatzbedarf in Höhe von 22 000 Megawatt, zu- gut bekommen. Bei der großen Aufgabe, die Energiesys- sätzlich werden in den nächsten zehn, 15 Jahren teme zu erneuern, sollten wir wieder zu mehr Gemein- 40 000 Megawatt bei konventionellen Kraftwerken be- samkeit finden, unbeschadet dessen, dass wir in Einzel- nötigt –, die Entwicklung der erneuerbaren Energien punkten immer wieder kontroverse Auffassungen haben usw. Überall sind zum Teil hektische Aktivitäten zu ver- werden. Es wird unserem Land aber gut tun, wenn wir zeichnen, ohne dass ein Gesamtkonzept erkennbar wäre Vorreiter bei einer neuen, effizienten und solaren Ener- oder gar angestrebt würde. gieversorgung sein werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Meine Damen und Herren, ich habe eingangs gesagt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Wahrheit sei immer konkret. Wie sieht die konkrete DIE GRÜNEN) Bilanz in Euro und Cent nach fünf Jahren rot-grüner Energiepolitik aus? Präsident Wolfgang Thierse: (Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt kommen Sie doch (B) Ich erteile dem Kollegen Joachim Pfeiffer, CDU/ mal mit eigenen Vorschlägen!) (D) CSU-Fraktion, das Wort. Ich greife exemplarisch den Stromsektor heraus. Die staatlich verursachte Belastung aller Stromkunden hat Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): sich seit 1998 verfünffacht. Ich wiederhole, meine sehr Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- geehrten Damen und Herren: verfünffacht! ren! Die Diskussion um erneuerbare Energien wird häu- fig ideologisch oder emotional oder gar mit einer Mi- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist schung aus beidem geführt, wie es ja hier heute Morgen unsozial!) wieder lebhaft vorgeführt wurde. Das ist aber falsch. Das Thema ist nüchtern und sachlich anzugehen. Und die Ich erläutere Ihnen das im Einzelnen: Sie haben die Wahrheit ist immer konkret. Die erneuerbaren Energien Ökosteuer beim Strom neu eingeführt, die Konzessions- haben ihre Berechtigung und sollen zukünftig eine ver- abgaben sind gestiegen, die Belastung durch die erneuer- stärkte Rolle spielen. Der Kollege Paziorek hat vorhin baren Energien ist geradezu explodiert und Sie haben ausgeführt, welche Position die Union dabei einnimmt. das KWK-Gesetz neu eingeführt. Im Jahre 1998 betrug Aber die erneuerbaren Energien sind eben kein Allheil- die Belastung der Stromkunden in Deutschland mittel. 2,28 Milliarden Euro. Diese Belastung ist in den letzten fünf Jahren über 4 Milliarden Euro, 7 Milliarden Euro, Bei aller Begeisterung über die erneuerbaren Ener- 8,5 Milliarden Euro und 9,5 Milliarden Euro in diesem gien ist deren Förderung vor allem an den finanziellen Jahr auf 12,6 Milliarden Euro angestiegen. Das Ergebnis und wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu orientieren. rot-grüner Energiepolitik ist also eine Verfünffachung Energiepolitik findet nicht im luftleeren Raum oder gar der Belastung gegenüber dem Jahr 1998. im Raumschiff „Enterprise" statt. Energiepolitik ist Standortpolitik. Dabei geht es um Arbeitsplätze, um In- (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: vestitionen, um die Attraktivität des Standortes Deutsch- Jetzt kommen Ihre Vorstellungen!) land. Bei diesen Zahlen wird einem schwindelig. Wenn (Beifall bei der CDU/CSU) man jetzt noch die Ökosteuer auf Kraftstoffe dazu- nimmt, dann sind wir wirklich in Absurdistan. Rot-Grün Die Energiepolitik und insbesondere die Energie- verfährt hier aber offensichtlich nach dem Motto: Ist der preise sind wichtige Wettbewerbsfaktoren für unsere Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert. Unternehmen; ebenso sind günstige Energiepreise für den privaten Konsum wichtig. Wir brauchen in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6419

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Bei der Neuverschuldung für das Jahr 2003 waren im setz, das zu Beginn der 90er-Jahre übrigens nicht von Ih- (C) Haushalt zunächst 18,9 Milliarden Euro veranschlagt, nen, sondern von der Union eingeführt wurde. am Ende werden es 43,3 Milliarden Euro sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten (Ulrich Kelber [SPD]: Machen Sie doch mal der FDP – Jörg van Essen [FDP]: Mit der FDP!) eigene Vorschläge!) – Richtig, zusammen mit der FDP. – Das Vergütungsvo- – Die kommen gleich. – Bei der Maut fehlen 1 bis 2 Mil- lumen betrug 50 Millionen DM pro Jahr. In diesem Jahr liarden Euro. Sie rechnen offenbar damit, dass bei Ihrem wird das Vergütungsvolumen eine Höhe von 2,7 Milliar- Chaos die Milliarden bei der Energie irgendwie mit un- den Euro erreichen. Mir ist klar, dass man den Wert des tergehen. Bisher – das muss ich Ihnen in der Tat attestie- eingesparten Stroms entsprechend abzuziehen hat, aber ren – ist Ihre Rechnung aufgegangen. Die Abzocke im auch dann bleibt noch immer ein Subventionsvolumen Energiebereich ist in der politischen und in der öffentli- von knapp 2 Milliarden Euro übrig, das die Verbraucher chen Diskussion untergegangen. Das werden wir ändern, und die Wirtschaft zu tragen haben. Wenn Sie das mit meine sehr geehrten Damen und Herren. der bisherigen Dynamik so weitertreiben, dann kommen wir im Jahr 2010 auf ein direktes Vergütungsvolumen Jetzt werde ich noch konkreter: Was bedeutet diese von bis zu 7 Milliarden Euro allein aus dem EEG. Belastung – die Milliarden sind ja immer nur sehr virtu- ell und für den einzelnen Bürger nicht so greifbar – für (Ulrich Kelber [SPD]: Unsinn!) den einzelnen Bürger, die Familien und die Unterneh- Hinzu kommen die Kosten für den Netzausbau und die men in diesem Land? Wir haben einmal ausgerechnet, Regelenergie. Das ist nicht zu schultern. Die Union wird was Ihre Politik, Ihre Beschlüsse für eine Familie mit daher in den nächsten Wochen ein Konzept vorlegen, zwei Kindern, einer Wohnung mit 100 Quadratmetern, wie wir den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben einem durchschnittlichen Stromverbrauch von 5 000 Ki- und gleichzeitig die Belastung für Wirtschaft und Ver- lowattstunden im Jahr, einem Heizölverbrauch von braucher begrenzen und das gesamte System effizienter 2 500 Litern pro Jahr sowie einem PKW mit einem machen können. Durchschnittsverbrauch von 8,9 Litern auf 100 Kilo- meter und einer durchschnittlichen Fahrleistung von (Ulrich Kelber [SPD]: Sagen Sie schon heute 12 700 Kilometern im Jahr bedeuten. Sie belasten diese etwas dazu!) Familie im Jahr 2003 mit staatlich verursachten Abga- Zum Photovoltaik-Vorschaltgesetz: Die Photovol- ben in Höhe von 421,33 Euro. taik ist unstrittig eine interessante und zukunftsträchtige (Ulrich Kelber [SPD]: Eigene Vorschläge!) Technologie, und zwar nicht nur begrenzt auf den Ein- satz in Deutschland, sondern vor allem auch für den Ex- (D) (B) Zum Vergleich: Das Vorziehen der dritten Stufe Ihrer port. Auf diesem Feld wollen wir Technologieführer, vermurksten Steuerreform von 2005 auf 2004 bringt Marktführer bei der Produktion und im Verkauf sein. Die brutto eine Entlastung von einmalig 16 Milliarden Euro. Photovoltaik ist bei der regulären Stromerzeugung und Wenn man das umrechnet, kommt man zu dem Ergebnis, der Einspeisung in das Netz – das gilt zumindest für Mit- dass für den einzelnen Bürger gerade einmal ein Bruch- teleuropa – noch weit von der Wettbewerbsfähigkeit ent- teil dessen übrig bleibt, was Sie ihm über die Energie- fernt. Wir befinden uns in der Entwicklungs-, bestenfalls und Stromabrechnung auf subtile Weise aus der Tasche in der Versuchs- und Demonstrationsphase. Es geht in ziehen – Prinzip „rechte Tasche, linke Tasche“! Das ist absehbarer Zeit also nicht, wie bei anderen erneuerbaren moderne Wegelagerei und nichts anderes. Energien, um die Markteinführung oder gar um die Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Energieträgern aus (Beifall bei der CDU/CSU) fossilen oder erneuerbaren Energiequellen, sondern vor In der Wirtschaft sieht es nicht anders aus. Sie beein- allem um Technologieforschung. Das wird auch an den trächtigen auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit von Ihnen vorgeschlagenen Vergütungssätzen deutlich. unserer Unternehmen. Ich kann Ihnen ein konkretes Diese reichen von 45,7 Cent pro Kilowattstunde bis Beispiel aus meinem Wahlkreis in der Region Stuttgart 62,4 Cent pro Kilowattstunde. Damit bewegen wir uns, nennen was die Kosten gegenüber anderen Energieträgern an- geht, im Bereich von Faktor 10. (Ulrich Kelber [SPD]: Wir warten auf die eige- nen Vorschläge! – Horst Kubatschka [SPD]: Die Photovoltaik ist heute aber bereits für den Insel- Wann kommen Sie denn auf Energie zu spre- betrieb und vor allem für die Nutzung in anderen, sonni- chen? Zukunft!) geren Länder interessant. Um Märkte erschließen und exportieren zu können, sind Größendegressionseffekte – ich spreche gerade über die Zukunft Ihrer Energiepoli- bei der Fertigung zu erzielen. Die Frage ist nur: Soll die tik –: Ein mittelständisches Unternehmen aus dem Auto- Exportförderung – das frage ich Sie ernsthaft – der eh mobilzuliefererbereich hat eine Investitionsentscheidung schon über Gebühr belastete Verbraucher zahlen? Ist die nicht zuletzt aufgrund der explodierenden Stromkosten Exportförderung nicht vielmehr Aufgabe von For- gegen Deutschland gefällt. Das werden wir nicht weiter schungs- und Technologieförderung oder von Außen- mitmachen. Verbraucher und Wirtschaft sind nicht unbe- wirtschaftsförderung? Ihr Vorschlag ist insofern system- grenzt belastbar. fremd. Jetzt zum EEG. Wie hat sich das EEG im Detail ent- (Ulrich Kelber [SPD]: Wir warten immer noch wickelt? Am Anfang stand das Stromeinspeisungsge- auf Ihre Vorschläge!) 6420 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Kommen Sie mir nicht mit der Haushaltslage. Wo ein Präsident Wolfgang Thierse: (C) Wille ist, ist auch ein Weg. Bei der Förderung der Zu- Ich erteile Bundesminister Jürgen Trittin das Wort. kunftstechnologie Photovoltaik geht es um einige hun- dert Millionen Euro. Das ist zwar viel Geld, aber Sie (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Gibt es den sind auch nicht bereit, diese Mittel zur Verfügung zu noch?) stellen. Herr Müller, Sie haben gerade dampfplaudernd über viele Bereiche gesprochen, den Bereich Steinkohle Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- haben Sie aber vergessen. Ich will Ihnen in Erinnerung schutz und Reaktorsicherheit: rufen: In dieser Woche hat Ihr Kanzler in den öffentli- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be- chen Haushalten en passant 17 Milliarden Euro für die neide die Kollegin Merkel nicht um ihre Aufgabe, die di- Steinkohle bereitgestellt. versen Positionen, die es in der Union gibt, zusammen- zuhalten. Heute muss sie den Herrn Pfeiffer und den Sie haben wertvolle Zeit verplempert und die gesamte Herrn Paziorek zusammenbinden. Herr Paziorek sagt, es Branche verunsichert. Spätestens seit Frühjahr dieses gebe viel zu wenig für die Biomasse, und Herr Pfeiffer Jahres wissen Sie dies. Nachdem Sie ein halbes Jahr sagt, wir müssten mit der Förderung drastisch herunter- nichts unternommen haben, können Sie jetzt nicht an- gehen. Dies zusammenzubinden kann man nur im Pfeif- dere für Ihre Fehler verantwortlich machen. Machen Sie ferschen Drüsenfieber oder solange man auf der Opposi- endlich Ihre Hausaufgaben und beantworten Sie die ge- tionsbank sitzt. stellten Fragen, damit wir für diese und für andere Bran- chen Planungs- und Investitionssicherheit erreichen kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen! und bei der SPD) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ohne Nachhilfe Morgen geht das Kernkraftwerk Stade vom Netz. können die doch keine Hausaufgaben ma- Das ist der sichtbare Beleg dafür, dass die Atomenergie chen!) in Deutschland keine Zukunft hat. Lassen Sie mich abschließend noch zu einem ande- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben auch rem Thema, das in dieser verbundenen Debatte auch auf- keine!) zurufen ist, einige Sätze sagen. Es geht um das „Nuklear- package“. Wir lehnen – auch meine Vorredner haben das In den USA sollen diese Altanlagen 60 Jahre laufen; wir gesagt – den Eingriff in originäre nationale Zuständig- halbieren die Laufzeit. Damit wird der Weg für eine si- keiten ab. Die Rückstellungen der deutschen Energiever- chere und zukunftsfähige Energiestruktur frei. Abge- sorgungsunternehmen gehören zu den wenigen Wettbe- schriebene und über Jahre hoch subventionierte Altanla- (B) werbsvorteilen, die wir innerhalb Europas noch haben. gen dürfen die Investitionen in die Energiestruktur von (D) morgen nicht länger blockieren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für den Rückbau der Nukleartechnik und die Entsor- sowie bei Abgeordneten der SPD) gung in Deutschland haben die deutschen Energieversor- gungsunternehmen Rückstellungen in einer Größenord- Allein in Deutschland müssen wir Kraftwerkskapazitä- nung von 30 Milliarden Euro getätigt. ten von 40 000 MW ersetzen; in ganz Europa sind es 200 000 MW. Die Mehrheit der Staaten in der Europäi- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die SPD schen Union ist heute frei von Atomenergie oder auf hat darin herumgewildert!) dem Weg heraus aus der Atomenergie. Explizit nenne In Frankreich, das im Bereich der Kerntechnik einen we- ich Belgien, Schweden und die Bundesrepublik; implizit sentlich höheren Anteil hat, sind es weniger als trifft das auch auf das Vereinigte Königreich und die 20 Milliarden Euro. Andere haben noch viel geringere Niederlande zu. Rückstellungen gebildet. Kein Land steigt aber so schnell aus wie die Bundes- Wir lehnen die Sozialisierung dieser Rückstellungen republik Deutschland. Bis 2020 werden wir die Kraft- innerhalb Europas, die einen Wettbewerbsvorteil für un- werke abgeschaltet haben. Das heißt, bis dahin gehen sere Unternehmen darstellen, im nationalen Interesse ab 30 Prozent der Kraftwerkskapazitäten allein aufgrund und rufen die Bundesregierung auf, dies bei den jetzt an- dieser Tatsache vom Netz. Für uns alle gemeinsam be- stehenden Beschlüssen zu verhindern, damit wir neben deutet das: Kein Land muss sich so schnell um Ersatz- den anderen Benachteiligungen, die Sie uns mit Ihrer kapazitäten bemühen wie die Bundesrepublik Deutsch- Politik schon auferlegt haben – ich habe es aufgeführt –, land. Das geht nur mit einer Energiepolitik, die sich von nicht auch noch in diesem Bereich ins Hintertreffen ge- allen Vereinseitigungen verabschiedet. Sie muss auf drei raten und den letzten Wettbewerbsvorteil innerhalb Säulen begründet sein: auf erneuerbare Energien, auf Ef- Europas verlieren. fizienz und auf Energieeinsparung. Vielen Dank. Wir haben uns in der Koalition zusätzlich vorgenom- men, bis 2020 40 Prozent der Treibhausgase in (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber Deutschland einzusparen. Wenn wir dies bis 2020 errei- [SPD]: Unglaublich! – Weiterer Zuruf von der chen wollen – Herr Paziorek, das ist der Grund für SPD: So viele Minuten ohne ein einziges ver- diese Maßzahl –, dann geht das nur mit konsequenter nünftiges Wort!) Energieeinsparung. Man kann nicht hier im Bundestag Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6421

Bundesminister Jürgen Trittin (A) Energieeinsparung fordern und gleichzeitig alle dafür stallation an Gebäuden, insbesondere für den Einsatz (C) erforderlichen Instrumente bekämpfen. Aus der von von Photovoltaik in Fassaden – das ist eine der wesentli- Ihnen beschimpften Ökosteuer zahlen wir die 340 Mil- chen Zukunftsfragen –, erhöht werden. Damit wird künf- lionen Euro für die CO2-Einsparungen im Bereich von tig die Förderung der Photovoltaik, die in Deutschland Gebäuden. Sie haben dafür 12 Millionen Euro aufge- inzwischen dazu geführt hat, dass wir in Europa Spitzen- wendet. reiter bei der Anwendung der Photovoltaik sind, allein durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz getragen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Das ist jedoch nicht nur eine umwelt- und klimapoliti- Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Was haben sche Frage. Ich war letzte Woche bei Solar-World in Sie eigentlich bei der Kohle gemacht?) Freiberg in Sachsen. Dort wird die gesamte Wertschöp- fungskette, von der Siliziumproduktion bis zur Fertigung Wenn wir die Energieeffizienz wirklich verdoppeln der Module, in einer Fabrik abgearbeitet. Dort sind aus wollen, brauchen wir einen ökonomischen Anreiz für ef- 120 Arbeitsplätzen im Jahr 2000 inzwischen 425 Ar- fizientere Kraftwerke. Dafür gibt es das Instrument des beitsplätze geworden. Der Wirtschaftszweig der erneuer- Emissionshandels. Wir müssen den Ausbau erneuerbarer baren Energien hat schon heute eines erreicht: Mit mehr Energien forciert fördern. Das ist Zweck des Gesetzes. als 130 000 Menschen arbeiten in dieser Branche mehr Deswegen haben wir in dem Gesetzentwurf quantifi- als in der Kohle- und Nuklearindustrie zusammen. ziert, dass wir bis zum Jahre 2020 20 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugen wollen. Es Dies verteilt sich sehr unterschiedlich auf das Bun- spricht Bände, Herr Paziorek, wenn Sie immer betonen, desgebiet. Ein Schwerpunkt sind die nördlichen Bundes- Sie seien für die erneuerbaren Energien, sich aber länder – Neustadt-Glewe ist bereits angesprochen wor- gleichzeitig gegen diese Zweckbestimmung wenden. den –, im Osten der Republik tut sich einiges. Aber im Süden, in Bayern und Baden-Württemberg, gibt es noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gallische Dörfer, wo die Landesregierung nichts anderes sowie bei Abgeordneten der SPD – Hartmut zu tun hat, als jede Anlage von erneuerbaren Energien Schauerte [CDU/CSU]: Kohle!) mit allen bürokratischen Mitteln zu schikanieren und zu Diese beiden Ziele, Steigerung der Energieeffizienz verhindern. und Ausbau erneuerbarer Energien, dürfen nicht gegen- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- einander ausgespielt werden. Beides kann nur miteinan- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf der funktionieren. 20 Prozent zu erreichen ist das Ziel von der FDP: Quatsch!) des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Aber wir wollen (B) denjenigen, die in diesem Sektor tätig sind, klar machen: Reden Sie mal mit den Investoren von Ostwind, reden (D) Am Ende muss für sie die Marktfähigkeit stehen. Des- Sie mit denen, die beispielsweise nicht nur Windanla- wegen haben wir die Degression durchgehend auch da gen, sondern auch Biomasseanlagen in Bayern genehmi- festgeschrieben, wo es dem einen oder anderen wehtut, gen lassen wollten! beispielsweise im Bereich der Biomasse, was Sie ange- Dann wissen Sie, was bayerische Regelungswut und sprochen haben. bayerische Bürokratie alles bewirken kann, nämlich die (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Da haben Sie Verhinderung von Investitionen und der Schaffung von zu viel gemacht!) Arbeitsplätzen. Dabei müssen wir auch darauf achten, dass die Kos- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten für die erneuerbaren Energien die Haushalte nicht und bei der SPD) übermäßig belasten. Deswegen haben wir dafür Sorge Das passt nicht mit den Reden über erneuerbare Ener- getragen, dass beispielsweise nicht nur große, sondern gien zusammen. auch mittlere Unternehmen von der Härtefallregelung profitieren können, aber gleichzeitig eine Deckelung (Volker Kauder [CDU/CSU]: Mit dem Dosen- vorgenommen: Wenn heute der Klimaschutz durch die pfand machen Sie Arbeitsplätze kaputt!) Förderung erneuerbarer Energien 1 Euro pro Haushalt und Monat kostet, dann darf das künftig nur 1,10 Euro – Über das Dosenpfand brauchen Sie mir nichts zu er- sein. Das ist Politik mit Augenmaß: Förderung der er- zählen. Ich habe gegen die Bayerische Staatsregierung neuerbaren Energien und Beachtung der Kostenseite, die Vernichtung der bayerischen mittelständischen und aber keine Umgestaltung des Erneuerbare-Energien-Ge- kleinen Brauereien verhindert. Das sehen die genauso. setzes in eine reine Konsumentenumlage! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen und Widerspruch sowie bei Abgeordneten der SPD) bei der CDU/CSU) Die Koalitionsfraktionen beschließen heute ein Vor- Zu der Frage der Energieeffizienz in der Energiepoli- schaltgesetz für die Photovoltaik, das die Mindestvergü- tik. tung für Strom aus diesen Anlagen auf 45,7 Cent pro Ki- lowattstunde festschreibt. Ich will darauf verweisen, Präsident Wolfgang Thierse: dass wir die bürokratische Deckelung bei den großen Herr Kollege Trittin, gestatten Sie eine Zwischen- Anlagen abschaffen und dass die Fördersätze für die In- frage des Kollegen von Klaeden? 6422 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- Wir kommen zum Thema zurück: Wie sieht die Energie- (C) schutz und Reaktorsicherheit: versorgung von morgen aus? – Es bedarf auch der Effizienz. Bitte schön, Herr von Klaeden. Was knapp ist, wird sorgsam und kosteneffizient bewirt- schaftet. Für die Knappheit gibt es ein Instrument, näm- (CDU/CSU): lich den Vertrag von Kioto. Bis 2010 dürfen Industrie, Herr Bundesminister, da Sie eben selber das Dosen- Energiewirtschaft, Gewerbe, private Haushalte und Ver- pfand angesprochen haben, kehr in Deutschland nicht mehr als 841 Millionen Ton- nen CO2 ausstoßen. Das ist die Obergrenze und diese (Marco Bülow [SPD]: Hat er nicht! – Michael Obergrenze gilt ohne Ausnahme. Müller [Düsseldorf] [SPD]: Er hat es aufge- griffen!) Damit bekommt der CO2-Ausstoß einen Preis, der in Tonnen gemessen wird. Künftig kostet übermäßige Kli- darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass mittler- mabelastung den Verursacher Geld. weile eine eidesstattliche Erklärung von acht Personen, allesamt Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Sie – von Beruf sind diese Linienführer, Dreher, Maschinist, können den Zeigefinger wieder einfahren!) Industriemeister, Maschinenschlosser, Maschinenführer, Einsparungen aber kann man überall in Europa verkau- Elektroniker –, vorliegt, die an einem Gespräch mit Ih- fen. Grundlage für die Vergabe dieser Mittel wird der rem Staatssekretär teilgenommen haben, CO2-Emissionshandel sein. Das Einsparziel der deut- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schen Industrie von 45 Millionen Tonnen ist maßgebend, NEN]: Ach nein! – Weitere Zurufe von der SPD nicht mehr, aber auch nicht weniger. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie werden sich mit dem zugrunde liegenden Gesetz, wonach auf die sinngemäße Feststellung eines Betriebs- das heißt mit der Frage der wesentlichen Regeln, auf de- rats, dass die Einwegindustrie und die Arbeitsplätze den ren Basis wir diese Emissionsrechte verteilen, hier im Bach heruntergingen, Ihr Staatssekretär, Herr Baake, ge- Bundestag beschäftigen müssen. Die Bundesregierung sagt habe: „Ja, meine Herren, dies ist politisch auch so wird im Dezember das Treibhausgas-Emissionshandels- gewollt.“ gesetz verabschieden und danach haben Sie zu entschei- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Was?) den. Sie haben danach nicht nur über diese allgemeinen Regeln zu entscheiden, sondern Sie werden sich unter- Sie haben hier vor dem Deutschen Bundestag genau das einander – auch zwischen den Positionen von Herrn Gegenteil behauptet. Ich darf Sie bitten, zu dieser eides- Pfeiffer und Herrn Paziorek – zu einigen haben. stattlichen Erklärung Stellung zu nehmen. (B) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das lassen (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie mal unsere Sorge sein!) Sie werden sich über die Frage zu einigen haben, wie Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit: viele Millionen Tonnen CO2 die privaten Haushalte, wie viele Millionen Tonnen CO der Verkehr, wie viele Mil- Herr von Klaeden, Sie können sich ganz schnell wie- 2 der hinsetzen. Ich habe der Feststellung – die ich hier lionen Tonnen CO2 die Energiewirtschaft, die Industrie schon gemacht habe –, dass mein Staatssekretär diese und das Gewerbe emittieren dürfen, und zwar bis 2020, Unterstellung schon mehrfach zurückgewiesen hat, spezifiziert nach nachrechenbaren Tonnen. nichts, aber auch gar nichts hinzuzufügen. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Klären Sie (Abg. Eckart von Klaeden [CDU/CSU] will das mal mit Clement!) wieder Platz nehmen) Ich bin sehr gespannt, – Bevor Sie sich hinsetzen, (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Was Herr (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie haben doch Clement sagt!) gerade gesagt, ich solle mich hinsetzen!) ob Sie das Vorgehen, das Sie hier an den Tag legen – näm- möchte ich Sie fragen – dann ist die Frage abschließend lich die von Ihnen selbst bewirkte Verfehlung klimapoliti- beantwortet, Herr Parlamentarischer Geschäftsführer –, scher Ziele zu bejammern, aber gleichzeitig jede kon- ob es mit den Regeln, die sich dieses Haus gegeben hat, krete Maßnahme zur Erreichung dieser Ziele im vereinbar ist, Debatten zu Themen auf diese Weise zu Bundestag zu blockieren –, auch weiter durchhalten wer- gebrauchen, um nicht das Wort „missbrauchen“ zu ver- den. wenden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das entscheiden und bei der SPD) Sie noch lange nicht!) Ich bin der festen Überzeugung: Der Emissionshandel Das müssen die Parlamentarischen Geschäftsführer un- bietet eine Chance für die deutsche Wirtschaft; er er- tereinander klären; dafür fehlt mir die Beurteilung. leichtert ihr übrigens auch den Klimaschutz. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mehr Effizienz ist eine der Säulen der Versorgungssi- DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: cherheit von morgen. Effizienz, erneuerbare Energien Jetzt sind Sie sprachlos!) und Energiesparen bilden die Grundlage für die Versor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6423

Bundesminister Jürgen Trittin (A) gungssicherheit, aber auch für einen vernünftigen Kli- reserve Kosten entstehen. Deswegen ist es dringend er- (C) maschutz auch und gerade im Interesse künftiger Gene- forderlich – aus diesem Grunde haben wir unseren An- rationen. trag zum Thema Speichertechnologie vorgelegt –, die Netzunabhängigkeit der erneuerbaren Energien zu errei- Vielen Dank. chen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Ulrich Kelber [SPD]: Das ist eine falsche und bei der SPD) Schlussfolgerung!)

Präsident Wolfgang Thierse: Nur so können wir ihnen in Deutschland eine riesige Zu- Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger, FDP-Frak- kunftsperspektive geben. tion, das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU) Im Zusammenhang mit den beiden in Ihren Vorlagen Birgit Homburger (FDP): zum Thema Atomenergie erwähnten Richtlinien der Eu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ropäischen Union, über die wir heute auch beraten, diskutieren heute ein sehr wichtiges Thema. Herr Minis- möchte ich Ihnen eines sagen: Wir sind uns in einigen ter Trittin, Sie haben in Ihrer Rede ausgeführt, der Aus- Punkten durchaus einig, aber Sie nutzen das wieder für stieg aus der Kernenergie sei der Einstieg in eine sichere eine ideologische Kundgebung. Das kann ich nicht nach- und zukunftsfähige Energieversorgung. Dem muss ich vollziehen. entgegenhalten: Ohne ein konkretes Energiekonzept für Wenn wir über die sichere Energieversorgung dieses den Wirtschaftsstandort Deutschland Landes diskutieren, dann geht es nicht um heute und (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) morgen. Es geht vielmehr um eine Perspektive für die nächsten 50 Jahre oder mehr. Wenn wir in solchen Per- ist der Ausstieg aus der Kernenergie noch lange kein spektiven denken, dann geht es nicht an, den Vorrang Einstieg in eine sichere Energieversorgung. Ein solches von nicht nuklearer Energieforschung in Europa festzu- Konzept fehlt, Herr Trittin! schreiben, wie Sie das wollen. Wir müssen vielmehr die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Chance ergreifen, mit dem internationalen Projekt ITER der CDU/CSU) die Fusionsforschung in Europa zu halten und die Bun- desrepublik Deutschland daran zu beteiligen. Deswegen möchte ich für meine Fraktion betonen: (B) Wir wollen ein Energiekonzept, das auf der einen Seite (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) die Versorgungssicherheit für dieses Land gewährleistet, der CDU/CSU) das aber auf der anderen Seite einen neuen Energiemix Ich möchte noch etwas zu der Feststellung der Kolle- beinhaltet, der Unabhängigkeit von politisch instabilen gin Hustedt anmerken, dass die Energieversorger durch- Regionen schafft. Angesichts der beim Erdöl und Erdgas aus in der Lage seien, schwankende Energiemengen zu bestehenden Abhängigkeit von Ländern, die politisch handhaben. Ich möchte Ihnen nur eines sagen, Frau bei weitem nicht stabil sind, ist ein umfassendes Ener- Hustedt: Technisch ist das möglich. Aber Sie müssen giekonzept geboten. auch die finanziellen Auswirkungen einplanen. Wir sind Dazu gehören aber mehrere Komponenten, nämlich der Meinung, dass wir, wenn wir die Zukunftsfähigkeit das Energiesparen und die Energieeffizienz. der erneuerbaren Energien sicherstellen wollen, eine in- telligente Verknüpfung der Photovoltaik – über den Ent- (Siegfried Scheffler [SPD]: Donnerwetter! Sie wurf eines entsprechenden Vorschaltgesetzes reden wir haben etwas gelernt!) ja heute morgen – mit dem Emissionshandel brauchen. Einzubeziehen ist nicht nur der Strommarkt, sondern Herr Minister Trittin, Sie haben gesagt, dass Sie das ma- sind auch der Wärmemarkt und – Herr Müller hat es an- chen wollen. Aber warum haben Sie das nicht schon gesprochen – der Verkehrsbereich. Wenn Sie das alles längst getan? Das ist doch die Frage, die Sie sich stellen mit einbeziehen wollen, dann müssen Sie den Mut auf- lassen müssen. bringen, in moderne Technologien – auch in die Spei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) chertechnologie – einzusteigen. Nur dann werden Sie es schaffen, den erneuerbaren Energien eine Zukunft zu ge- Ich sage klar und deutlich: Wir können durch die Ver- ben. knüpfung mit dem Emissionshandel Exportmöglichkei- ten und riesige Chancen für die Photovoltaik eröffnen; (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das will die FDP. Wenn wir den erneuerbaren Energien der CDU/CSU – Michael Müller [Düsseldorf] nicht nur in Deutschland, sondern weltweit eine Zukunft [SPD]: Guten Morgen! – Weiterer Zuruf von geben wollen, dann müssen wir das Ganze effizient or- der SPD: Das ist ganz neu!) ganisieren und Kostensenkungspotenziale realisieren. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Verfügbarkeit Das sind wir den Menschen in diesem Lande schuldig. von erneuerbaren Energien zum Teil sehr schwankt. Vielen Dank. Sie müssen zum anderen auch berücksichtigen, dass beim Netzausbau und dem Vorhalten der Regelenergie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 6424 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Präsident Wolfgang Thierse: – Angesichts Ihrer Zurufe möchte ich Ihnen Folgendes (C) Ich erteile das Wort Kollegen Marco Bülow, SPD- sagen: Sie von der Union nehmen die Umweltschutz- Fraktion. und die Energiepolitik so ernst, dass Sie Herrn Hohmann in den Umweltausschuss strafversetzen! (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Marco Bülow (SPD): Paziorek [CDU/CSU]: Vorsicht! Vorsicht! Das Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lange war überzogen!) Zeit haben konservative Kräfte geleugnet, dass die Erde um die Sonne kreist. Doch sie konnten den Fortschritt Herr Pfeiffer, überprüfen Sie bitte Ihre Kostenberech- nicht aufhalten. Dieses Phänomen scheint sich nun zu nungen. In 14 Minuten haben Sie keinen einzigen Vor- wiederholen. Vehement leugnen heute andere starke schlag gemacht, aus dem hervorgeht, wie Sie eine Erneu- Kräfte, dass bereits in absehbarer Zeit ein Großteil des erbare-Energien-Politik machen wollen. Sie sind doch Energiehungers mit der Kraft der Sonne gestillt werden noch viel zu jung, um ein Dinosaurier zu sein. kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich der Fort- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) schritt erneut durchsetzen wird. Über den Entwurf der EEG-Novelle wollen wir mit (Beifall bei der SPD) allen Fraktionen intensiv beraten und dann möglichst zü- Diesmal steht allerdings mehr auf dem Spiel und wir gig beschließen; denn die Branche braucht Planungssi- haben deutlich weniger Zeit. Der bildliche Satz „Nach cherheit. Es darf in diesem innovativem Bereich zu kei- mir die Sintflut!“ könnte zur grausigen Realität werden. nem Fadenriss kommen. Ich weiß, dass es an einigen Damit das nicht Realität wird, reicht nicht nur die Er- Stellen, beispielsweise in der Biogasbranche – hier gebe kenntnis aus – diese haben auch einige aus der Opposi- ich Ihnen Recht –, trotzdem sehr eng werden wird. tion –, dass wir große Potenziale der erneuerbaren Ener- Das Auslaufen des erfolgreichen 100 000-Dächer- gien, insbesondere der Sonnenenergie, nutzen können. Programms würde aber selbst bei einem reibungslosen Das muss vielmehr auch in die Tat umgesetzt werden Novellierungsverfahren zumindest für einen Teil der und darf auf keinen Fall verhindert werden. Dem ist die Photovoltaikbranche zu spät kommen. Ich habe eine rot-grüne Koalition mit zahlreichen Initiativen und Ge- Liste mit Firmen, die schon jetzt mehr als nur zu kämp- setzen nachgekommen. Das wohl wichtigste – und auch fen haben. Beispielsweise hat einer der größten deut- sehr erfolgreiche – Gesetz war das Erneuerbare-Ener- schen Solarzellenproduzenten in den neuen Ländern we- gien-Gesetz, kurz EEG. Ich hoffe, dass auch in der Oppo- gen der unsicheren politischen Lage für 2004 noch (B) sition in zunehmenden Maße die Erkenntnis wächst – ich keinen einzigen festen Auftrag. Das ist ein Novum. (D) weiß, dass das bei einigen Abgeordneten bereits der Fall Wenn wir jetzt nicht handeln, dann sind über 10 000 zu- ist –, dass es notwendig ist, mehr als nur vollmundige kunftsfähige Arbeitsplätze gefährdet, und das in einer Lippenbekenntnisse zu den erneuerbaren Energien abzu- jungen Branche mit großem Potenzial. Ich brauche hier liefern. Dafür bieten die anstehenden Beratungen über nicht zu erklären, dass eine junge Branche natürlich die Entwürfe einer Novelle zum EEG und eines Photo- keine großen Rücklagen gebildet haben kann, um in ei- voltaik-Vorschaltgesetzes eine hervorragende Möglich- nem solchen Fall darauf zurückzugreifen. keit. (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das gilt aber Ich wollte heute eigentlich eine friedensstiftende Rede auch für andere in diesem Lande!) halten, die uns zusammenbringt. Doch einige Meinungs- bekundungen von der Opposition veranlassen mich, ein, Wir gefährden unsere gute Position auf dem Welt- zwei Sätze zu sagen, die nicht in diesem Sinne sind. Herr markt. Mithilfe des 100 000-Dächer-Programms hat sich Paziorek, Sie spielen sich heute als Retter der erneuerba- die deutsche Photovoltaikwirtschaft in einer Zukunfts- ren Energien auf. Dabei gibt es viele in der Union – das technologie an die internationale Spitze katapultiert. ist auch heute wieder deutlich geworden –, die die erneu- Dem ging ein Gesetz voraus, das Rot-Grün auf den Weg erbaren Energien eigentlich lieber verteufeln. Welchen gebracht hat. Außerdem gefährden wir das Erreichen un- Stand Sie in der Branche haben, haben Sie selbst auf der serer Klimaziele. Wir begrüßen es deshalb, dass sich das von Ihnen erwähnten Demonstration erlebt. Der Applaus Bundesumweltministerium dem Vorschlag der Koali- für Sie war nicht besonders groß. tionsfraktionen nach einem Photovoltaik-Vorschaltge- setz angeschlossen hat. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ganz im Ge- genteil!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich erinnere nur an 1998, als viele aus der Branche ge- Die Förderbeiträge des vorliegenden Vorschaltgeset- sagt haben: Wir haben Angst vor einem Regierungs- zes sollen bereits am 1. Januar 2004 ihre Wirkung entfal- wechsel. Deswegen bleiben uns die Kunden weg. – Das ten. Schon im Vorschaltgesetz sind die Änderungen ist die Realität in diesem Land. Die Branche weiß genau, enthalten, die sich später in der großen Novelle wieder- was sie an Rot-Grün hat und was sie mit Ihnen bekom- finden. Statt einer Vergütungsstufe plädieren wir für eine men würde. Basisvergütung und eine mögliche Zusatzvergütung. Dies ermöglicht eine zielgenauere Förderung und eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Bevorzugung von Anlagen auf Fassaden, Dächern und GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU) Lärmschutzwänden. Für Anlagen auf Freiflächen ist die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6425

Marco Bülow (A) Basisvergütung vorgesehen, sie unterliegen aber dem Die Energiewende ist unser nachhaltigstes Projekt (C) Geltungsbereich des Bebauungsplans. überhaupt: Sie schafft Arbeitsplätze, sichert unsere Le- bensgrundlage und ist die Basis unserer Wirtschaft. Der Die Förderung von Photovoltaik ist ein gutes Beispiel Freidenker Ludwig Uhland hat einmal gesagt: für unsere Idee der Gesamtförderung der erneuerbaren Energien. Durch die Maßstäbe, die wir anlegen, tragen Umsonst bist du von edler Glut entbrannt, wenn du wir dazu bei, auch beim Klimaschutz Rücksicht auf den nicht sonnenklar dein Ziel erkannt. örtlichen Umweltschutz zu nehmen. Wir bringen die In- teressen der Ökologie und der Ökonomie zusammen, so- Wir haben unser Ziel erkannt. Dieses Ziel heißt: Auf zur dass beide profitieren. Außerdem setzen wir auf eine im- Nutzung „der edlen Glut“ der Sonne! mer effizientere Förderung. Vielen Dank. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen: Die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Degression bei Photovoltaik beträgt 5 Prozent; das heißt, DIE GRÜNEN) die Förderung wird jedes Jahr um 5 Prozent zurückge- fahren. Hinzu kommt die Inflation. Wir haben von An- Präsident Wolfgang Thierse: fang an, auch beim ersten Gesetz, auf die Wirtschaft- Ich erteile der Kollegin Doris Meyer, CDU/CSU- lichkeit der erneuerbaren Energien gesetzt. Es wäre Fraktion, das Wort. äußerst wohltuend, wenn diese harten Auflagen bei- spielsweise bei der Atomenergie gegolten hätten. Wenn (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das der Fall gewesen wäre, dann hätten wir in diesem Land einige Probleme weniger. Doris Meyer (Tapfheim) (CDU/CSU): Gerade diejenigen, die bei den erneuerbaren Energien Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen mehr Abstriche fordern, drükken bei den herkömmli- und Herren! Die Photovoltaikbranche wird heute ver- chen Energieressourcen gerne beide Augen zu. Dies ist mutlich aufatmen und vorsichtigen Optimismus an den unangemessen und ungerecht. Die Diskussion über die Tag legen, Optimismus, weil ihr geholfen werden kann. Kosten der erneuerbaren Energien war vom ersten Tag (Beifall des Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜND- an eine einzige Farce. Ich hoffe, wir werden die folgen- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Peter Paziorek den Diskussionen sachlicher und fairer führen. [CDU/CSU]: Wohl wahr!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Nach dem Wegfall des 100 000-Dächer-Programms BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mitte dieses Jahres verspürte sie keine oder nur noch ge- Dabei ist es keine Frage, dass einige Erneuerbare- ringe Motivation, in neue Anlagen zu investieren. Es (B) (D) Energien-Branchen schon in absehbarer Zeit wettbe- musste Abhilfe geschaffen werden. Abhilfe verspricht werbsfähig sind. Deren Innovationskraft und Effizienz- man sich nun von dem heute vorliegenden Vorschaltge- steigerung – Frau Brunkhorst, hören Sie gut zu! – geben setz, dem 2. EEG-Änderungsgesetz. uns dazu einen guten Anhaltspunkt. Hinzu kommt, dass Bereits das 1. Änderungsgesetz zum EEG sollte Ab- ein großer Teil des fossilen Kraftwerksparks erneuert hilfe schaffen. Die durch das EEG bedingten Schmerzen werden muss. Dies geht nicht zum Nulltarif. Selbst die der besonders energieintensiven Unternehmen sollten vorsichtige Schätzung von RWE Schott Solar besagt, damit beseitigt werden. Beseitigt werden sollten aber dass die Wettbewerbsfähigkeit von Solarstrom in zehn auch wieder einmal handwerkliche Fehler der rot-grünen Jahren in Südeuropa und in weiteren zehn Jahren in Mit- Koalition. teleuropa erreicht wird. Das ist die Realität. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die rot-grüne Koalition hat sich in den Diskussionen über das Für und Wider einer Härtefallregelung verhed- Die Kostenschere zwischen den erneuerbaren und den dert. In einem Schnellschussverfahren hat sie die Härte- herkömmlichen Energien wird sich schließen, selbst fallregelung in Gesetzesform gegossen. ohne Einbeziehung der externen Kosten, also beispiels- weise ohne Einbeziehung der Umweltkosten, die auf der Genauso ist es nun mit dem Vorschaltgesetz zur Pho- Stromrechnung niemals ihren Niederschlag finden, ob- tovoltaik. Das schon erwähnte Förderprogramm ist wohl wir und vor allen Dingen die nachfolgenden Gene- Mitte dieses Jahres ausgelaufen. Nun stellt sich heraus: rationen sie zu tragen haben. Die Photovoltaik kommt nicht mehr vorwärts. Die Solar- industrie ist in ihrer Existenz bedroht. Die Energiewende hin zu mehr Effizienz und einer Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien ist Bereits Mitte August wurde mit dem Referentenent- keine Utopie. Anders als uns einige immer weismachen wurf des BMU die neue Runde der EEG-Novellierung wollen, ist sie vor allen Dingen kein Luxus, den man eingeläutet. Sie ist bei den Ressortabstimmungen oder, sich nur leisten kann, wenn man genug Geld dazu hat. besser gesagt, bei den Streitereien zwischen dem Um- Luxus ist vielmehr, die Chancen von heute verstreichen weltminister Jürgen Trittin und seinem Kollegen Wirt- zu lassen. Dies würden uns unsere Kinder niemals ver- schaftsminister Wolfgang Clement unter die Räder ge- zeihen. kommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der FDP) 6426 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Doris Meyer (Tapfheim) (A) Wer von den beiden den Streit angezettelt hat, vermag Alle wissen um diese Notwendigkeiten, aber nur die we- (C) schon niemand mehr zu sagen. Hat nun der eine das zum nigsten handeln danach. Die meisten sind immer noch Energiegipfel hochstilisierte Treffen beim Kanzler ohne alten Denkstrukturen verhaftet. Das führt uns eines Ta- Beteiligung des anderen stattfinden lassen oder hat der ges in die energiepolitische Sackgasse, meine Damen andere seinen Referentenentwurf noch kurz vorher vor- und Herren. gelegt, um den einen zu ärgern? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Interes- Besser ist es, Chancen und Potenziale zu nutzen, die sant! – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So war die verschiedenen Energiearten bieten, und deren Vor- es!) teile miteinander zu kombinieren. Die Wasserkraft bei- Es fällt schwer, unter den beiden einen Verantwortlichen spielsweise ist eine jahrhundertealte Energieart. Dem auszumachen. jüngsten Gutachten von Professor Ripl ist zu entnehmen, wie positiv sich Kleinwasserkraftwerke auf die Natur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auswirken. Dieses Werk kann ich allen Skeptikern zur Das Problem bei solchen Streitereien unter den Res- Lektüre empfehlen. Die so genannte kleine Wasserkraft sortchefs ist die Verzögerung, die sich daraus unweiger- aber durch noch strengere Vorgaben als die der Wasser- lich ergibt. Sie lähmt die dringend notwendige Sachar- rahmenrichtlinie und der Naturschutzgesetze zu hemmen beit. Ob einem der beiden geholfen ist, wenn er über ist unsinnig. seinen Kollegen obsiegt, interessiert vielleicht noch die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rot-grüne Koalition, aber nicht die von den Gesetzen be- troffenen Unternehmen. Die interessiert, wie sich die Bei der Biomasse das gleiche Spiel: Gerade die Be- Gesetze für sie und auf ihre Pläne in den nächsten Jahren treiber kleinerer Anlagen brauchen ein deutliches Signal, auswirken. wohin die Reise gehen soll. Ist wirklich eine dezentrale Energieversorgung gewünscht oder nicht? Wir müssen Ergebnis dieser Streitereien ist das Herauslösen bzw. uns entscheiden, meine Damen und Herren: Es ist unver- Vorziehen der Regelung zur Photovoltaik. Nach der Här- antwortlich, die Dauer des Mindestvergütungsanspruchs tefallregelung ist das heute vorliegende Vorschaltgesetz bei Strom aus Biomasse auf 15 Jahre herunterzufahren, also ein zweiter Schnellschuss. Wir als verantwortungs- statt sie bei den 20 Jahren zu belassen, die für alle ande- bewusste Parlamentarier müssen uns gegen diese Art ren Stromarten gelten. und Weise des Zustandekommens vehement wehren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Eine solche Maßnahme gibt ein falsches Signal an die (B) der FDP) (D) Anlagenbetreiber und -bauer. Dem Änderungsgesetz können wir von den Unions- Wir von der Union wollen bei der EEG-Novelle kein fraktionen zwar grundsätzlich zustimmen; zu den einzel- Hauruckverfahren wie jetzt bei der Photovoltaik-Förde- nen Vergütungssätzen besteht aber noch Diskussions- rung, sondern genügend Zeit für Beratungen. bedarf. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sehr (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wohl wahr!) richtig!) Die Erhöhung der Mindestvergütungen für die so ge- Wir halten am Ziel fest, den Anteil der erneuerbaren nannten gebäudeintegrierten Fassadenanlagen geht in Energien bis 2010 auf 12,5 Prozent zu steigern. Wir wol- die richtige Richtung. Wir dürfen die Flächenversiege- len eine nachhaltige Klimaschutzpolitik. Wir wollen lung nicht forcieren. Die Solaranlagen müssen konse- effiziente Anreize zur Verbesserung der Technologien quent in die Gebäudeflächen einbezogen werden. Solar- schaffen. Wir wollen Anreize zur Senkung der Produkti- anlagen an oder auf Gebäuden und baulichen Anlagen onskosten geben. Wir wollen den Standort Deutschland sind eindeutig solchen auf Freiflächen vorzuziehen. Das für die erneuerbaren Energien erhalten. Schließlich wol- bislang erzielte Abstimmungsergebnis zwischen den bei- len und müssen wir die regenerativen Energien zur Wett- den Ministerien kann wieder nur eine Grundlage bilden, bewerbsfähigkeit führen. auf der wir verhandeln. Wir müssen alles im Einzelnen genau betrachten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Mit Einführung des Stromeinspeisungsgesetzes An- fang der 90er-Jahre war fraktionsübergreifend die Ziel- Präsident Wolfgang Thierse: richtung klar. Die meisten Energieträger sind endlich. Deshalb musste im Sinne der Nachhaltigkeit eine Ände- Ich schließe die Aussprache. rung herbeigeführt werden. Langfristig kann somit nur Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf ein Mix aus herkömmlichen und regenerativen Energien den Drucksachen 15/1974, 15/1605 und 15/1813 an die helfen, die Energieversorgung zu sichern. Dies sollten in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- gelegentlich auch die Gegner der einen oder anderen schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Energieart einmal bedenken. Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- richtig!) schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6427

Präsident Wolfgang Thierse (A) auf Drucksache 15/1781 zu zwei Unterrichtungen durch Das wäre ein Punkt, an dem wir einmal über die Strei- (C) die Bundesregierung über EU-Vorlagen zur nuklearen chung von Haushaltsmitteln in Ihrem Etat nachdenken Sicherheit. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Un- müssten. terrichtungen durch die Bundesregierung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschluss- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Klima- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD schutz ist eine der größten Herausforderungen der Ge- und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von genwart. Das ist ein Punkt, über den zwischen allen CDU/CSU und FDP angenommen. Fraktionen dieses Hauses Einvernehmen herrscht. Ich glaube, dass die Klimakatastrophe nicht nur entschiede- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: nes nationales, sondern auch internationales Handeln er- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter fordert. Mit dem Kioto-Protokoll machen wir einen Ver- Paziorek, Marie-Luise Dött, Dr. Klaus W. Lippold such, aber noch ist das Kioto-Protokoll nicht ratifiziert. (Offenbach), weiterer Abgeordneter und der Deshalb ist der Versuch der Europäischen Union, ver- Fraktion der CDU/CSU schiedene Instrumente zum Klimaschutz zu aktivieren, damit wir die Situation verbessern, zu begrüßen. Inso- Nationalen Allokationsplan als Parlaments- fern begrüßen wir die Richtlinie zum Emissionszertifika- gesetz gestalten tehandel. Ich glaube, auch das ist ein Punkt, in dem wir uns einig sind. Allerdings – das sage ich ganz deutlich – – Drucksache 15/1791 – wollen wir festhalten, dass wir ein Verfahren wählen, das Überweisungsvorschlag: unbürokratisch und flexibel ist. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Auswärtiger Ausschuss (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Es gibt, meine sehr verehrten Damen und Herren, ei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nen Punkt, den man sich klar machen muss: Das Kern- stück der Richtlinie ist der nationale Allokationsplan. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Mit dem Allokationsplan wird die Gesamtmenge der in die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich einer Handelsperiode zuzuteilenden Emissionsberechti- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. gungen festgelegt. Das klingt sehr abstrakt – was bedeu- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem tet das? Wir legen fest, wie viel CO2 ein Unternehmen Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion. emittieren darf, also wie viel Energie es verbrauchen (B) darf. Wir legen fest, wie viel Energie ein Sektor der (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wirtschaft verbrauchen kann. Wir legen fest, wie die Verteilung der Emissionen auf die Sektoren der Wirt- schaft vorgenommen wird. Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Da bleiben im Moment noch eine ganze Reihe von Herren! Lassen Sie mich eine kurze Vorbemerkung ma- zentralen Fragen zu stellen. Warum? Mit der Zuteilung chen, bevor ich zum Sachthema komme. Ich habe gerade von Energie ist auch die Zuteilung von Chancen oder das erlebt, wie Sie, Herr Trittin, im Zusammenhang damit, Versagen von Chancen verbunden. Wenn jemandem zu dass Sie, wie Ihr Staatssekretär gesagt hat, durch die Ver- wenig Emissionsberechtigungen zugeteilt werden, muss packungsverordnung mutwillig Arbeitsplätze vernich- er seine Produktion einschränken, Arbeitsplätze zurück- ten, wiederum ausweichend geantwortet und faktisch so fahren, Arbeitsplätze abbauen. Wenn ich diese Fragen getan haben, als sei die eidesstattliche Erklärung der acht behandle, muss ich wissen, wie es weitergehen soll: Betriebsräte infrage zu stellen. Ich sage ganz offen: Ich Treffe ich eine Regelung, die für den Betrieb, die für den habe für Ihre Haltung kein Verständnis. Sektor adäquat ist? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir sind in einer von dieser rot-grünen Regierung mit zu verantwortenden rezessiven Phase. Es stellt sich die Es passt aber zu Ihrer Grundhaltung, Herr Trittin. Frage, was geschieht, wenn eine wirtschaftliche Erho- Denken wir nur an die Verlautbarung Ihres Pressespre- lung – trotz Ihrer Politik – eintritt. Die Aufwärtsentwick- chers, dass Sie die Abschaltung des Kernkraftwerkes lung in den USA könnte ja der Anlass dafür sein, dass Stade – die Vernichtung von Arbeitsplätzen – mit einem die Wirtschaft auch bei uns anspringt, dass die Wirt- Empfang, einer Fete mit Musik und allem Drum und schaftler sagen: Die weltweite Entwicklung überspielt Dran, verbinden. Das ist doch zynisch, Herr Trittin. Dass die katastrophale Wirtschaftspolitik dieser Bundesregie- Sie in Ihrem Ministerium die Vernichtung von Arbeits- rung. – Was wird dann mit den einzelnen Unternehmen? plätzen feiern und zu dieser Feier alte Kampfgefährten Haben wir die nötigen Reserven, um den Unternehmen einladen – dann mehr Emissionsberechtigungen zuzuteilen? (Birgit Homburger [FDP]: Mit Steuergeldern!) (Zuruf von der CDU/CSU: Für uns ist das eine wichtige Frage!) das kann ich so nicht akzeptieren. Schließlich sollen sich trotz der Politik dieser Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) desregierung auch neue Unternehmen gründen können. 6428 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) Diesen neuen Unternehmen müssen wir Emissionsbe- verlagert, wo sie auch hingehört. Daran sollten wir uns (C) rechtigungen kostenlos zuteilen können, denn wenn sie ein Beispiel nehmen. sie nicht kostenlos erhalten, werden sie unter Umständen Auch hinsichtlich des nationalen Allokationsplans überlegen, ob sie einen anderen Standort wählen. Die sollte dieses Haus so handeln. Arbeitsplätze würden dann an einem anderen Standort entstehen. Das kann nicht angehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich möchte gerne wissen, wie hierzu der Stand der Dis- der FDP) kussion ist und welche Verteilungsmengen für die Sekto- ren Verkehr, Haushalte, Industrie und Gewerbe vorgese- Es ist auch eine Frage, wie es aussieht, wenn Sie – was hen sind. nicht eintreten wird, aber was ja sein könnte – den Ausstieg aus der Kernenergie wirklich durchsetzen. Dafür ist – das (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das wird war heute schon zu hören – ein völlig emissionsfreier Er- auch allmählich Zeit!) satz nicht möglich. Um dieses Thema von der anderen Seite politisch aufar- Es kann doch nicht sein, dass die Wirtschaft, die beiten zu können, möchte ich von Ihnen auch gerne wis- Haushalte und auch der Verkehrssektor dafür bestraft sen, wie Überschreitungen der Mengen in einem Sektor werden, dass Sie eine falsche Entscheidung treffen. Es ausgeglichen werden sollen. Auch da kann ich nicht er- müssen vielmehr Vorkehrungen getroffen werden, mit kennen, dass Sie eine entsprechende Vorsorge betreiben. denen sichergestellt wird, dass die zusätzlichen Emissio- Es gibt noch einen anderen Punkt. Durch Ihre Verkehrs- nen aus einer Reserve, die die Bundesrepublik Deutsch- politik wird kein reibungsloser Ablauf des Verkehrs er- land und niemand anders bereitstellt, abgedeckt werden. möglicht; durch Ihre Verkehrspolitik werden Stauemis- All diese Fragen, die sich in der derzeitigen Situation er- sionen und Emissionen auf der Straße vergrößert. Das geben, sehe ich überhaupt noch nicht geregelt. lässt sich alles im Einzelnen nachweisen. Wie sollen Ich sage ganz deutlich: Die Antworten auf diese Fra- diese erhöhten Emissionen ausgeglichen werden? Ich gen sind für den Arbeitsmarkt und für die zukünftige sehe nicht, dass hierfür schon Abhilfe vorgesehen ist. Entwicklung von Ausbildungsplätzen – mit der Ausbil- Ich fasse zusammen. Lassen Sie uns die Diskussion in dungsplatzabgabe werden Sie das Gegenteil bewirken – diesem Hause führen. Lassen Sie uns Antworten auf die so wichtig, dass sie nicht en passant von der Bundesre- Frage gemeinsam erarbeiten, wie wir im Falle einer wirt- gierung allein beantwortet werden können. Über diese schaftlichen Erholung, im Falle von Existenzgründun- Fragen muss im Parlament diskutiert werden; sie sind zu gen und bei der Erweiterung von Produktion verfahren. (B) wichtig, als dass die Regierung allein darüber entschei- (D) den kann. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das wollen wir!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dazu gehört auch die Frage, wie es mit der Kernenergie Dass in unserem Antrag – ich sage das einmal so – weitergeht. ein gewisses Misstrauen gegenüber der Bundesregierung Lassen Sie uns in Ergänzung dazu darüber diskutie- und ihren Ansätzen mitschwingt, ren, wie wir auf die internationale Politik Einfluss neh- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Berechtigt!) men können, damit das Kioto-Protokoll ratifiziert wird und in Kraft treten kann und wir die Instrumente Clean ist wohl mehr als berechtigt. Es ist schade, dass Herr Development Mechanism und Joint Implementation nut- Trittin im Moment nicht auf der Regierungsbank sitzt; zen können. Ich bin dafür, dass wir hier keine Caps set- ich hoffe aber, dass er im Saal anwesend ist. zen oder zumindest nur solche, die wesentlich oberhalb (Volker Kauder [CDU/CSU]: Der muss sich der derzeitigen Caps liegen. Ich glaube, das ist eine rich- gerade zum Dosenpfand oder zu den eides- tige Vorgehensweise. stattlichen Erklärungen äußern!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Das könnte durchaus sein. – Ich sehe bislang nicht, Sie vergeben sich nichts, wenn Sie unserem Antrag dass sich der Minister für Umwelt und die Spitze seines zustimmen. Wir können die Auseinandersetzung in der Hauses bewegen und entsprechende Positionen artikulie- Sache führen, aber wir sollten sie hier und öffentlich ren. Diese zentrale Frage kann nicht unter der Hand ge- führen. Wir sollten diese Diskussion nicht in die Arbeit regelt werden. Hier muss das Parlament entscheiden. von Kommissionen oder in die Verhandlungen einzelner Ministerien verlagern, wie es in anderen Politikberei- Eine ähnliche Korrektur haben wir schon früher in an- chen – ich erinnere an den Nachhaltigkeitsrat – bedauer- deren Bereichen erlebt. Nachdem wir das Kreislauf- licherweise der Fall ist. wirtschafts- und Abfallgesetz verabschiedet hatten, ha- ben wir festgestellt, dass wesentliche politische Inhalte Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung. Unsere Koopera- nicht im Gesetz selber, sondern in Verordnungen gere- tion in dieser Grundsatzfrage ist Ihnen gewiss. gelt sind. Daraufhin hat dieses Haus beschlossen, die Herzlichen Dank. wesentlichen Verordnungen zum Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz zustimmungspflichtig zu machen. Da- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. mit wurde die Entscheidung in das Parlament zurück Birgit Homburger [FDP]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6429

(A) Präsident Wolfgang Thierse: mir aufgefallen, dass Sie eine Teilmenge meiner Fragen (C) Ich erteile dem Kollegen Jürgen Trittin das Wort zu in die Parlamentsdiskussion einbeziehen wollen. Sie ha- einer Kurzintervention. ben aber weder etwas zur Frage der notwendigen Reser- vebildung noch dazu gesagt, wie Sie die Abgrenzung zu Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): anderen Instrumenten, die ich vorhin aus Zeitgründen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will nicht erwähnt habe, wie zum Beispiel Ökosteuer, KWK- gern – auch für diejenigen, die vorhin vielleicht nicht Verpflichtungen und eine ganze Reihe anderer Fragen, ganz richtig zugehört haben oder eventuell nicht da ge- regeln wollen. wesen sind – das wiederholen, was ich vorhin gesagt Uns geht es auch um diese Fragen, weil sie von ge- habe, weil mir sehr daran gelegen ist, die gemeinsame nauso zentraler Bedeutung sind, gerade die Frage der Kooperation an dieser Stelle zu pflegen. Reservebildung. Wenn wir uns darauf einigen könnten, (Birgit Homburger [FDP]: Ach, seit wann das Herr Trittin, dass Sie auch diese Punkte mit in das Ge- denn?) setz aufnehmen, ist das etwas anderes. Wenn diese Punkte jedoch außen vor bleiben sollten, bleibt unser Die Bundesregierung wird Ihnen einen Gesetzentwurf Antrag nach wie vor aktuell. zum Handel mit Emissionszertifikaten vorlegen, Danke. (Tanja Gönner [CDU/CSU]: Wann denn?) (Beifall bei der CDU/CSU) der beinhalten wird, dass der Gesetzgeber über die wesent- lichen Regeln – das ergibt sich übrigens schon aus dem Grundgesetz, Wesentlichkeitstheorie – bei der Verteilung Präsident Wolfgang Thierse: der Emissionsrechte entscheidet und dass er eine Verord- Ich erteile dem Kollegen Ulrich Kelber, SPD-Frak- nungsermächtigung für die Einzelverteilung hat. Das ist, tion, das Wort. glaube ich, eine sinnvolle Arbeitsteilung. Insbesondere wird er den Gesetzgeber in die Lage versetzen, über die Ulrich Kelber (SPD): Verteilung auf die einzelnen Makrosektoren zu entscheiden. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ich wiederhole: Wir dürfen im Jahre 2010 – genauer ge- ren! Deutschland ist Spitzenreiter beim Klimaschutz sagt, zwischen 2008 und 2012 – im Jahresmittel nicht und wir müssen auch einfach einmal selbstbewusst sa- mehr als 846 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen. Das ist gen: Kein anderes großes Industrieland hat ähnliche Er- kein erfundener Cap, das ist die absolute Grenze im folge beim Klimaschutz vorzuweisen wie Deutschland. Kioto-Protokoll, dem Sie und wir alle zugestimmt ha- Wir haben unsere Verpflichtungen aus den internationa- ben. Dieses Haus hat über die Verteilung der daraus len Klimaschutzvereinbarungen schon fast erfüllt. Dabei (B) (D) resultierenden Emissionsreduktionen auf die einzelnen ist die Erreichung der Ziele in diesen Vereinbarungen Sektoren der Gesellschaft zu entscheiden. Das wird der erst für das Jahr 2010 vorgesehen und wir haben noch Punkt sein, über den der Bundestag zu entscheiden hat. sieben weitere Jahre vor uns, in denen wir erfolgreich Ich habe vorhin gesagt, um auf Ihren Zwischenruf zu Politik machen können. antworten, liebe Frau Dött: Die Bundesregierung wird Zunehmend zeigt sich, dass Klimaschutz eben nicht noch im Dezember nach der Anhörung der Verbände, die nur ein moralisches und ökologisches Erfolgsthema für zurzeit stattfindet, also noch vor Weihnachten, über die- Deutschland ist, sondern dass Klimaschutz auch ein sen Gesetzentwurf entscheiden und ihn Ihnen zuleiten. wirtschaftlicher Knüller für unser Land ist. Wir verkau- Wir werden ihn zustimmungsfrei gestalten. Wir werden fen weltweit die Technologien für Emissionsminde- ihn aber so gestalten, dass der Bundesrat in der Sitzung rung, für Energieeffizienz und für erneuerbare Ener- im Februar seine Stellungnahme dazu abgeben kann. Ich gien. In all diesen Bereichen sind wir seit 1998 vermute, es wird eine parallele Einbringung geben. Das Weltmarktführer geworden. Eine kleine Anlehnung an heißt, die Beteiligungsrechte des Bundestages und des die vorherige Debatte: Wenige Monate vor dem Regie- Bundesrates sind in vollem Umfang erfüllt. Insofern rungswechsel im September 1998 hatte der letzte Her- können Sie sich jeden Verdacht sparen, wir wollten die steller von Solarzellen das Land verlassen, weil die Po- Rechte des Parlaments einschränken. Wir sind in dieser litik der Vorgängerregierung aus CDU/CSU und FDP Frage sehr an Ihrer Kooperation und konstruktiven Hal- keine Grundlage mehr bot, hier mit der Herstellung von tung interessiert. Technologien für erneuerbare Energien Geld verdienen Vielen Dank. zu können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto sowie bei Abgeordneten der SPD) Solms) Außerdem werden die deutschen Firmen, die am Präsident Wolfgang Thierse: Emissionshandel teilnehmen werden, ab dem Jahr 2005 Kollege Lippold, Sie haben die Chance zur Reaktion, an Firmen in anderen EU-Ländern Emissionsrechte bitte. verkaufen dürfen, weil die Firmen in anderen EU-Län- dern ihre Klimaschutzvereinbarungen nicht eingehalten Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): haben. Klimaschutz ist damit zum Innovationsmotor für Herr Minister Trittin, ich habe Ihnen sowohl vorhin Deutschland geworden; gerade der Emissionshandel wie auch jetzt sehr aufmerksam zugehört und dabei ist zeigt dies. 6430 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Vizepräsident Dr. : jetzt über neue, noch ehrgeizigere Ziele für die Zeit nach (C) Herr Kollege Kelber, erlauben Sie eine Zwischen- 2010 nachzudenken. frage des Kollegen Grill? Durch den Verkauf von Klimaschutztechnologie und von Emissionsrechten wird der Emissionshandel für Ulrich Kelber (SPD): Deutschland zum wirtschaftlichen Gewinn. Vorausset- Ja, selbstverständlich. zung ist ein vernünftiges Emissionshandelssystem inner- halb der EU. Es ist vor allem wichtig – Herr Lippold hat Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dies angesprochen; dies ist ein Nachklapp aus einer Bitte, Herr Grill. Debatte der letzten Woche –, bei der Anrechnung von Billigstmaßnahmen im Ausland, die den Klimaschutz zu Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Hause ersetzen sollen, eine Obergrenze einzuhalten. Herr Kollege Kelber, Sie haben eben gesagt, dass vor Diese Obergrenze wollen CDU/CSU und wohl auch dem Regierungswechsel die letzten Solarzellenherstel- – wenn ich an den damaligen Applaus denke – die FDP ler das Land verlassen haben. Ist Ihnen bekannt, dass der streichen, obwohl sich alle Umweltgruppen, die meisten damalige Bundesforschungsminister Rüttgers sowohl in Wirtschaftsverbände, die Wissenschaft, die Mehrheit des Nordrhein-Westfalen, in Gelsenkirchen, als auch in Bay- Bundestages, die Gesamtheit des Bundesrates sowie die ern mithilfe von Bundesmitteln zwei Solarzellenfirmen Bundesregierung für die Beibehaltung dieser Ober- mit auf den Weg gebracht hat und bei der Grundsteinle- grenze aussprechen – und dies aus guten Gründen: Die gung anwesend war? Wie bewerten Sie die Tatsache, Aufhebung dieser Obergrenze wäre schlecht für den Kli- dass die alte Bundesregierung zwei Solarzellenfabriken maschutz und für unsere Wirtschaft. in Deutschland initiiert hat? (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ulrich Kelber (SPD): Denn dann könnten sich die Klimasünder in Europa, die Zunächst weiß ich, dass Jürgen Rüttgers der Minister bisher nichts getan haben, billig davonstehlen, anstatt für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie mit den gleichen Technologien arbeiten zu müssen, mit war, der als Erster in der Geschichte der Republik die denen wir unsere Erfolge an dieser Stelle erreicht haben. Mittel für diesen Etat gekürzt hat, was danach wieder ge- Auch diese Wahrheit gehört zur Debatte über den natio- ändert wurde. nalen Allokationsplan. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Aber Herr Man kann nach außen eine gewisse Beruhigung hin- Kelber, die Frage ist doch richtig, die er ge- sichtlich Ihres Planes signalisieren: Gott sei Dank haben ihn Ihre eigenen Parteifreunde im Bundesrat bereits ab- (B) stellt hat!) (D) gelehnt. Entscheidend ist aber die Frage, welchen Stand wir auf dem Weltmarkt im Jahre 1998 hatten und welchen Die nationalen Regeln des Emissionshandels be- wir heute haben. Damals lagen wir bei der Photovoltaik stimmt der nationale Allokationsplan: Welcher Sektor am Ende der Skala. Heute sind wir hinter den Japanern der Volkswirtschaft soll welche Verpflichtungen über- die Nummer zwei. nehmen? Mit welchen Klimaschutzprogrammen sind diese Ziele real hinterlegt? Welche Vorgaben erhalten die (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Weil diese einzelnen Branchen? Dabei muss man immer berück- Fabriken vor allem mit öffentlichen Mitteln gebaut worden sind!) sichtigen, welche Emissionsminderungen sie physika- lisch wirklich noch herausarbeiten können. Wie sieht Bei den anderen Technologien sind wir vorne. Der ent- nach Bedarfs- oder Effizienzgrad die Erstausstattung be- scheidende Punkt ist dabei: Es wird ein marktwirtschaft- troffener Anlagen aus? Wie wird mit dem Atomausstieg liches Instrument angewandt; die Investitionen tragen umgegangen? Wie sieht es mit einer Reserve aus? Wie nämlich heute die Unternehmen selbst. wird mit neuen Anlagen umgegangen, wie mit Stillle- (Beifall bei der SPD – Dr. Peter Paziorek gungen? Welchen Schutz bekommen getätigte Investit- [CDU/CSU]: Zu kurz gesprungen, Herr ionen? Kelber!) All das müssen wir am Ende im nationalen Allokati- Der Bundestag debattiert heute ausführlich über einen onsplan regeln. ganz bestimmten Aspekt des Emissionshandels: über (Birgit Homburger [FDP]: Nicht nur da! Das den nationalen Allokationsplan. Der Bundestag zeigt da- müssen wir auch im Gesetz regeln!) mit – das ist wichtig –, für wie wichtig er die Maßnahme des Emissionshandels im Rahmen des Klimaschutzes Damit wird der Klimaschutz Bestandteil von Börsenbe- hält; denn er ergänzt andere erfolgreiche Maßnahmen. wertungen und Bestandteil der Finanzrechnung von Ich nenne als Beispiele die Förderung der erneuerbaren Unternehmen. Energien, die Energieeinsparverordnung und die Öko- Wenn wir sagen, der Emissionshandel mache steuer. Deutschland zu einem wirtschaftlichen Gewinner, dann Wir können festhalten: Deutschland ist heute beim wird der nationale Allokationsplan natürlich darüber ent- Klimaschutz auf einem guten Weg. Wir werden alle in- scheiden, welche Branchen innerhalb Deutschlands zu ternationalen Vereinbarungen voll erfüllen. Dabei den Gewinnern gehören und welche Branchen besondere sollten wir uns nicht davon abbringen lassen, bereits Anstrengungen unternehmen müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6431

Ulrich Kelber (A) Deswegen muss der nationale Allokationsplan selbst- Vorschläge. Dann kann Herr Pfeiffer nicht noch einmal (C) verständlich im Parlament beraten und beschlossen 14 Minuten von einem Thema zum anderen springen, werden: seine Eckpunkte, die wichtigsten Regelungen. ohne einen einzigen eigenen Vorschlag vorzutragen. Dann muss Butter bei die Fische. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) An dieser Stelle gibt es aus meiner Sicht keinen Unter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schied zwischen den Meinungen von Abgeordneten der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Koalition und der Opposition. Vielen Dank, Herr Bun- Bei der Debatte über den nationalen Allokationsplan desminister, dass Sie klargestellt haben, dass die Kern- und die technischen Fragestellungen rund um den Emis- punkte des nationalen Allokationsplans, dass die wesent- sionshandel darf man nicht vergessen: Der Emissions- lichen Regelungen in einem Gesetz festgelegt werden, handel ist kein Selbstzweck. Er ist ein Mittel, um die das im Parlament beraten wird. Sie sind damit nicht nur Emission von Treibhausgasen zu reduzieren. Der Emis- der antragstellenden Opposition entgegengekommen, sionshandel soll den Innovationsmotor Klimaschutz un- sondern auch den eindringlichen Forderungen der Koali- terstützen. Der Emissionshandel sorgt dafür, dass An- tionsabgeordneten. strengungen und Investitionen für den Klimaschutz sich (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Stimmen Sie noch schneller wirtschaftlich amortisieren. Dadurch be- jetzt unserem Antrag zu?) kommen verfügbare effiziente Technologien bessere Marktchancen. Dass die Regelungen des nationalen Allokationsplans als Gesetz diskutiert werden, hat aber nicht nur mit dem Ein einfaches Beispiel: Veraltete Kraftwerke werden Selbstverständnis des Parlaments zu tun. Die Diskussion durch den Emissionshandel für den Besitzer zu einer fi- über den nationalen Allokationsplan ist auch der Augen- nanziellen Belastung. Die Investition in neue, effizien- blick, wo im Klimaschutz einmal Butter bei die Fische tere Technologien lohnt sich. Also werden wir die muss. An dieser Stelle kann man sich nicht mehr hinter Modernisierung schneller bekommen als ohne Emissi- Sonntagsreden verstecken. onshandel. Das ist ein einfacher Vorteil, den man bele- gen kann. Die Klimaschutzvereinbarungen der Europäischen Union geben eine klare Obergrenze für die Emissionen Da der Emissionshandel aber auch langfristige Per- eines jeden Staates vor. Diese Verpflichtung muss auf spektiven öffnet, wird sich die Entwicklung neuer Tech- Sektoren aufgeteilt werden: private Haushalte, Wirt- nologien beschleunigen – vorausgesetzt, Deutschland schaft, Verkehr, Energieerzeugung. Die vom Emissions- und die Europäische Union setzen sich auch für die Zeit handel betroffenen Anlagen bekommen weitere Redukti- nach 2010, nach 2012 anspruchsvolle Klimaschutzziele. (B) (D) onsziele vorgegeben; die anderen Sektoren müssen dann Mit diesen neuen Technologien könnten wir erreichen, den Rest erfüllen. Damit das zu einem echten Ergebnis dass über Energieeinsparungen und den Ausbau erneuer- führt, müssen die Staaten ihre nationalen Allokations- barer Energien die Strommenge ersetzt wird, die bis pläne von der Europäischen Union sozusagen genehmi- 2020 durch den notwendigen Ausstieg aus der Atom- gen lassen. Hinter den Zielen müssen auch reale Pro- energie wegfallen wird. Die Modernisierung des Kraft- gramme stehen: kein Wolkenkuckucksheim, kein „Wir werksparks und ein klimafreundlicherer Verkehr ermög- haben doch vor“, kein „Wir wollen doch fördern“, son- lichen weitere Emissionsminderungen. dern ganz konkrete Programme, die bewertet werden können. Zwei Punkte, die in der Energiedebatte fast schon wieder in Vergessenheit geraten sind, nämlich „Nega- Damit wird die Luft für die Klimasünder in der Euro- watt statt Megawatt“ und Least-Cost-Planning, wer- päischen Union dünner. Diese Verpflichtung zu konkre- den mit dem Emissionshandel zu einer Renaissance fin- ten Programmen und Zahlen hat aber auch für Deutsch- den. Sie waren gute Instrumente und sind in einer rein an land Folgen. Jede Tonne CO2, die nicht in Industrie und Betriebskosten – nicht volkswirtschaftlichen Kosten – Energieerzeugung eingespart werden soll, müssten pri- orientierten Debatte fast in Vergessenheit geraten. vate Haushalte und Verkehr zusätzlich erbringen. Schutzzäune, die die Opposition für bestimmte Indus- Voraussetzung für diese positive Vision von einer trien und Energieerzeuger aufstellen will, führen zu energieeffizienten Zukunft sind weitere ambitionierte Mehrbelastungen anderer Unternehmen und der privaten Ziele im Klimaschutz für die Zeit nach 2010. Nur wenn Haushalte. die Marschrichtung klar ist, kann die Effizienzrevolution (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch kommen. Wir brauchen quantitative Ziele für die Jahre 2020 und 2050 und auch für das Jahr 2100. Des- Wer den Vorschlag der Bundesregierung zur Auftei- wegen ist es richtig, sich eine Emissionsminderung bei lung auf die Sektoren und Branchen ändern will, muss den Treibhausgasen um 40 Prozent bis zum Jahre 2020 sagen, mit welchen Mitteln er das tun möchte und wen er vorzunehmen, wenn sich gleichzeitig die EU auf eine mehr als vorher belasten will. Das ist das Schöne für die Senkung um 30 Prozent einlässt. Es ist keine Zeit, bis Koalition: Für die Opposition ist das Ende der Worthül- 2010 abzuwarten. Es ist aber der neue Trend der Opposi- sen in der Klimaschutzdebatte gekommen. Bisher haben tion, zu sagen: Wir warten einmal ab. Klare Vorgaben Sie nämlich einfach alle konkreten Maßnahmen abge- zum richtigen Zeitpunkt sind die beste Methode, die Ef- lehnt. Jetzt kommt diese neue Pflicht dazu. Ablehnen fizienz aus der Industrie, aus den privaten Haushalten reicht nicht mehr. Jetzt braucht die Opposition eigene und aus der Forschung herauszukitzeln. 6432 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Ulrich Kelber (A) Wir sind in der Lage, die Emissionen bis zum Jahre Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) 2050 um 80 Prozent zu reduzieren. Wir sind in der Lage, Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von noch in diesem Jahrhundert vollständig auf eine Solar- der FDP-Fraktion. wirtschaft umzusteigen. Das ist nicht nur ökologisch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vernünftig. Spätestens seit dem Bericht der Enquete- der CDU/CSU) Kommission wissen wir, dass dies auch wirtschaftlich für Deutschland eine riesige Chance bietet: neue Pro- dukte, neue Dienstleistungen und damit auch neue Jobs Birgit Homburger (FDP): durch den Klimaschutz. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über ein ganz zentrales Instrument des (Beifall bei der SPD) Klimaschutzes: über den Emissionshandel und damit Für diese Ziele brauchen wir einen funktionierenden verbunden über den nationalen Allokationsplan. Am Be- Emissionshandel, aber auch ergänzende Maßnahmen, so ginn einer solchen Debatte steht immer die Frage nach etwa den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Zielen. Herr Kelber, Sie haben völlig Recht, wenn Sie Hier haben wird die Weltmarktführerschaft gewonnen sagen, wir müssten uns ehrgeizige Ziele setzen. Ich und die lassen wir uns auch nicht wieder nehmen. möchte Sie aber auf eines hinweisen: Wir, die FDP- CDU/CSU-Koalition, haben uns in der Klimapolitik ehr- Auch im Verkehrsbereich müssen wir weitere Fort- geizige Ziele gesetzt und damit die Klimapolitik in schritte erzielen. Wir sind das erste Industrieland, das es Deutschland angeschoben. in den letzten drei Jahren geschafft hat, den Trend hin zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) immer mehr CO2-Emissionen im Verkehr zu stoppen und umzudrehen. Jetzt aber kommt die große Herausfor- Ich möchte Ihnen sehr deutlich sagen: Wir halten am derung durch die EU-Osterweiterung mit dem zusätzli- nationalen Emissionsminderungsziel von 25 Prozent chen Güterverkehr auf uns zu. Gerade in diesem Zusam- bis zum Jahre 2005 fest. menhang ist es eine Ungeheuerlichkeit, dass sich die (Ulrich Kelber [SPD]: Mit welchen Maßnah- europäischen Automobilhersteller von ihrer Selbstver- men unterlegt?) pflichtung zum Klimaschutz verabschieden wollen. Nach meiner Information stehen an der Spitze übrigens Wir halten auch am europäischen Klimaschutzziel und die deutschen Automobilbauer. am europäischen Burden-Sharing fest. Sie können sich nicht hier hinstellen und en passant sagen: Dieses Ziel (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird erreicht, deswegen setzen wir jetzt neue Ziele. Sie (B) DIE GRÜNEN) müssen zur Kenntnis nehmen, dass Ihnen das Deutsche (D) Institut für Wirtschaftsforschung mehrfach – zuletzt in Wenn diese Selbstverpflichtung nicht eingehalten diesem Jahr – deutlich gesagt hat, dass Sie das nationale wird, muss aus meiner Sicht eine gesetzliche Obergrenze CO2-Minderungsziel nicht erreichen werden. für den Flottenverbrauch her. Wenn sich die Automobil- industrie von dem Klimaschutzziel verabschieden will, (Beifall bei der FDP) können wir das nicht akzeptieren. Wir können die bisher Bevor Sie über neue Ziele reden, reden Sie erst ein- im Verkehrsbereich erzielten Erfolge beim Klimaschutz mal darüber, wie Sie die jetzigen Ziele erreichen wollen. nicht wieder zunichte machen lassen. Da ist noch sehr viel zu tun. Angesichts dessen kann man nur feststellen, dass Sie die ganze Diskussion und (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der vor allen Dingen die Notwendigkeit, dafür in Deutsch- Abg. Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE land Regelungen zu schaffen, schlicht verschlafen ha- GRÜNEN]) ben. Für die Zeit nach 2010 müssen wir uns um neue inter- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nationale Ziele im Klimaschutz bemühen. Es reicht nicht, allein nationaler Vorreiter zu sein. Eine stärkere Wir haben im Deutschen Bundestag den Emissions- Einbeziehung der Schwellen- und Entwicklungsländer handel mehrfach diskutiert, nicht aber auf Antrag von ist nur dann möglich, wenn wir im eigenen Land mit gu- SPD und Grünen und auch nicht deswegen, weil diese tem Beispiel vorangehen. Dafür sind ein konsequenter glorreiche Bundesregierung irgendetwas vorgelegt ge- nationaler Allokationsplan und ein funktionierendes habt hätte; wir haben über diese Fragen im Wesentlichen Emissionshandelssystem eine gute Voraussetzung. Wir deshalb diskutiert, weil die FDP-Bundestagsfraktion brauchen allerdings auch andere Maßnahmen. Für diese mehrere Anträge dazu vorgelegt hatte. Daher werden wir anderen konkreten Maßnahmen wünsche ich mir das das Emissionshandelsgesetz, das Sie jetzt im Deutschen gleiche Engagement der Opposition wie beim nationalen Bundestag vorlegen wollen, ganz intensiv und kritisch Allokationsplan und beim Emissionshandel. begleiten. Wir nehmen uns das Recht dazu heraus, weil wir die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag sind, Vielen Dank. die schon vor Jahren einen Antrag vorgelegt hatte, in dem vorgeschlagen wurde, wie die Selbstverpflichtung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der deutschen Wirtschaft beim Klimaschutz mit dem DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Peter internationalen Emissionshandel verknüpft werden Paziorek [CDU/CSU]) kann. Damals haben wir Sie aufgefordert, beizeiten die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6433

Birgit Homburger (A) nötigen Regelungen zu schaffen. Sie haben es nicht ge- genstilllegungen und Ersatzanlagen, über die Kosten- (C) tan. Deswegen sind wir jetzt unter Druck und in Schwie- pflichtigkeit der Zuteilung und ihre nachträgliche Kor- rigkeiten. rektur sowie ihre Überführung in die nachfolgende Zuteilungsperiode und vieles andere mehr. Ich habe dies (Ulrich Kelber [SPD]: Wir sind nicht in deswegen hier aufgezählt, weil ich deutlich machen will, Schwierigkeiten!) dass es sich um die Festlegung einer Fülle technischer Trotzdem werden wir uns jetzt daran beteiligen und uns Details handelt. Hier wäre nach meiner Meinung die das Recht herausnehmen, Herr Kelber, an den Stellen, an Rechtsverordnung der Weg, der für solche Dinge aus denen die Vorlage nichts taugt, es auch deutlich zu ma- guten Gründen üblicherweise gewählt wird. chen. Deshalb schlagen wir vor, diese Details auch im Rah- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich men einer Rechtsverordnung zu regeln. Das muss aber Kelber [SPD]: Und Gegenvorschläge zu ma- noch lange nicht am Parlament vorbeigehen. Wir haben chen!) sowohl im Abfallrecht als auch nach dem Bundes-Im- missionsschutzgesetz heute schon die Möglichkeit, bei Es spricht Bände, dass der Herr Bundesminister Verordnungen eine Zustimmungspflicht von Bundestag Trittin in dieser Debatte nicht ans Rednerpult tritt. Er hat und Bundesrat vorzusehen. Dafür haben wir beispiels- sich hier in einer kurzen Erklärung dahin gehend geäu- weise in § 48 b Bundes-Immissionsschutzgesetz ein Ver- ßert, er wolle die Rechte des Parlaments schon irgend- fahren festgelegt, das hier Anwendung finden könnte. wie wahrnehmen. Wenn man aber die Rechte des Parla- Wir wollen also eine Beteiligung des Parlaments, aber es ments wahrnehmen will, meine Damen und Herren von muss nicht unbedingt im Rahmen eines Gesetzes sein, der Koalition, dann muss man den Gesetzentwurf recht- wie es von der CDU/CSU vorgeschlagen wurde. zeitig vorlegen. Sie wissen, dass bis Ende dieses Jahres das Gesetz beschlossen sein muss. Bis heute ist es weder (Beifall bei der FDP) im Kabinett beschlossen noch dem Deutschen Bundes- tag vorgelegt. Wir sollen bis Ende März nächsten Jahres In höchstem Maße ärgerlich ist in diesem Zusammen- den Allokationsplan zu Ende beraten haben. Dafür fehlt hang, dass die Bundesregierung nach wie vor kein Ge- aber die Grundlage, das Gesetz. Deswegen sage ich Ih- setz zum Emissionshandel eingebracht hat. Wir sind nen in aller Deutlichkeit: Sorgen Sie dafür, dass die Vor- spät, eigentlich schon zu spät dran. Die Wirtschaft wird lage schnell eingebracht wird, damit wir wirklich genug sich nicht mehr darauf einstellen können. Ein großes Zeit haben, darüber zu diskutieren. Nur dann werden die Problem ist vor allem, dass im Referentenentwurf eines Rechte des Parlaments tatsächlich wahrgenommen Emissionshandelsgesetz, der bekannt wurde – ein Ge- werden können. setzentwurf liegt dem Deutschen Bundestag noch nicht (B) vor –, eine Regelung zu wesentlichen Fragen bisher (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schlichtweg fehlt. Der nationale Allokationsplan ist das Herzstück die- Ich nenne einige Beispiele: Es muss eine Regelung in ses Emissionshandels. In ihm geht es um die Anfangs- das Emissionshandelsgesetz aufgenommen werden, die zuteilung von Emissionsrechten; insofern ist er für die die Vorausleistungen der deutschen Wirtschaft im Kli- Anlagen betreibenden Unternehmen von zentraler, he- maschutz bei der Zuteilung der Emissionsrechte berück- rausragender Bedeutung. Daher ist die Feststellung in sichtigt. Wir brauchen eine Regelung der Frage, wie dem Antrag, den wir heute diskutieren, zutreffend, dass Neuanlagen, die nach 2005 in Betrieb gehen, behandelt die erforderlich werdende staatliche Zuteilung von werden sollen. Es bedarf im Gesetz auch einer grund- Emissionsrechten sowohl die Freiheit der Berufsaus- sätzlichen Regelung der Frage einer nationalen Reserve übung als auch das Grundrecht auf Eigentum wesentlich bei den Emissionshandelsrechten. Das sind die Punkt an berührt. Die Forderung, bei so weit reichenden Eingrif- denen sich entscheidet, ob das Emissionshandelsgesetz fen die Parlamente maßgeblich einzubeziehen, ist mei- ein Erfolg oder ein Desaster werden wird. Regelungen nes Erachtens selbstverständlich. Das betrifft sowohl die hierzu fehlen zurzeit und sind auch nicht vorgesehen. Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages als auch Wir fordern, sie aufzunehmen; Art. 80 des Grundgeset- die der Länderkammer, des Bundesrates. In diesem zes erfordert das geradezu. Der Referentenentwurf von Punkt teilt die FDP die Einschätzung des vorliegenden Minister Trittin wird sowohl den rechtlichen Grundsät- Antrages. zen wie auch den inhaltlichen Notwendigkeiten in dieser Allerdings ist die Schlussfolgerung, die daraus gezo- Hinsicht in keiner Weise gerecht. gen wird, dass der nationale Allokationsplan als formel- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten les Gesetz rechtlich eigenständig ausgestaltet werden der CDU/CSU) solle, meines Erachtens nicht zwingend; darüber sollten wir noch einmal reden. Dabei ist es hilfreich, sich in Er- Bei der Ausgestaltung des Gesetzes ist natürlich auch innerung zu rufen, worum es bei dem nationalen Alloka- die Frage der Mitwirkungsrechte der Länder zu klä- tionsplan geht: um die konkrete Festlegung der Zutei- ren. Wir müssen darüber nachdenken, wer den Emissi- lungsmengen für jede einzelne der 4 000 bis 5 000 onshandel in Deutschland vollziehen soll, also ob es ei- Anlagen in Deutschland, um die Spezifizierung be- nen Zentralvollzug des Emissionshandels gibt oder einen stimmter Technologien, um die rechtsverbindliche Be- Vollzug, an dem die Länder beteiligt sind. Das ist eine schreibung von Tätigkeiten in Bezug auf Neuanlagen Fachfrage, die sehr intensiv diskutiert werden muss. und Anlagenerweiterungen, um Regelungen zu Anla- Denn es kann nicht sein – das sage ich an dieser Stelle 6434 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Birgit Homburger (A) ausdrücklich –, dass die Handelsrechte vom Bund verge- Wir unternehmen diese Anstrengung, weil Klima- (C) ben werden und die Länder den Vollzug vorzunehmen schutz eine der größten globalen Herausforderungen un- haben. Wenn es dann nämlich zu Streitigkeiten und wo- serer Zeit und ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit möglich zu Klagen kommt, sind die Länder die Beklag- ist und weil die Kosten unterlassenen Handelns im Kli- ten. Eine solche Konstruktion halte ich für nicht akzepta- maschutz wesentlich größer sein können, als wir alle er- bel und für unfair. warten. Das sind die Motive. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich freue mich auf die inhaltliche Diskussion über Wir unternehmen diese Anstrengung aber auch, weil Fachfragen. Ich hoffe, dass die Verantwortung, die hierbei wir glauben, dass ökologischer Strukturwandel ein besteht, von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag wichtiger Beitrag zur Lösung unserer wirtschaftlichen gleichermaßen wahrgenommen wird. Wir müssen dieses Probleme und der Beschäftigungsprobleme ist. Wir in Thema im Parlament beraten. Auch könnte das Parlament der Bundesrepublik, wir in Europa müssen zeigen, dass mal wieder einen Änderungsantrag formulieren. wirtschaftliche Prosperität auf der einen Seite und das Verfolgen ökologischer Ziele auf der anderen Seite Hand (Ulrich Kelber [SPD]: Das wäre schön!) in Hand gehen können. Dafür ist der Emissionshandel Das haben wir lange Zeit nicht mehr gemacht. Sie von ein ganz wichtiger Beitrag. Rot-Grün sind nämlich dazu übergegangen, alles, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Bundesregierung einbringt, im Schweinsgalopp sowie bei Abgeordneten der SPD) durchzuwinken, ohne darüber nachzudenken. Wir tun das übrigens auch, weil das ein Beitrag zur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Glaubwürdigkeit ist. Das knüpft ein wenig an das an, Das können wir uns bei einer solch zentralen Frage nicht was Uli Kelber gesagt hat. Es geht natürlich darum, dass leisten. man auf dem internationalen Parkett bei den Klimaver- handlungen und anderswo wirklich nur dann glaubwür- Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass der dig agieren kann, wenn man seine Hausaufgaben erle- Emissionshandel ein Erfolg wird, wenn er entscheidend digt und zeigt, dass es geht. Dieser Zusammenhang ist zur Reduzierung von CO2-Emissionen in Deutschland ganz klar. und der Welt sowie zur Realisierung von Kostensen- kungspotenzialen im Klimaschutz beitragen soll. Wenn Bei aller Freundschaft zum CDM und zur Joint Imple- wir das schaffen, haben wir ein großes Ziel erreicht. Das mentation, also dem Recht, die Maßnahmen auch außer- (B) müssen wir aber auch erreichen; denn wenn dieses In- halb des Landes durchführen zu können, ist zu sagen: Es (D) strument durch Missmanagement dieser Regierung an ist schön und gut, dass man flexibel ist, wichtig ist aber, die Wand gefahren wird, dann stehen wir klimapolitisch dass wir zeigen, dass es geht, dass wir unsere technologi- ziemlich nackt da. sche und ökonomische Kompetenz in dieser Richtung weiterentwickeln und dass wir keinen Innovationsdruck Vielen Dank. aus dem Kessel herausnehmen, sondern ihn aufrechter- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) halten. Das ist der Sinn und Zweck des Emissionshan- dels. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Loske, und bei der SPD) Bündnis 90/Die Grünen. Ich komme zum Verfahren. Frau Kollegin Homburger, ich muss schon sagen: Das, was Sie sagen, ist einfach Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht richtig. Das Europaparlament hat im Juli in ab- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließender Lesung entschieden. Seit Oktober ist es in möchte mit einer Kritik an der Sprache beginnen, die an Kraft. Wenn ich es richtig sehe, haben wir jetzt Novem- uns alle gerichtet ist. Wenn man die Debatte verfolgt, ber. Das heißt, die Bundesregierung ist bei der Bearbei- dann hört man Begriffe wie Allokation, Innovation, Effi- tung rasend schnell. zienz, Grenzkosten, Mikroplan oder Makroplan. Wir müssen aufpassen, dass wir dieses Thema so darstellen, (Birgit Homburger [FDP]: Aber nicht in der dass die Öffentlichkeit es nachvollziehen kann. Vorbereitung!) Es ist allerdings ganz klar, dass wir ein Dilemma haben: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Die Exekutive muss handeln – es geht um die Erarbei- DIE GRÜNEN und der SPD) tung eines nationalen Allokationsplans –, ohne dass es Denn wenn es um Klimaschutz geht, ist es wichtig, zu dafür eine Grundlage gibt, nämlich ein Gesetz, legislati- erklären, warum wir diese Regelungen vorsehen und ves Handeln. Dieses Defizit werden wir sehr bald behe- welche Ziele wir damit verfolgen. Das darf man nicht ben. Ich gehe davon aus, dass das Kabinett im Dezember vergessen; denn sonst gleitet diese Diskussion in eine beschließen wird und dass wir uns, nachdem wir wieder Technokratendiskussion ab, die vielleicht nur eine Hand zusammengekommen sind, im Januar oder Februar mit voll Leute verfolgen kann, die aber niemanden wirklich dem Thema beschäftigen können. Insofern kann man noch erreicht. hier überhaupt nicht den Vorwurf erheben, das Verfahren Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6435

Dr. Reinhard Loske (A) werde verschleppt oder es sei zu langsam. Es ist ganz Ich komme jetzt zu einem Aspekt, der mir sehr wich- (C) wichtig zu sagen: Wir sind in time. tig ist. Ich glaube, dass der Emissionshandel ein wunder- barer Beitrag auch zum Bürokratieabbau ist, wenn wir Ich komme zu den Zielen. Bei dem Beitrag des Kolle- ihn richtig aufziehen; das ist ganz zentral. Beim Emis- gen Paziorek in der letzten Debatte habe ich eine ge- sionsschutzrecht und der ganzen Bürokratie können wir wisse Inkonsistenz festgestellt. Einerseits haben Sie ge- zu deutlichen Reduzierungen kommen, wenn wir in den sagt, wir brauchten endlich ein Konzept, das weit über Emissionshandel einsteigen; das muss man einmal sa- den Tag hinausweist, damit alle Investoren Planungssi- gen. Wir können die Ziele ökologische Effizienz und cherheit haben. Dazu kann ich nur sagen: Jawohl, das Bürokratieabbau gut miteinander verbinden. dauert aber; hierfür muss man eine Perspektive von 20, 30 oder auch 50 Jahren ins Auge fassen. Andererseits Beim Emissionshandel reduziert der Staat seine Rolle haben Sie beim Erneuerbare-Energien-Gesetz beklagt, im Prinzip darauf, die Ziele zu setzen und den Rahmen dass man sich auf gar keinen Fall Ziele über das Jahr vorzugeben. Innerhalb dieses Rahmens sind die Akteure 2010 hinaus vornehmen sollte. bei der Entscheidung, wie sie diese Ziele erreichen, voll- ständig frei. Der Staat kommt am Anfang, wenn er die (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Für die er- Emissionsrechte ausgibt, und am Ende vor, wenn er neuerbaren Energien!) schaut, ob die Ziele auch tatsächlich erreicht worden sind. All das, was dazwischen stattfindet, also Handel, Das passt einfach nicht zusammen, das ist nicht logisch. Zertifizierung und verschiedene Dienstleistungsaktivitä- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das passt ge- ten, sind neue Wirtschaftsaktivitäten, aus denen sich der rade zusammen!) Staat völlig heraushält. Ich glaube, das passt sehr gut in die aktuelle Debatte über Bürokratieabbau. Vor allen Deswegen sagen wir: Wir brauchen mittel- und lang- Dingen entstehen auch viele neue strategische Ge- fristige Ziele – zum Beispiel die Reduktion bis zum schäftsfelder. Jahre 2020 um 40 Prozent –, damit wir ein klares Inves- titionsfenster haben. Das ist der Korridor, in dem Inves- Ich komme jetzt zu dem Antrag der CDU/CSU-Frak- titionen getätigt werden können und auch willkommen tion. Ich kann ganz klar sagen: Zu 50 Prozent können sind. Das ist unsere Botschaft. wir ihm zustimmen und zu 50 Prozent nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Geben Sie und bei der SPD) sich doch einmal einen Ruck!) Wir können dem Antrag der CDU/CSU in dem Punkt Mit den langfristigen Zielen stehen wir keineswegs al- zustimmen, dass Sie ein transparentes Verfahren unter (B) (D) leine. Großbritannien hat sich vor kurzem das Ziel ge- größtmöglicher Beteiligung der interessierten Öffent- setzt, bis zum Jahre 2050 60 Prozent seiner Emissionen lichkeit fordern. zu reduzieren. Das ist ein ganz zentraler Punkt. Wir brauchen im Gesetz eine Festlegung der Ziele Ich gebe Ihnen allerdings Recht: Mit dem Verweis auf und der Prinzipien. Das unterstützen wir. Wir wollen vor morgen und übermorgen kann man nicht begründen, allen Dingen auch, dass die Umweltverbände in diesem weshalb man die Ziele von heute leider nicht erreichen Dialogprozess in angemessener Weise berücksichtigt kann. Wir müssen aufpassen, dass wir uns kurz-, mittel- werden; denn sie besitzen sehr große Kompetenz. Da- und langfristige Ziele setzen. Wenn wir bestimmte Ziele, rum geht es uns. Dazu können wir uneingeschränkt Ja wie zum Beispiel das 2005-Ziel, nicht erreichen – es sagen. sieht ja danach aus, dass wir vielleicht bei 20 Prozent und nicht bei 25 Prozent liegen werden –, dann müssen Den Teil jedoch, in dem Sie fordern, dass der natio- wir genau analysieren, warum das so ist und was geän- nale Allokationsplan im Parlament behandelt werden dert werden muss, damit wir den Zielen näher kommen. soll, können Sie nicht ernst meinen. Es geht hier um Emissionsrechte für 5 000 Anlagen. Wir sind keine Be- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der amte, sondern Politiker. Unser Werkzeug ist das Argu- CDU/CSU und der FDP, um einmal ganz ehrlich zu sein: ment, nicht der Rechenschieber. Darüber möchte ich hier So ganz glaube ich Ihnen Ihre Krokodilstränen bezüglich im Parlament im Einzelnen wirklich nicht diskutieren. des Verfehlens des 25-Prozent-Ziels nicht. Sie haben gegen die ökologische Steuerreform, gegen das Erneuer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bare-Energien-Gesetz, gegen das Marktanreizprogramm Ich komme kurz zu einzelnen Punkten. Erstens. Un- für erneuerbare Energien, gegen das 100 000-Dächer- sere Position ist, angemessene absolute Reduktionsziele Programm bei der Photovoltaik, gegen das Altbausanie- kurz- und mittelfristig umzusetzen. Ich habe schon ge- rungsprogramm und gegen das KWK-Gesetz gestimmt. sagt, es muss erkennbar sein, dass wir uns auf dem rich- Das passt nicht zusammen. Man kann nicht einerseits tigen Weg befinden. über das Verfehlen des Ziels klagen und andererseits im- mer fordern: weniger, weniger, weniger. Sie haben hier Zweitens. Wir erwarten von der Industrie, dass sie die eine echte Glaubwürdigkeitslücke. Das haben Sie bei der zugesagte Reduktion des Kohlendioxidausstoßes von letzten Wahl ja auch gemerkt. 45 Millionen Tonnen bis 2010 gegenüber 1998 tatsäch- lich erbringt. Wir haben immer klar gemacht: Die Indus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trie muss sich keine Sorgen machen. Im Rahmen des und bei der SPD) Emissionshandels verlangen wir von der Industrie nicht 6436 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Reinhard Loske (A) mehr als das, was sie im Zuge der freiwilligen Selbstver- für den Klimaschutz, eine Währung für Kohlendioxid- (C) pflichtung in der ersten Verpflichtungsperiode bis 2010 emissionen. In wenig mehr als einem Jahr wird der euro- zugesagt hat. Wir halten unser Wort. Wir erwarten aber paweite Emissionshandel auch in Deutschland Wirklich- von der Industrie, dass auch sie ihr Wort hält. Das ist ein- keit. Die Einführung dieser neuen Klimaschutzwährung deutig. ist in ihren Auswirkungen durchaus mit der Einführung des Euro vergleichbar. Immerhin steht uns ein grundle- Es darf nicht zu einer Querabwälzung kommen. Die gender Systemwechsel bevor: vom traditionellen Ord- Industrie darf ihre Kosten nicht anderen aufbürden, so- nungsrecht hin zu einem marktwirtschaftlichen Steue- dass den privaten Haushalten und dem Verkehr überpro- rungsinstrument. portionale Kosten entstehen. Es muss schon eine ge- wisse intersektorale Gerechtigkeit herrschen. Dafür Starttermin ist der 1. Januar 2005. Bereits vorher, werden wir uns einsetzen. Wir erwarten von der Bundes- schon in fünf Monaten, hat die Bundesregierung der Eu- regierung, dass sie das berücksichtigt. ropäischen Kommission den nationalen Allokationsplan Drittens. Natürlich muss es einen Reservefonds ge- vorzulegen. Es ist also langsam an der Zeit, die Bürger ben; das ist völlig klar. Es wird hoffentlich neue Akteure und vor allem die Unternehmen darüber zu informieren, und neue Unternehmen geben. Aufgrund der Konjunktur was sie erwarten wird. Tatsächlich aber ist genau das und des Strukturwandels entstehen viele Unwägbarkei- Gegenteil der Fall: Es macht sich gerade bei der Bundes- ten. Insofern brauchen wir einen Reservefonds. Wir be- regierung und im Umweltministerium erschreckende trachten es jedoch nicht als Aufgabe des Staates, diesen Ahnungslosigkeit breit. Bisher hat das Umweltministe- Reservefonds bereitzustellen, sondern dieser muss aus rium lediglich einen Referentenentwurf für das Treibh- dem gesamten Emissionsbudget aufgebracht werden. ausgas-Emissionshandelsgesetz vorgelegt. Doch in die- Am Ende des Tages wird sowohl im Rahmen der EU- sem Gesetz steht nichts Substanzielles. Die wesentlichen Lastenteilung, des Burden Sharing, als auch des Kioto- Punkte werden auf den wenigen Seiten, die der Entwurf Protokolls abgerechnet, um zu sehen: Was haben wir insge- umfasst, nicht angesprochen. samt erreicht? Wir können nicht einfach Geld zur Verfü- Der Gesetzentwurf trifft keine Aussage zur Berech- gung stellen; das geht nicht. Ich möchte in diesem Zusam- nung der zuzuteilenden Zertifikatmengen, keine Aus- menhang einen berühmten Oggersheimer Philosophen sage zur Einbeziehung von Vorleistungen, keine Aus- zitieren: Entscheidend ist, was hinten herauskommt. Ge- sage zur Kostenpflichtigkeit der Zuteilung, keine nau das ist die Frage. Aussage zu Anlagenerweiterungen, keine Aussage zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Anlagenstilllegungen, des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Was sagt er (B) Wichtig sind für uns auch Privilegien für die Kraft- denn überhaupt?) (D) Wärme-Kopplung; denn sie ist mit die effizienteste keine Aussage zu Neuanlagenzulassungen und auch Form der Energieerzeugung. Das heißt, wir wollen bei keine Aussage zu Reservebildungen und Puffern. der Kraft-Wärme-Kopplung eine wie auch immer gear- tete Form der Bonuszuteilung. Für die Kernenergie leh- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Steht über- nen wir eine pauschale Kompensation ab. Es kann nicht haupt was drin?) sein, dass den Unternehmen der Kernenergieausstieg ex- tra bezahlt wird. – Wenig. – Stattdessen finden sich in nur 23 Paragraphen insgesamt zehn Verordnungsermächtigungen. Vor allen Dingen wollen wir – das sagte ich schon – den Emissionshandel mit Bürokratieabbau verbinden, also (Zuruf von der CDU/CSU: Oh, sehr gut!) weniger Ordnungsrecht und mehr moderne, effiziente Auch das Herzstück der nationalen Umsetzung, die Umweltinstrumente mit einem größtmöglichen Frei- Regeln der Allokation, sollen in einer Rechtsverordnung heitsgrad für die Akteure zur Erreichung der Ziele. Ich und nicht in einem Gesetz stehen. Herr Trittin, ich ver- bin zuversichtlich, dass wir das schaffen werden. Ich stehe, dass Sie die alleinige Entscheidungsgewalt in Ih- freue mich, dass die Opposition hier Zusammenarbeit si- rem Haus behalten wollen. Sie umgehen damit aber die gnalisiert hat. Beteiligung des Parlaments. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese Praxis ist verfassungsrechtlich bedenklich. Nam- und bei der SPD) hafte deutsche Verfassungsrechtler stimmen mir in die- ser Aussage zu, zum Beispiel Professor Eckard Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rehbinder von der Universität Frankfurt. Es besteht die Das Wort hat jetzt die Kollegin Marie-Luise Dött von Gefahr, dass der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz der CDU/CSU-Fraktion. der Anlagenbetreiber beschränkt wird, wenn die Zutei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lungsentscheidung zunächst auf der Grundlage eines neten der FDP) Planes und erst später als Verwaltungsakt getroffen wird. Wichtiger im Zusammenhang mit unserem Antrag er- Marie-Luise Dött (CDU/CSU): scheint mir jedoch die Entscheidung der Bundesregie- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wer- rung, auch die Regeln der Zuteilung ohne Beteiligung des den bald eine neue Währung bekommen, eine Währung Parlaments festzusetzen. Es ist Ausdruck unseres Rechts- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6437

Marie-Luise Dött (A) staatssystems, dass solche wesentlichen Entscheidungen lich einig. Dieses Ziel werden wir erreichen. Das ist (C) durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber getrof- schon einmal ein gutes Symbol. fen werden. Dieser Gedanke liegt dem verfassungsrechtli- chen Bestimmtheitsgebot in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 des Darüber hinaus – das sehe ich ähnlich wie Herr Loske – Grundgesetzes zugrunde. sind wir uns darüber einig, dass das Parlament intensiv beteiligt werden muss. Eine andere Frage ist, ob wir gro- Der Grundsatz verlangt, dass sich das gesetzliche Pro- ßen Spaß daran finden, über 5 000 oder 6 000 einzelne gramm nach Zweck, Art und Umfang aus der Verord- Anlagen zu beraten und in das Feilschen über die Startli- nungsermächtigung ergibt. Um es einfacher zu sagen: zenzen einzutreten. Das wäre ziemlich abwegig. Ich Wenn ein Bürger in das TEHG schaut, muss er dem Ge- habe aber nicht den Eindruck, dass dies das Ziel Ihres setz entnehmen können, mit welcher Tendenz und mit Antrags ist, Herr Dr. Paziorek. welchem Inhalt das Bundesministerium für Umwelt von der Befugnis Gebrauch machen kann, den nationalen Al- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein!) lokationsplan zu erstellen. Wenn das der Fall wäre, dann müssten wir darüber strei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten. Denn es entspricht nicht dem, was wir im Bundestag mit der Klimapolitik beabsichtigen. Unter diesem Gesichtspunkt birgt die Verlagerung der Regelungsgewalt auf die Exekutive zweierlei Probleme. Bei der Klimapolitik handelt es sich – das haben schon Zum einen kommt der angesprochene Systemwechsel im viele Redner festgestellt – um eine sehr langfristige Auf- TEHG nicht mit hinreichender Deutlichkeit zum Aus- gabe. Sie erfordert eine größere Gemeinsamkeit und ei- druck. Zum anderen ist aus dem Gesetzentwurf nicht zu nen stärkeren Willen zur Gemeinsamkeit, als es bisher erkennen, wie die Frage der Zuteilung der Zertifikate vielleicht zum Ausdruck gekommen ist. Unseren Enkeln durch den Verordnungsgeber angegangen werden soll. wird es ziemlich egal sein, wer im Jahr 2003 im Bundes- Das Gesetz lässt also völlig offen, wie der nationale Al- tag die schönere Rede gehalten hat. Es wird ihnen aber lokationsplan aussehen soll. Die zentralen Fragen der sehr darauf ankommen, was in der Praxis wirklich ge- Erstzuteilung, der Behandlung von early actions und des schieht. Marktzugangs für Neuanlagen sind in dem Entwurf zum In einem solchen Zeitraum wechseln auch schon ein- TEHG nicht hinreichend bestimmt. mal die Mehrheiten. Man sollte nicht darauf bauen, dass Da keine aussagekräftigen Kriterien genannt werden, sich eine bestimmte Doktrin 50 Jahre lang hält. Insofern ist nicht erkennbar, in welcher Richtung die Regelung ist auch Flexibilität erforderlich. durch das Umweltministerium erfolgen soll. Dabei ent- scheidet der nationale Allokationsplan über Wohl und Ich sehe den eigentlichen Charme des Emissionshan- (B) (D) Wehe der betroffenen Unternehmen. Er legt fest, wel- dels darin, dass der Markt hinsichtlich der höchsten Effi- ches Unternehmen wie viele Zertifikate bekommt. Da- zienz immer wieder neu justiert werden kann. Es sind mit werden den Betrieben wirtschaftliche Entfaltungs- nicht ständig neue Entscheidungen notwendig. Wenn ich möglichkeiten direkt zugestanden oder aber auch es richtig verstanden habe, liegt die Logik des bisherigen versagt. Referentenentwurfs zum Teil darin, Frau Dött, dass nicht alles von vornherein festgelegt wird. Wir fordern Sie daher auf, die wesentlichen Fragen der nationalen Ausgestaltung nur mit Beteiligung des Parla- (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Aber die Un- ments zu treffen. Sie, Herr Minister Trittin, scheinen auch ternehmen brauchen Planungssicherheit!) so langsam zu dieser Einsicht zu kommen. Der von der – Für die Planungssicherheit ist der mit der Senkung der Rechtsprechung entwickelte Wesentlichkeitsgrundsatz Emissionen auf 846 Millionen Tonnen CO2 eingezogene verpflichtet Sie dazu. Verlagern Sie die wesentlichen Ent- Deckel notwendig. Der Markt erlaubt keine wirkliche scheidungen nicht auf die Verordnungsebene, sondern ge- Planungssicherheit; das ist der Sinn der Marktwirtschaft. stalten Sie den nationalen Allokationsplan als formelles Gesetz! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Müller [Düsseldorf] Ich bin gespannt auf Ihren Gesetzentwurf, den Sie für [SPD]: Eben!) Dezember angekündigt haben. Aber erlauben Sie mir, in dieser Sache sehr skeptisch zu sein. Darüber kann man sich nicht beim Ministerium bekla- gen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bin aber sehr froh darüber, dass zum Beispiel Herr Lippold die Festlegungen durch das Kioto-Protokoll und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die EU-Richtlinie ausdrücklich begrüßt hat, dass sich Das Wort hat jetzt Herr Kollege Professor Ernst Herr Paziorek in der Diskussion zum vorhergehenden Ulrich von Weizsäcker von der SPD-Fraktion. Tagesordnungspunkt zum Anwalt der erneuerbaren Energien gemacht hat – das ist sehr erfreulich – und dass Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD): Frau Homburger die Rolle der FDP bei der Entwicklung Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! des Grundgedankens des Emissionshandels herausge- Ich suche zunächst einmal nach den gemeinsamen Punk- stellt und die Notwendigkeit der Effizienztechnologien ten. Das heutige Beratungsziel ist die Überweisung an und – im Zusammenhang mit den erneuerbaren Ener- die zuständigen Ausschüsse. Darin sind wir uns sicher- gien – auch der Speichertechnologien betont hat. Ich 6438 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (A) habe den Eindruck, dass es einen breiten Spielraum für che, die in Deutschland einiges Ansehen genießt, still- (C) eine Einigung gibt. schweigend von einer Selbstverpflichtung verabschiedet. Das ruft den Gesetzgeber geradezu auf den Plan, nun Konkret werden wir den Antrag in den zuständigen endlich feste Rahmenbedingungen – auch um der Pla- Ausschüssen einschließlich des Umweltausschusses be- nungssicherheit willen – zu setzen; denn wir können es raten. Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Beratun- uns nicht leisten, noch in zehn Jahren eine Dinosaurier- gen zu einer Stärkung des Parlaments in den Grundsatz- automobilflotte und entsprechende Gebäude zu haben. fragen führen. Wir müssen jetzt in die Energie sparende Technologie Der Emissionshandel ist insgesamt ein Novum. Das einsteigen. hat Frau Dött sehr zutreffend dargestellt. Gleichzeitig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stehen wir unter einem von außen erzeugten enormen DIE GRÜNEN) Zeitdruck. Das impliziert für den Gesetzgeber und das Ministerium, sich zunächst pragmatisch auf das zu be- Ich freue mich sehr auf die Debatte über den im schränken, was wenigstens einigermaßen einfach und Grundsatz sehr vernünftigen Antrag der CDU/CSU- durchschaubar ist. Darin liegt der Sinn des nationalen Fraktion auf parlamentarische Beteiligung an der Erar- Allokationsplanes, den auch die anderen europäischen beitung eines nationalen Allokationsplans. Ich bin sehr Länder erstellen müssen. Das stellt eine in pragmatischer erfreut und auch beruhigt über die Auskunft des Herrn Hinsicht unvermeidliche Selbstbeschränkung auf einen Ministers, dass er selbstverständlich das Parlament, wie Bereich des Klimaschutzes dar, in dem man es mit weni- es sich gehört, im Zusammenhang mit der Ermächtigung gen großen Akteuren zu tun hat. 5 000 Akteure sind rela- für eine Verordnung in die Beratungen über den Entwurf tiv wenig. eines Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes einbezie- hen will. Auf die Dauer wird aber der Klimaschutz nicht kosten- günstig möglich sein, wenn nicht auch die Millionen von Vielen Dank. kleinen Akteuren berücksichtigt werden, die bisher nichts (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von einer Verwirklichung des nationalen Allokations- DIE GRÜNEN) planes haben. Es muss den Bundestag auf die Dauer inte- ressieren, wie wir den Strukturwandel über die großen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Akteure hinaus ausdehnen und den Preis, der den CO2- Emissionen jetzt zugewiesen wird, transparent machen Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Petzold von der können. Das muss zum Teil mit anderen Instrumenten als CDU/CSU-Fraktion. mit einem nationalen Allokationsplan geschehen. Aber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) das muss jedenfalls im Visier der Energiepolitik sein. (D) Heute früh ist schon darauf hingewiesen worden, dass Ulrich Petzold (CDU/CSU): wir in diesem Jahrzehnt vor grundlegenden energiepoli- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- tischen Entscheidungen stehen und dass es in den kom- men und Herren! Leider sind die Vorstellungen der Bun- menden Jahren – vielleicht anderthalb Jahrzehnten – not- desregierung zur Umsetzung eines nationalen Emissions- wendig sein wird, etwa 40 000 Megawatt der heutigen zuteilungsplanes – um das einmal so auszudrücken – noch Kraftwerkskapazität zu ersetzen, weil zahlreiche sehr im Dunkeln und sorgen gerade in den neuen Bundes- Kraftwerke aus Altersgründen vom Netz genommen ländern für erhebliche Unruhe. Immer wieder werden werden müssen. Die entscheidende Frage ist, wie diese Fragen nach der Berücksichtigung von bereits erbrachten Kapazitäten ersetzt werden sollen. Eine Möglichkeit ist Emissionsminderungen, den so genannten early actions, – diese wird von den Kraftwerksbetreibern ständig und deren Vorhaltemöglichkeit an mich gerichtet. propagiert –, effizientere Kraftwerke, zum Beispiel Gas- Dampf-Kombinationskraftwerke, zu bauen. Hier ist die Wenn wir ohne Voreingenommenheit zurückblicken, Arena für den Emissionshandel nach dem nationalen Al- dann stellen wir fest: Die beträchtlichen Minderungen lokationsplan; das ist auch richtig so. beim CO2-Ausstoß, die Deutschland seit 1990 erreicht hat, wurden im Wesentlichen durch den schmerzlichen Nach meiner Vision können so aber nur 40 Prozent der Umbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern er- 40 000 Megawatt ersetzt werden. Weitere 20 Prozent kann bracht. man durch die Nutzung erneuerbarer Energiequellen abde- (Ulrich Kelber [SPD]: Richtig!) cken; auch das ist in der Zielsetzung. Die restlichen 40 Pro- zent sollten durch die Steigerung der Endnutzereffizienz Des Weiteren wurden dort Betriebe zum großen Teil erzielt werden, die bisher kaum im Gespräch ist. Das be- nach dem neuesten Stand der Technik errichtet, sodass trifft also die Haushalte und den Verkehr. Natürlich sind sie kaum noch über Minderungspotenziale bei Klima- die großen Energieverbraucher in Industrie und Gewerbe gasen verfügen. Durch eine restriktive Zuteilung von schon jetzt einbezogen. Wir müssen uns also zusätzlich Emissionsrechten würde in den neuen Bundesländern in eine andere große Arena begeben, wenn wir die ener- ein Zustand verfestigt, der dort eine selbst tragende Wirt- giepolitischen Entscheidungen dieses Jahrzehnts mit schaft auf Dauer verhindern und diese Länder zu dauer- Vernunft und einer langfristigen Zielsetzung angehen haften Subventionsempfängern machen würde. Aus die- wollen. ser Situation würden sie nicht wieder herauskommen. Ich glaube, es war Herr Kelber, der darauf hingewie- Es liegt bei der Zuteilung von Emissionsrechten daher sen hat, dass es nicht angeht, dass sich eine große Bran- im gesamtstaatlichen Interesse, die den Mitgliedstaaten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6439

Ulrich Petzold (A) von der Europäischen Union eingeräumten Ermessens- mindert haben, in ihrer Fähigkeit zum Wachstum ge- (C) freiräume zu nutzen. Diese Freiräume bestehen zum Bei- hemmt werden, indem sie für die Erweiterung ihrer spiel bei den als early actions bezeichneten Vorleistun- Produktion nicht den Zeitraum nutzen können, der für gen, bei einer für die wirtschaftliche Entwicklung sie wirtschaftlich am vorteilhaftesten ist. notwendigen Zertifikatsreserve und beim Banking, also (Beifall bei der CDU/CSU) einem Ansparen von Emissionszertifikaten. Ich hoffe, es wurde deutlich, dass wir Parlamentarier Das Gutachten von Professor Arndt von der Universi- genauso wie die betroffenen Bundesländer auf unserer tät Mannheim zeigt uns exemplarisch auf, wie weit wir Beteiligung an der Umsetzung der Richtlinie bestehen bei der Gestaltung dieser verteilungspolitischen Aspekte müssen; ansonsten werden wir in der Folgezeit nur den in unseren nationalen Gesetzen und Verordnungen gehen Reparaturdienst im wirtschaftlichen und sozialen Be- können, um Verwerfungen in unserer Wirtschaft zu ver- reich zu leisten haben. meiden. Danke schön. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Er greift unter anderem vier Problemfelder auf, auf de- neten der FDP) nen sich die Bundesregierung im Hinblick auf ihr weite- res Handeln anscheinend noch unschlüssig ist und auf denen sie in streitiger Diskussion mit den betroffenen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ländern steht. Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaele Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen. Erstens. Der Zeitpunkt, ab dem early actions als Vor- leistungen für den Klimaschutz angerechnet werden soll- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten, sollte sich eindeutig auf das Jahr 1990 beziehen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kanada Wie könnte die Bundesrepublik eine CO -Minderung be- 2 hat verkündet, dass es aufgrund von Naturkatastrophen zogen auf das Jahr 1990 abrechnen, wenn man dieses deutliche wirtschaftliche Einbußen hinnehmen musste. Jahr nicht gleichzeitig als Basisjahr ihres nationalen Al- Mit Naturkatastrophen waren Dürren, Stürme und Kata- lokationsplanes festlegte? strophen im Zusammenhang mit landwirtschaftlichen Zweitens. Professor Arndt fordert in seinem Gutach- Fehlplanungen gemeint. Auch uns in Deutschland haben ten geradezu einen Vertrauensschutz für early actions in- die Folgeschäden der Überschwemmungen und der folge der strikten Klimavorsorgeanforderungen in der Dürre getroffen. Diese Schäden sind wirtschaftlich keine Bundesrepublik an die Wirtschaft bereits seit Anfang der Peanuts mehr, sondern kommen uns mittlerweile richtig (B) 90er-Jahre. Eine Gleichstellung von Vorreitern und teuer zu stehen. (D) Nachzüglern im Klimaschutz verbietet sich danach sogar Wenn wir den Klimaschutz nicht ernst nehmen und in Anbetracht von Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Eine wenn wir das Anwachsen des Treibhauseffekts nicht be- Gleichbehandlung von Ungleichen würde jeden Vertrau- grenzen können, dann hat das tatsächlich weitreichende ensschutz und jede zukünftige Aktivität von Vorreitern wirtschaftliche Konsequenzen und kann auch Wirt- torpedieren. Auch bereits erfolgte Stilllegungen müssten schaftssysteme sehr stark gefährden. Deswegen ist Kli- als Klimaschutzvorleistungen anerkannt werden, wenn maschutz keine grüne Spielwiese – wir machen das Betreiber zukünftiger Stilllegungen mit ihren Zertifika- nicht, um Menschen zu ärgern –, sondern Klimaschutz ten handeln dürften. Im Zweifel müssten die Klima- ist eine objektive Notwendigkeit. schutzvorleistungen durch bereits erfolgte Stilllegungen einer Reserve der förderungsbedürftigen Länder zuge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN führt werden, die einer Ausstattung von Neuansiedlun- und bei der SPD) gen dient. Hier wird immer Planungssicherheit eingefordert, Drittens. Ich trete der Auffassung energisch entgegen, speziell im Emissionshandel, aber auch allgemein für die dass beihilferechtliche Bestimmungen einer Zuteilung Zukunft. Wer dies fordert, muss die Grünen unterstützen, bei early actions entgegenstehen. Diese Zuteilungen er- wenn sie sagen: Wir brauchen neue Klimaschutzziele folgen kostenlos und ohne Belastung des Staatshaushal- über das Jahr 2010 bzw. 2012 hinaus. Nur dann, wenn tes. Damit sind wesentliche Voraussetzungen für die Be- wir Klimaschutzziele festlegen, gibt es Planungssicher- wertung als Beihilfe nicht gegeben. Außerdem bedeutet heit. Ansonsten wird aufgrund der geschilderten objekti- die Einführung des Zertifizierungsmodells für ein Unter- ven Notwendigkeit, die sich Bahn brechen wird, jede nehmen nicht von vornherein einen Vorteil, sondern ist Regierung ruckartig handeln müssen und dann entsteht eher eine Belastung, die von uns nicht künstlich zu ei- das Gegenteil von Planungssicherheit. Wer Planungssi- nem Vorteil schöngeredet werden sollte. cherheit einfordert, der muss sich also auch dafür einset- zen, dass wir uns auf nationale und auf europäische Viertens. Ein Banking, also eine Übertragung von Klimaschutzziele über die jetzt bestehenden hinaus ver- Vorleistungen in eine nachfolgende Handelsperiode, ständigen. sollte für uns – da es für spätere Phasen zwingend zuge- lassen wird – auch für den Übergang von der ersten zur Die Basis dafür kann natürlich die objektive Notwen- zweiten Handelsperiode gelten. Es wäre unverständlich, digkeit sein. Die objektive Notwendigkeit ist, bis zum wenn Unternehmen, die ihre Emissionen durch die Mo- Jahr 2020 die Treibhausgasemissionen gegenüber dem dernisierung von Anlagen um mehr als zwei Drittel ge- Stand von 1990 um 40 Prozent zu reduzieren. 6440 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Michaele Hustedt (A) Über einen Eckpunkt haben wir vorhin schon disku- um eine zukunftsfähige Energieversorgung durchzuset- (C) tiert: Die erneuerbaren Energien sollen zukünftig 20 Pro- zen. Zusammen mit dem Energiewirtschaftsgesetz bil- zent der Energieversorgung sicherstellen. Es wurde da- den sie die drei zentralen Säulen einer zukünftigen Ener- rauf hingewiesen, dass es sehr notwendig ist, bis dahin gieversorgung. eine absolute Energieeinsparung von mindestens 10 Pro- zent durchzusetzen. Wenn wir aus der Atomkraft ausge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stiegen sein werden, wird für die fossilen Energieträger und bei der SPD) im Jahr 2020 ein Anteil von circa 70 Prozent bleiben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das bedeutet: Wenn wir ambitionierte Klimaschutz- Das Wort hat jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill von ziele durchsetzen wollen, dann müssen wir in dem Be- der CDU/CSU-Fraktion. reich eine drastische Effizienzsteigerung durchsetzen. Das entscheidende Instrument dafür ist der Emissions- handel. Jetzt müssen die Hälfte der Kraftwerkskapazitä- Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): ten in Deutschland und 200 000 Megawatt in der Euro- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- päischen Union ersetzt werden. Da muss der ren! Ich würde gerne die Gelegenheit nutzen, bevor ich Emissionshandel dafür sorgen, dass es im neuen Kraft- mich mit dem nationalen Allokationsplan und der Kli- werkspark zu drastischen Einsparungen von CO2 mapolitik im europäischen Kontext auseinander setze, kommt. Das ist auch möglich. Ersetzt man ein altes Koh- hier festzuhalten, dass Sie, Herr Kelber, meiner Frage lekraftwerk durch ein neues, kann man 30 Prozent CO2 ausgewichen sind. Ich möchte hier auch für die Öffent- einsparen. Ersetzt man ein altes Kohlekraftwerk durch lichkeit noch einmal deutlich machen, dass Ihre Behaup- ein Gaskraftwerk, kann man 50 Prozent CO2 einsparen. tung, dass Produzenten von Solarzellen vor dem Regie- Ersetzt man ein altes Kohlekraftwerk gar durch ein rungswechsel 1998 Deutschland den Rücken gekehrt Kraftwerk mit Auskopplung von Wärme, also durch ein haben, schlicht und einfach falsch ist. Kraftwerk, bei dem man die Wärme für die Stromerzeu- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Nein!) gung nutzt, dann kann man 80 bis 90 Prozent der CO2- Emissionen einsparen. Das heißt, das Ziel 40 Prozent Der damalige Minister Rüttgers hat nämlich noch kurz CO2-Reduktion, also Klimaschutz, und der Atomaus- vor der Wahl die Grundsteinlegung von zwei Solarzel- stieg sind miteinander vereinbar. lenfabriken begleitet. Wir brauchen eine Vielfalt der Technologien in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutschland. Wir brauchen Deutschland als Schaufens- neten der FDP – Dr. Peter Paziorek [CDU/ ter auch für den Export. Weltweit wird der Energiever- CSU]: Der kennt Gelsenkirchen nicht!) (B) brauch um 30 Prozent steigen. Angesichts dessen sind (D) Technologien gefragt. Es müssen moderne Technologien Weiterhin haben Sie, Herr Kollege Kelber, auf die Er- sein. Moderne Technologien sind Klimaschutztechnolo- folge der Klimaschutzpolitik in der Bundesrepublik gien. Da wollen wir alles im Einsatz haben: die Kraft- Deutschland abgehoben. Ich möchte Sie dabei auf fol- Wärme-Kopplung, die Brennstoffzelle, die Mikrotur- gende Dinge hinweisen: bine, die Blockheizkraftwerke und die gesamte Palette Erstens. An der Bilanz, die Sie jetzt vorlegen können, der erneuerbaren Energien. trägt die Klimaschutz- und Energiepolitik der Regierung Ein Problem wird sein, den Emissionshandel mit der Kohl und der CDU/CSU-FDP-Koalition einen erhebli- Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung zu verzahnen. chen Anteil. Auf gar keinen Fall darf es durch den Emissionshandel Zweitens. Die internationalen Vereinbarungen, die die eine Benachteiligung der Kraft-Wärme-Kopplung ge- Grundlage für Kioto bildeten, sind eine Folge der inter- ben. Was den Strom angeht, so sinkt der Effizienzgrad national engagierten Entwicklungs- und Umweltpolitik zwar etwas, insgesamt allerdings wird der Energieträger von Helmut Kohl, Klaus Töpfer und . optimaler ausgenutzt. Überhaupt nur auf diesen Fundamenten können Sie über Eine spezielle KWK-Regelung ist unabdingbar. Sie heutige Erfolge in Deutschland reden. Sie bilden die Ba- muss Lösungen bringen, ohne dass es zu einer Überfrach- sis dafür, dass es überhaupt eine international verbindli- tung des Systems kommt. Ein optimaler Weg wäre eine che Klimaschutzpolitik geben kann. Befreiungsregelung für den Brennstoffeinsatz, der der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Wärmeerzeugung zuzurechnen ist. Ob das im Rahmen rufe von der SPD) der EU-Richtlinie machbar ist, muss man überprüfen. – Ich sage das nur deswegen, weil Sie hier immer den Wir werden uns das Ergebnis des Emissionshandels Eindruck zu erwecken versuchen, die Ära der erneuerba- angucken und werden genau prüfen müssen, ob auch ein ren Energien und der Klimaschutzpolitik hätte 1998 be- ausreichendes Signal gesetzt wird, Kraft-Wärme-Kopp- gonnen. lung in diesem Land tatsächlich zu fördern. Wenn der Emissionshandel dazu nicht ausreicht, dann wird man (Ulrich Kelber [SPD]: Es geht um heutige Po- nachgelagert im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz zusätz- litik!) liche Anreize setzen müssen. Wenn Sie das nicht ständig wider besseres Wissen wie- Ich sage abschließend: Der Emissionshandel wird ne- derholten, bräuchte ich eine solche Bemerkung an dieser ben dem EEG zu einem zentralen Instrument werden, Stelle nicht zu machen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6441

Kurt-Dieter Grill (A) Drittens. Sie beklagen beredt die Haltung der europäi- sen an Ihren Ansprüchen und Versprechungen, jämmer- (C) schen Automobilwirtschaft und -industrie. Ich teile diese lich. Einschätzung und kritisiere sie auch. Vielleicht setzen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie aber an dieser Stelle einmal Ihren Autokanzler in Be- neten der FDP) wegung, der immer dann aufgetreten ist, wenn es darum ging, wirtschaftliche Belastungen von der Automobilin- Wir müssen uns über die Förderinstrumente unterhal- dustrie fern zu halten. Das ist meine herzliche Bitte. Sie ten. Die KfW-Programme werden nicht akzeptiert. haben ja alle Möglichkeiten dafür, wenn ich mir be- stimmte Habita des Herrn Bundeskanzlers anschaue. (Zuruf von der SPD: So ein Quatsch! – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zurufe von der SPD: Habita?) NEN]: Stimmt doch gar nicht! Das CO2-Min- derungsprogramm wird akzeptiert!) Viertens. Ich habe zwar eine Reihe von Argumenten für die Energiepolitik dieser Koalition und der Bundes- – Lieber Herr Loske, wir haben uns gerade, auch im Bei- regierung gehört, aber ein schlüssiges Konzept dazu, wie rat der Dena, über den Erfolg dieser Dinge unterhalten. der Ausstieg aus der Kernenergie ökonomisch ver- Denken Sie bitte auch an die Situation im Hausbau. Wir nünftig und CO2-neutral durchgeführt werden kann, ha- müssen über den Gebäudebestand reden – das will ich ben Sie auch heute hier nicht vorgetragen. Das können überhaupt nicht bestreiten – und sicherlich mehr tun, als Sie nämlich nicht. wir bis 1998 gemacht haben; das gebe ich freimütig zu. Die Versuche unserer damaligen Umweltgruppe, etwas (Beifall bei der CDU/CSU) mehr zu machen, waren nicht von Erfolg gekrönt. Aber In dieser Woche sind 17 Milliarden für die deutsche im Neubau setzen Sie – ich sage das nicht als Vorwurf; Steinkohle auf den Tisch gelegt worden. Frau Hustedt setzen wir, wenn Sie so wollen – die Energieeinsparver- hat hier über 70 Prozent fossile Kraftwerke – vorgestern ordnung nicht um. Nach den Untersuchungen zu diesem waren es noch 80 Prozent – geredet. Ich bin ja durchaus Bereich genügen maximal 40 Prozent der Neubauten der Meinung, dass das eine der Möglichkeiten ist, dem Anspruchsbereich von Wärmeschutzverordnung möchte dazu aber zwei Anmerkungen machen: Wenn und Energieeinsparverordnung. Deswegen müssen wir diese Kraftwerke den Anteil der Kernkraftwerke kom- über das Ganze noch einmal nachdenken. pensieren sollen, dann müssen Sie zunächst sagen, dass Wir haben über den Export gesprochen. Gerade in dadurch mehr CO2 ausgestoßen wird. diesen Tagen ist deutlich geworden, dass Ihre Exportpo- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- litik gescheitert ist. NEN]: Aber nein!) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wohl wahr! (B) (D) – Aber natürlich. – Weiterhin sollten Sie sich in dieser Wir konnten es nachlesen!) Bundesregierung dann dazu entschließen, gemeinsam Wir haben Ihnen von dieser Stelle aus gesagt, dass das, mit Nordrhein-Westfalen ein modernes, hocheffizientes was Sie planen, zu bürokratisch ist und nicht greift. Ich Kohlekraftwerk zu bauen. Das müssen wir ja überhaupt kann nur sagen: Wer will, dass erneuerbare Energien und erst einmal erproben, denn wir haben in Deutschland auf andere Technologien aus Deutschland Exportschlager diesem Sektor sozusagen einen Negativtrend, weil es in seien, der muss auch die Weichen dafür stellen, dass Deutschland keinen Kraftwerkshersteller mehr gibt. Wir diese in der Welt akzeptiert und gekauft werden. müssen daher erst einmal Technologien für hocheffi- ziente Kohlekraftwerke erproben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Hören (Beifall bei der CDU/CSU) wir noch was zum Thema Ihres eigenen An- Im Haushalt sind für die Forschung zur Energiegewin- trags?) nung aus Kohle nur 10 Millionen Euro vorgesehen. Das – Ich bin dabei, mich mit Ihren Argumenten auseinander steht doch in keinem Verhältnis zu den 17 Milliarden zu setzen, Herr Kelber. Wenn Sie das nicht gemerkt ha- Subventionen für die Steinkohle. ben, kann ich nichts dafür. Herr Minister Trittin sprach ja eben davon, dass seine (Ulrich Kelber [SPD]: Es war ja Ihr eigener Energiepolitik auf drei Säulen basiere: erneuerbare Antrag!) Energien, Einsparungen und Effizienzsteigerung. Ich – Zu diesem Antrag ist hier vieles gesagt worden. Ich will mich an der Stelle gar nicht mit der Frage der erneu- setze mich mit Ihren Argumenten auseinander. Aber erbaren Energien auseinander setzen, denn die Defizite vielleicht können Sie das ja nicht ganz begreifen. Ihrer Politik liegen in den Punkten Effizienzsteigerung und Energieeinsparung. Das können Sie unter der Hand (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie ha- von jedem besseren Umweltverband in Deutschland hö- ben ja etwas anderes beantragt!) ren. Der Kioto-Prozess steht – deswegen ist es notwen- Ihr Kollege Müller hat vor dem Regierungswechsel dig, dass wir uns im Parlament mit diesen Fragen aus- 1998, als Sie noch in der Opposition waren, gesagt: einander setzen – möglicherweise vor dem Scheitern. Wenn wir an der Regierung sind, werden wir bis 2010 Wenn aus den USA ähnliche Nachrichten gekommen einen Rückgang der Emissionen um 30 Prozent errei- wären, wie wir sie diese und letzte Woche aus Russland chen; das schaffen wir locker. – Ihre Bilanz ist, gemes- gehört haben, nämlich dass das russische Parlament das 6442 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Kurt-Dieter Grill (A) Kioto-Protokoll nicht ratifizieren will, dann hätten Sie Herzlichen Dank. (C) sich heute Morgen an diesem Pult in Ihrer Kritik an (Beifall bei der CDU/CSU) Bush und den USA und der Verletzung der internationa- len Verpflichtungen in der Klimapolitik überboten. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es bei der Frage, ob Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Russland das Kioto-Protokoll ratifiziert oder nicht, um Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von mehr geht als um die Frage, ob ein Land ratifiziert: Es der SPD-Fraktion. geht darum, ob diese Vereinbarung völkerrechtlich ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – bindlich wird oder nicht. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn wir in diesem Zusammenhang über die natio- NEN]: Der Einzige, der Vorschusslorbeeren nale Umsetzung europäischer Politik reden, müssen wir kriegt!) zwei Ereignisse berücksichtigen, die bedauerlicher- weise passiert sind: Erstens. Auf dem deutsch-russischen Rolf Hempelmann (SPD): Gipfel ist über das Kioto-Protokoll überhaupt nicht gere- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! det worden. Zweitens. Wir haben mit Entsetzen festge- Man kann zum Ende dieser Debatte feststellen, dass sie stellt, dass Herr Berlusconi als Ratspräsident gegen alle – das gilt zumindest für den Zeitraum bis zur Rede des Regeln verstoßen hat. Die Folge ist, dass in dem Proto- Kollegen Kurt-Dieter Grill –, weitgehend sachlich ver- koll von Russland und Europa das Wort Kioto überhaupt lief. Viele haben sogar zum Thema gesprochen. nicht auftaucht, geschweige denn die Ratifizierung die- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) ses Protokolls durch Russland. Somit befinden wir uns in der katastrophalen Situation, dass wir zwar über eine Auch ich will das versuchen und deshalb eine Änderung Politik reden, die im Kern, auch bezüglich der markt- im Stil im Vergleich zum letzten Redebeitrag einführen. wirtschaftlichen Komponenten, richtig angelegt ist – das will ich hier ausdrücklich betonen –, aber in eine Wett- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Emissionshan- del ist in der Tat ein völlig neues Instrument, das eine sehr bewerbssituation geraten, die sich angesichts der außen- große Chance bietet. Wenn dieses Instrument gut ent- wirtschaftlichen Entwicklung für die deutsche Wirt- wickelt wird – der Allokationsplan, über den heute ge- schaft negativ darstellt. Zudem wird dadurch auch die sprochen wird, ist da natürlich eine ganz entscheidende Frage der Entwicklungspolitik berührt; denn wenn das Weichenstellung –, dann haben wir eine große Chance, Kioto-Protokoll völkerrechtlich nicht verbindlich wird, dass es ein sehr integratives Instrument sein kann. Ich werden Joint Implementation und CDM massiv berührt. jedenfalls glaube, dass wir im weiteren Verlauf – nicht am (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Anfang des Prozesses der Entwicklung dieses Instrumen- (B) tes – die Möglichkeit haben, unser gesamtes energiepo- (D) Deswegen müssen wir von dieser Stelle aus die russi- litisches Instrumentarium daraufhin zu überprüfen, sche Regierung, aber auch unsere Kollegen in der russi- inwieweit nicht manches in Zukunft durch den Emis- schen Duma nachhaltig auffordern, die Ratifizierung sionshandel erledigt werden kann, was bisher mithilfe nicht zu verweigern. Russland braucht – das weiß ich von Einzelinstrumenten erledigt werden musste. aus persönlicher Erfahrung – einen solchen Strategie- wandel, und zwar vor dem Hintergrund dessen, was hier Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass die vorgetragen worden ist, nur umgekehrt: Die Russen ha- SPD-Bundestagsfraktion einer Aufforderung, die von ben offensichtlich geglaubt, sie könnten mit dem Ver- anderen Fraktionen gelegentlich an sie gestellt wurde, nachgekommen ist und eine energiepolitische Agenda kauf von CO2-Emissionszertifikaten Geld verdienen. Jetzt aber gibt es in Russland Wirtschaftswachstum. – formuliert hat. Damit wird der Versuch unternommen, die verschiedenen energiepolitischen Themen und He- Eine Nebenbemerkung: Wenn wir das Wachstum hätten, rausforderungen der nächsten Zeit miteinander zu ver- von dem Sie träumen, dann müssten wir über eine ganz binden und daraus ein ganzheitliches Konzept zu ma- andere CO -Bilanz in diesem Lande reden. – Aufgrund 2 chen. ihres Wachstums benötigen die Russen ihren Emissions- anteil selber und können daher mit dem entsprechenden (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das ist eine Handel von Zertifikaten kein Geld mehr verdienen. sinnvolle Geschichte! Sehr gut!) Wenn Joint Implimentation und CDM als ein Element Dass wir im Instrument des Emissionshandels auch der kostengünstigeren Emissionsbeseitigung ausfallen, die Chance sehen, Themen miteinander zu verbinden, dann schaffen wir ein ökonomisches Problem, was die sehen Sie daran, dass der Emissionshandel in diesem Pa- Kosten der CO2-Politik in der Europäischen Union an- pier eine besondere Erwähnung findet. Ich will die ent- geht. sprechende Stelle, die Ihre Forderung aufgreift, einmal vorlesen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zum Handel Es war deshalb ausgesprochen gut, Herr Kollege von mit Treibhausgasemissionen werden wir die mit den Weizsäcker, dass Sie deutlich gemacht haben, dass es zu flexiblen Mechanismen des Kyoto-Protokolls er- einem Dialog im Umweltausschuss und in den anderen möglichten kostengünstigen CO2-Minderungsstra- Gremien des Deutschen Bundestages kommen wird. Ich tegien mit industrie- und strukturpolitischen Wert- kann nur hoffen, dass unser Antrag die Basis dafür ist, schöpfungsaspekten verbinden. Wir werden dieses das Parlament in dieser Frage angemessen zu beteiligen. potenziell hocheffiziente Instrument so einsetzen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6443

Rolf Hempelmann (A) dass gleichzeitig auch standortpolitische Aspekte wissen, dass die Vermeidung der letzten Prozente in der (C) sowie die nationalen Vorleistungen berücksichtigt Größenordnung von Mikro- oder Nanogramm zu im- und internationale Wettbewerbsverzerrungen ver- mensen Kosten führt. Insofern ist es sinnvoll, dass wir mieden werden. Dabei ist sicherzustellen, dass der im Rahmen dieses Instruments auch die Chance suchen, Emissionshandel mit den weiteren existierenden eine Kostenoptimierung dadurch zu erzielen, dass wir bzw. vorgesehenen nationalen und internationalen insbesondere CO2-Reduzierungen dort vornehmen, wo Klimaschutzmaßnahmen so harmonisiert wird, dass sie kostengünstig zu erreichen sind. ein optimaler Beitrag zur Bewältigung der globalen Aufgabe des Klimaschutzes geleistet wird. (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das heißt allerdings nicht, dass wir uns im nationalen DIE GRÜNEN) Rahmen vor notwendigen CO2-Reduzierungen drücken dürfen. Diese beiden Dinge müssen zusammengebunden Ich denke, hieran wird deutlich, dass vieles von dem, werden. was von den verschiedenen Fraktionen zu Recht ange- sprochen worden ist, auch von uns als Aufgabe im Rah- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men des Emissionshandels und seiner Entwicklung gese- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hen wird. Einige Stichworte, die ich noch aufgreifen will, sind Ich freue mich im Übrigen – auch das darf ich hier sa- von verschiedenen Rednern aller Fraktionen hier eben- gen –, dass auch der Koalitionspartner, die Grünen, ein falls genannt worden. Ich denke, es ist von zentraler Be- Energiekonzept entworfen und in dieser Woche verab- deutung, dass bei der Umsetzung des Allokationsplans schiedet hat. Wir können dort, wie ich gehört habe, eine eine ausgewogene Makro- und Mikroallokation gelingt. Vielzahl an Schnittmengen entdecken und werden versu- Ich will hier auch deutlich sagen: Ich bin der festen chen, daraus etwas Gemeinsames zu entwickeln. Überzeugung, dass wir als Parlament insbesondere bei Das Bundeswirtschaftsministerium hat uns gestern im der Makroallokation ein deutliches Wort mitzureden ha- Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages mitge- ben. Deswegen begrüße ich ausdrücklich die heutige teilt, dass auch die beiden bei Energiefragen federfüh- Ankündigung von Minister Trittin, dass auch die Regie- renden Häuser, also das Wirtschaftsministerium und das rung die Auffassung teilt, insbesondere die wesentlichen Umweltministerium, sich über ein gemeinsames Ener- Regeln des Emissionshandels seien durch den Gesetzge- giekonzept abstimmen werden. Damit entspricht diese ber, also durch uns, zu definieren. Ich denke, das ist eine Bundesregierung einer lange formulierten Forderung so- berechtigte Forderung, in der sich die Fraktionen in kei- ner Weise voneinander unterscheiden. (B) wohl aus dem Parlament als auch aus dem außerparla- (D) mentarischen Raum. Ich freue mich sehr darüber. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Emissions- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Emis- handel und mit dem jetzt vorzulegenden Allokationsplan sionshandel soll die Kosten für den Klimaschutz, insbe- eröffnen wir vor allen Dingen Chancen für die deutsche sondere in den Industrieländern, deutlich verringern. Das Wirtschaft. Natürlich sind wir in einer Phase offener Fra- ist der eigentliche Grund, warum die Industrieländer, fe- gen. Es gibt zurzeit den Dialog innerhalb der Branchen derführend die USA, dieses Instrument sozusagen erfun- und den Dialog der Branchen mit der Bundesregierung. den haben. Und es ist schon interessant, dass auch große Sicherlich gibt es auch unterschiedliche Interessen inner- transnationale Konzerne dieses Instrument seit Jahren halb der deutschen Wirtschaft. Wer in Veranstaltungen, entwickeln und konzernintern ausprobieren. Wenn der etwa mit dem BDI, über den Emissionshandel redet, Vorstand von BP Deutschland im Rahmen einer Sitzung spürt das. Es gibt nicht das homogene Interesse daran, des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages wie denn der Emissionshandel und der Allokationsplan sagt, der Emissionshandel „erbringt klimapolitische Effi- zu organisieren sind. Es geht hier um Verteilung. zienz im volkswirtschaftlichen Schongang, spürbarer Klimaschutz zu spürbar geringeren Kosten“, sollte uns Deshalb gilt, was der Kollege Kelber eben gesagt hat: das jedenfalls insgesamt zuversichtlich stimmen und uns Wer dann, wenn ein Vorschlag zum Allokationsplan vor- veranlassen, dieses Instrument jetzt auch bei uns zu ent- liegt, anderer Auffassung ist, muss nicht nur sagen, wo wickeln. er jemanden entlasten will, sondern muss auch sagen, wo er dann belasten will. Das ist eine Forderung, die nicht Einige Redner haben darauf hingewiesen, dass wir im nur den Koalitionsfraktionen, sondern allen Mitgliedern Zusammenhang mit dem Emissionshandel auch Joint dieses Hauses gilt. Ich denke, das macht die Diskussion Implementation und Clean Development Mechanisms im Deutschen Bundestag in den nächsten Monaten be- integrieren müssen. Ich denke, das ist in der Tat auch sonders spannend. eine große Chance dieses Instrumentes. Es ist eben nicht nur ein nationales, sondern es ist ein international ange- Die Opposition ist hier zu konstruktiver Mitarbeit legtes Instrument. aufgefordert. Ein bloßes Nein reicht nicht. Schon im Zusammenhang mit dem klassischen Um- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weltschutz kennen wir die Grenzkostenproblematik und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 6444 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Rolf Hempelmann (A) Ich glaube aber, in dieser Debatte einige Stimmen gehört c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) zu haben, die deutlich machen: Es gibt – jedenfalls in gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Teilen der Opposition – durchaus Bereitschaft zur Mitar- trag vom 18. Oktober 2001 zwischen der Bun- beit. desrepublik Deutschland und Bosnien und Herzegowina über die Förderung und den ge- Abschließend ein Wort zu Russland: Es ist richtig, genseitigen Schutz von Kapitalanlagen dass wir Besorgnis darüber haben müssen, dass in Russ- land – jedenfalls zurzeit – keine Bereitschaft zu erken- – Drucksache 15/1847 – nen ist, das Kioto-Protokoll und die Energiecharta zu un- Überweisungsvorschlag: terzeichnen. Auch die deutsche Bundesregierung ist Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gefordert, im Dialog mit Russland deutlich zu machen, d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- dass wir eine bestimmte Erwartung an Russland haben. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuord- Aber genauso falsch wäre es, daraus abzuleiten, dass wir nung der Statistiken der Rohstoff- und Produkti- im Deutschen Bundestag so lange die Hände in den onswirtschaft einzelner Wirtschaftszweige Schoß legen, bis dieses Problem gelöst ist. (Rohstoffstatistikgesetz – RohstoffStatG) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Drucksache 15/1849 – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Überweisungsvorschlag: Eine „Arbeitsniederlegung“ im Deutschen Bundestag Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit hilft uns in dieser Sache überhaupt nicht weiter. e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Vierunddreißigsten Insoweit ist es begrüßenswert, dass jetzt ein Entwurf Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichs- vorliegt und wir bald sehr konkret über den Emissions- gesetzes (34. ÄndGLAG) handel und den Allokationsplan in Deutschland diskutie- ren können. – Drucksache 15/1854 – Überweisungsvorschlag: Herzlichen Dank. Innenausschuss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Entwurfs eines Gesetzes über die Finanzierung der Beseitigung von Rüstungsaltlasten in der Bundesrepublik Deutschland (Rüstungsaltlas- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tenfinanzierungsgesetz – RüstAltFG) (B) (D) Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 15/1888 – Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Überweisungsvorschlag: Drucksache 15/1791 an die in der Tagesordnung aufge- Haushaltsausschuss (f) Verteidigungsausschuss führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Führung des Han- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 h sowie delsregisters, des Genossenschaftsregisters, des die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: Partnerschaftsregisters und des Vereinsregisters durch von den Ländern bestimmte Stellen (Regis- 23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ter-Führungsgesetz – RFüG) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 6. März 2002 zwischen der Bun- – Drucksache 15/1890 – desrepublik Deutschland und der Republik Überweisungsvorschlag: Mosambik über die Förderung und den gegen- Rechtsausschuss (f) seitigen Schutz von Kapitalanlagen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/1845 – h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Bericht der Bundesregierung über die Umset- zung von Gender Mainstreaming in Wissen- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- schaft und Forschung gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 6. August 2001 zwischen der Bundes- – Drucksache 15/720 – republik Deutschland und dem Königreich Überweisungsvorschlag: Marokko über die gegenseitige Förderung und Ausschuss für Bildung, Forschung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/1846 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: ZP 2a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6445

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Änderung des MAD-Gesetzes (1. MAD- Tagesordnungspunkt 24 c: (C) GÄndG) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 15/1959 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Überweisungsvorschlag: dem Vertrag vom 2. Juli 2001 zwischen der Verteidigungsausschuss (f) Bundesrepublik Deutschland und der Republik Innenausschuss Österreich über den Verlauf der gemeinsamen Rechtsausschuss Staatsgrenze im Grenzabschnitt „Salzach“ und b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, in den Sektionen I und II des Grenzabschnitts der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE „Scheibelberg-Bodensee“ sowie in Teilen des GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs Grenzabschnitts „Innwinkel“ eines … Gesetzes zur Änderung rehabilitie- – Drucksache 15/1655 – rungsrechtlicher Vorschriften (Erste Beratung 66. Sitzung) – Drucksache 15/1975 – Überweisungsvorschlag: Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- Rechtsausschuss (f) gen Ausschusses (3. Ausschuss) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Drucksache 15/2006 – Haushaltsausschuss Berichterstattung: Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Abgeordnete Petra Ernstberger Verfahren ohne Debatte. Dr. Andreas Schockenhoff Claudia Roth (Augsburg) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Dr. Rainer Stinner die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2006, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die- Dem Entwurf eines Gesetz der Fraktionen der SPD, jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen zur das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Änderung rehabilitationsrechtlicher Vorschriften auf gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Drucksache 15/1975 ist die Fraktion der FDP als Initiant einstimmig angenommen. beigetreten. Dritte Beratung Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. (B) Dann sind die Überweisungen so beschlossen. und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich (D) bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 c bis Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. 24 h sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um Beschlussvorlagen, zu denen keine Ausspra- Tagesordnungspunkt 24 d: che vorgesehen ist. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Tagesordnungspunkt 24 a: gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. September 2002 Zweite Beratung und Schlussabstimmung des zwischen der Regierung der Bundesrepublik von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Deutschland, den Vereinten Nationen und dem eines Gesetzes über die Zustimmung zur Än- Sekretariat des Übereinkommens zur Erhal- derung der Satzung des europäischen Systems tung der wandernden wild lebenden Tierarten der Zentralbanken und der Europäischen über den Sitz des Sekretariats des Überein- Zentralbank kommens – Drucksache 15/1654 – – Drucksache 15/1473 – (Erste Beratung 66. Sitzung) (Erste Beratung 63. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- schusses ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- (7. Ausschuss) heit (15. Ausschuss) – Drucksache 15/2008 – – Drucksache 15/1826 – Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Ortwin Runde Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2008, Angelika Brunkhorst den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist sicherheit empfiehlt auf Drucksache 15/1826, den Gesetz- damit einstimmig angenommen. entwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen 6446 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal- Versicherungsunternehmen und Kreditinstitu- (C) tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein- ten stimmig angenommen. – Drucksache 15/1653 – Dritte Beratung (Erste Beratung 66. Sitzung) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustim- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- men wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthal- schusses tungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenom- (7. Ausschuss) men. – Drucksache 15/2009 – Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- titionsausschusses. Berichterstattung: Abgeordnete Ortwin Runde Tagesordnungspunkt 24 e: Klaus-Peter Flosbach Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Hubert Ulrich ausschusses (2. Ausschuss) Carl-Ludwig Thiele Sammelübersicht 74 zu Petitionen Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/2009, den Gesetzent- – Drucksache 15/1881 – wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. hält sich? – Sammelübersicht 74 ist einstimmig ange- – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf nommen. ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der beiden frakti- onslosen Abgeordneten mit den Stimmen aller anderen Tagesordnungspunkt 24 f: Abgeordneten angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Dritte Beratung ausschusses (2. Ausschuss) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Sammelübersicht 75 zu Petitionen setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegen- stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit – Drucksache 15/1882 – dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Zusatzpunkt 3 b: (B) hält sich? – Sammelübersicht 75 ist einstimmig ange- (D) nommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Kultur und Medien Tagesordnungspunkt 24 g: (21. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ten Günter Nooke, Bernd Neumann (Bremen), ausschusses (2. Ausschuss) Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sammelübersicht 76 zu Petitionen Umsetzung des Bundestagsbeschlusses zur – Drucksache 15/1883 – Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- – Drucksachen 15/1094, 15/2002 – hält sich? – Sammelübersicht 76 ist einstimmig ange- nommen. Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Barthel (Berlin) Tagesordnungspunkt 24 h: Günter Nooke Dr. Antje Vollmer Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) ausschusses (2. Ausschuss) Zu diesem Tagesordnungspunkt liegen zwei Erklärun- Sammelübersicht 77 zu Petitionen gen nach § 31 der Geschäftsordnung der beiden Kol- – Drucksache 15/1884 – leginnen Petra Pau und Gesine Lötzsch vor, die wir zu Protokoll nehmen.1) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 77 ist mit den Stimmen der Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschlie- und FDP angenommen. ßung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Zusatzpunkt 3 a: lung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der beiden fraktionslosen Kolleginnen Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- angenommen. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufsichtsrechtlicher Bestim- mungen zur Sanierung und Liquidation von 1) Anlage 2 und 3 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6447

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Chodorkowski ist gewiss kein Säulenheiliger. Die (C) fiehlt der Ausschuss, den Antrag auf Drucksache 15/1094 Oligarchen sind in Russland in kurzer Zeit im Zuge der für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Be- so genannten Raubtierprivatisierung zu extremem schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Reichtum gekommen. Chodorkowski hat aber als erster hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit Oligarch seine Eigentumsverhältnisse offen gelegt. Ich den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der kenne ihn aus der gemeinsamen Arbeit im Vorstand der beiden fraktionslosen Kolleginnen angenommen. International Crisis Group. Dort hat er großes internatio- nales Engagement und großes Verantwortungsbewusst- Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: sein gezeigt. In Russland fördert er soziale Projekte im Aktuelle Stunde ganzen Land. Er unterstützt den mutigen Putin-Kritiker auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Jawlinski und dessen Jabloko-Partei. Die aktuelle Russlandpolitik der Bundesregie- In einer Erklärung der Gesamtrussischen Konferenz rung zivilgesellschaftlicher Organisationen vom 28. Oktober dieses Jahres heißt es: Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für den Antragsteller der Kollege Dr. Friedbert Pflüger von Die Verhaftung Chodorkowskis ist kein Beweis für der CDU/CSU-Fraktion das Wort. die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Es ist eine Demonstration der Gleichheit der Bürger vor der Willkür. Die Hauptaufgabe besteht heute darin, Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): sich dem Zerfall der Demokratie und der Freiheit in Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und unserem Land entgegenzustellen. Herren! Es ist keine Frage: Russland hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Unter Präsident Putin Das sagen Menschenrechtler in Russland. Diese Men- hat es die strategische Grundsatzentscheidung getroffen, schenrechtler schauen auf die Bundesregierung und er- die Modernisierung des eigenen Landes über ein breites warten sich von uns im Westen, von der EU, von Engagement mit dem Westen zu erreichen. Deutschland, dass wir ihnen helfen und sie nicht allein lassen im Kampf gegen die autokratischen Tendenzen, In der nach dem 11. September 2001 gebildeten Anti- die wir seit einiger Zeit in Russland wieder verstärkt be- terrorallianz hat Moskau großes Verantwortungsbe- obachten. wusstsein bewiesen. Putin gelang es ferner – anders als Schröder und Chirac –, ein Kunststück zu vollbringen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nämlich gegen den Irakkrieg zu sein und trotzdem aus- (B) gezeichnete Beziehungen zu Amerika zu pflegen. Wir helfen weder den Menschen in Russland noch (D) dem Präsidenten Putin, indem wir zu all diesen Vorgän- (Beifall bei der CDU/CSU) gen schweigen. Wir müssen diese Dinge ansprechen. Russland ist heute Teil der G 8, in Kürze Mitglied der Hier, meine Damen und Herren von der Bundesregie- WTO. Keine Frage: Putin hat die neuen Konstellationen rung und der Regierungskoalition, hat die Bundesregie- nach dem 11. September 2001 geschickter als alle ande- rung kläglich versagt. ren genutzt. Nach Jahren des Chaos und des Nieder- Das Gleiche gilt für die Vorgänge und die Menschen- gangs erscheint Russland heute wieder verlässlich und rechtsverletzungen in Tschetschenien. Was wir dort von- stabil. Diese Entwicklungen liegen in unserem Interesse. seiten der Bundesregierung gegenüber der russischen Für CDU und CSU sage ich deshalb: Wir wollen enge Regierung erleben, grenzt geradezu an Selbstverleug- partnerschaftliche und vertrauensvolle Beziehungen zu nung. In Tschetschenien wurden mehr als 100 000 Men- Russland. schen getötet. 400 000 sind geflüchtet. Nicht Bagdad, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Grosny liegt in Schutt und Asche! Dr. [FDP]) (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Wir sagen aber ebenso: Partnerschaft erfordert klare Worte vonseiten der Bundesregierung und der Euro- Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Gewalt als in päischen Union, wenn in Russland rechtsstaatliche Prin- Tschetschenien. Vor diesem Hintergrund ist es schon et- zipien missachtet und Menschenrechte verletzt werden. was verwunderlich, dass Herr Schröder dazu schweigt und gar die Chuzpe hat, mit Russland eine Friedensachse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gegen Amerika aufzubauen. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Widerspruch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn sich sogar der russische Ministerpräsident Kasja- Herr Fischer, der jetzige Außenminister, sagte, wie now über die Verhaftung von Chodorkowski „sehr beun- ich finde, zu Recht: ruhigt“ äußert, hätte das dann nicht auch die Bundesre- gierung tun müssen? Hätte es ihr nicht gut angestanden, Bei Menschenrechtsverletzungen gibt es kein Ein- in dieser Situation ein deutliches Wort der Kritik in mischungsverbot. Bei Menschenrechtsverletzun- Richtung Moskau auszusprechen? gen gibt es vielmehr nur eines: die Pflicht zur Wahrheit, Klarheit und zur öffentlich bekundeten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) klaren Position. 6448 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Friedbert Pflüger (A) Dies sagte er am 19. Januar 1995 hier im Deutschen cherheit ist eine wesentliche Voraussetzung für die wei- (C) Bundestag. Heute hört man von ihm solche Worte leider tere Integration Russlands in die internationale Wirt- nicht mehr. Zu den Themen Russland und Menschen- schaft, für eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit der rechte sowie Russland und Tschetschenien gibt es keine Europäischen Union und für ausländische Investitionen Aussagen des Herrn Bundesaußenministers. in die russische Wirtschaft. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) Drittens. Die deutsch-russischen Kulturbegegnungen Sie in der grünen Fraktion sollten darüber einmal nach- 2003/04 sind ein besonders gut sichtbares aktuelles Bei- denken und ein ernstes Wort mit ihm sprechen; denn Sie spiel für den weit entwickelten kulturellen Austausch. In stehen doch auch für Menschenrechte und die Unterstüt- bisher einmaliger Dichte und Breite präsentiert Russland zung zivilgesellschaftlicher Organisationen. Sorgen Sie seine Kultur 2003 in Deutschland, wir präsentieren im dafür, dass die Bundesregierung endlich ihr Schweigen Gegenzug die deutsche Kultur 2004 in Russland. bricht und dass wir hier im Deutschen Bundestag endlich Viertens. Eine lebendige und freie Zivilgesellschaft eine Regierungserklärung von Herrn Schröder oder ist wie auch eine freie Presse wichtige Voraussetzung für Herrn Fischer über die Vorgänge in Tschetschenien und die Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit Russland bekommen! und Marktwirtschaft. Die Bundesregierung unterstützt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deshalb den Aufbau eines aktiven Bürgerengagements in Russland und fördert entsprechende Kontakte. Dies gilt Wir wollen ein stabiles Russland, zu dem wir gute insbesondere für den Petersburger Dialog als regierungs- Beziehungen haben. Aber wir wollen auch ein freies unabhängiges, öffentlich sichtbares Forum, das Gelegen- Russland, in dem die Menschenrechte gelten. Wenn sich heit zu einem offenen Gedankenaustausch auch über Russland dafür entscheidet, zum Westen zu kommen und schwierige Themen bietet. seine Modernisierung mithilfe des Westens zu bewerk- stelligen, dann muss Moskau es auch ertragen, dass wir Schließlich gestalten wir die Russlandpolitik der bei aller Sympathie und Partnerschaft nachfragen und Europäischen Union aktiv mit. Allerdings kommt hier deutlich Kritik üben. Dazu muss auch die Bundesregie- der jeweiligen EU-Präsidentschaft und der Kommission rung endlich einen Beitrag leisten. eine zentrale Rolle zu. So wurden beim jüngsten EU- Russland-Gipfel in Rom mit Russland auch die für uns Vielen Dank. wichtigen kritischen Themen wie die Lage in Tschet- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schenien oder die Ratifizierung des Kioto-Protokolls dis- kutiert. Deshalb bedauert es die Bundesregierung umso mehr, dass es in den Gesprächen zwischen der EU und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) Russland nicht gelungen ist, bei diesen Themen zu ei- (D) Für die Bundesregierung hat Herr Staatsminister Hans nem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Wir hätten uns Martin Bury das Wort. gewünscht, dass diese Themen in der gemeinsamen Er- klärung deutlich angesprochen worden wären. Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ungeachtet dessen wird die Bundesregierung weiter ren! Deutschland in der Mitte Europas hat ein überragen- darauf drängen, dass Russland so bald wie möglich das des und langfristiges Interesse an einem stabilen Russ- Kioto-Protokoll ratifiziert. In der Tschetschenien-Frage land, mit dem wir in einem Raum gemeinsamer Werte hat die Bundesregierung die russische Seite wiederholt leben und mit dem wir gemeinsam internationale aufgefordert, ihr Möglichstes zur Förderung eines wirk- Herausforderungen annehmen und lösen können. Im lichen politischen Prozesses beizutragen und ihre Zu- Mittelpunkt steht für uns das Wohl der Menschen in sammenarbeit mit internationalen Organisationen, insbe- Deutschland und Russland, die Festigung von Frieden, sondere mit der OSZE, zu verstärken. Sicherheit und Stabilität im gemeinsamen europäischen Insgesamt konnten beim Gipfel eine Reihe von Fort- Raum, die Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaat, schritten erzielt werden, so beispielsweise bei dem we- Menschenrechten und Marktwirtschaft in Russland so- sentlich auf deutsche Initiative zurückgehenden und auf wie, damit verbunden, die weitere Annäherung Russ- dem Gipfel in Sankt Petersburg vereinbarten Konzept lands an die EU als Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft. der „vier Räume“ in den Bereichen Wirtschaft, innere Unsere bilateralen Beziehungen ruhen auf vier Pfei- Sicherheit, äußere Sicherheit sowie Forschung und Kul- lern: erstens auf einem intensiven und vertrauensvollen tur. Einigkeit besteht auch bei dem Wunsch, Erleichte- politischen Dialog, in dem auch kritische Punkte wie die rungen bei der Visaerteilung zu erreichen. Dieser Lage in Tschetschenien offen angesprochen werden. Wunsch wie auch die bilateralen deutsch-russischen Be- mühungen um Visaerleichterungen sind darauf gerichtet, Zweitens. Auch aufgrund der Rolle Deutschlands als den Austausch zwischen unseren beiden Gesellschaften wichtigster Handels- und Investitionspartner Russlands zu fördern und damit auch die Zivilgesellschaften zu und dessen Bedeutung als größter Energielieferant für stärken. Deutschland beobachtet die Bundesregierung Entwick- lungen wie die Ermittlungen gegen die Firma Jukos und Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur ein intensiver Herrn Chodorkowski sehr aufmerksam. Die Bundesre- und vertrauensvoller bilateraler wie multilateraler Dia- gierung erwartet, dass bei den laufenden Verfahren log mit Russland ermöglicht es, unsere Ziele und Anlie- rechtsstaatliche Grundsätze beachtet werden. Rechtssi- gen zum Tragen zu bringen, sowohl bei Themen, bei de- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6449

Staatsminister Hans Martin Bury (A) nen wir uns einig sind und gemeinsame Ziele verfolgen, Mit dieser Affäre schadet sich Russland selbst am al- (C) als auch bei den Themen, bei denen das nicht der Fall ist. lermeisten. Die Oligarchen verlassen fluchtartig das So kann eine wirkliche Annäherung Russlands an Eu- Land und nehmen ihr für den Aufbau Russlands so wich- ropa gelingen. tiges Kapital mit. Investitionen aus dem Ausland werden ausbleiben. Der stellvertretende Außenhandelsminister (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dworkowitsch warnt ausdrücklich, dass das Risiko be- DIE GRÜNEN) stehe, dass die Sünden der Vergangenheit wieder aufge- nommen werden, und rät sogar von Investitionen in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Russland ab. Der russische Innenminister Gryslow wird Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von im Zusammenhang mit der Jukos-Affäre mit der Aus- der FDP-Fraktion. sage zitiert: „Die Rohstoffe gehören dem Volk“. Da müs- sen doch alle Alarmglocken schrillen; denn Gryslow Harald Leibrecht (FDP): stellt so die Existenz der Privatwirtschaft, die gerade in Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Russland jetzt erst richtig entsteht, fundamental infrage. Herren! Wir machen uns sehr große Sorgen um die ge- Angesichts solcher Äußerungen muss man sich fragen, genwärtige Entwicklung in Russland. Deshalb ist es gut, ob Russland überhaupt dazu fähig ist, in die WTO, in die dass heute im Deutschen Bundestag eine Aktuelle Welthandelsorganisation, aufgenommen zu werden. Man Stunde zu diesem Thema angesetzt ist. fragt sich auch, was ein Land, das eine so unsichere Wirtschaftspolitik betreibt, eigentlich in der G 8 zu su- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) chen hat. Die Festnahme Chodorkowskis, das nicht öffentliche Verfahren, die viel zu lange U-Haft, die Durchsuchung Was tut die Bundesregierung in dieser Situation? Sie, von Anwaltskanzleien sowie die Beschlagnahmung der Herr Erler – Sie sind Koordinator der Regierung für die Jukos-Aktien sind Ereignisse, die angesprochen werden deutsch-russischen Beziehungen –, haben Anfang No- müssen. Dass die russischen Oligarchen keine Engel vember gesagt, dass der Schaden durch die Jukos-Affäre sind, darin gebe ich Ihnen völlig Recht, Herr Pflüger. überschaubar sei, solange es sich mit Chodorkowski nur um einen Einzelfall handelt. Ich sage Ihnen: Genau das (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Gegenteil ist der Fall. Gerade dieses Herauspicken von GRÜNEN]: Das hat er nicht gesagt!) Chodorkowski, also eines Einzelnen, lässt doch den Ver- Wenn in Russland gegen Korruption wirklich Front ge- dacht aufkommen, dass hinter der Affäre politische Mo- macht und die Abwicklung dunkler Geschäfte wirklich tive stehen: Ein zu mächtig werdender Mann soll mund- tot gemacht werden. (B) bekämpft werden würde, dann könnte man nur schwer- (D) lich etwas dagegen sagen. Aber gerade das Herauspi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten cken Chodorkowskis, die Singularität dieses Vorgehens der CDU/CSU) und die gesamte Jukos-Affäre werfen ein mehr als zwei- felhaftes Licht auf die jüngsten Vorgänge in Russland. Ohne die stillschweigende Unterstützung von Präsident Denn sie ereignen sich ja nicht im luftleeren Raum, son- Putin wäre das sicherlich so nicht gelaufen; ich glaube, dern finden kurz vor wichtigen Parlamentswahlen statt darin sind wir uns alle einig. und richten sich gegen einen mächtigen Ölmagnaten, der angefangen hatte, sich politisch einzumischen und oppo- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wohl wahr!) sitionelle Kräfte zu stärken. Putin versucht sehr geschickt, die weltpolitischen Diese Vorgänge werden von massiven Eingriffen in Verwerfungen um den Irakkrieg und den Kampf gegen die Pressefreiheit begleitet. Sie stehen darüber hinaus im den internationalen Terrorismus zu missbrauchen, um Zusammenhang mit der Entwicklung in Tschetschenien, für sein Vorgehen in Tschetschenien Verständnis und der Wahl, die dort stattgefunden hat – diese Wahl war Akzeptanz zu erhalten. Unser Bundeskanzler geht ihm eine echte Farce –, und mit den noch immer stattfinden- dabei auf den Leim. Er hat seine Männerfreundschaft zu den schlimmen Menschenrechtsverletzungen. Herr Bury, Putin ja erst entdeckt, als er einen Verbündeten im ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihrem Bericht auch Kampf gegen den Irakkrieg suchte. Seitdem funktioniert auf dieses Thema eingegangen wären und nicht nur über die deutsch-russische Achse wunderbar. Die Bundesre- die russischen Kulturwochen gesprochen hätten. gierung hat sich dabei aber offensichtlich von den bishe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rigen Zielen der deutschen Russlandpolitik verabschie- det. Bislang galt, dass man Russland als Partner, als All das lässt massiven Zweifel aufkommen, ob in Freund, aber durchaus auch als kritischer Mahner auf Russland bei den Parlamentswahlen am 7. Dezember seinem Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und und bei den Präsidentschaftswahlen im April alles mit Marktwirtschaft nach Kräften unterstützen wollte. Jetzt rechten Dingen zugehen wird. Woran es in Russland gilt offensichtlich nur noch, dass man in Moskau einen heute vor allem fehlt, sind Transparenz, Berechenbarkeit stabilen Partner für eigene weltpolitische Ambitionen und Offenheit. Michail Gorbatschow hat das Ende der sucht. 80er-Jahre als Glasnost bezeichnet, das Kernelement der Perestroika. Russland war in dieser Hinsicht schon wei- ter. Nun aber sehen wir gefährliche Tendenzen hin zu ei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nem Rückfall auf den Stand vergangener Zeiten. Herr Leibrecht, denken Sie bitte an die Zeit. 6450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Harald Leibrecht (FDP): Berlusconis anlässlich des EU-Russland-Gipfels aus- (C) Ja. drücklich zu: Meine Damen und Herren, wir meinen, die deutsch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie russischen Beziehungen sind wichtig. In einer guten po- bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) litischen Freundschaft, unter Freunden, muss man sich Russland ist noch längst kein Rechtsstaat. Die Tsche- aber auch unangenehme Dinge sagen können. Ich for- tschenienpolitik der russischen Regierung ist falsch. Die dere unseren Bundeskanzler auf, auf Präsident Putin ein- dortigen Wahlen waren eine Farce. Nicht nur tschetsche- zuwirken und ihn auf die Jukos-Affäre und auch auf die nische Terroristen, sondern auch russische Sicherheits- furchtbaren Menschenrechtsverletzungen in Tschetsche- kräfte verüben dort Verbrechen. Wer Gewalt gegen die nien anzusprechen. Ich denke, damit wäre uns schon Zivilbevölkerung, wer die bedrückende Situation der sehr geholfen. Ich hoffe, dass die deutsch-russischen Be- Flüchtlinge, wer die Realität in Tschetschenien, die ziehungen von unserer Bundesregierung wieder auf eine Menschenrechtsverletzungen, als Märchen der Medien ehrliche Basis gestellt werden. diskreditiert, verhöhnt die Opfer und zeigt sein gespalte- Ich danke Ihnen. nes Verhältnis zur Unabhängigkeit der Presse. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth vom Eine Farce ist aber keine politische Lösung. Die Bündnis 90/Die Grünen. scheinbare Übertragung der Verantwortung für eine fal- sche Politik auf eingesetzte Kollaborateure entbindet die russische Regierung nicht von ihrer Verantwortung und Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Notwendigkeit einer politischen Lösung, die die NEN): Menschen in Tschetschenien einbezieht, um überhaupt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aussicht auf Erfolg zu haben. Es ist tatsächlich im ur- Russland ist auch ohne die EU-Mitgliedschaft ein großes eigenen Sinne Russlands, politische Lösungen zu su- europäisches Land. Seine und die Geschichte der Bezie- chen, weil dieser Krieg das ganze Land verändert. hungen zu anderen Ländern Europas – auch zu Deutsch- Der Zusammenhang zwischen Demokratie, Rechts- land – haben gezeigt, dass es uns alles andere als gleich- staat, Menschenrechten und Wirtschaft spielt im heuti- gültig sein kann, was dort geschieht. Lieber Friedbert gen Russland und für die gegenwärtigen Vorgänge um Pflüger, es ist uns auch alles andere als gleichgültig, was (B) den Oligarchen Chodorkowski eine wichtige Rolle. Der (D) dort geschieht. für uns eher merkwürdige Vorgang eines gemeinsamen Schon seit Gorbatschow 1985 Perestroika und Glas- offenen Briefes an Putin von mehreren, auch mittelstän- nost verkündete, keimte im Westen, aber vor allem auch dischen Wirtschaftsverbänden und zivilgesellschaftlichen in der russischen Gesellschaft die Hoffnung auf eine Organisationen – von Menschenrechtsgesellschaften wie freiere Gesellschaft, auf Rechte für jeden und jede auf, MEMORIAL bis zu Verbraucherschutzverbänden – darauf, dass nicht jeder Mensch wie selbstverständlich zeigt das. Eigentum des Staates ist. Jede Entwicklung zu Wohl- Was aber verbündet diese hierzulande traditionell stand – auch das ist etwas Neues für die meisten Men- eher in distanziertem Misstrauen zueinander stehenden schen in Russland – setzt eine funktionierende Wirt- Interessengruppen? Natürlich ist der bisherige Jukos- schaft voraus. Dazu gehören die Anerkennung Chef ein Oligarch. Zweifellos hat er seinen Reichtum ökonomischer Gesetze und die Respektierung der indivi- nicht nur legal erworben. Niemand, so sagt der Vorsit- duellen Unabhängigkeit und Integrität, kurz: der Men- zende der Gesellschaft MEMORIAL, kann in Russland schenrechte und des Rechtsstaates. Auch das alles ist in die Steuergesetze einhalten, auch MEMORIAL nicht. Russland neu. Für ihn stellen sie ein ganz spezielles politisches Instru- Seit Gorbatschow – fortgesetzt durch Jelzin und ment dar, das Missbrauch Tür und Tor öffnet und jede Putin – begann all das Bedeutung zu erlangen und im- juristische Person erpressbar machen und unter Druck mer mehr Menschen in Russland begannen, ihre Rechte setzen kann. Nicht zuletzt mit ihrer Anwendung wurde ernst zu nehmen, sie selbstbewusst einzuklagen und allen unabhängigen elektronischen Medien die Existenz- sich so zu verhalten, wie es Menschen mit ihren unver- grundlage entzogen. äußerlichen Rechten eben zu Recht tun. Nach außen (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Richtig!) – auch in unsere Richtung – versicherten die Mächti- gen ihr Bestreben, die politisch-bürgerlichen Freiheits- Nicht jedoch um die Rechtfertigung des Milliardärs rechte und die sozialen, wirtschaftlichen und kulturel- Chodorkowski geht es. Auch den Menschenrechtsgrup- len Menschenrechte zu verwirklichen und zu pen in Russland ist er nicht besonders sympathisch. Es garantieren, um damit die russische Gesellschaft bzw. geht um etwas anderes. Es geht um den Kampf um das Russland überhaupt zukunftsfähig zu machen. Recht, vom Staat und seinem Willen unabhängig han- deln zu können. Wir sollten sie darin ernst nehmen. Wir sollten sie beim Wort nehmen. Deshalb stimme ich der Kritik der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- EU-Kommission an den unakzeptablen Äußerungen SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6451

Claudia Roth (Augsburg) (A) Dafür, das getan zu haben, dafür, dass er soziale Aufga- (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) ben als Pflicht eines Unternehmers ansah und dass er an- NEN]: Das habe ich nicht gesagt! Das sage ich dere Parteien als die der Macht unterstützte, gleich noch!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- – Aber es ist aus Ihrer Ecke gekommen. Vielleicht gibt SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der es bei Ihnen jemanden, der sich dazu bekennt, das gesagt CDU/CSU) zu haben. Ich habe es deutlich gehört. wurde der Bürger Chodorkowski verhaftet, begleitet von Ich kann Ihnen dazu sagen: Wir wünschen uns einen gefährlich antisemitischen Tönen. Niemand bestreitet Bundeskanzler oder einen Außenminister, der in die Öf- das ernsthaft in Russland. fentlichkeit tritt und das dort klar macht und nicht unbe- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- dingt das relativ abgeschlossene Gremium eines parla- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der mentarischen Ausschusses braucht, um dort zu sagen, CDU/CSU) was er eigentlich denkt. Das ist nicht das Wesen unserer Demokratie. Das ist der Grund für das Bündnis zwischen Wirt- schaft und Zivilgesellschaft in Russland. Ihr gemeinsa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mes Ziel ist ein Gesellschaftsvertrag zwischen ihnen und Dass wir stabile Beziehungen zu Russland brauchen der politischen Macht, der die Unternehmen auf Geset- und diese freundschaftlich und konstruktiv sein sollen, zestreue und soziale Verantwortung verpflichtet und die ist nicht alleine aufgrund unserer engen Verbindungen Respektierung der Rechte des Einzelnen garantiert. im energiepolitischen Bereich notwendig. Jeder, der mit (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das hört offenen Augen die Geschichte des 20. Jahrhunderts ge- sich aber anders als bei Schröder an!) sehen hat, muss zu der Erkenntnis kommen, dass ein großer Teil der Probleme in Deutschland, die wir heute Putin hat den Vorschlag für einen Gesellschaftsvertrag haben, dadurch verursacht worden ist, dass die Bezie- bisher leider schlichtweg abgelehnt. Wir jedoch sollten hungen zu Russland lange Zeit das zuvor erwähnte Attri- diesen Vorschlag ausdrücklich unterstützen. Er enthält but gerade nicht verdient haben. Es ist die Abwesenheit den Kern unserer Vorstellungen vom Funktionieren einer eines Verhältnisses zu den Menschenrechten und die Ab- demokratischen Gesellschaft. Eine solche soll und muss wesenheit der Rechtsstaatlichkeit in Russland gewesen, Russland werden. Auf diesem Weg wird Russland all un- die in Ostdeutschland die Probleme verursacht hat, die sere Unterstützung bekommen. wir heute haben. Am Konzept einer so genannten gelenkten Demokra- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) tie haben wir dagegen erhebliche Zweifel; denn dies ist (D) im Grunde die modernisierte Variante des autoritären Daraus folgt, dass wir ein existenzielles Interesse da- Staates, der in Russland schon eine lange und verhäng- ran haben, solche Verhältnisse, wie sie sich im Augen- nisvolle Tradition hat. Das laut zu sagen ist unsere blick in Russland andeuten, und solche Signale politisch demokratische Verantwortung. zu bewerten. Dass Sie das können, haben Sie uns mehr- fach bewiesen. Die Regierung war außerordentlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, schnell bei der Hand, als es darum ging, das kleine Ös- bei der SPD und der CDU/CSU) terreich infolge eines Wahlergebnisses, das ihr nicht in den Kram passte, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Wort hat jetzt der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/CSU-Fraktion. mit einer grotesken Strafaktion zu überziehen, die sie später selbst als Fehler erkannt hat und zurücknehmen Arnold Vaatz (CDU/CSU): musste. Herr Präsident! Frau Kollegin Roth, Sie haben mir in (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So sind die Brü- weiten Teilen Ihrer Rede aus der Seele gesprochen. Ich der und Schwestern! – Dr. Ludger Volmer bin außerordentlich dankbar, dass Sie sich so eindeutig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sollen wir geäußert haben. Der Grund, weshalb unsere Fraktion jetzt den gleichen Fehler machen, oder was?) diese Aktuelle Stunde beantragt hat, war, dass es unser Wunsch ist, dass sich Vertreter der Regierung der Bun- In Russland legt man völlig andere Maßstäbe an. desrepublik Deutschland, nämlich der Herr Bundeskanz- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) ler und der Herr Außenminister, ähnlich deutlich und eindeutig hier vor dem Deutschen Bundestag artikulie- Ich kann Ihnen sagen, welcher Fall sich erst in der letz- ren. ten Woche ereignet hat. Da war eine Menschenrechts- delegation unter Führung von Herrn Ponomarjow in (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Berlin. Außerdem waren der Duma-Abgeordnete Ba- Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]) buschkin von Jabloko und die Rechtsanwälte des inhaf- Als der Kollege Pflüger gerade festgestellt hat, wie tierten Unternehmers Chodorkowski dabei. Sie haben sehr ihm das Schweigen der Regierung auffällt, hat der hier in Berlin mit einigen für Außenpolitik verantwort- Kollege Volmer geantwortet: Ja, wären Sie einmal in den lichen Kollegen der Fraktionen des Deutschen Bundesta- Menschenrechtsausschuss gekommen. ges gesprochen, aber dem Auswärtigen Amt wurde von 6452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Arnold Vaatz (A) der Regierung selbst jeder hochrangige Kontakt mit die- Wir sind sehr besorgt über das, was hier vorgeht, weil (C) ser Gruppe untersagt. es den langen Weg der russischen Politik, den wir kolle- gial und partnerschaftlich begleitet haben und an dessen (Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Hört! Hört!) guten Resultaten wir gemeinsam interessiert sind, mögli- Dabei hatte diese Gruppe zu berichten, dass man inzwi- cherweise infrage stellt. In Russland ist ein wichtiger schen in Russland so weit gegangen ist, die Büros der Unternehmer – der reichste Mann Russlands, aber auch Anwälte Chodorkowskis durchsuchen zu lassen und so ein Mann des öffentlichen Lebens mit einer sehr wirksa- sein Recht auf Verteidigung anzutasten. Wenn Sie von ei- men, großen Stiftung, der Stiftung „Offenes Russland“ – ner Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft sprechen, Herr verhaftet worden, wobei kein einziger Russe glaubt, dass Kollege Bury, dann frage ich Sie: Ist das die Werte- und das kein politischer Vorgang war. Daher brauchen auch Wirtschaftsgemeinschaft, die Sie sich vorstellen, oder wir das nicht zu glauben, Herr Leibrecht; das ist völlig müssen Sie dagegen Einspruch erheben? Oder betrachten richtig. Sie haben aber auch Boris Grislow, den Vorsit- Sie es als den richtigen Weg, diejenigen, die diese Werte- zenden der putinschen Reformpartei, zitiert: Die russi- gemeinschaft einklagen, in Berlin abzuweisen? schen Bodenschätze gehören dem russischen Volk. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. In diesem Zusammenhang stellt sich sofort die Frage, Harald Leibrecht [FDP]) ob es hierbei um ein Strafverfahren geht oder ob sich da- mit eine Revision der Politik der 90er-Jahre ankündigt, Das sind Handlungsweisen, die wir von einer deutschen in denen, wie wir alle wissen, eine mehr oder weniger Bundesregierung nicht erwarten und die wir scharf kriti- gesetzlose und oft wilde Aneignung von Volksvermögen sieren müssen. Ich bin gespannt, was Sie dem Deutschen stattgefunden hat. Soll das revidiert werden? Bundestag zur Erklärung dieses Verhaltens vorzutragen haben. Aber unsere russischen Kollegen stellen ferner eine andere Frage, die ich noch gravierender finde. Sie fragen ( [CDU/CSU]: Wahrscheinlich danach, ob vielleicht nicht nur eine ökonomische, son- nichts!) dern auch eine politisch-gesellschaftliche Revision Wenn durch die Menschenrechtsverletzungen in bevorsteht. Der uns allen bekannte liberale Politiker Russland weiter der Eindruck erweckt wird, dass die De- Grigorij Jawlinskij hat festgestellt: Von der gesteuerten mokratie dort einem langsamen Zerfallsprozess ausge- Demokratie Putins bleibt im Augenblick nur noch die setzt ist, dann sind wir hier in Deutschland an erster Steuerung übrig. Stelle für diese Entwicklung mit verantwortlich, wenn Noch deutlicher hat sich Gleb Pawlowskij – keines- wir schweigen. wegs jemand, der verdächtigt ist, ein Kritiker des Kreml (B) Aus diesem Grunde fordere ich uns alle auf, eine zu sein – geäußert: Es ist klar, dass es sich um die Vorbe- (D) klare Sprache zu sprechen, ohne den Boden der freund- reitung eines politischen Schauprozesses handelt. schaftlichen und konstruktiven Auseinandersetzungen (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja! – Harald zu verlassen. Beides zu beherrschen ist eine Grundanfor- Leibrecht [FDP]: Ja!) derung, die an einen deutschen Außenminister und Bun- deskanzler zu stellen ist. Es genügt nicht, Artigkeiten Boris Nemcow – auch er ist als ehemaliger Gouver- auszutauschen. Dabei ist politische Substanz gefragt und neur von Nischnij Novgorod in Deutschland gut die vermissen wir. bekannt – hat zu dem Zusammenhang und den Verände- rungen an der Kremlspitze am 28. Oktober in der „Neza- Vielen Dank. visimaja Gazeta“ Folgendes festgestellt: (Beifall bei der CDU/CSU) Ein Sieg der Silaviki, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – das ist die Machtgruppe aus den Diensten – Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gernot Erler. die auf die wirtschaftlichen Interessen des Landes pfeifen, ist eine feste Wendung in Richtung Dikta- Gernot Erler (SPD): tur. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schauprozess, Diktatur, möglicherweise eine völlige Ich bin mit vielem einverstanden, was aus der analyti- Veränderung innerhalb der russischen Gesellschaft – das schen Beobachtung heraus vorgetragen worden ist. Aber sind keine von uns gewählten Begriffe, sondern sie wur- ich möchte an die rechte Seite des Hauses gewandt, auf den von unseren Kollegen in Russland verwendet. Ich der viele Kollegen aus der deutsch-russischen Parlamen- glaube, das macht deutlich, um welche Dimension es tariergruppe sitzen, die noch in diesen Tagen mit mir und hierbei geht. Man muss sich sehr genau überlegen, wie auch mit russischen Journalisten sehr offene Worte ge- man damit umgeht. Es geht nicht darum, sich gegensei- wechselt haben, die Frage richten: Ist der Umgang mit tig vorzuwerfen, dass der eine zu leise und der andere zu diesem Thema, indem Sie die Bundesregierung, die Fra- laut redet. Ich meine, wir haben sehr ernste Fragen zu gen stellt und sich zu dem Thema äußert, auffordern, et- stellen. Dabei sollten wir immer im Blick behalten, was was lauter zu reden, eigentlich angemessen? Ich glaube unsere Interessen sind. Unsere Interessen sind, dass all nicht, dass das dem Problem, das wir in diesem Zusam- die Befürchtungen, die unsere Kollegen aus Russland menhang haben, angemessen ist. – vielleicht auch angespornt durch den Wahlkampf, der (Beifall bei der Abgeordneten der SPD) begonnen hat – vortragen, nicht eintreten. Wir sind an ei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6453

Gernot Erler (A) nem Erfolg des russischen Transformationsprozesses Recht die Wahlbeobachtung verweigert, um keine Legi- (C) und auch der wichtigen Reformen interessiert, die sich timation zu ermöglichen. mit dem Namen Putin und seinen letzten vier Regie- (Beifall bei der CDU/CSU) rungsjahren verbinden. Wir müssen bei allem, was wir hier tun, abwägen, ob es dazu beiträgt oder nicht. Ich frage Sie aber: Wo sind die Konsequenzen daraus gezogen worden? Es liegt eigentlich in der Verantwor- Ich hoffe sehr, dass unsere Debatte – wenn sie in die- tung einer deutschen Regierung, in einer europäischen sem Ton geführt wird; es ist das gute Recht nicht nur der Gemeinschaft einem Nachbarstaat aus einer anscheinend Regierung, sondern auch des Parlaments, das zum Aus- ausweglosen Situation herauszuhelfen. Es geht nicht nur druck zu bringen; deswegen finde ich es gut, dass Sie darum, von der Russischen Föderation zu fordern, son- von der CDU/CSU diese Aktuelle Stunde beantragt ha- dern zu vermitteln und ihr zu helfen, ein demokratischer ben; das findet meine Unterstützung – der russischen Staat zu bleiben. Die besten Voraussetzungen dafür sind Seite unsere Erwartung deutlich macht, bald befriedi- ja gegeben. Noch nie waren laut Herrn Bury die deutsch- gende und auch zutreffende Antworten auf unsere erns- russischen Beziehungen – wenn auch im Kulturbereich – ten Fragen – wir erfinden das Thema nicht; es ist viel- so eng. Doch die Bundesregierung schafft es ja nicht mehr ein Thema der russischen Gesellschaft – zu einmal – das ist gerade wieder deutlich geworden –, das bekommen. Thema jenseits verschlossener Türen ausführlicher als in Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. einem Satz anzusprechen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stabile deutsch-russische Beziehungen sind gut und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der notwendig. Aber der Schmusekurs Schröders gegenüber CDU/CSU) Putin muss bei den Menschenrechten endlich ein Ende haben. Setzen Sie sich dafür ein, dass Hilfsorganisatio- nen wieder ohne Gefahr in der Krisenregion arbeiten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: können! Ich erinnere nur an den entführten Arjan Erkel Das Wort hat die Abgeordnete Melanie Oßwald. von „Ärzte ohne Grenzen“ – ich habe das bereits in mei- (Beifall bei der CDU/CSU) ner ersten Rede erwähnt –, der nach anderthalb Jahren noch immer nicht befreit ist.

Melanie Oßwald (CDU/CSU): Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, Russland Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ange- dazu zu drängen, Hilfe vonseiten des Europarates, der sichts der schwierigen Situation in Tschetschenien sind OSZE und der Vereinten Nationen zu akzeptieren. Au- ßerdem muss sie sich schnellstens dafür einsetzen, dass (B) wir uns eigentlich einig – Frau Roth, Sie haben das be- (D) reits ausgeführt –: Wir verurteilen die Anschläge tschet- das Mandat der OSZE wieder zustande kommt. schenischer Terroristen. Wir wollen, dass Russland die (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ Menschenrechte einhält. Wir setzen uns vehement für DIE GRÜNEN und der FDP) die tschetschenische Zivilbevölkerung ein. Wir wollen das Leid der Flüchtlinge beenden, die immerhin fast die Der Tschetschenienkrieg ist nicht nur für Russland Hälfte des tschetschenischen Volkes ausmachen und er- eine Schande, sondern auch für Deutschland und die heblichen Diskriminierungen in der Russischen Födera- Welt, vor deren Augen unter dem Deckmantel der Be- tion ausgesetzt sind. Wir wollen verhindern, dass sich kämpfung des internationalen Terrorismus ein ganzes der Konflikt auf den ganzen Kaukasus oder sogar auf Volk seines Landes und seiner Lebensmöglichkeiten be- ganz Russland ausweitet. Das unendliche und unge- raubt wird. Die westlichen Demokratien dürfen dieser rechte Leid des Tschetschenienkrieges muss nicht nur im einseitigen Logik der russischen Führung nicht folgen. Namen der CDU/CSU-Fraktion ein Ende haben. Die Wir müssen darum gemeinsam eine internationale Frie- Tschetschenen haben ein Recht, in Frieden und Würde denslösung anstreben. Von deutscher wie auch von euro- zu leben. Auch die jungen russischen Soldaten haben päischer Seite muss dringend ein fundiertes Konzept Anspruch auf eine politisch durchdachte und vernünftige zum Tschetschenienkonflikt erarbeitet werden. Lösung des Bürgerkrieges. Die Suche nach Auswegen aus einer derart kompli- Es besteht weiterhin dringendster Handlungsbedarf zierten Konfliktsituation ist sehr schwer: Der europäi- seitens der Bundesregierung. Besorgnis alleine reicht sche Gerichtshof für Menschenrechte kann bis zur nicht aus; denn Tschetschenien ist keinesfalls, wie in der Stunde zwei Beschwerdeführer nicht auffinden. Diese russischen Öffentlichkeit oft behauptet wird, weitgehend Ankläger müssen geschützt werden. Menschenrechts- befriedet und nun in der Lage, legitime Institutionen zu verletzungen müssen konsequent aufgeklärt und die Tä- schaffen, und zwar auch nicht nach dem Referendum ter müssen bestraft werden. Außerdem müssen in und den Präsidentschaftswahlen, die – auch darin sind Tschetschenien eine effektive Verwaltung und eine ef- wir uns einig – eine reine Farce des Kremls waren. fektive Justiz geschaffen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Diese Wahlen waren im wahrsten Sinne des Wortes bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- ein Urnengang. Die letzte Hoffnung auf Frieden wurde NISSES 90/DIE GRÜNEN) begraben. Ich frage Sie: War das die politische Lösung, die wir gefordert haben und die Hilfe bringen sollte? Ich Es reicht nicht, zu hoffen und besorgt zu sein; denn es sage Ihnen: Nein! Wir Abgeordnete haben völlig zu dürfen nicht noch mehr unschuldige Menschen ihr 6454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Melanie Oßwald (A) Leben lassen. Eine friedliche politische Lösung in Wir sollten grundsätzlich für eine Kooperation auch auf (C) Tschetschenien muss schnellstens angestrebt werden. wirtschaftlichem Gebiet eintreten, die die Thematisie- Sie können sicher sein: Dafür werde ich weiter kämpfen, rung der Menschenrechts- und der Demokratiefrage wenn ich im Dezember als Wahlbeobachterin in Moskau nicht ausschließt. Eine solche Kooperation kann gera- bin. Ich appelliere an Sie: Schauen Sie nicht weg, wenn dezu als Medium benutzt werden, um diese Frage immer einem freiheitsliebenden Volk die Lebensgrundlage ent- wieder systematisch anzusprechen. zogen wird! Ich habe übrigens nicht den Eindruck, dass die Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie desregierung diese Fragen nicht anspricht, nur weil sie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- es nicht durch öffentliche Proklamationen tut. Man kann NISSES 90/DIE GRÜNEN) sich zwar wünschen, dass hin und wieder ein lautes Wort fällt; aber ich weiß aus eigener Beobachtung, dass dieses Thema immer wieder angesprochen wird. Das geschieht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: allerdings so, wie es Diplomaten gern tun, wenn sie be- Das Wort hat der Abgeordnete Ludger Volmer. fürchten, dass Interessen wie diejenigen, die ich gerade beschrieben habe, durch eine falsche Tonlage in Mitlei- Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): denschaft gezogen werden könnten. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Was habt Herren! Ich habe den Eindruck, dass die Debatten über ihr das früher immer kritisiert, als ihr noch in Russland, die wir hier seit Jahren führen, an zwei sich der Opposition wart!) gegenseitig ergänzenden Vereinseitigungen leiden: Ent- weder haben wir Menschenrechtsverletzungen und den Wir kritisieren die Verhaftung von Chodorkowski Demokratiemangel im Visier und kritisieren Russland – Claudia Roth und andere haben es eben getan – nicht, massiv und öffentlich – dabei vergessen wir aber die weil wir meinen, dass Oligarchen wie in der Vergangen- Notwendigkeit der Kooperation, die uns nach dem Ende heit agieren sollen. Oligarchie ist das Gegenteil von De- des Kalten Krieges als Chance zugewachsen ist – oder mokratie und nicht deren Erfüllung. wir thematisieren die Sicherheitspolitik sowie die Wirt- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schaftspolitik und neigen dazu, Menschenrechtsverlet- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) zungen und den Demokratiemangel aus den Augen zu verlieren. Der Liberalismus der Oligarchen ist kein Liberalismus in unserem – demokratischen – Sinne. Deshalb gibt es ein Die heutige Debatte ist vielleicht eine rühmliche Aus- gewisses berechtigtes Interesse, da-rauf zu achten, dass (B) nahme. Man hat hier nämlich versucht, diese beiden die Liberalisierung in Russland nicht so weit geht, dass (D) Punkte zusammenzubringen. Im Hinblick auf unsere die strategischen Rohstoffe des Landes an internationale Russlandpolitik ist es notwendig, die Friedensdividende, Konzerne ausverkauft werden. die wir uns 1989/90 mit dem Ende des Warschauer Pakts eingehandelt haben, auch zur Verbesserung unserer Si- (Beifall des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) cherheit zu nutzen. Da Demokratie und Menschenrechte Ich weiß nicht, worin der Vorteil für uns bestehen soll, in Russland eine Funktion der Sicherheit sind, dürfen wenn die russische Oligarchie durch die Oligarchie der wir sie aus der Debatte nicht ausschließen. internationalen Ölkonzerne ausgetauscht wird. Das kann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht die Alternative sein. sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) CDU/CSU) Wenn wir ein Interesse daran haben, dass Russland Wir brauchen Russland nach wie vor als verlässlichen seine Öl- und Gasreserven insbesondere mit uns aus- Kooperationspartner für die Sicherheit in Europa. Wir tauscht – so könnten wir unsere einseitige Abhängigkeit brauchen Russland für eine kooperative Sicherheitspoli- von der Golfregion endlich verlieren; so würde aber tik bezogen auf Regionalkonflikte. Ich denke etwa an die auch zu einer Beruhigung im Mittleren Osten beigetra- Kooperation im Nahostkonflikt – Stichwort Roadmap –, gen –, dann sollten wir parallel zu allen Diskussionen wo es übrigens keine deutsch-russische Achse gegen die und Verhandlungen über eine Gaspipeline durch die Ost- USA gibt; vielmehr handeln wir zusammen mit den see systematisch mit thematisieren, dass die Oligarchie USA und mit der UNO. Die Zusammenarbeit mit Russ- langsam, aber sicher in Demokratie überführt wird. Das land in Sachen Irak war gut und sinnvoll. Das ist auch sind zwei Elemente in der Politik, die unmittelbar zu- dann so, wenn Sie, Herr Pflüger, dies als „Achse“ be- sammengehören. zeichnen. In der Soziologie gibt es eine harte These: Demokra- Wir brauchen Russland auch im Kampf gegen den tie ist die Regierungsform der bürgerlichen Gesellschaft. Terror. Wir können aber nicht akzeptieren, dass Men- In dieser Striktheit finde ich die These falsch. Aber als schenrechte in Tschetschenien unter dem Label „Kampf weiche These finde ich sie richtig: Die Existenz einer gegen den Terrorismus“ massiv verletzt werden. bürgerlichen Gesellschaft befördert die Entwicklung von Demokratie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Nun frage ich, wie es um die demokratische Gesellschaft CDU/CSU) bzw. um die bürgerliche Gesellschaft in Russland bestellt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6455

Dr. Ludger Volmer (A) ist. Nach all den Transformationsprozessen der letzten sagt worden. Die Menschenrechtsverletzungen werden (C) zehn, 15 Jahre können wir sagen: Sie ist immer noch viel zu von den Sicherheitskräften wie von den Rebellen began- schwach. Es gibt ein Bürgertum im Wirtschaftsbereich, das gen. Für den Dialog mit der russischen Regierung ist auf der einen Seite durch die Oligarchen geprägt ist – das ist entscheidend, dass das zutrifft, was der Kollege Bindig alles andere als demokratisch – und auf der anderen Seite das Klima der Straflosigkeit genannt hat. Die russische durch einen Bodensatz, den man nur als mafios bezeich- Regierung hat ihr Versprechen, dass auch Menschen- nen kann; auch das ist alles andere als demokratisch. rechtsverletzungen, die von staatlichen Sicherheitskräf- Was wir im Auge haben – das politische Bürgertum, den ten begangen werden, geahndet werden, bis heute nicht Mittelstand, die sozialen Mittelschichten der urbanen eingelöst. Die wenigen Strafverfahren, die es gegeben Welt –, ist noch sehr schwach. Auch die Zivilgesell- hat, entsprechen in keiner Weise dem Umfang der be- schaft ist leider noch viel zu schwach. gangenen Menschenrechtsverletzungen. Wenn wir wollen, dass sich in Russland Demokratie Einigkeit besteht doch wohl darüber, zumindest unter entwickelt, dann müssen wir den staatlichen Diskurs den Menschenrechtspolitikern, dass es eine nicht akzep- führen und müssen auch mit Putin und anderen deutlich table Leisetreterei der europäischen Regierungschefs darüber reden. Wir sollten aber gleichgewichtig zum gibt. So erklärte die Vorsitzende des Ausschusses für Ausbau unserer wirtschaftlichen Beziehungen unsere ge- Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Christa Nickels, sellschaftlichen Dialoge mit dem kleinen Kern von De- im Vorfeld der Wahlen in Tschetschenien – ich zitiere mokratie, mit der Keimzelle von Demokratie, verstär- wörtlich –: ken, das heißt unsere Zusammenarbeit insbesondere mit der Zivilgesellschaft und mit den Reformern im gesell- Im Vorfeld der Wahl hört man von den europäi- schaftlichen Bereich intensivieren. schen Regierungschefs nichts. Danke. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Leider!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollege Bindig kritisierte vor einigen Tagen bei einer und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Veranstaltung des Deutschen Instituts für Menschen- CDU/CSU und der FDP) rechte den Einsatz westlicher Staats- und Regierungs- chefs – ich zitiere wörtlich – als nicht hinreichend.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die schlimmen Äußerungen des italienischen Regie- Das Wort hat der Abgeordnete Hermann Gröhe. rungschefs sind hier schon erwähnt worden. Da kann man gen Rom nur rufen: Si tacuisses! – Wenn du doch nur geschwiegen hättest! (B) Hermann Gröhe (CDU/CSU): (D) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich zunächst GRÜNEN]: Aber Philosoph wäre er trotzdem eine Vorbemerkung machen. Wir alle betonen immer nicht!) wieder, dass Menschenrechtspolitik eine Querschnitts- Aber auch Bundeskanzler Schröder hat durch fragwür- aufgabe ist. Aber im Durchschnitt ist die Regierungs- dige Äußerungen zu dem Eindruck beigetragen, dass mit bank bei Menschenrechtsdebatten ziemlich leer. dem Kampf gegen den Terrorismus eine größere Nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sicht gegenüber der russischen Politik im Kaukasus ver- bunden ist. So sprach er unmittelbar nach den schreckli- Herr Kollege Volmer, Sie haben gesagt: Wir dürfen chen Terroranschlägen vom 11. September 2001 von der hier keine Arbeitsteilung machen nach dem Motto: Hier Notwendigkeit einer „Neubewertung“ der Lage in sind die, die über die Menschenrechtsfragen reden, und Tschetschenien. Ja, im Vorfeld des seinerzeitigen Refe- dort sind die, die über Sicherheits- oder Wirtschaftspoli- rendums in der Kaukasusrepublik lobte er sogar „gute tik reden. Die Abwesenheit jedes Bundesministers ent- Ansätze“ in der russischen Tschetschenienpolitik. larvt, dass genau dies die Arbeitsteilung von Rot-Grün ist. Welche Verbitterung solche beschönigenden Formu- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt lierungen vor allem bei den Menschenrechtsorganisatio- [Salzgitter] [SPD]: Was soll denn dieser Un- nen in Russland auslösen, die unter schwierigsten Bedin- sinn? Dies ist eine Aktuelle Stunde! Sie hätten gungen für Menschenrechte in ihrem Land und vor allen doch mal einen Antrag zusammenstellen kön- Dingen für eine politische Lösung im Kaukasus eintre- nen!) ten, macht die Äußerung von Oleg Orlow, dem Vorsit- – Wir haben das auch in den letzten Menschenrechtsde- zenden von Memorial – auf die wertvolle Arbeit von batten so erlebt, Herr Schmidt. Schreien Sie doch nicht Memorial hat ja Kollegin Roth zu Recht hingewiesen –, auf, nur weil sie erwischt worden sind! Wir haben das in deutlich. Oleg Orlow erklärte wörtlich: „Entweder ist all den letzten Menschenrechtsdebatten genau so erlebt. Schröder ein Zyniker oder er zeichnet sich durch Inkom- petenz aus.“ (Beifall bei der CDU/CSU – Detlef Dzembritzki [SPD]: Bei der CDU/CSU-Fraktion sind zwölf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollegen da!) Längst haben sich Befürchtungen bewahrheitet, der Zu der Wahlfarce in Tschetschenien und zu den anhal- Wille der russischen Regierung, den Konflikt gewaltsam tenden Menschenrechtsverletzungen ist Deutliches ge- zu lösen, werde sich als schleichendes Gift gegen 6456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Hermann Gröhe (A) Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte auch in der üb- jährigen Programms ist eine globale Partnerschaft gegen (C) rigen Russischen Föderation auswirken. Zunehmende die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und -ma- Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind zu beobach- terialien. Zu den vorrangigen Anliegen der globalen Part- ten: Das Fernsehen ist weitgehend wieder unter Kon- nerschaft gehören die Zerstörung chemischer Waffen, die trolle der politischen Machthaber. Demontage von außer Dienst gestellten U-Booten, die Entsorgung spaltbaren Materials und die Beschäftigung Als ich im Oktober die Büros von Memorial in Mos- früherer Rüstungsforscher. Auch dies trägt, wie ich kau und St. Petersburg besuchte, lag ein Einbruch Unbe- denke, dazu bei, dass wir Russland stabilisieren und ihm kannter im Büro von Memorial in St. Petersburg erst we- auf dem Weg zur Demokratie helfen. Deshalb bin ich der nige Wochen zurück. Wichtige Unterlagen und alle Bundesregierung für ihr Engagement in diesem Bereich Computer waren dabei entwendet worden. Wie selbst- dankbar. Denn diese Initiativen können sich sehen lassen. verständlich ging man in beiden Büros davon aus, durch Sicherheitskräfte abgehört zu werden. (Beifall bei der SPD) Vor wenigen Wochen durchsuchten Staatsanwälte die Sie unterstreichen unser Interesse an Sicherheit und Werbeagentur der liberalen Jabloko-Partei und beschlag- Stabilität. Die Programme sind ein wichtiger Beitrag, da- nahmten Geld, Computer und zentrale Wahlkampfunter- mit die schrecklichen Hinterlassenschaften aus dem Ost- lagen. Der Vorsitzende dieser Partei spricht vom „Kapi- West-Konflikt nicht in die Hände von Terroristen gelan- talismus mit stalinistischem Gesicht“. Seine Partei gen. befürchtet zu Recht, dass ein fairer Wettbewerb nicht möglich ist, wenn der politische Gegner die zentralen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auf ei- Ideen für den eigenen Wahlkampf, die Strategien und nen zweiten Aspekt aufmerksam machen, der die Bedeu- das Programm erhält. tung der deutschen Russlandpolitik unterstreicht. Die Bundesregierung setzt sich für Abrüstung und Rüstungs- Meine Damen und Herren, nicht Lautstärke ist gefor- kontrolle ein. Wir brauchen in einem vereinten Europa dert, verehrter Herr Kollege Erler; vielmehr muss end- keine großen Armeen mehr. Ein Meilenstein dabei ist lich Klartext gesprochen werden. Dazu leisten viele Ab- der Vertrag über die Reduzierung der konventionellen geordnete aus allen Fraktionen dieses Hauses einen Streitkräfte in Europa, kurz: KSE-Vertrag. Das Abkom- Beitrag. Die Bundesregierung ist aufgefordert, endlich men ist für Frieden, Stabilität und Sicherheit an den diesem Beispiel zu folgen. Grenzen Russlands von großer Bedeutung. Wir müssen Vielen Dank. daher alles dafür tun, dass der angepasste KSE-Vertrag so schnell wie möglich in Kraft tritt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) Die erfolgreichen Anstrengungen Russlands, seine (D) Streitkräfte auf die im Art. V des Vertrages vereinbarten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Obergrenzen zu reduzieren, verdient Anerkennung; Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Mützenich. gleichwohl brauchen wir eine Klärung der noch offenen Fragen zwischen Russland und Georgien. Hier hat die Dr. Rolf Mützenich (SPD): Bundesregierung geholfen, Vertrauen und Verständigung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zu fördern. Auch dies ist ein Aspekt, auf den wir, wenn Deutschland trägt maßgeblich zur Unterstützung des wir über deutsche Russlandpolitik sprechen, hinweisen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in müssen. Erst vor kurzem hat eine georgische Delegation Russland bei. Es ist offenkundig: Das ist ein schwieriger auf Einladung der Bundesregierung in Deutschland an Balanceakt. Wir haben ein Interesse an einem stabilen einem Seminar über die Lage im Südkaukasus und den Russland. Stabilität und Verlässlichkeit sind ohne angepassten KSE-Vertrag teilgenommen. Rechtsstaatlichkeit aber nicht denkbar. Darauf wirken wir ein; das macht die heutige Debatte deutlich. Auch wenn sich der erwartete vollständige Abzug russischer Truppen aus Moldau weiter verzögert, besteht Ich bin gegen Schwarzweißmalerei. Wir müssen klug die Hoffnung, dass Russland die vollständige Erfüllung und behutsam für die Demokratie in Russland arbeiten. dieser Verpflichtungen bis Ende 2003 erreichen kann. Den Demokraten in Russland ist aber nicht mit Laut- Ich bin mir daher sicher, dass die Bundesregierung die- stärke geholfen. Wir müssen vielmehr die Rahmenbedin- sen Prozess im Rahmen der OSZE weiter fördern wird. gungen beeinflussen, um die Strukturen und die Grund- Die Erfüllung der noch offenen Istanbuler Verpflichtun- lagen der Demokratie zu stabilisieren. Daran arbeitet gen bezüglich Georgien und Moldau wird die Vorausset- diese Bundesregierung. zungen dafür schaffen, dass die Mitgliedsländer des Bündnisses und andere Vertragsstaaten die Ratifizierung (Beifall bei der SPD) des angepassten KSE-Vertrags weiterführen können und Liebe Kolleginnen und Kollegen, Thema ist die deut- dieser in Kraft treten kann. Dies ist die Voraussetzung sche Russlandpolitik. Deshalb möchte ich gerne auf drei für weitere, mutige Abrüstungsschritte in Europa. Aspekte aufmerksam machen, die bisher noch keine Rolle gespielt haben: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die Ge- legenheit nutzen, um ein drittes Thema anzusprechen: Erstens. Die USA, Russland und Deutschland haben Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist im Juni 2002 eine Initiative zur Beseitigung von militäri- eine schwierige Aufgabe. Militärische Mittel sind dabei schen Altlasten in Russland angestoßen. Ziel des mehr- nur begrenzt hilfreich und angemessen. Leider müssen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6457

Dr. Rolf Mützenich (A) wir beobachten, dass im Windschatten dieser Aufgabe Klima verbreitet. Denn jeder, der jetzt schweigt, vergrö- (C) neue Unsicherheiten zwischen Staaten provoziert wer- ßert den Spielraum derer, die die russische Gesellschaft den. Dazu zählt die Absicht, ohne Beachtung des Völ- wieder autoritär umgestalten wollen. kerrechts Gewalt in Form von militärischer Prävention Deshalb besteht jetzt die Notwendigkeit, angemessen, einzusetzen. aber deutlich zu sagen, was wir von der möglichen Ent- Vor einem Monat wurden Teile der neuen russischen wicklung halten. Das ist die Aufgabe der Bundesregie- Militärdoktrin bekannt. Auch darin sind offenbar Prä- rung; dieser weicht sie aber aus, was in dieser Situation ventivschläge gegen Staaten und Regionen vorgesehen, falsch ist. von denen „eine Gefahr für die nationale Sicherheit Angesichts der sich verschlechternden Verhältnisse Russlands ausgeht“. Darüber hinaus wurde die Aufstel- für ausländische Investoren in Russland fragt man sich, lung neuer Atomraketen mit Mehrfachsprengköpfen an- worauf man sich noch verlassen kann. Man muss wieder gekündigt. Dies sind Entwicklungen, die uns beunruhi- Eigenheiten der russischen Bürokratie beachten, von de- gen müssen. nen man glaubte, dass sie ausgeräumt seien. Man muss (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wieder Kreml-Astrologen befragen. Diese Zeit sollte DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Russland eigentlich hinter sich haben. FDP) Stabilität und Berechenbarkeit sind gefragt. Deshalb Die SPD-Fraktion bekräftigt, dass das offenbar von kommt der Frage der Unabhängigkeit der Justiz und der immer mehr Staaten in Anspruch genommene Recht zu Pressefreiheit eine so enorme Bedeutung zu. Präventivschlägen nicht der richtige Weg sein kann, um (Beifall des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ die internationale Politik zu gestalten. Dies gilt selbst- CSU]) verständlich nicht nur für die USA, sondern auch für Russland. Die Bedenken, ob die Unabhängigkeit der Justiz gewahrt ist, zeigen, wie ernst diese Probleme in der Zusammen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ arbeit mit Russland genommen werden. Ein Gesetz mit DIE GRÜNEN) dem Titel „Gesetz gegen Agitation im Wahlkampf“ zeigt mir, wie die Verhältnisse in Russland sind. Ich bitte daher die Bundesregierung, mit Russland über die Folgen einer neuen Militärdoktrin zu sprechen. (Gernot Erler [SPD]: Das ist aber kassiert wor- den!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte hat deutlich gemacht: Die Bundesregierung unterstützt die Es geht um die Unterbindung demokratischer Freiheiten. Es wird der Versuch unternommen, eine uniforme Ge- (B) Reformen von Präsident Putin. Wir brauchen ein stabiles (D) und demokratisches Russland. Rechtsstaatlichkeit, Ge- sellschaft wiederherzustellen. waltenteilung und soziale Sicherheit sind Voraussetzun- All diejenigen, die es mit Russland gut meinen und gen für den Frieden in Europa. Wir müssen Russland die an einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit sowie weiterhin als kooperativen Partner in die internationale an der Entwicklung gemeinsamer Ideen für den Bau des Politik einbinden. Ich ermutige die Bundesregierung, Hauses Europa – ich will diesen alten Begriff einmal diesen Weg weiterzugehen. verwenden – interessiert sind, müssen jetzt Farbe beken- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. nen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. DIE GRÜNEN) [SPD]) Ich will daher sagen, dass sich der Beitrag von Frau Roth Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: so angenehm von dem unterscheidet, was vonseiten der Und wir, lieber Herr Kollege Mützenich, gratulieren Bundesregierung vorgetragen worden ist. Ihnen zu Ihrer ersten Rede hier im Plenum. Deutschland ist mit einem Anteil von 10 Prozent am (Beifall) Gesamthandel der größte Außenhandelspartner Russ- lands. Der bilaterale Handel liegt bei knapp 25 Milliar- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erich Fritz. den Euro. Im ersten Halbjahr 2003 stiegen unsere Ex- porte nach Russland um 4,7 Prozent. Die deutschen Erich G. Fritz (CDU/CSU): Investitionen in Russland liegen bei 4 Milliarden Dollar. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bury, Sie ha- Damit ist Deutschland der größte Investor in Russland. ben für die Regierung gesprochen. Vielleicht ist Ihnen Auch für die Zukunft zeichnet sich ein großes Poten- aufgefallen, dass in der Debatte niemand auf Sie einge- zial ab – aber nur dann, wenn es gelingt, die Vorhaben, gangen ist. Womit hängt das zusammen? Das hängt da- die jetzt in der Pipeline sind, in einem störungsfreien mit zusammen, dass sich niemand mehr daran erinnern Umfeld weiter voranzutreiben. Daneben muss eine kann, was Sie vorgetragen haben. Es war eine belanglose Struktur in Russland entwickelt werden, die einen Han- Erklärung, die allem ausgewichen ist, worum es hier ei- del auf Gegenseitigkeit ermöglicht und nicht auf dau- gentlich geht. Herr Kollege Erler, es geht nicht darum, ernde Rohstoffabhängigkeit setzt. jetzt großmännisch gegenüber Russland aufzutreten, überhaupt nicht. Aber es geht auch nicht, dass die Regie- Das Ziel der russischen Führung muss es sein, das rung nur ausblendet, ignoriert, wegsieht und ein gutes Vertrauen der ausländischen Investoren zu erhalten bzw. 6458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Erich G. Fritz (A) wiederzugewinnen. Ohne zusätzliche Auslandsinvesti- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) tionen und ohne verlässliche Rahmenbedingungen ist Das Wort hat jetzt die Kollegin Jelena Hoffmann. der Beitritt Russlands zur WTO im nächsten Jahr sehr infrage gestellt. Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und der FDP und des Abg. Markus Meckel [SPD]) Kollegen! Bei meinen politischen Gesprächen in Mos- kau im September wurde mir klar, dass die Verbindung Am Beispiel China kann man nachvollziehen, wie zwischen Politik und Oligarchen in Russland zu einem enorm die Anstrengungen sein müssen, um den Prozess Wahlkampfthema gemacht wird, und zwar von fast allen der Angleichung an die Verhältnisse der WTO-Mit- Parteien. Und nun beschäftigen wir uns im Bundestag gliedsländer zu schaffen. In Russland geschieht hinsicht- mit der Verhaftung des Oligarchen Chodorkowski – auch lich der Vorbereitungen auf diesen Beitritt genau das Ge- ich musste lernen, den Namen auszusprechen – und den genteil. Das ist schlecht für beide Seiten: Das ist schlecht eventuellen Folgen dieser Verhaftung auf die deutsch- für unsere Wirtschaftsbeziehungen und das ist auch russische Politik. schlecht für die Möglichkeit Russlands, selbst voranzu- kommen. Ich möchte davor warnen, die Beziehungen zu Russ- land und Russland als Land auf diesen Vorfall zu redu- Dass noch viel Vertrauen gewonnen werden muss, zieren. Es liegt der Verdacht nahe, dass die Opposition zeigt auch ein Vergleich mit Polen. Während es in Russ- gerade mit diesem Ziel die Aktuelle Stunde beantragt land im Jahr 2002 Auslandsinvestitionen in Höhe von hat. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie 23 Milliarden Euro gegeben hat, waren es in Polen und sollten sich nichts vormachen und in der sicherheitspoli- China immerhin schon 45 Milliarden Euro. Daran sieht tischen Realität von heute ankommen. Wir brauchen ei- man, welchem Land man bei vergleichbaren politischen nen starken – ich betone ausdrücklich: einen starken – Verhältnissen mehr zutraut, dass die Richtung stimmt Partner Russland, der mit uns, Europa und den USA zu- und dass eine einheitliche Entwicklung, die zu einer sta- sammenarbeitet. Ohne Russland wird es auf Dauer kei- bilen Rahmenordnung führt, möglich ist. nen Frieden in Europa geben. Deshalb unterstützt (Markus Meckel [SPD]: Soll das heißen, dass Deutschland Russlands Annäherung an die NATO und China demokratischer ist als Russland?) die Europäische Union und vor allem auch die Mitglied- schaft Russlands in der WTO. – Nein, genau das habe ich nicht gesagt, Herr Meckel. Das Vertrauen, dass die Entwicklung in die richtige Natürlich müssen wir von beiden Seiten des Parla- Richtung geht, ist im Falle Chinas größer. Viele wissen ments vieles von dem aufzählen, was in Russland unse- (B) nämlich im Augenblick nicht, wohin der Weg Russlands rem Demokratieverständnis nicht entspricht. Das tun wir (D) geht. auch heute mit dieser Debatte. Doch wir sollten uns vor Augen führen, welche gewaltigen Reformen Russland in (Markus Meckel [SPD]: Wirtschaftlich, mei- den letzten Jahren durchgeführt hat. Das Gesellschafts- nen Sie! Aber Sie meinen doch nicht demokra- system, die Staatsstrukturen, die Wirtschaftsordnung, ja tisch!) auch Kultur und Wissenschaft haben einen gewaltigen Umbruch und Wandel erfahren. Und dieser Prozess ist Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bei weitem noch nicht abgeschlossen. Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon abgelaufen. Sie Im Jahr 2002 hat die Modernisierungsstrategie Putins können jetzt keine Dialoge mehr führen. größere Erfolge erzielt. Die drei wichtigsten Säulen der Wirtschaftspolitik, Energie, Rüstung und Transportwe- Erich G. Fritz (CDU/CSU): sen, konnten als Grundlage für die Entwicklung des Lan- Vielen Dank für den Hinweis, Frau Präsidentin. des erhalten werden. Leider wurde die schon oft ver- Ich will zum Schluss noch das Wort von der Bürger- schobene Bankenreform erneut auf das Jahr 2005 gesellschaft aufgreifen, das Herr Volmer gebraucht hat. verschoben und die bitter notwendigen Gesetze zur Un- terstützung des Mittelstands wurden kaum durchgesetzt. Natürlich ist es das Problem Russlands, dass sich eine demokratisch strukturierte Gesellschaft in seiner 70-jäh- Doch die russische Wirtschaft entwickelt sich, vor al- rigen Geschichte nicht entwickeln konnte. Aber umso len Dingen auch aus unserer Sicht, mit 4 bis 6 Prozent mehr muss jetzt natürlich alles dafür getan werden, dass Zuwachs ziemlich gut, und zwar nicht nur aufgrund des diejenigen nicht hoffnungslos werden, die auf dem Weg Ölpreises. Man sollte nicht vergessen, dass die EU Russ- sind, genau eine solche Gesellschaft zu bilden. land im letzten Jahr den marktwirtschaftlichen Status zu- erkannt hat. Diese Tatsache wird auch durch die Intensi- (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vierung der Tätigkeit deutscher Unternehmen in NEN]: Sage ich doch!) Russland dokumentiert. Deshalb vielen Dank für Ihre Beiträge. Deshalb aber auch weiterhin die Kritik an der Regierung: So geht es Anfang der 90er-Jahre konnte man einem Unterneh- nicht, meine Damen und Herren. men kaum empfehlen, nach Russland zu gehen. Es exis- tierten keine an der Marktwirtschaft orientierten Geset- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ludger zesgrundlagen. Die Gesetze änderten sich schneller, als Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne sie gedruckt waren, und wenn Gesetze da waren, hat den Schlusssatz hätten wir auch geklatscht!) man sich an die Gesetze nicht gehalten. Doch jetzt sind Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6459

Jelena Hoffmann (Chemnitz) (A) über 1 200 Repräsentanzen deutscher Unternehmen in trauen zu erwerben und mit internationalen Partnern wie (C) Russland tätig. Deutschland als Handelspartner der Rus- Deutschland eine langfristige Perspektive zu entwickeln. sischen Föderation nimmt mit einem Anteil von etwa Deshalb können und müssen wir die Bundesregierung in zehn Prozent am gesamten Handelsvolumen den ersten ihrer Russlandpolitik unterstützen. Platz ein. Danke. Russland hat ein hohes Wirtschaftswachstum und ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Markt der Zukunft. Daraus ergeben sich Chancen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die man nutzen sollte. Vor kurzem haben in Jekaterinen- burg die deutsch-russischen Regierungskonsultationen stattgefunden. Sie haben eindrucksvoll die erfolgreiche Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen der bei- Jetzt möchte ich das noch einmal für alle klären: Eine den Staaten bestätigt. Der Bundeskanzler wurde von ei- Aktuelle Stunde ist eigentlich so gedacht, dass man ei- ner hochrangigen Wirtschaftsdelegation begleitet, was nen ganz kurzen, freien Redebeitrag zu dem aktuellen das große Interesse der deutschen Wirtschaft an einer Punkt macht. Lange Redebeiträge bzw. eine Rede von Verstärkung der Zusammenarbeit mit Russland beweist. sieben Minuten entsprechen eigentlich nicht dem Stil. Ich bitte, dass das die Nächsten bedenken. Die deutsche und die russische Bahn haben verein- bart, den bilateralen Personen- und Güterverkehr auszu- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch. bauen. Touristen sollen von Berlin über Kaliningrad nach Sankt Petersburg fahren können. Der deutsche Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Energiekonzern Eon beabsichtigt, gemeinsam mit russi- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- schen Partnern ein hochmodernes Gaskraftwerk nicht ehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. – Es ist gut weit von Moskau zu bauen und zu betreiben. Ein Ab- und richtig, dass sich die Bundesregierung um gute Be- kommen zur Entsorgung der russischen Atom-U-Boote ziehungen zu Russland bemüht. Das gebietet nicht nur die sowie zahlreiche Vereinbarungen und Verträge zwischen deutsche Geschichte, sondern allein schon die Vernunft. Unternehmen, vor allem auch zwischen Unternehmen Aber gute Beziehungen sollten auch eine kritische Sicht aus dem mittelständischen Bereich, sind unterzeichnet auf die Politik des anderen beinhalten. Aus dieser kriti- worden. schen Sicht sollten Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Gespräche in Jekaterinenburg haben gezeigt, dass (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) die von Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin im Wir haben erlebt, dass in der Frage der Menschen- Jahr 2000 ins Leben gerufene deutsch-russische Strate- rechte schon immer eine unterschiedliche Messlatte an- (B) giearbeitsgruppe zu einem bewährten Instrument in den gelegt worden ist. Ich darf Sie an die Ereignisse im ver- (D) bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen geworden ist. gangenen Jahr im Dubrowka-Theater, dem Theater Insgesamt sind diese Beziehungen von einer steigenden „Nord-Ost“, erinnern. Tschetschenen hatten in diesem Dynamik geprägt und besitzen große Potenziale. Natür- Moskauer Theater einen Saal voller Menschen als Gei- lich verläuft die Entwicklung nicht immer reibungslos seln genommen. Das ist ein Verbrechen, das nicht zu und für unsere Unternehmen nicht schnell genug. Den- rechtfertigen ist. Es ist aber auch ein Verbrechen gewe- noch kommen viele deutsche Unternehmen gut voran. sen, das aus Verzweiflung geboren war. Sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition, Wie wurde reagiert? – Die russischen Behörden leite- als Echo der amerikanischen Presse rufen Sie immer ten Nervengas in das Theater, richteten die Geiselneh- nach Sanktionen oder politischen Rügen gegenüber mer per Genickschuss hin und nahmen darüber hinaus Russland. Hören Sie doch lieber, was der Vorsitzende den Tod von unschuldigen Geiseln in Kauf. Wie war die des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Herr internationale Reaktion? – Die internationale Öffentlich- Mangold, über den Jukos-Fall gesagt hat – ich erlaube keit hielt sich zurück. Wie groß wäre der Aufschrei ge- mir, zu zitieren –: wesen, hätte – sagen wir es einmal ganz allgemein – je- Dies in aller Klarheit: Die Jukos-Affäre ist weder mand, der sowieso als unberechenbarer Diktator gilt, der Anfang vom Rückfall in alte Zeiten noch das Nervengas in ein Theater geleitet? Ende von Reformen und Privatisierung. Zur Re- Wir kritisieren die Zurückhaltung der Bundesregie- formpolitik Russlands gibt es nämlich keine Alter- rung in der Tschetschenienfrage außerordentlich. Meine native. Damen und Herren von der CDU/CSU, damit unter- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des scheidet sie sich nicht wesentlich von der Vorgängerre- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gierung. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bereits zum vierten Mal wird gegen das tschetscheni- Frau Kollegin! sche Volk ein Ausrottungskrieg geführt. Der erste endete nach 30 Jahren im Jahre 1859 mit der Flucht, der Ermor- Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): dung und dem Tod Tausender Menschen. Meine letzten Sätze, Frau Präsidentin. (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Auch wir beobachten die Entwicklung Russlands kri- NEN]: Die SED fand das immer schon tisch. Aber dieses Land muss die Chance erhalten, Ver- schlimm!) 6460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Gesine Lötzsch (A) – Ihr Zwischenruf, Herr Volmer, war mehr als unquali- rer Debatte über unsere Beziehungen zur Russischen (C) fiziert. Föderation die Menschenrechte ins Zentrum der Argu- mentation stellen. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der zweite Krieg gegen die Tschetschenen war die Deportation des tschetschenischen Volkes durch Hier ist ein breites Spektrum von Aufgaben zu bewälti- Stalin. – Ich weiß nicht, was die Grünen da zu lachen gen. haben. – Bei dieser Deportation nach Mittelasien ist ein Viertel des tschetschenischen Volkes ermordet worden. – Dabei geht es um wichtige Reformen in vielen Poli- Und Herr Volmer sitzt hier und grinst. tikfeldern: die Reform des Justizwesens, die Übertra- gung des Strafvollzugssystems vom Innenministerium Der dritte Krieg gegen das tschetschenische Volk auf das Justizministerium, die Reform der Staatsanwalt- wurde von 1994 bis 1996 unter Jelzin geführt. Der vierte schaft, die Anwendung der neuen Strafprozessordnung, Krieg begann im September 1999 unter Putin. das Angehen gegen die Verletzungen der Menschen- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das rechte Wehrpflichtiger, den alternativen Militärdienst, kann man aber auch nicht ernst nehmen, wie die Praxis der Religions- und der Medienfreiheit. Sie hier auftreten!) Vorhin ist kritisiert worden, dass es ein Gesetz über Ich möchte gerne wissen, warum die Bundesregierung die Begrenzung der Medien in Wahlkämpfen gibt. Es ist ihre guten Beziehungen zu Russland nicht nutzt, um hier ein ermutigendes Zeichen, dass ein Gericht dieses Ge- mehr Einfluss zu nehmen. Ich möchte gerne wissen, wa- setz zwischenzeitlich aufgehoben hat. rum diese Verletzung der Menschenrechte geduldet wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Warum hat die Bundesregierung nicht schärfer auf die DIE GRÜNEN) Wahlfarce im März und im Oktober reagiert? Das zeigt, dass die Justiz anfängt, sich von der Gänge- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Wo sie lung durch die zentrale Administration zu lösen. Recht hat, hat sie Recht!) Warum wurde zum Beispiel auf eine mündliche Anfrage, Es geht auch um die Errichtung eines menschenrecht- die ich hier gestellt habe, mehr als ausweichend reagiert? lichen Ombudsmannsystems. Es geht um die Lage im Strafvollzug. Ich möchte für die Besucherinnen und Besucher er- klärend hinzufügen, dass bei diesen Wahlen im März Vor 14 Tagen habe ich in der Fernostregion der Russi- (B) und im Oktober die Besatzungssoldaten in Tschetsche- schen Föderation eine Strafkolonie für Frauen und zwei (D) nien mit abstimmen durften. Untersuchungsgefängnisse besucht und dort teilweise unakzeptable Zustände angetroffen. Wichtig ist es, dann Die Rede von Frau Roth wurde hier von mehreren immer klar zu kritisieren, was vom europäischen Stan- Kolleginnen und Kollegen sehr gelobt. Frau Roth, als dard abweicht, klar zu sagen, was verändert werden Sie noch nicht Menschenrechtsbeauftragte des Deut- muss, aber auch anzuerkennen, wenn der Koloss sich be- schen Bundestages waren, haben Sie vor der russischen wegt, wenn es in Teilbereichen Fortschritte gibt. Botschaft Reden gegen den Krieg in Tschetschenien ge- halten. (Beifall bei der SPD) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Ohne Zweifel ist die Menschenrechtslage in Tsche- GRÜNEN]: Auch als ich es war, im Gegensatz tschenien der größte Problembereich. Praktisch täglich zu Ihnen, Frau Lötzsch!) kommt es zu neuen schweren Menschenrechtsverletzun- gen vonseiten russischer Sicherheitskräfte und der Re- Leider haben Sie heute in Ihrer Rede nicht dargestellt, bellen, aber zunehmend auch von den neu aufgebauten was Sie in Ihrer Funktion als Menschenrechtsbeauftragte so genannten Sicherheitskräften des amtierenden tsche- konkret getan haben. Sie haben uns auch nicht berichtet, tschenischen Präsidenten Kadyrow. wann Sie das letzte Mal mit Verantwortlichen in Russ- land über diese Frage gesprochen haben. Das hätte mich Das Verfassungsreferendum ist durchgedrückt wor- sehr interessiert. den. Die so genannten Präsidentenwahlen waren Schein- wahlen. Das Klima der Straflosigkeit dauert weiter an. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – Erschreckend ist auch der krasse Gegensatz zwischen Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE der Darstellung der Politik in Tschetschenien durch die GRÜNEN]: Oh, oh!) russischen offiziellen Stellen, die sagen, man habe die Lage stabilisiert und die Sicherheitsprobleme weitge- hend überwunden, und der praktischen Realität, die vor Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ort vorzufinden ist. Verschleppungen und Folter von sei- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rudolf Bindig. ten der Behörden bleiben an der Tagesordnung. Die Menschenrechtslage in Tschetschenien und in Ingusche- Rudolf Bindig (SPD): tien hat sich verschlechtert. Nach den Aussagen von Me- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- morial hat sich die Menschenrechtssituation insgesamt gen! Ich finde es richtig und wichtig, dass wir bei unse- nicht verbessert. Vielmehr hat sich das Problem verla- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6461

Rudolf Bindig (A) gert. Die früheren groß angelegten Säuberungen sind Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) durch kleine, gezielte, in der Summe aber gleich blei- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz. bende Aktionen ersetzt worden. Die Anzahl der ver- schwundenen Personen ist so hoch wie vor eineinhalb Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Jahren. Das muss sich ändern. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bisher (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ herrschte in der deutschen Russlandpolitik weitgehend DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Übereinstimmung. Wir wollten und wollen die Refor- CDU/CSU) men dort, die Transformation zu Demokratie, Rechts- staat und Marktwirtschaft sowie zur Wahrung der Men- Wir müssen mit unseren Möglichkeiten überall auf schenrechte unterstützen, entsprechende Anstrengungen eine Veränderung hinwirken. Es ist notwendig, dass fördern und natürlich auch kritisieren, wenn von diesem diese Frage bei allen Gesprächen, die auf der Ebene der Weg abgewichen wird. Staats- und Regierungschefs sowie der Außenminister geführt werden, angesprochen wird. Vor diesem Hintergrund haben Sie, Herr Kollege Erler, die Frage gestellt, ob es angemessen sei, die Bun- Ich sage durchaus: Wenn der Eindruck entsteht, das desregierung zu lauterem Reden aufzufordern. Es geht würde dort nicht intensiv angesprochen und debattiert um die auffälligen Unterschiede in der Lautstärke bei – wobei wir allerdings hören, dass das Thema immer an- dem, was die Bundesregierung macht. Denken Sie zum gesprochen wird –, muss man eben klarer sagen, was Beispiel an die Reaktionen auf die Entwicklung in Öster- denn dort angesprochen worden ist, um das für die Öf- reich und Italien. Zu den aktuellen Vorfällen in Russland fentlichkeit transparent zu machen. stellen wir jetzt ein eher beredtes Schweigen fest; das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kann ja einen eigenen Symbolgehalt bekommen. Dabei DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der müssten wir gemeinsam Sorge um Russland haben; denn CDU/CSU) wenn ich die Debatte richtig verfolge, teilen auch Sie diese Einschätzung ein wenig. Ich weiß, dass der Regierungskoordinator für die Be- Herr Kollege Volmer, Sie haben gesagt, die Bundesre- ziehungen zur Russischen Föderation, Gernot Erler, die- gierung spreche die Fragen der Menschenrechtsverlet- ses Thema anschneidet, wenn er in Moskau Gespräche zungen und der Demokratieentwicklung nicht offen, mit Vertretern der Zivilgesellschaft und den Offiziellen sondern eher diplomatisch an. Dann wäre es ein schönes führt. Auch ich habe im Auftrag des Europarates eine diplomatisches Signal gewesen, das auch sicherlich re- Reihe von Berichten angefertigt und durch diese Doku- gistriert worden wäre, wenn die Bundesregierung diese mentation der Menschenrechtsverletzungen die Informa- Aktuelle Stunde zum Anlass genommen hätte, auf der (B) tionslage in Europa mit beeinflussen können. (D) Kabinettsbank entsprechend mit Ministern vertreten zu Leider muss ich allerdings sagen, dass ich in der letz- sein. ten Zeit durch die Weigerung der CDU/CSU-Fraktion, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ein Pairing-Abkommen für internationale parlamentari- Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sche Verpflichtungen abzuschließen, bei der Wahrneh- NEN]: Ist sie doch! Herr Bury ist doch Staats- mung dieser Aufgabe behindert werde. minister!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Kollege Erler, Sie haben die russischen Kollegen DIE GRÜNEN) zitiert, die von drohenden Schauprozessen und von mög- Sie sollten wirklich noch einmal darüber nachdenken, ob lichen Entwicklungen hin zu einer Diktatur sprechen. man das nicht ändern kann. Frau Kollegin Roth und Herr Kollege Bindig haben beide – dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken – (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist klare und deutliche Worte zu den Menschenrechtsverlet- es!) zungen und zur Lage in Tschetschenien sowie zu den Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kritik an der Vorfällen um Chodorkowski gefunden. In diesem Punkt Menschenrechtssituation in Tschetschenien gegenüber sind wir uns einig. den russischen Politikern weitergeführt und noch ver- Aber, Herr Bury, solche klaren Worte hätten wir gern stärkt werden muss. von der Bundesregierung gehört. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Misshandlungen und Tötungen von Menschen in Stattdessen haben Sie davon gesprochen, dass Sie die Tschetschenien müssen aufhören. Die Verantwortlichen Entwicklung aufmerksam beobachteten und ein rechts- für Menschenrechtsverletzungen müssen zur Rechen- staatliches Verfahren erwarteten. Als hätte der bisherige schaft gezogen werden. Für den Tschetschenienkrieg Gang des Verfahrens nicht längst das Gegenteil von muss eine politische Lösung gefunden werden, die nicht Rechtsstaatlichkeit bewiesen! Dazu kein Wort von der darin bestehen kann, mit Gewalt ein einseitig moskau- Bundesregierung! orientiertes Konzept durchzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Unglaub- DIE GRÜNEN) lich!) 6462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Ruprecht Polenz (A) Der liberale Politiker Boris Nemzow beschreibt die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) gegenwärtige Situation wie folgt: „Russland wird nur Danke schön. – Die Aktuelle Stunde ist damit been- selten glücklich, aber wir hatten eine Chance. Jetzt ver- det. lieren wir sie.“ Was hätten unsere Kollegen wie Grigori Jawlinski, Nemzow oder Ryschkow gesagt, wenn sie Ih- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf: ren Erklärungen heute hier im Deutschen Bundestag hät- Erste Beratung des von den Abgeordneten ten zuhören können? Ich glaube, sie wären entsetzt und Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine enttäuscht gewesen, weil sie sich von einem wichtigen Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Partner Russlands im Stich gelassen gefühlt hätten, der der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, zu den Vorfällen, die sie bitter besorgt machen, einfach Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian schweigt und eine so blasse und nichts sagende Erklä- Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Frak- rung abgibt, wie Sie es heute für die Bundesregierung tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- getan haben. brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse- rung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (Beifall bei der CDU/CSU) (Opferrechtsreformgesetz – OpferRG) Man muss die Besorgnis haben, dass es so etwas wie – Drucksache 15/1976 – einen westlichen Deal, an dem ja nicht nur die Bundesre- Überweisungsvorschlag: gierung beteiligt ist, gibt, der besagt: Wir schweigen zur Rechtsausschuss (f) Entdemokratisierung Russlands, dafür garantiert Putin Innenausschuss dort Stabilität. Wir kritisieren die Tschetschenienpolitik Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nicht länger, dafür macht Russland im Kampf gegen den Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die internationalen Terrorismus mit. Wir sind Russland beim Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Zugang zu den globalen Wirtschaftsorganisationen be- Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. hilflich, dafür können wir Öl und Gas importieren und in Sibirien investieren. Eine solche Rechnung würde aber Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst nicht aufgehen, wenn man sie denn machte: Auf längere der Abgeordnete Joachim Stünker. Sicht könnte der Westen bei einem Sieg der Silowiki nicht sicher sein, ob nicht der alte imperiale Staat, die Joachim Stünker (SPD): alte aggressive, antiwestliche Supermacht, wiederbelebt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! würde. Dies sagt nicht jemand, der aus dem kalten Krieg Für die Opfer einer Straftat kann die Durchführung des (B) übrig geblieben ist, sondern das hat unser Kollege daraus resultierenden Strafverfahrens eine eminent (D) Wladimir Ryschkow, Mitglied der Duma, in einem Inter- große Belastung bedeuten. Es ist deshalb Aufgabe eines view der „Zeit“ zum Ausdruck gebracht. sozialen Rechtsstaates, nicht nur darauf zu achten, dass die Straftat aufgeklärt und Schuld oder Unschuld des Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles sollten wir schuldigten in einem rechtsstaatlichen Verfahren festge- ernst nehmen. Deshalb ein paar ganz klare Forderungen stellt wird, sondern ebenso darauf, dass die Belange des zum Schluss: Leisetreterei hilft dem Westen nicht. Wir Opfers gewahrt bleiben. müssen für die Liberalisierer in Russland klar Partei er- greifen. Die mit dem vorliegenden Opferrechtsreformgesetz vorgeschlagene Reform verfolgt daher das Ziel, in dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Strafverfahren die Interessen der Opfer noch stärker zu bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- berücksichtigen. Die Reform setzt daher die mit dem NISSES 90/DIE GRÜNEN) Opferschutzgesetz aus dem Jahre 1986 begonnene Ge- setzgebung, die mit dem Zeugenschutzgesetz im Jahre Unsere Forderungen müssen lauten: wirklich freie Parla- 1998 und der Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs mentswahlen im Dezember, private Fernsehstationen, im Jahre 1999 ergänzt worden ist, zur Verbesserung der eine unabhängige Justiz, freies Unternehmertum, Bürger- Rechte der Verletzten fort. Mit dem genannten Opfer- rechtsvereinigungen und Zivilgesellschaft. Nicht Putin, schutzgesetz erfolgte seinerzeit die Abkehr von der bis meine Damen und Herren, sondern nur ein demokrati- dahin gängigen Betrachtungsweise im Strafprozess, wo- scheres Russland kann auf Dauer Stabilität garantieren. nach die Opfer im Strafverfahren vornehmlich die Stel- Für diejenigen, die vor allem an Wirtschaftsfragen inte- lung als Zeuge und damit letztlich als Beweismittel inne- ressiert sind, füge ich hinzu: Nur ein demokratischeres hatten. Der Ihnen jetzt vorliegende Entwurf eines Russland kann in Zukunft auch den steten Fluss von Öl Opferrechtsreformgesetzes nimmt zudem Impulse auf, und Erdgas garantieren. Diese Forderungen sind nicht die der Rahmenbeschluss der Europäischen Union weltfremde Illusionen, sondern echte Realpolitik im Inte- über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom resse unseres Landes. 15. März 2001 für die nationale Gesetzgebung entwi- ckelt. Vielen Dank. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wiederhole, was (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ ich bereits am 8. Mai dieses Jahres in diesem Hohen DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abge- Hause gesagt habe: Lassen Sie uns die Aufgabe der Ver- ordneten der SPD) besserung des Opferschutzes gemeinsam angehen. Sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6463

Joachim Stünker (A) ist es wert – im Interesse der Opfer von Straftaten –, dass Die Quintessenz ist: Der Verletzte als Opfer einer Straf- (C) sie gemeinsam gelöst wird. tat soll, wenn es für das Verfahren nicht notwendig ist, dem Täter im Strafverfahren nicht wieder begegnen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ müssen, wenn er nicht will. DIE GRÜNEN) Alle Fraktionen des Hohen Hauses stimmen darin über- Warum ist die Implementierung eines verbesserten ein, dass wir die Rechte der Opfer von Straftaten im Opferschutzes in die Strafprozessordnung – ich habe es Strafverfahren verbessern wollen. Die Unionsfraktion bereits mehrfach angedeutet – so kompliziert, schwierig hatte bereits im Mai dieses Jahres – ich habe darauf hin- und problembehaftet? Ich möchte auf die Beantwortung gewiesen – ein entsprechendes Opferschutzgesetz einge- dieser Frage mein Augenmerk lenken. Die Schwierig- bracht. Die Regierungskoalition und die Bundesre- keiten liegen darin begründet, dass die Strafprozess- gierung folgen nunmehr mit dem vorliegenden ordnung in ihrer seit Jahrzehnten fortentwickelten Opferrechtsreformgesetz. Grundkonzeption vornehmlich die Interessen des Be- schuldigten und das Interesse des Staates an einer effek- Wir stimmen, wie ich denke, aber auch darin überein, tiven Strafverfolgung austariert. dass es kein Urheberrecht auf den Opferschutzgedanken gibt. Ich appelliere daher – wie schon vor einigen Mona- Die Strafprozessordnung wird zu Recht als die Magna ten – an Sie: Lassen Sie uns eine angemessene sachliche Charta des Beschuldigten bezeichnet. Dem widerstreiten Debatte führen, eine Debatte frei von Gezänk und politi- folgerichtig in vielen Bereichen der einzelnen Verfah- scher Rechthaberei. Die Aufgabe, die wir zu lösen ha- rensabschnitte eines Strafverfahrens die, wie wir alle ben, ist anspruchsvoll; darauf werde ich noch zurück- wissen, berechtigten Interessen des durch die Straftat kommen. Wir sollten daher gemeinsam nach der besten Verletzten. Der Deutsche Anwaltverein weist in seiner Lösung suchen. Stellungnahme daher zu Recht darauf hin, dass auch bei einer zunehmend größeren Bedeutung des Opferschutzes Lassen Sie mich in der ersten Lesung kurz die drei die grundlegenden Prozessrechte eines Beschuldigten, zentralen Ansatzpunkte unseres Entwurfes zusammen- insbesondere die Unschuldsvermutung und der An- fassend skizzieren: spruch auf ein rechtsstaatliches und faires Verfahren, in Erstens. Wir wollen die Belastungen für das Opfer ihrer Bedeutung nicht geschmälert werden dürfen. durch das notwendige Strafverfahren so gering wie mög- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich halten. Wir wollen, dass die Verfahrensrechte des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Opfers im Strafverfahren gestärkt werden. Zu diesem Zweck sollen wiederholte Vernehmungen des Opfers, Ebenso zutreffend weist der Deutsche Richterbund in (B) die ganz besondere Belastungen hervorrufen können, so seiner Stellungnahme darauf hin, dass durch die Stär- (D) weit wie möglich vermieden werden. Dem Opfer soll kung der Beteiligungsrechte des Opfers am Strafver- eine stärkere aktive Teilnahme am Verfahren ermöglicht fahren die Kernaufgabe der Justiz, nämlich schnellst- werden. Hierzu dienen insbesondere die vorgeschlage- möglich unter eigener Überzeugungsbildung zu einer nen Verbesserungen bei der Nebenanklage und beim Op- Entscheidung zu gelangen, die vom Täter und vom Op- feranwalt. fer akzeptiert werden kann, nicht beeinträchtigt werden darf. Ich stimme auch zu, dass gerade die konsequente Zweitens. Wir wollen für das Opfer, das ja zugleich und zeitnahe Durchsetzung des staatlichen Strafanspru- Verletzter ist, die Möglichkeit verbessern, bereits im ches als solchen einen präventiven Opferschutz gewähr- Strafverfahren vom Angeklagten Ersatz für den aus der leistet und damit letztendlich zugleich auch eine Genug- Straftat entstandenen Schaden zu verlangen und diesen tuungsfunktion erfüllt wird. Ich denke, das alles dürfen gleichzeitig durchzusetzen. Der Entwurf enthält daher in wir, wenn wir in den vor uns liegenden Wochen und Mo- einem, wie ich finde, in sich geschlossenen Konzept die naten in den Ausschussberatungen über Opferschutz notwendigen Regelungsvorschläge für eine spürbare reden, angesichts der Systematik der Strafprozessord- Verbesserung und Stärkung des in der Strafprozessord- nung nicht aus den Augen verlieren. nung bereits heute möglichen Verfahrens, das aber we- nig angewendet wird. Hierdurch werden zugleich die Ich komme nun zu der Frage, die uns alle umtreibt Ressourcen der Justiz effizienter genutzt; denn wenn das und die ich eben auch schon angesprochen habe: Wie lö- Opfer als Verletzter bereits im Strafverfahren einen voll- sen wir das Problem der Umsetzung, dass das Opfer streckbaren Titel erlangt, wird ein nachfolgender Zivil- einer Straftat bereits im Strafprozess einen Schadenser- prozess überflüssig. satzanspruch, einen Strafanspruch, realisieren kann? In einer grundlegenden Entscheidung hat der Bundesge- Drittens. Wir wollen eine verbesserte Information richtshof bereits vor einigen Jahren Ausführungen dazu des Opfers als des Verletzten über seine Rechte und den gemacht, die ich hier zitieren darf. Dort heißt es nämlich: Ablauf des Strafverfahrens. Hierzu dienen weit gehende Mitteilungen über eine Einstellung des Verfahrens, die Es ist zu vermeiden, dass sich ein Angeklagter – zu- Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens, mal nach einem Geständnis –, um keine Zweifel an den Sachstand des Verfahrens einschließlich des Termins seiner Einsicht, Reue und seinem Wiedergutma- der Hauptverhandlung sowie über freiheitsentziehende chungswillen aufkommen zu lassen, gedrängt sieht, Maßnahmen. Weiter wird die Verpflichtung zur Unter- einen in diesem Verfahren verfolgten Anspruch richtung des Opfers über seine Schutz-, Beistands-, In- – auch wenn ihm die Höhe der Forderungen zwei- formations- und Verfahrensrechte erheblich ausgebaut. felhaft erscheint – unbedingt anzuerkennen. 6464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Joachim Stünker (A) Der Richter darf daher auch nicht den Anschein Dies kann im Ergebnis Verwirrung schaffen. Deshalb (C) eines unsachlichen Drucks auf den Angeklagten, wird es unsere Aufgabe sein, diese Änderungen zusam- zum Beispiel zum Abschluss eines Vergleichs, ent- menzuführen. Ich hoffe, dass wir diese Arbeiten gemein- stehen lassen. sam möglichst zügig abschließen können: im Interesse des Rechtsstaates, im Interesse des rechtsstaatlichen Indem ich das zitiere, möchte ich verdeutlichen, in Schutzes der Opfer, aber auch im Interesse der Strafver- welchem Spannungsverhältnis diejenigen, die mit dem folgung in unserem Land. Gesetz hinterher zu arbeiten haben – sprich: Staatsan- waltschaft, Justiz, die entsprechenden Organisationen, Schönen Dank. die im Bereich des Täter-Opfer-Ausgleichs arbeiten, und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ andere –, stehen. Deshalb müssen wir ihnen ein Instru- DIE GRÜNEN) mentarium an die Hand geben, mit dem sie in diesem Spannungsverhältnis, das dort nun einmal gegeben ist, arbeiten können. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Kauder. All diese mahnenden, aber, wie ich meine, doch sehr prononciert ausgesprochenen Hinweise werden wir jetzt Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): in den Beratungen zur Gesetzgebung im Ausschuss und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- insbesondere auch in der Sachverständigenanhörung so- nen und Kollegen! Liebe Gäste! Als ich zum Rednerpult wie in den Berichterstattergesprächen zu beachten ha- ging, bekam ich auf den Weg mit: Das alles können Sie ben. Wir müssen dabei den gemeinsam als richtig er- wohl nur noch loben. kannten Mittelweg zu dem gemeinsam als richtig erkannten Ziel finden und diesen einschlagen. Keiner in diesem Haus will, dass Opfer von Gewalt und Straftaten nicht zu ihrem Recht kommen. Jeder von Zusammengefasst kann man sagen: Die Wahrung der uns will, dass die Belastungen von Opfern im Strafver- rechtsstaatlichen Rechte des Täters, die berechtigten In- fahren möglichst gering sind. Aber, Herr Stünker, erlau- teressen des Opfers und die Durchsetzung des Strafan- ben Sie mir einen Hinweis: Es kann nicht angehen, dass spruch des Staates müssen miteinander kompatibel Sie sich immer wieder als opferpolitischer Bedenkenträ- gemacht und vereinbart werden. Ich bin davon über- ger outen. zeugt, dass wir diesen Mittelweg mit der entsprechenden Unterstützung der Fachöffentlichkeit in den Beratun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen hier im Parlament finden und auch gehen werden. Man muss Opferschutz nicht nur wollen, sondern ihn auch so umsetzen, dass er zu einem abgeschlossenen (B) (D) Wenn man die beiden jetzt vorliegenden Gesetzent- System wird, damit man den Opfern nicht Steine statt würfe, die ich genannt habe – den der Union vom Mai, Brot gibt. und den, den wir jetzt vorgelegt haben –, nebeneinander legt und miteinander vergleicht, dann stellt man fest, (Joachim Stünker [SPD]: Das habe ich doch gerade gesagt!) (Zuruf von der CDU/CSU: Dass Ihrer später vorgelegt wurde!) Die Frau Bundesjustizministerin hat auf der Home- page ihres Ministeriums am 5. November veröffentlicht: dass die rechtspolitische Philosophie, die darin zum Tra- gen kommt, identisch ist und dass die einzelnen Rege- Der Oppositionsentwurf beinhaltet kein abge- lungsvorschläge, die dort gemacht werden, nicht tief schlossenes Gesamtkonzept und greift bei einzel- greifend oder gar unüberbrückbar differieren. Wenn man nen Regelungen zu kurz. genau hinschaut, dann sieht man, dass es eigentlich nur (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) zwei oder drei Punkte gibt, die wirklich sehr unter- schiedlich gesehen werden. Ansonsten gibt es hier eine Sie haben aus unserem Entwurf – zu Recht – die Rege- weitgehende Übereinstimmung. Wir haben ja auch seit lungen zum Hinterbliebenenanwalt übernommen. Jahren an diesem Themenbereich gearbeitet. Ich habe Hier werden wir zustimmen. Das ist ein weiterer Vorteil bereits im Mai auf unser Eckpunktepapier – es ist für die Hinterbliebenen von Tatopfern. Sie haben von mittlerweile drei Jahre alt – hingewiesen. uns auch übernommen, dass Bild-Ton-Aufzeichnungen der Vernehmungen von Tatopfern für den Beschuldigten Lassen Sie mich unter dem Eindruck der gestrigen gesperrt werden. Sie haben unsere Idee übernommen, Sachverständigenanhörung – einige waren dabei – auf dass das Adhäsionsverfahren, also das Verfahren, mit einen Sachverhalt hinweisen, der mir etwas Sorge macht dem Opfer in Strafverfahren Entschädigung bekommen, und worüber wir nachdenken müssen. Uns liegen reformiert werden muss. Aber Sie haben es so gemacht, mittlerweile insgesamt vier Gesetzentwürfe zur Ände- dass es nicht praktikabel ist. Sie wollen das Adhäsions- rung der Strafprozessordnung vor: das Justizmodernisie- verfahren kaputtsanieren. rungsgesetz, das Justizbeschleunigungsgesetz und zwei (Joachim Stünker [SPD]: Sie werden den Entwürfe eines Opferrechtsreformgesetzes. In absehba- Oberlehrer nie ablegen können! Unerträg- rer Zeit wird als fünfter Entwurf – das habe ich Ihnen lich!) schon angekündigt; dieser Entwurf wird noch in diesem Herbst eingebracht – ein umfassender Gesetzentwurf zur – Herr Kollege Stünker, auch Sie werden es vielleicht Änderung der Strafprozessordnung als solcher vorliegen. noch verstehen. Wenn nicht, verweise ich Sie auf einen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6465

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) wissenschaftlichen Beitrag, den ich demnächst veröf- Mit einem Problem scheinen Sie sich nicht befassen zu (C) fentliche. wollen, weil es so schwierig ist, Herr Stünker – schwie- rige Probleme klammert man lieber aus, als dass man sie In Ihrem Vorschlag wird der Rechtsmittelweg, den löst –: Sie im Adhäsionsverfahren eröffnen, aufgespalten: Ein Teil landet zum Beispiel beim Oberlandesgericht, ein an- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Nicht so über- derer Teil beim Landgericht. Dabei wurde noch überse- heblich!) hen, dass § 305 StPO korrigiert werden muss, weil sich Machen Sie sich einmal Gedanken, welche Position das Op- sonst ein Widerspruch im Ablauf ergibt. So, wie Sie das fer einer Straftat im so genannten verbundenen Verfahren Adhäsionsverfahren sanieren und reformieren wollen, hat! Das verbundene Verfahren ist ein Strafverfahren ge- wird es in der Praxis nicht gehen. Ich weiß, dass man im gen Heranwachsende, gegen Jugendliche und gegen er- Ministerium darüber nachdenkt, wie man diesen Mangel wachsene Straftäter. Wenn diese drei Gruppen eine beheben kann. Straftat gemeinsam begangen haben, wird das Tatopfer (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU], zu so behandelt, als wenn es sich um ein nicht öffentliches Abg. Joachim Stünker [SPD] gewandt: Sie Verfahren gegen einen Jugendlichen handelte. Das heißt können vielleicht eine Kopie bekommen!) also, im verbundenen Strafverfahren steht das Tatopfer schlechter da, als wenn nur ein Verfahren gegen einen Wenn Sie schon davon sprechen, dass Ihr Entwurf ein Erwachsenen durchgeführt werden würde. Das Tatopfer abgeschlossenes Gesamtkonzept sei, dann hätte ich er- ist in diesem verbundenen Verfahren völlig schutzlos; wartet, dass Sie sich Gedanken nicht nur zum Erwachse- seine Rechte werden nicht berücksichtigt. nenstrafverfahren machen, sondern insbesondere über die Stellung des Opfers im Jugendstrafverfahren nach- Sie sehen also, meine Damen und Herren: Opfer- denken. Das gehört zu einem abgeschlossenen Konzept schutz wollen ist die eine Seite, ihn aber konsequent und dazu. in einem geschlossenen Konzept umzusetzen ist die an- dere Seite. Das ist Ihnen mit Ihrem Entwurf nur insoweit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gelungen, als Sie Vorstellungen aus unserem Entwurf übernommen haben. Die Nebenklage im Jugendstrafverfahren ist nicht zuge- lassen. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!) (Joachim Stünker [SPD]: Darüber haben wir gestern lange gesprochen!) Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Überlegen Sie sich, welche fatalen Folgen das für das (D) Opfer hat! Das Opfer im Jugendstrafverfahren bekommt keinen Opferanwalt auf Staatskosten wie ein Kind als Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zeuge im Erwachsenenstrafverfahren, Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk. (Joachim Stünker [SPD]: Sie hätten gestern zuhören und die Ohren aufmachen sollen!) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sondern nur einen Zeugenbeistand. Diesen Zeugenbei- NEN): stand muss das Opfer aus eigenen finanziellen Mitteln Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! bezahlen. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen le- gen Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der die Be- Ist es das, was Sie beim Opferschutz wollen, oder ist lange der Opfer im gesamten Strafprozessverfahren um- es das nicht? Im Jugendstrafverfahren erhält der Zeugen- fassend verbessert, ohne dabei berechtigte Interessen der beistand nicht einmal uneingeschränkte Akteneinsicht, Angeklagten zu vernachlässigen. Die Menschen, um die weil diese nach § 406 e StPO beschränkt werden kann. es geht, meist Frauen und Kinder, haben schlimme Ge- Die Nebenklage gegen Heranwachsende ist zugelas- waltverbrechen erlitten, grausamste Verletzungen an sen, Körper und Seele, sexualisierte Gewalt, Zwangsprostitu- tion. An den Folgen der Taten tragen sie meist noch (Joachim Stünker [SPD]: Darüber haben wir Jahre später, oft sogar ein Leben lang. gestern gesprochen) Darum ist es notwendig, die Folgen einer Tat für die Opfer das heißt: volle Opferrechte im Verfahren gegen 18- bis verstärkt in das Blickfeld zu rücken, um das gesamte Ermitt- 21-Jährige. Aber das Adhäsionsverfahren – also die lungs- und Strafverfahren so zu gestalten, dass es für sie ohne Möglichkeit, Schmerzensgeld geltend zu machen – ist zusätzliche Verletzungen abläuft und sie die Tat nicht doppelt nur dann zugelassen, wenn sich am Ende des Prozesses erleben müssen. Für viele Opfer – insbesondere die Kinder – herausstellt, dass man Erwachsenenstrafrecht anwendet. stellt die nochmalige Konfrontation mit den Tätern im Wird Jugendstrafrecht angewendet, steht das Opfer Ermittlungsverfahren oder als Zeuge bzw. Zeugin vor schutzlos da. Gericht eine unzumutbare Belastung dar. (Joachim Stünker [SPD]: Sie hätten gestern Darum wollen wir eine Vernehmung insbesondere der einmal zuhören sollen! Mal die Ohren aufma- kindlichen Opfer aus einem Nebenraum heraus per Video- chen, wenn andere reden!) standleitung ermöglichen. Zum Teil wird das jetzt schon 6466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Irmingard Schewe-Gerigk (A) gemacht, aber wir stellen das jetzt auf eine andere Daneben besteht das grundsätzliche Recht, sich durch (C) Grundlage. Darin sind wir uns auch hier im Hause einig. eine Person seines Vertrauens in Vernehmungen beglei- ten zu lassen. Außerdem – Herr Kollege Kauder, Sie ha- Allerdings sieht unser Vorschlag vor, dass der oder ben das schon erwähnt – werden nahe Angehörige von die Vorsitzende im Gerichtssaal verbleibt und nur das Getöteten künftig im Strafverfahren Anspruch auf die Kind außerhalb des Sitzungssaales vernommen wird. kostenlose Beiordnung eines Opferanwalts – Sie nennen Wir ziehen dieses Verfahren dem Mainzer Modell vor, ihn Hinterbliebenenanwalt – haben. das Sie, meine Damen und Herren von der CDU, in Ih- rem Gesetzentwurf präferieren, wonach der Richter oder Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur wer informiert die Richterin und das Opfer außerhalb des Gerichtssaals ist, kann seine Rechte wahrnehmen und sich schützen. sind. Wir glauben, dass es für die Unmittelbarkeit des Darum werden die Verletzten künftig nicht nur besser Verfahrens in der Hauptverhandlung besser ist, wenn der über ihre Rechte, sondern auch über den Ablauf des Richter oder die Richterin im Saal bleibt. Strafverfahrens informiert, zum Beispiel über Verfah- renseinstellung, Eröffnung der Hauptverhandlung, Haft, Ich persönlich bin sehr froh, dass die Herausgabe von Unterbringung, Vollzugslockerungen und – was ich sehr Videobändern über die Vernehmung von Kindern an die wichtig finde – die Entlassung des Täters. Dies gilt nicht Täter nicht erfolgt und nur den zur Akteneinsicht Be- nur auf Antrag, wie Sie es vorsehen, sondern dieses rechtigten diese Aufzeichnungen überlassen werden. Recht besteht von vornherein. Das verhindert, dass sich Täter jederzeit an dem durch sie verübten Leid auch noch ergötzen können. Gerade Opfer von Gewaltverbrechen wollen wissen, ob und wann sich ihr Peiniger auf freiem Fuß befindet. Daneben wollen wir besonders schutzbedürftige Zeugin- Versetzen Sie sich doch einmal in die Situation einer ver- nen und Zeugen wie zum Beispiel Opfer von Sexualverbre- gewaltigten Frau, die sich aufgrund des verhängten chen vor Belastungen durch mehrfache Vernehmungen Strafmaßes sicher fühlt und den Täter in Haft vermutet, zum gleichen Gegenstand bewahren. So kann künftig di- diesen aber plötzlich in der Nähe ihrer Wohnung trifft! rekt beim Landgericht Klage erhoben werden, anstatt Ich meine, es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass bei wie bisher zunächst beim Amtsgericht und dann erst in ihr die Angst und das Gefühl von Unsicherheit sofort zu- zweiter Instanz beim Landgericht. Damit ersparen wir rückkehren. Darum ist es wichtig, dass diese Opfer auch den Opfern die nochmalige Vernehmung in einer etwai- über den Termin der Haftentlassung Bescheid wissen. gen zweiten Tatsacheninstanz. Wir wollen den Opfern schwerer Straftaten zukünftig solche Situationen ersparen. Wir stärken mit diesem Gesetzentwurf – dabei sollte auch mit der Zustimmung der Opposition zu rechnen Ich komme zum Schluss zu einem weiteren für die Op- (B) sein – konsequent die Rechte aller Opfer von schweren fer wichtigen Bereich, dem Ausgleich des Schadens. In (D) Straftaten im gesamten Verfahren. Prostituierte zum Bei- den allermeisten Fällen wird durch die Straftat auch ein spiel, die durch einen Zuhälter ausgebeutet wurden, kön- Schaden verursacht. Gegenwärtig ist es in der Praxis die nen sich damit einem Strafverfahren gegen diesen mit Regel, dass über die meisten Schadensersatzansprüche der Nebenklage anschließen. Ich glaube, das ist ein gro- der Opfer in einem weiteren zivilrechtlichen Verfahren ßer Erfolg. Die CDU/CSU sieht in ihrem Entwurf ledig- entschieden wird. Damit sind für die Opfer eine weitere lich ein Fragerecht von Staatsanwalt und Verteidiger für Klageerhebung und wiederum Ladung und Aussagen vor Straftaten nach § 181 StGB vor. Den Zuhälter zu stärken Gericht verbunden. und ihm mehr Rechte zu geben als seinen Opfern, den Prostituierten – das wollen wir nicht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verbessern wir die Möglichkeiten, gleich im Strafverfahren auch Ersatz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des aus der Straftat entstandenen Schadens festsetzen zu und bei der SPD) lassen. Durch die Möglichkeiten eines insofern erweiter- ten so genannten Adhäsionsverfahrens kann eine zu- Prostituierte schlechter zu behandeln als alle anderen sätzliche Klage vor einem Zivilgericht erspart werden. Opfer – das ist durch nichts zu legitimieren. In Frankreich ist das bereits üblich. Herr van Essen hat in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs der CDU/CSU Was die körperliche Untersuchung angeht, so haben darauf hingewiesen. Ich glaube, das ist ein guter Vor- wir geändert, dass nicht nur bei Frauen die Untersu- schlag, der zudem sicherlich die Justiz entlasten wird. chung von Personen gleichen Geschlechts vorgenom- men wird, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf vorschla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen. Auch Männer können ein Schamgefühl haben, sehr und bei der SPD sowie des Abg. Jörg van Essen geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU. [FDP] – Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] Bei berechtigtem Interesse – ich denke dabei gerade an [CDU/CSU]: Das ist nichts Neues!) kleine Jungen, die von Männern missbraucht wurden – kann es auch wichtig sein, dass das Opfer das Ge- Erlauben Sie mir eine abschließende Bemerkung: Der schlecht der untersuchenden Person selbst bestimmen vorliegende Gesetzentwurf enthält so viele Verbesserun- kann. Das ist Opferschutz, der sich an der Realität orien- gen zugunsten der Opfer von Straftaten, dass man mit al- tiert. lem Recht von einer umfassenden Reform der Opfer- rechte sprechen kann, Herr Kauder. Das Gesetz, das wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jetzt auf den Weg bringen, ist dabei ein wichtiger Schritt und bei der SPD) im Rahmen der bevorstehenden Gesamtreform der Straf- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6467

Irmingard Schewe-Gerigk (A) prozessordnung; der Kollege Stünker hat vorhin darauf verfahren. Frankreich ist ja nur ein Beispiel dafür, dass (C) hingewiesen. das in unseren Nachbarländern ganz selbstverständlich funktioniert. Die deutsche Justiz – ich selbst komme ja Wir haben vereinbart, dass im Dezember eine Sach- aus diesem Bereich – will es aber einfach nicht anneh- verständigenanhörung über die einzelnen Punkte, insbe- men. Deshalb werden wir Druck machen müssen, Frau sondere über die Regelungen im Adhäsionsverfahren, Ministerin, dass dieses Verfahren auch in deutschen Ge- stattfindet. Es würde mich sehr freuen, wenn wir gerade richtssälen Praxis wird. bei diesem Thema, in dem wir bekanntermaßen in vielen Fragen übereinstimmen, gemeinsam zum Wohle der Op- Ein weiterer Punkt, bei dem ich Sorge habe, dass er fer und zugunsten eines besseren Opferschutzes ent- längst nicht so angenommen worden ist, wie wir uns das scheiden könnten. wünschen, ist die Videovernehmung. Die Videoverneh- mung und der Gebrauch von aufgezeichneten Verneh- Ich danke Ihnen. mungen können natürlich dazu führen, dass das Opfer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht noch einmal aussagen muss. Eine einmal auf Video und bei der SPD) festgehaltene Vernehmung dient dann allen weiteren Vernehmungen als Grundlage. Das ist gerade bei Kin- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dern eine ganz erhebliche Hilfe; denn sie können nach Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen, einer einmaligen Vernehmung vergessen und werden FDP. nicht mehr durch ständige Vernehmungen an schlimme Taten erinnert. Auch hier werden wir Druck auf die Jus- tiz ausüben müssen, im Interesse der Opfer öfter davon Jörg van Essen (FDP): Gebrauch zu machen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir unter dem liberalen Justizminister Edzard Ich weiß, dass über ein paar Punkte noch einmal dis- Schmidt-Jortzig Ende der 90er-Jahre einige, wie ich kutiert werden muss. Dazu gehören für mich in erster Li- finde, wesentliche Fortschritte bei der Stärkung der Op- nie – das möchte ich auch deutlich machen – die Fragen ferrechte erzielt haben, gab es leider eine Phase von vier betreffend das Jugendrecht. Ich wiederhole das, was ich Jahren, in der kaum etwas geschehen ist. Der Täter-Op- bereits während der ersten Lesung des CDU/CSU-Ge- fer-Ausgleich ist in dieser Zeit nur geringfügig verbes- setzentwurfes gesagt habe und worauf der Kollege sert worden. Trotz vieler Initiativen meiner Fraktion, Kauder vorhin aufmerksam gemacht hat: Ich halte es aber auch der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geschah nicht für einen Widerspruch zu dem pädagogischen An- nicht wirklich etwas. Deshalb freue ich mich ganz außer- satz des Jugendrechts, dass sich der bzw. die jugendliche ordentlich, Frau Ministerin – ich finde, dass es kein Beschuldigte mit dem Opfer auseinander setzen muss (B) (D) Mangel ist, wenn ein Oppositionspolitiker etwas Positi- und auch damit, dass das Opfer gegebenenfalls eigene ves anspricht –, dass wir mit dem vorliegenden Entwurf, Rechte geltend macht. der unter Federführung Ihres Justizministeriums erarbei- tet wurde, wieder einen ganz wesentlichen Schritt nach (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vorne tun. In diesem Punkt halte ich den vorliegenden Gesetzent- Die heutige Debatte zeigt, dass wir ein ganzes Stück wurf für dringend nachbesserungsbedürftig. Auch Ju- weiter sind. Alle Fraktionen sind der Auffassung, dass gendliche müssen mit dem Opfer und dessen Rechten die Rechte der Opfer weiter gestärkt werden müssen und konfrontiert werden. dass wir von dem wegkommen müssen, was beispiels- Ich vermisse sehr – darauf habe ich mehrfach hinge- weise die Strafrechtsdiskussion der 70er-Jahre aus- wiesen; ich würde mich freuen, wenn hier eine Nachbes- schließlich bestimmt hat, nämlich die Rolle des Täters im Strafverfahren. Natürlich müssen wir auch die Rolle serung möglich ist – eine Regelung im Opferentschädi- des Täters im Strafverfahren berücksichtigen. Herr gungsgesetz, wonach die psychologische Betreuung der Stünker hat deutlich gemacht, dass Beschuldigtenrechte Opfer staatlich getragen wird. Wer die Nach- und Aus- nicht eingeschränkt werden dürften. Aber ich sage ganz wirkungen insbesondere eines Mordes an einem Kind in ehrlich: Wenn ich mir die verschiedenen Möglichkeiten, einer Familie kennt, weiß, dass die betroffene Familie die Position des Opfers zu stärken, anschaue, dann stelle lange darunter leidet und dass sie deshalb dringend der ich fest, dass es nur ganz wenige Punkte gibt, in denen Betreuung bedarf. Eine entsprechende Regelung müssen überhaupt die Gefahr besteht, dass Beschuldigtenrechte wir in das Opferentschädigungsgesetz aufnehmen. Die eingeschränkt werden. Die Stärkung der Opferrechte be- Opferschutzverbände wie der Weiße Ring weisen uns deutet nicht gleichzeitig die Einschränkung von Be- darauf ständig und nachdrücklich hin. schuldigtenrechten. Die Rechte der beiden Gruppen soll- Ich denke, da muss in den Beratungen nachgebessert ten wir nicht gegenüberstellen. werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Selbstverständlich will niemand Beschuldigtenrechte Ich wiederhole im Namen der Fraktion der FDP: Wir einschränken, die notwendig sind. Aber wir wollen die halten das Ganze für eine gute Beratungsgrundlage. Wir Stärkung der Opferrechte. alle sollten uns einbringen, um Folgendes zu erreichen: Frau Schewe-Gerigk hat einen Aspekt angesprochen, Die Opfer sollen im Strafverfahren nicht das Gefühl ha- der auch für mich im Mittelpunkt steht: das Adhäsions- ben, noch einmal Opfer zu sein. 6468 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Jörg van Essen (A) Herzlichen Dank. sondern auch über das, was Sie – aus welchem Grund (C) auch immer – gar nicht übernommen haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Glocke der Präsidentin) – Vielen Dank. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Daniela Raab. (Joachim Stünker [SPD]: Das regt doch auf! Wenn man sich so etwas anhören muss, kann man nicht ruhig bleiben!) Daniela Raab (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen – Das macht ja nichts, Herr Stünker. Wir wissen schon, und Kollegen! Es ist gerade einmal ein halbes Jahr ver- dass Sie sich schnell aufregen. gangen, seitdem die Unionsfraktion im April den Ent- wurf eines zweiten Opferschutzgesetzes hier eingebracht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: hat und schon liegt prompt – so möchte man meinen – Herr Kollege Stünker, bitte! ein fast gleich lautender Entwurf der Regierungsfraktio- nen vor. Man freut sich natürlich über so viel Einsicht (Joachim Stünker [SPD]: Entschuldigen Sie, – das ist ungewöhnlich – von Ihrer Seite. Frau Präsidentin!)

(Joachim Stünker [SPD]: Sie haben nicht zu- Daniela Raab (CDU/CSU): gehört!) Nach Ihrem Entwurf können weiterhin Kopien von – Sie brauchen mich nicht schon jetzt zu unterbrechen. – Bild- und Tonaufzeichnungen einer Opfervernehmung Man liest dieses Werk, freut sich und stellt erstaunt fest: an den Verteidiger herausgegeben werden. Unser Ent- Es wurde abgeschrieben, und das auch noch schlecht. wurf sah ganz klar die notwendige Zustimmung des Op- fers vor; denn in dessen Persönlichkeitsrecht wird damit (Widerspruch bei der SPD – Joachim Stünker nun einmal massiv eingegriffen. Die von Ihnen hier vor- [SPD]: Das ist doch glatt gelogen! Die lügt geschlagene Formulierung des § 58 a StPO ist in meinen hier rum!) Augen unklar und beseitigt in keiner Weise die noch im- Der von der CDU/CSU-Fraktion im April vorgelegte Ge- mer vorhandenen Missstände. Lesen Sie also besser noch setzentwurf und der Entwurf des Bundesrates aus dem einmal in unserem Entwurf nach! Dann wird es besser! Jahr 2000 haben eigentlich schon frühzeitig den richtigen Wir haben außerdem vorgeschlagen – auch Kollegin Weg aufgezeigt. Dies gilt im Übrigen für so vieles, das Noll wird darauf eingehen –, dass kindliche Opferzeu- von uns im Bereich Opferschutz schon früher umgesetzt gen in einem Prozess vom Vorsitzenden in einem separa- (B) wurde. Anstatt jetzt aus unserem Entwurf abzuschreiben, ten Raum vernommen werden können. Das halten wir (D) hätten Sie damals gleich zustimmen können. für sehr wichtig; denn erste praktische Erfahrungen mit (Beifall bei der CDU/CSU) dem Zeugenschutzgesetz aus dem Jahre 1998 zeigen uns, dass bei der noch immer gängigen Vernehmungs- Warum haben Sie sich überhaupt noch die Mühe ge- praxis insbesondere den Belangen kindlicher Opferzeu- macht, aus unserem praxisnahen und vor allem opferori- gen nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Auch entierten Entwurf ein solches Stückwerk zu machen? hier gilt: Unser Entwurf beseitigt Lücken, Ihrer nicht. (Joachim Stünker [SPD]: Wissen Sie über- Sie hätten bei Ihren eigenen Ideen durchaus darauf haupt, wovon Sie reden? Wer hat Ihnen denn verzichten können, die Normierung eines Rechts- und die Rede aufgeschrieben?) Kooperationsgesprächs zwischen allen Verfahrensbe- teiligten – zum Beispiel im Ermittlungsverfahren – vor- Ich habe noch immer die Hoffnung, dass Sie sich spätes- zunehmen. Es erscheint beinahe grotesk, die vollkom- tens bei der für Dezember geplanten Expertenanhörung men unterschiedlichen Interessen quasi an einem runden davon überzeugen lassen, dass Sie auch noch die letzten Tisch schon zu solch einem frühen Zeitpunkt zusam- Punkte aus unserem Entwurf in Ihren übernehmen oder menführen zu wollen. Wozu soll das führen? Ihre Fehler korrigieren. Der Täter möchte immer im besten Licht erscheinen, Zum Adhäsionsverfahren ist schon vieles gesagt um eine für ihn günstige Entscheidung herbeizuführen. worden. Auch in diesem Punkt war unser Entwurf weit- Sein Verteidiger wird ihn dabei unterstützen. Staatsan- reichender und besser; waltschaft und Gericht sollen die objektive Wahrheit he- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rausfinden und ein materiell richtiges Urteil fällen. Das Weitreichender, aber nicht besser!) Opfer erwartet in erster Linie Gerechtigkeit und Genug- tuung. In meinen Augen sind das Interessen, die sich aber auch dieser Punkt ist Ihrer halbherzigen Abkupfe- kaum zusammenführen lassen. Wieso führt man dann rung zum Opfer gefallen. solch eine Sollvorschrift ein? Sie ist in meinen Augen (Zurufe des Abg. Joachim Stünker [SPD]) überflüssig. Es ist in der Praxis gängig, dass solche Ge- spräche – zum Beispiel über die Reduzierung des Ver- Ich möchte jedoch nicht nur über das sprechen, was fahrensstoffes – geführt werden. Auch diese Vorschrift Sie schlecht abgeschrieben haben, ist im Prinzip unnötig. (Anhaltende Zurufe des Abg. Joachim Stünker Auch wenn es Herrn Stünker wieder ärgert: Abschrei- [SPD]) ben ist zwar schön und gut; aber es fällt früher oder spä- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6469

Daniela Raab (A) ter auf. Es ist uns jetzt aufgefallen. Sie haben noch ver- Deswegen meine Bitte: Lassen Sie uns trotz aller noch (C) sucht, Ihren Entwurf durch das Einbringen eigener Ideen bestehenden Unterschiede eine angemessene, sachliche von unserem unterscheidbar zu machen. Der Versuch ist Debatte führen und uns bemühen, die Profilierung hint- Ihnen, wenn Sie so wollen, gelungen; denn die Unter- anzustellen. schiede sind praxisfern, irrelevant und schlicht un- brauchbar. Der Weiße Ring hat in seiner letzten Presseerklärung so schön formuliert: Zuletzt möchte ich Ihnen aber doch noch ein Lob aus- sprechen – Sie werden sich wundern –: Sie halten es in Der Weiße Ring fordert nach der Kabinettsentschei- diesem Fall wie die Schüler. Sie schreiben von den Bes- dung für eine nachdrückliche Stärkung der Opfer- seren ab. rechte im Strafverfahren die zügige und konsequente Umsetzung der lange überfälligen Reformen. „Das Ich danke Ihnen. Thema Opferschutz ist weder regional aufteilbar, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- noch darf es parteipolitischem Kalkül ausgesetzt neten der FDP – Alfred Hartenbach [SPD]: werden“ … Können Sie mal deutsch reden? Das haben wir Dem kann ich mich nur anschließen. nicht verstanden! Ich wollte gern mitklat- schen! – Gegenrufe von der CDU/CSU: Dafür (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des haben Sie gut dazwischengerufen! – Herr BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hartenbach war ganz friedlich! – Hartenbach Es geht um vier wesentliche Punkte, die hier schon war heute vorbildlich! – Unruhe) genannt worden sind: Erstens. Die Belastungen der Verletzten sollen verrin- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gert werden, das heißt, Mehrfachvernehmungen sollen Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus gegebenem An- vermieden werden. In dem Entwurf der CDU/CSU ist lass möchte ich jetzt doch einmal sagen, dass ich insbe- eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes dahin sondere bei jungen weiblichen Abgeordneten den Zwi- gehend, dass gleich Anklage beim Landgericht erhoben schenruf „Wer hat Ihnen denn die Rede aufgeschrieben?“ werden kann, nicht vorgesehen. Wir glauben aber, dass etwas chauvinistisch finde. es in bestimmten Fällen ein erheblicher Opferschutz sein (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜND- kann, wenn wir nur eine einmalige Vernehmung vorse- NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) hen. Mit der Revision zum Bundesgerichtshof bleibt auch dann ein Rechtsmittel erhalten. Damit tun wir einen (B) Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Brigitte entscheidenden Schritt. So erreichen wir, dass die noch- (D) Zypries. malige Vernehmung von Opfern vermieden wird. (Daniela Raab [CDU/CSU]: Vorsicht! Das ist (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des auch eine Frau! – Zuruf von der CDU/CSU: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Jetzt sind wir auch vorsichtig! – Weitere Zu- FDP) rufe) Auch in den Fällen, die ihren Ausgang beim Amtsge- richt nehmen, werden wir zu einer Reduzierung der Zahl Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: der Vernehmungen kommen. Die Ergebnisse sollen nicht Ich kann Ihnen sagen, wer mir das aufgeschrieben mehr wie bisher nur schriftlich protokolliert werden, hat, wenn Sie es wissen möchten. sondern wir wollen eine Aufzeichnung auf Tonträger insgesamt, sodass das Ganze auch wieder abgehört wer- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) den kann. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt schon mehrfach betont worden, dass wir mit diesem Zum Streitpunkt „Mainzer Modell, ja oder nein?“. Gesetz die Position der Opfer im Strafprozess eindeu- Ich habe schon in der Befragung der Bundesregierung tig verbessern. Bei allem Streit, der noch zu Einzelheiten gesagt, dass das 1998 ausdrücklich und sehr umfänglich besteht, sollten wir uns in dieser Gesamteinschätzung ei- diskutiert worden ist. Es gab damals gute Gründe, das nig sein und versuchen, den Streit ein bisschen tiefer zu Modell nicht einzuführen. Diese Gründe bestehen mei- hängen; denn Gegenstand des Entwurfs und Gegenstand nes Erachtens fort. Insofern gibt es eben ein Dilemma. der Aussprache sind Menschen und die Rechte der Men- Auf der einen Seite ist die vertrautere Verhandlungsposi- schen, die Opfer von Straftaten geworden sind und die tion, die Sie auch hervorheben – der Richter sitzt mit im Strafprozess als Opfer einem Beschuldigten, einem dem Kind in einem Raum und kann anders auf das Kind Angeklagten gegenüberstehen. Es sind Menschen, denen eingehen, wobei ich in Klammern hinzufüge: so er das Leid an Körper, an Seele oder Besitz zugefügt wurde. kann; das muss nicht immer so sein –, und auf der ande- Sie können erwarten, dass sich der Staat ihrer mit Würde ren Seite gibt es die rechtsstaatlichen Bedenken, dass und Respekt annimmt. nämlich der Vorsitzende die Verhandlung nicht richtig leiten kann, weil er nicht mehr im Saal ist. Es stellt sich (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE die Frage, ob man dem Anspruch der Strafprozessord- GRÜNEN und der CDU/CSU sowie bei Abge- nung, dass das Gericht aus der Hauptverhandlung heraus ordneten der FDP) urteilen muss, überhaupt noch gerecht werden kann. Das 6470 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) waren die rechtsstaatlichen Bedenken, die seinerzeit ge- die Zulassung des Adhäsionsverfahrens nicht brauchen, (C) gen das Mainzer Modell sprachen. weil wir bei besonders schweren Straftaten eine beson- dere Verletztheit des Opfers unterstellen und unser Ent- Wir wollen jetzt etwas anderes einführen. Mir scheint wurf in diesen Fällen das Adhäsionsverfahren zwingend es so zu sein, dass die Länder damit einverstanden sind. vorsieht? Zumindest haben wir von keinem Bundesland die Rück- meldung bekommen, dass es statt unseres Vorschlags Ich bitte auch zur Kenntnis zu nehmen, dass wir des- lieber das Mainzer Modell will. Es spricht also doch ei- halb das Problem bezüglich des Rechtsmittelweges, das niges dafür, dass die Länder das inzwischen als richtig Sie in Ihrem Entwurf nicht gelöst haben, nicht haben. Ich erkannt haben. habe inzwischen selbst Überlegungen angestellt. Es ist außerordentlich schwer, den Rechtsmittelweg in den Der zweite Punkt ist die Stärkung der Verfahrens- Griff zu bekommen. rechte von Verletzten. Der Opferanwalt ist erwähnt wor- den. Frau Schewe-Gerigk hat auch schon darauf hinge- (Joachim Stünker [SPD]: Das ist keine Frage!) wiesen, dass wir die Nebenklagemöglichkeiten für – Ich kann Sie, Herr Kollege Stünker, beruhigen: Wenn Frauen, die zum Beispiel Opfer von Prostitution oder Sie sich vertrauensvoll an mich wenden, werde ich Ihnen Zuhälterei geworden sind, erweitern werden. Das ist, die Lösung des Problems nennen. wie ich glaube, ebenso wichtig wie die Erweiterung der Rechte ausländischer Opfer. Dies soll dadurch gesche- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hen, dass nebenklageberechtigte Personen, die der deut- Eine Frage haben wir nicht gehört!) schen Sprache nicht mächtig sind, Anspruch darauf ha- ben, unentgeltlich einen Dolmetscher zu erhalten, und Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: zwar nicht nur auf Nachfrage. Herr Kauder, ich halte es für sehr schwierig, dem Op- Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Möglichkeit, eine fer – und damit dem zivilrechtlich Geschädigten – eine Person des Vertrauens in das Verfahren einzuführen, bestimmte Verfahrensart aufzuzwingen. die auch schon bei den Ermittlungsgesprächen als Stütze (Widerspruch des Abg. Siegfried Kauder [Bad dabei sein darf. Das kann jemand aus der Familie sein, Dürrheim] [CDU/CSU]) jemand Befreundetes oder eine Person, die psychologi- sche Beratung wahrnimmt. Da muss dann jede und jeder – Das ist das, was Sie vorsehen; das haben Sie eben refe- für sich selber entscheiden, wer es sein wird. Das stellt riert. Sie haben gesagt, in bestimmten Fällen muss das eine deutliche Verbesserung gegenüber der jetzigen Adhäsionsverfahren durchgeführt werden. Das heißt Rechtslage dar. Im Moment ist es ja so, dass derjenige, nichts anderes, als dass das – – der die Vernehmung leitet, darüber entscheidet und nicht (B) (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ (D) das Opfer selbst. Diesen Grundsatz drehen wir also um. CSU]: Nur auf Antrag!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Jetzt kann ich auch noch einmal ausreden. DIE GRÜNEN) (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ Drittens werden wir die Möglichkeiten des Adhä- CSU]: Nur auf Antrag! – Joachim Stünker sionsverfahrens verbessern. Damit wollen wir den Ver- [SPD]: Frau Präsidentin, er ist gar nicht dran!) letzten den zusätzlichen Gang vor das Zivilgericht erspa- ren. Auch das ist schon mehrfach erwähnt worden. Entgegen der bisherigen Praxis sehen wir eine Art Um- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kehrung vor, die übrigens in Ihrem Entwurf fehlt. Viel- Das Wort hat jetzt die Justizministerin. leicht lesen Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das noch einmal nach. Unser Ziel ist es, Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: die bisherigen Entscheidungsformen über den zivilrecht- Okay, auf Antrag muss es durchgeführt werden. Des- lichen Schadensersatzanspruch hinaus zu erweitern. Wir wegen brauchen Sie keine Rechtsmittel. Das ist eine wollen noch ein Anerkenntnisurteil einführen und auch Möglichkeit, die man erwägen kann. einen vollstreckbaren Vergleich über die Ansprüche des Wir meinen, dass das Rechtsmittelproblem lösbar ist, Verletzten aus der Straftat ermöglichen. wenngleich ich Ihnen zugestehe, dass wir daran noch ar- beiten müssen. Wir haben aber inzwischen vom Deut- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schen Richterbund die Stellungnahme erhalten, dass er Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen mit diesem Vorgehen sehr einverstanden ist und es für ei- Kauder? nen richtigen Weg hält, um das Adhäsionsverfahren bes- ser handhabbar werden und häufiger zur Anwendung Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: kommen zu lassen. Das fehlt uns ja im Moment. Wir kön- Ja, in der Hoffnung, dass ich sie beantworten kann. nen in der Anhörung gerne darüber diskutieren, ob wir Falls wieder streitige Absätze zitiert werden, kann ich mit Ihrem Vorschlag weiterkommen oder ob wir es schaf- das nicht garantieren. fen, die Rechtsmittelfrage so zu regeln, dass der von Ih- nen zitierte doppelte Gang zum Gericht nicht erfolgt. Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Als vierten Punkt würde ich gerne noch die Informa- Frau Justizministerin, würden Sie bitte zur Kenntnis tion der Opfer über ihre Rechte im Strafverfahren und nehmen, dass wir eine Entscheidung des Gerichts über über den Ablauf desselben erwähnen. Wir wollen künf- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6471

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) tig informieren über die Einstellung eines Verfahrens, viel geleistet haben. Ich ermutige sie, trotz der knappen (C) über die Entscheidung der Eröffnung einer Hauptver- öffentlichen Haushalte in ihren Bemühungen nicht nach- handlung, den Sachstand des Verfahrens und auch über zulassen. die Folgeentscheidungen, das heißt: Wann rückt der dann Verurteilte in Haft ein? Gibt es Vollzugslockerung? Wir haben, um Opfer zu informieren, eine Opferfibel Wann wird er entlassen? Das ist ein Punkt, der übrigens herausgegeben, bundesweit verfügbar und jetzt bereits in auch in Ihrem Gesetzentwurf fehlt, wenn ich das nicht zweiter Auflage erschienen. Sie ist auch über das Inter- übersehen haben sollte. net abrufbar. Die Nachfrage nach dieser Opferfibel war sehr groß. Aufgrund der guten Erfahrungen möchte ich Aufgrund der Punkte, die ich jetzt genannt habe, nun eine spezifische Opferfibel für kindliche Opfer erar- meine ich, Herr Kauder, dass man nicht mit einer so pau- beiten lassen, die sich damit auseinander setzt: Wie kann schalen Kritik sagen kann, dass unser Entwurf nicht um- man Kindern Strafverfahren näher bringen? Wie kann fassender sei als Ihrer. man ihnen erklären, was dabei auf sie zukommt und wo- rauf sie sich einstellen müssen? Welche Rechte haben sie (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ in diesem Verfahren? Viele kindliche Opferzeugen ha- CSU]: Nicht umfassend genug!) ben schließlich Hemmungen, über das Erlebte zu spre- Ich glaube, es ist schon richtig, wenn wir sagen, dass wir chen; sie wissen nicht genau, was sie erwartet. einige Punkte mehr geregelt haben. Dieses Projekt haben wir in Angriff genommen. Bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- der Justizministerkonferenz letzte Woche habe ich die ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Länder eingeladen, sich daran zu beteiligen – nicht fi- Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Einige mehr nanziell, sondern an der Erarbeitung der Texte. und einige weniger! – Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: Zum Jugendstrafrecht (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk höre ich gleich noch was?) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – Zum Jugendstrafrecht kommt gleich noch etwas. Meine Damen und Herren, ich bin sicher, dass wir mithilfe der Sachverständigenanhörung, die für den Wir halten die Informationspflicht für wichtig, weil es 10. Dezember anberaumt ist, einige der noch offenen für die Opfer eine furchtbare Situation sein kann, wenn Punkte klären können. Dann werden wir auch darüber zu sie unvorbereitet auf der Straße ihrem früheren Peiniger diskutieren haben, ob und in welcher Form es einer Ne- entgegentreten müssen. Diese Situation wollen wir künf- benklage im Jugendstrafprozess bedarf. Dazu habe ich, tig gerne vermeiden. ehrlich gesagt, in Ihrem Gesetzentwurf nichts gefunden. Vielleicht habe ich es ja übersehen. (B) Wir verbessern also insgesamt die Lage der Opfer. (D) Dabei wahren wir – wie Herr Stünker richtig gesagt hat – (Joachim Stünker [SPD]: Steht nicht drin! – die Verfahrensrechte der Angeklagten und den Charakter Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ des Strafverfahrens; denn im Vordergrund steht – auch CSU]: Was bei uns nicht drinsteht, nehmen Sie darauf hat Herr Stünker hingewiesen –, den Strafan- nicht auf?) spruch des Staates durchzusetzen. Auch aus diesem Grund kann dem Opfer durch das Strafverfahren nicht – Ich habe es als Vorwurf empfunden, dass wir Ihre unbedingt geholfen werden, wenngleich es für manche Texte nicht übernommen hätten. Aber wenn dieser Opfer sicherlich auch zur Verarbeitung der Straftat ge- Aspekt in Ihrem Text gar nicht steht, kann ich auch nicht hört, den Strafprozess mit zu durchleben. darauf eingehen. Ich möchte noch auf einige Punkte außerhalb der Ge- (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ setzgebung eingehen, die für die Opfer wichtig sind. Das CSU]: Dann nehmen Sie es jetzt bitte als Ge- ist zum Beispiel die Betreuung von Zeugen vor und dankengut mit! – Joachim Stünker [SPD]: Die während eines Strafprozesses. Während dieser Zeit sind haben doch alles abgeschrieben!) persönliche Ansprache und Zuwendung ganz besonders Wir können gerne darüber diskutieren. Bei den spezi- wichtig. Das gilt natürlich in besonderem Maße für Op- fischen Fällen, die Sie, Herr Kauder, genannt haben, fer von sexueller Gewalt sowie für kindliche und jugend- müsste man im Zweifel immer Rücksicht auf das liche Opferzeugen. Diese verdienstvolle Arbeit wird in schwächste Glied und damit auf den jugendlichen Ange- Deutschland durch Zeugenbetreuungsstellen und Ein- klagten nehmen. Bei der Dreierkombination, die Sie dar- richtungen der Opferhilfe in privater und öffentlicher gestellt haben, sehe ich, ehrlich gesagt, kein Problem; da Trägerschaft geleistet. Ich möchte die Gelegenheit nut- kann ich Ihre Worte auch nicht als Kritik anerkennen. zen, all denen, die mit viel Engagement und Idealismus und sehr oft ehrenamtlich daran beteiligt sind, für ihren Ob das generell erforderlich und möglich ist, darüber Einsatz ganz herzlich zu danken und ihnen unsere Aner- sollten wir diskutieren. Sie wissen, dass es in der Wis- kennung auszusprechen. senschaft gewichtige Stimmen gibt, die das aus dem (Beifall im ganzen Hause) Grundgedanken des Erziehungsanspruchs im Jugend- strafrecht nicht für richtig halten. Von daher werden wir Danken möchte ich auch den Ländern, die mit finan- die Sachverständigen brauchen, um in dieses kontrovers ziellem und organisatorischem Einsatz bei der Einrich- debattierte Themenfeld etwas Licht zu bringen. Das wird tung oder Förderung von Zeugenberatungsstellen sehr uns gelingen. Ich kann Ihnen versichern, dass es wie bei 6472 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) allen anderen Gesetzesvorhaben ist: Wir haben ein Inte- Es ist schon angesprochen worden: Seit über einem (C) resse an sachgerechten Lösungen. halben Jahr liegt ein umfassender Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion vor. Diesen Gesetzentwurf, den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir nie der Diskussion entziehen wollten, haben wir DIE GRÜNEN) nicht erarbeitet. Er stammt aus dem Bundesrat, initiiert von der sozialdemokratischen Justizsenatorin Peschel- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gutzeit. Daran schloss sich eine breite Debatte im Bun- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen. desrat an. Die Frage ist, warum Sie so lange gebraucht haben, sich dieser breiten Koalition für mehr Opfer- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): schutz anzuschließen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Der Gesetzentwurf der Koalition wird von der Sie regen sich gelegentlich auf, wenn wir Sie kritisie- CDU/CSU-Fraktion sowohl mit Erleichterung als auch ren. Ich will deshalb die Regierung zu Wort kommen mit Enttäuschung aufgenommen. Die Erleichterung folgt lassen. Angesichts dieser Äußerung ist es völlig unver- aus der Tatsache, dass eine jahrelange Verweigerungs- ständlich, warum so lange nichts passiert ist. Ich zitiere haltung von SPD und Grünen auf dem Gebiet des Opfer- Frau Zypries aus der Regierungsbefragung vom schutzes nunmehr beendet ist. 5. November 2003: Die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes, über Es liegt zum Beispiel ein Entwurf der CDU/CSU- das wir heute debattieren, ist über vier Jahre alt; sie hat Fraktion vor, dessen wesentliche Punkte sich in un- 1999 begonnen. Sie haben die gesamte vergangene Le- serem Gesetzentwurf wiederfinden … gislaturperiode vertan, was zur Folge hatte, dass dieser Gesetzentwurf dem Prinzip der Diskontinuität zum Op- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: fer gefallen ist. Auf dem Gebiet des Opferschutzes saßen Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Sie vier Jahre lang im Bremserhäuschen. Auch darüber Kollegen Stünker? muss heute geredet werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Ja, bitte. Es muss nicht deswegen darüber geredet werden, weil wir das Bedürfnis haben, Recht zu bekommen, sondern deswegen, weil in den vergangenen vier Jahren die Op- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: fer nicht in den Genuss der Rechte und Möglichkeiten Bitte sehr. gekommen sind, die wir heute fast übereinstimmend für (B) (D) notwendig halten. Die Opfer sind die Verlierer Ihrer Un- Joachim Stünker (SPD): tätigkeit, meine Damen und Herren von Rot-Grün. Herr Kollege Dr. Röttgen, da ich mich sehr erregt habe, als es vorhin um das Thema Abschreiben ging (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist – die Frau Präsidentin hat mich wegen meiner Reaktion das Problem!) gerügt; aber das ist ein anderes Thema –, möchte ich Sie Das muss heute einmal gesagt werden. fragen: Stimmen Sie mir zu, dass Grundlage Ihres Ge- setzentwurfs, den wir im Mai diskutiert haben, der Ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Alfred Hartenbach setzentwurf der Freien und Hansestadt Hamburg gewe- [SPD]: Und in den 16 Jahren davor?) sen ist, der in der 14. Legislaturperiode eingebracht – In den 16 Jahren davor – ich habe das in der letzten worden ist? Sie haben also diesen Entwurf nur übernom- Debatte zu diesem Thema gesagt; Herr Kollege van men. Essen hat es heute angesprochen – ist sehr viel auf dem Gebiet des Opferschutzes geschehen. Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): (Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt über- Ich freue mich sehr über diese Frage und möchte dar- haupt nicht!) auf in zweierlei Hinsicht antworten. 1994 wurde das Opferschutzgesetz verabschiedet und Erstens. Ich habe vorhin ausdrücklich erklärt, dass 1998 gab es die Regelungen zum Zeugenschutz. Lesen wir für unseren Gesetzentwurf kein Urheberrecht in An- Sie es nach! CDU/CSU und FDP waren immer die füh- spruch nehmen. Auch bei der Einbringung im Mai habe renden Fraktionen auf dem Gebiet des Opferschutzes. ich darauf hingewiesen, dass unser Beitrag in Bezug auf diesen Gesetzentwurf darin liegt, dass wir ihn sozusagen (Joachim Stünker [SPD]: Das ist doch nicht aus der Diskontinuitätsfalle herausgeholt haben und ihn wahr!) wieder eingebracht haben. Bis auf Kleinigkeiten haben Sie bislang nichts getan. ( [CDU/CSU]: Das hat er ge- Das ist die reine Wahrheit. sagt! Beim ersten Hinhören wäre es schon zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verstehen gewesen!) Opferschutz ist immer eines unserer Hauptthemen ge- Ich habe ausdrücklich gesagt, das Positive an diesem wesen. Wir freuen uns wirklich, dass Sie dieses Thema Gesetzentwurf ist, dass er von einer breiten Koalition ge- entdeckt haben. Bei aller Freude muss ich dennoch sa- tragen wird. Sozialdemokratisch regierte Länder haben gen, dass auch Enttäuschung mitschwingt. ihn unterstützt. Ich habe in diesem Zusammenhang Frau Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6473

Dr. Norbert Röttgen (A) Peschel-Gutzeit erwähnt, die nicht Mitglied unserer Par- sentlichen identisch mit Ihrem heutigen Entwurf. Ich (C) tei ist. werde zitieren, wie Sie ihn damals kritisiert haben; denn das ist die Kritik, die Sie eigentlich an dem Entwurf der (Zuruf des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Bundesministerin üben. – Zum Thema Abschreiben komme ich noch. – Ich habe ferner gesagt, dass darin die Chance liegt, einen Konsens Ich betone es noch einmal. Die Bundesministerin zu finden. sagt, wesentliche Punkte seien identisch. Mit welchen Gründen haben Sie, obwohl die Gesetzentwürfe in we- (Abg. Joachim Stünker [SPD] nimmt seinen sentlichen Punkten identisch sind, unseren Entwurf da- Platz wieder ein) mals zurückgewiesen? Von den Gründen haben Sie sich – Ich bin mit der Beantwortung Ihrer Frage noch nicht heute nicht distanziert, sondern Sie haben sie gerade so- fertig. Ich darf Sie also bitten, stehen zu bleiben. – Ich gar wieder vorgetragen. komme gleich darauf zu sprechen, wie Sie auf dieses Darum will ich jetzt einmal Stünker zitieren. Der Angebot reagiert haben. Adressat ist allerdings heute nicht mehr Röttgen, son- Zweitens. Sie haben der Kollegin Raab in Ihrer Erre- dern Zypries, weil das Gesetz im Wesentlichen gleich gung – das habe ich nicht anders erwartet – nicht richtig ist. Es geht auch um den Einwand an der Methode, denn zugehört. Denn der primäre Vorwurf der Kollegin Raab Sie haben ja nicht nur den Inhalt, sondern auch die Me- an Sie war nicht, dass Sie unsere Vorschläge übernommen thode kritisiert. Sie haben nämlich gesagt, man könne haben, dass Sie abgeschrieben haben. Unsere Vorschläge das Ganze nicht punktuell machen. Jetzt zitiere ich werden dadurch nicht falsch, dass Sie sie übernehmen. Stünker aus der Debatte: Der Vorwurf ist, dass Sie schlecht abgeschrieben haben, … denn eine Strafprozessordnung können Sie nicht meine Damen und Herren. Sie haben eine schlechte Ko- stückweise ändern, pie erstellt. – wie Zypries es jetzt macht – (Beifall bei der CDU/CSU) sonst passt nachher nichts mehr zusammen … wir Das ist unser Vorwurf, den wir Ihnen machen, und das ist werden Ihnen noch im Herbst dieses Jahres eine auch das Enttäuschende. umfassende Novellierung der Strafprozessord- (Alfred Hartenbach [SPD]: Es geht doch gar nung … vorlegen. nicht schlechter!) Meine Damen und Herren, ich frage: Wo ist die um- – Doch, Sie schaffen es immer wieder, schlecht abzu- fassende Novellierung der Strafprozessordnung? Die ha- (B) schreiben. An sich ist das relativ schwer, da gebe ich Ih- ben Sie nicht vorgelegt. Sie haben sie angekündigt und (D) nen Recht, Herr Kollege. haben es wieder nicht geschafft. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? Ich zitiere weiter Stünker. (Zuruf des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): DIE GRÜNEN]) Ja. – Ich zitiere gleich auch Sie, Kollege Montag. Stellen Joachim Stünker (SPD): Sie sich schon einmal darauf ein. – Jetzt zitiere ich aber Herr Kollege Röttgen, würden Sie mir bestätigen, Stünker und richte das damit an Frau Zypries: dass ich bereits im Mai hier vorgetragen und darauf hin- Teillösungen geben den Menschen im Ergebnis gewiesen habe – Sie können das im Protokoll der Sit- Steine statt Brot. Das ist blinder Aktionismus, zung nachlesen; mich erbost der Vorwurf des Abschrei- Rechtspolitik, die nicht durchdacht ist und nur ta- bens, weil er in der Tat einfach falsch ist –, dass alle gespolitisch opportun erscheint … Punkte, die jetzt in Ihrem Entwurf stehen, auch Gegen- stand des Eckpunktepapiers sind, das Rot-Grün in der Das ist die Kritik, die Sie im Mai 2003 an einem Ge- 14. Legislaturperiode vorgelegt hat? genstand geübt haben, der zu 80 Prozent identisch ist mit dem, was Sie jetzt selber einbringen, meine Damen und (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herren. Sie haben ein Glaubwürdigkeitsproblem in NEN]: Soweit sie vernünftig waren!) dieser Frage. Können Sie das bestätigen? (Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Auch der Kollege Montag hat Ihnen zugestimmt. Ich Ich werde jetzt nicht wieder durch die Beantwortung zitiere auch ihn: Ihrer Frage Redezeit in Anspruch nehmen. Wenn Sie da- Herr Röttgen, Opferschutz wird von uns so ge- mit einverstanden sind, werde ich Sie aus der Debatte macht werden, wie der Kollege Stünker es skizziert am 8. Mai gleich zu Wort kommen lassen. Ich werde die hat. Diesen Gesetzentwurf Kritik vortragen, die Sie damals an unserem Entwurf ge- übt haben, von dem Sie jetzt behaupten, er sei im We- – der im Wesentlichen identisch ist – 6474 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Norbert Röttgen (A) werden wir mit Ihnen sicherlich nicht weiterverfol- Herzen liegt. In diesem Punkt besteht, glaube ich, Kon- (C) gen. sens in diesem Haus. Herr Montag, jetzt sind Sie doch bei der Verfolgung da- Nur, der entscheidende Anstoß zur Verbesserung der bei. Rechte von Verletzten im Strafverfahren – da können Sie Sie haben ein massives Erklärungsproblem im Hin- sich drehen und wenden, wie Sie wollen – ist von uns ge- blick auf die Aussagen, die Sie noch vor einem halben kommen. Dankenswerterweise haben Sie das selber – Frau Jahr gemacht haben. Das ist das, was ich kritisiere. Der Ministerin, jetzt muss ich Sie ansprechen – in der Regie- Ton in der heutigen Debatte, den alle Koalitionsredner rungsbefragung der letzten Woche eingeräumt. Sie ha- angeschlagen haben – sensibel, sachlich, die Opfer beto- ben nämlich wörtlich gesagt – das hat gerade auch mein nend –, steht in einem völligen Gegensatz zu dem Ton, lieber Kollege Röttgen betont –: den Sie in der Debatte angeschlagen haben, in der wir (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) unseren Gesetzentwurf vorgelegt haben. Das ist Ihr Pro- blem, das haben Sie zu verantworten. Es liegt … ein Entwurf der CDU/CSU-Fraktion vor, dessen wesentliche Punkte sich in unserem Ge- (Beifall bei der CDU/CSU – Michaela Noll setzentwurf wiederfinden … [CDU/CSU]: Das stimmt! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seien Sie Da muss ich Sie fragen: Sie haben sechs Monate da- doch nicht so beleidigt!) für gebraucht, um einen ähnlichen Entwurf vorzulegen? – Ich bin nicht beleidigt. – Hier geht es um die Art und Aber ich sage immer: Nicht die Hoffnung aufgeben, bes- Weise, wie Rechtspolitik gemacht wird. Das ist meine ser spät als nie! Leider sind Sie auch in diesem Entwurf letzte Bemerkung, mit der ich Kritik üben möchte. Es in wesentlichen Punkten hinter unseren Forderungen zu- geht um die Art und Weise, wie Sie Rechtspolitik ma- rückgeblieben; vieles davon haben meine Kollegen be- chen, und die müssen Sie ändern. reits erwähnt. Es immer das gleiche rot-grüne Muster: Liebe Frau Ministerin, ich lasse nicht locker, wenn es um das Mainzer Modell geht. Ich glaube, niemand in Erstens. Die CDU/CSU macht einen Vorstoß. In die- diesem Hohen Hause wird in Abrede stellen, dass die sem Fall waren Sie völlig unvorbereitet. Durchführung eines Strafverfahrens für jedes Opfer eine Zweitens. Bei besonders guten Initiativen sehen Sie große Belastung ist. Bei erwachsenen Zeugen ist es hin- sich veranlasst, besonders heftig zurückzuweisen, und nehmbar – da stimme ich zu –, dass der Vorsitzende im zwar nicht mit Argumenten, sondern mit der Ankündi- Gerichtsaal bleibt und die Vernehmung des Zeugen ge- (B) gung eines großes Vorhabens. gebenenfalls über Videotechnik erfolgt. (D) Dritte Stufe: Sie arbeiten an diesem großen Vorhaben Aber etwas anderes muss gelten, wenn es sich um – das nehme ich Ihnen ab – und Sie scheitern daran. Sie kindliche Opferzeugen handelt. Ich möchte erneut – des- haben es doch in Wahrheit wieder nicht geschafft, eine wegen stehe ich heute wieder an dieser Stelle – für diese umfassende Novellierung zu erreichen. Sie haben daran Personengruppe das Wort ergreifen; denn dort hat der gearbeitet, aber Rot und Grün waren sich wieder nicht Staat eine besondere Schutzpflicht. Meine Forderung einig. lautet: das so genannte Mainzer Modell durch eine Än- derung des § 247 a StPO in die Strafprozessordnung auf- Viertens. Es kommt am Ende die schlechte Kopie der nehmen! Ziel ist es, ein persönliches Gespräch mit dem CDU/CSU-Entwürfe. Kind fernab vom Täter durchführen zu können. Das (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne heißt, Richter und Kind gehen in ein separates Verneh- Kastner) mungszimmer. Per Videotechnik wird die richterliche Vernehmung zeitgleich in den Sitzungssaal übertragen. Meine Damen und Herren, hören Sie auf, so Rechts- Erst diese menschliche Nähe und diese persönliche An- politik zu machen. Nehmen Sie nicht immer nur sprache schaffen eine vertrauensvolle Atmosphäre für schlechte Kopien, nehmen Sie die besseren Originale der das Kind, die es überhaupt in die Lage versetzt, auszusa- CDU/CSU, wir werden Sie da weiterhin antreiben. Dann gen. wird bei Ihrer Rechtspolitik am Ende wenigstens noch ein bisschen herauskommen. Sie selber kriegen ja nichts (Beifall bei der CDU/CSU) hin. Versetzen Sie sich einmal ganz kurz in folgende Lage (Beifall bei der CDU/CSU) – oben auf der Tribüne sitzen sehr viele unbescholtene Bürger; davon gehe ich jetzt einmal aus –: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaela Noll, (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – CDU/CSU-Fraktion. Zurufe von der CDU/CSU: Und hier? – Zurufe von der SPD: Unten auch!) Michaela Noll (CDU/CSU): Sie bekommen per Hauspost ein Schreiben vom Gericht. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Darin steht dann: Termin zur Ladung am … Gerichtster- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Op- mine gehören für die Menschen, die dort oben sitzen, ferschutz ist eine Thematik, die uns allen wirklich am nicht unbedingt zum Alltagsgeschäft. Hier unten unter Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6475

Michaela Noll (A) den Kollegen sitzen Richter und Staatsanwälte – natür- Nachdem mein Kollege Herr Kauder Ihnen bereits die (C) lich auch andere Bundestagsabgeordnete –, handwerklichen Fehler im Adhäsionsverfahren vorge- halten hat, wird es uns vielleicht jetzt gelingen, gemein- (Zurufe von der CDU/CSU: Auch die sind un- sam das Adhäsionsverfahren aus dem Dornröschen- bescholten!) schlaf zu wecken. für die das Routine ist. Sehr geehrte Damen und Herren, ich denke, in der Sa- che sind wir nah beieinander. Jetzt seien Sie einmal ganz ehrlich und stellen Sie sich ein achtjähriges Mädchen vor, das Opfer von sexu- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE ellem Missbrauch geworden ist, sich nun in einem frem- GRÜNEN]: Bei dem, was Sie gesagt haben?) den Umfeld mit vielen Menschen in schwarzen Roben Lassen Sie uns gemeinsam in die kommenden Gesetzes- befindet, oftmals lange Wartezeiten während des Ver- beratungen gehen. Wir werden es gemeinsam schaffen. handlungstermins aushalten muss, in einem separaten Wir werden gemeinsam etwas für den Opferschutz tun. Raum sitzt und auf sich gestellt ist. In einer solchen Situ- ation soll das Kind über seine furchtbaren Erlebnisse in (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie brauchen eine Kamera sprechen? Ich sage Ihnen klipp und klar: immer etwas länger, aber dann kommt es! – Silke Das ist lebensfremd. Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Da möchte ich nie hin, wo Sie gerade (Beifall bei der CDU/CSU – Silke Stokar von sind! Das ist populistisch! – Alfred Hartenbach Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das [SPD]: Ihr habt das Tischtuch zerschnitten!) ist doch falsch verstanden! Das Kind wird be- – Dann sind Sie auf dem falschen Weg. Es tut mir Leid. treut in dem Raum!) Ich stehe hinter den Opfern und hinter den Schwachen in Das hat nichts mit einer versteckten Kamera aus dem der Gesellschaft. Samstagnachmittagsprogramm zu tun. Das ist für das Unnachgiebig wiederhole ich meine Forderung: Op- Kind eine schwierige Situation. Manche Kinder – da fer dürfen nicht erneut zu Opfern werden. gebe ich Ihnen Recht – schaffen das. Aber schwache Kinder werden dazu nicht in der Lage sein. Das ist und Danke schön. bleibt eine große Belastung für kindliche Opferzeugen. (Beifall bei der CDU/CSU) Etwas mehr Sensibilität und Feingefühl sind wir den kindlichen Opferzeugen schuldig. Meine Forderung lau- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) tet nach wie vor: Eine erneute Traumatisierung durch die Ich schließe die Aussprache. (D) Vernehmung muss verhindert werden. Liebe Kollegin- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- nen und Kollegen, steter Tropfen höhlt den Stein; ich wurfs auf Drucksache 15/1976 an die in der Tagesord- bleibe am Ball. Denn Opferschutz für Kinder muss hei- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ßen: am Wohl des Kindes orientiert. Wer das Kindes- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. wohl ernst nimmt, muss sich unserer Forderung nach Dann ist die Überweisung so beschlossen. Einführung des Mainzer Modells anschließen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Es gibt einen weiteren Bereich, zu dem ich sage: Da geschieht wenig. Das ist das Jugendstrafverfahren. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Hier findet kein Opferschutz statt. Ich finde in Ihrem gierung Entwurf nicht eine Zeile dazu. Glauben Sie allen Erns- Bericht der Bundesregierung zu den Auswir- tes, dass es für eine 21-jährige Frau einen Unterschied kungen des Gesetzes zur Neuregelung der ge- macht, ob sie von einem Jugendlichen oder von einem ringfügigen Beschäftigungsverhältnisse auf Erwachsenen brutal vergewaltigt worden ist? Ich sage: den Arbeitsmarkt, die Sozialversicherung und Nein. Die Tatfolgen sind für das Opfer die gleichen. Fakt die öffentlichen Finanzen ist nur, dass die Täter immer brutaler und immer jünger werden. 30 Prozent aller Tatverdächtigen sind Kinder, – Drucksache 15/758 – Jugendliche und Heranwachsende. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Alle Abgeordneten bekommen die Tageszeitung „Ber- Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit liner Morgenpost“ ins Büro. Darin steht in der Über- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und schrift ganz groß: „Polizei ermittelt gegen 1 000 Kinder“. Landwirtschaft Darunter heißt es: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Ein 14-Jähriger erregt die Gemüter der Hauptstadt. Haushaltsausschuss Die Staatsanwaltschaft wirft dem Jungen … vor, er Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die habe seine 21-jährige Freundin zum Teil mit bruta- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen ler Gewalt gezwungen … Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das ist Realität. Wir müssen also etwas tun. Auch diese Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Opfer bedürfen des Schutzes durch die Rechtsordnung. Franz Thönnes. 6476 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Prozente, Herr (C) ministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung: Thönnes!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Gut zwei Drittel davon sind Frauen. Das ist ein Erfolg. Herren! Wenn wir uns heute mit dem Bericht der Bun- desregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur (Beifall bei der SPD) Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhält- nisse auf den Arbeitsmarkt, die Sozialversicherung und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die öffentlichen Finanzen befassen, so sprechen wir über Herr Staatssekretär, lassen Sie eine Zwischenfrage ein sehr gutes, durchaus beschäftigungswirksames und des Kollegen Kolb zu? sozialpolitisch erfolgreiches Reformwerk. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- DIE GRÜNEN) ministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung: Ich würde sagen, Sie warten noch einen kleinen Mo- Wie sah es denn vor 1999 aus? Über 4 Millionen ge- ment, dann können Sie die Prozente selbst ausrechnen. ringfügige Jobs mit steigender Tendenz, ohne soziale Si- cherung und ohne wirksame Kontrolle, gepaart mit zuneh- (Heiterkeit bei der FDP) mender Gefährdung der Vollzeitjobs durch Aufspaltung. Das war damals die Realität. Die Realität war aber auch Das zeigt: Mit der Reform von 1999 ist ein solides eine CDU/CSU/FDP-Koalition, die sich nicht in der Fundament gelegt worden, das durch die Neuregelungen Lage sah und nicht die Kraft hatte, diese verhängnisvolle des letzten Jahres, durch Hartz II und durch das Zusam- Entwicklung zu stoppen. menbringen verschiedener Vorstellungen auch hier aus diesem Hause modernisiert und weiterentwickelt worden (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Oh Gott!) ist. Mit dem Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!) Beschäftigungsverhältnisse hat die Koalition aus SPD Mit Hartz II wurde die Arbeitsentgeltgrenze für alle und Bündnis 90/Die Grünen der weiteren Erosion sozial geringfügigen Beschäftigungen von 325 Euro auf gesicherter Arbeit und der Flucht aus der Sozialversiche- 400 Euro monatlich angehoben. Wir haben Neuregelun- rung eine deutliche Grenze gesetzt. gen für Privathaushalte geschaffen und für die Arbeitge- (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: ber – privat wie unternehmerisch – wurde das Beitrags- Sie reden doch Unfug!) und Meldeverfahren ganz entscheidend vereinfacht und damit entbürokratisiert. (B) Unsere Ziele waren die soziale Absicherung der bis (D) dahin ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, die fi- Die zentrale Meldestelle bei der Bundesknappschaft nanzielle Stabilisierung der Sozialkassen, ein Stopp der erfüllt ihre Arbeit in hervorragender Weise. Sie ist bür- Aufspaltung von Vollzeitverhältnissen und ein Melde- gernah und kundenorientiert. Das hilft der Wirtschaft verfahren, das Übersicht ermöglicht und Schutz vor und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern glei- Missbrauch möglich macht. Ich stelle fest: Mit den ver- chermaßen. Und sie gibt uns einen guten Überblick. schiedenen Reformschritten haben wir diese Ziele er- Seit dem In-Kraft-Treten der Neuregelungen ist ein reicht. kräftiger und deutlicher Zuwachs von geringfügigen Be- Erstmals wurden gut 4 Millionen geringfügige Jobs in schäftigungsverhältnissen zu verzeichnen. die Systeme der sozialen Sicherung einbezogen. Durch (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind die, die das Gesetz selbst konnte die Rentenversicherung jährlich Sie vorher wegkalkuliert haben!) gut 1,9 Milliarden Euro an Mehreinnahmen verzeichnen. Für die gesetzliche Krankenversicherung gab es 2000 Basierend auf den Daten der Bundesknappschaft konnte und 2001 allein aufgrund der ausschließlich geringfügig deren Erster Direktor, Herr Georg Greve, am 4. Novem- Beschäftigten Mehreinnahmen von rund 1,2 Milliarden ber 2003 bekannt geben, dass die Zahl der gemeldeten Euro. Mehr noch: Die unzureichende soziale Absiche- Jobs inzwischen auf 5,9 Millionen angestiegen ist. Da- rung von Frauen, die vor der Reform besonders benach- mit sind in diesem Bereich gegenüber dem Vorjahr gut teiligt waren, wurde beseitigt. 1 Million neue Jobs, in den letzten drei Monaten gar 260 000 neue Jobs entstanden. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie viel Prozent machen davon Gebrauch, Herr Thönnes?) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es! Das Einzige, was funktioniert hat!) Denn wir haben die Möglichkeit eingeführt, freiwillig in die Rentenversicherung einzuzahlen und auf volle Es sind 6,7 Millionen Jobs gemeldet, wenn man die Pflichtbeiträge aufzustocken. Damit haben wir die kurzfristigen Jobs und die in den privaten Haushalten Chance eröffnet, Lücken in Erwerbsbiografien durch hinzunimmt. Es freut uns, von Herrn Greve zu hören, Pflichtbeitragszeiten zu schließen. Es wurde die Gele- dass eine Aufspaltung regulärer Arbeitsverhältnisse in genheit eröffnet, Ansprüche auf Rehabilitationsmaßnah- Minijobs nicht stattgefunden hat. men, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und vorgezogene (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!) Altersrente zu erwerben. Von dieser Möglichkeit machen inzwischen weit mehr als 140 000 Arbeitnehmerinnen Mit den Regelungen für die Jobs in der Gleitzone und Arbeitnehmer Gebrauch. zwischen 400 und 800 Euro mit gestaffelten Sozialversi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6477

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) cherungsabgaben haben wir deutlich gemacht, wie sozial gen Streckenabschnitt der Arbeitsmarktpolitik in die (C) verantwortbar Beschäftigung im unteren Einkommens- richtige Richtung gestellt. bereich gestaltet werden kann. Damit ist klar: Es ist uns Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. gelungen, diesen Bereich der Beschäftigungspolitik in seiner gesamten Bandbreite unter Wahrung des notwen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ digen sozialen Schutzes zukunftsfähig zu machen. DIE GRÜNEN) Angemerkt sei auch, dass sich allein die Beschäfti- gungsverhältnisse in Privathaushalten noch nicht so Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: entwickeln, wie wir uns das vorgestellt haben. Gleich- Nächster Redner ist der Kollege Matthäus Strebl, wohl sind inzwischen 33 000 Minijobs in Privathaushal- CDU/CSU-Fraktion. ten gemeldet. Das sind immerhin schon 6 000 mehr. Auch hier machen sich das einfache Haushaltsscheck- Matthäus Strebl (CDU/CSU): verfahren sowie die steuerliche Förderung positiv be- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und merkbar. Gleichwohl müssen wir an dieser Stelle zusätz- Herren! Herr Staatssekretär Thönnes, der vorliegende liche Anstrengungen unternehmen, müssen mehr über Bericht ist symptomatisch für die letzten fünf Jahre Rot- die Optionen informieren und damit auch gleichzeitig ei- Grün. Hier muss die Bundesregierung wieder einmal nen Weg aus illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit einräumen, dass ihre Politik in einem weiteren wichtigen aufzeigen. Bereich gescheitert ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wird aber Ich mache eine kurze Zeitreise vier Jahre zurück: nicht reichen!) Nach der Bundestagswahl im Jahr 1998 erklärte die Bundesregierung die geringfügigen Beschäftigungsver- Nicht unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusammen- hältnisse mit der 630-Mark-Job-Regelung zum großen hang die Erleichterungen im Bereich des Ehrenamtes. Reformprojekt. Dieses Projekt wurde in unserem Land Das wird allzu häufig vergessen. So wurde die bekannte über vier Jahre getestet. Übungsleiterpauschale von 2 400 Euro auf 3 600 Euro im Jahr angehoben (Erika Lotz [SPD]: Ihr habt doch vorher nichts fertig gebracht! Ihr habt doch nur geredet!) (Doris Barnett [SPD]: Hört! Hört!) Was war geschehen? In der Hauptsache wurden die ge- und damit eine langjährige Forderung, insbesondere aus ringfügigen Beschäftigungsverhältnisse wie auch die ge- dem Bereich des Sports, erfüllt. ringfügigen Nebenbeschäftigungen sozialversicherungs- (B) pflichtig gemacht. Für geringfügig Beschäftigte hatte der (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arbeitgeber 10 Prozent an die gesetzliche Kranken- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) versicherung und 12 Prozent an die gesetzliche Renten- versicherung abzuführen. Ziel der Regierung war es, Hinzu kommt die erweiterte Steuerfreistellung ehren- diesen Beschäftigungsbereich abzubauen und den Sozi- amtlicher Tätigkeiten sowie für Aufwandsentschädigun- alkassen mehr Einnahmen zu verschaffen. gen, die aus öffentlichen Haushalten geleistet werden. Hier sind bis zu 300 Euro im Monat steuerfrei. Der Erfolg hielt, was versprochen war, wenn auch nicht von der Bundesregierung, sondern von etlichen Aufbauend auf der ersten Reform der so genannten Verbänden: Allein innerhalb des ersten Quartals 1999 ist Minijobs durch die SPD-geführte Bundesregierung hat die Zahl der geringfügig Beschäftigten um rund 700 000 sich durch die Vorschläge der Hartz-Kommission, durch auf 5,8 Millionen zurückgegangen. Dies bedeutete einen die Aufnahme der Kritiken und der Erfahrungen aus der Rückgang um 10 Prozent im ersten Schritt. Ebenso ging Praxis und die Einbeziehung politischer Initiativen aus die Zahl der Nebenbeschäftigten in diesem Zeitraum um diesem Haus bis hin zu den Ergebnissen des Vermitt- 600 000 auf 1,1 Millionen Personen zurück. Was im Ko- lungsausschusses nun eine gute gesetzliche Grundlage alitionsvertrag von 1998 angestrebt war, ist also einge- für die Regelung der geringfügigen Beschäftigungsver- troffen. Man muss folglich der Bundesregierung zu die- hältnisse entwickelt. sem Erfolg gratulieren, so möchte man im ersten Sie gewährleistet weiterhin die soziale Absicherung Moment meinen. Aber diese Gratulation fällt bitter aus, einstmals ungesicherter Arbeitsverhältnisse. Sie stärkt wenn man die Folgen für den Arbeitsmarkt, die Wirt- Beschäftigungsoptionen im Bereich der geschaffenen schaft und das Ehrenamt betrachtet. Hier zeigt sich, was Gleitzone, also im unteren Einkommensbereich. Sie ist Rot-Grün vor lauter falsch verstandener Sozialromantik nutzerfreundlich für die Wirtschaft und die Arbeitneh- und Ideologie übersehen hat. merinnen und Arbeitnehmer. Die wachsenden Zahlen (Beifall bei der CDU/CSU – Doris Barnett [SPD]: belegen das eindeutig. Sie grenzt Missbrauch ein. Sie Wir sprechen hier von Menschen!) stärkt das Ehrenamt und ist damit alles in allem ein gutes Fundament für die sozialverträgliche Gestaltung flexi- Kanzler Schröder meinte, auf die Opposition nicht bler Beschäftigungsformen. hören zu müssen. Mit eiskalter Arroganz verkündete er 1999 im Plenum des Deutschen Bundestages: „Wir brau- Dies ist und wird auch künftig der Gradmesser für die chen die Opposition nicht zum Regieren.“ Der einzige Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung sein. Die Erfolg, wie wir heute wissen, war ein unübersichtlicher Weichen für mehr Beschäftigung sind auf diesem wichti- Berg an Reformplänen – fünf Jahre ruhige Hand. Schnell 6478 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Matthäus Strebl (A) machte der Spruch „Es gilt das gebrochene Wort“ die vermitteln sind und somit am ehesten von Arbeitslosen- (C) Runde. und Sozialhilfe abhängig sind. (Erika Lotz [SPD]: Das rührte doch von euch Angesichts dessen frage ich mich, warum bei den ge- her! Das war euer Werk!) ringfügigen Beschäftigungsverhältnissen Einschnitte er- Kritische Stimmen aus den eigenen Reihen, etwa von folgen sollten. Eine Beschneidung bei diesen Beschäfti- Frau Ministerpräsidentin Heide Simonis oder dem dama- gungsverhältnissen zwingt diese Gruppen förmlich in ligen Sozialminister Florian Gerster, wurden schlicht die Arbeitslosigkeit. Nicht umsonst forderte Arbeitge- ignoriert. Auch die Unionsfraktion hatte bis zum Schluss berpräsident Hundt ein Jahr nach Einführung dieser Re- massiv auf die verheerenden Auswirkungen dieser Neu- gelung, sie rückgängig zu machen. Denn die Neurege- regelung vom 1. April 1999 – man könnte hier an einen lung hat zu höheren Kosten für die Unternehmen, zu Aprilscherz denken – hingewiesen. mehr Bürokratie und zum Verlust von Arbeitsplätzen geführt. Es liegt dabei auf der Hand, dass sich die ehe- Meine sehr verehrten Damen und Herren, einzelne mals geringfügig Beschäftigten zu einem Teil in die Branchen sind von dem Prinzip der geringfügigen Be- Schwarzarbeit geflüchtet haben. Damit haben sie dem schäftigung geradezu abhängig. Sie brauchen flexible, oft- Staat, der Wirtschaft, aber auch den Sozialversicherun- mals zeitlich begrenzte Arbeitsplätze. Dementsprechend gen, die laut Bundesregierung von der Neuregelung pro- groß war auch der Aufschrei in den einzelnen Verbänden: fitieren sollten, beträchtliche Summen entzogen. vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, dem Bun- desverband Deutscher Zeitungsverleger und dem Bundes- Auch für die Ehrenamtlichen und die Sportvereine verband Deutscher Anzeigenblätter bis hin zur Land- und stellte die Neuregelung der geringfügigen Beschäfti- Forstwirtschaft und dem gesamten Sozialbereich. Gering- gungsverhältnisse damals geradezu einen Anschlag dar. fügige Beschäftigung wurde so weit verteuert, dass sie für So wurden ehrenamtlich Tätige bei der Feuerwehr, in die Verbände im Endeffekt abgeschafft worden ist. Die Sportvereinen und in Kirchen bis hin zu den Versicher- zusätzliche Belastung durch die Sozialabgaben wurde tenältesten immer öfter als sozialversicherungspflichtig nicht durch eine entsprechende Steuerentlastung ausgegli- eingestuft. Freiwilliges Engagement, Fleiß und Arbeits- chen. Die Folge waren Zehntausende von Kündigungen bereitschaft wurden damals mit Füßen getreten. allein im Zeitungs- und Anzeigenwesen. (Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen (Erika Lotz [SPD]: Haben Sie Ihre Zeitung [SPD]: Was soll denn das?) nicht bekommen?) Es stellt sich also die Frage, was die Neuregelung bei Somit war eine der großen Hoffnungen der Bundesregie- den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen für die (B) rung, es käme zu mehr Festanstellungen, wie eine Sei- Sozialversicherungen und die Haushaltskasse gebracht (D) fenblase zerplatzt. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat. Sie hat zum einen zu gewissen Mehreinnahmen bei stellte damals fest, die Neuregelung der so genannten den Sozialversicherungen geführt, zum Beispiel zu 630-DM-Jobs habe im Jahr 1999 kaum zu festen Stellen Mehreinnahmen der Rentenkasse von etwa 1,9 Milliar- geführt. Im Gegenteil, die Auswirkungen für die Wirt- den DM im Jahr 1999 schaft und den Arbeitsmarkt waren verheerend. (Peter Dreßen [SPD]: Das sind 0,2 Punkte!) (Peter Dreßen [SPD]: Na, na! Bleiben Sie bei der Wahrheit!) bzw. circa 2,85 Milliarden DM in den Folgejahren sowie Kanzler Schröder wollte sich nach seiner Wahl 1998 am zu Mehreinnahmen der gesetzlichen Krankenversiche- Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen. Stattdessen rung von 1,5 Milliarden DM bzw. 2,25 Milliarden DM in brachte er es zu immer neuen historischen Rekorden, den Folgejahren. Diesen Mehreinnahmen stehen jedoch wie wir auch derzeit wieder sehen. kassenmäßige Steuermindereinnahmen einschließlich des Solidaritätszuschlages zum Beispiel von allein 1,37 Ob nun beim Wirtschaftswachstum oder beim Abbau Milliarden DM im Jahr 1999 gegenüber. Das macht rund der Arbeitslosigkeit, meine sehr verehrten Damen und 625 Millionen DM für den Bund, 553 Millionen DM für Herren, Deutschland war stets das Schlusslicht der EU. die Länder und 195 Millionen DM für die Gemeinden. Es ist schon fast faszinierend, dass die Bundesregie- Meine sehr verehrten Damen und Herren, bereits in rung Probleme zwar erkennt, aber stets falsche Lösungs- den Jahren 1999 und 2000 haben ich und meine Kolle- ansätze bringt. gen von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Bundes- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aller- tag auf dieses Ungleichgewicht hingewiesen. Die Haus- dings wahr! Das ist schon fast genial!) halte und kleinen Unternehmen werden übermäßig belastet, während sich große Unternehmen beim Energie- Richtig erkennt die Bundesregierung in ihrem Bericht, der verbrauch selbst entlasten können. Mein Fazit lautet: uns vorliegt, auf Seite 13, dass geringfügige Beschäfti- Schröder ist als umgedrehter Robin Hood aufgetreten – er gung speziell im Hinblick auf das Alter eine Brücke in schont die Großen und plündert die Kleinen. den Arbeitsmarkt sei. Als richtig stellt sie auch fest, dass Schüler und Personen mit geringer bis gar keiner (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Qualifizierung den größten Anteil der geringfügig Be- neten der FDP – Doris Barnett [SPD]: Als schäftigten ausmachen. Also gerade die Gruppen sind was? – Erika Lotz [SPD]: Mit dem Kopf nach betroffen, die am schwierigsten in den Arbeitsmarkt zu unten, oder wie? Läuft er auf den Händen?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6479

Matthäus Strebl (A) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich seit der sowie im sozialen, wirtschaftlichen und finanzpoliti- (C) Einführung der Neuregelung im Jahr 1999 stets um Ver- schen Bereich folgen. besserungen bemüht, angefangen vom Antrag „630-DM- Vielen Dank. Gesetz und Neuregelung der Scheinselbstständigkeit zu- rücknehmen“ und die Anträge „Kurzfristige Beschäfti- (Beifall bei der CDU/CSU) gungen im Rahmen des 630-DM-Gesetzes entlasten“ und „Arbeitnehmer entlasten – Vorfahrt für mehr Be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schäftigung“ in der 14. Wahlperiode bis zum Entwurf des Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bünd- „Kleine-Jobs-Gesetzes“ in der 15. Wahlperiode. nis 90/Die Grünen. Stets kamen von Rot-Grün zuerst Bedenken. Doch letztlich hat sich die Union beim Bereich Minijobs Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): durchgesetzt. Mittlerweile gilt, dass bis zu einer Ein- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kommensgrenze von 400 Euro im Monat der Arbeitneh- Wenn man Herrn Strebl hört und konstatiert, dass fast mer bei einer gering entlohnten Beschäftigung brutto für die Hälfte der Redezeit einer Geschichtsstunde ent- netto erhält. Das gilt auch für Nebenverdienste. Der Ar- sprach, in der das Jahr 1999 behandelt wurde, dann kann beitgeber zahlt einen Pauschalbetrag von 25 Prozent an man nur zu dem Schluss kommen, eine zentrale Einzugsstelle, die die Gelder an die Sozial- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Geistige versicherungen weitergibt. Es gibt daher keine umständ- Aufarbeitung für euch!) lichen Meldeverfahren mehr wie vorher. Vor allem gibt es in den Krankenkassen keine unterschiedlichen An- dass wir bei der Reform der Minijobs, an der auch Sie sprechpartner mehr. Bis zu einem Monatseinkommen mitgewirkt haben, so erfolgreich waren, dass Sie sich von 800 Euro werden die Sozialversicherungsbeiträge scheuen, über die Perspektiven und Aussichten im Be- der Arbeitnehmer schrittweise bis zum vollen Beitrag reich der geringfügigen Beschäftigung zu reden. Ich angehoben. Für fast 1 Millionen Arbeitswillige gibt es habe wirklich gedacht, dass Sie darüber reden würden; damit neue Beschäftigungsmöglichkeiten. denn Minijobs und die geringfügige Beschäftigung sind in Ergänzung zu voll sozialversicherungspflichtigen Be- Durch die neue Regelung sind inzwischen 5,8 Millio- schäftigungsverhältnissen wichtige Bausteine in der Ar- nen Minijobs gemeldet worden. Rechnet man die kurz- beitswelt. fristigen Beschäftigungsverhältnisse und die Tätigkeiten in den privaten Haushalten hinzu, so kommt man auf (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das hät- 6,4 Millionen Beschäftigte im Niedriglohnbereich. tet ihr 1999 auch einmal sagen sollen!) (B) Hinzu kommt noch, dass nun jedermann, auch den rund Arbeitslose können durch ein geringfügiges Beschäfti- (D) 2 Millionen Menschen mit geringer Qualifikation, die gungsverhältnis den Kontakt zum Arbeitsleben halten und bislang ohne Job waren, der Weg in einen unbürokrati- über den so genannten Klebeeffekt unter Umständen sogar schen Niedriglohnsektor offen steht. den Einstieg in einen regulären Job schaffen. Nach wie vor Auch für die Unternehmen rechnen sich die Minijobs. gibt es bei uns – das ist der Unterschied zu Ihrer Regie- Nach Berechnungen des Unternehmermagazins „Im- rungszeit bis 1998 – die Sozialversicherungspflicht und pulse“ können Arbeitgeber und Mitarbeiter mit dem Mi- die Möglichkeit, Zeiten anzurechnen. Durch die Reform nijob-Gesetz bis zu 434 Euro pro Mann und Monat spa- haben wir jetzt in der Tat erreicht, dass Jobs, in denen ren. So lohnt sich auch niedrig entlohnte Arbeit wieder; schwarz gearbeitet wurde, in sozialversicherungspflich- denn sie ist unbürokratisch, flexibel und rentabel. Nur so tige Minijobs überführt worden sind. kann man den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft wieder (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ihr habt auf den richtigen Kurs bringen und den Menschen in un- vorher Schwarzarbeit produziert!) serem Land eine Perspektive aufzeigen. Ich bin mir ganz sicher: Wir werden diesen Erfolg fort- (Beifall bei der CDU/CSU) setzen und auch bei den haushaltsnahen Dienstleistungen durchsetzen, da das dort Erreichte in der Tat noch nicht Die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsver- zufriedenstellen kann. Daher müssen wir Informationen hältnisse ist dazu ein Schritt. verbreiten. Ich freue mich, dass die Bundesknappschaft Am Schluss meiner Rede möchte ich sagen: von einer Kampagne spricht, um den Bereich der Mini- jobs bis zu den haushaltsnahen Dienstleistungen auszu- (Peter Dreßen [SPD]: Der Schluss Ihrer Rede weiten. Ich freue mich auch darüber, dass es Initiativen ist das Beste!) wie die in Nordrhein-Westfalen gibt. Dort werden zum Ich bin nur froh, dass der Schutt, den uns der ehema- Beispiel verschiedene Minijobverhältnisse über Dienstleis- lige Arbeitsminister bei den Minijobs hin- tungspools zusammengefasst und im Bereich der haushalts- terlassen hat, seit diesem Jahr endlich ausgeräumt ist; nahen Dienstleistungen perspektivisch in voll sozialversi- denn nun ist der Weg für mehr Beschäftigung wenigs- cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse überführt. tens in diesem Bereich frei. Wir müssen aber auch sehen, dass Minijobs vorwiegend zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse zu regulären Ar- Ein Anfang ist getan. Um unser Land wegen der Glo- beitsverhältnissen sind. Sie stellen einen Zuverdienst balisierung und der EU-Osterweiterung zukunftsfähig zu zum Arbeitslosengeld oder zum Haushaltseinkommen machen, müssen nun weitere Schritte im Allgemeinen dar, der in der Regel von Hausfrauen erarbeitet wird. 6480 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Markus Kurth (A) Die Bundesanstalt für Arbeit schätzt den realen Arbeits- rigkeiten gerät, wird sich auf eine Weise bestimmt nicht (C) markteffekt bislang nur auf circa 80 000. Ich denke, das retten können, nämlich indem es seine Köche als Mini- sollten wir natürlich berücksichtigen. Da zieht das Argu- jobber zu McDonald’s-Löhnen und -Arbeitsbedingungen ment nicht, dass der Arbeitsmarkt durch die Minijobs beschäftigt. Es wird auch nicht erfolgreich sein, wenn es insgesamt belebt werden kann. Bei aller Freude über die nur noch Frikadellenbrötchen statt Haute Cuisine anbie- Akzeptanz der Minijobs und bei aller Genugtuung darü- tet. Diese beiden Produkte stehen nämlich überhaupt ber, dass dies offensichtlich nicht zu dem auch von mir nicht in Konkurrenz zueinander. In diesem Sinne ist ein – das gebe ich zu – befürchteten Einbruch bei den Ein- Fortschreiten der internationalen Arbeitsteilung ein ganz nahmen der Sozialversicherung geführt hat, sehen wir, normaler Prozess. Es ist völlig normal, wenn etwa Pro- dass dies nur eine ergänzende Beschäftigungsform ist. duktionen mit geringer Wertschöpfung ins Ausland ver- lagert werden. Diese Entwicklung werden wir auch Sie erwecken – auch darüber muss man im Rahmen durch Minijobs nicht aufhalten können. dieser Debatte einmal reden – den Eindruck – Sie haben von der Globalisierung gesprochen –, eine Niedriglohn- Eine Debatte über Niedriglöhne anzuzetteln bedeutet und Minijobökonomie eröffne den Weg zu internationa- in diesem Sinne auch, dass Sie die Debatte um den Wirt- ler Wettbewerbsfähigkeit oder gar Vollbeschäftigung. schaftsstandort Deutschland in die völlig falsche Rich- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Woher tung lenken. Sie lenken mit der Lohnhöhe die Aufmerk- haben Sie denn den Unsinn?) samkeit auf einen Wettbewerbsfaktor, bei dem Deutschland letzten Endes gar nicht gewinnen kann. Wo – Das behaupten Sie doch permanent. In der Debatte um soll denn der Lohnwettbewerb enden, den Sie immer Hartz IV hat hier Herr Koch von Stundenlöhnen in Höhe wieder propagieren? von 4 Euro gesprochen und als Vergleich die Tschechi- sche Republik angeführt. Er hat behauptet, über niedrige (Peter Dreßen [SPD]: Ja!) Löhne könnten wir die internationale Wettbewerbsfähig- Sind Sie zufrieden, wenn wir das Niveau der durch- keit wiedergewinnen. Aber auch wenn Sie diese Be- schnittlichen Stundenlöhne der Tschechischen Republik hauptung wiederholen, wird sie dadurch nicht richtiger. erreicht haben? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Peter Dreßen [SPD]: Oder die in Indien!) sowie bei Abgeordneten der SPD – Manfred Grund [CDU/CSU]: Unglaublich! Das hat Oder fangen Sie dann an, über die Lohnhöhe in China heute niemand gesagt!) oder Bangladesch zu philosophieren? Insbesondere im internationalen Wettbewerb steht (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) Deutschland in einem Wettbewerb um Produktivität, und bei der SPD – Dr. Hans-Peter Friedrich Qualität, Produkt- und Prozessinnovation. Die Lohnkos- [Hof] [CDU/CSU]: Sind Sie Lafontaine-Schü- ten für sich betrachtet stellen nicht den entscheidenden ler?) Wettbewerbsvorteil dar. Entscheidend sind die Lohn- stückkosten. Hier liegen deutsche Unternehmen im in- Es ist traurig, dass Binsenweisheiten in der politi- ternationalen Vergleich gar nicht so schlecht. Entschei- schen wie öffentlichen Diskussion auch von manchem dend ist auch, ob Produkte und Dienstleistungen über ein Wirtschaftsforschungsinstitut wie dem Ifo-Institut hart- Alleinstellungsmerkmal und Innovationsvorsprünge ver- näckig ignoriert werden. Es ist dringend notwendig, dass fügen. Man fragt sich, ob Sie die Theorie der komparati- wir von ideologischen Fiktionen wegkommen und zu ei- ven Kostenvorteile des Ökonomen David Ricardo – ein ner tatsachenbezogenen Politik zurückfinden. klassischer Ökonom des 19. Jahrhunderts – überhaupt kennen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Rainer Brüderle [FDP]: Sa- (Zurufe von der FDP: Oh!) gen Sie mal etwas Vernünftiges!) Seine Theorie ist das Rüstzeug jedes Studenten der Von Ihrem ökonomischen Verständnis her befinden Sie Volkswirtschaft. Offensichtlich haben Sie einen Grund- sich zum Teil auf dem gleichen Niveau wie die Weber kurs nötig. des 19. Jahrhunderts, die meinten, durch Maschinenstür- Diese Theorie der komparativen Kostenvorteile be- merei dem unvermeintlichen Produktivitätsfortschritt zu sagt, dass jede Volkswirtschaft im Rahmen der internatio- entkommen. nalen Arbeitsteilung ihre besondere Ausstattung mit Pro- (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: duktionsfaktoren wie etwa Arbeitskräften, Rohstoffen, Mein Gott!) Wissen und Fertigungskapazitäten so ausrichtet, dass sie sich auf die günstigste Kombination vergleichbarer Kos- Ein Vergleich der Bauindustrie Japans und Deutsch- tenvorteile spezialisiert. Die Lohnkosten sind in einer lands zeigt schon heute, dass eine Verengung des Wett- Ökonomie wie Deutschland mit Sicherheit nicht der bewerbs nur auf die Lohnhöhe den Produktivitätsfort- komparative Kostenvorteil, den es zu kultivieren gilt. schritt hemmt und die Wettbewerbsfähigkeit letztlich (Zurufe von der FDP: Oh!) gefährdet; denn in der Bauindustrie Japans ist die Auto- matisierung schon sehr weit fortgeschritten, während Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Ein sich auf deutschen Baustellen unterbezahlte Arbeits- Drei-Sterne-Restaurant, das in wirtschaftliche Schwie- kräfte aus Osteuropa gegenseitig im Weg stehen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6481

Markus Kurth (A) In diesem Sinne bieten Minijobs, insbesondere im Blicken wir nach vorne. Das Beschäftigungspoten- (C) Hotel- und Gaststättengewerbe, eine ergänzende, quasi zial, das alle bekannten Sachverständigen und Experten Lücken füllende und unterstützende Funktion an. Sie im Niedriglohnbereich insgesamt verorten, muss aus können in gewissen Bereichen Brücken in den ersten Ar- unserer Sicht stärker ausgeschöpft werden, wenn wir im beitsmarkt bauen. Aber das entbindet uns nicht von der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit Erfolge erzielen wol- Pflicht, die Diskussion zu entideologisieren, len. Es geht nicht an, dass Sie sagen, die Regelung habe nur 80 000 Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: gebracht. Herr Kollege Kurth, wir müssen auch die ge- Da sind Sie der Richtige!) samtwirtschaftlichen Umstände bedenken, die Sie zu die Lohnhöhe zu akzeptieren, angemessen Löhne und verantworten haben. In einer Phase wieder anziehender Produktivitätsfortschritt zu fördern und zu steigern. Bei- Konjunktur – die wird irgendwann kommen, spätestens des muss in ein vernünftiges Verhältnis zueinander ge- nach der nächsten Bundestagswahl – werden wir die setzt werden. Genau dazu ist Rot-Grün angetreten. Das volle Durchschlagskraft der geringfügigen Beschäfti- werden wir auch durchsetzen. gung erleben können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben der Regelung über die Minijobs nicht zu- und bei der SPD) gestimmt; nicht weil wir die Ansätze für falsch gehalten hätten, sondern weil wir der Meinung waren, dass noch entschiedener hätte gehandelt werden müssen. Wir sehen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: uns in unserer damaligen Auffassung auch durch den Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP- Bericht der Bundesregierung und die Berichte der Fraktion. Knappschaft bestätigt. Der Arbeitsmarkt schreit regel- recht nach Erleichterungen und Freiraum. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): ( [Münster] [FDP]: Er ächzt! – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erika Lotz [SPD]: Keine Sozialversicherung, Ich schlage vor, Herr Kollege Kurth, dass wir uns jetzt keine Steuern, keine Gewerkschaften!) aus dem Soziologieseminar wieder zurück in die Realität bewegen. Da sehen die Dinge schon ganz anders aus. Schon kleine Spielräume werden vom Markt dankbar (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) honoriert und in Beschäftigung umgesetzt. Das ist es, was man diesen Berichten entnehmen kann. Die Geschichte der geringfügigen Beschäftigungsver- hältnisse unter Rot-Grün ist – das sage ich auch an die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) (D) Adresse des Staatssekretärs – alles andere als eine Er- folgsgeschichte. Sie ist bestenfalls eine Tragikkomödie, Wenn man sich jetzt die Entwicklung der Minijobs an- die 1999 im Chaos begann und die sich durch Zutun der schaut, dann wird deutlich, dass 1 Million Minijobs zu- Opposition zu Beginn dieses Jahres zum Erfolgsmodell sätzlich entstanden sind. Das ist ziemlich genau die Grö- gewandelt hat. Das ist die Wahrheit, was die geringfü- ßenordnung, die Sie 1999 mit dem blindwütigen gige Beschäftigung anbelangt. Einschlagen auf die alte 630-Mark-Regelung vernichtet haben. Man muss sich das einmal ansehen, Herr (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Thönnes. Sie haben ja keine Zwischenfragen zugelassen. Ich will mich gar nicht lange bei der Vergangenheit (Rainer Brüderle [FDP]: Er hat Angst gehabt!) aufhalten, denn es gilt das Sprichwort: Wer immer nur in den Rückspiegel guckt, fährt zwangsläufig gegen die Ich habe die Krokodilstränen noch in Erinnerung. Das Wand. Das ist ja Ihr Problem in der letzten Legislaturpe- waren eigentlich alles unzumutbare Beschäftigungsver- riode gewesen. Es genügt, wenn man einen Hinweis auf hältnisse, das Waterloo gibt, das Sie 1999 mit den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen erlebt haben. Das ist Ihnen (Erika Lotz [SPD]: Sie wollten doch nach alles noch in bester Erinnerung. vorne blicken!) (Peter Dreßen [SPD]: Sie haben doch 16 Jahre weil dort Menschen tätig sind, die keine Chance haben, das Chaos produziert! – Gegenruf des Abg. eine Altersvorsorge aufzubauen. Das wollten Sie ändern. Manfred Grund [CDU/CSU]: Bei Ihnen haben vier Jahre gereicht!) (Doris Barnett [SPD]: Das haben wir jetzt!) – Wenn Sie wollen, können Sie sich das wieder in Erin- Jetzt sind es 160 000 Menschen von 6,7 Millionen, wenn nerung rufen. ich Ihnen richtig zugehört habe; weniger als 2,5 Prozent aller geringfügig Beschäftigten, die von Ihrem Angebot Es genügt auch ein Hinweis auf das Zustandekommen Gebrauch machen, zusätzliche Beiträge zu leisten und der Minijob-Regelung im Rahmen von Hartz II. Fragen sich damit eine weiter gehende Altersversorgung aufzu- Sie meinen Kollegen . Ihm ist noch bestens bauen. Sie wollten damals ein Problem lösen, das aus der in Erinnerung, wie damals Herrn Stiegler die Zigarre aus Sicht der Menschen überhaupt nicht bestand. Das ist die der Hand fiel, als Herr Clement der Opposition die jet- Wahrheit, Herr Staatssekretär. zige Minijob-Regelung zugestanden hat. So ist es näm- lich gewesen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 6482 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Weil es Beschäftigungseffekte gibt, muss man jetzt sollten Ihrem Herzen einen Stoß geben und über die (C) auch durchstarten und die Schwelle von 400 Euro auf Hürde springen, indem Sie mit uns gemeinsam darüber mindestens 630 Euro erhöhen. nachdenken, wie man diesem Sektor eine größere Dyna- mik verschaffen kann. (Lachen des Abg. Peter Dreßen [SPD]) Vielen Dank. Das ist ungefähr das Existenzminimum im Monat. Da- durch entsteht zusätzliche reguläre Beschäftigung, Herr (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kollege Dreßen. Arbeitnehmer können dann netto mehr verdienen und Arbeitgeber können flexibler und unbüro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kratischer disponieren. Nächster Redner ist der Kollege Peter Dreßen, SPD- Was die Situation in den Haushalten anbelangt, ver- Fraktion. treten Sie das Prinzip Hoffnung. Das wird nicht ausrei- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Jetzt chen. Notwendig ist vielmehr die steuerliche Anerken- kommt der Klassenkampf oder die Wahrheit! – nung des Privathaushalts als Arbeitgeber. Bis 2002 war Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt es Privathaushalten möglich, jährlich 9 203 Euro für so- kommt Gewerkschaft pur!) zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Haushalt abzusetzen. Das haben Sie Ende des Jahres 2002 gestri- chen. Peter Dreßen (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Die FDP hat in ihrem Berliner Entwurf eines Einkom- möchte eingangs zwei Punkte ansprechen. Herr Strebl, mensteuergesetzes, den der Kollege Solms vorgelegt hat, ich glaube, Sie haben die frühere Situation im Zusam- vorgeschlagen, dass für die Tätigkeit in privaten Haus- menhang mit den 630-Mark-Jobs vergessen. Ist Ihnen halten, zum Beispiel die Kinderbetreuung, zukünftig bis nicht mehr geläufig, dass bei der Überprüfung solcher zu 12 000 Euro abgesetzt werden können. geringfügig Beschäftigten herauskam, dass über 2000 (Erika Lotz [SPD]: Deckungsvorschlag!) von ihnen schon lange auf dem Stuttgarter Friedhof la- gen? Ich meine, eine solche Förderung der Beschäftigung in Privathaushalten ist gerade auch im Hinblick auf die (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf – das sollte Reden Sie doch keinen Unfug! So ein unser gemeinsames Anliegen sein – dringend geboten. Quatsch!) Wenn ein Elternteil zusätzlich arbeiten kann, weil eine Sie haben uns doch seinerzeit ein Chaos hoch drei hin- sozialversicherungspflichtig beschäftigte Tagesmutter (B) terlassen. (D) die Kinder betreut, dann verschafft das dem Staat dop- pelte Einnahmen. Wenn die Förderung der Beschäfti- Ich denke auch an das Thema Scheinselbstständig- gung in Privathaushalten ausbleibt, dann können zwei keit. Sie haben diejenigen, die als Scheinselbstständige reguläre Beschäftigungsverhältnisse nicht zustande arbeiten mussten, in die Armut getrieben, weil sie völlig kommen. unzulänglich abgesichert waren. Ich meine, gerade auch im Hinblick auf die demogra- Ihre eben vorgetragene Argumentation, dass in Fällen phische Entwicklung in sieben oder acht Jahren ist es illegalen Aufenthalts und illegaler Beschäftigung eine notwendig, die Frauenerwerbsquote zu erhöhen. Deswe- Legalisierung erfolgen sollte gen haben wir unter dem Titel „Tagespflege als Baustein (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind nicht zum bedarfsgerechten Betreuungsangebot“ einen ent- dieselben!) sprechenden Antrag vorgelegt. Ich bitte Sie, unseren An- trag ernst zu nehmen und der Erhöhung der absetzbaren – so haben Sie das eben formuliert –, verstehe ich so, Summe von derzeit 2 400 Euro auf bis zu 12 000 Euro dass wir, wenn jemand wegen schweren Raubes verur- zuzustimmen. teilt wird, beschließen sollten, dass alle Hausbesitzer ihr Haus offen lassen müssen, damit die Tat zukünftig nur Abschließend sollten wir auch nicht übersehen, dass noch als einfacher Raub gilt. Das ist doch schizophren. viele Haushalte die Beschäftigungsverhältnisse gerne le- galisieren wollen, dass sie dies aber nicht können, weil Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der oder die Beschäftigte keine Arbeitserlaubnis oder gar Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Aufenthaltserlaubnis hat. Kollegen Kolb? (Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch illegal!) – Ja, natürlich ist das illegal. Aber dann müssen wir da- Peter Dreßen (SPD): für sorgen, Herr Kollege Dreßen, dass der Nachfrage Ja, wenn die Uhr angehalten wird. aufseiten der Haushalte ein legales Arbeitskräfteangebot (Rainer Brüderle [FDP]: Sie kriegen sogar gegenübersteht. Dieses Thema sollten wir auch in den einen Nachschlag!) Beratungen über das Zuwanderungsgesetz offen und ideo- logiefrei diskutieren. Wir sind dazu bereit. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Die Minijobregelung ist ein guter Ansatz. Sie ist aber Herr Kollege Dreßen, ich bedanke mich ausdrücklich durch mutiges Handeln noch deutlich ausbaufähig. Sie dafür. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6483

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich das geringfügig Beschäftigte durch Aufstocken Leistungsan- (C) nicht so gemeint habe, wie Sie es dargestellt haben? Ich sprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung erwer- meine natürlich nicht denselben Personenkreis. Es ist ben. Wenn es jetzt 140 000 bis 160 000 geringfügig Be- völlig klar, dass solche illegalen Handlungen nicht lega- schäftigte gibt, dann bedeutet das, dass nun tatsächlich lisiert werden können. mehr in die Rentenkasse eingezahlt wird und dass diese Beschäftigten zusätzliche Rentenansprüche haben. Wir (Erika Lotz [SPD]: Das sagen Sie jetzt!) müssen vielleicht noch werben, damit es mehr werden. Ich habe gesagt: Wir müssen im Rahmen der Beratun- Zum zweiten Punkt: Bei der Verabschiedung von gen über ein Zuwanderungsgesetz auch daran denken, Hartz II waren wir auf Ihre Unterstützung angewiesen dass der offensichtlich vorhandenen Nachfrage von Pri- und mussten uns nolens volens darauf einlassen, die Ge- vathaushalten nach legaler Beschäftigung entsprochen ringfügigkeitsgrenze von 325 Euro auf 400 Euro anzu- wird und Personengruppen ins Land kommen können, heben. die diese Nachfrage der Haushalte auf legale Weise zu- friedenstellen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das dass ich das in diesem Sinne gemeint habe? Beste, was Ihnen passieren konnte!) Herr Kolb fordert sogar eine Erhöhung auf 600 Euro. Peter Dreßen (SPD): Wenn Sie das so interpretieren, dann akzeptiere ich (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Exis- das. Ich akzeptiere auch, dass wir mit dem Zuwande- tenzminimum!) rungsgesetz die eine oder andere bestehende Ungerech- Sie haben nur vergessen, zu erwähnen, wie Sie die Lü- tigkeit beseitigen sollten. Dann müssen Sie aber an Ihre cke in der Sozialversicherung, die dann aufgrund fehlen- Kollegen neben Ihnen appellieren, damit wir ein Stück der Beiträge entstehen würde, schließen wollen. Mich weiterkommen. interessiert, wie Sie das machen wollen. Zusätzlich (Beifall bei der SPD) wurde im Vermittlungsausschuss über die Einführung ei- ner Gleitzone entschieden. Ich habe meine Zweifel, dass Auf Wunsch der Opposition diskutieren wir heute durch die von uns zugestandene Erhöhung der Gering- über den Bericht der Bundesregierung über die geringfü- fügigkeitsgrenze tatsächlich mehr Arbeitsplätze geschaf- gigen Beschäftigungsverhältnisse. Dieser Bericht wurde fen worden sind. Wir müssen aber erst die Zahlen der dem Bundestag im März dieses Jahres zugeleitet. Ange- Bundesanstalt für Arbeit abwarten. Ausfälle im Sozial- sichts der derzeitigen Konzeptionslosigkeit der Opposi- versicherungssystem sind jedenfalls der Preis gewesen, tion bin ich etwas verwundert darüber, dass Sie nichts den wir für die Umsetzung unserer Vorstellungen im (B) Besseres zu tun haben, als sich mit veralteten Arbeits- Vermittlungsausschuss zahlen mussten. (D) marktdaten zu beschäftigen. Sie wollen heute über Zah- len und einen Bericht sprechen, die auf dem Stand vom Wir wollten in Anlehnung an die Vorschläge der März 2003 sind und deren praktische Bedeutung verlo- Hartz-Kommission illegale Beschäftigungsverhältnisse ren gegangen ist; denn wir haben mit Hartz II – das im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen lega- wurde schon erwähnt – zum 1. April dieses Jahres die lisieren. Verhaltensänderungen setzen sich jedoch nur geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse neu geregelt. langsam durch. Im Bereich der Haushaltshilfen ist trotz Im Unterschied zu damals sind jetzt für die Minijobs der Neuregelung die Schwarzarbeit leider noch immer Sozialbeiträge abzuführen. der Normalfall. Von den geschätzten 2 Millionen bis 3 Millionen Personen, die in privaten Haushalten arbei- Ich freue mich trotzdem aus zwei Gründen, dass wir ten, sind lediglich 36 000 in angemeldeten Beschäfti- Gelegenheit haben, über die geringfügigen Beschäfti- gungsverhältnissen tätig, und das, obwohl wir mit einer gungsverhältnisse zu sprechen. Erstens können wir noch Reihe von Anreizen versucht haben, die Situation zu än- einmal betonen, welche Verbesserungen wir für die so- dern. Der Haushaltsscheck ist einfacher geworden, wo- ziale Absicherung geringfügig Beschäftigter erzielt durch die bürokratischen Hemmnisse beseitigt worden haben. Zweitens haben wir die Gelegenheit, über die sind. Dieser Scheck umfasst zwölf Fragen und ist im In- Neuerungen bei den Minijobs im Rahmen der ersten ternet unter www.minijob-zentrale.de abzurufen. Ich Hartz-Gesetze zu sprechen. Ich danke Ihnen, Herr kann nur jedem empfehlen, sich diese Internetseite anzu- Staatssekretär, dass sich hier schon einiges getan hat. schauen. Es gibt auch eine gute Erläuterung zur Beant- Zum ersten Punkt: Was haben die Bundesregierung wortung der zwölf Fragen. Es ist wirklich sehr einfach. und die rot-grüne Koalition für die geringfügig Beschäf- Eine pauschale Abgabe für den Arbeitgeber in Höhe tigten getan? von 10 Prozent und eine steuerliche Abzugsfähigkeit bis zu 510 Euro sollen Anreize schaffen, haushaltsnahe (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nichts!) Dienstleistungen bei der Bundesknappschaft anzumel- – Aber sicher! – Die Bundesregierung macht Sie in ih- den. Außerdem haben wir uns dafür eingesetzt, bürokra- rem Bericht noch einmal auf die Verbesserungen für tische Abläufe rigoros zu vereinfachen. Wir haben die geringfügig Beschäftigte aufmerksam, die wir am 15-Stunden-Grenze für geringfügige Beschäftigungsver- 1. April 1999 eingeführt haben. So leisten seit diesem hältnisse aufgehoben. Die Berechnungen für kurzfristige Zeitpunkt auch die Arbeitgeber ihren Beitrag zur Kran- Minijobs wurden erheblich vereinfacht. Damit sind wir ken- und zur Rentenversicherung für geringfügig Be- vor allem den Bedürfnissen der Arbeitgeber entgegenge- schäftigte. Seit der Neuregelung können des Weiteren kommen. Unternehmen müssen nun nicht mehr wie 6484 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Peter Dreßen (A) bisher komplizierte Berechnungen über die Dauer einer dem Ausschuss für Arbeit und Wirtschaft an. Ich be- (C) Beschäftigung im Jahr anstellen. Es reicht einfach die schäftige mich mit dem Arbeitsmarkt also schon ein paar Prüfung, ob ein Beschäftigter weniger als zwei Monate Tage. bzw. weniger als 50 Tage pro Kalenderjahr beschäftigt (Doris Barnett [SPD]: Wir auch! – Gegenruf ist. des Abg. Matthäus Strebl [CDU/CSU]: Die ei- Arbeitgeber profitieren außerdem davon, dass sie nen lernen dabei, die anderen weniger!) nicht mehr rückwirkend in Haftung genommen werden, – Frau Kollegin Barnett, das, was Sie zwischen 1994 und wenn ein Arbeitnehmer zu Unrecht gleichzeitig mehre- 1998 im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung vertre- ren Minijobs nachgeht und so die Sozialversicherungs- ten haben, und das, was Sie jetzt tun, verhalten sich zu- pflicht umgeht. einander ungefähr so wie Feuer und Wasser. Über die quantitativen Auswirkungen der Neurege- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. lung der Minijobs und der eingeführten Gleitzone wer- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] – Doris Barnett den wir sprechen, sobald die Zahlen der Bundesanstalt [SPD]: Nein, das stimmt nicht!) vorliegen. Ich hoffe, dass Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, nach dem Vorliegen dieser Daten Wie war es denn früher mit den 630-DM-Jobs? nicht erneut ein halbes Jahr Zeit zum Lesen brauchen. (Erika Lotz [SPD]: Da habt ihr nichts gemacht, Wenn das der Fall ist, dann könnte die nächste Beurtei- Karl-Josef! Ihr habt immer nur geredet!) lung der geringfügigen Beschäftigung etwas zeitnäher und aktueller ausfallen. Die Konstruktion des entsprechenden Gesetzes hatte im Grunde einen Fehler: Die Einnahmen aus der Pauschal- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ besteuerung in Höhe von 20 Prozent flossen in den DIE GRÜNEN) Staatshaushalt und damit fiel das Arbeitsvolumen, das in diesem Bereich bestand, als Grundlage für die Finanzie- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rung der Sozialversicherung weg. Nächste Redner ist der Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion. Nach Ihrem Wahlsieg 1998 haben Sie beschlossen, alle in die Sozialversicherung zu drängen, die 630-DM-Jobs sozialversicherungspflichtig zu machen Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): und Scheinselbstständigkeit abzuschaffen. Dann haben Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Sie festgestellt, dass das auf dem Arbeitsmarkt keinen Herren! Ich freue mich sehr darüber, dass alle Redner in Erfolg hat, weil viele Menschen in die Schwarzarbeit ge- (B) der heutigen Debatte gesagt haben, das jetzige Gesetz flüchtet sind. (D) zur Regelung der 400-Euro-Jobs sei in Ordnung. (Matthäus Strebl [CDU/CSU]: Trotz War- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Wir haben nung!) gesagt, es könnte besser sein!) Nicht nur die 400-Euro-Jobs, sondern auch die Ände- Um der Wahrheit Genüge zu tun, möchte ich darauf rung des Gesetzes zur Bekämpfung der Scheinselbst- hinweisen, dass dieses Gesetz kein Bestandteil von ständigkeit war ein Erfolg von Hartz II. Insofern war al- Hartz I oder Hartz II war. les, was damals gemacht worden ist, vernünftig und (Matthäus Strebl [CDU/CSU]: So ist es!) richtig. Es wurde davon gar nicht berührt. Wegen Hartz II ist da- Dass es mit den 400-Euro-Jobs jetzt so gut klappt mals der Vermittlungsausschuss angerufen worden; ich und sie uns so wenige Beschwerden bereiten, liegt ganz selbst habe an den entsprechenden Sitzungen teilgenom- einfach daran, dass die Belastung der Arbeitgeber mit men. Damals haben wir gesagt: Wir müssen auch über 25 Prozent genauso hoch oder sogar etwas höher ist als die Minijobs reden; wir brauchen eine Reform der ver- die Belastung der Arbeitgeber, die im Rahmen eines korksten Regelung der Riester-Rente. Clement war ge- regulären Beschäftigungsverhältnisses Sozialversiche- rade im Amt und hat das eingesehen. Dann ist im rungsbeiträge abführen müssen. Grunde genommen das, was im Wahlprogramm von Ich habe in den damaligen Vermittlungsgesprächen CDU und CSU stand, Gesetz geworden. der entsprechenden Arbeitsgruppe im BMWA immer ge- (Doris Barnett [SPD]: Na!) sagt: Es darf für die Arbeitgeberseite keine Anreize ge- ben, das zu machen, und deswegen muss die mit einem Mittlerweile loben es alle. Dem gibt es nichts hinzuzufü- solchen Arbeitsverhältnis verbundene Abgabenlast ge- gen. Was im Wahlprogramm von CDU und CSU stand, nauso hoch wie die bei einem regulären Arbeitsverhält- war gut und es hat sich bewährt, was im Gesetzblatt nis sein. steht. (Doris Barnett [SPD]: Klasse! Dann vertreten (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Sie ja unsere Position!) Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist die Wahr- Dass das Geld seitdem in die Sozialkassen und nicht in heit! – Zuruf der Abg. Doris Barnett [SPD]) den Staatshaushalt fließt, führt natürlich dazu, dass sich – Ich bin von 1990 bis 2002 im Ausschuss für Arbeit der Verdrängungswettbewerb in Bezug auf Arbeitsstun- und Sozialordnung gewesen. Mittlerweile gehöre ich den – es geht darum, ob sie in dem einen oder in dem an- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6485

Karl-Josef Laumann (A) deren Bereich anfallen – auf die Sozialkassen nicht aus- Wir streiten im Bundestag darüber, ob Privatwohnungen (C) wirkt. zum Zwecke der Verbrechensverfolgung abgehört wer- den dürfen. Eine Sozialversicherung kann im Haushalt (Doris Barnett [SPD]: Korrekt!) überhaupt nicht kontrollieren. Das ist die Wahrheit. Des- Deswegen finde ich, dass das, was wir da gemacht ha- wegen ist die Geschichte so, wie sie ist. ben, vernünftig und richtig ist. Wir können das nur lösen, wenn Sie jetzt auf uns hö- (Beifall bei der CDU/CSU) ren, so wie Sie bei den Minijobs richtigerweise auf uns gehört haben. Es hat dazu geführt, dass zusätzlich 1 Million oder 800 000 Menschen illegale Arbeitsverhältnisse verlassen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört mal auf haben – ich behaupte, die allermeisten haben schon vor- uns!) her Geld dazuverdient – und in ein legales Arbeitsver- hältnis zurückgekehrt sind. Das erhöht wahrscheinlich Wir müssen den Schritt tun, dass der private Haushalt insbesondere die Kaufkraft derjenigen Familien, die auf ein ganz normaler Arbeitgeber wird, so wie es Friedrich mehr Geld dringend angewiesen sind. Merz vorschlägt. Die Wahrheit ist doch: Es gibt ganz viele Menschen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die nicht die Möglichkeit haben, durch Karrieresprünge Damit bin ich bei einer Baustelle, die uns in den mehr Geld zu verdienen. Wenn sie in einer bestimmten nächsten Tagen sehr beschäftigen wird: Wie machen wir Lebenssituation einmal mehr Geld brauchen, dann haben das mit dem Arbeitslosengeld II, mit der Zusammen- sie in der Firma oder in der Verwaltung, in der sie arbei- führung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe? Dabei ten, oft nicht die Möglichkeit, ihr Einkommen durch geht mir Folgendes am meisten durch den Kopf: Mit den Überstunden zu steigern. Ihre einzige Möglichkeit, mehr Familienangehörigen sind immerhin 4,3 Millionen Leute Geld zu verdienen, besteht darin, einen Zweitjob auszu- betroffen. Wir müssen uns das einmal vorstellen: In üben. Wir von der Union haben für diese Leute sehr viel Deutschland sind 4,3 Millionen Menschen – diejenigen, Sympathie. die keine Arbeit haben, und ihre Familienangehörigen – (Zuruf von der CDU/CSU: Näher am Men- in der Grundsicherung. Von den arbeitsfähigen Erwach- schen!) senen haben 50 Prozent keine abgeschlossene Berufs- ausbildung. Der Fleiß muss sich eben auch lohnen. Von folgender Aussage lasse ich mich nicht abbrin- Da ist auch etwas aufgegangen. Ich war mir damals gen: Es gibt Menschen, für die wir eine einfach struktu- gar nicht so sicher, dass es aufgehen würde. Fast alle Mi- rierte Arbeit brauchen. Die können nicht das leisten, was (B) nijobs werden nebenbei gemacht. Es ist also nicht zu ei- (D) in der modernen Industrie- und Wissensgesellschaft all- ner Aufspaltung von normalen Arbeitsverhältnissen in gemein verlangt wird. Für diese Menschen könnte der Minijobs gekommen. Der Minijobber ist zum Beispiel jemand, der schon eine Rente erhält. Wie wir in dem Be- Haushalt eine Beschäftigungsperspektive sein. Wenn wir richt lesen konnten, ist der Anteil der über 55-Jährigen das auf breiter Front wollen, dann muss der Haushalt relativ hoch. Auch Hausfrauen machen Minijobs. Es ist seine Beschäftigten genauso wie ein normaler Arbeitge- eben etwas, was nebenbei gemacht wird. Ich bin also ber brutto bezahlen können. sehr damit zufrieden, wie das gelaufen ist. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es! So Wie sieht es mit den Beschäftigungen im Haushalt wird es auch gemacht!) aus? Was den Haushalt angeht – steuerliche Absetzbar- Wir bekommen das doch nachher über Sozialversiche- keit, relativ einfaches Verfahren –, so haben wir damals, rungsbeiträge und Steuern wieder und die Menschen ha- finde ich, im Grunde nichts falsch gemacht. ben Beschäftigung. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber zu zag- Ich bin mir sicher, dass die Frage, wie wir es errei- haft!) chen, dass in Akademikerhaushalten wieder mehr Kinder Trotzdem meldet nur ein verschwindend geringer Teil geboren werden, auch mit der Kinderbetreuung zusam- der Menschen eine solche Beschäftigung an. Dabei wis- menhängt. Ich stelle mir dazu vor, dass die Kinderbetreu- sen wir alle, dass es in Deutschland ganz viele Haus- ung nicht nur in Gemeinschaftseinrichtungen des Staates haltshilfen gibt. Das liegt einfach daran, glaube ich, dass oder der Kirchen erfolgt, sondern auch durch Haushalts- es insofern gar kein Unrechtsbewusstsein gibt. Leute wie hilfen organisiert werden kann. wir, die im öffentlichen Leben stehen, müssen natürlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aufpassen und werden so etwas anmelden, Wir wissen nicht, wie wir in der Industrie Arbeits- ( [FDP]: Ja!) plätze für die von mir eben beschriebenen Menschen fin- aber jeder Privatmann denkt sich doch: Mein Gott, ich den sollen. Das Wirtschaftswachstum kann noch so groß zahle das aus meinem Portemonnaie. werden, für diese Menschen werden keine Arbeitsplätze entstehen. Für sie wird es auch in der Wissensgesell- Außerdem kann man im Haushalt sowieso nicht kon- schaft keine Arbeitsplätze geben; allenfalls ein paar im trollieren. Der Haushalt genießt ja starken Schutz vor Dienstleistungsbereich. Lassen Sie uns doch den Schritt staatlichen Kontrollen. tun, für diese Menschen im Haushalt eine Beschäfti- (Otto Fricke [FDP]: Noch!) gungsperspektive zu eröffnen! Ich bin ganz sicher, dass 6486 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Karl-Josef Laumann (A) dann auch all diese Beschäftigungsverhältnisse legal be- tet haben, als Sie die Zeitarbeit in die Tarifbindung ge- (C) stehen werden. In dem Haushalt, der einstellt, wird man zwungen haben. Jahrelang hat die Zeitarbeit als sich nämlich sagen: Ich muss das jetzt offiziell machen, einziges Segment des Arbeitsmarktes in Deutschland Zuwächse verzeichnet. Seitdem Sie zwingend die Tarif- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Richtig!) bindung vorgeschrieben haben, verliert sie an Bedeu- weil ich mir die Steuervorteile nicht entgehen lassen tung. will. Punkt. Lassen Sie uns auch ganz vernünftig darüber reden, wie (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So einfach ist wir in Deutschland Menschen, für die nur eine einfach das!) strukturierte Arbeit infrage kommt, im Niedriglohnbereich fördern. Ich will keine Regelung für ganze Branchen, Dann haben wir das im Griff und werden sehen: Wir aber eine Lösung für Einzelfälle. Ich will Entschei- werden Hunderttausende oder Millionen von zusätzlich dungsstrukturen, damit solchen Menschen wieder eine Beschäftigten in Deutschland haben. Wir werden Beschäftigungsperspektive gegeben werden kann. Es ist Schwarzarbeit bekämpft haben. Wir werden auch von allemal besser, wenn sie eine Aufgabe finden und einen der Statistik und den Einnahmen her wesentlich besser Teil ihres Lebensunterhalts durch eigene Arbeit verdie- dastehen als heute. Weil es offizielle Arbeitsverhältnisse nen. Weil wir denken, dass jemand, der acht Stunden am sind, werden die Menschen Tag arbeitet, besser als ein Sozialhilfeempfänger leben (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Besser abge- soll, müssen wir die Löhne dann eben ein bisschen auf- sichert!) stocken. Gehen Sie auch diesen Weg mit uns! auch besser geschützt sein als heute. Ich spreche da ein- Wenn wir diese drei Punkte am Freitag und in den mal als Sozialpolitiker und denke an unsere Herkunft, kommenden Tagen einvernehmlich klären können, dann lieber Peter. Der Schwarzarbeiter ist ja überhaupt nicht wird uns als vernünftigen Menschen – da bin ich mir geschützt, höchstens ein bisschen über Gerichtsurteile. ziemlich sicher – auch etwas dazu einfallen, wie wir von der Administration her die Trägerschaft so gestalten Gehen Sie doch diesen Weg mit uns! Machen Sie es können, dass es dann auch funktioniert. wie bei den 400-Euro-Jobs: Hören Sie auf das, was wir sagen! Auch wir haben nicht immer Recht, aber wir ha- (Peter Dreßen [SPD]: Das müssen Sie Ihren ben ganz bestimmt auch nicht immer Unrecht. In der Ar- Oberen sagen, damit die das Geschwätz be- beitsmarktpolitik haben wir zur Zeit einfach die besseren züglich der Tarifautonomie lassen!) Konzepte, Ich hoffe sehr, dass wir hier eine ähnliche Regelung wie (Zurufe von der SPD: Na, na!) (B) vor einem Jahr hinbekommen. Wir haben damals in der (D) weil wir seit 1998 viel darüber nachgedacht haben. Adventszeit verhandelt, wir verhandeln auch jetzt wie- der in der Vorweihnachtszeit. Wir sollten uns aber darüber freuen, dass wenigstens eine Sache, die im letzten Jahr auf den Weg gebracht (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: O du fröhliche!) wurde, geklappt hat. Die Bilanz bei allen anderen Ar- Vielleicht führt ja das auch bei den Sozialdemokraten zu beitsmarktinstrumenten – von der PSA bis hin zur Ich- einem Verhalten, das etwas mehr an der Realität orien- AG – ist eher traurig. Gehen Sie deshalb auf dem jetzt tiert ist, als es das sonst im Allgemeinen ist. eingeschlagenen Weg weiter und geben Sie sich einen Stoß, dass wir bei den Gesprächen über Hartz IV, die Schönen Dank. morgen beginnen, zu einem solchen Konzept kommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Peter Dreßen [SPD]: Aber nicht die Zerschla- gung der Tarifautonomie!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich kann Ihnen nur sagen: Die Zusammenführung geht Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau. nur, wenn wir erst einmal darüber reden, wo wir Be- schäftigungsfelder für diese Menschen finden. Dazu Petra Pau (fraktionslos): noch einmal: Lasst uns den Haushalt als Arbeitgeber ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nau ins Visier nehmen! Wer arbeitslos ist und nicht aufgibt, der greift nach je- dem Strohhalm, egal, ob der Halm Minijob oder Ich-AG Lassen Sie uns weiterhin vernünftig miteinander da- heißt. Gerade deshalb möchte ich uns allen den Film rüber reden, welche Arbeit zumutbar ist. Auch wir „Halbe Treppe“ von Andreas Dresen empfehlen. Er Christdemokraten wollen nicht, dass die Leute für einen sucht nicht den Superstar. Er zeigt das wahre Leben, er Appel und ein Ei arbeiten. Auch wir sind für einen ge- zeigt Menschen mit ihren Sorgen und die alltägliche rechten Lohn. Liebe, also all das, was hier im Bundestag oft nur statis- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tisch verwaltet wird. Das nimmt allerdings die Politik NEN]: Sagen Sie das dem Herrn Koch!) nicht aus der Verantwortung. – Das sage ich auch Herrn Koch. Er sieht das übrigens Zur politischen Bilanz gehört: Die Anzahl der Mini- genauso wie ich. – Allerdings kann die Festschreibung jobs hat zugenommen, aber die Massenarbeitslosigkeit auch nicht lauten: orts- und tarifüblich. Wir haben gese- hat nicht abgenommen, nicht einmal statistisch. Auch hen, was Sie mit einer solchen Festschreibung angerich- Hartz bietet keine Linderung in dieser Situation. Deshalb Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6487

Petra Pau (A) verbietet sich bei der Debatte über den vorliegenden Be- Doris Barnett (SPD): (C) richt jede Feierstunde. Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Zu- nächst einmal eine Feststellung: Wir haben die geringfü- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch gige Beschäftigung aus der Schmuddelecke herausge- [fraktionslos]) holt, ebenso seinerzeit die Leiharbeit. Alle seriösen Untersuchungen belegen: Minijobs sind (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bestenfalls ein Pflaster für ungeheilte Wunden. Sie wer- DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Sie haben den als Zubrot ergriffen. Mit Existenz sichernder Arbeit sie erst einmal da hineingestellt! – Weitere Zu- haben Sie nichts zu tun. Obendrein belegen die Statisti- rufe) ken: Dieses Manko wirkt im Osten noch gravierender als in den alten Bundesländern. Der Bedarf an Putzfrauen Wir erkennen die Probleme und lösen sie gut, Herr Kolb. oder Dumpingsheriffs ist an der Oder offenbar geringer Beide Formen der Beschäftigung hatten und haben leider als mancherorts am Main. Aber Sie kennen ja meinen immer noch das Stigma, den Vollzeit- und sozialversiche- Vorwurf: Die Mehrheit des Bundestages guckt noch im- rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen unterlegen mer einäugig durch die Westbrille und bleibt so auch in zu sein – im sozialen Ansehen und in der Wertigkeit; in dieser Frage ostblind. der Lohnhöhe ja sowieso. Bis zu unserer ersten Reform 1999 waren die geringfügig Beschäftigten bei den So- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch zialversicherungssystemen außen vor. Das war ein An- [fraktionslos]) schlag, Herr Strebl, aber von Ihnen! Die Folgen davon Grundsätzlich geht es allerdings nicht um ein Ost- werden insbesondere die Frauen noch lange spüren, West-Problem; es geht um die gesellschaftliche Frage: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Irgendwie hat Wohin soll die Entwicklung in der Bundesrepublik ge- sich so gut wie nichts geändert!) hen? In den viel zitierten USA kursiert ein Witz: Der Präsident lobt sich, er habe heute schon wieder fünf Mi- trotz der Forderungen der Opposition, zum Beispiel nach nijobs geschaffen. „Stimmt“, sagt der Pizzafahrer, „vier eigenständiger Alterssicherung der Frauen. Sie hatten davon habe ich.“ Von irgendetwas müsse man ja leben. es 16 Jahre in der Hand, etwas zu ändern, die Lücken in den Rentenbiographien der Frauen zu schließen. Na ja, Ich denke, das ist nicht die Perspektive, die wir für er- auch da räumen wir hinter Ihnen auf. Lieber Kollege strebenswert halten sollten. Zu Beginn war Rot-Grün Laumann, Sie haben es ja gesagt: Seit 1998 können Sie noch der Meinung: Minijobs unterlaufen die Sozialversi- endlich kräftig nachdenken. Tun Sie das weiter so, dann cherungspflicht, sie gefährden das Renten- und das Ge- nützen Sie der ganzen Republik. sundheitssystem. Das ist auch heute noch grundsätzlich (D) (B) richtig. Inzwischen verfolgt Rot-Grün allerdings das Ge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schade, dass Sie genteil. Zwar spüren alle: Die Sozialsysteme – das Ren- keine Zeit dazu haben!) ten- und das Gesundheitssystem – krachen. Aber alle Jeder von uns kennt doch etliche Frauen – Frauen ma- Fraktionen loben derweil eine Arbeitswelt, die genau das chen immer noch den Großteil der Arbeitnehmer in die- befördert; der Kollege Kurth war heute eine gewisse ser Beschäftigungsform aus –, die nach den Kindererzie- Ausnahme. hungsjahren jahrelang geringfügig beschäftigt waren Diese Kehrtwende von Rot-Grün ist nicht nur unlo- und keinerlei Anrechnung dieser Zeiten hatten, auch gisch, sie ist fundamental. Sie haben inzwischen das wenn sie es noch so gerne gewollt hätten und dafür sogar Prinzip preisgegeben, wonach die Wirtschaft für die Beiträge gezahlt hätten. Menschen da ist, aber nicht umgekehrt. Sie haben sich Mit den jetzt vorliegenden Möglichkeiten der geringfügi- dem Irrglauben hingegeben: Alles wird gut, wenn die gen Beschäftigung, den Minijobs und den Jobs in der Gleit- Wirtschaft nur regiert. Deshalb drängen Sie in billige zone, also den Midijobs, ist es doch endlich rentabel – neu- Jobs statt auf gute Arbeit. Das ist aber keine Politik, son- deutsch: wir haben die Incentives gesetzt –, Personen aus dern führt uns in die Sackgasse. der Schwarzarbeit in legale Beschäftigungsverhältnisse zu Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich gönne je- bringen. Denn was sind diese geringfügigen Beschäfti- der Kellnerin im Bayerischen Wald ihren kleinen Job gungsverhältnisse anderes als Teilzeitbeschäftigungen? und wünsche jedem Studenten auf dem Taxibock oder (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört! Das auch in irgendeinem Bundestagsbüro Erfolg. Nur, eine haben wir noch anders in Erinnerung!) Lösung für die großen Herausforderungen – die Arbeits- losigkeit und die Reform der Sozialsysteme –, genau das Sie sind auch versicherungspflichtig für den Arbeitge- sind die Minijobs nicht. Ganz im Gegenteil, sie sind Teil ber. Sie sagten es schon, Herr Laumann. Dazu kommt unseres Problems. noch eine Pauschalsteuer von 2 Prozent. Damit haben wir das beibehalten, wofür wir zusammen mit den Ge- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch werkschaften immer gekämpft haben: dass für den Ar- [fraktionslos]) beitgeber jede Arbeitsstunde bezüglich der Abgaben gleich teuer sein muss, egal, ob es eine geringfügige Be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schäftigung oder eine Vollzeitbeschäftigung ist. Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Die Beschäftigten haben es ihrerseits in der Hand, Doris Barnett, SPD-Fraktion. echte Rentenanwartschaften aufzubauen: Mit eigenen 6488 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Doris Barnett (A) Beiträgen können sie ihre Ansprüche gegenüber der ge- nen. Wir Sozialdemokraten und auch unser Koalitions- (C) setzlichen Rentenversicherung aufrechterhalten bzw. er- partner erwarten von den Arbeitssuchenden, dass sie ein werben. Selbst wenn es sich um kleine Renten handelt, solches Arbeitsplatzangebot nicht ablehnen; denn es ist ist das immerhin etwas. Außerdem besteht dadurch die nicht unbillig zu erwarten, dass diejenigen, die steuerfi- Möglichkeit, die staatlich unterstützte Zusatzrente zu nanzierte Leistungen erhalten, das Ihre dazu beitragen, bekommen. Das ist besonders für diese Beschäftigungs- die Bedürftigkeit zu überwinden. gruppe attraktiv, weil zum Beispiel eine allein erzie- hende Mutter von zwei Kindern bei einem relativ gerin- Außerdem ist geringfügige Beschäftigung – ich komme gen Jahresbeitrag von circa 75 Euro ab 2008 mit einer zu einer weiteren wichtigen Feststellung – nicht gleich- Zulage von rund 500 Euro pro Jahr rechnen kann. Aller- zusetzen mit Dumpinglöhnen. Wir werden das nicht dings – das gebe ich zu – bedarf es hier noch vermehrter tun. Ich habe Sie hoffentlich falsch verstanden, dass Sie Aufklärung, geringfügige Beschäftigung mit Billiglohn gleichsetzen wollen. Denn die Bezahlung in dieser Beschäftigung hat (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es macht nie- sich – das ist unsere Auffassung – nach Tariflohn bzw. mand Gebrauch davon!) nach ortsüblichem Lohn zu richten. damit mehr Leute diese Möglichkeiten nutzen. Sie se- (Beifall des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ hen: Wir haben an alle gedacht, gerade auch an diejeni- DIE GRÜNEN]) gen, die einer besonderen Unterstützung bedürfen. Das haben wir in Hartz IV ganz klar geregelt. Helfen Sie (Beifall bei der SPD) jetzt bitte mit, dass diese Regelung im Vermittlungsaus- Wir kümmern uns wirklich um die Schicksale der schuss nicht gekippt wird! Frauen. Ob mit oder ohne Kinder – auf jeden Fall brau- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen Frauen eine eigenständige Alterssicherung. DIE GRÜNEN) Geringfügige Beschäftigung hat vielfältige Gründe: Die Arbeitnehmerin sucht eine solche zum Beispiel we- Damit kann das Arbeitsamt auch niemanden zwingen, gen der Kinderbetreuung; sie will darüber den Wiederein- unter diesem Niveau eine Arbeit anzunehmen. Ich sage stieg schaffen oder die Arbeit in der letzten Erziehungs- das hier so deutlich, um einer Legendenbildung vorzu- phase langsam wieder aufnehmen. Vielleicht hat sie einen beugen. Hauptjob und will nebenher etwas verdienen. – In diesem Zwischen geringer Entlohnung – das sind zum Bei- Zusammenhang muss ich bemerken, dass die Zahl von spiel 6,85 Euro pro Stunde, was einem Tariflohn für eine 160 000 nicht ganz richtig ist, Herr Kolb. Ich möchte al- Reinigungskraft in einem Leiharbeitsunternehmen ent- (B) lerdings darauf hinweisen, dass es nicht unser Ziel ist, spricht, gegenüber 8,02 Euro pro Stunde im Gebäuderei- (D) dass die Menschen mindestens zwei Jobs haben müssen, nigerhandwerk – und Dumpinglöhnen zwischen 2 und um sich über Wasser halten zu können. – Oder die Ar- 4 Euro pro Stunde, wie Sie sie fordern, beitnehmerin will sich ihr Studium finanzieren. Auch der Rentner kann sich etwas dazu verdienen. Diese Mög- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Niemand fordert lichkeit haben wir geschaffen. das! Wir jedenfalls nicht!) Geringfügige Beschäftigung hat ein breites Spektrum. liegen Welten. Jetzt werden die ganz Wirtschaftsfreundli- Wenn wir uns den Bericht der Knappschaft über die ak- chen wahrscheinlich sagen: Wenn tarifungebundene Fir- tuelle Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung am men Leute finden, die – sagen wir einmal – für 400 Euro Arbeitsmarkt ansehen, können wir feststellen, dass diese 100 Stunden arbeiten, dann soll es recht sein. Nein, das Beschäftigungsart nicht gering bezahlter, weil gering be- darf uns nicht recht sein! Wir lassen doch nicht sehenden werteter Arbeit vorbehalten ist. In allen Wirtschaftszwei- Auges zu, dass die funktionierende Sozialpartnerschaft gen und Betrieben finden wir diese Beschäftigungsform. zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern kaputtge- macht wird, (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Arbeitgeber kann beispielsweise der Existenzgründer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sein, der eine Stundenkraft zum Aufbau seiner Bürotech- DIE GRÜNEN) nik oder für die Computerbetreuung braucht. Auch ein dass die gewissenhaften Arbeitgeber von Menschen- kleiner Handwerksbetrieb braucht nur eine Stundenkraft schindern, die die Notlage der Arbeitssuchenden rück- und keine Buchhalterin, die ganztags oder halbtags be- sichtslos ausnutzen, an die Wand gedrückt werden. schäftigt ist. Arbeitsspitzen müssen abgefangen werden, wobei wir allerdings dem Missbrauch vorbeugen und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja die un- darauf achten müssen, dass es keine Aufspaltung von terste Schublade des Klassenkampfes, die Sie Vollzeitarbeitsplätzen gibt. Arbeitgeber kann auch der da aufziehen!) Privathaushalt sein. Sie haben es bereits angesprochen. Wir alle in diesem Hause haben die Pflicht, aufzuklä- Natürlich werden auch viele Arbeitssuchende, die ei- ren und Missbrauch zu verhindern. Selbst der FDP kann gentlich Vollzeit arbeiten wollen, diese Jobs annehmen, es doch nicht recht sein, wenn hier Schmutzkonkurrenz weil es sonst im Augenblick kein anderes Angebot für entsteht, die den Wettbewerb massiv verzerrt. Wenn Ih- sie gibt. Diese Tatsache verkenne ich nicht. Minijobs nen, wenn uns allen etwas am Mittelstand, den es jetzt sollen nicht die Regel werden, sondern als Brücke die- noch gibt, liegt, dann haben wir alles zu tun, um faire Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6489

Doris Barnett (A) Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und zu erhalten. – Drucksachen 15/1034, 15/1554 – (C) Also: Hartz IV zustimmen! Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein in- (Beifall bei der SPD) terfraktioneller Änderungsantrag vor. Wir können weder Wildwest- noch Wildostmethoden Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die dulden. Solchen Firmen darf die öffentliche Hand keine Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Aufträge mehr erteilen. Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. In diesem Hause wird viel über die Dienstleistungsge- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Frau sellschaft geredet. Wir gehen diesen Weg und haben da- Staatsministerin Christina Weiss. für auch sozialverträgliche Instrumente zur Verfügung gestellt. Ich bin überzeugt, dass viele, die heute als Mini- jobber bei einem Existenzgründer arbeiten, morgen von Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- ihm, wenn er sich etabliert hat, in Vollzeitbeschäftigung kanzler: übernommen werden. Dazu geben wir beiden Seiten Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und eine Chance. Herren! Der deutsche Film ist wieder in den Top Ten. Der deutsche Film hat sich zurückgemeldet, er macht Mini- und Midijobs, also geringfügige Beschäftigung, wieder neugierig und – noch wichtiger – er beweist wie- gehören nicht in die Schmuddelecke; das hat weder der der Mut; eine günstige Ausgangslage also, um ein neues Würstchenverkäufer noch der PC-Spezialist verdient. Filmförderungsgesetz auf den Weg zu bringen, das die Was sie trennt, sind die verschieden hohen Stunden- Chancen des deutschen Films deutlich verbessern wird; löhne. Was sie eint, ist, dass ihre Arbeit der Sozialversi- eine Herausforderung zudem, endlich ein maßgeschnei- cherungspflicht unterliegt. Das ist eine Errungenschaft, dertes Marketing für den deutschen Film zu entwerfen. auf die wir Sozialdemokraten stolz sind. Letztlich geht es nicht nur darum, den deutschen Film (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE hierzulande erfolgreich in den Kinos zu halten; es geht GRÜNEN]: Wir auch!) auch darum, ihm den Weg in die internationale Arena zu Vielen Dank. ebnen. Bei der heutigen Abstimmung über das neue Filmförderungsgesetz ernten wir die Früchte eines Re- (Beifall bei der SPD) formprozesses, der mit dem ersten Bündnis für den Film begann, der sich über fünf Runden hinzog, zahllose Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Einzelgespräche und Einzelverhandlungen verlangte und (B) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird schließlich im Kulturausschuss des Deutschen Bundesta- (D) Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/758 an die ges ankam. Es war gut, dass wir lange und intensiv über in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- die Zukunft des deutschen Films diskutiert und in kon- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der struktiver Weise nach Chancen und Möglichkeiten ge- Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. sucht haben. Dafür gebührt dem Kulturausschuss großer Dank. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- DIE GRÜNEN) gierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungs- Natürlich wird der deutsche Film nur so kühn und so gesetzes wagemutig sein können, wie es die Künstler sind, die ihn produzieren. Die Politik aber hat die Frage zu beantwor- – Drucksache 15/1506 – ten, wie stabil oder wie morsch die Strukturen der (Erste Beratung 63. Sitzung) Filmwirtschaft sind. Wer über Wirtschaft redet, der will Erfolg. Dazu will dieses Wirtschaftsgesetz auch beitra- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- gen, was nicht bedeutet, dass die Kunst dabei zerrieben ses für Kultur und Medien (21. Ausschuss) wird. Wenn wir einen neuen Zeitgeist im deutschen Kino – Drucksache 15/1958 – registrieren, dann wollen wir auch, dass die Filme von Regisseurinnen und Regisseuren wie Wolfgang Becker, Berichterstattung: Sönke Wortmann oder Christian Petzoldt dauerhaft ein Abgeordnete Gisela Hilbrecht breites Publikum finden, auch im deutschen Kino. Bernd Neumann (Bremen) Claudia Roth (Augsburg) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Die Hans-Joachim Otto (Frankfurt) drei Namen reichen nicht! Da fallen mir noch ein paar andere ein!) b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Bernd Neumann (Bremen), Günter Nooke, Wer bei den genannten Beispielen davon spricht, hier Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der hätten die Regisseure Massengeschmack bedient, der be- Fraktion der CDU/CSU leidigt Macher, Aussagen und Talente. Verbesserung der Rahmenbedingungen für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den deutschen Film DIE GRÜNEN) 6490 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) Der deutsche Film besitzt ein wachsendes Potenzial. Der gute Start auf einem Festival wird ebenso Anerken- (C) Er erreicht aber mit 11 bis 19 Prozent noch nicht den Zu- nung erfahren wie ein Preis. Nicht jeder Film erhält ei- schaueranteil, den er verdient. Wenn also die Zuschauer nen Preis auf einem Festival. wegbleiben, die Produzenten nicht solvent genug sind und die Werbung zu bescheiden ausfällt, dann muss das (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wohl System verbessert werden. Unser Ziel ist, neben und wahr!) nach der Produktion das Marketing für die Filme ver- Wir wissen, dass Publikumsakzeptanz allein nicht bessern zu können. Dazu braucht man mehr Geld. Es ist ausreicht, um über Gewicht und Nachhaltigkeit eines uns gelungen – und es kann in diesen Zeiten weiß Gott Filmes zu urteilen. Gerade deshalb haben wir andere nicht oft genug betont werden, dass es ein Gelingen Kriterien aufgestellt, die vorher keinerlei Berücksichti- war –, das Fördervolumen um 40 Prozent zu erhöhen. gung fanden. Mit diesen Marken haben wir gezielt eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ internationale Ausrichtung des deutschen Films ver- knüpft. Derzeit fließt ein Lizenzentgelt von rund DIE GRÜNEN) 970 Millionen Euro in den Import. Dem steht eine ma- Rund 64 statt 46 Millionen Euro fließen in die Kassen gere Exportsumme von 64,7 Millionen Euro gegenüber. der Filmförderungsanstalt. Niemand hätte daran zu Be- Deutschland ist also ein Filmimportland. Gerade deshalb ginn dieses Jahres geglaubt. ist der Erfolg des deutschen Films auf Festivals im Aus- land ebenso wichtig wie die Resonanz im Inland, und (Beifall bei der SPD) zwar sowohl aus Exportgründen als auch aus kulturellen Gründen. Dies wird sich in einer handwerklich geschick- Es geht aber nicht nur um Masse. Es geht auch darum, teren Außenvertretung des deutschen Films beweisen ein bestehendes System so zu verändern, dass es den müssen. Gesetzen der Kunst und nicht den Verordnungen der Bürokratie folgt. Es geht um vier Schlüsselfiguren: die Kommen wir zur dritten Gruppe, zu den Verleihern. Kreativen, die Produzenten, die Verleiher und die Kino- Sie sind die Schaltstelle zwischen den Filmemachern betreiber. Kein guter Film ohne einen guten Stoff, kein und den Zuschauern. Aus diesem Grund heben wir die Ereignis ohne Begabung. Wenn wir nicht wollen, dass Absatzförderung für Verleiher und Videovertriebe allein das Fernsehen die Talente ködert, dann bedürfen deutlich an. Die Förderung wird um mehr als 100 Pro- Autorinnen und Autoren sowie Regisseurinnen und Re- zent auf rund 14,5 Millionen Euro steigen. Darin enthal- gisseure einer wirksameren Fürsorge. Das neue Gesetz ten sind auch Medialeistungen der Privatsender. Dies ist enthält solche Anreize. Die Entwicklung des Drehbu- eine enorme Anstrengung, die sich als effektive Wer- (B) ches rückt stärker in den Fokus der Filmpolitik. Das bung für deutsche Kinofilme im Fernsehen auszahlen (D) künstlerische Urteil wird künftig in den Gremien der wird. Wir können sicher sein, dass dies zu mehr Besu- Filmförderungsanstalt wichtiger sein. chern in unseren Kinos führen wird. Zweite Gruppe. Die Produzenten verfügen oft über Ein Wort zu den Kinobetreibern: Ich bin froh über die ein zu geringes Eigenkapital. Das macht sie von Juryent- Vielfalt unserer Kinoszene, über das Angebot der Film- scheidungen abhängig; das schwächt ihre unternehmeri- theater. Das soll auch so bleiben. Daher wollen wir mit sche Eigenverantwortung. Deshalb wollen wir die Rah- unserer Novelle vor allem kleine und mittlere Kinos, ins- menbedingungen für das Beschaffen von Kapital besondere Programmkinos, durch Investitionshilfen un- verändern. In der Novelle ist die Möglichkeit von Bürg- terstützen. schaften durch die FFA vorgesehen, die den Produzen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tinnen und Produzenten eine Zwischenfinanzierung er- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) leichtern sollen. Damit verbessern wir auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für Filmproduzenten in Die Novelle soll auch Signalwirkung für die Film- Deutschland. wirtschaft haben. Den deutschen Unternehmen werden Wachstumsraten von jährlich 6,6 Prozent prophezeit. Außerdem weiten wir die automatische Referenz- Über 8 000 Unternehmen beschäftigen rund 100 000 Ar- filmförderung aus. Erfolgreiche Produzenten, die ihre beitnehmer und weitere 50 000 freie Mitarbeiter. Zwar Tauglichkeit sowohl bei den Zuschauern als auch bei spielt der Kinofilm im Hinblick auf den Gesamtumsatz Festivaljuroren unter Beweis gestellt haben, können eine untergeordnete Rolle, aber er ist ein umso größerer ohne ein weiteres Juryvotum mit einer Förderung rech- Imageträger für die Branche, nicht mehr, aber auch nicht nen. Wir haben es uns mit der Referenzfilmföderung ge- weniger. wiss nicht leicht gemacht. Das System brauchte eine ganze Reihe von Feinjustierungen, um am Ende wirk- Es war schon davon die Rede, dass es mich mit sam werden zu können. Fest steht – das ist ganz neu in Freude erfüllt, in welcher Weise das finanzielle Aufkom- diesem Gesetz –: Wir setzen nicht nur auf Zuschauer- men für den deutschen Film steigt. Das ist in dieser Zeit bzw. Mainstream-Erfolge. Wir prämieren vielmehr auch nicht selbstverständlich, weil das Geld überall knapp ist. den künstlerischen Wert eines Films. Dafür braucht es starke Partner und vor allem ein verän- dertes Bewusstsein für den deutschen Film. Beides war (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vorhanden. So dürfen wir heute davon sprechen, dass der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kraftakt gelungen ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6491

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) Zu verdanken haben wir dies den Fernsehveranstal- Die Kampagnen, die die Novelle des Filmförderungsge- (C) tern, die ihre freiwilligen Leistungen an die FFA auf setzes begleitet haben, waren populistisch und irrefüh- 22 Millionen Euro erhöhen und damit verdoppeln. Be- rend und schadeten der gemeinsamen Sache. rücksichtigt man zugleich die Beteiligung der öffentlich- rechtlichen Sender an den Filmförderungen der Länder Der Protestnebel hat den Blick für das Ziel verhängt – davon kann man nicht absehen –, dann ergibt sich ein und außerdem einer falschen Strategie Vorschub geleis- doch beträchtlicher Beitrag der Sender für die deutsche tet. Denn je erfolgreicher der deutsche Film ist, umso Filmwirtschaft. Eine Gerechtigkeitslücke, wie sie von voller sind die Kinos. So einfach ist das. Das Problem der Kinobranche geradezu kampagnenhaft beklagt sind nicht die verkauften Kinokarten mit der Abgabe, wurde, vermag ich nicht zu erkennen. das Problem sind die nicht verkauften Kinokarten. Da- rüber sollten wir an anderer Stelle reden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD – Bernd Neumann [Bre- DIE GRÜNEN) men] [CDU/CSU]: Es ist frappierend!) Wie sehr ARD und ZDF, den großen Geldgebern der Was wir derzeit am wenigsten brauchen können, sind FFA, am Wohl des deutschen Films gelegen ist, beweist Scharfmacherei und Egoismen. Das hat der deutsche auch die Tatsache, dass sie nun auf einen Sitz im Verga- Film in dieser Situation nicht verdient. beausschuss verzichten, obwohl die Sitzverteilung unser Verhandlungsergebnis war. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen Ausblick wagen. Lassen Sie es mich mit Sepp Herberger (Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: Sie sagen: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“ Unsere No- haben aber lange gebraucht! – Weitere Zu- velle liegt vor. Damit sind wir in Führung. Aber es geht rufe.) weiter. Insbesondere im Urheber- und im Steuerrecht Herr Otto, Verhandlungsergebnisse sind nach meiner stehen Veränderungen an, die keinerlei Aufschub dulden Kenntnis bislang noch keine Erpressungsversuche. und an denen wir jetzt schon arbeiten müssen, noch be- vor das FFG beschlossen sein kann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Anlässlich der Vorlage dieser Novelle möchte ich al- DIE GRÜNEN) len Beteiligten für die wirklich konstruktive Unterstüt- ARD und ZDF signalisieren Gleichbehandlung mit den zung und Zusammenarbeit herzlich danken. Ich wün- Privaten und ordnen eigene Interessen dem größeren sche, dass wir mit dem Gesetz ein neues Marketing für Ziel unter. Das ist verdienstvoll und solidarisch und fin- den deutschen Film begleiten können. det daher meinen Respekt. (B) Ich danke Ihnen. (D) (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Spätestens damit war nämlich der Weg zu einem frakt- DIE GRÜNEN) ionsübergreifenden Solidarpakt für den deutschen Film frei. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Bernd Neumann, Wie Sie wissen, leistet auch die Kino- und Video- CDU/CSU-Fraktion. wirtschaft ihren Beitrag, damit das Fördervolumen ange- hoben werden kann. Ab kommendem Jahr soll die gesetzliche Abgabe an die Filmförderungsanstalt Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): durchschnittlich 2,7 Prozent des Bruttoumsatzes an der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß Kinokasse betragen. nicht, ob es sich bis zur Bundesregierung herumgespro- chen hat, Frau Weiss: Wir diskutieren hier zwei Tages- Weil es hier in der Vergangenheit immer wieder zu ordnungspunkte, zum einen das Filmförderungsgesetz Protesten kam, will ich noch einmal deutlich beziffern, und zum anderen die Antwort auf unsere Große Anfrage worum es tatsächlich geht. Wir streiten uns um eine Ab- zu den Rahmenbedingungen für den deutschen Film, die gabe, die wir um genau 3 Cent pro verkaufte Kinokarte mindestens so entscheidend sind wie das Filmförde- erhöht haben. Davon zahlen die Kinobetreiber nur etwa rungsgesetz. Es ist bezeichnend, dass Sie dazu bis auf ei- die Hälfte. Die andere Hälfte zahlen die Verleiher. nen Halbsatz am Schluss nichts gesagt haben. Ich bedau- 3 Cent mehr für die Zukunft des deutschen Filmes – zum ere das schon zu Anfang. Vergleich: In Frankreich beträgt die Abgabe 11 Prozent. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ich kann nachvollziehen, dass die Kinowirtschaft im Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) ersten Halbjahr von Umsatzeinbrüchen geschlagen war und eine Abgabenerhöhung Unbehagen bereitet. Ich Zur Lage des deutschen Films möchte ich einige we- kann nicht nachvollziehen, dass unsere Abgabe gleich zu nige Bemerkungen machen. Licht und Schatten liegen lebensgefährlichen Existenzkrisen führen soll, wie das eng beieinander. Positiv kann man die Erfolge – vor allem von Verbänden behauptet wird. die internationalen Erfolge – einzelner deutscher Filme nennen: den Oscar für „Nirgendwo in Afrika“, den Gol- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ denen Löwen für Katja Riemann in „Rosenstraße“, wie DIE GRÜNEN – Bernd Neumann [Bremen] natürlich auch den insbesondere in Deutschland erfolg- [CDU/CSU]: Das werden wir austesten!) reichen Film „Good Bye, Lenin!“, der allerdings auch 6492 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Bernd Neumann (Bremen) (A) international reüssiert. Einen deutschen Film, den in will ich an dieser Stelle sagen – hat auch etwas mit dem (C) Frankreich mittlerweile mehr als 1 Million Zuschauer Klima zu tun, in dem man arbeitet. Ich möchte vorweg gesehen haben, hat es lange nicht mehr gegeben. zwei Personen nennen, von denen ich glaube, dass sie entscheidend dazu beigetragen haben, dass es möglich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- war, ein solches Ergebnis zu erreichen: Das ist im Minis- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE terium Ihr Mitarbeiter Hanten und das ist meine Kollegin GRÜNEN) Gisela Hilbrecht, früher Schröter. Nur durch diese Zu- Das ist das Positive. sammenarbeit und durch das Entgegenkommen – das ist ja eine gute Sache – ist es gelungen, zu so einem Ergeb- Bedingt positiv ist der Marktanteil deutscher Filme nis zu kommen. Dafür sage ich Danke schön. in den deutschen Kinos. Im Jahre 2003 liegt dieser Marktanteil zurzeit bei 14,5 Prozent. Man kann nun sa- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem gen, dass das eine Steigerung gegenüber dem Marktan- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) teil von 11,8 Prozent im Jahre 2002 ist. Dennoch ist dies Was hat sich positiv verändert? Erstens. Das Gremium- sehr trügerisch; denn wenn Sie sich bei den deutschen monstrum Deutscher Filmrat, das Sie wollten, fällt weg – Filmen den einen Erfolgsfilm „Good Bye, Lenin!“ weg- weniger Gremien, weniger Bürokratie. denken – das wollen an sich wir nicht tun –, dann liegen wir bereits bei einem Anteil von 7,8 Prozent. Das heißt, (Beifall des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ der Erfolg von „Good Bye, Lenin!“ macht 44 Prozent CSU] sowie des Abg. Hans-Joachim Otto des Anteils deutscher Filme in den deutschen Kinos aus. [Frankfurt] [FDP]) Weil man nicht davon ausgehen kann, dass in jedem Jahr ein solcher Volltreffer gelingt, kann einem bei diesen Die Kreativen sind gestärkt worden – in Gremien und Zahlen nicht ganz wohl sein. Auch dies muss gesagt durch die Mittel, die sie bekommen –; denn die beste Vo- werden. raussetzung für einen stärkeren Erfolg des deutschen Fil- mes ist in erster Linie nicht die Summe der Förderung, (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: sondern sind viel mehr bessere Filme. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer! – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ich habe (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- den Film zweimal gesehen!) furt] [FDP]) Negativ ist die dramatische Entwicklung in den Kinos. Viel mehr bessere Filme bedeutet: Viel mehr tun für Kre- Ich rede hier noch gar nicht von der Abgabe, Frau Weiss, ative und sie unterstützen; denn sie bringen die Filme aber Sie sollten diese Entwicklung zumindest zur Kennt- heraus. (B) (D) nis nehmen; denn zum Film gehört das Kino. Wir haben Nächster Punkt. Die hohe Schwelle von 150 000 Punk- in den letzten neun Monaten einen Umsatzrückgang von ten, die notwendig ist für die Referenzförderung – von 90 Millionen Euro – das sind 13,3 Prozent – und einen vielen Beteiligten aus der Branche so nicht akzeptiert –, ha- Besucherrückgang um 12,1 Prozent, von 116 Millionen ben wir reduziert bzw. haben deren Erreichbarkeit er- im vergleichbaren Zeitraum des Vorjahres auf 102 Mil- leichtert, indem wir das Votum bzw. die Prädikate der lionen, zu verzeichnen. Sie wissen, dass sich viele Ki- Filmbewertungsstelle Wiesbaden wieder mit zusätzli- nos, insbesondere kleine Kinos, in einer Existenzkrise chen 50 000 Punkten einbezogen haben, sodass diese befinden, die sich allerdings zunehmend nicht nur auf Schwelle jetzt auch von vielen kleineren Filmen und de- die kleinen, sondern auch auf die Multiplexkinos be- ren Verantwortlichen erreicht werden kann. zieht. Wenn Kinos um ihre Existenz ringen, habe ich schon Verständnis dafür, dass die Kinobetreiber sagen: Der Verwaltungsrat ist verändert worden. An dieser Wir haben Bedenken, dass die Abgabe, die wir leisten Stelle hebe ich hervor, dass auf unseren Wunsch und im müssen, erhöht wird. Immerhin soll sie von Gegensatz zu dem, was Sie wollten, nach wie vor beide 21,3 Millionen Euro auf 25 Millionen Euro erhöht wer- Kirchen vertreten sind. den. Das ist schon ein gang schöner Brocken. Das würde (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE ich nicht so abtun, wie Sie das gemacht haben. GRÜNEN]: Das haben wir aber auch gewollt!) Nun zum Filmförderungsgesetz selbst. Wir stimmen ihm zu, weil die wesentlichen Forderungen von uns, die Ich halte es schon für wichtig, dass beiden Kirchen das wir im Laufe des Verfahrens auch auf Grundlage des er- Recht zugestanden wird, in einem kulturellen Gremium, folgten Hearings gestellt haben, übernommen wurden das über 30 Mitglieder hat, vertreten zu sein. und dadurch aus meiner Sicht der Regierungsentwurf an Wie der nächste Punkt gelaufen ist, ist schon etwas wichtigen Punkten entscheidend verbessert wurde. abenteuerlich, Gisela Hilbrecht. Sie sagen jetzt, der Er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) folg bestehe darin, dass Sie sich mit einem Vertreter der öffentlich-rechtlichen Anstalten bescheiden, obwohl im Das neue Filmförderungsgesetz wird in der Tat, so Regierungsentwurf eine Verdoppelung auf zwei vorgese- glaube ich, zur Stärkung des deutschen Films einen hen war. Dieses Hin und Her hätten Sie einfacher haben Beitrag leisten. Dass wir dieses Gesetz einstimmig be- können, wenn Sie in der letzten Sitzung den Voten des schließen, ist heutzutage schon etwas Besonderes; bei FDP-Kollegen Otto und mir gefolgt wären. Gott sei anderen Gesetzentwürfen wissen wir gar nicht, wie sie Dank haben Sie nun eingelenkt, wenngleich nicht dank am Ende aussehen werden. Diese Einstimmigkeit – das Ihrer Einsicht, sondern dank der Einsicht der öffentlich- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6493

Bernd Neumann (Bremen) (A) rechtlichen Rundfunkanstalten. Ich begrüße dies außer- Initiative hin sichergestellt, dass alle Kinos gleich behandelt (C) ordentlich. werden. Vorgesehen war nämlich, dass Kinos mit kleineren Umsätzen prozentual mehr bezahlen als Kinos mit höheren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Umsätzen. Dies haben wir jetzt verändert; das ist gut so. Meine Damen und Herren, im Regierungsentwurf Nun haben wir neueste Brandbriefe bekommen – das muss werden Schutzbestimmungen zugunsten inländischer man hier fairerweise sagen –, in denen die Kinowirtschaft filmtechnischer Betriebe beseitigt, nicht aus Bösartig- darum bittet, in Anbetracht ihrer existenziellen Schwie- keit, sondern weil wir Deutschen wie so häufig meinen, rigkeiten die vorgesehene Erhöhung noch einmal um wir müssten im Gegensatz zu anderen, etwa den Franzo- 0,2 Prozentpunkte zu reduzieren. Mittlerweile fürchten sen, schnell europäisch handeln. Über den Ausschuss ist nicht mehr nur die kleinen Kinos, sondern auch schon erreicht worden, dass Sie nach Abwarten dessen, was die großen um ihre Existenz. sich auf EU-Ebene tun wird, über eine Rechtsverord- Ich habe am Wochenende Kontakt mit Vertretern der nung deutsche filmtechnische Betriebe schützen können. Koalition aufgenommen und sie gefragt, ob man noch et- Nach meiner Auffassung müssen wir genau so deutsch was tun könne. Mir ist signalisiert worden, dass Sie, Frau handeln, wie die Franzosen französisch handeln. Wir Weiss, nicht dazu bereit seien – das respektiere ich –, weil wollten damit sicherstellen, dass wir alle zulässigen Sie der Meinung sind, dass alles zusammenbrechen Quoten ausnutzen können, wenn es um die Interessen könnte, wenn Sie das Fass noch einmal aufmachen. Das und die Arbeitsplätze unserer filmtechnischen Betriebe sehe ich nicht so. Ich bin der Meinung, wenn wir das geht. noch ändern, würde es zum Filmförderungsgesetz nicht (Beifall bei der CDU/CSU) nur in diesem Hause Einstimmigkeit geben, sondern in der ganzen Branche. Das wäre doch großartig! Leider ist Nun komme ich zum letzten Punkt der zu bewerten- das nicht zu erreichen. Ich gebe zu: Das alles ist ein we- den Sachverhalte, zur Mittelerhöhung; darauf bin ich nig spät gekommen. Trotzdem hat die Branche ein Recht schon in der ersten Lesung eingegangen. Sie sagen vol- darauf, dass wir das hier benennen. ler Stolz, es sei Ihnen gelungen, die Mittel um 40 Prozent zu erhöhen. So einfach geht es mit den Erfol- So weit zum ersten Teil der Debatte, auf den Sie, Frau gen der Bundesregierung nicht immer! Die Erhöhung ist Weiss, sich in Ihren Ausführungen beschränkt haben. Der dadurch möglich geworden, dass Sie die Abgaben erhöht zweite Teil der Debatte betrifft die Große Anfrage zu den haben, die andere leisten; Sie haben gar nichts dazu ge- sonstigen Rahmenbedingungen der Filmwirtschaft, auf tan. Andere – die Videounternehmen, die Kinounterneh- die Sie eine umfangreiche Antwort vorgelegt haben. men, die Fernsehanstalten – müssen mehr zahlen. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr daran, verehrte Frau Staatsministerin Weiss, schließlich sind Sie nicht (B) (D) (Ute Kumpf [SPD]: Ja, und? Was ist so darauf eingegangen. So wichtig es auch ist, dass wir über schlecht daran?) das neue Filmförderungsgesetz den deutschen Film stär- Das haben Sie vereinbart oder gesetzlich festgelegt. ken; man darf die sonstigen wirtschaftlichen Rahmenbe- Dass dies ein großartiger Erfolg der Bundesregierung dingungen, unter denen die deutsche Filmwirtschaft auf sein soll, vermag ich nicht zu erkennen, auch wenn ich europäischer und internationaler Ebene antreten muss, merke, dass Sie stolz darauf sind, wenn Sie Unterneh- nicht vergessen. Das ist ebenso wichtig, vielleicht sogar men mehr abknöpfen können, und dies als Meisterleis- noch wichtiger. Hierzu will ich vier Punkte nennen, die tung ansehen. in der Großen Anfrage eine wichtige Rolle gespielt ha- ben. Ich unterstütze dies ja im Hinblick auf die Leistungen des Fernsehens. Angesichts des hohen Gebührenvolu- Der erste Punkt betrifft internationale Koproduktionen. mens von 6,5 Milliarden Euro ist es nach wie vor sehr Der im Januar 2001 vom BMF veröffentliche Mediener- bescheiden, nur 11 Millionen Euro in die Filmwirtschaft lass hat für deutsche Produzenten – das wissen Sie ge- zu stecken. nauso gut wie ich – die Möglichkeit, sich an internatio- nalen Koproduktionen zu beteiligen, dramatisch (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- erschwert. Dabei kann man heute fast nur im Rahmen furt] [FDP]) von Koproduktionen Filme machen. Die Zahl der Ko- produktionen ist seitdem kontinuierlich zurückgegan- Aus meiner Sicht können sie in der Tat mehr leisten. gen. Man muss aber darüber nachdenken, welche Folgen Der zweite Punkt betrifft Medienfonds. Jährlich wer- dies im Bereich der Filmtheater haben kann. Ich habe den in Deutschland mehrere Milliarden Euro in so ge- schon darauf hingewiesen, dass im Regierungsentwurf nannte Medienfonds investiert. 80 Prozent dieser Gelder, eine Erhöhung um 18,74 Prozent von rund 21 Millionen wenn nicht sogar noch mehr, fließen in Hollywood-Pro- auf 25 Millionen Euro vorgesehen ist. In der ersten Le- duktionen. Damit gehen für deutsche bzw. europäische sung, als Sie Ihren Entwurf vorstellten, sagte ich, wir Kinofilme beträchtliche Mittel verloren. Zugleich wir- würden in einer Zeit, in der ein Kinosterben stattfindet, ken sich die mit ihnen Fonds verbundenen Investitionen nicht daran mitwirken, die Abgabe für Kinounternehmen überwiegend nicht in Deutschland aus. zu erhöhen. Sie haben dann mit den Betroffenen Verein- barungen getroffen. Richtig ist, dass die Filmwirtschaft Der dritte Punkt betrifft das Urheberrecht. Die Posi- der Abgabe zugestimmt hat, nachdem Sie sie erst einmal tion der Produzenten wurde durch die Novellierung des reduziert hatten. Im Ausschuss wurde dann noch auf unsere Urhebervertragsrechts nicht, wie versprochen, gestärkt, 6494 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Bernd Neumann (Bremen) (A) sondern eher geschwächt; fragen Sie in der Branche Filmwirtschaft gegenüber internationalen Wettbe- (C) nach. Auch bei der jüngsten Umsetzung der EU-Richtli- werbern geführt. nie zum Urheberrecht in der Informationsgesellschaft wurde die begründete Forderung der Filmwirtschaft, Es geht weiter, wobei es hier um die Frage der Kopro- eine generelle „Bereichsausnahme Film“ zu verankern, duktion und darum geht, ob es zwei Betriebsstätten sind nicht ausreichend berücksichtigt. oder nicht; es ist eine steuerliche Frage: Die Betriebsstät- tenregelung ist bezogen auf die Doppelbesteuerung, die Der vierte Punkt betrifft steuerliche Präferenzen. durch diesen Medienerlass droht, nach wie vor nicht aus Diese hat einer Ihrer Vorgänger angekündigt. Wie Sie der Welt. Wortwörtlich heißt es: „Nichts ist bis heute wissen, messe ich Ihre Leistungen an den Ankündigun- passiert.“ – Das war der Bereich der internationalen Ko- gen. produktion. Es wurde seit langem angekündigt, die Be- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: triebsstättenregelung abzuschaffen; sie stellt ein großes Das ist viel wert!) Problem für die Filmwirtschaft dar. Nichts ist passiert. – Das bedeutet für mich eine gewisse Seriosität. Herr Ich komme zum zweiten Punkt, den Fonds. Es geht Otto meint, das seien Unterstellungen und nicht mehr. hier um die Herstellereigenschaft des Fonds. Ich nehme Das stimmt nicht; ich nehme das ernst. eine andere Stellungnahme, und zwar die der Arbeitsge- meinschaft Dokumentarfilm. Sie schrieb – Zitat –: (Dr. [CDU/CSU]: Das ist manchmal auch berechtigt!) Die Bundesregierung hat sich vor dieser Frage he- rumgedrückt, umso mehr, als die deutschen Fonds- Ihr Vorgänger hat deutlich gemacht, dass es nötig sei, betreiber angeboten hatten, eine 20-prozentige Mit- eine steuerliche Förderung einzuführen bzw. Anreize für telbindung für Deutschland einzuführen. Produktionen zu geben, wie das in vielen anderen Län- dern üblich ist – deswegen müssten wir nachziehen –, Davon lese ich bei Ihnen überhaupt nichts. Man kann um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deut- das ja positiv oder negativ bewerten, man sollte es aber schen Films zu stärken. zumindest erwähnen. Meine Damen und Herren, bei diesen vier Forderun- Zu diesem Problem schreibt film 20: gen sind wir und die BKM noch nicht einmal auseinan- Was hat nun der neue BMF-Brief tatsächlich prak- der. Verehrte Frau Weiss, diese Punkte wurden von der tisch gebracht? Ein Beschäftigungsprogramm für Filmwirtschaft zusätzlich zur Novellierung des Filmför- Beiräte! Herstellereigenschaft erfordert die tatsäch- derungsgesetzes als ganz wichtig genannt. Zu diesem liche und wesentliche Einflussnahme auf das Pro- Ergebnis kam man im ersten Bündnis für den Film 1999 dukt, weil Anleger das unmöglich leisten können (B) unter Ihrem verehrten, aber noch nicht vergessenen Vor- (D) und das massenhafte Mitreden gänger Naumann und auch unter seinem Nachfolger und Ihrem direkten Vorgänger Nida-Rümelin. Alle, auch Sie, – das ist die Folge dieses neuen Schreibens und der In- haben immer wieder deutlich gemacht, dass diese terpretation des BMF – Punkte wichtig sind und dass man sie auch umsetzen wolle. der Filmproduktion nun auch tatsächlich total wi- derspricht – da sagt jeder Produzent, jeder Regis- Vor diesem Hintergrund stellt sich die berechtigte seur ganz laut „Nein, Danke!“… Das Ganze verteu- Frage, wie weit Sie bei der Umsetzung fortgeschritten ert die Overheadkosten der Fonds, weniger Geld sind. Angesichts der Antwort auf die Große Anfrage, in fließt in die Filme – und schon gar nicht in die der wir diese Punkte präzisiert haben, bestätigt sich, dass Filmwirtschaft in unserem Land. Die Bilanz: Ne- Sie keinen Schritt weitergekommen sind. Deswegen ha- benkriegsschauplatz erweitert – Hauptproblem der ben Sie auch nichts dazu gesagt. Finanzierung von halb Hollywood mit deutschem Meine Damen und Herren, nun kann man meinen, Steuergeld nicht gelöst! dass das nur die Opposition so kritisch sieht. Ich habe Vernichtender als dieses Urteil der Filmwirtschaft kann Ihre Antwort den verschiedenen Sachverständigen in der doch gar nichts sein. Filmbranche zugestellt und gefragt, wie sie dies sehen und ob sie damit einverstanden sind. Weiter heißt es von film 20 – dazu gehören ja Eichinger und Co, also all diejenigen, die die Filmakademie gegrün- Nehmen wir den ersten Punkt, den Medienerlass. Ich det haben: zitiere film 20 – die kundigen Thebaner wissen, dass da- hinter potenzielle Kräfte der deutschen Filmwirtschaft Unsere Frage – hier wie nur zu oft: Wer küsst den stehen; mit einigen von ihnen haben Sie einen außeror- Finanzminister wach? … Wenn der Fachminister dentlich guten Kontakt, was letztlich auch zur Etablie- – so sagen sie – rung der Filmakademie geführt hat –: das nicht bringt – muss der Chef tätig werden. Der Medienerlass ist und bleibt eine Krux für die deutsche Filmwirtschaft … hat in den Feldern Meine Damen und Herren, es ist weiß Gott kein gutes Nachweis der Herstellereigenschaft der Anleger, Zeugnis für die verantwortliche Ministerin, wenn die Behinderung von internationalen Koproduktionen Branche sagt, dass jetzt der Chef ran muss. Ja, vielleicht zu Dauerirritation, Rechtsunsicherheit und drasti- muss er ran. Ich bin der Auffassung, wir alle müssen ran; schen Wettbewerbsnachteilen für die deutsche denn so, wie es ist, kann es nicht bleiben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6495

Bernd Neumann (Bremen) (A) Lassen Sie mich nun zu einem wichtigen letzten Punkt Jetzt komme ich zu Ihnen, Frau Weiss. Sie weisen in (C) kommen, der auch Gegenstand der Anfrage ist. Das Enttäu- Ihrer Antwort lapidar – lesen Sie es bitte selbst einmal schendste war die Antwort der Bundesregierung auf eines nach – auf die gesetzliche Lage hin. Angeblich sei da- der größten Probleme der Filmwirtschaft, nämlich die dra- durch alles geregelt. matisch schnelle Ausweitung des massenhaften Diebstahls im Spielfilmbereich. Es geht um Raubkopien von Kinofil- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: men und das illegale Herunterladen aus dem Internet, Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des wodurch die Kino- und Videowirtschaft ihre Exklusivität Kollegen Benneter? und damit einen erheblichen Teil ihrer potenziellen Be- sucher und Käufer verliert. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Film- politiker Benneter!) Wenn Sie sich die neuesten Untersuchungen der FFA dazu ansehen, dann erkennen Sie, dass wir es hier mit ei- Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): ner dramatischen Entwicklung zu tun haben. Im Zeit- Unter der Voraussetzung, dass die Uhr wie immer an- raum von Januar bis August 2003 wurden zum Beispiel gehalten wird – eine Minute Redezeit brauche ich noch –, 9,6 Millionen DVD-Rohlinge mit Kinofilmen bespielt. gern. Bereits nach acht Monaten liegen diese Werte damit über dem Ergebnis des Gesamtjahres 2002. Ich muss dazu sa- Klaus Uwe Benneter (SPD): gen: Dabei wird immer illegal gehandelt. Die anderen Herr Kollege Neumann, sind Sie bereit, zur Kenntnis müssen Geld damit verdienen. zu nehmen, dass wir uns beispielsweise im Rechtsaus- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wen wollen Sie schuss schon längst mit den Urheberrechten beschäfti- dafür verantwortlich machen? – Gegenruf des gen, um genau die Probleme anzugehen, die Sie eben an- Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: gesprochen haben? Die Bundesregierung!) Bernd Neumann (Bremen) (CDU/CSU): – Ich hätte es gleich gesagt, aber Sie greifen mir vor, Ich nehme das zur Kenntnis. Ich finde es gut, dass Sie Herr Kollege Otto. Deshalb unterbreche ich jetzt meinen das tun. Haben Sie aber Verständnis dafür, Gedankenfaden. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sind Es geht nicht darum, wen ich dafür verantwortlich Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen?) mache. Natürlich ist Frau Weiss dafür nicht verantwort- dass man enttäuscht ist – schließlich gibt es eine Staats- (B) lich, es sei denn, sie lädt selbst Filme herunter, was ich ministerin für Kultur und Medien; das betrifft uns ge- (D) nicht glaube. Aber die Bundesregierung ist verantwort- nauso wie die Arbeitsgruppe im Rechtsausschuss –, lich, wenn sie sich nicht um dieses Problem kümmert. wenn auf die Frage, was die Regierung bei diesem Pro- Wir müssen dieses Problem diskutieren und Initiativen blem zu tun gedenkt, nur ein lapidarer Hinweis auf die ergreifen. Darum geht es. derzeitige gesetzliche Lage erfolgt. Wenn es so ist, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dies im Rechtsausschuss ein wichtiges Thema ist, be- der FDP) grüße ich dies. Ich unterstütze Sie. Es wäre sehr gut, Frau Weiss, wenn Sie sich mit einem ähnlich großen En- Die Hälfte – 53 Prozent – der so genannten Filmbren- gagement wie Ihre Kollegen im Bereich der Justiz – Sie ner gibt an, auch für Personen außerhalb des eigenen sind inhaltlich für Medien zuständig; sonst brauchen wir Haushaltes zu kopieren. Knapp 1 Million Personen besa- keinen Staatsminister für diese Aufgabe – damit befas- ßen eine Kopie des Filmes „Terminator 3“ schon einen sen. Ich glaube, darin sind wir uns einig, Kollege Monat nach Kinostart, bevor er überhaupt in die deut- Benneter. schen Kinos kam. Circa 1,6 Millionen Personen verfüg- Die Missachtung des geistigen Eigentums – ich habe ten bereits im Vorfeld der Videoveröffentlichung über das kurz angedeutet – führt zu Umsatzeinbrüchen, Ar- eine Kopie von „Herr der Ringe“, circa 770 000 von beitsplatzverlusten und Steuerausfällen. Wir wollen „Good Bye, Lenin!“. Mit 13,3 Millionen downgeloade- diese verhängnisvolle Entwicklung im Interesse der Kre- ten Spielfilmen bzw. Kinofilmen wurden in den ersten ativwirtschaft in Deutschland und der Menschen, die für acht Monaten des Jahres 2003 bereits fast so viele Filme und von ihrer Kunst und Kreativität leben wollen, brem- wie im Gesamtjahr 2002 aus dem Internet heruntergela- sen. Verehrte Staatsministerin, es ist Ihre Aufgabe, sich den. Damit Sie mich richtig verstehen: Ich sage dies an dieser Diskussion federführend zu beteiligen, Fakten nicht im Sinne einer Anklage, sonder vor dem Hinter- und Meinungen zu sammeln, die Gesetzgebung zu be- grund eines großen Problems: Wenn dies so weitergeht, gleiten, sie sogar zu beeinflussen. werden viele Existenzen in der Musik- und Filmbranche vernichtet. In den USA beispielsweise hat der amerikanische Kon- gress ausschließlich zu dieser Thematik einen hochkaräti- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE gen Ausschuss mit Mitgliedern aller Parteien aus beiden GRÜNEN]: Darüber reden wir doch! – Horst Häusern eingesetzt, also Repräsentantenhaus und Senat, um Kubatschka [SPD]: Lenin hätte gesagt: Was Schutzmaßnahmen auf internationaler Ebene zu diskutieren tun? – Gegenruf des Abg. Dr. Norbert Lammert und zu erarbeiten mit dem Ziel, die digitalen Film- und Mu- [CDU/CSU]: Wie heißt der Regisseur?) siktechnologien zu schützen. Sie gelten dort – ich glaube, 6496 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Bernd Neumann (Bremen) (A) das gilt bedingt auch für Deutschland – als Schlüssel für haben – ich habe viel darüber nachgedacht, zum Beispiel (C) amerikanisches Wirtschaftswachstum. Ich darf darauf wie der Bauernkrieg beschrieben wird –, hinweisen, dass meine Fraktion unter Leitung der Kolle- gen Kampeter und Krings just zu diesem Thema eine Ar- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Nach- beitsgruppe eingesetzt hat. denken muss nie falsch sein!) Ich komme zum Schluss. Sie sehen: Trotz einmütiger stammen aus einem deutschen Film, gedreht in Europa, Verabschiedung eines ordentlichen Filmförderungsge- erstaufgeführt in den USA, mit einem kanadischen Re- setzes bleibt politisch für den deutschen Film und seine gisseur und produziert von einem Team aus Berlin. Was Wirtschaft noch viel zu tun. Es wäre zu wünschen, dass mir sehr wichtig ist: Auch „Bernau liegt am Meer“, wir – Frau Kollegin Hilbrecht und Frau Kollegin Roth, „Bungalow“, „Science-Fiction“ und „Die wilden Kerle“ ich beziehe Sie ein; ich habe Sie vorhin deshalb nicht ge- sind deutsche Filme, die zu Recht den Weg in unsere Ki- nannt, weil wir noch nicht so lange zusammenarbeiten – nos finden. Was ich sagen will: Die Mischung macht’s. auch die von mir genannten Fragen möglichst überpar- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Die teilich im Konsens zügig bearbeiten. Dies täte dem deut- Milch macht’s!) schen Film außerordentlich gut. – Die Mischung macht’s, Herr Otto. Die Milch macht‘s Vielen Dank. auch, aber das ist ein anderes Thema. Das kann ich Ih- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nen, da ich aus Bayern komme, gern mal erzählen. bei Abgeordneten der SPD) Die Filmförderung ist absolut notwendig für den deutschen Film und die deutsche Filmwirtschaft. Ohne Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Filmförderung würde kaum eine deutsche Produktion Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Roth, das Licht der Leinwand erblicken. Deshalb ist es auch so Bündnis 90/Die Grünen. unheimlich wichtig, dass sich trotz der damit verbunde- nen Verhandlungsschwierigkeiten und Kompromisse auf Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- allen Seiten die Fördersumme für den deutschen Film NEN): insgesamt um rund 40 Prozent erhöht hat. Herr Neumann, natürlich hat Christina Weiss an diesen Ver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! handlungen und an diesem Ergebnis einen ganz hohen Liebe Chefin Christina Weiss! Anteil. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Chefin?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) und bei der SPD) (D) Alice sucht gemeinsam mit anderen Überlebenden nach ei- nem Weg – hören Sie zu, das gefällt Ihnen bestimmt – aus Für diese Aufstockung möchte ich mich bei allen dem zerstörten Biotechnologielabor. Geldgebern und Verhandlungspartnern und -partnerin- nen nochmals ausdrücklich bedanken. Aber die Filmför- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ach!) derung ist immer ein – manchmal extremer – Spagat zwischen ökonomischer Förderung und kultureller För- – Das gefällt Ihnen, das weiß ich doch. – Dabei stößt sie derung. Ich finde – das sage ich an dieser Stelle nicht auf eine Art Zombie, ganz ohne Stolz –, dass uns eben dieser Spagat zwischen (Zuruf von der SPD: Der heißt Otto!) kommerziellen und kulturellen Kriterien mit der Novel- lierung des Filmförderungsgesetzes mehr als gut gelun- der durch gefährliche Erreger zu einem mörderischen gen ist. Monster mutiert ist und die gesamte Menschheit auslö- schen will. Die Treffsicherheit der Menschheitsretterin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Alice wird wieder einmal auf eine harte Probe gestellt. und bei der SPD) Warum ich Ihnen das erzähle? Erstens, um Herrn Otto Wir stärken zum einen die deutsche Produktionswirt- eine Freude zu machen, schaft. Produzenten und Produzentinnen von Erfolgsfil- men bekommen in größerem Umfang Mittel zur Verfü- (Beifall bei der FDP – Hans-Joachim Otto gung gestellt, die sie zur Stärkung ihres Eigenkapitals [Frankfurt] [FDP]: Gut!) und auch für Nachfolgeprojekte verwenden können. zweitens will ich Ihnen aber keine Angst machen, son- Kinder-, Erstlings- und Dokumentarfilme werden mit dern verdeutlichen, wie vielfältig und global unsere einfacheren Kriterien an der so genannten Referenzfilm- deutsche Filmlandschaft inzwischen ist. Die beschrie- förderung partizipieren können, bei der auch kulturelle bene Szene stammt aus der Fortsetzung des Science-Fic- Aspekte zählen. Insbesondere Festivalnominierungen tion-Films „Resident Evil“, dem in den USA am erfolg- und -einladungen werden bei den Ausschüttungen be- reichsten gestarteten Film in der letzten Zeit. Es ist ein rücksichtigt. Das finde ich sehr positiv. deutscher Film, der in Babelsberg und Adlershof gedreht Aber so wichtig die Stärkung der Produzenten und wurde. der Produktionswirtschaft für den deutschen Film auch Aber auch die nachdenkenswerten Stunden, die uns ist: Der künstlerisch-kreative Bereich darf nicht zu Joseph Fiennes, Alfred Molina, Bruno Ganz und vor al- kurz kommen. Dazu haben wir mit diesem Gesetz ziem- lem Sir Peter Ustinov in dem Film „Luther“ geschenkt lich viel beigetragen. So werden zukünftig in den Ent- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6497

Claudia Roth (Augsburg) (A) scheidungsgremien der Filmförderungsanstalt erstmals Zusammenhang prüfen wollen, ist – nach dem Vorbild (C) auch Drehbuchautoren und -autorinnen, Kurzfilmer und Frankreichs und einiger deutscher Bundesländer – die Regisseure vertreten sein. Ausweitung der Kompetenzen der Filmförderungsanstalt auch auf die Bereiche Multimedia und Computerspiele. Zusätzlichen frischen Wind – ich glaube, das ist sehr wichtig für die kreative Fantasie – wird es in diesen Gre- Des Weiteren hege ich große Sympathien für das so mien durch eine von uns durchgesetzte Frauenquote ge- genannte „Schweizer Modell“, bei dem neben den Pro- ben. duzenten auch die Regisseure und Drehbuchautoren zu einem gewissen Prozentsatz direkt von der Erfolgsfilm- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN förderung profitieren. Auch dieses Modell – das haben und bei der SPD) wir vereinbart – wollen wir einer genaueren Prüfung un- Herr Neumann hat ihr zugestimmt. Er wird wissen, wa- terziehen. rum. Die Zeiten, in denen sich ausschließlich ältere Doch nun wünsche ich erst einmal dem deutschen männliche Herrschaften zum Zigarrerauchen versam- Film mit der jetzigen Novellierung des Filmförderungs- melt haben – damit will ich niemandem zu nahe treten –, gesetzes von ganzem Herzen alles Gute. Möge auf sind vorbei. „Good bye, Lenin!“ ein „Hello Marx!“ kommen oder (Ute Kumpf [SPD]: Jetzt rauchen wir die besser, um niemanden zu verprellen und auch keine Zigarren!) Missverständnisse auszulösen, ein „long hello and no goodbye“ für den deutschen Film! Das tut nicht nur den Nichtrauchern gut. Abschließend danke ich Ihnen nicht nur für Ihre Auf- „Die Elf von Bern spielte nie wieder zusammen“, merksamkeit, sondern auch für eine spannende und kon- heißt es bei Sönke Wortmann in dem wunderbaren Film struktive Zusammenarbeit im Ausschuss – das kann ich „Das Wunder von Bern“ am Ende etwas melodramatisch explizit feststellen –, bei der wir über Grenzen und Mau- und bedauernd. Unsere Elf spielte noch nie zusammen, ern hinweg diskutiert haben. Ich bedanke mich auch für stelle ich bezogen auf die neue, elfköpfige Vergabe- die gute Zusammenarbeit mit Christina Weiss und ihren kommission der FFA optimistisch und hoffnungsfroh Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und mit den sich hof- fest. Da eine Elf nun einmal elf Spieler hat, ist es zu be- fentlich auch weiterhin aktiv und heftig einmischenden grüßen, dass ein Vertreter der öffentlich-rechtlichen Filmschaffenden in diesem Land. Rundfunkanstalten die Ersatzbank stärkt. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP – Hans-Joachim (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der FDP: Sie ha- (B) Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr gut! Darin sind (D) wir uns doch einig!) ben Herrn Otto vergessen!) Erstmals sind Regisseure, Drehbuchautoren, Kurzfil- – Herrn Otto habe ich, glaube ich, genügend gewürdigt. mer und Kurzfilmerinnen in der Vergabekommission mit festen Sitzen vertreten. Ich bin sicher, dass sie den filmi- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schen Sachverstand in diesem wichtigen Gremium er- Da dafür die Redezeit offenkundig nicht mehr reichte, weitern. hoffe ich in Ihrem Sinne zu handeln, wenn ich jetzt dem Es gibt zahlreiche weitere Erfolge, die wir uns ge- Kollegen Otto das Wort erteile, ausdrücklich verbunden meinsam auf die Fahne schreiben können. Kurzfilme mit dem nachgelieferten Dank der Kollegin Roth für die und Drehbücher werden mit 2 Prozent statt, wie geplant, Mitwirkung an diesem bedeutenden Gesetzeswerk. mit 1,5 Prozent der FFA-Einnahmen gefördert. Analog (Heiterkeit bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ zu der Praxis in den Filmhochschulen können Kurzfilme DIE GRÜNEN und der FDP) mit einer Länge von bis zu 45 statt 15 Minuten gefördert werden, sofern es sich um Erstlingswerke oder Hoch- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): schulfilme handelt. Den Deutschen Filmrat als zusätzli- Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin Roth, mir wird ches Gremium wird es zu Recht nicht geben. Darin richtig warm ums Herz. stimme ich Herrn Neumann explizit zu. (Horst Kubatschka [SPD]: Jetzt kommt die Natürlich lassen sich – das habe ich gelernt – im Rah- Wunderwaffe!) men einer solchen Novellierung nicht alle sinnvollen Vorschläge sofort realisieren. Deshalb ist es uns sehr Ich kann Ihnen gleich eingangs versichern, dass auch wir wichtig, dass wir in einer Resolution zum FFG bereits als FDP-Fraktion dem vorliegenden Gesetzentwurf un- die Themen ansprechen, die bei der nächsten Novellie- sere Zustimmung erteilen. Es kommt nicht allzu häufig rung eine Rolle spielen sollten, zum Beispiel die Com- vor, dass wir in der Sache übereinstimmen. puterspiele. Wir erleben die Synergien und Konvergen- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE zen zwischen Computerspielen und Filmen beinahe GRÜNEN]: Das ist wohl wahr!) täglich. So haben vor kurzem die Macher von „Matrix“ angekündigt, die Saga als Computerspiel fortzuführen. Das ist aber bei diesem Gesetzentwurf der Fall. Deswe- gen ist es ein schöner Abend. Ich glaube, dass Computerspiele endlich als Teil einer real existierenden Jugend- und Freizeitkultur betrachtet (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten werden müssen. Ein wichtiger Schritt, den wir in diesem der SPD) 6498 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Dieses einstimmige Votum, wofür viele Kolleginnen ren Koordination kommen. Die bisherige irrsinnige und (C) und Kollegen – ich gebe offen zu: auch ich – manche hirnrissige Praxis der Filmförderung – derselbe Film er- Kröte schlucken mussten, betrachten wir als ein wichti- fährt eine Förderung von Schleswig-Holstein, weil in ges Signal für den deutschen Film. Dieses einstimmige ihm ein Schauspieler aus Schleswig-Holstein mitspielt; Votum soll nämlich deutlich machen: Der Deutsche er wird von Baden-Württemberg gefördert, weil dort Bundestag steht zum deutschen Film und will, dass er eine Außenaufnahme gedreht worden ist, und er erfährt Erfolg hat. Deswegen haben wir uns zusammengerauft. eine Förderung von Hessen, weil dort die Nachproduk- Und das ist auch gut so. tion erfolgt – muss aufhören. Wir brauchen eine Koordi- nation auf der Basis eines Bund-Länder-Staatsvertrages. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD) Der Kollege Neumann hat völlig zu Recht darauf hin- gewiesen – auch ich setze hier einen Schwerpunkt –, Ich möchte genauso wie Frau Kollegin Roth – bei ihr dass die Rahmenbedingungen für den deutschen Film waren es andere Punkte – nicht verhehlen, dass es einige verbessert werden müssen. Die entsprechenden Stich- Punkte gibt, an denen wir unsere Bedenken zurückge- worte sind schon gefallen. Es muss für Chancengleich- stellt haben. Der wichtigste Bedenkenpunkt ist nach heit im internationalen Wettbewerb gesorgt werden. Es meiner Meinung, dass die Gremien in unsinniger Weise muss internationale Standards bei den Finanzierungs- aufgebläht worden sind. So sollen der Verwaltungsrat und Förderinstrumenten geben. Der Medienerlass – er ist der Filmförderungsanstalt 33 Mitglieder – ein bisschen bereits angesprochen worden – ist geradezu eine Bremse kleiner wäre besser – und die Vergabekommission im- für den deutschen Film und schadet ihm. Wir müssen merhin 12 Mitglieder umfassen. uns ebenfalls darauf verständigen – das ist ein ganz Noch eine Bemerkung zur Vergabekommission: wichtiger Punkt –, die Abschreibungsbedingungen für Frau Roth, es ist in der Tat gut, dass wir von ARD und erworbene Filmrechte zu ändern. Eine Regelung, wo- ZDF nur einen auf dem Spielfeld gelassen und einen auf nach erworbene Filmrechte über 50 Jahre steuerlich ab- die Reservebank geschickt haben. Der Frau Staatsminis- geschrieben werden können, kann man schlicht und ein- terin, die das als ihren Erfolg verkauft, sage ich nur: Der fach vergessen. Diese Regelung – das ist keine Erfolg – so ist das immer im Leben – hat viele Väter und Subvention für den deutschen Film – müssen wir an die Mütter, so auch diesmal. Ich sage ganz selbstbewusst: wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen; denn kein Wenn ich nicht gemotzt hätte, dann wäre der Erfolg Film kann über 50 Jahre verwertet werden. Ich nehme nicht eingetreten. Sie waren zwar sauer auf mich, dass an, dass wir hier Einigkeit erzielen werden. Auch das ich Kritik geübt habe. Aber ohne die Kritik der FDP- Urhebergesetz muss geändert werden. Wir müssen das Fraktion hätten sich ARD und ZDF nicht zurückgezo- tun, was auch schon andere Länder gemacht haben, näm- (B) gen. So haben wir letztlich doch an einem Strang gezo- lich die Rechte der Produzenten auf diesem Gebiet stär- (D) gen, und zwar sogar in dieselbe Richtung. ken. (Beifall bei der FDP) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Aber das ist nicht so einfach! Das wissen Sie!) Ich möchte noch etwas in Richtung Filmwirtschaft sagen. Es möge sich bitte jeder vor Augen halten, dass – Nein, das ist nicht einfach, Herr Kollege Benneter. sich aus der jetzt vorgesehenen Erhöhung der Förder- Hier herrscht heute fast schon eine adventliche Stim- quote kein Automatismus für zukünftige Erhöhungen er- mung. In der Tat sind alle Punkte, die angesprochen wur- gibt. Ob es nun 40 Prozent, wie Frau Weiss vorgerechnet den, hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit schwierig. hat, oder 25 Prozent sind, wie der Kollege Neumann be- hauptet hat, jedenfalls bedeutet die vorgesehene Erhö- Wir haben in der Rede von Frau Weiss den Blick in hung einen satten Zuwachs in einer Zeit, in der andere die Zukunft ein wenig vermisst. Wir sollten uns jetzt Einbußen hinnehmen müssen. Das Gesetz gilt bis zum nicht selbstzufrieden zurücklehnen, wenn wir das Film- 31. Dezember 2008. Wir haben ausdrücklich und ein- förderungsgesetz verabschiedet haben. Dieses Gesetz al- stimmig in unsere Beschlussempfehlung aufgenommen, lein wird – das ist meine Kernbotschaft – dem deutschen dass es keinen Automatismus geben wird und dass wir Film noch nicht auf die Beine helfen. Wir müssen hier die Aufstockung anhand der Ergebnisse in der Praxis im Deutschen Bundestag noch einiges andere regeln. evaluieren wollen. Die deutsche Filmwirtschaft möge Mit dem Filmförderungsgesetz muss eine große Etappe sich bitte darauf einstellen, dass nicht immer aus dem mit dem Ziel der Stärkung des deutschen Filmes begin- Vollen geschöpft werden kann und dass jetzt Erfolge auf nen. der nun geschaffenen gesetzlichen Basis erzielt werden müssen. Langer Rede kurzer Sinn: Wo immer Sie, liebe Kolle- ginnen und Kollegen, in diesem Hause sitzen, lassen Sie Nachdem wir das Gesetzesvorhaben positiv abge- uns nicht die Hände in den Schoß legen! Wir haben in schlossen haben, möchte ich ebenso wie der Kollege der Tat noch viel zu tun. Bei den Beratungen herrschte Neumann den Blick nach vorne auf das richten, was insgesamt – in diesem Punkt will ich die Kollegin Roth noch zu tun ist. Ich möchte besonders einen Punkt an- durchaus unterstützen – ein Klima, das auf Zusammen- sprechen, den der Kollege Neumann nur tangiert hat, arbeit ausgerichtet war. Das war sehr erfreulich. Wenn nämlich das Wirrwarr bzw. die mangelnde Koordina- wir das auch bei den Beratungen über die Felder, in de- tion bei der Filmförderung durch die Länder und die nen jetzt noch Reformen durchgeführt werden müssen, Filmförderungsanstalt. Wir müssen hier zu einer besse- zustande bringen, dann werden wir einen sehr guten Bei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6499

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) trag dazu leisten können, den deutschen Film dauerhaft Lassen Sie mich ganz kurz auf den Medienerlass ein- (C) zu stärken. Ich glaube, das ist unser gemeinsames Ziel. gehen. Es gibt auch in meiner Fraktion immer wieder Anfragen dazu. Dieses Thema spielt immer wieder eine Vielen Dank. Rolle. Ich bin froh, dass wir mit dem neuen Mediener- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie lass grundsätzlich die Möglichkeit einräumen, Filme mit bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- privatem Geld zu finanzieren. Wir können deutsche Me- NISSES 90/DIE GRÜNEN) dienfonds aus ordnungspolitischen Erwägungen und nicht zuletzt wegen der im EU-Recht verankerten Kapi- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: talverkehrsfreiheit nicht bevorzugen. Ich denke, dem Bevor ich nun als krönenden Abschluss dieser De- kann eigentlich niemand widersprechen. Wir können batte der Kollegin Gisela Hilbrecht das Wort erteile, die aber dazu beitragen, dass der deutsche Film attraktiver den allermeisten – einschließlich des amtierenden Präsi- wird. Das Filmförderungsgesetz legt dafür einen Grund- denten – bis heute nur unter dem Namen Schröter be- stein. kannt war, nutze ich die Gelegenheit gerne, ihr zu ihrer Der Filmproduktionsstandort Deutschland – ich Heirat vor wenigen Tagen herzlich zu gratulieren. denke, auch hier sind wir uns einig – muss attraktiver ge- (Beifall – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: macht werden. „film 20“ hat in diesem Zusammenhang Das ist heute aber eine schöne Stimmung!) interessante Vorschläge gemacht. Allerdings stoßen sol- che Ansätze zurzeit – das überrascht nicht – haushalts- Gisela Hilbrecht (SPD): mäßig und steuerrechtlich auf enorme Schwierigkeiten. Sehr geehrter Herr Präsident, vielleicht bin ich das Das darf uns aber nicht abschrecken, weiterhin nach erste Mitglied des Deutschen Bundestages, dem hier, vor neuen Wegen zu suchen. dem Hohen Hause, solch ein Glückwunsch ausgespro- Noch immer nicht geklärt ist die Betriebsstättenpro- chen wurde. Ich möchte das natürlich auch meinem blematik. Wir warten auf ein Ergebnis der Bund-Län- Mann mit auf den Weg geben. der-Gespräche. Die Bedenken, die einer schnelleren Lö- sung im Wege stehen, kommen meines Wissens Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: vonseiten der Länder. Ich selber habe im Bundesfinanz- Ich bin gespannt, ob das wie eine Androhung oder ministerium nachdrücklich auf den großen Erwartungs- wie eine Verheißung wirkt. druck vonseiten der Filmwirtschaft hingewiesen. Wir (Heiterkeit – Claudia Roth [Augsburg] sind wohl darüber einig: Wir brauchen endlich eine [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den würden praktikable Lösung. (B) wir gern mal sehen, den Mann!) Beim Urheberrecht – auch das ist angesprochen (D) worden – ist die weitere Umsetzung der EU-Richtlinie Gisela Hilbrecht (SPD): angelaufen. Es geht jetzt um den so genannten zweiten Herr Präsident, jetzt haben Sie mich richtig nervös ge- Korb. Insbesondere von der Kinobranche wird völlig zu macht; ansonsten bin ich das nicht. Recht auf das große Problem der Raubkopien hingewie- sen. Ich habe bereits in meiner letzten Rede darauf hin- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gewiesen, dass das Problem umgehend gelöst werden Lieber Kollege Neumann, wir reden heute über die No- muss. Ich freue mich darüber, dass es im Rechtsaus- velle zum Filmförderungsgesetz und über die Rahmen- schuss thematisiert wird. Wir sind uns darüber einig, bedingungen für das Filmschaffen in Deutschland insge- dass hier höchste Eile geboten ist. samt. Selbstverständlich löst die Novelle allein nicht die Probleme des deutschen Films. Die wirtschaftliche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Förderung ist nur ein Faktor, der auf die Lage des deut- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schen Films Einfluss hat, aber – ich denke, da sind wir CDU/CSU) uns alle einig – ein ganz zentraler. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir hier den großen Erfolg dieses von allen Mit seinen Branchenabgaben und Fernsehbeiträgen Fraktionen gemeinsam getragenen Gesetzes nicht klein ist das FFG vom Ansatz her ein Wirtschaftsförderungs- reden, zumal es hierbei um einen genuinen Regelungs- gesetz. Bis zur Einrichtung eines Ausschusses für Kul- bereich der Bundeskulturpolitik geht. tur und Medien wurde das Gesetz federführend im Wirtschaftsausschuss behandelt und im Innenausschuss Beim Medienerlass, beim Urheberrecht oder bei steu- mitberaten. Ich finde es ganz wichtig, dass jetzt der Aus- erlichen Subventionen für die Filmwirtschaft haben an- schuss für Kultur und Medien dafür zuständig ist. dere Ressorts – das Finanzministerium, das Justizminis- terium, das Wirtschaftsministerium, aber auch die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Finanzminister der Länder – das Sagen. Dieses Problem DIE GRÜNEN) ist uns genauso bewusst wie die Tatsache, dass die Rege- Die Förderung der Filmwirtschaft macht aber nur lungsgegenstände komplex und die Interessen der Betei- Sinn, wenn zugleich auch das Produkt, um das es geht, ligten – wie könnte es anders sein? – sehr unterschied- nämlich der deutsche Kinofilm, in seiner Qualität geför- lich sind. Das heißt: Wir müssen weiterhin ganz dicke dert wird. Gefördert wird – so heißt es in der neuen Fas- Bretter bohren. sung des § 1 – die kreativ-künstlerische Qualität des (Bernd Neumann [Bremen] [CDU/CSU]: So deutschen Films als Voraussetzung für seinen Erfolg im ist es!) Inland und im Ausland. Ich bin froh darüber, dass das 6500 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Gisela Hilbrecht (A) kein leeres Bekenntnis ist. Diese Einsicht in die Notwen- Ich hoffe, dass wir mit der Einbeziehung der Kreati- (C) digkeit des sachgerechten Ausgleichs zwischen wirt- ven auch denen gerecht werden, die immer nach mehr schaftlichen Interessen und kulturellem Anspruch, ohne Transparenz der Gremien gerufen haben. Aber ich dass man das eine dem anderen opfert, zieht sich durch möchte ausdrücklich anmerken: Transparenz gibt es nur das ganze Gesetz. dann, wenn alle Vertreter auch wirklich transportieren, was zum Beispiel im Verwaltungsrat läuft. (Beifall bei der SPD) Die FFG-Novelle, die wir heute beschließen, ist ein An dieser Stelle geht mein herzlicher Dank an alle großer politischer Erfolg. Aber die Arbeit geht natürlich Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss für die – wie weiter. Wir, die Kulturpolitiker aller Fraktionen, haben sollte es anders sein? – wirklich sehr gute Zusammenar- in unserem gemeinsamen Entschließungsantrag eine beit. Ich danke auch der Ministerin sowie ihrer Fachab- Agenda verabredet, die wir alle, wie ich denke, sehr teilung, die in ganz vorbildlicher Art und Weise mit dem ernst behandeln werden. Die Fußballsprache hat nach Parlament kooperiert haben. In aller Offenheit, sowohl dem Wunder von Bern – wen wundert es? – auch unsere vonseiten der Parlamentarier als auch vonseiten der Debatte um das FFG erreicht. Also: Nach der Novelle ist Staatsministerin – das habe ich in meinen dreizehn Jah- vor der Novelle. ren in diesem Parlament so noch nicht erlebt –, ist ein Regelwerk im Dialog mit den Betroffenen aus der Film- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: branche entstanden. Das ist, denke ich, Kulturpolitik im Der Ball ist rund! Ein Spiel dauert 90 Mi- besten Sinne des Wortes, so wie man sie von Kulturpoli- nuten!) tikern auch erwarten sollte. – Oh, Sie kennen sich im Fußball gut aus; ich auch. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: War das ein schönes Schlusswort!) Ich halte fest: Die Aufmerksamkeit für den deutschen Film hat deutlich zugenommen und wird sich hoffentlich – Nein, das war noch nicht das Schlusswort, Herr Otto. auch in Marktanteilen und Festivalerfolgen niederschla- Sie müssen mir schon noch ein bisschen zuhören. gen. Unsere Aufgabe als Kulturpolitiker wird es sein, diesen Erfolg nachhaltig zu stabilisieren; und das nicht (Heiterkeit) nur, damit die deutsche Filmwirtschaft floriert, sondern Festmachen kann man diesen Ausgleich zwischen auch, weil es sich beim Kinofilm um ein Kulturgut ers- wirtschaftlichem Interesse und kultureller Verantwor- ten Ranges handelt, tung an zwei Punkten des Gesetzes – ich fasse noch ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mal zusammen –, erstens an der Einbeziehung kulturel- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Joachim (B) ler Kriterien bei der Referenzfilmförderung und (D) Otto [Frankfurt] [FDP]) zweitens an der Einbeziehung der Kreativen bei der Be- setzung der Gremien der FFA. um ein Medium von größter gesellschaftlicher und iden- Eine Anmerkung kann ich mir nicht verkneifen. Kei- titätsstiftender Bedeutung. neswegs gilt doch – darüber sind wir uns, denke ich, ei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wann waren Sie das nig –: je größer ein Gremium, desto repräsentativer. Ich letzte Mal in einem deutschen Kinofilm? verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass der Kampf um die Gremienbesetzung für viele offensichtlich der (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE wichtigste Punkt in der Debatte war. GRÜNEN]: Letzte Woche! – Renate Blank [CDU/CSU]: „Good bye, Lenin!“) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wohl wahr!) Ich wünsche mir, dass wir alle und auch alle Gäste hier zu Botschaftern des deutschen Films werden. Insofern unterscheidet sich die Filmbranche nicht von anderen Branchen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Noch ein Hinweis zur Vergabekommission. Dreh- CDU/CSU und des Abg. Hans-Joachim Otto buchautoren, Regisseure und auch Kurzfilmer sind künf- [Frankfurt] [FDP]) tig neben Vertretern von Kino, Produktion, Verleih, Video, Fernsehen und Parlament mit dabei, wenn über die Förderung von Filmprojekten entschieden wird. Als Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Mitglied dieser Kommission bin ich gespannt, wie sich Ich schließe die Aussprache und lasse die Anregung das auf die Förderpraxis auswirkt. einmal auf sich beruhen, ob wir demnächst regelmäßig abfragen, wer wann zuletzt in welchem Film war, ob- Eine ganz persönliche Bemerkung: Ich als Politikerin wohl das zum Unterhaltungswert dieser Debatten sehr verstehe mich durchaus auch als Kreative. Ich denke, beitragen könnte. dass auch Kreativität eine Voraussetzung für erfolgrei- che Politik ist. (Horst Kubatschka [SPD]: Dann auch Oper und Theater!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Joachim – Die könnten wir, Herr Kollege, kongenial mit einbe- Otto [Frankfurt] [FDP]) ziehen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6501

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Wir kommen jetzt zu den erforderlichen Abstimmun- Dann ist auch diese Beschlussempfehlung einstimmig (C) gen über den vorliegenden Gesetzentwurf bzw. die Ent- angenommen. schließungsanträge. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Blank, Dirk Fischer (Hamburg), , Änderung des Filmförderungsgesetzes auf der Drucksa- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der che 15/1506. Der Ausschuss für Kultur und Medien CDU/CSU empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 15/1958, den Gesetzentwurf in der LKW-Sonntagsfahrverbot in Deutschland bei- Ausschussfassung anzunehmen. Dazu liegt ein interfrak- behalten tioneller Änderungsantrag vor, über den wir zuerst ab- stimmen müssen. – Drucksache 15/1876 – Überweisungsvorschlag: Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) sache 15/1977? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Auswärtiger Ausschuss sich? – Der Änderungsantrag ist angenommen. Innenausschuss Rechtsausschuss (Zurufe von der SPD: Einstimmig!) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus – Wenn es dem Glanz der Gesetzgebung dient, füge ich Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gerne hinzu, dass er einstimmig angenommen worden ist. Das ist für den Änderungsantrag ja nicht ganz so we- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sentlich wie für den Gesetzentwurf, über den wir jetzt Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre anschließend dennoch abstimmen müssen. ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erteile ich der der Ausschussfassung mit der soeben beschlossenen Än- Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion. derung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der Stimme enthal- Renate Blank (CDU/CSU): ten? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gehe ebenfalls einstimmig angenommen. davon aus, dass es auch bei diesem Tagesordnungspunkt Gemeinsamkeiten gibt. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ein zusätzlicher Glanz!) Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung (B) auf, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um eine (D) Interfraktionell ist vereinbart, trotz Annahme eines Änderungsantrages in zweiter Beratung unmittelbar in Aushöhlung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots für die dritte Beratung einzutreten. Gibt es dagegen Wider- schwere LKW zu verhindern. Denn Berichten zufolge spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so verein- will die EU dieses Fahrverbot aufweichen. bart. Das Sonn- und Feiertagsfahrverbot für LKW in Wir kommen zur Deutschland hat sich bewährt und muss erhalten bleiben. dritten Beratung (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem ten der FDP) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Möchte sich jemand der Deutschland wäre als Transitland Nummer eins in Europa Stimme enthalten? – Das ist nicht der Fall. Damit ist die- von dieser Lockerung massiv betroffen. An Sonn- und ser Gesetzentwurf zur Änderung des Filmförderungs- Feiertagen gäbe es aufgrund des zeitgleich stattfindenden gesetzes vom Deutschen Bundestag einstimmig ange- Freizeitverkehrs lange LKW-Kolonnen mit Staus, Lärm nommen. und Unfällen auf den ohnehin schon stark belasteten Au- tobahnen. Das ist den Anwohnern nicht zumutbar. Um das mehrfach bemühte Beispiel des Wunders von Bern aufzugreifen: Wenn das Zusammenspiel dieser Uns ist das Sonn- und Feiertagsfahrverbot für LKW Mannschaft so grandios war, wie alle Sprecher der Frak- heilig. Wir halten es für wichtig. tionen wechselseitig gerühmt haben, wäre es schade, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der wenn diese Mannschaft zum letzten Mal so zusammen- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- gespielt hätte. NEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Verkehrsminister Stolpe darf allerdings nicht einknicken CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- und nicht Europa Tür und Tor für den Schwerlastverkehr NEN) öffnen, der dann künftig auch sonntags über unsere Stra- Wir kommen nun zu Buchstabe b der Beschlussemp- ßen lärmen würde. Wir wollen in Deutschland die Sonn- fehlung des Ausschusses auf Drucksache 15/1958 mit und Feiertage nicht zu Werktagen degradieren und wir der Empfehlung der Annahme einer Entschließung. Wer wollen auch nicht, dass LKW-Transporte an Wochenen- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Stimmt je- den die Straßen verstopfen und den Freizeitverkehr ein- mand dagegen? – Enthält sich jemand der Stimme? – schränken. 6502 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Renate Blank (A) In der EU wachsen allerdings die Bestrebungen, den land wäre als Drehscheibe des Verkehrs in Europa von (C) Sonn- und Feiertagsschutz mittelfristig einzuschränken einer Lockerung dieses Verbots am stärksten betroffen. bzw. langfristig abzuschaffen – mit der fadenscheinigen Dies können wir unserer Bevölkerung nicht zumuten. Begründung, den zunehmenden Güterverkehr auf der (Beifall bei allen Fraktionen) Straße besser abwickeln zu können. Zudem seien sonn- tägliche Wartezeiten an den Grenzen nicht zumutbar Wir sollten nach dem Motto „Wehret den Anfängen!“ bzw. nicht hinnehmbar. gemeinsam handeln und der Bundesregierung diesen ge- meinsamen Auftrag mitgeben bzw. ihr den Rücken für Nach dem Willen der EU-Kommission sollen die Mit- Verhandlungen mit der EU stärken, damit wirklich alle gliedstaaten zusätzliche Fahrverbote künftig nur noch Maßnahmen ergriffen werden können, um eine Aushöh- mit ausdrücklicher Genehmigung der EU-Kommission lung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots zu verhindern. verhängen dürfen. Wenn die grundsätzlichen Befugnisse erst einmal auf die EU übertragen worden sind, ist zu be- Meine Kolleginnen und Kollegen, Pläne aus Brüssel fürchten, ja sogar davon auszugehen, dass die bisherigen zur Aufweichung des Fahrverbots gehören in den Pa- nationalen Vorschriften allenfalls Auslaufmodelle und pierkorb und müssen vom Parlament zurückgewiesen erfahrungsgemäß nur noch von kurzer Haltbarkeitsdauer werden. sind. Wir kennen doch die Regelungswut der EU bzw. (Beifall bei allen Fraktionen) das An-sich-Ziehen von Befugnissen. Es besteht die Ge- fahr, dass die Sonn- und Feiertagsfahrverbote Scheib- chen für Scheibchen beschnitten werden. Das wäre auch Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: im Hinblick auf die EU-Osterweiterung und den damit Für die Bundesregierung hat nun die Parlamentari- zu erwartenden Verkehr für Deutschland fatal. sche Staatssekretärin Angelika Mertens das Wort.

Im Übrigen beeinträchtigen die geltenden deutschen Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Regelungen den freien Warenverkehr nicht, da ver- desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: derbliche Waren ohnehin schon von Fahrverboten ausge- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen nommen sind. Allerdings müsste die Kennzeichnung und Kollegen! Dieser Nachmittag entwickelt sich regel- „verderbliche Waren“ durch die zuständigen Behörden recht zu einem Nachmittag der Harmonie. restriktiv ausgelegt und kontrolliert werden, damit die Umgehung des geltenden Rechts erschwert bzw. ganz Das LKW-Sonntagsfahrverbot ist ein hochpolitisches verhindert wird. Bei manchem LKW, der an Sonn- und Thema. In Ihrem Antrag kommt die Sorge zum Aus- Feiertagen unterwegs ist, habe ich doch die Vermutung, druck, dass durch eine europäische Regelung das Sonn- dass keinesfalls verderbliche Waren gefahren werden, und Feiertagsfahrverbot gefährdet werden könnte. Die (B) sondern man eher darauf vertraut, nicht kontrolliert zu Bundesregierung teilt diese Sorge und sie teilt auch die (D) werden bzw. die dann fällige Strafe durch den gewonne- Forderung nach einer Beibehaltung dieses Verbots. nen Transportvorteil locker bezahlen zu können. Immer wieder müssen wir uns in gewissen Abständen Eine Lockerung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots mit diesem Thema beschäftigen. Bisher ist es zusammen für LKW bedeutet zudem einen gravierenden Einschnitt mit Frankreich, Österreich und Italien immer gelungen, in das Privatleben der Berufskraftfahrer und deren Begehrlichkeiten der Kommission oder anderer Länder Familien. abzuwehren. Dass Italien als amtierende Ratspräsident- schaft den geänderten Richtlinienentwurf der Kommis- Eine generelle Fahrerlaubnis würde nicht nur die Fah- sion auf die Agenda genommen hat, ist überraschend rer, sondern auch sehr viele andere Arbeitnehmer belas- und nicht zu erklären. ten; denn es geht nicht nur um das Fahren, sondern auch um das Be- und Entladen der Fahrzeuge. Der Richtlinienentwurf hat den irreführenden Titel „… über ein transparentes System harmonisierter Vor- Auch das deutsche Transportgewerbe lehnt die Auf- schriften zur Beschränkung des grenzüberschreitenden hebung oder Aufweichung dieses Fahrverbots ab; denn Güterverkehrs mit schweren Lastkraftwagen …“. Ich es würde eine weitere Verschlechterung der Wettbe- sage dazu: Ziel jeder EU-Richtlinie muss ein europäi- werbssituation im europäischen Vergleich entstehen, scher Mehrwert und eine europäische Harmonisierung wenn die LKWs aus unseren Nachbarstaaten auch sonn- sein. Ich kann aber weder den europäischen Mehrwert und feiertags durch Deutschland fahren könnten. noch die Harmonisierung erkennen. Warum sollte – so Besonders in Regionen, wo der Fremdenverkehr die muss ich im Umkehrschluss fragen – ein Land Fahrver- einzig bedeutende Einnahmequelle ist, kann sich eine bote eigentlich einführen, wenn es diese Fahrverbote Aushöhlung des Fahrverbots an Sonn- und Feiertagen aufgrund eines geringen Fahraufkommens gar nicht für LKWs negativ auf die Überlebenschancen der Frem- braucht? denverkehrsbetriebe auswirken. Dörfer und Städte müss- In der Bundesrepublik Deutschland haben wir seit ten sich dann mit dem Aufstellen von Park- und Durch- 1956 ein Fahrverbot an Sonn- und Feiertagen. Dieses fahrtsverbotstafeln für LKWs befassen. Dies kann Verbot hat sich aus Gründen der Verkehrssicherheit und keinesfalls in unserem Sinne sein. auch deshalb, weil es unserem Verständnis von Sonn- tagsruhe entspricht, bewährt. Ich gehe davon aus, dass alle Fraktionen in diesem Hause für die Beibehaltung des Sonn- und Feiertagsfahr- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verbots für LKWs in Deutschland sind; denn Deutsch- DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/ Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6503

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens (A) CSU]: Ihr seid froh, dass ihr sonntags länger ten Debatte, die wir über die Bahn führen, gegebenen- (C) schlafen könnt! Ich muss immer zum Früh- falls auf diese Formulierung zurückzukommen. schoppen am Sonntag!) (Beifall bei der SPD – Renate Blank [CDU/ Die Sonntagsruhe ist – das weiß vielleicht nicht jeder – CSU]: Es ist doch sehr schön, wenn wir vor- auch im Grundgesetz festgehalten. bildlich sind! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es kann nie schaden, wenn wir zitiert werden!) Übrigens kannte die DDR kein Sonntagsfahrverbot. Das lag vor allen Dingen daran, dass der übliche Trans- portweg die Schiene war. Die restliche Transportleistung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: war überschaubar. Dies ist aber in einem Transitland Nächster Redner ist der Kollege Horst Friedrich für nicht der Fall. die FDP-Fraktion. Als Transitland haben wir besondere Lasten zu tra- Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): gen. Periphere Staaten kennen diese Situation nicht. Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Diese Lasten zu tragen ist eine schwere Aufgabe. Auch Kollegen! Bei so viel Gemeinsamkeit wird es ja schon bei uns wird immer wieder die Diskussion darüber ge- wieder interessant, eine andere Meinung zu haben, aber führt, wie man das prognostizierte Verkehrsaufkommen man muss sich das richtige Thema heraussuchen. Zu- bewältigen kann. Dazu gibt es mehr oder weniger gute nächst muss man sich fragen: Was hat eigentlich die EU- Ratschläge. Kommission bewogen, ausgerechnet an dem Punkt an- In einer Pressemitteilung des Bundesverbandes des zufangen, über eine Harmonisierung in Europa laut Deutschen Groß- und Außenhandels heißt es, wir müss- nachzudenken? ten die Denkverbote überwinden und eine Diskussion (Beifall bei der FDP – Eduard Oswald [CDU/ führen über die Aufhebung von Sonntagsfahrverboten, CSU]: Die sollen sich um die wesentlichen über die Öffnung des Werksverkehrs für Transporte Drit- Fragen kümmern!) ter und auch über die Anhebung des zulässigen Gesamt- gewichts für LKW’s auf bis zu 60 Tonnen. Es gäbe eine ganze Palette von Themen, über die man mit dem Ziel der Beseitigung von Defiziten ernsthaft mit Ich stelle hier fest, dass diese Aufforderung zur Dis- der EU diskutieren könnte. Eine solche Diskussion wäre kussion bis jetzt keine Resonanz gefunden hat, weder im zwar auch strittig, aber sie wäre sehr viel wichtiger, als politischen Bereich noch beim betroffenen Gewerbe. Ich jetzt das Thema Sonntagsfahrverbot aufzugreifen. hoffe, damit hat sich das erledigt. Wir haben eine Rege- lung, die sich bewährt hat und – was ja nicht so häufig (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und (B) vorkommt – die auch äußerst beliebt ist. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Eduard (D) Oswald [CDU/CSU]: Recht hat er!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich denke an Themen wie Lenk- und Ruhezeiten, Kfz- Steuer, Mineralölsteuer sowie an andere Vorschriften Wie geht es jetzt weiter in Europa? Wir werden wei- und Ausnahmeregelungen terhin mit Nachdruck unsere ablehnende Haltung zum Richtlinienentwurf zum Ausdruck bringen. Wir werden (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!) weiterhin eng vor allen Dingen mit Frankreich zusam- wie die nachträglich genehmigten steuerlichen Hilfen menarbeiten. Wir treffen aber Vorkehrungen, unser anderer Länder ab dem Jahr 2000 für ihr Transportge- Ziel – es heißt: Fortbestand des Sonn- und Feiertags- werbe. fahrverbotes – auch dann zu erreichen, wenn wir über- stimmt werden. In diesem Fall werden wir uns für einen (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das sollten sie dauerhaften Bestandsschutz der bestehenden nationalen machen, jawohl!) Regelungen einsetzen. Wir haben immer sehr viel Verständnis für unsere Position gefunden. Wenn es aller- Diese Genehmigung erfolgte im Übrigen mit Zustim- dings hart auf hart geht – das betrifft auch Punkt II Ihres mung der Bundesregierung. Es gäbe also eine große Pa- Antrages –, können wir von Großbritannien zwar Ver- lette von Themen, über die man sich Gedanken machen ständnis erwarten, aber Unterstützung ist schon ein biss- könnte. Der Kollege Fischer fordert ja ständig ein Weiß- chen problematischer. Großbritannien hat das uns gegen- buch der EU zur Beseitigung der Harmonisierungsdefi- über auch so zum Ausdruck gebracht. zite. (Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig!) Mit Ihrer Forderung nach einer integrierten Verkehrs- politik rennen Sie bei uns nun wahrlich offene Türen ein Es wäre sicherlich interessant, das abzuarbeiten. Dazu braucht man aber kein Weißbuch; die Themen sind ei- (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Scheunen- gentlich bekannt. tore! Garagentore!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ – ja, Scheunentore, größere Tore kann es gar nicht DIE GRÜNEN]: Herr Fischer sollte eigentlich geben –, wenngleich wir uns in unserer Diskussion nicht ein Schwarzbuch verlangen!) auf die transeuropäischen Netze beschränken sollten und auch nicht wollen. Weil es in Ihrem Antrag so treffend Dass man jetzt ausgerechnet das Sonntagsfahrverbot in formuliert ist, möchte ich mir vorbehalten, bei der nächs- den Blick nimmt zeigt, dass man einen Sinn darin sieht, 6504 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) das größte Transitland und das wirtschaftlich interessan- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE (C) teste Land innerhalb der EU noch stärker zu frequentie- GRÜNEN): ren – zwei Drittel des Gesamtverkehrs finden schon jetzt Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! bei uns statt – und dass man deshalb jetzt auch das beste- Ich freue mich, dass dies heute ein so konsensualer, har- hende Fahrverbot von Sonntag 0 Uhr bis 22 Uhr aufhe- monischer Nachmittag ist. ben will. (Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig!) Allerdings – das ist ja schon angeklungen, verehrte Kolleginnen und Kollegen – müssen wir natürlich auch Dies ist schon der zweite Tagesordnungspunkt, der of- selber aufpassen. Mittlerweile werden in den Regionen – fenbar die Einigkeit des Hauses in wichtigen Fragen do- neben dem sowieso schon ausgenommenen Verkehr für kumentiert. so genannte lebensnotwendige Güter – flächendeckend (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Weihnachten mehr und mehr Ausnahmeregelungen erteilt, was dazu naht!) führt, – das zeigt ein Vergleich der täglichen Verkehrs- zahlen –, dass am Sonntag bereits jetzt schätzungsweise Dies ist auch die zweite Verkehrsdebatte, die ich hier er- 20 Prozent des Schwerlastverkehrs, der durchschnittlich lebe, bei der es in einem zentralen Punkt Übereinstim- werktäglich unterwegs ist, auf Deutschlands Autobah- mung gibt. Beim ersten Thema ging es um den Börsen- nen fährt. Das ist natürlich überwiegend aufgrund von gang der Bahn. Ich finde, hier waren wir mit unserem regionalen Ausnahmegenehmigungen möglich. Wer auf Aufsichtsratsbeschluss, der dieser Debatte unmittelbar der einen Seite von sich aus deutlich macht: „Ich nehme folgte, erfolgreich. Das zweite Thema ist jetzt das Sonn- das alles nicht allzu ernst“, darf sich umgekehrt nicht tags- und Feiertagsfahrverbot für schwere LKW’s. wundern (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das zeigt, (Ein Handy klingelt im Saal) dass ihr nur mit uns Erfolge habt!) – wenn das Handy klingelt; – Das zeigt, dass wir dann Erfolg haben, wenn wir ge- (Heiterkeit im ganzen Hause) meinsam das Richtige wollen. damit wären wir wieder beim Thema Film: „Immer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenn der Postmann zweimal klingelt“ –, und bei der SPD) (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Welche Noch gilt in Deutschland, in Frankreich, in Italien und Filme guckst du denn? – Albert Schmidt in Österreich an Sonntagen und an bestimmten Feierta- (B) [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gen ein LKW-Fahrverbot. Das ist keine Willkür und (D) Schwerenöter!) auch kein Zufall. Denn diese Länder liegen nun einmal im Herzen Europas, wir in Deutschland ganz besonders: wenn man von der anderen Seite darauf angesprochen Wir sind das Transitland Nummer eins in der Mitte Eu- wird, in diesem Bereich zu harmonisieren. ropas. Ob Nord-Süd-Verkehr oder West-Ost-Verkehr, Wir werden uns im Ausschuss intensiv mit dem An- alle wälzen sich über unsere Straßen. trag der Union befassen und sicherlich in sehr pragmati- Deshalb wäre es eine Horrorvorstellung, die LKW- scher Weise ein gemeinsames Ergebnis erzielen. Ich Kolonne nun zeitgleich mit dem Freizeitverkehr am freue mich auf die Fortsetzung der Debatte anlässlich der Wochenende auf die Straßen zu lassen. Das ist nicht nur weiteren Behandlung dieses Antrages im Plenum. eine Frage der Lebensqualität und der Überlastung unse- Herzlichen Dank. rer Bevölkerung, insbesondere der Anwohnerinnen und Anwohner, die diesem Lärm auch noch am Sonntag aus- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie gesetzt wären. Das ist vielmehr auch eine Frage der Si- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- cherheit. Denn am Sonntag den Freizeitverkehr zugleich NISSES 90/DIE GRÜNEN) mit dem Verkehr schwerer LKW’s auf die Straße zu las- sen heißt: mehr Unfälle, mehr Staus und noch mehr Be- lastungen für die Anwohnerinnen und Anwohner. Das Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: kann niemand verantworten, auch nicht wenn er in Brüs- Diejenigen Kollegen, die offenkundig Entzugser- sel sitzt. scheinungen haben, weil sie nicht Mitglied des Aus- schusses für Kultur und Medien sind, mache ich darauf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufmerksam, dass nach unserer Geschäftsordnung jedes und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Mitglied des Bundestages berechtigt ist, an Sitzungen CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Da von Ausschüssen, in denen es kein Mitglied ist, teilzu- kann man ja noch nicht einmal am Sonntag die nehmen. Kirchenglocken hören!) (Heiterkeit im ganzen Hause – Eduard Oswald – So ist es. [CDU/CSU]: Das fangen wir lieber erst gar nicht an!) Schon eine Lockerung des Sonntagsfahrverbots ist eine falsche Strategie. Denn sie führt natürlich dazu, Nun hat das Wort der Kollege Albert Schmidt, dass ein solches Verbot nach und nach wie ein Schweizer Bündnis 90/Die Grünen. Käse durchlöchert wird, bis es am Schluss mehr Löcher Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6505

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) als Käse hat. Deswegen freue ich mich, dass wir uns hier Es gibt Werte wie Freizeit, Erholung, Ruhe und Famili- (C) einig sind. enleben. Freizeitverkehr plus LKW-Lawinen, das überfordert (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Am besten fan- nicht nur die Straßen, das überfordert auch die Men- gen wir gleich damit an!) schen. Deswegen sind wir alle auf dem richtigen Weg, Das wollen wir garantiert sehen. Deshalb sagen wir wenn wir in Richtung Brüssel und – auch das sage ich heute Nein zu diesen Plänen aus Brüssel, aus Rom oder hier sehr deutlich – in Richtung Rom, in Richtung der woher immer sie kommen mögen. gegenwärtigen Ratspräsidentschaft, ausdrücklich fest- stellen: Das Sonntagsfahrverbot für LKW’s ist für uns (Beifall bei allen Fraktionen) eine Frage der Lebensqualität. Wir im Deutschen Bun- destag sollten gemeinsam und einmütig das Signal an Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herrn Berlusconi senden: Er kann auf der nächsten Rats- Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Schorsch tagung Anfang Dezember treiben, was er will; Brunnhuber, CDU/CSU-Fraktion. Falls auch er noch die (Renate Blank [CDU/CSU]: Nicht alles!) kulturelle Bedeutung des Straßenverkehrs hervorhebt, ist mit dem Zuströmen der verschwundenen Kollegen aus aber dieses Thema sollte er schleunigst von der Tages- dem einschlägigen Ausschuss zu rechnen. ordnung absetzen. (Heiterkeit) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Georg Brunnhuber (CDU/CSU): Denn niemand hier will eine Lockerung, noch nicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie einmal das LKW-Gewerbe. Es ist schon gesagt worden, kennen mich: Wenn alles schon gesagt ist, braucht man dass auch das deutsche Speditionsgewerbe eine Aufhe- in einer Sache, bei der man sich wirklich einig ist, nicht bung dieses Fahrverbotes ablehnt, und zwar aufgrund alles zu wiederholen. der Befürchtung einer weiteren Verschlechterung der Wettbewerbsposition im europäischen Vergleich, näm- Ich stelle deshalb erstens fest: Das Sonntagsfahrver- lich dann, wenn die Trucks aus dem Ausland auch sonn- bot für schwere LKW’s muss bleiben, weil es sich be- und feiertags durch Deutschland donnern. währt hat und weil wir den Sonntag als heilig wollen. Wir haben jetzt schon bis Samstag volle Arbeitszeit; des- Deshalb wird es höchste Zeit, dieses Signal zu geben. halb muss der Sonntag absolut frei gehalten werden. Denn wir befinden uns tatsächlich in einer Fünf-vor- zwölf-Situation. Wir können vielleicht gerade noch den Zweitens. Wir wollen nicht, dass ausländische Kon- (B) Zeiger anhalten, wenn wir dank der Einmütigkeit heute kurrenz, die wir jetzt schon haben, das deutsche Ver- (D) gemeinsam das richtige Signal setzen. Ich bin deshalb kehrsgewerbe im grenzüberschreitenden Verkehr perma- sehr dankbar für den vorliegenden Antrag, der uns den nent zurückdrängt: von 35 Prozent Anteil vor fünf Anlass gibt, diese Debatte heute zu führen. Jahren auf jetzt unter 25 Prozent. Das muss verhindert werden. (Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU] – Drittens. All das, was von allen Kollegen gesagt wor- Renate Blank [CDU/CSU]: Freut mich sehr!) den ist, ist richtig. Irgendwann einmal – ich will es so salopp sagen – Ich bitte deshalb die Bundesregierung, unseren An- muss der Tag sein, an dem ein leidenschaftlicher Auto- trag zu unterstützen. Umgekehrt können wir Ihnen versi- fahrer über die Autobahn brettern kann, ohne dass die chern: In Brüssel haben Sie unsere volle Zustimmung. LKW auf der rechten Spur ein Hindernis wie eine Mauer bilden. Ich denke an Persönlichkeiten wie Rezzo (Beifall bei allen Fraktionen) Schlauch, die auch einmal die Möglichkeit haben wol- len, ihre Fahrzeuge auszufahren. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Heiterkeit bei allen Fraktionen) Verehrter Kollege Brunnhuber, ich hätte es nicht für möglich gehalten, in meiner Amtszeit noch einmal eine Man sollte nicht verschweigen, dass auch das eine Rolle so spektakuläre Unterschreitung der Redezeit erleben zu spielen darf. dürfen, wie das gerade der Fall war. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Welche (Heiterkeit und Beifall bei allen Fraktionen) Marke fahren Sie denn, Kollege?) Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat der Für mich spielt aber noch ein anderer Punkt eine sehr Kollege Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion das Wort. wichtige Rolle, den ich abschließend ansprechen möchte. Wenn wir heute einen Stopp der Debatte um (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Er kann es eine Aufweichung des Fahrverbots an Sonn- und Feier- nur noch besser machen! – Eduard Oswald tagen fordern, geben wir auch ein Zeichen, dass eine to- [CDU/CSU]: Er erklärt: Ich schließe mich al- tale Kommerzialisierung der Sonn- und Feiertage an len Vorrednerinnen und Vorrednern an!) eine Grenze stößt, bei der wir Halt sagen. Das ist auch eine kulturelle Frage, Herr Präsident. Es gibt noch an- Uwe Beckmeyer (SPD): dere Werte im Leben als die totale Kommerzialisierung, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- den permanenten Transport, das permanente Geschäft. ren! Nachdem meine Redezeit bereits von elf auf sechs 6506 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Uwe Beckmeyer (A) Minuten heruntergekürzt worden ist, werde auch ich führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (C) mich kurzfassen. Insofern hoffe ich, dass ich Ihr Wohl- verstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die wollen verdiene. Überweisung so beschlossen. Als ich mich in den letzten Tagen wieder mit diesem Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Thema beschäftigte, fiel mir auf, dass man den Eindruck haben könnte, es handele sich um einen Evergreen, der Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- alle vier Jahre hier im Parlament erörtert wird. 1998 und richts des Verteidigungsausschusses (11. Aus- 1999 hat der Bundestag eindeutige Beschlüsse dazu ge- schuss) zu der Unterrichtung durch den Wehrbe- fasst. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass wir auftragten unterschätzen, was aus Europa kommt. Jahresbericht 2002 (44. Bericht) Europa ist eine Mühle, die beständig mahlt. Sie pro- – Drucksachen 15/500, 15/1837 – duziert unaufhörlich immer neue Vorschläge, Entschlie- ßungen und Verordnungen. Man muss aufpassen, dass Berichterstattung: der nationale Wille dabei am Ende nicht fürchterlich un- Abgeordnete Ulrike Merten ter die Räder kommt. Das droht in diesem Fall. Anita Schäfer (Saalstadt) Ich habe einmal nachgeschaut: Seit 1998 hat es auf Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die europäischer Ebene 14 Befassungen mit diesem Thema Aussprache 45 Minuten dauern. – Dazu höre ich keinen gegeben. 23 Bulletins und ähnliche Schriften sind nur zu Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. diesem Thema verfasst worden, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Respekt!) der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner. immer mit dem gleichen Ziel, an dieser Stelle etwas auf- zubohren. Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut- Es ist gut und notwendig, dass dieses Parlament sich schen Bundestages: einmütig gegen diese Hydra wehrt, der, sobald man ei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- nen Kopf abgeschlagen hat, zwei neue nachwachsen. Ich deswehr ist eine intakte Institution und in dieser Armee bin sehr dankbar dafür, dass das hier so einmütig pas- leisten Soldaten erstklassigen Dienst. Aus aktuellem An- siert. lass füge ich hinzu: Die Bundeswehr ist eine demokrati- Ich habe allerdings eine Bitte. Bei der Recherche ha- sche Institution im demokratisch verfassten Staat und (B) ben wir festgestellt, dass SPD, CSU, ÖVP und SPÖ im nicht etwa Gehäuse für Rechtsextremismus oder Rechts- (D) Europäischen Parlament eine einheitliche Position ha- extremisten. ben, leider aber nicht die Abgeordneten der Christlich Demokratischen Union im Europäischen Parlament. Die (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE haben mehrheitlich leider für den Kommissionsvor- GRÜNEN und der FDP) schlag gestimmt, was von einer leichten Verwirrung bei Die Bundeswehr steht für Freiheit, steht für Toleranz all denen zeugt, von denen man hätte annehmen müssen, und für Achtung der menschlichen Würde und nicht für dass sie um unsere nationale Debatte wissen. das Gegenteil. Das ist Tatsache und nicht etwa beschwö- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Man kann rende Leerformel. In der Bundeswehr wird innere Füh- sich wirklich auf nichts verlassen!) rung praktiziert und Soldaten sind Staatsbürger in Uni- form. Mächtige Wirkkräfte sichern die demokratische Insofern ist das ein Arbeitsfeld, bei dem wir noch über- Beschaffenheit der Bundeswehr ab: Ich nenne die stän- zeugen müssen. Ich habe die Hoffnung noch nicht ganz dige, fast uneingeschränkte Kontrolle durch die Öffent- aufgegeben. lichkeit, ich nenne die ständige parlamentarische Seitens der sozialdemokratischen Fraktion darf auch Kontrolle und ich erwähne die besondere politische Ver- ich feststellen: Wir sind eindeutig der Meinung, dass wir antwortlichkeit von Bundesverteidigungsminister und an diesem Regelwerk nichts verändern wollen. Wir wer- Bundeskanzler als Inhaber der Befehls- und Kommando- den uns im Ausschuss bei der Beratung Ihres Antrages gewalt. Da ist kein Platz für die Widerwärtigkeiten des entsprechend verhalten. Rechtsextremismus; das wird auch so bleiben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten der CDU/CSU) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ran an Gewiss bedeutet dies keinen uneingeschränkten Schutz. die Arbeit!) Die Begehrlichkeiten des Rechtsextremismus in Rich- tung Bundeswehr im Hinblick auf deren hierarchische Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ordnung, im Hinblick auf Waffen und den Umgang mit denselben, aber auch im Hinblick auf militärische Sym- Ich schließe die Aussprache. bole und die Dienstkleidung werden bleiben. Dies ist Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf aber eine andere Geschichte. Dagegen kann man sich Drucksache 15/1876 an die in der Tagesordnung aufge- wehren und das geschieht auch. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6507

Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner (A) Das Schüren eines diesbezüglichen Generalverdachts worden ist. Die Soldaten begreifen es nicht, dass dies so (C) gegen die Bundeswehr ist allerdings infam, zumal deut- lange dauert, hingegen über jeden zusätzlichen Einsatz sche Soldaten in ihrer Mission im Ausland unter zum sehr zügig Entscheidungen getroffen werden. Teil außerordentlich schwierigen Bedingungen und bei Einsatz von Leib und Leben einen allseits anerkannten Sie können es übrigens auch nicht begreifen, dass ihr Dienst zum Schutz von Menschenrechten und der inter- zunehmend gefährlicher werdender Dienst zeitgleich nationalen Wertegemeinschaft leisten. von Einschnitten in Besoldung und Versorgung beglei- tet wird. Es sei nur an die angekündigte Kürzung des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weihnachts- und Urlaubsgeldes erinnert. Das würde die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Bundeswehr gerade bei den unteren Besoldungsgruppen CDU/CSU und der FDP) breit erreichen. Unterhalb der Besoldungsgruppe A 7 leisten über 130 000 Soldaten Dienst. Das sind allesamt Das ändert aber nichts daran, dass es auch Probleme Einkommensbezieher mit Bruttogrundgehältern zwi- gibt – und die nicht zu knapp. Das Parlament als Auf- schen 1 445 und maximal 2 131 Euro; dabei sind die Ab- traggeber des Wehrbeauftragten hat Anspruch darauf, zu schläge der Ostbesoldung noch nicht eingerechnet. erfahren, wie es um seine Bundeswehr und seine Solda- ten nach den Wahrnehmungen des Wehrbeauftragten im Gerade die Bundeswehr im Einsatz belastet es nach Berichtsjahr bestellt ist. wie vor, dass die Lücke zwischen der Ost- und der West- besoldung immer noch nicht geschlossen ist. Unmissver- Hierzu die wichtigsten Hinweise: Erstens. Der Bun- ständlich gesagt: Befürchtete Konsequenzen für die deswehr zu Hause machen die Auswirkungen der Ein- Haushalte von Ländern und Gemeinden im Osten und sätze sehr zu schaffen. Soldaten weisen vermehrt auf für das Weiterbestehen der Tarifgemeinschaft von Bund, Doppel-, ja Mehrfachbelastungen hin, die die Folge ein- Ländern und Gemeinden taugen als Argument für weite- satzbedingter Abwesenheit anderer Soldaten sei. Immer res Zögern und Zagen nicht. wieder wird vorgetragen, dass der Übungs- und Ausbil- dungsbetrieb Schaden nehme. Die Schwächen werden (Beifall des Abg. Hans Raidel [CDU/CSU] mit fehlenden Ausbildern, Mangel an geeignetem Mate- und des Abg. Günther Friedrich Nolting rial und erforderlichen Mitteln erklärt. Es verstärkt sich [FDP]) der Eindruck, dass die Bundeswehr in einigen Bereichen die Grenzen der Möglichkeiten erreicht hat. Ohne An- Der Bund ist allein für militärische Angelegenheiten spruch auf Vollständigkeit seien die Nöte der Fernmelder und damit auch allein für Bundeswehr im Einsatz zu- sowie von Spezialisten generell und die Schwierigkeiten ständig. Dann ist der Bund auch allein für die Beschaf- beim Sanitätswesen erwähnt. Das Fehlen von Chirurgen, fenheit der Armee verantwortlich. Deren Verfassung (B) Anästhesisten und Orthopäden belastet die Funktionsfä- nimmt Schaden, wenn nicht endlich diese zulasten der (D) higkeit von Bundeswehrkrankenhäusern zulasten der ostdeutschen Soldaten diskriminierend wirkenden, die Soldaten. Perspektivisch ist zu berichten, dass das Inte- Armee der Einheit spaltenden Einkommensunterschiede resse am Dienst des Sanitätsoffiziers nachlässt. Die Zahl aufgehoben werden. der Bewerber dafür wird kleiner. Mögliche negative Fol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gen zulasten des Sanitätswesens sind absehbar. Es be- bei Abgeordneten der SPD) steht Handlungsbedarf. Was andere Mängel in der Bundeswehr und die Sor- Zweitens. Die rasche Folge tief greifender Verände- gen der Soldaten angeht, muss es mit einem Hinweis auf rungen in der Bundeswehr verunsichert Soldaten, weil den Bericht sein Bewenden haben. Ich will nur noch ein damit auch Planungsverlässlichkeit für den persönlichen paar Stichworte nennen, was die Soldaten belastet und Bereich, für Frau und Kinder, betroffen sein kann. Hinzu was in der Bundeswehr rumort: kommt, dass Unsicherheiten über den Fortbestand von Einheiten und Standorten Soldaten zusätzlich belasten. Mit seiner neuen Laufbahn wird das Unteroffiziers- Immer wieder wird von erfahrenen, wohlmeinenden Sol- korps weiterhin nicht richtig fertig. Die „alten“ Unterof- daten vorgebracht, dass das Riesenunternehmen Bundes- fiziere sehen sich auf dem Wege zum Abstellgleis und wehr bei einander überlappenden Veränderungsprozes- ihre Interessen auf Beförderung nicht zureichend be- sen grundlegender Art nicht zurechtkommen könne. rücksichtigt. Drittens. Gerade bei wiederholten Einsätzen stellt Die Infrastruktur in vielen Kasernen des westlichen sich für Soldaten immer drängender die Frage nach Sinn Deutschlands lässt zu wünschen übrig. Dagegen hat das und Zweck ihres Dienstes, wenn sie nach ihren Wahr- Programm „Kaserne 2000“ für den Osten erfreulicher- nehmungen keine politischen Fortschritte ausmachen weise voll gegriffen. können. Die Soldaten wollen nicht Besatzungsmacht oder Lückenbüßer für nicht stattfindende politische Ver- Damit auch dies gesagt sei: Klagen über Unzuläng- änderungen sein. Mit anderen Worten: Sie erwarten lichkeiten gerade bei der Bearbeitung von Personalange- Konsequenzen aus dem Primat der Politik. legenheiten mit negativen Konsequenzen für die Betrof- fenen werden mehr und mehr. Ich erwähne als Quellen Viertens. Bei Bundeswehr im Einsatz ist es unum- für Schwächen, ohne dass das eine Schuldzuweisung gänglich, an die immer noch ausstehende Novellierung bedeutet, die Zentren für Nachwuchsgewinnung, die des soldatischen Versorgungsrechts zu erinnern, die doch Stammdienststellen, aber auch Knotenpunkte in der schon seit knapp einem Jahr zugesagt und begonnen Truppe selbst. 6508 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner (A) Der Verteidigungsausschuss wird in seinem Bemühen zu einer hohen Einsatzbelastung der Spezialisten. Das (C) nicht locker lassen, Verbesserungen durchzusetzen; da- Sanitätsführungskommando ist aber angehalten, die Sol- rin bin ich mir sicher. Er wird zu Beginn des nächsten datinnen und Soldaten nach Möglichkeit so einzuplanen, Jahres beim Bundesministerium der Verteidigung wegen dass sie in einem Zeitraum von 30 Monaten nur bis zu notwendiger Veränderungen wieder förmlich vorstellig sechs Monate ihren Dienst in einem Einsatzland verse- werden. hen müssen. Mit diesen Vorgaben wird die Einsatzbelas- tung gleichmäßig und auf möglichst vielen Schultern Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bun- verteilt. deswehr ist eine Parlamentsarmee. Das hat der Bundes- tag immer wieder erklärt. Das wissen auch die Soldaten. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass der Sa- Sie wissen auch, dass das Parlament damit für die Bun- nitätsdienst unter einem Mangel an medizinischem deswehr eine besondere Verantwortung übernommen Fachpersonal leidet; der Fachpersonalmangel trifft übri- hat. gens auch den zivilen Sektor. Umso höher möchte ich Schönen Dank für Ihre Geduld. das bisherige Engagement der Sanitätsdienstler der Bun- deswehr, aber auch unserer Reservisten bewerten sowie (Beifall bei allen Fraktionen) die überwiegend sehr gute zivil-militärische Zusammen- arbeit hervorheben. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zu Recht wird im Bericht des Wehrbeauftragten auf Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Heß, SPD- die über 200 Eingaben im Zusammenhang mit den Fraktion. neuen Laufbahnen hingewiesen. Insgesamt reagiert die Truppe positiv auf die neuen Laufbahnen, da hiermit Petra Heß (SPD): auch die Möglichkeit verbessert wurde, Beruf und Fami- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten lie in Einklang zu bringen, und die Bundeswehr beson- Kolleginnen und Kollegen! Der 44. Bericht des Wehrbe- ders auch für junge Menschen attraktiver wird. auftragten spiegelt ein ehrliches Bild der inneren Lage der Bundeswehr wider. Da es sich um einen Mängelbe- Durch die neuen Laufbahnen ergeben sich für die jun- richt handelt, zeigt er vor allem deutlich auf, welche De- gen Zeitsoldaten sehr rasche Aufstiegsmöglichkeiten, fizite innerhalb der Truppe bestehen. was teilweise dazu führt, dass ältere Soldaten vom Dienstgrad her überholt werden. Dies führt bei manchen Die Anzahl der Eingaben stieg im Jahr 2002 um rund altgedienten und lebensälteren Soldaten zu Vorbehalten 32 Prozent gegenüber dem Vorjahr an. Dieser Anstieg ist gegen die neuen Laufbahnen. Das Verteidigungsministe- darin begründet, dass sich die Bundeswehr im umfang- rium hat gehandelt und durch zusätzliche Planstellen (B) reichsten Reformprozess seit ihrem Bestehen befindet eine Entspannung erreicht. Wir sind hier noch nicht am (D) und gleichzeitig mehr Soldaten in Auslandseinsätzen ih- Ende. Ich denke aber, es wird auch in Zukunft so weiter- ren Dienst verrichten als jemals zuvor in der Geschichte gehen. der Bundesrepublik. Die Bundeswehr hat bewiesen, dass sie den erhöhten Anforderungen gewachsen ist. Den- Die unterschiedliche Besoldung in Ost und West noch ist es nicht zu vermeiden, dass es in bestimmten sorgt seit Jahren für Unmut in der Truppe. Die Mitglie- Bereichen Defizite gibt. Diese Defizite werden erkannt der des Verteidigungsausschusses und Minister Struck und wo immer möglich gelöst. sind sich darin einig, dass es zu einer schnellen Anglei- chung kommen muss. Wir alle wissen aber, dass es kein Das Beispiel des Feldlazarettes Rajlovac in der Nähe spezielles Besoldungsrecht für die Bundeswehr geben von Sarajevo zeigt, dass der Verteidigungsausschuss und wird das Verteidigungsministerium mit Kritik vonseiten des Wehrbeauftragten und der Soldaten sehr verantwor- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Leider!) tungsvoll umgegangen sind und weiterhin umgehen. Der und die Länder und Kommunen dieser Angleichung zu- aktuelle Bericht des Wehrbeauftragten weist deutlich auf stimmen müssten. Diese haben bereits signalisiert, dass die unzulängliche Infrastruktur im Feldlazarett es vor 2007 nicht dazu kommen wird. Deshalb appelliere Rajlovac hin. Die Kritik war bekannt. Es gab aber fi- ich von dieser Stelle aus an die Länder, zu prüfen, ob nanzpolitische Bedenken, ein neues Feldlazarett zu nicht bereits früher eine schrittweise Angleichung reali- bauen. Dank der geschlossenen Haltung des Verteidi- siert werden kann. Schließlich ist die Bundeswehr eine gungsministers und des gesamten Ausschusses konnten Armee der Einheit und außerdem vielfach eine Armee diese Bedenken zu guter Letzt ausgeräumt werden. In- im Einsatz. zwischen ist der erste Spatenstich erfolgt. Im nächsten Jahr wird das Feldlazarett mit einer modernen Infra- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ struktur unseren Soldaten, aber auch den Soldaten ande- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans Raidel rer Nationen, den Hilfsorganisationen und der Zivilbe- [CDU/CSU]) völkerung zur Verfügung stehen. Die Einsätze im Ausland sind oft mit großen Gefah- Ein wesentlicher Anlass zur Beschwerde im Sanitäts- ren verbunden. Wir haben noch die schrecklichen Ge- dienst war die individuelle Einsatzbelastung der Sanitä- schehnisse in Kabul vor Augen. Der Bericht des Wehr- ter. Auch hier wurde reagiert. Man hat das Splittingver- beauftragten zeigt, dass vor Ort notwendige Maßnahmen fahren für das sanitätsdienstliche Fachpersonal ergriffen werden, um den Schutz der Soldaten zu opti- konsequent beibehalten. Sicher kommt es noch immer mieren. Die Auslandseinsätze machen aber auch deut- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6509

Petra Heß (A) lich, dass unsere Soldatinnen und Soldaten Anspruch auf Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) die beste Ausrüstung haben. Nur dann sind sie den un- Das Wort hat nun die Kollegin Anita Schäfer, CDU/ terschiedlichen Gefahrenpotenzialen gewachsen. Dieser CSU-Fraktion. Anspruch hat bei Neubeschaffungen absolute Priorität. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Entwicklung und Be- Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): schaffung der neuen Einsatzfahrzeuge Spezialisierte Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Kräfte. Hier wird deutlich, dass kontinuierlich an Ver- ren! Verehrte Kollegen! Sehr geehrter Herr Penner, ich besserungen zum Schutz der Soldaten gearbeitet wird. danke Ihnen im Namen meiner Fraktion für Ihren Be- Bereits im nächsten Jahr werden die ersten ESK-Fahr- richt. Unser Dank gilt natürlich ebenso auch Ihren Mitar- zeuge in die Einsatzgebiete gelangen. Ich denke, das ist beitern und Mitarbeiterinnen. ein gutes Signal an die Truppe, aber auch an ihre Ange- hörigen. In diesem Jahresbericht 2002 haben Sie, sehr geehr- ter Herr Dr. Penner, auf zahlreiche Defizite in der Bun- Im Sommer dieses Jahres habe ich alle 23 thüringi- deswehr hingewiesen. Das ist eben die Natur eines schen Bundeswehrstandorte besucht. Nicht nur im Be- Mängelberichts. Die neue, von der Bundesregierung be- richt des Wehrbeauftragten, sondern in jedem dieser schlossene Reduzierung der Truppenstärke und die da- Standorte wurde von den Soldaten das Versorgungs- mit verbundene dritte Reform der zweiten Reform der recht im Auslandseinsatz angesprochen. Die bisherige ersten Reform werden die Anzahl der Eingaben wohl Unterteilung in qualifizierten und nicht qualifizierten auch in den nächsten Jahren auf einem hohen Niveau Dienstunfall wird als höchst unbefriedigend empfunden. halten. Dem kann ich mich nur nachdrücklich anschließen. Dan- kenswerterweise gibt es einen einstimmigen Beschluss Bedauerlicherweise wird von einer Reform in die des Verteidigungsausschusses und eine gute Vorlage des nächste gestolpert. Es fehlt Planungssicherheit; das Ministeriums, die weit reichende Verbesserungen für die spüren die Soldaten. Die Truppe braucht mehr innere Soldaten beinhaltet. Diese Vorlage befindet sich zurzeit Kontinuität, um ihre vielen und gefährlichen Aufträge zu zur Ressortabstimmung und ich erwarte – das sage ich erfüllen. Ich wünsche mir, dass mit den jüngsten Struk- an dieser Stelle mit allem Nachdruck –, dass die Ände- turentscheidungen die Phase der Stabilisierung erreicht rungen noch in diesem Jahr verabschiedet und mit einer wird. Die Soldaten im Einsatzland dürfen bei ihrem angemessenen Rückwirkung in Kraft treten werden. wichtigen und gefährlichen Einsatz nicht durch eine un- gewisse Lage in der Heimat verunsichert werden. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) (Beifall des Abg. Hans Raidel [CDU/CSU]) (B) Das sind wir den Soldaten, ihren Familien und ihren An- Der Gesamteindruck des Berichtes ist aber der einer ver- (D) gehörigen, die die Einsätze mittragen, schuldig. unsicherten Truppe, die in einem sehr schwierigen Um- bruch steckt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich feststellen, dass ich den steigenden Zahlen an Sehr geehrter Herr Dr. Penner, leider vermeiden Sie Eingaben durchaus auch Positives abgewinnen kann. es, aus den Elementen Ihres Berichtes ein Gesamtbild zu Dies zeigt, dass Soldaten Vorkommnisse nicht auf sich zeichnen. In der Pressekonferenz anlässlich der Vorstel- beruhen lassen oder ihre Vorgesetzten diese unter den lung Ihres Berichtes ging Ihre Analyse weiter. Zu Recht Teppich kehren, sondern dass sie diese unter Einbezie- forderten Sie von der politischen Führung Berechenbar- hung des Wehrbeauftragten ansprechen und publik ma- keit und Führungsverantwortung. Das möchte ich nach- chen. Damit unterstreichen sie, dass unsere Soldaten ver- drücklich unterstreichen; denn genau das fordere ich antwortungsvolle Staatsbürger in Uniform sind. auch. Das erwarten ebenso die Menschen in der Bundes- wehr. Die Mehrzahl der Soldatinnen und Soldaten fühlt (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sich einer politischen Führung ausgesetzt, die ihren Teil GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) an der Verantwortung für die Soldatinnen und Soldaten nicht ernst genug nimmt. Nur so können Fehlentwicklungen und Mängel in der Bundeswehr rechtzeitig erkannt und Konsequenzen ge- (Beifall bei der CDU/CSU) zogen werden. Viele Probleme der Soldaten entstehen an der Schnitt- Abschließend möchte ich dem Wehrbeauftragten stelle zwischen Militär- und Zivilleben, zum Beispiel in Dr. Penner und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Besoldungs- und Versorgungsfragen oder – das ist ganz für den kritischen, umfangreichen und fairen Bericht wichtig – im Familienleben der Soldaten, die sich in danken. Mein Dank gilt aber auch den Soldatinnen und Auslandseinsätzen befinden. Die Folgen der Trennung Soldaten für einen Dienst, den sie in einer sehr schwieri- von der Familie oder dem Lebenspartner sind schwer- gen Phase in hervorragender Weise tun. wiegend. Viele Beziehungen geraten in die Krise, Ehen scheitern. Besonders junge Partnerschaften stehen vor Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, danke ich für großen Problemen. Die dienstlichen Belastungen haben Ihre Aufmerksamkeit. für viele Zeit- und Berufssoldaten ein solches Ausmaß erreicht, dass sie vor der Frage „Dienst oder Familie?“ (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE stehen. GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) 6510 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) Dazu darf es niemals kommen. Das dienstliche Um- am Umgang mit ihren Angehörigen zeigt sich das wahre (C) feld muss so gestaltet sein, dass Familie nicht nur mög- Gesicht unseres Landes, das die Soldatinnen und Solda- lich ist, sondern bei unseren Soldatinnen und Soldaten ten gerne im Sinne des Wortes als Vaterland sehen. Das auch gefördert wird. Ich fordere daher den Bundesminis- dürfen wir nicht kleinkarierten, untergeordneten Behör- ter der Verteidigung auf, mit allen Mitteln zu verhindern, den überlassen. Das muss die Sorge des Parlaments sein. dass eine hohe Trennungs- und Scheidungsquote zum Kennzeichen für das Berufsbild des Soldaten wird. Die Bundeswehr ist eine Armee im Bündnis. Wäh- rend meiner Truppenbesuche bei multinationalen Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bänden mit dem Herrn Wehrbeauftragten habe ich mit der FDP) deutschen Soldaten gesprochen, die gemeinsam mit Sol- daten anderer Länder ihren Dienst leisten. Der volkstüm- Es muss klar sein, dass nicht nur Angebote der Bundes- liche Spruch „andere Länder, andere Sitten“ gilt auch für wehr bestehen. Familienbetreuung heißt, aktiv auf die Armeen. Besonders die Rolle der einfachen Soldaten, Angehörigen zuzugehen und sich um sie zu kümmern. der Mannschaftsdienstgrade, in manchen Armeen muss Dafür trägt die politische Leitung eine hohe Verantwor- nachdenklich stimmen. tung. Viele Eingaben an den Wehrbeauftragten zeigen, dass Nach vielen Gesprächen mit Soldatinnen und Solda- die Grenzen der materiellen wie auch der ideellen Be- ten aus multinationalen Verwendungen kann ich sagen: lastbarkeit der Streitkräfte erreicht sind. Die Kunde von Innere Führung als Markenzeichen deutscher Streit- dieser starken Belastung im Dienst dringt nach außen. kräfte muss erhalten bleiben. Sie wird von der Gesellschaft wahrgenommen. Diese (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie hohe Belastung schreckt wohl viele junge Menschen bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- vom Dienst in der Bundeswehr ab. Wenn aus Kosten- NISSES 90/DIE GRÜNEN) gründen zu wenig gepanzerte Fahrzeuge im Einsatzland sind, dann werden die eingesetzten Soldaten unnötigen Mehr noch, es muss im Zuge einer Europäisierung unse- Gefahren ausgesetzt. rer Streitkräfte auch eine Europäisierung der Grundsätze der inneren Führung stattfinden. Bei der deutsch-franzö- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sischen Brigade konnte ich feststellen, dass innere Füh- Der Anschlag in Kabul hat die Eingaben zu diesem Pro- rung nach mehr als zehn Jahren in der Brigade keine blem aus dem Jahr 2002 in schrecklicher Weise bestä- unbekannte Größe mehr ist. Innere Führung, das Be- tigt. Das Verteidigungsministerium darf nicht zulassen, kenntnis zum Staatsbürger in Uniform ist nicht Zeichen dass die Sicherheit der Soldaten gefährdet wird, weil einer schwachen Führung, ist keine Sache nur für Innen- (B) Ausbildung und Materialerhaltung zu kurz kommen. dienst und Manöver. Der Soldat im Einsatz muss als (D) Einsätze müssen sich an den vorhandenen Ressourcen Staatsbürger seinem Land dienen, er darf nicht zum ausrichten. Sie müssen sich aber auch an politischer Söldner werden. Machbarkeit orientieren. Zu einem ernsten Kapitel im Bericht des Wehrbeauf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tragten ist etwas positiv zu bemerken: Die Anzahl der neten der FDP) Vorfälle mit einem Verdacht auf rechtsextremistischen Hintergrund ist deutlich zurückgegangen. Ich zitiere: „In Zahlreiche Soldatinnen und Soldaten, die auf dem allen berichteten Vorfällen haben die Vorgesetzten Balkan im Einsatz waren, haben erhebliche Zweifel am schnell, umfassend und richtig reagiert.“ So weit die langfristigen politischen Ziel bekommen. Ähnliches Stellungnahme des Verteidigungsministeriums zum Be- zeichnet sich jetzt mit der Mission in Kunduz ab. Die po- richt des Wehrbeauftragten. Es gibt wohl keinen Bereich litische Glaubwürdigkeit des Mandates steht und fällt in der Gesellschaft, in dem Rechtsradikalismus und mit der Lösung der inneren Probleme Afghanistans. Ich Rechtsextremismus so konsequent verfolgt werden wie nenne beispielhaft die Drogenproblematik. Wie lange in der Bundeswehr. sollen unsere Soldaten dem Anbau von Drogen noch zu- sehen? Was passiert, wenn nicht mittelfristig afghani- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sche Polizei den Drogenanbau bekämpft? der Abg. Marianne Tritz [BÜNDNIS 90/DIE Die Rechtssicherheit der Soldatinnen und Soldaten GRÜNEN]) ist nur ein weiteres Feld, das die Soldaten mit Sorge zu Verglichen mit dem Anteil junger Männer in der Ge- Eingaben an den Wehrbeauftragten veranlasst. Die Bun- samtbevölkerung ist die Anzahl extremistischer Vorfälle desregierung muss ihre Hausaufgaben zur Rechtssicher- in der Bundeswehr kein Grund zur Sorge, wenn auch je- heit der Soldaten machen. Es darf nicht sein, dass Solda- der einzelne Vorfall einer zu viel ist. Der in der Presse ten ohne klare Rechtsgrundlage in den Einsatz gehen. erhobene Vorwurf, dass rechtsradikales und antisemiti- Ebenso ist die Anpassung des Soldatenversorgungsge- sches Denken bis in die Spitzen der Streitkräfte verbrei- setzes kein Privileg, sondern eine zwingende Notwen- tet sei, kann nicht stehen gelassen werden und sollte digkeit. Wenn der Tod und die Verwundung im Einsatz- nicht erhoben werden. Wer diesen Vorwurf unberechtigt land fast immer zum Rechtsstreit führen, dann verliert und pauschal erhebt, beschädigt das Ansehen der Bun- die Truppe ganz das Vertrauen in die politische Führung. deswehr. Dann kennt er die Bundeswehr nicht. Ich unterstreiche das noch einmal: Am Umgang mit un- seren im Einsatz gefallenen und verwundeten Soldaten, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6511

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) Wenn jedoch einem Soldaten eine solche Verfehlung sammenhang. In Zeiten der Modernisierung und Um- (C) vorgeworfen wird, dann müssen Vorgesetzte selbstver- strukturierung der Streitkräfte bei gleichzeitiger Interna- ständlich schnell und konsequent reagieren, aber auch tionalisierung von Aufträgen und Einsätzen verändert korrekt und rechtlich einwandfrei. sich das Anforderungsprofil von Soldatinnen und Solda- ten. Kommunikative und interkulturelle Kompetenz Ich komme zum Schluss. Der 44. Bericht des Wehr- gehören neben dem Beherrschen von Fremdsprachen beauftragten hat deutlich gezeigt, dass die Kluft zwi- immer mehr zur grundlegenden Qualifikation der Solda- schen politischem Anspruch, den vielen Aufträgen und tinnen und Soldaten von heute und morgen. Fremden- der Lage in der Truppe immer größer wird. Das gilt vor feindliche Einstellungen unter Angehörigen der Bundes- allem für die nicht ausreichende Ausstattung mit Haus- wehr würden somit die erfolgreiche Durchführung von haltsmitteln, sowohl für die gefährlichen Einsätze im multinationalen Einsätzen unmöglich machen. Mit dem Ausland als auch für den Dienst in der Heimat. Es bleibt Bericht können wir all denjenigen überzeugende Fakten zu hoffen, dass die bevorstehenden Reformen endlich entgegenhalten, die jetzt vor dem Hintergrund des Falles eine klare und langfristige Perspektive für die Soldatin- Günzel versuchen, die Bundeswehr insgesamt als einen nen und Soldaten der Bundeswehr schaffen. Hort des Rechtsextremismus zu diffamieren. Herzlichen Dank. Ein für mich sehr wichtiges Ergebnis des Jahresbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) richtes ist, dass sich das Prinzip der inneren Führung auch bei Auslandseinsätzen bewährt hat. Das Leitbild Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: der Staatsbürgerin und des Staatsbürgers in Uniform ist Ich erteile das Wort der Kollegin Marianne Tritz, Markenzeichen und Erfolgsgarant der Bundeswehr. Es Bündnis 90/Die Grünen. muss bei allen Veränderungen der Strukturen und Anfor- derungen an die Bundeswehr beibehalten werden. Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Jahresbericht dokumentiert außerdem die erhebli- Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Penner! Liebe chen Fortschritte bei der Integration von Soldatinnen Kolleginnen und Kollegen! Brigadegeneral Reinhard in die Bundeswehr. Der Frauenanteil ist zwar im Günzel hat der Bundeswehr mit seinem unsäglichen Un- Berichtszeitraum leicht gestiegen, liegt jedoch mit terstützungsbrief für den CDU-Abgeordneten Hohmann 3,97 Prozent aller Zeit- und Berufssoldaten zu niedrig. Schaden zugefügt. Die sofortige Entlassung Günzels Es bedarf weiterer Anstrengungen, den Bundeswehr- durch den Bundesverteidigungsminister war die einzig dienst für Frauen attraktiver zu gestalten, auch und ge- mögliche, folgerichtige Konsequenz – rade was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf an- geht. Darüber hinaus ist es notwendig, die existierenden (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (D) Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Und die Be- Probleme zu bekämpfen, zum Beispiel die in einzelnen gründung?) Fällen auftretenden frauenfeindlichen Äußerungen und Übergriffe weiter zu minimieren. eine Konsequenz, die wir bei Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU, im Umgang mit Ihrem Kollegen Die steigende Zahl der Auslandseinsätze führt zu ei- leider eine unerträglich lange Zeit nem Sinken der Familien- und Beziehungsverträglichkeit schmerzlich vermissen mussten. des Soldatenberufs insgesamt. Die Länge der Ausland- seinsätze ist ein erhebliches Hindernis bei der Nach- (Hans Raidel [CDU/CSU]: Mädchen, Mäd- wuchsgewinnung von Soldatinnen und Soldaten. Die be- chen, überleg mal ein bisschen!) reits vorgenommene Flexibilisierung ist ein erster Schritt Der vorliegende Jahresbericht 2002 verdeutlicht die zur notwendigen Überwindung des Dogmas der sechs- ganz besondere Bedeutung, die der Berichterstattung des monatigen Stehzeit. Höchst begrüßenswert ist in diesem Wehrbeauftragten als Stimmungsbarometer und Pro- Zusammenhang die Verbesserung und Aufstockung der blemindikator für die Bundeswehr zukommt. In dem Be- bestehenden 19 Familienbetreuungszentren für Angehö- richt für das Jahr 2002 heißt es, dass 111 besondere Vor- rige von Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz kommnisse mit Verdacht auf rechtsextremistischen oder sowie die Einrichtung weiterer neun solcher Zentren. fremdenfeindlichen Hintergrund gemeldet wurden. Da- mit ist das niedrigste Meldeaufkommen seit 1997 er- Sehr interessant ist der Vermerk des Wehrbeauftrag- reicht. ten über Klagen wegen mangelnder Wehrgerechtigkeit und geäußerten Zweifeln am Sinn der allgemeinen Das ist ein Erfolg der vielfältigen präventiven, aber Wehrpflicht. Wie Sie wissen, setzen sich die Grünen für auch repressiven Maßnahmen innerhalb der Bundes- die Abschaffung der Wehrpflicht ein und werden, wie in wehr. Der Fall Günzel ist in diesem Zusammenhang unserer Koalitionsvereinbarung festgelegt, im Lauf die- auch ein erneutes klares Signal an alle innerhalb und au- ser Legislaturperiode eine Überprüfung der Wehrverfas- ßerhalb der Bundeswehr: Rechtsextremismus hat in un- sung durchführen. serer Gesellschaft keinen Platz. Wer dieses Signal nicht beachtet, verliert seinen Platz in den Streitkräften. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir werden uns mit allen Mitteln für die Abschaffung sowie bei Abgeordneten der SPD) der Wehrpflicht einsetzen. Die Unverträglichkeit von Rechtsextremismus und (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Unseren Bundeswehr begründet sich auch aus einem anderen Zu- Anträgen zustimmen!) 6512 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Marianne Tritz (A) Ich komme zum Schluss: Der 44. Bericht des Wehr- verzichtet. Das ist ein alarmierendes Signal für die (C) beauftragten hat deutlich gezeigt, dass die Bundeswehr Attraktivität der Bundeswehr. Das können wir uns bei allen sich erheblich verändernden Bedingungen und überhaupt nicht leisten, egal ob man für eine Berufsar- ernsthaften Problemen ihre Aufgabe meistert. Die Solda- mee plädiert – ich danke Ihnen, Frau Tritz; hätten Sie tinnen und Soldaten wirken durch ihre vermehrten Ein- doch unserem Antrag zugestimmt – gaben als mündige Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in Uniform über die Institution des Wehrbeauftragten ak- (Beifall bei der FDP – Marianne Tritz [BÜND- tiv an der Gestaltung der Bundeswehr mit. Für Ihre NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war sehr begrün- wichtige und hervorragende Arbeit möchte ich Ihnen, det, dass wir das nicht taten, Frau Daub!) Herr Penner, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbei- oder ob man eine Wehrpflichtarmee will. tern im Namen meiner Fraktion herzlich danken. Damit komme ich zu den Petenten, die zu Recht die Vielen Dank. Wehrungerechtigkeit beklagen. Wenn behauptet wird, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass 96 Prozent der jungen Männer eines Jahrgangs und bei der SPD) erfasst würden – diese Zahl steht im Bericht des Wehr- beauftragten; in der Fernsehversion war sogar von Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: 98 Prozent die Rede –, dass also die Wehrgerechtigkeit im Vergleich zur Vergangenheit zugenommen habe, Das Wort hat nun die Kollegin Helga Daub für die dann muss man die Fakten klarstellen. FDP-Fraktion. Lassen Sie mich das an folgendem Beispiel erläutern: Helga Daub (FDP): Wenn sich eine Polizeibehörde entschließt, säumige Herr Präsident! Dr. Penner! Kolleginnen und Kolle- Zahler von Bußgeldern bis zu 15 Euro nicht mehr zu gen! Zum zweiten Mal debattieren wir heute über den mahnen, so wird sie anschließend mit Fug und Recht be- Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2002. Gerne haupten können, dass die Zahlungsmoral enorm gestie- wiederhole ich den Dank an Dr. Penner und seine Mitar- gen sei – und das mit einem bürokratischen Federstrich beiter für die Erstellung dieses Berichts und vor allem und ohne einen Euro mehr in der Kasse! für den Hinweis, dass die Bundeswehr kein Hort des (Günther Friedrich Nolting [FDP]: So ist das!) Rechtsradikalismus ist und dass dafür in der Bundes- wehr kein Platz ist. Wenn man die Tauglichkeitskriterien für die Wehr- (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ pflichtigen immer weiter heraufsetzt, dann bekommt CSU) man zwar nicht mehr Wehrpflichtige, aber die beeindru- (B) ckende Zahl von 96 Prozent. (D) Zu Recht werden in jeder Rede auch der Leistungs- wille und die Leistungsfähigkeit unserer Soldaten ange- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Genau so! sprochen. Umso wichtiger ist es, sich endlich den Pro- Schönrechnen! – Dr. Peter Struck, Bundes- blemen zu stellen, die im Bericht des Wehrbeauftragten minister: Was?) angesprochen werden. Wir entscheiden morgen in die- – Ich habe noch ein anderes Beispiel, Herr Dr. Struck. sem Haus über die Verlängerung des Mandats für die Wenn ich das aber nennen würde, wäre meine Redezeit Operation Enduring Freedom. Damit sind wir bei einem überschritten. Schwerpunktthema der Eingaben an den Wehrbeauftrag- ten. Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr wird (Dr. Peter Struck, Bundesminister: Lassen Sie der Handlungsbedarf besonders deutlich. Die Einsatz- es lieber weg! – Gegenruf des Abg. Günther dauer ist mit sechs Monaten zu lang. Der dreiwöchige Friedrich Nolting [FDP]: Das wird nicht auf Urlaub ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein und löst die Redezeit angerechnet!) letztlich nicht das Problem. Als im April dieses Jahres das erste Mal über den Be- (Beifall bei der FDP) richt des Wehrbeauftragten für das Jahr 2002 debattiert Die Abstände zwischen den Einsätzen sind viel zu kurz. wurde, habe ich – wie meine Kollegen aus der FDP- Der zugesagte Mindestabstand von zwei Jahren kann Fraktion schon oft zuvor – über den Missstand bei der nicht eingehalten werden, auf gar keinen Fall bei den Versorgung gesprochen. Zum Beispiel haben alle Frak- Spezialisten. tionen im Januar dieses Jahres in einer Sitzung des Verteidigungsausschusses angemahnt, die zynische Un- Die Soldaten klagen des Weiteren über die mangelnde terscheidung zwischen qualifizierten und nicht qualifi- Planungssicherheit, die ein hohes Konfliktpotenzial auch zierten Unfällen abzuschaffen. Das Jahr ist nun fast um für das familiäre Umfeld mit sich bringt. Natürlich weiß und dankenswerterweise gibt es inzwischen zumindest der Zeit- und der Berufssoldat, dass er mobil und flexi- eine großzügige Handhabung zugunsten der Betroffe- bel sein muss. Dass das jedoch nicht überstrapaziert wer- nen. Aber eine gesetzliche Regelung, die letztlich das den sollte, zeigt zum Beispiel Folgendes: Wegen der Einzige ist, was den Soldaten eine wirkliche Sicherheit Dauer und der zunehmenden Häufigkeit der Auslands- bietet, steht noch aus. Es kann doch nicht sein, dass zwar einsätze wird nach Ablauf der Verpflichtungszeit von ei- immer mehr Einsatz im wahrsten Sinne des Wortes ge- ner Weiterverpflichtung Abstand genommen, die Dienst- fordert wird, aber in einer so wichtigen Frage keine Eini- zeit verkürzt oder auf eine Übernahme als Berufssoldat gung in der Regierung erzielt werden kann. Ich fordere Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6513

Helga Daub (A) Sie auf, dieses Thema weiter hartnäckig zu verfolgen die Bereiche Material- und Ersatzteillage, Gestaltung (C) und zu einem guten Abschluss zu bringen. des Auslandsverwendungszuschlags und für die zweifel- los notwendigen Verbesserungen im Versorgungsrecht, (Beifall bei der FDP) gerade mit Blick auf die notwendige soziale Absiche- Natürlich kann ich aufgrund der kurzen Redezeit rung bei Einsatzunfällen. nicht auf alles eingehen, was an den Wehrbeauftragten herangetragen wurde. An der auch vom Wehrbeauftragten so eindringlich angemahnten Novellierung des Versorgungsrechts ar- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Schade!) beiten wir mit Nachdruck. Wir wollen sie unverzüglich zum Abschluss bringen. Wir danken für die Willensbe- Es gibt ja auch qualitative Unterschiede zwischen den kundungen aus den Reihen der Fraktionen. Wir werden Eingaben. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Soldat die Willensbekundungen in die interministeriellen Ab- durchaus ohne ein Piercing leben kann. Aber zurück stimmungen mitnehmen. Wir sind ein gutes Stück voran- zum nötigen Ernst: Lassen Sie uns zumindest die drin- gekommen: Es wird das Institut des Einsatzunfalles gendsten Probleme lösen, die sich aus den neuen Anfor- geben. Es wird auch beim Status – Zeitsoldaten, Berufs- derungen an die Bundeswehr ergeben. Wenn es um das soldaten oder freiwillig Wehrdienstleistende – keinen Wohl der Soldaten und Soldatinnen geht, haben Sie uns Unterschied mehr geben; wir werden gleich entschädi- auf Ihrer Seite. gen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Parla- Wie auch dieser Bericht des Wehrbeauftragten deut- mentarischen Staatssekretär Walter Kolbow das Wort. lich herausstellt, ist es eindeutig der Fall, dass der Transformationsprozess der Bundeswehr die zivilen Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär beim Bundes- wie die militärischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter minister der Verteidigung: vor große Herausforderungen stellt. Zugleich weist der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bericht des Wehrbeauftragten aber auch unmissver- Sprecherinnen der Fraktionen haben Ihnen, sehr geehrter ständlich darauf hin, dass es zu diesem Prozess in der Herr Dr. Penner, dem Wehrbeauftragten, sowie Ihren Bundeswehr keine ernsthafte Alternative gibt. In diesem Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu Recht gedankt. Ich Zusammenhang muss ehrlich gesagt werden, dass den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Uniform und ohne (B) darf mich diesem Dank, auch im Namen des anwesen- (D) den Bundesministers der Verteidigung, anschließen. Wir Uniform auch weiterhin Flexibilität abverlangt wird. danken Ihnen auch für die Art und Weise, wie Sie in die- Im Hinblick auf das unumgängliche Gebot der Wirt- sem Bericht die Leistungen unserer Soldatinnen und Sol- schaftlichkeit und der militärischen Effizienz werden daten im In- und Ausland herausstellen und würdigen. auch zusätzliche Standorte zur Disposition stehen. Wir Unverzichtbar ist auch, Ihnen dafür zu danken, wie Sie haben keine andere Wahl und wir werden noch eine ge- die Mängel, die es in dieser großen Institution immer raume Zeit Anpassungsprozessen, zu denen es keine Al- wieder gibt, ansprechen und wie Sie uns nachdrücklich ternative gibt, ins Auge zu sehen haben. Frau Kollegin zum Beseitigen derselben anhalten. Schäfer, wir stolpern dabei in der Tat nicht in etwas hi- Mein besonderer Dank gilt denjenigen, die im vergan- nein, sondern wir bereiten konzeptionell vor, setzen genen Jahr durch ihr Wirken und durch ihre Leistungen kommunikativ um und zählen dabei auch auf die Profes- zum positiven Erscheinungsbild der Bundeswehr nach sionalität unserer Soldatinnen und Soldaten sowie unse- innen wie nach außen beigetragen haben. Besonders rer zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. bitte ich Sie, mit mir derer zu gedenken, die im Auftrag (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des des Bundestages und damit im Dienst für unser Land ihr BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Leben verloren haben. Ihnen, ihren Angehörigen und all denen, die im Einsatz zu Schaden gekommen sind, gilt Auf deren Professionalität können wir uns verlassen. unser aufrichtiges Mitgefühl und unsere besondere An- Wir wissen auch, dass die Soldatinnen und Soldaten so- teilnahme. Was Sie, Frau Kollegin Schäfer, in diesem wie die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den An- Zusammenhang ausgeführt haben, möchte ich ausdrück- spruch haben, sich auf uns, auf den Minister sowie seine lich unterstreichen. sämtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bun- Das Bundesministerium der Verteidigung ist wie in deswehr, verlassen zu können. den Vorjahren bemüht, die wertvollen Anregungen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Hinweise des Wehrbeauftragten aufzugreifen und im BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Rahmen der Möglichkeiten unverzüglich umzusetzen. Wir arbeiten mit aller Kraft an der Beseitigung der auf- Bei der Bundeswehrreform stand von Beginn an der gezeigten Mängel. Dies gilt besonders für die im Bericht Mensch im Mittelpunkt. Wir haben sozialverträglich genannten Bereiche Attraktivitätsprogramm, Vereinbar- umgestaltet. Wir haben versucht, Mängel, die dabei auf- keit von Familie und Beruf, Dauer der Auslandseinsätze getreten sind – das kommt immer wieder vor –, rechtzei- und Ausbau der Familienbetreuung. Dies gilt ebenso für tig und nachhaltig zu beseitigen. 6514 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Parl. Staatssekretär Walter Kolbow (A) Das spiegelt sich auch in der jüngsten Weiterentwick- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) lung des Attraktivitätsprogramms wider. Das Attrakti- Ich erteile der Abgeordneten Petra Pau das Wort. vitätsprogramm konnte im letzten Jahr erfolgreich um- gesetzt und auch weiterentwikkelt werden: Petra Pau (fraktionslos): Trotz des plafondierten Haushalts in den Jahren 2002 Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bis 2004 werden wir mehr als 46 500 Planstellenverbes- diskutieren heute den Bericht des Wehrbeauftragten. Wir serungen erreichen, aus denen mehr als 64 000 Beförde- debattieren heute nicht über die Militärstrategie der Bun- rungen und Besoldungsverbesserungen folgen. Der Be- desrepublik und nicht über die Versuche der Bundesre- förderungsstau konnte damit abgebaut werden. Zu den gierung, in diesem Zusammenhang geltendes Recht zu umgesetzten Maßnahmen gehören unter anderem die unterlaufen. Ich stelle das trotzdem voran; denn nach Anhebung der Eingangsbesoldung für Mannschaften so- geltendem Recht ist der Einsatz von deutschen Krisen- wie die Besoldung der Kompaniechefs und Offiziere in unterstützungskräften im Irak rechtswidrig. vergleichbarer Dienststellung nach der Besoldungs- gruppe A 12. Die seit April 2002 neu gestaltete Lauf- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- bahn der Unteroffiziere führte zu einer Reduzierung der tionslos]) Mindestzeiten für eine Beförderung sowie zu einer Bün- delung von Dienstposten. Über diejenigen, die nun nicht Es ist sittenwidrig, wenn ein General der Bundeswehr befördert werden konnten, die also weiter anstehen müs- bei antisemitischen Ausfällen von Amts wegen salutiert. sen, haben wir am Mittwoch im Verteidigungsausschuss Damit bin ich bei einem zentralen Punkt. Bundesver- gesprochen. Frau Kollegin Heß hat schon erwähnt, dass teidigungsminister Struck hat den KSK-Chef Günzel wir weitere Planstellen zur Verfügung stellen und so in suspendiert, nachdem dessen rechtsextremistisches Ge- schwieriger Zeit zu Erleichterungen kommen werden. dankengut Schlagzeilen gemacht hatte. Auch bei der Schaffung eines Soldatengleichstel- (Ulrike Merten [SPD]: Vorher konnte er ja lungsgesetzes sowie bei der Ausgestaltung von Teilzeit- nicht!) dienst sind wir vorangekommen und schaffen damit zu- sätzliche Attraktivität. Herr Verteidigungsminister, Sie haben prompt gehan- Der Wehrbeauftragte hat in seiner heutigen Rede die delt, allemal schneller als die CDU/CSU im Fall Kürzung des Weihnachtsgeldes erwähnt. Das war aus Hohmann. Das respektiere ich. seiner Sicht selbstverständlich. Aus der Sicht von uns, Mich irritiert in diesem Zusammenhang etwas ande- die wir damit umzugehen haben, ist die Kürzung unum- res. Sie haben Ex-General Günzel beschrieben als einen (B) gänglich. Ich darf aber darauf hinweisen, dass die ge- untypischen Einzelgänger, der den Irrsinn eines Irren (D) plante Kürzung für die unteren Besoldungsgruppen in wirr kommentiert habe. Mit dieser Begründung haben enger Abstimmung mit dem Deutschen Bundeswehr- Sie sich zwischen Günzel und das eigentliche Problem Verband und mit den Fraktionen im Verteidigungsaus- gestellt. Ich habe Sie für weitsichtiger gehalten. schuss sozial abgefedert wird. Das bedeutet für Empfän- ger mit Grundgehalt nach den Besoldungsgruppen A 2 Wenn Ihre These zutrifft, wonach die Bundeswehr ein bis A 8 eine Erhöhung der gekürzten Sonderzahlung um Spiegelbild der Gesellschaft ist, dann haben wir es auch einen Festbetrag von 100 Euro. Von dieser Regelung mit der Tatsache zu tun, dass in eben dieser Gesellschaft profitieren in der Bundeswehr mehr als 150 000 zivile 20 Prozent der Menschen für rechtsextremistisches und und militärische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. antisemitisches Gedankengut anfällig sind. Das ist der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesellschaftliche Befund. Deshalb meine ich: Wenn DIE GRÜNEN) Günzel hier zum Einzeltäter erklärt wird, dann verdrän- gen wir. Genau das sollte weder Rot-Grün noch der Bun- destag insgesamt tun. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Staatssekretär, denken Sie bitte an die Zeit. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Hinzu kommt ein weiteres Problem: Noch immer tra- minister der Verteidigung: gen Kasernen die Namen von Wehrmachtsgenerälen. Lassen Sie mich zum Schluss in Kürze zusammenfas- Der Wehrbeauftragte hat von der Anziehungskraft ge- send noch etwas zu den aktuellen Dingen sagen. Wie der sprochen, die teilweise Waffen, Rituale und andere Wehrbeauftragte formuliert hat – wer könnte es besser Dinge auf junge, rechtsextremem Gedankengut nahe ste- sagen als er? –, ist die Bundeswehr – das kann ich auch hende Soldaten ausüben. Noch immer pflegen Einheiten aus meiner Erfahrung nachdrücklich unterstreichen – der Bundeswehr enge Kontakte zu Traditionsvereinen eine Armee in der Demokratie und für die Demokratie. der Wehrmacht. Genau dieses Erbe holt Rot-Grün nun Sie ist eine Armee der Toleranz. Sie schützt die Rechte auch mit der CDU-Affäre Hohmann ein. Andersdenkender. Mit diesem Beispiel ist sie in unserem Geist im Ausland und im Innern tätig. Dafür danken wir. (Ulrike Merten [SPD]: Sehr weit hergeholt!) So wollen wir weiterarbeiten. Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie woll- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ten dieses Erbe nie annehmen, aber Sie haben es auch GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) nach 1998, also seitdem Sie Verantwortung tragen, nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6515

Petra Pau (A) ausgeschlagen; so haben Sie zum Beispiel keine Namen und über die Leistungen, die sie für diese Gesellschaft (C) von Kasernen geändert. erbringen, anzustoßen. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- [fraktionslos] – Rainder Steenblock [BÜND- neten der FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Minister hat so- Sie müssten auch einmal dringend eine Antwort da- fort gehandelt!) rauf geben, welche Rolle unser Land in einer neuen Deshalb finde ich: Das schlichte Gebot im Bericht des Weltarchitektur überhaupt noch spielt. Hier vermissen Bundeswehrbeauftragten – Rechtsextremismus darf nir- wir jede nachvollziehbare Definition der Rolle unseres gendwo eine Heimstatt finden – muss allgemeiner Auf- Landes in einem sich wandelnden Bündnis und in einer trag bleiben. nach Finalität suchenden EU. Die Zukunft liegt nicht in der neuen Achse zwischen Paris, Berlin und Moskau, die (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Sie begründen wollen. Die Zukunft liegt auch nicht in tionslos] – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: neuen Kommandostrukturen, die außerhalb der NATO Linksextremismus auch nicht!) installiert oder gar gegen die NATO gerichtet werden. Da sollten wir auch bei diesen symbolischen Dingen be- Meine sehr verehrten Damen und Herren, nein, die Zu- ginnen. kunft kann nur in einer neuen Dimension der Zusam- menarbeit innerhalb der NATO liegen, in der wir selbst- Schließlich will ich aus dem Bericht des Wehrbeauf- bewusster Freund und Partner der USA sind. tragten kurz ein drittes Problem aufgreifen, welches hier heute schon eine Rolle spielte, nämlich die Tatsache, (Beifall bei der CDU/CSU) dass Ostdeutsche im Jahr 13 der Einheit noch immer Der Auftrag und die Zielsetzung des Dienstes in der benachteiligt werden, auch in der Bundeswehr, selbst im Bundeswehr müssen klar sein. Ich rufe Sie angesichts Kriegseinsatz. Das beginnt beim abgesenkten Sold und dieser Ausgangslage dazu auf: Lassen Sie uns dafür sor- endet längst nicht bei niedrigeren Renten. Sie wissen, gen, dass die Soldatinnen und Soldaten auch den ent- dass die PDS kein Freund von Militäreinsätzen ist und in sprechenden Stellenwert und die Anerkennung in unse- dem Fall auch nicht die Existenz der Bundeswehr vertei- rer Gesellschaft bekommen. Wir alle müssen definieren, digt. Hierbei geht es aber um soziales Unrecht; dagegen wie viel uns unsere Sicherheit wert ist. Ich meine, die sind wir. Bei der Beseitigung dieses Unrechts findet der Bundesregierung tut zu wenig für den Erhalt einer funk- Wehrbeauftragte auch bei uns Verbündete. tions- und einsatzfähigen Bundeswehr. Die derzeitige (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Politik gegenüber der Bundeswehr wird der Sicherheits- lage nicht gerecht. (B) tionslos]) (D) (Ulrike Merten [SPD]: Aber Sie!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Auf der einen Seite gibt es eine Rückführung des Vertei- Nun hat das Wort der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/ digungshaushalts, eine personelle und materielle Aus- CSU-Fraktion. zehrung der Truppe, und auf der anderen Seite befiehlt Rot-Grün eine noch nie dagewesene Zahl von Auslands- Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): einsätzen. Das passt nicht zusammen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch un- ser Dank gilt zunächst dem Wehrbeauftragten. Herr (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Penner, Sie leisten eine verdienstvolle Arbeit im Kollegin Schäfer hat sehr deutlich darauf Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten. Bei der Diskus- hingewiesen – auch Dr. Penner hat dies angedeutet; ich sion Ihres Berichtes stellt sich ja auch die Frage nach hätte in diesem Jahresbericht ein bisschen mehr Mut dem Stellenwert der Bundeswehr in unserer Gesell- erwartet –, was diese neuen Belastungsproben für die schaft. Wir schauen da nicht nur in Richtung der Bundeswehr und die Familien der Soldaten bedeuten; Generäle – ich sehe gar keinen –, die Truppe und ihre Familien seien an die Belastungs- (Zurufe von der CDU/CSU: Doch!) grenze gestoßen. Ich meine, dass wir inzwischen weit darüber hinausgegangen sind. sondern insbesondere in Richtung der Mannschafts- dienstgrade und der Unteroffiziere, also derjenigen, die Es gibt einen Eingabenzuwachs von 31 Prozent, ins- vor Ort ganz massiv gefordert und gefragt sind. besondere bei Soldaten im Auslandseinsatz. Der Aus- landseinsatz wird zwischenzeitlich zum Normalfall. Der Meine Damen und Herren, wenn ich sage, dass es Mindestabstand von zwei Jahren zwischen zwei Aus- auch um den Stellenwert der Bundeswehr in unserer Ge- landseinsätzen wird häufig nicht mehr eingehalten. sellschaft geht, dann lassen Sie mich auch festhalten: Si- Können Sie sich das überhaupt vorstellen? Steh- und cherheit ist die wichtigste Leistung, die die Bürgerinnen Abwesenheitszeiten von 180 Tagen haben sich zwi- und Bürger von ihrem Staat verlangen. Wir alle wissen, schenzeitlich auf 250 Tage verlängert. Die Soldatinnen dass sich die Bedrohungslage seit dem 11. September und Soldaten riskieren für 92 Euro pro Tag ihr Leben für 2001 dramatisch verändert hat. Deshalb müsste natürlich unsere Sicherheit. Auslandsverwendungszuschläge dür- auch dieser Bericht Anlass dazu sein, eine Debatte in un- fen deshalb nicht weiter abgesenkt werden. Das Versor- serer Gesellschaft über den Stellenwert unserer Soldatin- gungsrecht und die Versorgungsleistungen für Soldaten nen und Soldaten, über den Stellenwert der Bundeswehr und deren Familien in Auslandseinsätzen müssen – Frau 6516 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Gerd Müller (A) Schäfer hat dies dargestellt – dringend verbessert wer- rechtigkeit verwirklichen? Dies sind der Weg und das (C) den. Gebot in Richtung Auswahlwehrdienst. Es stimmt nachdenklich und es ist beschämend, dass, wenn es zu Unfällen kommt, quälende Diskussionen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: über die Versorgungsleistung für die Familien, die Ange- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des hörigen, stattfinden müssen. Das ist ein Indiz dafür, dass Kollegen Kolbow? wir nicht eindeutig hinter unseren Soldatinnen und Sol- daten im Auslandseinsatz stehen. Wenn wir sie in ge- Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): fährliche Auslandseinsätze befehlen, was Sie immer Gern. mehr wollen, müssen auch die notwendigen Vorausset- zungen dafür geschaffen werden. Walter Kolbow (SPD): Wir sehen deshalb mit großer Sorge – Herr Herr Kollege Müller, sind Sie bereit zur Kenntnis zu Dr. Penner, Sie haben das aufgelistet –, dass nach Ablauf nehmen, dass der Verteidigungsausschuss und das Bun- der Verpflichtungszeiten kaum noch Weiterverpflichtun- desministerium der Verteidigung in enger Abstimmung gen erfolgen. Das Bewerberaufkommen für die Offi- mit dem Bund der Radargeschädigten die Entschädigung zierslaufbahn ist erneut rückläufig. Es geht so weit, dass der Radaropfer vorangetrieben haben und dass bereits wegen Facharztmangels – ich nehme einmal den Sani- etwa 150 Fälle anerkannt wurden? Sind Sie ferner bereit, tätsdienst als Beispiel – Operationssäle geschlossen wer- die Ergebnisse, die die Radarkommission erzielt hat, an- den. Noch ganze 127 Verpflichtungen von Sanitätsärzten zuerkennen? Man kann also sagen, dass es keinerlei gab es im vergangenen Jahr. Die innere Lage der Bun- fahrlässigen oder vorsätzlichen Ausschluss von Aner- deswehr ist besorgniserregend. kennungen gibt. Dennoch werden weitere Belastungen beschlossen, als wäre dies alles nicht vorhanden. Der Bundesverteidi- Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): gungsminister hat Standortschließungen in großem Um- Ich nehme dies zur Kenntnis und stelle fest, dass Sie fang angekündigt. Das ist mit einer massiven Verunsi- meinen Ausführungen nicht gefolgt sind. Ich habe eben cherung der Truppe verbunden. Es werden weitere die großartige Leistung des Bundesverteidigungsminis- Reduzierungen des Personals durchgesetzt. Der neue teriums festgestellt – diese haben Sie gerade nochmals Einsatz in Kunduz, die Verlängerung von Enduring Free- bestätigt –, dass es Ihnen nach 30 Jahren gelungen ist, dom sowie die Bereitstellung und der Aufbau der nur 150 von noch 1 000 lebenden Radargeschädigten NATO-Response-Force sind neue Belastungen. Sie sa- – es sterben jährlich mehr Betroffene, als bisher als Op- (B) gen nicht, wie die Soldatinnen und Soldaten dies bewäl- fer anerkannt wurden – eine angemessene Versorgung (D) tigen sollen. zuzusprechen. Über die Höhe will ich überhaupt nicht reden. Diese Situation macht deutlich, dass Sie eine Lö- (Ulrike Merten [SPD]: Dann müssen Sie erst ein- sung des Problems nicht mit dem notwendigen Nach- mal den Kollegen Schäuble zurückpfeifen!) druck vorantreiben. Wenn Sie ein besonders hartes und exorbitantes Bei- (Widerspruch bei der SPD – Ulrike Merten spiel dafür genannt bekommen haben wollen, wie Sie [SPD]: Bitte? Das ist wirklich unfair! – Josef mit der Bundeswehr umgehen, dann muss ich auf das Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Thema der Strahlenopfer zu sprechen kommen. Es hat NEN]: Da musste erst ein SPD-Minister kom- mich sehr nachdenklich gestimmt, dass nach 30 Jahren men!) Kampf der Betroffenen – die meisten sind zwischenzeit- lich gestorben; eines der Strahlenopfer war bei mir im Ich glaube, damit ist der Sachverhalt geklärt. Büro – nun das Bundesverteidigungsministerium ent- schieden hat, dass von 1 000 Geschädigten tatsächlich Ich möchte weiter Stellung zu dem Thema Wehr- 150 mit einem Rentenversorgungsanspruch in Höhe von pflicht beziehen. Sie praktizieren den sanften Ausstieg etwa 150 Euro anerkannt werden. aus der Wehrpflicht. Sie verletzten damit ganz eklatant das Gebot der Wehrgerechtigkeit. Wenn ich die Situation Frau Kollegin von den Grünen, ein Wort zur Wehr- von heute fünf oder zehn Jahre in die Zukunft projiziere, pflicht: Sie waren und sind für die Abschaffung der dann muss ich sagen, dass Sie den Weg in Richtung Wehrpflicht. Vor zehn Jahren waren Sie für die Abschaf- Berufsarmee konsequent beschreiten. Diesen von Ihnen fung der Bundeswehr, für den Austritt aus der NATO eingeschlagenen Weg wollen wir nicht gehen, weil wir und Sie sind es natürlich nach wie vor. Sie treiben dies ihn für falsch halten. Er würde den Charakter der Bun- innerhalb der Koalition voran. Durch die Hintertür, auf deswehr und ihrer breiten Verankerung in der Gesell- sanfte Weise, erfolgt der Ausstieg aus der Wehrpflicht, schaft nachhaltig und grundlegend verändern. Den von Ihnen beschrittenen Weg halten wir für falsch. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aus welcher Mottenkiste ist denn (Beifall bei der CDU/CSU) das?) Im vergangenen Jahr stellten 189 000 Wehrpflichtige wenn Sie ankündigen, dass zukünftig nur noch einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Dies ist ein 50 000 Wehrpflichtige eingezogen werden sollen. Wie Höchststand. Dafür gibt es Gründe; einige habe ich wollen Sie angesichts einer solchen Zahl noch Wehrge- schon genannt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6517

Dr. Gerd Müller (A) Mit dem Ausstieg aus der Wehrpflicht und damit aus dauer von sechs Monaten ist einfach eine zu lange psy- (C) dem Ersatzdienst gehen Sie einen falschen, einen ver- chische Belastung für die Soldatinnen und Soldaten. hängnisvollen Weg. Die Bundeswehr hat große Aufga- ben zu bewältigen. Der Druck auf die Soldatinnen und (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Dann müs- Soldaten – sowohl physisch als auch psychisch – wird sen wir das ändern!) immer größer. Die Politik muss darauf reagieren, nicht – Darauf komme ich noch, Herr Nolting. – Die Soldaten nur durch eine bessere Ausstattung und ausreichende leben zum Teil in sehr beengten Verhältnissen. Nach Finanzen. Sie muss mit mehr Anerkennung und Achtung sechs Monaten auf einer Fregatte – wir haben uns kürz- für unsere Soldatinnen und Soldaten reagieren. lich davon überzeugen können – kennt man fast jede Vielen Dank. Schraube. Die Soldaten sagen uns, nach einem halben Jahr in Kabul bei Staub und Hitze seien sie auf Du und (Beifall bei der CDU/CSU) Du mit dem Fitnessgerät. Auch davon konnten wir uns in Kabul überzeugen. Noch am Tag des Abflugs nach Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Kabul hatten wir hier im Reichstag ein langes Gespräch Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat die mit vielen Frauen, Freundinnen und Eltern, die uns haut- Kollegin Hedi Wegener, SPD-Fraktion, das Wort. nah von ihren Problemen als Daheimgebliebene berich- tet haben. Hedi Wegener (SPD): Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und hat eine Untersuchung zu Auslandseinsätzen durchge- Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Penner, ich will Ihnen führt. Dabei wurde deutlich, dass für die Soldaten und und Ihren Mitarbeitern ausdrücklich für diesen ausführli- ihre Familien das Hauptproblem bei der Trennung nicht chen Bericht und für die klaren Worte, die Sie hier ge- die Einsatzdauer ist. Viele plädieren zwar für eine Ver- funden haben, danken. kürzung der Einsätze, aber ein Großteil der Soldaten und Es werden konkrete Mängel in der Bundeswehr und der Familien leidet schon unter der Trennung als solcher, konkrete Beschwerden der Soldaten aufgeführt. Das ungeachtet der Dauer. Dazu sage ich Ihnen: Dass die zeigt, dass es in Ihrem Hause viele Gespräche gegeben Soldaten unter der Trennung leiden, meine Herren, hat. Viele Eingaben wurden mit Akribie und Beharrlich- spricht eigentlich eher für sie. Denn wer Familie und Be- keit bearbeitet und recherchiert. Ich kann das gut sagen, ziehung nicht schätzt, bringt auch weniger Verständnis weil es auch in meinem Wahlkreis immer wieder Anfra- für die Leiden der Bevölkerung der Länder auf, in denen gen gibt und ich die Betroffenen sehr ermutige, sich an er Dienst tut. Daher würde ich mir viel mehr Sorgen ma- den Wehrbeauftragten zu wenden. chen, wenn unsere Soldaten in der Bundeswehr unter der (B) Trennung von ihren Familienangehörigen nicht litten. (D) Es ist – dies haben schon meine Vorredner gesagt – ein Mängelbericht und kein Gästebuch, in dem positive In der schon erwähnten Studie wurde ermittelt, dass Erlebnisse eingetragen werden. Ich teile die Ansicht der 15 Prozent der Beziehungen, überwiegend ohne Trau- Opposition, die sie im Ausschuss und auch hier geäußert schein, nach dem Einsatz auseinander gehen und 3 Pro- hat, überhaupt nicht, dass die Zahl der Mängel zugenom- zent der Ehen einen dauerhaften Knacks haben. Der Mi- men hat. Für mich ist die gestiegene Anzahl der Einsprü- nister der Verteidigung hat bereits Maßnahmen zur che ein Zeichen dafür, dass es sich herumgesprochen Flexibilisierung der individuellen Stehzeiten angeordnet, hat, wie intensiv sich der Wehrbeauftragte um die Anlie- Herr Müller. gen der Soldaten kümmert, und dass es sich lohnt, sich an diese Institution zu wenden. Diese Anfragen sind ein (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Soll ich Vertrauensbeweis. aufstehen?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Verfahren ist schon seit Juni in der Erprobung. Die DIE GRÜNEN) Soldaten können angeben, ob sie einen Einsatz splitten wollen, und dann wird geprüft, ob ein Splittingpartner Den größten Zuwachs gab es bei den Eingaben im zur Verfügung steht. Auch wenn das Verfahren erst in Zusammenhang mit Auslandseinsätzen, eine Steige- der Erprobungsphase ist, ermutige ich Sie ausdrücklich, rung von gut 100 Prozent. Die Zahl der Eingaben ist von Herr Minister, da weiterzumachen. Herr Müller, wenn 564 im Jahre 2001 auf 1 149 im Jahre 2002 gestiegen. Sie immer von A bis Z im Ausschuss wären, wüssten Sie Das ist mehr als verständlich, weil doch immerhin fast das auch. 14 000 Soldaten im Einsatz waren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unsere Soldatinnen und Soldaten haben in diesen DIE GRÜNEN) Jahren Herausragendes geleistet und tun es auch heute noch. Ihnen und ihren Familien an dieser Stelle herzli- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne chen Dank! Unsere Trauer gilt denen, die nicht nach Kastner) Hause gekommen sind. Ihnen und ihren Hinterbliebenen an dieser Stelle noch einmal unser Mitgefühl! Darüber haben wir einige Male diskutiert, das Ministe- rium und der Minister haben berichtet. Es ist klar. Im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen gehe ich auf einige Aspekte ein, weil sich zahlreiche Einga- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ich bin Mit- ben eben auf diese Einsätze bezogen. Eine Einsatz- glied in drei Ausschüssen!) 6518 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Hedi Wegener (A) Frau Schäfer, Sie haben gesagt, das Ministerium Eine ganz besondere Verantwortung tragen im Aus- (C) würde verantwortungslos mit dieser Frage umgehen. Ich landseinsatz die Vorgesetzten. Ihr Führungsverhalten, kann Ihnen versichern: Es geht schon verantwortungsbe- ihre soziale Kompetenz und ihr Verhältnis zu den Unter- wusst damit um. gebenen sind besonders wichtig. Für umso dringlicher halte ich es, dass sie bei diesen Fragen nicht allein gelas- (Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Zu der Vor- sen werden und dass sie konstruktive Kritik und Bera- gehensfrage weiß ich auch etwas anderes!) tung erfahren. Auf den besonderen Aspekt der Soldatin- nen und Soldaten im Auslandseinsatz, die sich die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frage stellen – Gestatten Sie eine Zwischenfrage? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Hedi Wegener (SPD): Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr! Von Herrn Nolting, ja. Hedi Wegener (SPD): Günther Friedrich Nolting (FDP): – „Was passiert, dann?“ . Frau Kollegin, wenn es so ist, wie Sie es beschreiben, und es ist ja so (Heiterkeit – Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dass Sie aufhören! – Hans (Ulrike Merten [SPD]: Gut, Herr Nolting! Raidel [CDU/CSU]: Weitermachen!) Prima!) wurde schon eingegangen – Moment, hören Sie erst einmal zu, Frau Merten –, wa- rum brauchen wir dann eine Erprobungsphase? Wir ha- Frau Pau, ich muss Ihnen sagen: Sie sind auf dem völ- ben Unterlagen des SOWI. Wir haben eine Anhörung im lig falschen Dampfer. Verteidigungsausschuss durchgeführt. Wir alle, die wir Truppenbesuche machen, erfahren von den Soldatinnen (Beifall bei der CDU/CSU) und Soldaten, dass die Einsatzzeiten zu lang und die Ein- Sie haben gesagt, Rechtsradikale hätten nirgendwo eine satzintervalle zu kurz sind, warum brauchen wir dann Heimstatt. Sie haben Recht: Sie haben auch in der Bun- noch eine Erprobungsphase? deswehr keine Heimstatt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abg. des Hedi Wegener (SPD): BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Herr Nolting, erst einmal vorweg: Das Sozialwissen- Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP]) (B) schaftliche Institut der Bundeswehr, das Sie angespro- (D) chen haben, hat sich in seiner Untersuchung ausdrück- lich auf KFOR-Soldaten bezogen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache. Es wird Regelungen geben, die eine Flexibilisierung manifestieren bzw. möglich machen. Die Erprobung ist Wir kommen jetzt zu der Beschlussempfehlung des Bestandteil dessen, was im Moment praktiziert wird. Verteidigungsausschusses zu dem Jahresbericht 2002 des Wehrbeauftragten, Drucksachen 15/500 und 15/1837. (Beifall bei der SPD) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- Ob das nun Erprobung, Einführung oder wie auch immer probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist heißt: Es wird praktiziert. mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das war aber Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: eine klare Antwort!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Die Betreuung der und die Fürsorge für die Soldatin- Kopp, Rainer Brüderle, Daniel Bahr (Münster), nen und Soldaten im Einsatz sind die eine Seite; die Fa- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP milien zu Hause sind die andere. Neben den Sorgen der Familien um ihre Angehörigen besteht das Problem der Stromrechnungen transparent gestalten praktischen Alltagsbewältigung. Aus diesem Grunde – Drucksache 15/761 – begrüße ich es, dass im letzten Jahr zehn Betreuungszen- Überweisungsvorschlag: tren hinzugekommen sind. Allerdings besteht das Pro- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) blem, dass in diesen Betreuungszentren nur vier haupt- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und amtliche Frauen arbeiten. Wenn ich mir die Redebeiträge Landwirtschaft heute vor Augen führe, ist es offensichtlich so, dass sich Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss die Frauen im Verteidigungsausschuss dieser Themen besonders annehmen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die es in den Betreuungszentren mehr Frauen gäbe. Denn sie Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei haben einen anderen Zugang zu den Problemen, die die die FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Familien vor Ort haben. Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- CSU und der FDP) gin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6519

(A) Gudrun Kopp (FDP): eben genannten Erneuerbare-Energien-Gesetzes und der (C) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Kraft-Wärme-Kopplung – KWK – sowie der Netznut- Liebe Kollegen und Kolleginnen! Sobald Sie sich nie- zungsentgelte ausgewiesen werden. Wenn wir das dergelassen haben, möchte ich Ihnen kurz den Inhalt des schafften – da müsste eigentlich das ganze Haus sehr ei- Antrags der FDP-Fraktion zum Thema „Transparenz nig sein –, dann brauchten wir kaum noch das häufig von und Information bei Strompreisen“ erläutern. Wir wollen Frau Künast gefeierte Verbraucherinformationsgesetz. Verbraucher in die Lage versetzen, ihr Recht auf Wahl- Vielmehr hätten wir dann in Praxis Transparenz und freiheit wahrzunehmen. Dieses Recht ist derzeit nur Verbraucherinformationen. Damit hätten wir den Ver- schwer umzusetzen, weil es für den Normalverbraucher braucher zu einem mündigen Bürger gemacht, der sich sehr schwierig ist, zu unterscheiden, wer an welcher seine Stromlieferanten aussucht, und zwar nach strengen Stellschraube an den Preisen dreht. Das ist in erster Linie Kosten- und Effizienzkriterien und nicht nach ideologi- die Politik, wie ich Ihnen gleich erläutern werde. schen Vorgaben. Wir haben es aufgrund des Erneuerbare-Energien-Ge- Ich glaube, das wäre ein großer und guter Schritt hin setzes, der Kraft-Wärme-Kopplung, der KWK, und der zu mehr mündigen Verbrauchern. Ich gehe davon aus, so genannten Einspeisungsvergütungen – ich meine die dass im Rahmen der Beratungen das gesamte Haus unse- Vergütungen, die die Netzbetreiber aufgrund der beste- rem Antrag zustimmt. henden Gesetze zu zahlen haben – mit enormen Über- wälzungen von Kosten auf die Verbraucherpreise zu Vielen Dank. tun. Zusammen mit der Ökosteuer sind die Strompreise (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auf diese Weise schon heute zu 40 Prozent belastet und die Gaspreise zu rund 30 Prozent politisch verursacht. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aber über diese Tatsache weiß der Verbraucher nichts oder nur sehr wenig. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Berg, SPD- Fraktion. Er weiß auch gar nichts darüber, dass im kommenden Jahr im Rahmen der Novellierung des EEG Dr. Axel Berg (SPD): 1,6 Milliarden Euro für die Förderung der Biomasse so- wie die erst heute diskutierte Ausweitung der Subventio- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nen für die Solarenergie hinzukommen – eine enorme Kollegen! Die jüngsten Stromausfälle in den USA und Kostenbelastung. auch bei uns in Europa haben gezeigt, dass sich eine si- chere Stromversorgung nicht allein über den Preis defi- Wenn Sie heute Morgen die Debatten zu den Themen niert. Dies sollte uns allen Warnung und Mahnung dazu (B) „erneuerbare Energien“ und „Allokationsplan“ verfolgt sein, die künftige Struktur der Stromversorgung nicht al- (D) haben, haben Sie sicher auch mitbekommen, dass die lein dem Markt zu überlassen. Denn der Markt fragt in Einführung der Härtefallregelung eine weitere Proble- seiner heutigen Form allein nach den kostengünstigsten matik verursacht hat. Diese Regelung entlastet nur einen Erzeugungsarten. Teil der Industrie. Der Verbraucher trägt wiederum die Hauptlast. In ihrem Antrag, der übrigens schon in der letzten Le- gislaturperiode gestellt und abgelehnt wurde, Durch die Liberalisierung des Energiemarktes, die 1998 CDU/CSU und FDP initiiert haben, ergab sich eine (Marita Sehn [FDP]: Jetzt können Sie langsam Kostenentlastung von 7,5 Milliarden Euro. Diese Kos- zustimmen!) tenentlastung für die Verbraucher ist inzwischen völlig sagen die Kolleginnen und Kollegen von der FDP – das weg. Die Strompreise liegen im Augenblick in etwa wie- scheint als Vorwurf gemeint zu sein –, der Strompreis sei der auf gleicher Höhe wie vor der Liberalisierung. Das ein politischer Preis. ist alles andere als verbraucherfreundlich. (Zurufe von der FDP: Das ist er auch!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Sie haben Recht; auch ich denke, es ist ein politischer Nun hört man immer wieder, bei den EEG- und Preis. KWK-Kosten handele es sich nicht um staatliche Sub- ventionen. Das ist eine Mogelpackung. Es wird ver- Selbstverständlich ist der Strompreis ein politischer schwiegen, dass die Stromverbraucher die Rechnung be- Preis. Das war auch schon immer so. Es war stets im In- kommen und den Aufpreis bezahlen. Hier herrscht teresse des Gemeinwohls, Energiebereitstellung und die einfach eine sehr große Intransparenz. Allen denjenigen, entsprechende Infrastruktur zu fördern. Beispiele, die die immer für Verbraucherinformationen und Verbrau- dies belegen, sind der Straßenbau bei der Einführung des cheraufklärung plädieren, sollte es eigentlich sehr leicht Automobils, die Kohleförderung, die es bis heute noch fallen, dem Antrag der FDP-Fraktion zuzustimmen. gibt, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sind Sie be- der CDU/CSU) reit, aus der Kohleförderung auszusteigen?) Wir fordern nämlich ganz einfach, dass auf Strom- und der Bau von Atomkraftwerken. Ich habe auch ein rechnungen künftig genau die Anteile der Mehrwert- wunderschönes Beispiel aus der Jetztzeit: Bis gestern ha- steuer, der Ökosteuer, der Mehrkosten aufgrund des so- ben 13 000 Beamte von Polizei und Bundesgrenzschutz 6520 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Axel Berg (A) den Transport von zwölf Castorbehältern von Frank- Im Übrigen bestand auch in der Energie-Enquete- (C) reich nach Lüchow-Dannenberg gesichert. Kommission – inklusive der FDP –, die in der letzten Legislaturperiode getagt hat, Konsens darüber – das ist (Marita Sehn [FDP]: Das sind doch Ihre auch im Bericht der Kommission nachzulesen –, dass für Freunde! Da sollten Sie sich hier nicht be- die Realisierung einer langfristigen Umstrukturierung schweren!) der Energiewirtschaft ein aktiver Staat als Wettbe- Allein die deutschen Steuerzahler kostet das ungefähr werbshüter und als Gestalter des Transformationsprozes- 25 bis 30 Millionen Euro. In welcher Rechnung tauchen ses unverzichtbar ist. denn diese Kosten auf? (Beifall der Abg. [SPD]) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Fragen Sie So führen wir zum Beispiel durch das Erneuerbare-Ener- doch mal Herrn Trittin!) gien-Gesetz die erneuerbaren Energien langsam an den Markt heran. Ohne das EEG hätten die erneuerbaren Sie tauchen jedenfalls nicht bei den Verbrauchern auf der Energien zurzeit keine faire Chance, da eine Internalisie- Stromrechnung auf. Das sind indirekte Subventionen der rung der Umweltkosten bei fossilen Energien nicht wirk- Atomkraft und damit politische Kosten. Schade eigent- lich stattfindet. Ich bin davon überzeugt, dass sich die er- lich, dass Sie dagegen noch nie Ihre Stimme erhoben ha- neuerbaren Energien ganz ohne Förderung, also ohne ben, wenn Sie doch so sehr für unverfälschte Märkte offene und versteckte Subventionen, wie es sie bei sind. Kohle, Öl oder Atomkraft gibt, durchsetzen würden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Rezzo (Marita Sehn [FDP]: Oder bei der Wind- Schlauch [Parl. Staatssekretär]: 10 Milliarden energie!) direkte!) – Jawohl, Frau Sehn. Ich glaube, auch die Windenergie Die Bereitstellung von Energie – ob für Industriali- würde sich ohne Förderung problemlos auf dem Markt sierung, für Mobilität oder für Beschäftigung – ist der durchsetzen, wenn die anderen Energieformen, die Kon- erste Schritt jeder Wertschöpfungskette. Dieser Zusam- kurrenzenergieformen, nicht versteckt und direkt sub- menhang ist älter als wir alle zusammen. Ich gebe Ihnen ventioniert würden. in dem Punkt Recht, dass der Wettbewerb auf dem Strommarkt stockt. Ich gehe sogar noch weiter: Wirkli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des cher Wettbewerb findet auf dem Strommarkt überhaupt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht statt. Das ist schlecht und falsch. Doch der Schluss, Meine Damen und Herren, das Hauptargument gegen den Sie daraus ziehen, ist leider auch falsch, dass wir die erneuerbaren Energien wird oft in der mangelnden (B) (D) nämlich einen funktionsfähigen Wettbewerb allein dann Wirtschaftlichkeit gesehen. Dabei wird aber nur auf die bekommen, wenn wir die Mehrwertsteuer oder die Kos- Kosten im betriebswirtschaftlichen Sinne Bezug genom- ten für Messen und Abrechnen auf der Stromrechnung men. Die gesamtgesellschaftlichen und sozialen Kosten ausweisen. Daran glauben Sie doch ernsthaft selber – hierbei denke ich insbesondere an die später notwendig nicht. Ansonsten könnte ich im Prinzip im Restaurant werdenden Umweltreparaturkosten, die vor allem auf auch fragen, wie viel Prozent meines Rechnungsbetrages die nächsten Generationen zukommen – werden völlig eigentlich der Koch bekommt oder wie viel für die Miete vernachlässigt. Das weltweite Energiesystem wird sich draufgeht. Mich als Restaurantbesucher sollte doch viel- nur dann in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln, wenn mehr interessieren, woher der Wirt seine Waren bezieht, die Energiepreise auch eine ökologische Wahrheit abbil- woher das Fleisch kommt und unter welchen Bedingun- den. gen das Gemüse angebaut wird. Belastet das Essen meine Gesundheit oder gar die Umwelt, die nicht nur (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) mir, sondern allen gehört? Ich gebe allerdings zu, dass dies methodisch nicht ein- fach ist. Genauso sollte es auch beim Strom sein. Beim Strom sollte uns interessieren: Wird ein Teil des von mir ver- Darum ist es letztlich gerechtfertigt, Strom aus erneu- brauchten Stroms durch Atomkraft gewonnen? Wie viel erbaren Energien durch das EEG mit einer erhöhten Ein- Prozent werden in Braunkohlekraftwerken oder durch speisevergütung zu versehen. Um den Effizienzdruck die Nutzung erneuerbarer Energien hergestellt? Wie viel zu erhöhen und damit sich die Erzeuger von erneuerba- CO2 wird dabei freigesetzt? All diese Informationen ren Energien nicht allzu wohl fühlen, ist eine degressive werden wir ab dem 1. Juli kommenden Jahres auf unse- Vergütung eingerichtet worden. So haben wir ein Instru- rer Stromrechnung finden, und zwar sowohl was klima- ment installiert, das den Strom aus erneuerbaren Ener- schädliche CO2-Emissionen betrifft, als auch was radio- gien immer billiger macht. Auch wir befürworten doch aktiven Abfall betrifft, der in unseren Atomkraftwerken eine ganz starke Transparenz am Energiemarkt. Ich be- anfällt. Uns muss es doch um die strukturelle Sicherstel- grüße ausdrücklich, dass die uns nun vorliegende EEG- lung eines wirklichen Marktes gehen. Gleichzeitig wol- Novelle, über die wir heute Vormittag debattiert haben, len und müssen wir uns auch künftig politische Steue- darauf in § 15 in ganz besonderem Maße eingeht. Dabei rungsmöglichkeiten erhalten, schon allein aus dem geht es um die Glaubwürdigkeit des Wettbewerbs, um einfachen Grund, dass wir anderenfalls unseren interna- die Verbesserung der Wahlrechte der Kunden. Ganz ent- tionalen Verpflichtungen bezüglich der CO2-Minderung scheidend ist uns die Stärkung einer Politik für eigenver- nicht nachkommen könnten. antwortliche Verbraucher. Verbraucherschutz heißt doch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6521

Dr. Axel Berg (A) für uns und für Sie hoffentlich auch, dass auch an die – Klar, das kann manche stören. (C) Verbraucher der Zukunft gedacht wird. Wir müssen auch weiterhin ein verlässliches, wirt- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schaftliches und vor allem nachhaltiges Energieversor- gungssystem gewährleisten. Ein großer Teil der alten Es gibt durchaus eine gewisse Übereinstimmung mit Stein- und Braunkohlekraftwerke wird in den nächsten dem liberalen Lager in der Einschätzung der Lage am 20 Jahren ersetzt werden müssen. Die Leistung der Strommarkt, doch wir sehen die Lösung woanders. Für Atomkraftwerke, die heute knapp 30 Prozent des deut- die Versorgungssicherheit und die Versorgungszuverläs- schen Stroms erzeugen, wird ebenfalls ersetzt werden sigkeit spielt die Ausgestaltung der Energiemarktlibera- müssen. Im Vorgriff auf die Entwicklung der Erzeu- lisierung eine ganz wichtige Rolle. Der Versuch, es der gungskapazitäten müssten wir jetzt die Pflöcke einschla- Energiewirtschaft selbst zu überlassen, Spielregeln für gen. Das bedeutet einen weiteren Ausbau der erneuerba- einen fairen Handel festzulegen, kann als gescheitert be- ren Energien. Die zentralisierten Angebotsstrukturen trachtet werden. Auch Jahre nach der Liberalisierung sind durch dezentrale Optionen zu ergänzen. Die Markt- kann von echtem Wettbewerb keine Rede sein. Diejeni- durchdringung von Kraft-Wärme-Kopplung ist durch die gen, die zu Monopolzeiten das Sagen hatten, bestimmen Sicherung eines fairen Marktzutritts zu fördern. Des auch heute den Wettbewerb. Weiteren müssen wir an der Stärkung der Energieeffizi- enz arbeiten. Angesichts dieser Entwicklung auf den Energiemärk- ten – ich meine hier vor allem die Konzentrationstenden- Diesen Herausforderungen wollen wir uns stellen. zen hin zu wenigen großen Energiekonzernen – sollte Wir alle sollten diesen Umstand auch als Chance begrei- nun zügig die Verbesserung der Marktzutrittsbedin- fen, die Energiewende voranzubringen und zu befesti- gungen für neue Akteure betrieben werden. Für die gen. Gewährleistung von Versorgungssicherheit und Durch- setzung eines fairen Wettbewerbs in Deutschland sind Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihr nach unserer Auffassung das konsequente Unbundling Antrag unterstützt durchaus die Bemühungen der Bun- der Netze von anderen Energiemarktaktivitäten – Strom- desregierung und der Regierungskoalition. Sein Neuig- erzeugung, Stromnetze und Stromvertrieb sollen also un- keitswert ist logischerweise begrenzt, da Sie ihn schon abhängig voneinander koexistieren –, einmal vor zwei Jahren eingebracht haben. (Marita Sehn [FDP]: Er ist immer noch (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Machen Sie wichtig!) doch das Gesetz endlich einmal!) Durch die in der Zwischenzeit erfolgte Entwicklung ist (B) die Verbesserung des Netzzugangs und damit die Absi- Ihr schöner Antrag zum großen Teil überholt. Ökolo- (D) cherung einer ausreichenden Akteursvielfalt in der gische Aspekte, mit denen sich vor allem die Nachwelt Stromerzeugung, die Etablierung einer kostenorientier- herumschlagen muss, blendet die FDP in traditioneller ten Netzregulierung, die gleichzeitig verbindliche Stan- Manier leider einfach aus. Allein deshalb können wir Ih- dards für Netzinvestitionen setzt, sowie die Schaffung rem Antrag nicht zustimmen. einer durchsetzungsfähigen Regulierungsbehörde erfor- derlich. Mit Letzterem sind wir gerade befasst. Von einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ solchen Regulierungsbehörde erwarten wir, dass sie dem DIE GRÜNEN) Missbrauch von Marktmacht entgegenwirkt. Wir erwar- ten die Durchsetzung eines diskriminierungsfreien Netz- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zugangs mit preisgerechten und nachvollziehbaren Netz- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Fuchs, nutzungsgebühren. Vor allem an diesem Punkt werden CDU/CSU-Fraktion. wir auf Transparenz drängen. Ziel unserer Politik bleibt eine sichere, nachhaltige Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): und ökonomische Versorgung mit Energie. Das ist für Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und uns Grundlage für Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Beschäftigung. Auch nach der Liberalisierung überlas- Herr Berg, einiges von dem, was Sie gerade angespro- sen wir es nicht dem Markt allein, über den künftigen chen haben, haben Sie bereits gestern im Ausschuss ge- Energiemix zu entscheiden. Beispielsweise ist es uns sagt. Es ist typisch: Sie wollen dem Verbraucher keine gelungen, den Anteil der erneuerbaren Energien an Klarheit geben und ihm nicht sagen, was wirklich hinter der gesamten Stromerzeugung in den letzten Jahren den Stromrechnungen steckt. Deswegen werde ich im enorm zu steigern. Dies wäre sicherlich nicht passiert, Einzelnen darauf eingehen. wenn man den Markt allein alles hätte regeln lassen. Durch das EEG haben wir eine Steigerung der erneuer- Ich fordere für den Verbraucher: Klartext auf der baren Energien auf über 8 Prozent erreicht. Dagegen ha- Stromrechnung! Das ist angesichts des nunmehr seit fünf ben Sie doch hoffentlich auch nichts, liebe Kolleginnen Jahren liberalisierten Strommarktes für mich ein dringli- und Kollegen. ches Anliegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Marita Sehn [FDP]: Doch! Ich habe schon et- was gegen die Windräder! Kommen Sie mal An jeder Tanksäule können Sie lesen, wie hoch der zu mir, dann zeige ich Ihnen die Windräder!) Staatsanteil beim Kraftstoff ist. Warum soll das so nicht 6522 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Michael Fuchs (A) auch beim Strom sein? Wir müssen dem Bürger sagen, mal die Grünen häufig über Verbraucherschutz sprechen. (C) was Sie ihm aus der Tasche ziehen. Das könnte zu Re- Dabei sehe ich den Kollegen Winkler an, der in meinem volten führen. Davor haben Sie Angst. Das ist ein Effekt, Wahlkreis permanent davon erzählt. den Sie sich nicht wünschen; davon bin ich überzeugt. Redet man von Netznutzungskosten, so muss natür- Deswegen wollen Sie keine Klarheit herbeiführen. lich berücksichtigt werden, dass die Stromnetze natürli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rolf che Monopole darstellen und dass dadurch der Wettbe- Hempelmann [SPD]: Der weiß gar nicht, dass werb teilweise eingeschränkt wird. das alles schon drauf ist!) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der Wettbewerb stockt vielerorts. Den Bürgern fällt NEN]: So ist es!) es mangels Information schwer, das preisgünstigste An- Wir sind deswegen sehr gespannt, Frau Hustedt, wann gebot auszuwählen. Die Kollegin Kopp hat vollkommen die Bundesregierung endlich den Vorschlag für den Recht: Wir müssen endlich dafür sorgen, dass der Wett- neuen Entwurf des Energiewirtschaftsgesetzes vorlegt, bewerb durch den Verbraucher angestoßen werden in dem die Regulierung des Netzzuganges so vorgesehen kann. Das wünsche ich mir jedenfalls sehr. Wenn die ist, dass es für jeden verständlich ist. Sie haben durchaus Stromrechnung nach Netznutzungskosten, Kosten für Zeit gehabt und viele Mitarbeiter in den Ministerien ste- Erzeugung und Vertrieb und für Messung und Abrech- hen Ihnen zur Verfügung. Geschehen ist bis jetzt aber nung, Öko- und Mehrwertsteuer sowie Umlagen aus nichts. KWKG und EEG aufgeschlüsselt wäre, hätte das die Auswirkung, dass der Bürger automatisch völlig anders Wir wissen, warum die Bundesregierung zögerlich reagieren würde. vorgeht. Dass diese Wettbewerbsnachteile von den ein- zelnen Bürgern nicht verstanden werden, liegt für mich Bei diesem Thema geht es um die Schaffung von an den Verfehlungen der rot-grünen Energiepolitik. Sie mehr Wettbewerb – das ist das zentrale Ziel – und damit wollen diese Transparenz natürlich nicht. um die Wiederbelebung der in Unionszeiten erfolgreich begonnenen Strom- und Gasmarktliberalisierung. (Rolf Hempelmann [SPD]: Sie unterschätzen die Bürger!) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das waren noch Zeiten!) Der Liberalisierungseffekt von 1998 ist in den fünf Jah- ren interventionistischer Energiepolitik konterkariert Der Anstoß hierzu war 1997/1998 die Elektrizitätsbin- worden. Die Investitionen in Deutschland bleiben aus nenmarktrichtlinie der EU. Wir haben am 24. April und seit 1998 steigen die Steuern und Abgaben kontinu- 1998 ein vernünftiges Energiewirtschaftsgesetz verab- ierlich. Herr Berg, Sie haben eben gesagt, dass Sie das (B) schiedet, das durch eine Absenkung der Preise zu einem (D) auch wollen. Dann wollen wir das den Bürgern auch klar vernünftigen Preisniveau geführt hat. machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Marita Sehn [FDP]: Das wollen wir ihnen sa- Diese Absenkung, meine Damen und Herren von der gen, damit ihnen das auch klar wird!) Koalition, haben Sie rückgängig gemacht. Die Staatsbelastung der Energiepreise führt heute (Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär: Nach dazu, dass Investitionsentscheidungen des produzie- uns die Sintflut!) renden Gewerbes gegen den Standort Deutschland aus- fallen. Doch wegen der mangelnden Preistransparenz stockt jeglicher Wettbewerb. Die Verbraucher können (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- die Preise und die Tarifgestaltung nicht mehr nachvoll- wie bei der FDP) ziehen. Sie werden deswegen auch nicht dafür sorgen, Der Kollege Laumann hat aus seinem eigenen Wahlkreis dass es zu einem ausreichenden Wettbewerb kommt. Nur ein Textilunternehmen benannt, bei dem genau das ge- Wettbewerb schafft Transparenz; das ist eine Tatsache, die Sie auf allen Märkten der Welt nachvollziehen kön- schieht. Die Investitionsentscheidungen fallen dort eben nen. Nur Transparenz wiederum schafft günstigere nicht mehr für den Standort Deutschland aus, wodurch Arbeitsplätze gefährdet werden. Energiepolitik ist Ar- Preise für den Verbraucher. Ich habe aber das Gefühl, dass Sie das gar nicht wollen. beitsmarktpolitik – das müssen wir im Zusammenhang sehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Als Beispiel kann man auch die Diskussion über den Es kann nicht sein, dass nur 3 Prozent der privaten Chemiestandort Wilhelmshaven nennen, der sich eta- Haushalte durch Wechsel des Stromlieferanten vom blieren sollte. Nichts ist passiert. Ein einziges Unterneh- Wettbewerb profitieren. Woran liegt das? Das liegt da- men hat das Ganze einmal durchgerechnet. Für dieses ran, dass keine Informationen verfügbar sind. Unternehmen hätte nur die EEG-Umlage Mehrkosten beim Strom in Höhe von 2,5 Millionen Euro bedeutet. (Rolf Hempelmann [SPD]: Sie wissen es doch Die Folge war: Der Standort wurde nicht aufgebaut, er besser, Herr Fuchs! Gucken Sie in Ihre Strom- befindet sich mittlerweile im Ausland. Das ist die Folge rechnung!) Ihrer verfehlten Energiepolitik; das müssen wir sagen. Diese zur Verfügung zu stellen müsste ein gemeinsames Das muss deutlich werden. Deswegen bin ich auch da- Ziel und im Interesse der Verbraucherschützer sein, zu- für, dass wir dies in jedem Bereich klar machen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6523

Dr. Michael Fuchs (A) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- „Strom so teuer wie zu Beginn der Marktöffnung“ – (C) NEN]: Darum geht es! Nicht um Transpa- so oder so ähnlich sind heute die Schlagzeilen in den renz!) Zeitungen. Von einem weiteren Anstieg der staatlichen Belastungen in den nächsten Jahren ist auszugehen. – Frau Hustedt, diese verfehlte rot-grüne Energiepolitik führt dazu, dass der Standort Deutschland nicht mehr Die Bundesregierung hat den Ausbau der erneuerba- wahrgenommen wird. Für die privaten Verbraucher ist ren Energien lauthals angekündigt. Ohne gesetzliche Än- das aber nicht so einfach. Sie können den Standort nicht derungen, also ohne dass beim EEG jetzt etwas ge- einfach wechseln; sie sind an den Standort gebunden. schieht, würden nach wissenschaftlichen Berechnungen Für sie muss die Belastung deshalb klar und deutlich bis zum Jahre 2010 schon wieder 5 Milliarden Euro zu- werden. Ich wünsche mir, dass jeder dieser privaten Ver- sätzlich anfallen. Die Kosten, die durch das EEG ent- braucher das auch erkennt. stünden, wären dann fast doppelt so hoch wie die Kosten für die Steinkohle. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Axel Berg [SPD]: Wir haben eine Degres- Ich habe mir Stromrechnungen angeschaut. Auf den sion drin!) meisten stehen zum Beispiel lediglich der KWh-Ver- Das sollten wir einmal ganz deutlich sagen. brauch, die Stromsteuer und die Kosten für den Eintarif- zähler. Die wirklichen Kosten, die Sie verursachen, nen- Es bleibt also abzuwarten, Herr Berg, welche konkre- nen Sie den Verbrauchern nicht. Diese Aufklärung ten Vorschläge die Bundesregierung für die anstehende möchte ich haben. Deswegen stimmt meine Fraktion Novelle zum EEG vorlegt und was das für uns alle dem Antrag der FDP-Fraktion voll und ganz zu. volkswirtschaftlich bedeutet. Es ist kein Geheimnis, dass die Finanzierung der Förderung erneuerbarer Energien (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durch eine Umlage auf die Strompreise und nicht über die öffentlichen Haushalte erfolgt. Dazu möchte ich Gegenüber 1998 hat sich die durch den Staat verur- deutlich sagen: Bundesminister Trittin hat verkündet, sachte Belastung der Strompreise ohne Berücksichti- das seien keine Subventionen. Schade, dass er jetzt gung der Mehrwertsteuer – sie kommt ja immer noch nicht da ist. Er hat anscheinend gar nicht begriffen, was obendrauf – von 2 Milliarden Euro auf heute 12 Milliar- eine Subvention ist. Es ist doch völlig egal, ob die Finan- den Euro erhöht. zierung über den Haushalt des Staates oder direkt aus der (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Hört! Tasche des Stromverbrauchers erfolgt. In beiden Fällen Hört!) ist es eine Subvention! Seien wir doch ehrlich! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) Die Stromkunden werden 2003 mehr als fünfmal so (D) hoch belastet wie noch vor fünf Jahren. Das ist für den Die Förderung erneuerbarer Energien enthält noch Verbraucher katastrophal und er sollte das auch wissen. eine Zusatzsubvention, Herr Berg, die auch Sie kennen. Sie wissen, dass Sonderabschreibungsmöglichkeiten Im Einzelnen sind folgende Belastungen zu erken- nichts anderes als Steuersubventionen sind. Auch sie ge- nen: Die Stromsteuer beläuft sich pro Jahr auf rund hören dazu. Hier wird also doppelt subventioniert, ein- 7,65 Milliarden Euro, die Umlagen aus dem KWKG er- mal über den Strompreis, dann über Sonderabschrei- geben 688 Millionen Euro und bei den Einspeisungsver- bungsmöglichkeiten. Es ist für mich keine verbraucher- gütungen nach dem EEG sind wir mittlerweile bei und schon gar keine wettbewerbsorientierte Energiepoli- 2,75 Milliarden Euro angekommen. Das kosten uns Ihre tik, wenn über Förderungen zu viel Fördergeld für die Windmühlen, die Deutschland in eine Mega-Spargel- Betreiber bereitgestellt wird, wodurch Mitnahmeeffekte landschaft verwandeln. und Fehlallokationen entstehen. An einigen Standorten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Windanlagen dreht sich das Rad fast nie. Das sind die Folgekosten dieser verfehlten Energiepolitik. Die Gewinne, die durch die Liberalisierung der Energie- (Dr. Axel Berg [SPD]: Wer trägt sie?) märkte entstanden, schöpft diese rot-grüne Bundesregie- rung somit beim Verbraucher ab. – Der Verbraucher trägt sie; das ist die Antwort auf Ihre Frage. Damit bin ich nicht einverstanden. (Rolf Hempelmann [SPD]: Jetzt hat er sich offenbart!) (Dr. Axel Berg [SPD]: Nein, der, der sie auf- stellt!) Das Schlimme ist: Er weiß das noch nicht einmal, Herr Schlauch. Der einzige Trost beim EEG – für mich ist das ein In- vestitionsverhinderungsgesetz –, so könnte man meinen, (Rolf Hempelmann [SPD]: Er hält die Leute ist die Härtefallregelung. Aber auch sie verfälscht nur. für doof!) Sie führt dazu, dass manche Unternehmen profitieren. Andere Unternehmen müssen das dann bezahlen. Das Ich bin der Meinung, dass Sie wenigstens den Mut haben kann nicht richtig sein. Obendrein ist dies noch mit er- sollten, ihnen das zu sagen. heblicher Bürokratie verbunden. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Daher fordern wir ganz klar einen Umbau des EEG. GRÜNEN]: Windmühlen schaffen Arbeits- Ziel muss es sein, Anreize zur Weiter- und Neuentwick- plätze!) lung erneuerbarer Energien zu schaffen. Gleichzeitig 6524 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Michael Fuchs (A) muss das Gesetz von Wirtschaftlichkeit geprägt sein. Ich fürchte, der von den Grünen bejubelte Atomaus- (C) Dann kann man es als ein Gesetz zur Wettbewerbsfähig- stieg – wir werden morgen wahrscheinlich die Jubelarien keit bezeichnen. Aber das hat bei Ihnen nicht die höchste von Herrn Trittin erleben – ist Ihnen zu Kopf gestiegen. Priorität. Die Frage des realisierbaren Ersatzstroms ist aber zu ernst, als dass wir einfach darüber hinweggehen könnten. (Marita Sehn [FDP]: Nein, das kann man nicht Bereits von 2008 bis 2012 werden weitere jährliche Emis- sagen!) sionen von 25 Millionen Tonnen CO2 erwartet. Wenn dann im Jahre 2012 die meisten Kernkraftwerke vom Neben EEG und Ökosteuer sind es dann noch die Netz gehen, dann werden wir eine zusätzliche CO2-Be- KWKG-Umlagen, die private Verbraucher auf ihrer lastung von 135 Millionen Tonnen pro Jahr haben. Ich Stromrechnung unbedingt einsehen sollten. Dann würde hätte gerne eine Antwort von Ihnen darauf, wie Sie das ihnen nämlich klar, was das für ein Unsinn ist. Das verhindern und wie Sie organisieren wollen, dass dieses KWKG von Rot-Grün ist gescheitert. Im letzten Jahr nicht passiert. Mit erneuerbaren Energien, so wie Sie es wurden nur 6 – in Worten: sechs – von 3 221 Anlagen, bis jetzt versuchen, wird es nicht funktionieren. also 0,19 Prozent der bestehenden Anlagen, moderni- siert bzw. ersetzt, 99,8 Prozent nicht. Dafür haben Sie im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Etat immerhin 668 Millionen Euro bereitgestellt. Zu- Im Haushalt von Herrn Clement haben Sie kunftsträchtige Brennstoffzellen dagegen erhielten 2002 10 Millionen Euro für die Energieeinsparberatung einge- einen Zuschuss von nur 20 000 Euro. stellt. Das ist gerade einmal das Doppelte der Summe, (Marita Sehn [FDP]: Auch merkwürdig!) Herr Kollege Schlauch, die Sie für Öffentlichkeitsarbeit in diesem Haushalt eingestellt haben. Nicht in die Zukunft wird hier investiert, sondern in Die Union fordert daher die Bundesregierung auf, die Vergangenheit. „Das KWKG ist ein Flop.“ Das ist eine nachhaltige Energiepolitik zu organisieren. nicht nur meine Meinung, Frau Hustedt, sondern das ist ein Zitat Ihres Kollegen Loske. Das sagte er kurz vor der (Rolf Hempelmann [SPD]: Das machen wir Sommerpause. Für 668 Millionen Euro pro Jahr muss bereits!) man mehr erwarten können als solche Flops. Es gilt, einen ausgewogenen Energiemix hinzubekom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men. Dabei ist allein auf den jeweiligen energetischen Wirkungsgrad, auf die Emissionsbilanz und vor allen Die Strompreisoffenlegung ist die eine Seite. Die an- Dingen auf die Kosten für die deutsche Wirtschaft zu ach- dere Seite ist die Tatsache, dass Rot-Grün zulasten der ten. Staatlich fixierte, ideologiegesteuerte Vorgaben ha- (B) Verbraucher in der Energiepolitik für mich alles vermis- ben hier nichts zu suchen. Sonst wird aus Mix schnell nix. (D) sen lässt, was nachhaltig, zukunftsorientiert und vor al- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) len Dingen effizient ist. Seit 1998 ist nicht erkennbar, wie diese nachhaltige Energiepolitik aus der Sicht der Bitte nehmen Sie den Antrag der Kollegen und Kolle- Bundesregierung aussehen soll. Stattdessen ist Kurzsich- ginnen von der FDP ernst. Ich möchte, dass der deutsche tigkeit das Hauptmerkmal dieser rot-grünen Energiepoli- Verbraucher weiß, woran er ist. Ich möchte, dass man tik. Ein durchdachtes Gesamtkonzept liegt leider nicht ihm sehr deutlich mitteilt, was ihn Ihre verfehlte Ener- vor. Dosenpfand und LKW-Maut lassen grüßen. giepolitik kostet. Anders kann nämlich nichts mehr in diesem Lande geändert werden. Ich frage Sie hier ganz direkt: Wie stellen Sie sich die Zukunft deutscher Energieversorgung vor? Welche (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stromquellen sollen denn den Wegfall der Atomenergie CO2-neutral ersetzen? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen. NEN]: Was hat das mit dem Antrag zu tun? Nichts!) Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Frau Hustedt, hören Sie zu, dann verstehen Sie es Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle- auch. – Ich habe gestern im Wirtschaftsausschuss Herrn gen! Wir hatten heute Morgen drei Stunden lang eine Staatssekretär Schlauch intensiv zugehört, aber er hat Energiedebatte. keine Antwort auf diese Frage gegeben. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Jetzt sind Sie abgespannt, was?) (Marita Sehn [FDP]: Genau!) Wenn Sie keine Redezeit abbekommen haben, dann tut Er weiß auch keine Antwort. Die zurzeit mit jährlich es mir für Sie Leid. Hier geht es um den Antrag der FDP, 2,75 Milliarden Euro – in 2010 sollen es 5 Milliar- Stromrechnungen transparent zu gestalten. Darauf den Euro sein – geförderte erneuerbare Energie kommt möchte ich mich konzentrieren. Denn ich durfte im Ge- ernsthaft wohl kaum in Frage. So viel Wind kann noch gensatz zu Ihnen heute Morgen in der Kerndebattenzeit nicht einmal diese Bundesregierung machen. zum EEG und Strommix meine Meinung zweimal sagen. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Marita Sehn [FDP]: Herr Berg hatte heute NEN]: Sie aber!) Morgen auch keine Gelegenheit!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6525

Michaele Hustedt (A) Transparente Stromrechnungen – das ist völlig okay. Die aktuellen Umfragen machen deutlich, dass zwei (C) Aber ich frage mich, warum die FDP eigentlich da auf- Drittel der Bevölkerung die erneuerbaren Energien gut- hört, wo es spannend wird. Denn das, was Sie mit der heißen und dafür sind, dass dieser Weg weiterhin be- Begründung von mehr Wettbewerb fordern, würde nur schritten wird. funktionieren, wenn die Transparenz dazu führt, dass der Kunde die Wahl hat. Ich frage Sie: Wenn die Netznut- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie wissen zungskosten, die Durchleitungskosten, auf der Rechnung nicht, was sie kosten!) stehen, welche Wahl hat dann der Kunde? Die Netznut- Das ist euer Problem. zungskosten sind hoffentlich, so wir denn eine funktio- nierende Regulierung schaffen, für alle gleich. Das ist Wenn Sie „Ihre“ Windkraftanlagen sagen und damit das Prinzip. uns meinen, dann empfehle ich Ihnen, einmal mit Ihren Kollegen zu diskutieren. Denn in der Kernzeitdebatte Wenn auf der Rechnung die Kosten für Messungen heute Morgen hat sich das ganz anders angehört: Ihr und Abrechnungen stehen, welche Wahl hat dann der Kollege Paziorek hat uns in dieser Debatte aufgefordert, Kunde? Okay, wenn Sie unsere Forderung unterstützen die Windkraft noch ein bisschen stärker zu fördern und würden, dass das Mess- und Zählwesen aus dem Netzbe- uns zum Beispiel verstärkt der Biomasse zuzuwenden. trieb herausgelöst wird, es hier Wettbewerb gibt und man einen anderen Dienstleister wählen kann, der eine billi- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Was hat gere Leistung anbietet, dann macht das Sinn. Aber ich denn die Biomasse damit zu tun?) habe diese Forderung von Ihnen noch nicht gehört. Bis- her waren die Grünen die einzigen, die diese Forderung Die Baden-Württemberger bestürmen uns, die großen in diesem Zusammenhang vertreten haben. Wasserkraftanlagen in das EEG mit aufzunehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Marita Sehn [FDP]: Dagegen haben wir nichts!) Es geht Ihnen nicht um mehr Transparenz und in der Konsequenz um Wahlmöglichkeit. All das führt ebenfalls zur Erhöhung der mit dem EEG zusammenhängenden Kosten. Insofern repräsentiert die (Gudrun Kopp [FDP]: Sondern?) Rede, die Sie in der Nacht halten, Ihre ganzen Reden haben doch gezeigt, (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Es ist noch (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie haben nicht Nacht!) doch Angst vor Wettbewerb!) sicherlich nicht die Mehrheit Ihrer Fraktion. (B) dass es Ihnen um ein Instrument geht, um Ihre Politik Wenn es Ihnen wirklich um Transparenz im Sinne (D) mit Hilfe der Stromrechnungen fortzusetzen. Dafür sind von mehr Wettbewerb und damit um einen größeren In- die Reden, die Sie beide hier gehalten haben, ein Beleg. formationsgehalt der Stromrechnung geht, um den Kun- Sie haben nicht über Transparenz und Kosten gespro- den tatsächlich Wahlmöglichkeiten zu bieten, dann ha- chen, sondern von Energiepolitik und davon, dass Sie ei- ben wir eine völlig andere Aufgabe. In diesem Fall muss nen Hinweis in Form eines Sternchens auf der Strom- in der Stromrechnung aufgeführt werden – das interes- rechnung mit dem Text haben wollen: Bitte die Rede von siert die Kunden in der Tat –, wie sich der Strom zusam- Herrn Fuchs lesen, dann wissen Sie Bescheid. mensetzt, wie er produziert wird, wie hoch der Anteil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – des Atomstroms ist, wie viel Müll durch den Atomstrom Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- anfällt, wie hoch jeweils die Anteile des Braunkohle-, NEN]: Demnächst wollen sie der Stromrech- Kohle- und importierten Stroms nung Prospekte beilegen!) (Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär: Das Wir verstecken die Kosten für das EEG überhaupt sind Kosten! – Gisela Piltz [FDP]: Das ist ty- nicht. Ich sage es in dieser Rede, so wie ich es in jeder pisch Grüne!) Rede sage: Das kostet den Haushalt 1 Euro pro Monat. Wenn wir eine Härtefallregelung für die energieintensive sowie der erneuerbaren Energien sind. Danach differiert Industrie machen, dann kostet es 1,10 Euro pro Monat. die Stromrechnung in der Tat und anhand dieser Krite- Jetzt schaue ich die Besucher auf der Tribüne an und rien will der Kunde den Stromerzeuger auswählen. frage sie: Ist 1 Euro pro Monat für die erneuerbaren Insofern finde ich es verwunderlich, dass diese Art Energien, von Transparenz in Ihrem Antrag „Stromrechnungen (Marita Sehn [FDP]: Das ist doch gar nicht transparenter gestalten“ nicht vorkommt. Woran liegt wahr!) das? Vielleicht liegt es daran, dass Sie genau wissen, dass Ihre Art von Energiemix – Atom, Atom, Atom – für eine zukunftsfähige Energieversorgung ein Preis, den beim Kunden nicht ankommt. man zahlen kann und den man für die Bewahrung unse- rer Lebensgrundlage zahlen muss? (Rolf Hempelmann [SPD]: Transparenz mit Schleier!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ Der Kunde möchte vielmehr einen Energiemix erhalten, CSU]: Dazu kommt die Zapfsäule! Ökosteuer! bei dem der Anteil der erneuerbaren Energien möglichst Tabaksteuer!) hoch ist. 6526 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Michaele Hustedt (A) Deswegen halte ich den Weg, den wir beschreiten zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 (C) – das werden wir auch bei der Novelle zum Energiewirt- von besonderem Interesse gewesen. In diesem Zusam- schaftsgesetz umsetzen –, nämlich hinsichtlich der Zu- menhang darf auch die Fachtagung zum selben Thema, sammensetzung des Stromes Transparenz zu schaffen an der sich Experten aus dem In- und Ausland beteiligt und damit dem Kunden eine echte Wahlmöglichkeit zu haben, nicht unerwähnt bleiben. bieten, für richtig. Deswegen müssen wir Ihren Antrag ablehnen. Auch in den Außenstellen wurden beachtliche For- schungsprojekte realisiert, so zum Beispiel das For- Danke schön. schungsprojekt „Spitzbart, Bauch und Brille...“ – die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vollendung dieses Satz, nämlich „... sind nicht des Vol- und bei der SPD) kes Wille“, dürfte dem einen oder anderen noch bekannt sein – in Halle, das mit Fotos ergänzt werden konnte, die 40 Jahre verschollen waren. Mit Ausstellungen erreichte Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Behörde Präsenz in der Fläche und erfüllte damit Ich schließe die Aussprache. zielstrebig und vorbildlich ihren Auftrag der Unterrich- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf tung der Öffentlichkeit, so zum Beispiel auch mit der Drucksache 15/761 an die in der Tagesordnung aufge- Wanderausstellung „Staatssicherheit – Garant der SED- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Diktatur“, die vorwiegend für die alten Länder bestimmt verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- war. Die Gemeinschaftsausstellung „Ein offenes Ge- sungen so beschlossen. heimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR“, getra- gen vom Bürgerkomitee Leipzig e. V., führte noch ein- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: mal eindrucksvoll vor Augen, dass zum Beispiel täglich Beratung der Unterrichtung durch die Bundesbe- bis zu 90 000 Briefe und 60 000 Pakete geöffnet und auftragte für die Unterlagen des Staatssicherheits- kontrolliert wurden. Das macht auch im Nachhinein dienstes der ehemaligen Deutschen Demokrati- noch immer wütend. schen Republik Politische Bildungsarbeit nimmt immer größeren Sechster Tätigkeitsbericht der Bundesbeauf- Raum ein und wird nicht selten mit Partnern geleistet, tragten für die Unterlagen des Staatssicher- wie zum Beispiel mit der Bundeszentrale für politische heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demo- Bildung oder in den Außenstellen mit einer der Landes- kratischen Republik – 2003 zentralen. Unter den vielfältigen Aufgabenstellungen – Drucksache 15/1530 – sind Internetpräsentationen der Behörde, Archivierung sowie Erschließung und Bewertung von Unterlagen (B) Überweisungsvorschlag: schon fast als Routinearbeiten zu bewerten. Deshalb darf (D) Innenausschuss (f) Rechtsausschuss nicht vergessen werden: Hinter all diesen vielfältigen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Aktivitäten stehen sehr viel Engagement, Erfahrung und Ausschuss für Bildung, Forschung und große Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Technikfolgenabschätzung der Behörde. Davon konnte ich mich auch bei meinem Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die jüngsten Besuch im Archiv überzeugen. Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Im Namen der SPD-Bundestagsfraktion danke ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Frau Birthler, der Leiterin der Behörde, und all ihren Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich. Sie gin Barbara Wittig, SPD-Fraktion. können sicher sein, dass wir sie wie bisher auch in Zu- kunft unterstützen und konstruktiv ihre Arbeit begleiten Barbara Wittig (SPD): werden. Die Aufarbeitung der Stasiunterlagen hat näm- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es lich nichts an Aktualität verloren. Das wurde nicht nur gleich vorwegzunehmen: Ich war nach der Lektüre des aus Anlass des 10. Jahrestages der Verabschiedung des Sechsten Tätigkeitsberichts der Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen-Gesetzes deutlich, sondern zeigt sich die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemali- vor allem auch an dem nicht nachlassenden Interesse ei- gen Deutschen Demokratischen Republik beeindruckt. ner breiten Öffentlichkeit. Dazu, dass das so ist, hat auch Was in der Zentralstelle und in den 14 Außenstellen ihrer die Birthler-Behörde mit all ihren Mitarbeiterinnen und Behörde in den neuen Ländern geleistet wurde, ist enorm. Mitarbeitern mit ihrer intensiven Arbeit entscheidend beigetragen. Ich möchte dafür folgende Beispiele nennen: Seit 1992 sind bei der Behörde 2 Millionen Anträge auf In diesem Zusammenhang möchte ich besonders her- Akteneinsicht von Bürgerinnen und Bürgern, 3 Millio- vorheben, was für junge Menschen gemacht wird. So nen Ersuchen im Rahmen von Überprüfungen im öffent- werden zum Beispiel Projekttage sowohl in der Zentrale lichen Dienst, Rehabilitierungen oder Rentenangelegen- als auch in den Außenstellen durchgeführt. Haus- und heiten und 14 000 thematisch breit gefächerte Anträge Facharbeiten werden betreut. Kontakte zu Schulen wer- von Forschern und Medienvertretern eingegangen. den aufgebaut. Die Anfertigung von unterrichtsbeglei- tenden Materialien halte ich ebenfalls für besonders Darüber hinaus wurden telefonische und persönliche wichtig. Dass sich die Behörde in diesem Jahr sogar am Bürgerberatungen durchgeführt und Publikationen ver- Girls’Day beteiligt hat und dort interessierten Schülerin- fasst. Im Berichtszeitraum sind die Veröffentlichungen nen Einblicke in die berufliche Tätigkeit einer Archiva- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6527

Barbara Wittig (A) rin, einer Restauratorin oder einer Fotolaborantin gebo- Ich möchte noch ganz kurz auf die anderen Punkte ein- (C) ten hat, war zwar neu für mich, aber ich fand diese gehen. Initiative sehr gut. Warum hebe ich dieses Engagement Die Bearbeitung von Forschungs- und Medienan- für junge Menschen hervor? Ich meine, dass sich über trägen ist im Berichtszeitraum ins Stocken geraten. Mit die Auseinandersetzung mit der Geschichte des MfS den Änderungen des § 32 StUG haben wir es durch die auch das Verständnis für grundlegende demokratische Einführung eines Verfahrens zur Benachrichtigung der Fragen entwickeln lässt. Auf diesem Wege muss fortge- betroffenen Personen ermöglicht, dass die Bearbeitung schritten werden. fortgesetzt werden kann. In ähnlicher Form wurde dies Eine der wichtigsten Aufgaben der Behörde ist aber bereits seit Frühjahr 2001 praktiziert, und zwar zunächst nach wie vor, dazu beizutragen, dass Bürger, die durch auf der Grundlage einer internen Richtlinie. das DDR-System Unrecht erlitten haben, rehabilitiert Bis August 2002 konnten 122 Personen der Zeitge- werden können. Hier nehme ich Bezug auf die rehabili- schichte, Amts- und Funktionsträger über die Absicht tierungsrechtlichen Vorschriften, auf deren Grundlage der Behörde informiert werden, im Rahmen von For- ehemals politisch Verfolgte oder Systemgegner Anträge schungs- und Medienanträgen gemäß § 32 ff. Unterlagen stellen können. Die Fristen für die Antragstellung nach über sie herauszugeben. Alle diese Verfahren und auch dem Strafrechtlichen, dem Verwaltungsrechtlichen und die nachfolgenden sind – entsprechend der gesetzlichen dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz wurden drei- Regelung – einvernehmlich abgeschlossen worden. mal verlängert. Am 31. Dezember 2003 sollten sie end- Diese Beispiele zeigen: Die Novellierung war wichtig gültig auslaufen. Die von den Ländern erstellten Statisti- und richtig. ken weisen aber eindeutig nach, dass noch immer eine sehr große Anzahl von ehemals politisch Verfolgten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, einen DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred Antrag zu stellen. Deshalb haben die Fraktionen des Grund [CDU/CSU]) Deutschen Bundestages heute gemeinsam einen Gesetz- Auch ich stimme der Einschätzung der Behörde zu, entwurf eingebracht. dass die meisten der gesetzlich vorgegebenen Aufgaben langfristig bestehen bleiben, wenn auch die Überprüfung (Beifall im ganzen Hause) von Personen bezüglich der früheren Tätigkeit bei der Ich gehe ganz kurz auf den Inhalt ein – ich will das Stasi 2006 auslaufen wird. Das heißt, dass der folgende nicht weiter ausführen, weil das einen anderen Gegen- Forschungsauftrag erhalten bleibt: „Aufarbeitung der stand betrifft –: Es werden nicht nur die Antragsfristen Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes durch Unterrich- bis 2007 – also um vier Jahre – verlängert, sondern auch tung über Struktur, Methoden und Wirkungsweise des Staatssicherheitsdienstes.“ Wir müssen uns auch in die- (B) die Ausgleichszahlungen nach dem Beruflichen Rehabi- (D) litierungsgesetz erhöht. sem Zusammenhang mit den Außenstellen befassen. Das werden wir im Innenausschuss tun. Ein Konzept ist vor- Ich komme zurück zum Tätigkeitsbericht. Während in gelegt worden. Darüber wird zu reden sein. den Tätigkeitsberichten 1 bis 5 insbesondere die Erfah- Wenn man an der Rekonstruktion vorvernichteter rungen der Behörde mit der Arbeit in den ersten zehn Unterlagen – zur Erinnerung: 16 250 Säcke mit circa Jahren dargestellt wurden, stellt es sich beim Sechsten 600 Millionen Schnipseln harren der Dinge – im glei- Tätigkeitsbericht schon ein bisschen anders dar. Beim chen Tempo weiter arbeitete, würde man bis zur Voll- Studium der gesamten Berichte ist es immer besonders endung – das wissen wir alle – 600 Jahre brauchen. eindrucksvoll, dass kein einziger Fall bekannt geworden Dazu muss man sagen: Dank der fleißigen Mitarbeiterin- ist, in dem jemand auf eigene Faust Vergeltung geübt nen und Mitarbeiter, die diese Arbeit geleistet haben, hat. Ich meine, das kann als Beweis dafür gewertet wer- konnten im Berichtszeitraum immerhin 41 000 Seiten den, wie verantwortungsbewusst und besonnen die Men- rekonstruiert werden. schen mit der manchmal doch sehr schmerzlichen Wahr- heit umgehen. Meine Hochachtung dafür! Das Bundesministerium des Innern prüft zurzeit die kürzlich von der BStU vorgelegte Machbarkeitsstudie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zur IT-gestützten Rekonstruktion vorvernichteter Unter- DIE GRÜNEN) lagen. Ich bin gespannt auf die Einschätzung des IT- Konzepts mit Kosten für Hard- und Software, der techni- In dem nunmehr Sechsten Tätigkeitsbericht wird schen Machbarkeit und darauf, welche Erfolgsaussich- nicht nur auf die Arbeit der letzten zwei Jahre zurück- ten das Bundesministerium des Innern für eine IT-ge- geblickt, sondern der Bericht widmet sich auch den stützte Rekonstruktion prognostiziert. Das sind wichtige mittel- und langfristigen Entwicklungen, die der Be- Aspekte, die wir im Zusammenhang mit diesem Sechs- hörde bevorstehen. In diesem Zusammenhang sind ten Tätigkeitsbericht besprechen müssen. Dazu haben meines Erachtens folgende Sachverhalte zu erwähnen: wir im Innenausschuss ausreichend Zeit. erstens der Umgang mit den Rosenholz-Unterlagen; zweitens die Änderungen des § 32 StUG, die wir am Ich kann für meine Fraktion hier sagen: Was machbar 6. September 2002 beschlossen haben; drittens die Er- ist, wollen wir auch machen. gebnisse der Arbeitsgruppe „Zukunft der Außenstellen“; Ich danke Ihnen. viertens die Rekonstruktion vorvernichteter Unterlagen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zum Umgang mit den Rosenholz-Unterlagen wird DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nachher noch meine Kollegin Marga Elser sprechen. CDU/CSU und der FDP) 6528 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: getroffen; es hat auch dazu beigetragen, den Graben in (C) Nächster Redner ist der Kollege Hartmut Büttner, den Herzen und Hirnen der Deutschen zu vertiefen. CDU/CSU–Fraktion. Diese Sicht ließ auch keinen Raum für die Wahrheit. Auch in der DDR waren die Menschen, die Anstand be- Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): hielten und Zivilcourage zeigten, in der Mehrheit. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Leeres Haus! (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]:Es kommt auf Trotz schwierigster Umstände in einer Diktatur scheiter- die Qualität an, Herr Büttner!) ten drei von fünf Anwerbeversuchen des Staatssicher- Joachim Gauck sprach mit Blick auf die Zusammenar- heitsdienstes. In Westdeutschland wurde eine Stasimitar- beit von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen in Fragen beit zumeist freiwillig erklärt – ohne die vielfältigen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes von einer Koalition der Repressionen des SED-Staats. Geld und das politische Vernunft. Diese Koalition der Vernunft ist im vergange- Ziel, den Sozialismus in allen Teilen Deutschlands vo- nen Jahr durch eine stürmische und strittige Diskussions- ranzubringen, stand bei den meisten westdeutschen IM phase gegangen. Ich bin froh darüber, dass wir nach den im Vordergrund. Frau Birthler nannte es in einem Inter- gegensätzlichen Meinungen zur Verwendung von Unter- view mit der „taz“ vom 14. September – ich zitiere – lagen zu Personen des öffentlichen Lebens wieder zu der „bemerkenswert, wenn Menschen der Demokratie den lange praktizierten guten Zusammenarbeit zurückge- Rücken kehren und mit dem Geheimdienst einer Dikta- kehrt sind. tur zusammenarbeiten“. Ich kann ihr in der Schlussfol- gerung nur zustimmen, wenn sie sagt, gerade die Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schichte der West-Linken könne schon etwas an Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie sind zur Fa- Aufarbeitung vertragen. milie zurückgekehrt! Herzlich willkommen!) Ich finde die Zusammenarbeit der vier Fraktionen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie – vielleicht hat sich mancher gewundert, dass wir auch der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜND- geklatscht haben, als jemand von den Sozialdemokraten NIS 90/DIE GRÜNEN]) gesprochen hat – so wichtig, weil ich glaube, dass hierin – Jetzt bitte auf der linken Seite des Hauses klatschen! einer der Hauptgründe für die große Akzeptanz des Stasi-Unterlagen-Gesetzes bei der Bevölkerung liegt. Besonders in diesem politischen Bereich können mögliche zusätzliche Erkenntnisse aus den so genannten Nach Geist und Buchstaben ist das Stasi-Unterlagen- Rosenholz-Unterlagen noch sehr hilfreich sein. Die Gesetz ein Öffnungs- und ein Opfergesetz. (B) Rückholung der Datenträger mit den Kopien der mikro- (D) (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ja!) verfilmten Karteikarten der Hauptverwaltung Aufklä- rung ist ebenfalls ein gutes Beispiel für das positive Wir- Dem Einzelnen soll Klarheit über das Einwirken des ken der Koalition der Vernunft. Jahrelang haben wir uns MfS auf seinen Persönlichkeitsbereich gegeben werden. bemüht, die Datensätze zurückzubekommen. Die Be- Die Chance, die eigene Biografie in Ordnung zu bringen, richterstatter der vier Fraktionen haben die Bundesregie- haben mittlerweile mehr als 2 Millionen Menschen ge- nutzt. Sie haben Einsicht in ihre Akte genommen. rung mit vielfältigen Aktivitäten in dem Ziel unterstützt, dass die amerikanische Einstufung „Geheim“ zurückge- Der Tätigkeitsbericht und vor allem die wieder nach nommen wird. Jetzt können wir die Rosenholz-Unterla- Deutschland zurückgekommenen Rosenholz-Unterla- gen so behandeln wie alle anderen Stasiunterlagen auch. gen zeigen uns deutlich, dass das unselige Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit kein reines DDR- Eigentlich sind die Bestimmungen des Stasi-Unterla- Thema, sondern ein gesamtdeutsches Thema war. gen-Gesetzes völlig ausreichend, damit die Behörde neu auftauchende Erkenntnisse der zuständigen Stelle mittei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie len kann, ohne dass ein Ersuchen vorliegt. Nur, für die bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Beschäftigten in der Behörde ist es praktisch sehr NISSES 90/DIE GRÜNEN) schwierig, die auftauchenden Namen einer zuständigen Wir wissen jetzt, dass die Aussage „Opfer gab es in Ost Stelle richtig zuzuordnen. Aus diesem Grund unterstütze und West, aber der Stasitäter kam ausschließlich aus ich nachdrücklich einen Beschluss meiner Fraktion, Deutschland Ost“ nicht nur zu undifferenziert, sondern nach dem wir uns als Abgeordnete unserer Vorbildfunk- einfach falsch ist. tion bewusst sein müssen und uns erneut freiwillig über- prüfen lassen sollten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Im Laufe der Jahre haben 20 000 bis 30 000 West- neten der FDP) deutsche als inoffizielle Mitarbeiter für das MfS gearbei- tet. Hoffentlich wird manch ein westdeutscher Redakteur Deshalb habe auch ich einen Antrag unterschrieben, um angesichts dieser Zahlen etwas demütiger, wenn er sich mich ein viertes Mal auf Stasi-Mitarbeit überprüfen zu an seine reißerische Berichterstattung über die Stasiver- lassen. Ich bin gespannt, was diesmal dabei heraus- seuchung im Osten Deutschlands erinnert. Diese einsei- kommt. tige Betrachtungsweise hat nicht nur das Selbstwertge- fühl der Menschen aus den neuen Bundesländern hart (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6529

Hartmut Büttner (Schönebeck) (A) Ich finde es ebenfalls gut, dass FDP und Grüne dieses sich die Parteipolitik in kleiner Münze an dieser Stelle (C) Thema ebenso offensiv angegangen sind und den schenken sollte? Mitgliedern ihrer Fraktionen eine erneute Überprüfung (Beifall bei der SPD) empfohlen haben. Positiv im Sinne des vereinten Deutschlands ist es auch, dass nicht nur die Landtagsab- geordneten der östlichen Bundesländer, sondern auch die Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Abgeordneten zumindest einiger westdeutscher Land- Herr Kollege Wiefelspütz, ich habe vor der Freiwil- tage sich überprüfen lassen wollen. Ich möchte hier bei- ligkeit und der Souveränität der Abgeordneten hohen spielhaft Niedersachsen, Hamburg und Baden-Württem- Respekt. Eine andere Möglichkeit gibt es auch gar nicht. berg nennen. Aber es ist schon ein Unterschied, ob Fraktionen nichts (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sehr gut! Alle dazu sagen oder ob sie wie die FDP-Fraktion, die Frak- unionsgeführt!) tion der Grünen oder die CDU/CSU-Fraktion ihren Mit- gliedern empfehlen – bei einer Enthaltung haben wir Umso mehr fällt auf, dass die Sozialdemokraten in diese Empfehlung einstimmig ausgesprochen –, sich Bund und Ländern zögerlich bis ablehnend an diese bitte noch einmal freiwillig überprüfen zu lassen. Ich Frage herangehen. denke, das ist ein Akt der Solidarität. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich habe Ich will es mir mit Blick auf unsere gerade wiederherge- einen entsprechenden Brief an die Fraktion ge- stellte gemeinsame Aktionsfähigkeit versagen, dies hier schrieben! So ein Unsinn! Sie kennen die Fak- weiter zu vertiefen. Ansonsten könnte ich Ihnen schon ten überhaupt nicht!) einen sehr bunten Strauß von Zitaten zahlreicher SPD- Kollegen hierzu vortragen. Ich hätte normalerweise hier kein Salz in die Wunde ge- streut. Ihre und die Äußerungen anderer, die ich hier in (Gisela Piltz [FDP]: Nur zu!) den Unterlagen habe, sind bemerkenswert genug. Es wäre aber wohl, wie ich denke, ein Akt politischer Sie wissen auch, dass ich versuche, die Zusammenar- Hygiene und ein Wahrnehmen des Vorbildcharakters, beit aller Bundestagsfraktionen überall zu pflegen. Sie wenn auch die SPD-Bundestagsfraktion wie die anderen ist mir gerade deshalb so wichtig, weil wir gemeinsam Fraktionen dieses Hauses entsprechende Beschlüsse fas- aktionsfähig bleiben müssen. Als sich die letzten Tage sen und Empfehlungen aussprechen würde. der DDR abzeichneten, ergriff die damaligen Machtha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ber und ihre Vasallen nämlich Panik. Alles, was an be- (B) Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir könnten lastendem Material vorhanden war, sollte vernichtet (D) gleich darüber abstimmen!) werden. Vieles wurde auch endgültig vernichtet, aber nicht alles. In Zirndorf, in Bayern – Sie haben es er- Mein Appell, erneut einen Antrag zu stellen, richtet wähnt, Frau Wittig –, lagern derzeit circa 600 Millionen sich an alle Bundestagskollegen, egal, wo sie politisch Schnipsel in 16 250 Säcken – und das sind nur die zerris- stehen und aus welcher Region sie kommen. senen Unterlagen. In mühsamer Handarbeit gelang es in den letzten Jahren einer Projektgruppe von 40 Mitarbei- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tern, circa 550 000 Einzelblätter wieder zusammenzuset- zen. Die Dimension ist wahrlich gigantisch. Wenn die Herr Kollege Büttner, gestatten Sie eine Zwischen- Geschwindigkeit von heute beibehalten wird, dann ha- frage des Kollegen Wiefelspütz? ben wir die Chance, in 375 Jahren mit dieser Arbeit fer- tig zu werden. Diese Puzzlearbeit ist wie das Ausschöp- Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): fen des Ozeans mit einem Teelöffel. Selbstverständlich. Häufig sind es aber nur diese zusammengesetzten Seiten, die den Tätern von gestern auch heute noch zum Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): Verhängnis werden. So wurde hierdurch beispielsweise ein Professor Bress aus Kassel enttarnt. Bress hatte Geschätzter Kollege Büttner, sind Sie nicht der Mei- länger als 30 Jahre für ein Agentenhonorar von nung, dass Sie den wichtigen Aspekt von Freiwilligkeit 350 000 DM für die Stasi im Westen spioniert. Ebenso diskreditieren, wenn Sie mit solchen Einlassungen durch fanden sich entscheidende Beweise gegen den Thüringer die Hintertür irgendeine Art von Druck ausüben? Sehen Landesbischof Braecklein oder den Literaten Anderson Sie, Sie haben jetzt zum vierten Mal und ich zum dritten in den Säcken mit den vorvernichteten Unterlagen. Aber Mal freiwillig einen Antrag gestellt. Ich hätte ein großes es wurden nicht nur Täter enttarnt. Es wurden auch Problem damit, wenn man mich dazu zwingen würde, wichtige Unterlagen über Stasiopfer entdeckt, zum Bei- aber freiwillig tue ich das so gerne, wie auch Sie es ver- spiel Akten über Bärbel Bohley oder Werner Fischer. mutlich getan haben. Meinen Sie nicht, dass man das Prinzip Freiwilligkeit von Anfang bis Ende ernst neh- Es gibt jetzt neue technische Möglichkeiten; Frau men sollte und es einfach so im Raum stehen lassen Wittig hat sie angesprochen. Es war erneut ein gemein- sollte? Im Parlament sitzen erwachsene Menschen, die samer Antrag und Parlamentsbeschluss vom Dezember für sich eine Entscheidung treffen können. Der Prozess 2000, mit dem wir die Ablösung des manuellen Verfah- ist noch nicht abgeschlossen. Meinen Sie nicht, dass man rens durch eine IT-gestützte Lösung gefordert haben. 6530 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Hartmut Büttner (Schönebeck) (A) Der Deutsche Bundestag forderte in seinem Beschluss noch Anträge in großer Zahl eingehen und abgearbeitet (C) die Bundesregierung auf, diese Bemühungen im Rah- werden müssen. men des finanziell Vertretbaren zu unterstützen. Aus 13 verschiedenen Anbietern ist in einer europaweiten Das gilt auch für die Anfragen im Zusammenhang mit Ausschreibung ein Anbieter ausgesucht worden. den Rehabilitierungsverfahren nach den SED-Un- rechtsbereinigungsgesetzen. Wir haben das hier ange- Eine Machbarkeitsstudie, die den Rekonstruktions- sprochen. Der Gesetzentwurf, der die Verlängerung der zeitraum auf fünf Jahre abkürzen würde, liegt uns derzeit Antragsfristen um vier Jahre enthält, wird hier morgen zur Entscheidung vor. Allein durch dieses Verfahren sind parteiübergreifend eingebracht werden. Ich denke, wir die erheblichen Mittel, die wir dazu brauchen, bereits haben hier ein gutes Verhandlungsergebnis erzielt. Bei ziemlich zusammengeschrumpft. Es sind aber immer allen Streitereien haben wir unsere parteipolitischen Dif- noch, Herr Wiefelspütz, knapp 58 Millionen Euro, die ferenzen einmal beiseite gelegt und im Interesse der Op- wir in fünf Jahren zu schultern haben. Wir haben in ers- fer ein – wenn auch kleines und bescheidenes – immer- ten Bewertungen gemeinsam mit Mitgliedern des Haus- hin gemeinsames Ergebnis zustande gebracht. haltsausschusses versucht, diese Summe noch etwas zu (Beifall im ganzen Hause) drücken. Auch wollen wir Verwerfungen wie bei ande- ren privat-staatlichen Kooperationen – ich nenne hier Weit über die persönliche Betroffenheit hinaus ist das nur die LKW-Maut – gar nicht erst entstehen lassen. Interesse an der deutsch-deutschen Vergangenheit unge- brochen. Das hat die große öffentliche Aufmerksamkeit Jetzt wird sich auch erweisen, was an Ihren vollmun- am 50. Jahrestag des Aufstandes vom 17. Juni 1953 ge- digen Erklärungen dran ist, Herr Wiefelspütz. Sie haben zeigt. Es gab nicht nur in den neuen Bundesländern sehr bei der Ablehnung eines recht bescheidenen Haushalts- viele Veranstaltungen, sondern die Erinnerung an diesen antrages meiner Fraktion zu diesem Bereich im letzten 17. Juni ist zu einem gesamtdeutschen Ereignis gewor- Jahr argumentiert: Herr Büttner, wenn diese Lösung um- den. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte und setzungsreif ist und wir Geld in die Hand nehmen müs- mit diesem Datum fand bundesweit statt. sen, werden wir für die notwendigen finanziellen Mittel sorgen. Auch das ist hier angesprochen worden: Gerade die Bildungsarbeit der Birthler-Behörde wird in Zukunft (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Jawohl!) immer mehr an Bedeutung gewinnen. Wir alle werden Wir werden Sie an Ihren Taten messen. Unsere Unter- dafür sorgen – das ist in den Redebeiträgen hier deutlich stützung hierfür haben Sie. gemacht worden –, dass die Arbeit dieser Behörde kein Ostereignis ist, sondern dass zwölf Jahre nach der Ein- Danke schön. (B) richtung der Behörde die Aufarbeitung der SED-Vergan- (D) genheit ein gesamtdeutsches Thema ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall im ganzen Hause) Meine Damen und Herren, die Rosenholz-Unterla- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gen sind schon angesprochen worden. 381 CDs sind, Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, Bünd- nachdem sie leider lange Zeit in den USA „zwischenge- nis 90/Die Grünen. lagert“ waren – wie auch immer sie dorthin gekommen sind –, jetzt wieder in deutscher Hand. Die technische (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Büttner, Aufbereitung dieser CDs ist sehr schwierig. Bis die Da- Sie hätten mich ruhig noch häufiger zitieren teien zur Verfügung stehen, wird es also noch eine ganze können! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund Weile dauern. [CDU/CSU]: Es wäre schade gewesen, wenn Sie nicht dagewesen wären!) Ich finde es richtig, dass wir die Überlassung der Ro- senholz-Akten zum Anlass nehmen, noch einmal einen Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE Appell an die Abgeordneten aller Fraktionen zu richten GRÜNEN): – auch meine Fraktion hat das gemacht –, freiwillig „in sich zu gehen“. Dies wäre ein Signal, dass es eben kein Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre reines Ostproblem, sondern auch ein Westproblem ist. schön, wenn Sie weiter zuhören und nicht so viel Unruhe in den ersten Reihen verbreiten würden. Herr Kollege (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wiefelspütz, setzen Sie sich doch einfach auf Ihren der FDP) Platz. Im Intranet des Bundestages findet sich dazu ein einfa- (Heiterkeit) ches Formular – es muss lediglich ausgedruckt und un- terschrieben werden –, mit dem man sich damit einver- Der neue Bericht von Marianne Birthler zeigt, wie un- standen erklären kann, überprüft zu werden. verzichtbar die Arbeit der Behörde nach wie vor ist. Auch wenn die Zahl der Bürgeranträge auf Einsicht in Auch das Problem der 14 Außenstellen der Birthler- ihre Stasiakten langsam geringer wird, ist die Zahl viel Behörde wurde schon angesprochen. Es war richtig, die höher, als 1991 bei Erlass des Gesetzes vorhergesagt Birthler-Behörde bei ihrer Einrichtung dezentral aufzu- wurde. Es ist erfreulich, dass die Wartezeiten für die Be- bauen; aber wir alle wissen, dass wir die große Anzahl troffenen kürzer werden. Über viele Jahre werden aber an Außenstellen nicht aufrechterhalten können. Ich finde Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6531

Silke Stokar von Neuforn (A) es gut, dass die Birthler-Behörde nicht herumgejammert der Behörde sowie auf künftige Herausforderungen und (C) hat, als das Parlament erklärt hat – es geht hier auch um Schwerpunkte. Eingrenzung der Arbeit und um die damit verbundenen Reformen –, dass die Anzahl der Außenstellen nicht er- Der Auftrag dieser Behörde, die Tätigkeit des Staats- halten werden kann. Man hat sich zusammengesetzt und sicherheitsdienstes aufzuarbeiten, hat sich über die ein Konzept erarbeitet. Meine Fraktion unterstützt dieses Jahre, zunächst unter der Leitung von Herrn Gauck und Konzept und wir werden auch die Finanzierung des da- nun unter der Leitung von Frau Birthler, sehr bewährt. mit verbundenen Umbaus mittragen. Ich bin mir sicher, Ich hätte ihr gern persönlich gedankt, aber leider ist sie dass wir auch in dieser Frage gemeinsam zu einer Lö- nicht hier. Ebenso möchte auch ich mich natürlich bei sung kommen werden. den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken. Ich bin sicher, dass jemand den kollektiven Dank des Plenums (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weiterleiten wird. und bei der SPD) (Beifall im ganzen Hause) Meine Damen und Herren, ich habe leider nicht so In den letzten Jahren sind wichtige Schritte zur Aufar- viel Redezeit wie die Redner der großen Fraktionen. beitung der Stasitätigkeit gegangen worden. Die Rück- (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das wäre ja gabe der so genannten Rosenholz-Unterlagen – sie noch schöner!) wurde hier schon mehrfach angesprochen – ist ein sol- cher Schritt. Die jahrelangen Bemühungen dieser Be- – Ja, es wäre wirklich schön, wenn ich meine Gedanken hörde haben sicherlich maßgeblich dazu beigetragen. hier einmal etwas länger ausführen könnte. Die Dateien sind insbesondere für die Erforschung der (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Das wäre ja Westarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit von noch schöner! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: großem Interesse. Auch das ist hier schon gesagt wor- Wenn die Lichter aus sind!) den. Lassen Sie mich aber noch die bereits erwähnten vie- Ich weise in diesem Zusammenhang aber noch einmal len Schnipsel ansprechen – Herr Wiefelspütz, das ist besonders gern darauf hin, dass die FDP-Bundestags- wichtig –, in denen unendlich viele Informationen, ins- fraktion sich als erste Fraktion für eine freiwillige Über- besondere aus den 80er-Jahren, stecken. Wir haben ein prüfung auf eine Stasimitarbeit bei ihren Abgeordneten großes Interesse daran, die Schnipsel in absehbarer Zeit und deren Mitarbeitern ausgesprochen hat. zusammenzufügen, was jetzt technisch machbar ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Dazu müssen wir die entsprechende Finanzierung si- des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ (B) cherstellen und das nötige Geld bereitstellen; denn es DIE GRÜNEN]) (D) handelt sich um Akten, die einen Teil der deutschen Ge- schichte ausmachen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass jetzt, da die Verstrickungen auch in Westdeutschland besser beurteilt Zum Schluss möchte auch ich im Namen meiner werden können, mit zweierlei Maß gemessen wird. Fraktion den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Birthler-Behörde für ihre geleistete Arbeit danken. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) (Beifall im ganzen Hause) Für die Legitimation als Volksvertreter ist es aus unserer Der Dank gilt natürlich auch der Leitung, Frau Birthler Sicht selbstverständlich, dass sich jeder Abgeordnete des und Herrn Direktor Altendorf. Ich bedanke mich auch Bundestages, aber auch jedes Landtages, auf eine Stasi- für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit al- mitarbeit überprüfen lässt. len Fraktionen dieses Hauses und wünsche mir, dass wir diese in gleicher Weise fortsetzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Danke schön. Herr Kollege Wiefelspütz, bevor Sie eine Zwischenfrage stellen, (Beifall im ganzen Hause) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er stellt überhaupt keine!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz, FDP- kann ich Ihnen sagen, dass es aus meiner Sicht auch eine Fraktion. Art kollektive Bitte bezüglich der Freiwilligkeit gibt. Die würde ich mir auch bei Ihnen wünschen. Gisela Piltz (FDP): (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist in Ord- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nung!) Der Sechste Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten Wir als FDP und auch die anderen gehen mit gutem Bei- für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehe- spiel voran. maligen Deutschen Demokratischen Republik setzt in diesem Jahr einen wichtigen Schwerpunkt: Neben der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rückschau auf die seit 2001 geleistete Arbeit wirft er Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war auch einen besonderen Blick auf die aktuelle Situation doch wieder eine blanke Übertreibung!) 6532 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Gisela Piltz (A) An dieser Stelle möchte ich aber auch noch einmal ben gesagt, das sei nicht das Schlupfloch dafür, dass wir (C) darauf hinweisen, dass für die FDP der Opferschutz ein zu keinem Ergebnis kommen. wichtiges Thema im Rahmen der Aufarbeitung von (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wir werden noch DDR-Unrecht war. Dem wurde durch die Behörde bis- viele gemeinsame Sachen machen!) her in aller Regel Rechnung getragen. Ich möchte aber auch daran erinnern – jetzt darf ich meine Fraktion zum Ich kann mich erinnern: Sie haben versprochen, dass zweiten Mal loben –, dass erst durch die Mitwirkung der dies im Jahr 2004 geschieht. Leider ist das nicht der Fall. FDP-Bundestagsfraktion in der letzten Legislaturperiode Wir werden Sie beim Wort nehmen und bei Gelegenheit der Opferschutz ausreichend gewährleistet wurde. wieder zitieren, vielleicht dann auch länger; auf Ihren Wunsch mache ich das gerne. (Beifall bei der FDP – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sind Sie sicher?) (Beifall bei der FDP – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wunderbar!) – Ja. Da klatscht nur meine Fraktion. Das haben Sie jetzt verpasst, Herr Wiefelspütz. Das kann ich leider auch Zum Abschluss möchte ich mich bei allen Fraktionen nicht ändern; es tut mir Leid für Sie. dieses Hauses für den Konsens bei der Erweiterung des Beirates bedanken. Wenn wir jetzt einen Blick in die Zukunft werfen, so kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass auch die (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das letzte Zu- Birthler-Behörde den strukturellen Veränderungen nicht geständnis an Sie, Frau Piltz!) entgehen kann. Beeinflusst durch die engen finanziellen – Deshalb bedanke ich mich ja auch. Spielräume, die Modernisierung der Verwaltung und die Aufgabenentwicklung ist es notwendig geworden, über (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Gegen Herrn neue Strukturen nachzudenken. Dies ist auch geschehen, Körper haben wir es durchgesetzt!) insbesondere mit dem Konzept zur Zukunft der Außen- Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft bei diesem Thema stellen. Dieses Konzept kommt zu dem Ergebnis, dass fraktionsübergreifend so gut zusammenarbeiten, ganz im nicht mehr alle Aufgabenbereiche in jeder Außenstelle Sinne der „Koalition der Vernunft“. abgedeckt werden können. Darauf zu reagieren wird aus unserer Sicht der erste Schritt sein. Erforderlich ist si- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. cherlich eine bedarfsgerechte Strukturanpassung, (Beifall im ganzen Hause) (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: „Struktur- anpassung“!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) Nächste Rednerin ist die Kollegin Marga Elser, SPD- (D) über die wir hier noch im Einzelnen werden beraten Fraktion. müssen. Weiter möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die vor- Marga Elser (SPD): vernichteten Akten richten. Auch darüber ist hier schon Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! im Detail gesprochen worden. Es kann unserer Meinung Es ist eigentlich schade, dass wir über diesen Stasiunter- nach nicht sein, dass diejenigen, deren Akten nicht zer- lagenbericht zu relativ später Stunde diskutieren. Denn rissen worden sind, zur Rechenschaft gezogen werden, ich denke schon, dass dieser Bericht in der Bevölkerung und diejenigen, die das Glück haben, dass ihre Akten einen Wert darstellt. Deshalb hätte darüber meines Er- zerrissen wurden, nicht „verfolgt“ werden und sich der achtens zu einem besseren Zeitpunkt an diesem Tag de- Strafverfolgung entziehen können. Das ist aus unserer battiert werden müssen. – So weit, so gut. Sicht nicht im Sinne eines demokratischen Rechtsstaa- tes. Deshalb haben wir immer darauf hingewiesen, dass (Beifall des Abg. Hartmut Büttner [Schöne- dieses Thema hier weiter aufgearbeitet werden muss. beck] [CDU/CSU]) Es ist ein gutes Zeichen für unsere Demokratie, dass (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler wir heute über den Sechsten Tätigkeitsbericht der Stasi- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) unterlagenbehörde diskutieren. Dies ist auch deshalb In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Frist- gut, weil die Bevölkerung die vormals Gauck- und jetzt verlängerung bis zum Ende des Jahres 2007 zu sehen, Birthler-Behörde angenommen hat. Es besteht sowohl die jetzt erfolgt ist; denn dieses aufwendige Verfahren seitens der ehemaligen DDR-Bürger, der Bundesbürger macht nur Sinn, wenn man als Betroffener auch die überhaupt und der Behörden als auch seitens der Wis- Möglichkeit zur Rehabilitierung bekommt oder Anträge senschaft ein großes öffentliches Interesse. Die Auf- stellen kann. Sonst würde die Fristverlängerung ins arbeitung der zweiten deutschen Diktatur ist noch lange Leere laufen. nicht abgeschlossen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mittlerweile 5 Millionen Anträge sind ein Zeichen dafür, dass das Stasi-Unterlagen-Gesetz von der Bevöl- Die Kosten für die Wiederherstellung der Unterlagen kerung akzeptiert wird. Das sind 1,6 Kilometer neu er- sollen allerdings erst im Jahr 2005 in den Bundeshaus- schlossene Stasiunterlagen, monatlich 8 000 Anträge auf halt eingestellt werden. Das ist aus unserer Sicht zu spät. Akteneinsicht, Kopienherausgabe und Decknamenent- Herr Wiefelspütz, ich nehme Sie da beim Wort: Sie ha- schlüsselung, 17 000 Überprüfungsersuchen der Luft- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6533

Marga Elser (A) fahrtbehörden und weit mehr als 10 000 Überprüfungs- Meiner Ansicht nach ist das eine gute Lösung, weil da- (C) ersuchen des öffentlichen Dienstes. durch kein künstlich erzeugter Druck auf die Kollegen ausgeübt wird. Es kann keinen Generalverdacht geben. Ich danke der Bundesbeauftragten Marianne Birthler und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren Stellen Sie sich doch einmal vor, dass die Gemeinde- Einsatz. Sie verdienen ein großes Kompliment für die verwaltungen in meinem Wahlkreis in Baden-Württem- hervorragende Arbeit, die manchmal auch eine Kärrner- berg sich ohne irgendeinen Anlass einer Generalüber- arbeit ist. Die Birthler-Behörde ist ein fester und überaus prüfung unterziehen müssten! Dort, wo es angezeigt ist, wichtiger Bestandteil der Aufarbeitung der DDR-Ge- finden schon Überprüfungen statt. Deshalb sage ich schichte. noch einmal: Einen Generalverdacht darf es nicht geben. Das politische Gedenken an den 50. Jahrestag des (Beifall bei der SPD) Volksaufstandes am 17. Juni 1953 zeigt mir, wie wichtig die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes war. Für wichtig halte ich die Rekonstruktion und die Er- Viele Forschungs- und Filmprojekte hätten sonst nur be- schließung der vorvernichteten Unterlagen. Dazu ist dingt oder überhaupt nicht bearbeitet werden können. schon viel gesagt worden. Ich weiß, dass es eine Studie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gibt, mit der uns zu befassen wir im Innenausschuss Ge- DIE GRÜNEN) legenheit haben werden. Dann können wir die entspre- chenden Entscheidungen fällen. Ich hoffe da auf allge- Ich bin froh, dass uns nun Bücher, Filme usw. zur Verfü- meine Zustimmung. gung stehen. Ich habe diese zum Beispiel an die Schulen in meinem Wahlkreis weitergegeben. Sie sind auf sehr Über den Tag hinaus werden uns die Publikationen, großes Interesse gestoßen. wissenschaftlichen Arbeiten und Forschungen helfen, unsere gemeinsame Geschichte transparent zu machen. Der Sechste Tätigkeitsbericht widmet sich wieder ei- Ich möchte, dass wir jungen Menschen, Schülerinnen nem ganz speziellen Thema: den Stasihandlungen in und Schülern im Rahmen der politischen Bildung dabei der alten Bundesrepublik, vor allem den so genannten helfen, ein politisches Bewusstsein für dieses Thema zu Rosenholz-Dateien. Die Bundesregierung und der Bun- entwickeln. Das macht die Birthler-Behörde. Das ist eine destag haben sich mit Erfolg bemüht: Der US-Geheim- ganz wichtige Aufgabe, deren Bedeutung wir nicht hoch dienst CIA hat diese Stasiunterlagen jetzt an uns zurück- genug einschätzen können. gegeben. Das trägt sicher dazu bei, dass ein ganz bestimmter Arbeits- und Wirkungsbereich der Staats- Danke. sicherheit durchleuchtet werden kann: Was hatte die (B) Stasi im Westen Deutschlands zu tun? Wen hat sie ange- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (D) worben? Wie sind die Mühlen beschaffen, durch die un- GRÜNEN und der FDP) bescholtene Bürger verstrickt wurden? Von daher kön- nen wir die Rosenholz-Dateien für die geschichtliche Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aufarbeitung nur begrüßen. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Die Birthler-Behörde wird gewiss Jahre brauchen, alle Dorothee Mantel, CDU/CSU-Fraktion. relevanten Informationen zusammenzutragen und einen Gesamtzusammenhang herzustellen. Man muss deshalb (Beifall bei der CDU/CSU) den Menschen immer wieder klar machen, dass wir mit dieser Aufarbeitung erst am Beginn stehen und sie unter Dorothee Mantel (CDU/CSU): Umständen Geduld haben müssen. Wir müssen doch nur bedenken, dass auch die Aufarbeitung der NS-Zeit heute Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den noch nicht abgeschlossen ist und vermutlich nie abge- vorgelegten Tätigkeitsbericht kann man durchaus als schlossen werden kann. Auch die Rosenholz-Dateien eine Art politische Zwischenbilanz auffassen. Ohne Frau werden uns bestimmt noch sehr lange beschäftigen. Birthler einen Erfolg absprechen zu wollen: Das Wort „Zwischenbilanz“ hört sie selbst vermutlich gar nicht Mit dem Auftauchen dieser Daten erleben wir zurzeit gerne. Denn meistens vermitteln Zwischenbilanzen das eine etwas aufgeregte Debatte. Das ist vorhin schon dis- Gefühl, ein guter Teil der Arbeit sei schon getan. Doch kutiert worden. Auch der Deutsche Bundestag hat sich sie selbst kann wahrscheinlich am besten erkennen, wel- schon mit dieser Frage beschäftigt. Jeder Abgeordnete che Arbeit noch vor ihr liegt. kann freiwillig überprüfen lassen, ob in seinem Fall et- was vorliegt. Auch ich habe mich überprüfen lassen, Meinen Dank für die bisherige Arbeit möchte ich ihr weil der Geschäftsführer unserer Fraktion Wilhelm persönlich, ebenso aber allen Mitarbeitern aussprechen. Schmidt uns einen Brief geschrieben hat, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hören Sie mal zu, Herr Büttner!) Ich denke, es ist gerechtfertigt, in diesem Zusammen- hang von einer wirklich mühseligen Arbeit zu sprechen, in dem er uns darauf hingewiesen hat, dass wir uns über- die sie leistet und noch zu leisten hat. Denn auch was die prüfen lassen können. Das ist freiwillig. Ich bin dafür. Rekonstruktion der sprichwörtlichen Informations- (Beifall des Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz schnipsel betrifft, liegt die Arbeit noch vor ihr. Das ha- [SPD]) ben wir heute schon mehrmals gehört. 6534 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dorothee Mantel (A) Eine politische Zwischenbilanz kann gut gezogen Schulen und Angebote für Jugendliche müssen künftig (C) werden. Die Leitfrage meiner Generation ist: Wie gehen noch verstärkt werden; denn es zeigt sich, dass diese An- wir mit unserer jüngsten Vergangenheit um? gebote angenommen werden. Die Konstruktion der ehemaligen Gauck-Behörde Meine Leitfrage nach dem Umgang mit unserer Ver- und heutigen Birthler-Behörde hat sich zu einem deut- gangenheit ist in Bezug auf die politische Bildung dem- schen Exportschlager entwickelt. Nicht nur die morali- nach positiv zu bewerten. Aufarbeitung muss gerade sche Pflicht, in die Deutschland sich begeben hat, ist in- auch für die Generationen stattfinden, die keine eigenen ternational vorbildlich; auch die organisatorische Erinnerungen an diese Vergangenheit haben. Dieses Be- Konstruktion der Behörde ist beispielhaft. Die Arbeit wusstsein ist vorhanden. findet international Anerkennung. Die Inanspruchnahme der Behörde durch Bürger aus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dieter Ost und West zeigt, dass die Aufarbeitung der Vergan- Wiefelspütz [SPD]: Das stimmt!) genheit keine spezifisch ostdeutsche Angelegenheit ist. Die Aufarbeitung betrifft ganz Deutschland. – Ihr Lob, Herr Wiefelspütz, tut gut. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall des Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE [SPD]) GRÜNEN und der FDP) Auf eine organisatorische Entwicklung möchte ich in Daher sollte es in ganz Deutschland Vorbilder geben, die diesem Zusammenhang näher eingehen: die Zukunft sich überprüfen lassen. der Außenstellen. Ich möchte damit nochmals auf unsere Rolle als Ab- Die Struktur der Behörde und damit die Zahl der Au- geordnete zu sprechen kommen. Vielleicht hat es eine ßenstellen ist, wie Sie wissen, in der historischen Struk- andere Wirkung, wenn eine der jüngsten Abgeordneten tur des Aufbaus des Ministeriums für Staatssicherheit dazu etwas sagt. Vielleicht muss die Forderung, sich begründet. Die Außenstellen machen heute die Arbeit freiwillig überprüfen zu lassen, gerade von den jungen der Behörde sichtbar und auch erlebbar. Sie sind sozusa- Abgeordneten ausgehen und vielleicht müssen es auch gen der Kontakt und die Öffnung zur Bevölkerung. Wie gerade die jungen Abgeordneten sein, die den Finger auf dem Bericht der Arbeitsgruppe „Zukunft der Außenstel- diese Wunde legen. Ich selbst habe auch einen Antrag len“ zu entnehmen ist, wurden die Vorschläge für eine auf eine Überprüfung gestellt. Diesem Antrag wurde künftige Struktur sehr sorgsam vorbereitet. Man kann nicht entsprochen, da ich zum Zeitpunkt der Auflösung durchaus sagen, dass an die Vorbereitung dieser Ent- des Staatssicherheitsdienstes noch nicht volljährig war. scheidung mustergültig herangegangen wurde. (B) (D) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Auch die Rolle von Frau Birthler, die mit sehr viel Sensi- NEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ bilität vorgeht, möchte ich hier nochmals lobend hervor- DIE GRÜNEN]: Das hätte ich Ihnen auch vor- heben. her sagen können!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie – Es heißt aber auch, dass man sich über die Eltern über- des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ prüfen lassen kann, da die Kinder in den Unterlagen über DIE GRÜNEN]) die Eltern aufgeführt sind, Herr Kollege. Für einen speziellen Bereich der Arbeit sind die Au- Damit möchte ich sagen, dass ich einen Antrag auf ßenstellen von großer Bedeutung, nämlich für die politi- Überprüfung gestellt habe, obwohl die Umstände offen- sche Bildung. Mir ist an der Arbeit der Birthler-Behörde sichtlich waren. Das Zögern mancher Kollegen, sich sehr wichtig, dass die politische Bildung zum Anspruch überprüfen zu lassen, ist aus meiner Sicht unverständ- und zum Selbstverständnis gehört. Es zeigt sich, dass die lich. Anstrengungen in diesem Bereich schon Früchte tragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erfreulich ist auch die Tatsache, dass zwei Drittel der Besucher des Dokumentationszentrums in Rostock Ju- Eines vielleicht noch als Antwort auf Ihre Zwischen- gendliche waren. Auf die politische Bildung gerade für frage, die Sie vorhin gestellt haben, Herr Kollege Jugendliche und die Kooperation mit Schulen muss auch Wiefelspütz: Manchmal müssen Leute – das gilt auch für künftig großer Wert gelegt werden; Abgeordnete – zu ihrem Glück gezwungen werden. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran merkt man, dass Sie noch denn auch das Wissen um die jüngste deutsche Ge- sehr jung sind! – Dr. Dieter Wiefelspütz schichte gehört zur staatsbürgerlichen Bildung. [SPD]: Wie meinen Sie das, Frau Mantel?) Meine Damen und Herren, wichtig ist mir, dass die – Herr Wiefelspütz, wir setzen uns einmal nach der De- Bundesbeauftragte, Frau Birthler, erkennt, welche wich- batte zu zweit zusammen und dann erkläre ich Ihnen, tige Stellung ihre Behörde in der politischen Bildung was ich damit gemeint habe. schon mittelfristig einnehmen kann und auch einnehmen muss. Die Birthler-Behörde kann einen wichtigen Be- (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr gern, reich der politischen Bildung ausfüllen. Der Kontakt mit Frau Mantel! Wann und wo?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6535

Dorothee Mantel (A) Gerade die jungen Menschen in Deutschland, die Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): (C) selbst wenig oder nichts vom Ende der DDR bewusst Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und miterlebt haben, sollten die Politik und auch uns Politi- Herren! Natürlich muss man sich bei Ihnen allen und ker als Vorbild wahrnehmen. Sie sollten wahrnehmen, auch bei unseren Zuschauern herzlich bedanken, zu die- dass der Umgang mit der Vergangenheit nie ein theoreti- ser Stunde überhaupt noch sprechen zu dürfen. Eigent- scher bleiben darf, sondern immer auch ein persönlicher lich sollten wir besser woanders sein, am besten in der sein muss. Wie gehen wir mit unserer Vergangenheit Oper. um? – Meiner Einschätzung nach sehr verantwortungs- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- bewusst. Die heute wieder hoch gelobte „Koalition der wie der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜND- Vernunft“ muss deshalb dafür sorgen, dass wir auch NIS 90/DIE GRÜNEN] und des Abg. Hans- künftig die politischen Rahmenbedingungen dafür erhal- Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) ten. Warum? Vor 24 Stunden waren einige von uns Zeuge Herzlichen Dank. einer eindrucksvollen Veranstaltung im Kanzleramt, bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der es um die schönen Künste ging. neten der SPD des BÜNDNISSES 90/DIE (Zuruf von der SPD: Die war sehr gut!) GRÜNEN und der FDP) – Sie war in der Tat sehr gut. – Ich bedanke mich für die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Einladung. Da das gesprochene Wort gilt, bekenne ich, Ich schließe die Aussprache. dass ein Satz von Ihnen bei mir besonders haften geblie- ben ist, Frau Ministerin Weiss. Sie sagten nämlich – da- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf rum geht es heute –, Kultur mache glücklich. Drucksache 15/1530 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wol- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung len wir es mal hoffen!) so beschlossen. Niemand weiß so gut wie diejenigen, die sich mit den Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatzpunkt 5 schönen Künsten gern beschäftigen und sie auch genie- auf: ßen, dass es ein ganz besonderes Unglück ist, wenn Kul- tureinrichtungen kaputtgehen oder unnötig zugrunde ge- 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter richtet werden. Gauweiler, Günter Nooke, Bernd Neumann (Bre- men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wir haben gerade eine interessante Debatte über Hin- (D) (B) der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hans- terlassenschaften der ehemaligen DDR gehört. Zu ei- Joachim Otto (Frankfurt), Dr. Wolfgang Gerhardt nem weiteren, nicht immer rühmlichen Kapitel gehört und der Fraktion der FDP die Frage des Umgangs mit Kulturgütern – Museen, Or- chestern, örtlichen Theatern – in den Ländern der ehe- Errichtung einer Stiftung „Staatsoper Unter maligen DDR. Jeder weiß, wie viel Frust und Ärger hier den Linden“ entstanden ist. So reden wir nun über eine Staatsoper, die über viele Generationen hinweg als das bedeutendste – Drucksache 15/1790 – Opernhaus von ganz Deutschland galt und die in unseren Überweisungsvorschlag: Tagen einer der wichtigsten Kulturorte des wiederverei- Ausschuss für Kultur und Medien (f) Haushaltsausschuss nigten, europäischen Deutschlands ist: die Staatsoper Unter den Linden. ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann (Bremen), Renate (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion neten der SPD) der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hans- Über dieses Thema wird heute nicht nur im Deut- Joachim Otto (Frankfurt), Dr. Wolfgang Gerhardt schen Bundestag, sondern wurde heute auch im Berliner und der Fraktion der FDP Abgeordnetenhaus diskutiert. Sie wissen, dass der Kul- Staatsvertrag für die Hauptstadtkultur tursenator von Berlin, Herr Flierl, ein ganz bestimmtes Konzept ausgearbeitet hat, das offensichtlich mit der – Drucksache 15/1973 – Bundesregierung abgestimmt ist. Über dieses Konzept Überweisungsvorschlag: hat heute im Berliner Abgeordnetenhaus kein Vertreter Ausschuss für Kultur und Medien (f) der CDU oder der FDP, sondern eine Vertreterin der Ausschuss für Tourismus Grünen wie folgt geurteilt. Mir liegt hier eine Meldung Haushaltsausschuss des „Deutschen Depeschen Dienstes“ von vor wenigen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Stunden vor, in der es heißt: Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Grünen-Kulturexpertin Alice Ströver kritisierte im Berliner Abgeordnetenhaus heute das Senatskon- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege zept als Etikettenschwindel. Dr. Peter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- (Beifall bei der CDU/CSU) furt] [FDP]) 6536 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Peter Gauweiler (A) Die Behauptung der Koalition, wonach Berlin auf Es waren Sie, Frau Weiss, die geschrieben hat: (C) Dauer drei Opern finanzieren könne, sei Augenwi- scherei. Wo Theater und Museen geopfert werden, nur weil man nicht bereit ist, den steinigen Weg der Refor- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wo sie men zu gehen … Recht hat, hat sie Recht!) An einer anderen Stelle steht: Damit bestätigt diese Politikerin, was vor wenigen Tagen in einem Interview des „Tagesspiegels“ mit Herrn Schließungen sind immer nur das Ergebnis von Holender, dem langjährigen Direktor der Wiener Staats- kunstfeindlicher Denkfaulheit. oper, zu lesen war. Herr Holender wurde als aktueller Denkfaulheit steckt auch hinter Ihrer Vorgehensweise. Berater der Berliner Kulturszene gefragt, was hinter den Man muss sich nur die einzelnen Konzepte ansehen, die merkwürdigen Plänen des Senators stecke. Er antwor- im Gespräch sind, um das zu erkennen. tete, dahinter stecke „ein milder Weg zur Vereinigung“. Damit ist gemeint, man wolle sich heute nicht bekennen Es geht um ein Opernhaus, in dem Sie jeden Ab- und nicht offen zugeben, dass man in Berlin keine drei schnitt der deutschen Geschichte vor Augen geführt be- Opernhäuser halten könne. kommen können. Der Vorsitzende des Freundeskreises der Staatsoper, der frühere Außenminister Genscher, Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie werden sich wundern, warum sich hier ein Vertreter aus Mün- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist chen des Anliegens der Erhaltung der Berliner Opern- ein guter Mann!) landschaft annimmt. Ich glaube, dass diejenigen Recht haben, die sagen, es sei allem Föderalismus zum Trotze hat zu Recht erklärt: Hätte sich die Staatsoper während eine gesamtstaatliche Aufgabe der Teilung Deutschlands in Westberlin befunden, (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Genau!) NEN]: Aha!) gäbe es keine Debatte darüber, dass der Bund über die – ich habe dies immer getan und kann dafür auch Belege Stiftung Preußischer Kulturbesitz seine Verantwortung nennen –, dass wir alle für Berlin als Kulturhauptstadt für dieses Haus wahrnimmt. des wiedervereinigten Deutschlands einen Beitrag leis- Es ist nicht zu verstehen, warum Italien, Österreich ten müssen. oder Frankreich – – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist (B) Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- südlich des Weißwurstäquators!) (D) NEN]: Ist Bayern denn bereit, dafür etwas zu opfern?) – Wenn Sie bei diesem Thema nur Gedanken an Weiß- würste im Hinterkopf haben, dann müssen Sie nicht mir Es gibt einen prominenten Bayern, August Everding, ein schlechtes Zeugnis ausstellen, sondern sich selbst. der vor zehn Jahren in seiner Rede anlässlich der Protest- Herzliches Beileid, Herr Kollege! Jeder blamiert sich, so veranstaltung des Deutschen Bühnenvereins in Berlin gut er kann. zur Schließung des Schiller-Theaters, das zu Ihrer Freude die andere politische Seite zu verantworten hatte, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Folgendes erklärt hat: Es ist nicht einzusehen, warum sich andere Länder, Hier soll ein Zeichen gesetzt werden – ein falsches. die eine viel schlechtere Finanzausstattung haben, eine Hier soll gespart werden – so nicht. Das hat Schiller eigene Staatsoper leisten können, die Wirtschaftsmacht nicht verdient. Und Berlin auch nicht. Bundesrepublik Deutschland in ihrer Mitte aber nicht. Er schließt: Sie haben die Länder angesprochen. Ein Stadtstaat kann selbstverständlich keine drei Opernhäuser unterhal- Natürlich weiß ich um die Finanznöte in unserem ten. Ich frage Sie: Warum ist eigentlich keine Regelung wiedervereinigten Land. Erst recht um die Notwen- hinsichtlich der Staatsoper Unter den Linden in den Wie- digkeit des Sparens, auch in der Kultur, auch im dervereinigungsvertrag aufgenommen worden? Zum ei- Theater. Ich weiß aber auch, wie wichtig gerade in nen sollte damals die Hauptstadtfrage nicht angetastet diesen Zeiten fehlender Orientierung, materieller werden. Das war damals Konsens zwischen allen Seiten Not und mangelnder Perspektiven die Kultur ist: ja, dieses Hauses; das wissen Sie ganz genau. Zum anderen auch als Lebenshilfe. wurde die Frage nach dieser Oper als ganz kleines Detail Ich halte es für ein Armutszeugnis, dass wir in unse- im riesengroßen Werk, das damals bewältigt werden rem wiedervereinigten Land, in dem Geld in so vielen musste, von allen politischen Seiten schlicht und ergrei- Fällen unnötig rausgeschmissen wird – jede Politikerin fend übersehen. und jeder Politiker in diesem Rund kennt genügend Bei- spiele –, nicht die Kraft haben sollen, ein Opernhaus die- Auch München oder Hamburg können keine drei ser Qualität zu unterstützen und seine Sache zu der uns- Opern unterhalten. Die Alternative lautet deswegen, dass rigen zu machen. entweder die Oper geschlossen werden muss oder dass wir bereit sind, dieses Anliegen auf unsere Fahnen zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schreiben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6537

Dr. Peter Gauweiler (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nehmen sollen, gegründet sein wird. Es geht hierbei um (C) Monika Griefahn [SPD]: Sie sind ja sogar ge- eine Ballett-GmbH, eine Service-GmbH und weitere gen eine Bundeskulturstiftung!) GmbHs mit riesigen Führungsapparaten, in denen jede Menge Politiker und Senatoren vertreten sein sollen, Die Übernahme der Staatsoper durch den Bund wäre ein aber kein einziger Musikdirektor, was übrigens kenn- Zeichen dafür gewesen, dass wir nicht irgendwelche ju- zeichnend für das Weltbild ist, das hinter diesen Appara- ristischen Konstruktionen schaffen und die Kulturpolitik ten steckt. total verrechtlichen wollen, sondern dass wir sichtbar machen, dass es uns ernst damit ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte noch etwas sagen. In der gestrigen Fragestunde ist zu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tage getreten, dass Frau Weiss in den nächsten Wochen Herr Kollege Gauweiler, gestatten Sie eine Zwischen- oder gar Tagen frage der Kollegin Vollmer? (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: „Tagen“ hat sie gesagt!) Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): Wenn das nicht von meiner Zeit abgeht, ja. eine Verwaltungsvereinbarung mit dem Berliner Senat unterzeichnen will. Ich möchte Sie hier in aller Form bit- ten, davon Abstand zu nehmen. Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich möchte Ihnen folgende Frage stellen: Warum sa- (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- gen Sie nicht offen, dass die Übernahme der Staatsoper furt] [FDP]) durch den Bund im Gegenzug bedeuten würde, die Deutsche Oper in Westberlin zu schließen? Die Verwaltung kann eine Verwaltungsvereinbarung nur dann unterzeichnen, wenn sie dazu befugt ist. Wird (Günter Nooke [CDU/CSU]: Was denn? – durch eine Verwaltungsvereinbarung eine grundsätzliche Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist Vorfestlegung über die Verwendung von Haushaltsmit- doch Unsinn!) teln getroffen, so steht dies grundsätzlich unter dem Haushaltsvorbehalt. Wir befinden uns mitten in den Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): Haushaltsberatungen des Deutschen Bundestages. Die Ich sage offen, dass genau das nicht das Ergebnis Haushaltsgesetze werden frühestens Anfang Dezember wäre. Das Gegenteil ist richtig. Sie versuchen mit dieser verabschiedet sein. Konzeption – übrigens im Widerspruch zu Ihren Partei- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Am (B) freunden im Berliner Abgeordnetenhaus – zu verdecken, 28. November!) (D) dass das Konzept des rot-roten Senats in Berlin darauf hinausläuft, eine große Opernfusion durchzuführen. Es ist absolut unzulässig, dass die Verwaltung in den nächsten Tagen, mitten während der Haushaltsberatun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen, im Wege der Vorfestlegung eine Vereinbarung Sie brauchen sich ja nur diesen GmbH-Salat anzu- schließt, durch die die Beratungen des Parlaments letz- schauen, den Herr Flierl angerichtet hat. Es ist immer ten Endes überflüssig gemacht werden sollen, um hier verhängnisvoll, wenn Staatssozialisten einen auf markt- eine Art der politischen Vorwegbindung zu erreichen. wirtschaftlich machen. Ist es wirklich wahr – das müssen Sie ja besser wissen (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Oh Gott! – als wir –, dass diese Verwaltungsvereinbarung nicht ein- Monika Griefahn [SPD]: Das ist aber eine alte mal einen Parlamentsvorbehalt enthält? Wenn das so Kampflinie!) ist: Finden Sie als Parlamentarier, die Sie das Befürwor- – Das ist nicht die alte Kampflinie. ten und das Ablehnen unseres Antrags, also das Für und Wider, abwägen – wobei die Reihen bei Ihnen, wie Sie (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Es ist selbst wissen, nicht so dicht sind, wie Sie immer behaup- schon in Ordnung, ein wenig Ideologie hinein- ten –, das wirklich richtig? zumischen!) Frau Weiss, Sie sprechen jetzt gleich zu uns. Ich bitte Es wurde heute erklärt, dass das Berliner Konglome- Sie, die Gelegenheit zu nutzen, uns erstens zu erklären, rat ab dem 1. Januar 2004 seine Tätigkeit aufnehmen ob in den vorliegenden Entwurf ein Parlamentsvorbehalt könnte. Ich biete allen Anwesenden eine hohe Wette um eingefügt wurde und uns zweitens zu versichern, dass eine Einladung in die Staatsoper und danach zum Sie die Bundesrepublik Deutschland ohne eine abschlie- Abendessen an ßende Behandlung in diesem Hause nicht in entspre- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Oh ja, chender Weise festlegen werden. mit Weißwurst! – Gegenruf der Abg. Claudia (Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frank- Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- furt] [FDP]) NEN]: Weißwurst isst man am Abend nicht!) Alles andere wäre nicht nur politisch schädlich, sondern – Herr Kollege, Sie bekommen eine Weißwurst von mir auch rechtswidrig. Das sollten Sie nicht tun. persönlich überreicht –, dass bis zum 1. Januar 2004 keine einzige der GmbHs, die dann ihre Tätigkeit auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 6538 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: brauchen wie jede Kulturinstitution dringend eine (C) Das Wort hat die Staatsministerin Dr. Christina Weiss. Strukturreform. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kanzler: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich Der Kauf eines nicht reformierten Opernhauses würde das erste Mal von diesem Antrag hörte, über den wir die Probleme nur verschieben. Die Frage, was mit der heute befinden, glaubte ich, irgendjemand hätte die Zeit Deutschen Oper und der Komischen Oper passiert, zurückgedreht. würde damit nicht beantwortet und die Bundesregierung müsste als Erstes eine Theaterreform angehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wichtiger – von der Opposition vielleicht absichtsvoll DIE GRÜNEN) verschwiegen – ist die Frage nach den Kosten. Derzeit Die Debatte über die Staatsoper und die herausragenden beteiligt sich der Bund mit 22 Millionen Euro zusätzlich Kultureinrichtungen der DDR gehört doch ins letzte an der Berliner Kultur. Jahrhundert, in eine Zeit, die mehr als zehn Jahre zu- (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) rückliegt. Der damalige Bundeskanzler Kohl hatte die Frage übrigens längst beantwortet: Er konnte sich weder Zum Vergleich: Die Staatsoper benötigt jährlich 45 Mil- für die Berliner Kultur noch für eine Bundesoper erwär- lionen Euro. Hinzu kommen Sanierungskosten. men. Über die 28 Millionen DM, die er für die Berliner (Günter Nooke [CDU/CSU]: Frau Weiss, Sie Kultur zu erübrigen gedachte, wollen wir vornehm müssen noch auf die Frage von Herrn schweigen; denn inzwischen finanzieren wir die Berliner Gauweiler antworten!) Kultur mit jährlich 407 Millionen Euro. Die Opposition verlangt, in diesen schwierigen Zeiten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ein Mehrfaches auszugeben. Dass das nicht möglich ist, DIE GRÜNEN) ist nicht nur für diejenigen leicht zu erkennen, die sich mit Viele Reförmchen und viele gescheiterte Reformen dem Haushalt befassen. Der Vorschlag der Union, für die später sind wir nunmehr dabei, der Berliner Opernland- Staatsoper eine andere Institution zu opfern, ist fahrlässig schaft endlich zu einem tragfähigen Fundament zu ver- und unausgegoren. Stellen Sie sich das bitte einmal vor! helfen. Bitte rufen Sie sich in Erinnerung: Als wir im Das würde bedeuten, dass wir die Berlinale abschaffen letzten Jahr diese Debatte begonnen haben, war die und den Etat des Jüdischen Museums kürzen würden. Bedrohung der Deutschen Oper in der Tat groß. Es (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ach (B) war meine Aufgabe als Staatsministerin für Kultur, die was! Frau Weiss, das ist völlig unseriös! Das (D) Hauptstadt unseres Landes vor einer solchen Peinlich- ist wirklich Quatsch! – Gegenruf der Abg. keit zu bewahren. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Man hat ein wenig den Eindruck, dass Sie die ganze NEN]: Das ist die nackte Wahrheit!) Diskussion dieses Jahres verpasst haben und dass Sie 45 Millionen Euro aus unserer Kulturförderung für Ber- sich nun vor den Karren von Einzelinteressen spannen lin herauszuschneiden ist nur durch Opferung mehrerer lassen, Institutionen denkbar. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) um im letzten Moment durcheinander zu bringen, was Ich darf noch etwas zu dem Thema sagen: „Eine Kul- längst auf einem guten Wege ist. turnation leistet sich eine Oper.“ Deutschland als Kul- turnation leistet sich etwa 80 Opern. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: So sehr gut ist der Weg wohl nicht! Keiner will (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ihn haben, kein Intendant, niemand!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Uns geht es um Hilfe zur Selbsthilfe. Ich will es noch Es gibt in Deutschland nicht nur eine Staatsoper, sondern einmal sagen: Der Bund beteiligt sich an der Opernre- es gibt auch welche in Hamburg, Hannover und Mün- form indirekt, indem wir dem Land Berlin durch die chen. Die Frage sollte erlaubt sein: Sind diese Häuser Übernahme der Akademie der Künste, der Stiftung Ki- der Staatsoper Unter den Linden nicht mehr als ebenbür- nemathek und des Hamburger Bahnhofs den Spielraum tig? Wird nicht auch hier ein provokantes, häufig gelob- zur Reform geben. tes Musiktheater geboten? Ich weiß, dass München eine sehr gute Oper hat. Mich wundert eher, dass Sie von uns (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wenn wir die nicht fordern, diese Oper zu übernehmen, weil es die Oper übernehmen, wäre der Spielraum noch beste in Deutschland ist. größer!) Soll der Bund alle Staatsopern sammeln? Darüber Mit dem Geld, das im Berliner Kulturhaushalt verbleibt, können wir vielleicht verhandeln. Aber dann müssen wir geben wir die Chance zu einer Reform. auch über die Kulturhoheit der Länder verhandeln. Ich will gerne wiederholen, was gegen die Über- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir ha- nahme der Staatsoper spricht. Die drei Opernhäuser ben gerade eine Föderalismuskommission!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6539

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) – Ich wäre nicht unglücklich, wenn sich die Föderalis- der Senat am nächsten Dienstag zustimmen wird. Dort (C) muskommission vernünftig mit dem Thema der Kultur- zeichnet sich aber keine Ablehnung ab. hoheit befassen würde. Der Hauptstadtkulturvertrag, Herr Gauweiler, muss (Dr. Peter Gauweiler [CDU/CSU]: Dümmer doch ein flexibles Instrument sein, das unser Miteinander können Sie sich nicht ausdrücken!) und auch den Vollzug der Opernstiftung regelt. Der Ver- trag regelt in erster Linie die Übernahme der Institutio- Der neue Hauptstadtkulturvertrag ist mit der Tinte nen und die Fortsetzung unserer alten Vereinbarungen. des Realismus geschrieben. Er hat aber einen Paragraphen, den § 5, mit dem sich die (Günter Nooke [CDU/CSU]: Was?) Bundesregierung vorbehält, dem Land Berlin weniger Geld zu geben, falls Berlin den Entwurf der Stiftung Wir haben uns für praktikable Lösungen, nicht für das nicht umsetzt oder erheblich verändert umsetzen wird. teuerste aller denkbaren Modelle entschieden. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist doch (Günter Nooke [CDU/CSU]: Jetzt widerspre- nicht die Antwort!) chen Sie sich doch!) Wir brauchen keine Zementierung in Form eines Staats- Die drei Berliner Opernhäuser werden unter dem Dach vertrages; wir brauchen ein flexibles Instrument. der Stiftung selbstständige GmbHs. Sie sind künstlerisch und wirtschaftlich autonom. Sie erhalten Planungssi- (Dr. Peter Gauweiler [CDU/CSU]: Also ma- cherheit und können Rücklagen bilden, um sich damit chen Sie keinen Parlamentsvorbehalt?) für die Zukunft abzusichern. – Wir haben einen Vorbehalt im Vertrag formuliert und Die Opernstiftung steht am Ende einer leidigen De- wir haben im Haushaltsausschuss zugesagt, dass wir mit batte. Sie ist das Ergebnis der Vernunft und ein Beispiel den Berichterstattern über jede Veränderung bei der für modernes Theatermanagement. Wir wollen die Berli- Umsetzung des Stiftungsentwurfs verhandeln. ner Reform auch deshalb transparent und exemplarisch Abg. Günter Nooke [CDU/CSU] und Abg. machen, damit sie als Vorbild für andere Kulturinstitu- Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP] melden tionen gilt. sich zu einer Zwischenfrage – Monika Herr Gauweiler, ich habe erlebt, dass Sparen für Kul- Griefahn [SPD]: Wir machen keine Podiums- turinstitutionen nur dann möglich ist, wenn sie eine diskussion! – Gegenruf des Abg. Günter funktionsfähige Struktur haben. Es ist nicht möglich, Nooke [CDU/CSU]: Wir führen eine kulturelle wenn sie als Riesenabteilungen von Behörden betrieben Debatte!) (B) werden. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen gesagt, (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass wir keine zementierte Form brauchen. Es gibt in DIE GRÜNEN) solchen Fällen nie Staatsverträge. Es gibt Vertragsab- schlüsse, die flexibel genug sind, um reagieren zu kön- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nen, wenn sich die Situation ändert. Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ich danke Ihnen. Kollegen Gauweiler? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- kanzler: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ja. Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto, FDP- Fraktion. Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): Frau Ministerin, könnten Sie bitte noch auf die Frage (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Frau eingehen, ob in der Verwaltungsvereinbarung mit dem Präsidentin, ich hatte mich eben gemeldet, um Land Berlin, die Sie für die nächsten Tage angekündigt eine Frage zu stellen! Ich möchte diese Frage haben, von Ihnen ein Parlamentsvorbehalt vorgesehen ist stellen, bevor ich rede!) oder nicht? – Herr Kollege Otto, ich habe die Zwischenfrage deshalb (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE nicht zugelassen, weil die Redezeit weit überschritten GRÜNEN]: Warum lassen Sie sie denn nicht war und Sie der nächste Redner sind. Ich bitte Sie, jetzt ausreden?) ans Rednerpult zu kommen und Ihre Rede zu halten. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das gilt für mich Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- nicht! Ich bin nicht Redner!) kanzler: – Dasselbe gilt für Herrn Nooke. Die Redezeit der Frau Ich bin Ihnen dankbar, Herr Gauweiler, weil Sie mir Ministerin war überschritten. jetzt die Brücke von dem einen Thema zum dem anderen gebaut haben. Wir haben einen Hauptstadtkulturvertrag (Günter Nooke [CDU/CSU]: Aber sie hat ge- unterschriftsreif vorliegen. Er ist paraphiert und, wenn redet! Dann darf ich auch fragen, wenn sie Sie so wollen, unterschrieben mit dem Vorbehalt, dass mich beschimpft!) 6540 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): gigkeit der Bühnen und würde zu finanziellen Opfern (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- führen. ehrte Frau Staatsministerin Weiss, ich will Ihre letzten Zweitens. Wir alle haben einen Brief des Vereins der Worte aufgreifen. Wir brauchen keine zementierte Rege- Freunde und Förderer der Deutschen Staatsoper Berlin lung, wir brauchen eine flexible Regelung. Die Frage, bekommen, in dem sie sich für eine Bundeslösung aus- die ich Ihnen gerne stellen wollte und leider nicht stellen gesprochen haben und den alle Beteiligten unterschrie- durfte, lautet: Wenn Sie denn wirklich eine flexible Re- ben haben. gelung wollen, weshalb machen Sie überhaupt eine Ver- waltungsvereinbarung? Weshalb machen Sie vor allem (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist eine Verwaltungsvereinbarung, die gar nicht mehr künd- doch egoistisch! – Dr. Antje Vollmer [BÜND- bar ist und die laut § 8 dieses Vertrages die Beziehungen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Beteiligten spre- zwischen dem Bund und dem Land Berlin abschließend chen sich für sich selbst aus!) regelt? Die Beteiligten sprechen sich also für die Bundeslösung Ich will es Ihnen in aller Klarheit sagen: Wir wollen aus. Nennen Sie mir doch einmal jemanden, der Ihre Lö- eine flexible Regelung. Wenn Sie aber jetzt eine Verwal- sung befürwortet! Das ist weder bei der Komischen Oper tungsvereinbarung vorsehen, die nicht mehr kündbar ist noch bei der Deutschen Oper und schon gar nicht bei der und durch die viele Hundert Millionen Euro pro Jahr Staatsoper der Fall. zwischen dem Bund und dem Land Berlin hin- und her- geschoben werden, dann bedeutet das eine klare Brüs- Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie kierung dieses Parlamentes. mahnen immer, auf die Betroffenen und Beteiligten zu hören. Hier äußern sich die Beteiligten! Sie sprechen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sich für eine andere Lösung aus. Das will ich Ihnen sagen, damit Sie wissen, woran Sie (Monika Griefahn [SPD]: Sagen Sie doch ein- sind. Sie werden von uns Widerstand und harte Kritik er- mal, was wir herausschmeißen! Das würde fahren, wenn Sie diesen Vertrag abschließen, weil Sie mich wirklich interessieren!) dem Parlament seine Rechte nehmen. – Stellen Sie mir eine Zwischenfrage; dann beantworte Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie ich sie. Denn meine Redezeit ist um. sind auch Bundestagsabgeordnete. Wie darf ich es ver- stehen, dass eine zentrale Frage der Hauptstadtkultur un- (Heiterkeit bei der SPD) ter Ausschluss der Beteiligung des Bundestages geregelt Sehen Sie, so gehen Sie vor. Sie schneiden mir in ei- (B) wird? Das ist nicht akzeptabel; das ist nicht gut. ner Kulturdebatte die Frage ab. Sie erlauben mir keine (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/ Frage an die Staatsministerin und Sie erlauben mir nicht, CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihnen zu antworten. Was denken Sie denn? Wenn wir das bei allen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Keiner 250 Milliarden Euro im Haushalt machen wür- fragt, er antwortet! – Claudia Roth [Augsburg] den!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen – Lieber Herr Schmidt, Sie sollten einmal darüber nach- Sie doch selber lachen!) denken, ob es in Ordnung ist, dass ein Bundestagsabge- Ich bin ziemlich empört darüber, wie Sie vorgehen. Wir ordneter sich selbst die Möglichkeit der Regelung führen eine Kulturdebatte, aber Sie lassen es drei Minu- nimmt. ten lang nicht zu, dass ich eine Frage stellen kann, und (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Über- Sie erlauben mir nicht, auf Ihre Frage zu antworten. Ich treiben Sie doch nicht! Völliger Unsinn!) muss Ihnen offen und in aller Klarheit sagen, dass ich das nicht in Ordnung finde. Wenn dieser Antrag heute abgelehnt wird, bedeutet das (Beifall des Abg. Günter Nooke [CDU/ eine Brüskierung des Parlaments. CSU] – Heiterkeit bei der SPD und dem Die Kürze der Redezeit erlaubt mir nur noch, kurz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und stichwortartig darauf einzugehen, warum wir für die von uns vorgeschlagene Lösung einer eigenständigen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Stiftung sind. Viele Argumente sind bereits genannt Herr Kollege Otto, Sie haben bereits vier Minuten ge- worden. Ich möchte noch kurz zwei Gründe hinzufügen: redet und damit praktisch die für eine Frage zur Verfü- Erstens. Dass dem Stiftungsrat der Stiftung, die Sie gung stehende Zeit gehabt. neu einrichten wollen, nicht etwa nur der Kultursenator, (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: sondern auch der Finanzsenator angehören soll, wirft ein Der Kollege Gauweiler meldet sich seit einer Schlaglicht auf die Sache. Nachtigall, ick hör dir trap- halben Minute zu einer Zwischenfrage!) sen! Was passieren wird, wenn der Finanzsenator in den Stiftungsrat aufgenommen und das gesamte Stiftungsge- – Die Redezeit des Kollegen Otto ist bereits seit einer setz unter Haushaltsvorbehalt gestellt wird, wissen wir Minute abgelaufen. Ich lasse keine weitere Zwischen- bereits. Das wäre ein schwerer Eingriff in die Unabhän- frage zu. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6541

(A) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): sind – und zwar zwischen der ersten und zweiten Bera- (C) Wenn Sie das für überzeugend halten, dann machen tung des Haushaltes für 2004 –, dass heute im Abgeord- Sie so weiter. Angesichts dessen, was sich hier abspielt, netenhaus zu Berlin zum ersten Mal über die Stiftungs- müssen Sie sich wirklich ein Armutszeugnis ausstellen. lösung für die drei Opern, die man unter einem Generalintendanten fusionieren möchte, verhandelt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wurde und dass erst nächste Woche in Berlin eine Anhö- Monika Griefahn [SPD]: Stellen Sie das ein- rung zu diesem Thema stattfinden wird, dass wir uns mal im Ausschuss zur Diskussion! – Claudia also mitten in dieser Debatte befinden und damit noch Roth [Augsburg] (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rechtzeitig kommen, um eine vernünftige Lösung auf NEN]: So kann man ein Thema auch diskutie- den Weg bringen zu können? ren! – Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich habe mich vorhin ganz ordentlich während der Re- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dezeit gemeldet! Das läuft hier nicht fair!) Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Stimmen Sie mit mir überein, lieber Herr Nooke, dass Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Antje Vollmer, über die Probleme der Berliner Kulturlandschaft schon Bündnis 90/Die Grünen. zu der Zeit, als Herr Stölzl noch Kultursenator war, dis- kutiert worden ist, dass Herr Stölzl damals ein Papier Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vorgelegt hat, das dem, was wir verabschiedet haben, au- Passen Sie auf, Herr Nooke! Kritik an der Präsidentin ßerordentlich nahe gekommen ist, dass er es aber damals ist nicht erlaubt. Ich meine damit nicht mich, sondern nicht verstanden hat, dafür eine politische Mehrheit zu Frau Kastner. organisieren, dass sich auch die CDU/CSU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus für unser Modell ausgespro- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich habe nur ge- chen hat und dass Sie nun plötzlich – wie Zieten aus dem sagt, das läuft nicht fair! Wer dafür verant- Busch – ein alternatives Modell vorlegen, das auch von wortlich ist, das wissen andere!) Ihrer Parteivorsitzenden unterstützt wird? Ich wundere Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mich, wofür Ihre Parteivorsitzende in diesen Tagen Zeit Die vorliegenden Anträge scheinen mir ein bisschen der hat. Parole „Lass verspätet tausend Blumen blühen“ zu fol- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ gen. Denn die beiden vorliegenden Anträge kommen zu DIE GRÜNEN und bei der SPD) spät. Ich muss mich schon wundern. Wenn Ihnen die Staatsoper Unter den Linden so wichtig gewesen wäre Das Ganze ist schon sehr komisch. Ich bleibe dabei, dass (B) – mir ist sie sehr wichtig –, dann bräuchte ich Sie nicht Sie Ihr Modell erst sehr spät vorgelegt haben. (D) daran zu erinnern, dass bereits seit mehr als fünf Jahren (Günter Nooke [CDU/CSU]: Unsere Partei- intensiv darüber diskutiert wird. vorsitzende interessiert sich im Gegensatz zu Sie geben an dem Tag eine Presseerklärung ab, an Ihrem Parteivorsitzenden nun einmal für Kul- dem die gesamte Rettung der Opernlandschaft im Haus- tur! – Unruhe beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- halt verankert worden ist. NEN und bei der SPD) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE – Darf ich jetzt weiterreden? GRÜNEN]: Jetzt kommen sie!) (Glocke der Präsidentin) Jetzt, nachdem alles geregelt ist, bringen Sie Ihren An- Erstens haben Sie, wie gesagt, Ihr Modell sehr spät trag in den Bundestag ein. Schon das spricht nicht be- vorgelegt. Zweitens scheint es mir das Ergebnis eines sonders für Seriosität. verzweifelten Lobbyismus zu sein. Herr Otto, Sie haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesagt, die Beteiligten sprächen sich für das in dem ge- und bei der SPD) meinsamen Antrag von CDU/CSU und FDP vorgeschla- gene Modell aus. Wenn ich das richtig sehe, hat sich nur Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ein beteiligtes Haus, in dem der Widerstand besonders Frau Kollegin Vollmer, gestatten Sie eine Zwischen- groß ist, dafür ausgesprochen. Das ist normaler Lobbyis- frage des Kollegen Nooke? mus, normale Interessenvertretung, stellt aber keines- wegs die breite Front der Betroffenen dar. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Jetzt ist es wohl rechtzeitig!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wer spricht sich denn für Ihr Modell aus? – Günter Nooke Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): [CDU/CSU]: Nicht einmal die Abgeordneten Aber klar, Herr Kollege Nooke. in Berlin!) (Beifall bei der FDP) – Alle Vertreter, die an den langen Gesprächen teilge- nommen haben, übrigens auch die der Staatsoper Unter Günter Nooke (CDU/CSU): den Linden, die während der Verhandlungen sehr unter- Liebe Kollegin Vollmer, stimmen Sie mit mir darin schiedliche Signale ausgesendet haben. Darauf muss überein, dass wir zurzeit bei den Haushaltsberatungen auch hingewiesen werden. 6542 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Dr. Antje Vollmer (A) Drittens. Ich finde, dass Sie bei der Formulierung auch im Kulturbereich das Engagement aller, um die (C) Ihres Vorschlags außerordentlich reformfaul waren. ganze Kulturlandschaft zu erhalten. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) Da wir alle im Moment über die beste Reform streiten, Die Frau Staatsministerin hat schon darauf hingewie- frage ich: Wo ist denn Ihr Reformvorschlag? Sie haben sen, dass wir uns in einer ganz besonderen Situation be- lediglich den Finanzierungsvorschlag gemacht, die finden. Unser Land leistet sich nicht nur eine Oper, son- Staatsoper Unter den Linden in die Zuständigkeit des dern 80 Opern. Und das eigentliche Signal für die Bundes zu geben. Aber von Reformen ist in Ihrem An- Kulturlandschaft in Deutschland besteht darin, dass es trag nichts zu lesen. Ich weiß auch nicht, was es mit ei- die Hauptstadt schafft, sich unter diesem finanziellen ner Reform zu tun hat, ein Haus in einen sicheren Hafen Druck drei Opern zu leisten, indem sie sie dazu bringt, zu bringen. gemeinsam eine erfolgreiche Reform durchzuführen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und bei der SPD) Frau Kollegin Vollmer, gestatten Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Otto? Von der Schließung einer Oper – genau das wäre da- bei herausgekommen, wenn der Bund eine Oper über- nommen hätte – wäre das Signal ausgegangen: So kön- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nen auch andere Städte vorgehen. Genau dieses Signal Ja, gerne. wollten wir nicht geben. Wir wollten vielmehr ein Si- gnal der Solidarität geben: Alle sollten gemeinsam äu- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): ßerste Anstrengungen unternehmen, um ihr Haus für die Ich bin ganz beglückt, dass ich jetzt eine Zwischen- neuen Zeiten fit zu machen. frage stellen darf. – Verehrte Frau Kollegin Dr. Vollmer, sind Sie bereit, mir zuzugestehen, dass justament heute Im Übrigen ist das für Berlin außerordentlich wichtig. im Berliner Abgeordnetenhaus – dort gehört das auch Alle wissen, dass Berlin auf lange Zeit kein Industrie- hin – der Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Büh- standort mehr sein wird. In den drei Opern gibt es min- nen von der FDP-Fraktion vorgelegt worden ist? Wis- destens 3 000 Arbeitsplätze. Darüber hinaus gibt es im sen Sie davon? Sie haben ja behauptet, dass wir reform- Umfeld dieser Häuser jede Menge Arbeitsplätze im faul seien. Dienstleistungsbereich. Abgesehen davon muss man einmal sehen, was es für die Zukunft Berlins bedeutet, (B) wenn man Kultur nicht nur als einen kulturellen, sondern (D) Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch als einen wirtschaftlichen, einen sozialen und übri- Ich muss leider zugeben, dass ich nicht wusste, dass gens auch als einen psychologischen Faktor für diese Sie einen Reformvorschlag gemacht haben. Das finde Stadt versteht. ich schön. Er kommt trotzdem sehr spät. Wenn Sie ihn mir zuschicken, werde ich ihn mir gerne anschauen. Ich bin außerordentlich froh, dass wir diese Anstren- gungen vollbracht haben. Ich bin froh, dass wir diese (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Verwaltungsvereinbarung in vielen Gesprächen mit den DIE GRÜNEN und bei der SPD) Beteiligten – man weiß, dass das mit Künstlern nie so Zu dem Vorschlag einer Berliner Oper in Bundeszu- besonders einfach ist – zustande gebracht haben. Ich ständigkeit möchte ich anmerken – das ist ein sehr schö- kann nur alle auffordern, sich diesem Experiment nicht nes Beispiel –, dass der Bund bislang nur an der Oper in zu verschließen. Ich sage ausdrücklich: Ich bitte auch die Bayreuth beteiligt ist. Ich frage Sie ernsthaft: Möchten Staatsoper, sich an diesem Experiment zu beteiligen. Ich Sie angesichts der Erfahrungen, die wir bei der Beset- bitte den Kultursenator, sobald wie möglich dafür zu sor- zung des Intendantenpostens in Bayreuth gesammelt ha- gen, dass die Deutsche Oper endlich einen Intendanten ben, und der Reformfähigkeit der Oper in Bayreuth – ich bekommt, damit sie wieder mitreden kann. liebe dieses Haus genauso sehr wie Sie, Herr Danke. Gauweiler –, dass der Bund auch noch für die Berufung eines Intendanten an einer Berliner Oper zuständig ist? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich glaube, diese Mühe sollten wir uns von ganzem Her- und bei der SPD) zen ersparen. Vor diesem Hintergrund finde ich, dass Ihr Vorschlag ein bisschen lebensfern ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ihre Vorstellung, dass sich der Bund zum Promoter ei- Ich gebe dem Kollegen Gauweiler das Wort zu einer nes Hauses machen soll, sollte aber auch Anlass geben, Kurzintervention. gründlich darüber nachzudenken, ob der Lobbyismus für ein einzelnes Haus – das kommt auch in anderen Be- Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): reichen, zum Beispiel in der Theaterszene, immer wieder Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich bin sowohl Frau vor – unserer heutigen Kulturlandschaft angemessen ist. Weiss als auch Frau Vollmer eine kurze Entgegnung Wir brauchen nicht mehr das Recht des Stärkeren oder schuldig. Frau Vollmer, ich kann zum einen nicht verste- – im Kulturbereich – das Recht des Genies, sich auf hen, warum Sie hier das Beispiel Bayreuth so ironisie- Kosten anderer durchzusetzen. Wir brauchen vielmehr ren. Im Gegensatz zu Ihnen halte ich sowohl die finanzi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6543

Dr. Peter Gauweiler (A) elle Struktur als auch die Art und Weise der Aufteilung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) der Verantwortung, in Bayreuth für sehr gelungen. Ich meine, dass man an dem Beispiel Bayreuth sieht (Monika Griefahn [SPD]: Das ist nicht zu – das kann man durchaus auch mit einer gewissen 100 Prozent der Bund! Das ist nämlich gedrit- Chuzpe für die Person von Wolfgang Wagner sagen –, telt!) dass die Politik in der Frage von Intendantenberufung Ich denke, dass es all diejenigen im Haus, die mit Bun- und Intendantenentlassung nicht besonders erfolgreich deskultur beschäftigt sind, für sinnvoll halten, Bayreuth ist. Nur in dem Zusammenhang habe ich das gesagt. als Beispiel zu verstehen und nicht – nach dem Motto Da ich jetzt auf die Kurzintervention eingehen kann, „Koste es, was es wolle“ – die Durchsetzung eines ande- möchte ich noch etwas zu Ihrem Vorschlag sagen, die ren Konzepts, von dem alle Beteiligten nicht überzeugt Staatsoper der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu sind – dazu haben Sie nichts gesagt –, übers Knie zu bre- übertragen. Sie bieten da jemandem ein Geschenk an, chen. der es gar nicht haben will. Wenn Sie Professor (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE Lehmann fragen würden, dann würde er sich herzlich GRÜNEN]: Natürlich hat sie etwas dazu ge- bedanken. Er versteht etwas von Sammlungen, Archiven sagt!) und Museen. Das entspricht der Aufgabe der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Er hat aber keine Kenntnisse Frau Ministerin Weiss, ich stelle fest, dass Sie weder darüber, wie mit einer Oper verwaltungsmäßig umzuge- auf meine Frage noch auf die Fragen aus der Mitte des hen ist. Ihr Geschenk ist also sozusagen in die Luft ge- Parlaments noch auf die Anmerkung des Kollegen Otto pustet. Der, für den Sie es gedacht haben, will es gar eingegangen sind. Wir haben Ihnen – jenseits des Für nicht haben. und Wider dieser Anträge – vorgehalten, eine Verwal- tungsvereinbarung ohne Parlamentsvorbehalt durch Ihre Beamten treffen lassen zu wollen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ich habe Sie ausdrücklich danach gefragt, ob in dieser Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion. Verantwortungsvereinbarung ein solcher Parlamentsvor- behalt enthalten ist. Sie haben dazu nur gesagt, dass es ei- (Beifall bei der SPD) nen Vorbehalt zugunsten des Abgeordnetenhauses von Berlin bzw. des Berliner Senats gebe, dass es aber, ob- Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): wohl der Bundestag seine Haushaltsberatungen noch nicht abgeschlossen hat, in dieser Verwaltungsvereinba- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe Herrn Gauweiler, Herrn Nooke und Herrn Otto zugehört (B) rung, mit der Haushaltsangelegenheiten der nächsten (D) Jahre geregelt würden, keinen Parlamentsvorbehalt gebe. und ich muss sagen: In der Oper habe ich schon schlech- tere Inszenierungen erlebt als das, was sich hier abge- In § 8 der Verwaltungsvereinbarung, die Sie treffen spielt hat. wollen, heißt es ausdrücklich, dass damit eine abschlie- ßende Regelung seitens des Bundes getroffen sei. Ich (Beifall bei der SPD) bitte Sie, in diesem Hause zu erklären, ob Sie bereit sind, Der schlimmste Vorwurf, den man einer Opposition diesen Punkt dieser Vereinbarung zu ändern und dem machen kann, ist eigentlich der, dass sie Entwicklungen Parlament das Recht durch Parlamentsvorbehalt zu be- verschlafen hat. Diesen Vorwurf muss ich Ihnen machen, lassen. Andernfalls schließen Sie sehenden Auges einen sowohl betreffend die Opernstrukturreform als auch be- rechtswidrigen Vertrag. treffend den Hauptstadtkulturvertrag.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es ist schon mehrfach gesagt worden: Seit gut einem Herr Kollege Gauweiler, ich mache Sie darauf auf- Jahr, wahrscheinlich sogar noch länger, diskutieren wir merksam, dass eine Kurzintervention nur gestattet ist, über die Opernhäuser. Wir haben das Thema schon im wenn man auf die vorherige Rednerin oder den vorheri- Ausschuss behandelt. Darüber ist berichtet worden. Ich gen Redner eingeht. Sie aber haben auf die davor gehal- habe mich gefragt: Was denkt eigentlich die Opposition? tene Rede der Ministerin Bezug genommen. Das ist bei (Cornelia Pieper [FDP): Die ist im Gegensatz einer Kurzintervention eigentlich nicht zulässig. zu Ihnen lernfähig!) Bitte schön, Frau Kollegin Vollmer. Ich wüsste bis heute nicht, was sie denkt, wenn nicht plötzlich etwas passiert wäre, wovon ich doch ein biss- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chen überrascht worden bin. Da wird plötzlich wie Kai Herr Kollege Gauweiler, wenn Sie genau zugehört aus der Kiste eine neue Stiftung nur mit der Staatsoper hätten, dann hätten Sie sowohl den Respekt, den ich in hervorgeholt. Die ganze Geschichte wäre eigentlich eine meiner Rede für die musikalische Leistung des Bay- lustige Inszenierung; ich sage Ihnen jetzt aber einmal reuther Festspielhauses zum Ausdruck gebracht habe, ganz ernsthaft: Meine Sorge ist, dass Sie die Staatsoper, als auch die nachdenkliche Frage vernehmen können, ob die so wichtig und so gut ist, durch diese parteipoliti- wir Bundespolitiker uns wirklich zumuten wollen, zum schen Spielereien in Misskredit bringen. Beispiel über Fragen wie die nach der Intendanz einer Oper zu diskutieren. Derartige Fragen sollte man nicht (Cornelia Pieper [FDP): Was hat das denn mit im Parteiengezänk behandeln. Parteipolitik zu tun?) 6544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

Eckhardt Barthel (Berlin) (A) – Das habe ich Ihnen gerade gesagt. Nachdem das Ganze Deswegen meine ich, dass das, was Sie hier machen, un- (C) schon in trockenen Tüchern war, sind Sie mit einem seriös ist. neuen Modell gekommen. Ich will Ihnen das auch noch einmal belegen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Monika Griefahn [SPD): Das habe ich vor zwei Jahren auch schon probiert!) Ulrich Eckhardt, der langjährige Chef der Berliner Fest- wochen, nannte die ganze Geschichte „Angelas Knall- Ich fand es bezeichnend, dass der Antrag nicht zuerst bonbon“. Ich glaube, damit trifft er es. im Parlament vorgestellt wurde, sondern – ich bekam plötzlich eine Pressemitteilung – in der Staatsoper selbst, Meine Damen und Herren, wir unterscheiden uns in wo ja die Betroffenen sind, die gern alles haben wollen. Folgendem: Sie blicken nur auf die Staatsoper – auch ich Übrigens: Auch die Philharmoniker wollten schon mal möchte sie weiß Gott erhalten und hoffe, sie blüht und zum Bund. Alle wollen zum Bund. Dafür gibt es gute gedeiht weiter –, wir aber berücksichtigen mit unserer Gründe. Da braucht man sich nur die Lage Berlins anzu- Konzeption alle drei Opern in unserer Stadt. Da liegt der gucken. Unterschied zwischen Ihren beiden Anträgen, die wir hier vorliegen haben, und unserem Vorschlag. Sie haben die Diskussion also nicht hier geführt, son- dern in der Staatsoper. Dort saß Herr Genscher. Dem Auch ich, Herr Gauweiler – da gebe ich Ihnen voll- nehme ich das übrigens nicht übel. Er ist Vorsitzender kommen Recht –, möchte nicht noch ein Theater schlie- des Vereins der Freunde und Förderer der Deutschen ßen; denn ich habe erlebt, wie das Schiller-Theater ge- Staatsoper Berlin. Er ist Oberlobbyist im positiven Sinne schlossen wurde. Ich möchte nicht, dass so etwas wieder für das Haus. Außerdem saßen dort die beiden Parteivor- passiert. sitzenden. Herr Otto und auch Herr Gauweiler saßen da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des neben. Ich habe mich gefragt, in welchem Film ich mich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eigentlich befinde. Ich tue Frau Merkel bestimmt nicht Unrecht, wenn ich sage: Frau Merkel versteht von der Ich sehe aber keine Chance, die Theater- und Opern- Opernstrukturreform so viel wie ich von der Tiefseefor- struktur im gesamten Land, nicht nur in Berlin, zu erhal- schung. ten, wenn wir nicht mit kräftigen Reformen an die Struk- turen herangehen. Sonst bricht uns das alles weg. Die (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Reformen, die in einer tollen strategischen Partnerschaft BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zwischen der BKM und dem Berliner Senat auf den Weg Was dort dazu gesagt wurde, wie die ganze Geschichte gebracht wurden, bieten die Chance – nicht mehr! –, un- (B) laufen soll, ist eigentlich nicht lustig, finde ich, sondern sere Kulturlandschaft im Theaterbereich zu unterhalten. (D) bedenklich für dieses Haus. Eigentlich würde ich Sie jetzt bitten, wenn ich nicht Ich will Ihnen den Hauptgrund für meine Bedenken wüsste, dass das vergebene Liebesmühe ist: Unterstützen nennen. Es hängt alles immer mit dem Geld zusammen. Sie unsere Vorgehensweise zum Wohle der Kultur in die- Die Frage war: Wie wollen Sie das bezahlen, wenn es sem unseren Lande! denn gemacht werden könnte? Die Zahlen sind schon (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ genannt worden. Frau Weiss hat es in diesen Zeiten ge- DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Otto [Frank- schafft, zur Unterstützung des Landes Berlin für die furt] [FDP): Frau Vorsitzende, eine Kurzinter- Opernreform 22 Millionen Euro – jetzt muss ich aufpas- vention! – Gegenruf des Abg. Wilhelm sen – zu bekommen. Das ist eine hervorragende Leis- Schmidt [Salzgitter] [SPD): Sie haben doch tung für die Kultur in der Hauptstadt. Ihre Redezeit schon verdoppelt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Jetzt wollen Sie die Staatsoper übernehmen. Dafür Ich erteile dem Kollegen Otto das Wort zu einer Kurz- müssten Sie nicht nur 22, sondern 43 Millionen Euro in intervention. die Hand nehmen. Die Journalisten haben die Frage ge- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD): Das darf stellt, wie das bezahlt werden soll. Die Antworten waren doch nicht wahr sein!) spannend. Frau Merkel sagte: Dann müssen wir uns ein- mal die anderen Institutionen angucken, die der Bund in Berlin finanziert. Jeder stellte sich sofort die Frage: Soll Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): das Jüdische Museum für dieses Modell abgegeben wer- Lieber Kollege Barthel, Sie haben mir eben vorge- den? Herr Otto hat das wohl gemerkt und gesagt: Nein, worfen, dass das, was wir hier beantragen, unseriös sei. wir sind mitten in der Haushaltsberatung. Wir müssen (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD): Jawohl!) sehen, etwas über den Haushalt zu bekommen. Nun ha- ben wir im Kulturausschuss schon zwei Haushaltsdebat- Diesen Vorwurf halte ich für massiv, deswegen ergreife ten geführt, aber bis heute liegt kein Vorschlag der FDP ich hier auch das Wort. vor, wie das haushaltsmäßig abgedeckt werden kann. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ GRÜNEN): Sie haben keinen Deckungsvor- DIE GRÜNEN) schlag gemacht, Herr Otto!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6545

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Ich möchte zunächst einmal darauf hinweisen, dass Das Zweite – ich hoffe, ich bekomme das jetzt noch (C) dies die erste Debatte über die Berliner Opernstruktur- alles zusammen – ist die Aussage: Keiner will das. – Es reform ist; ein Thema, das Sie selbst für wichtig erach- gibt natürlich Partikularinteressen. Ich habe natürlich tet haben. Dabei ist der Bund durchaus zuständig für Verständnis dafür, dass jemand, dem es gut geht, sagt, Hauptstadtkultur. dass die anderen es doch genauso machen sollen; dann bekommen sie schon etwas vom Kuchen ab. Wir von der CDU/CSU und von der FDP haben rea- giert, als wir gemerkt haben, welchen verheerenden Ich möchte nur einmal eine Gruppe in Berlin nen- Gang die Entwicklung nehmen würde, wenn der Vor- nen, die sich sehr stark mit diesen Fragen beschäftigt schlag des Berliner Senats Realität würde. hat: Sie heißt „Kultur für Berlin“. Der ehemalige Kul- (Beifall des Abg. Günter Nooke [CDU/CSU]) tursenator von Berlin, Volker Hassemer, leitet sie. Das ist eine Gruppe, deren Mitglieder – auch Herr Nooke ist Es ist zwar wahr, dass die Debatte schon jahrelang läuft, Mitglied; er hat das Papier gesehen, das sie jetzt ge- aber den konkreten Vorschlag zu einem Stiftungsgesetz schrieben hat – aus breit gestreuten Bereichen kom- gibt es erst wenige Monate. Nachdem in der Debatte da- men. Das sind keine Intendanten. Das sind die Leute, rüber die Schwierigkeiten deutlich wurden und wir ge- über die man sagen würde: Das ist die Crème de la merkt haben, dass niemand mit dieser Reform glücklich Crème der Berliner Kulturszene. Die haben sich zu ein- ist, zelnen Punkten durchaus kritisch geäußert. Das finde ich korrekt. Aber zu sagen: „Das will keiner, weil Leute (Zurufe von der SPD) aus dem eigenen Haus sich etwas Besseres verspre- weil die Verantwortlichkeiten verwischt werden und chen“, ist nicht seriös. Verlustausgleiche stattfinden, haben wir die Notwendig- keit gesehen, im Interesse der Berliner Kultur und aller (Beifall der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜND- drei Opern – das füge ich hinzu – verantwortlich tätig zu NIS 90/DIE GRÜNEN]) werden. Das Dritte: Sie behaupten, es gebe zwischen den In- Ich verwahre mich gegen den Vorwurf der Unseriosi- stitutionen eine Querfinanzierung. tät. Darauf entgegne ich: Wenn Sie diesen Punkt für so wichtig erachten, dann dürfen Sie uns nicht die Möglich- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP): Ja! keit nehmen, hier im Bundestag darüber zu diskutieren. Das ist sonnenklar!) Wenn Sie jetzt aber unseren Antrag, der darauf hinaus- Ich bitte Sie, sich diesen Vertrag einmal anzuschauen läuft, die Kulturbeziehungen zwischen Berlin und dem – wenn das übrigens Stiftungsgesetz würde, dann würde (B) Bund im Wege eines Staatsvertrages, also unter Beteili- das noch deutlicher –: Dieses ist ausgeschlossen. (D) gung des Parlaments, zu regeln, ablehnen und keine Überweisung zulassen, dann muss ich Ihnen den Vor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wurf der Unseriosität zurückgeben, denn dann lassen Sie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) es nicht zu, dass über diesen wichtigen Punkt hier im Hause weiter debattiert wird. Das halte ich nicht für se- Sie behaupten das, haben aber keinen Beleg dafür. riös. Insofern – Herr Otto, nehmen Sie es mir nicht übel – nehme ich meinen Vorwurf nicht zurück. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine letzte Bemerkung: Sie haben selbst zugestan- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den, dass wir schon über ein Jahr darüber diskutieren. Herr Kollege Barthel, bitte. Warum müssen Sie, wenn Sie das Thema für so wich- tig halten, mit Ihren Vorschlägen warten, bis wir etwas einbringen? Warum ergreifen Sie nicht selbst die Initia- Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): tive? Es wird Sie nicht überraschen, dass ich den Vorwurf der Unseriosität nicht zurücknehme, denn Sie haben die (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP): Das Kritikpunkte, die ich in der kurzen Redezeit, die mir zur tun wir ja!) Verfügung stand, genannt habe, nicht entkräftet. So las- sen Sie mich noch einmal zu zwei Sachverhalten etwas Am Ende des Prozesses kommen Sie mit einem Papier. sagen: (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP): Das ist Das Erste: Der Hauptstadtkulturvertrag – es han- die erste Lesung in Berlin) delt sich hierbei ja schon um den zweiten – steht in der Kontinuität des ersten. Ich kann mich nicht erinnern, – Wir sprechen seit einem Jahr darüber. Sie hätten selbst dass irgendjemand von Ihnen, als wir den ersten Vertrag etwas in diese Debatte einbringen können. Sie haben es geschlossen haben, jemals etwas Kritisches zu Form nicht gemacht. Sie müssen immer erst angestoßen wer- oder Inhalt angemerkt hat. Auch während der Laufzeit den und dann benutzen Sie das für die Durchsetzung von dieses Vertrages wurde diesbezüglich nichts gesagt. Partikularinteressen. Deswegen halte ich das für unse- riös. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Otto [Frank- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ furt] [FDP): Der war zeitlich begrenzt!) DIE GRÜNEN) 6546 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Redner Jörg Tauss, Dr. Martina Krogmann, (C) Ich schließe die Aussprache. Grietje Bettin und Hans-Joachim Otto haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1790 zur federführenden Beratung an Drucksache 15/1988 an die in der Tagesordnung aufge- den Ausschuss für Kultur und Medien und zur Mitbera- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit tung an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. sung so beschlossen. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Zusatzpunkt 5: Wir kommen zur Abstimmung über Erste Beratung des von den Abgeordneten den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Christian Freiherr von Stetten, Marita Sehn, auf Drucksache 15/1973 mit dem Titel „Staatsvertrag für Manfred Grund und weiteren Abgeordneten ein- die Hauptstadtkultur“. Wer stimmt für diesen Antrag? – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist rung des Baugesetzbuchs (Kommunale Rechte mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der bei Windkraftanlagen stärken) CDU/CSU und der FDP bei einer Enthaltung aus den Reihen der Koalition abgelehnt. – Drucksache 15/513 – Überweisungsvorschlag: Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Innenausschuss Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Tauss, Eckhardt Barthel (Berlin), Monika Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Griefahn, weiterer Abgeordneter und der Frak- Landwirtschaft tion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Bettin, (Köln), Claudia Roth (Augs- Ausschuss für Tourismus burg) weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Die Redner Wolfgang Spanier, Veronika Bellmann, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Peter Hettlich und Marita Sehn haben ihre Reden zu Pro- tokoll gegeben.2) Chancengleichheit in der globalen Informa- tionsgesellschaft sichern – VN-Weltgipfel zum Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Erfolg führen wurfs auf Drucksache 15/513 an die in der Tagesord- (B) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es (D) – Drucksache 15/1988 – anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Auswärtiger Ausschuss ordnung. Innenausschuss Rechtsausschuss Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Finanzausschuss destages auf morgen, Freitag, den 14. November 2003, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 9 Uhr, ein. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Die Sitzung ist geschlossen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (Schluss: 21.28 Uhr) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und 1) Anlage 4 Entwicklung 2) Anlage 5

Berichtigung 74. Sitzung, Seite 6397 (B): Der Zuruf des Abg. Dirk Niebel (FDP) ist wie folgt zu lesen: Der Müller war doch nur auf der Baumschule! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6547

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten das jetzt gerade mit kulturellen Zwischennutzungen von einer neuen Generation von Künstlern neu entdeckt wird. entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Ich empfinde es als unseriös, dass ausgerechnet der Kulturausschuss des Deutschen Bundestages den Ab- schlussbericht der Arbeitsgruppe „Schlossareal“ igno- Andres, Gerd SPD 13.11.2003 riert. Ferner, Elke SPD 13.11.2003 Für mich ist es ein Ausdruck von Kulturlosigkeit, mit einer Grünanlage der Mahnung entsprechen zu wollen, Goldmann, Hans- FDP 13.11.2003 dass hier ein Gebäude mit öffentlicher Nutzung entste- Michael hen soll. Hartnagel, Anke SPD 13.11.2003 Außerdem empfinde ich es als Anmaßung, dass der Deutsche Bundestag Beschlüsse fasst, die unmittelbar in Dr. Hoyer, Werner FDP 13.11.2003 den Haushalt des Landes Berlin eingreifen. Das Land Berlin hat die extreme Haushaltsnotlage erklären müs- Irber, Brunhilde SPD 13.11.2003 sen, es klagt vor dem Bundesverfassungsgericht um finanzielle Hilfen und bekommt nun vom Bund noch zu- Jonas, Klaus Werner SPD 13.11.2003* sätzliche Ausgaben aufgebürdet. Löning, Markus FDP 13.11.2003 Ich lehne die Anträge darüber hinaus ab, weil sie gott- los sind. Nitzsche, Henry CDU/CSU 13.11.2003 Mit dem Abriss des Palastes der Republik wird die Beschädigung, ja sogar der Einsturz des gegenüberlie- Nolte, Claudia CDU/CSU 13.11.2003 genden Berliner Domes riskiert. Pflug, Johannes SPD 13.11.2003 Wir – die PDS im Bundestag – werden zu den Haus- haltsberatungen einen Änderungsantrag einbringen, der Roth (Esslingen), Karin SPD 13.11.2003 (B) sich gegen den Abriss des Palastes der Republik richtet. (D) Sauer, Thomas SPD 13.11.2003 Anlage 3 Schmidt (Fürth), CDU/CSU 13.11.2003 Christian Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Petra Pau (fraktionslos) zur Seib, Marion CDU/CSU 13.11.2003 Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Dr. Stinner, Rainer FDP 13.11.2003 Umsetzung des Bundestagsbeschlusses zur Wie- dererrichtung des Berliner Stadtschlosses (Zu- Dr. Westerwelle, Guido FDP 13.11.2003 satztagesordnungspunkt 3 b) Hiermit erkläre ich, dass ich gegen die vorliegende Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- für Kultur und Medien auf Drucksache 15/2002 stimme. sammlung des Europarates Erstens aus einem rein formalen Grund: Die Entschei- dung über die Zukunft des wohl wichtigsten Platzes der Anlage 2 Republik soll heute ohne Debatte und damit ohne öffent- lichen Austausch der Argumente erfolgen. Erklärung nach § 31 GO Zweitens stimme ich aus haushaltspolitischer Verant- der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (frak- wortung dagegen. Mit diesem Beschluss soll ein nicht tionslos) zur Abstimmung über die Beschluss- unerheblicher Teil des Haushaltes von Bundesminister empfehlung: Umsetzung des Bundestagsbe- Stolpe für ein stadtpolitisch und kulturpolitisch unsinni- schlusses zur Wiedererrichtung des Berliner ges Vorhaben festgelegt werden. Darüber hinaus greifen Stadtschlosses (Zusatztagesordnungspunkt 3 b) die Befürworter dieser Beschlussempfehlung unzulässig in die Haushaltshoheit des Berliner Landesparlamentes Ich lehne beide Beschlussempfehlungen ab. Meine ein. Denn mindestens 7 Millionen Euro müsste das Land Ablehnung begründe ich wie folgt: Ich empfinde es als Berlin für das Abrissunternehmen „Palast der Republik“ makaber, dass ausgerechnet der Kulturausschuss des beisteuern. Ich stimme also dagegen, den Bürgerinnen Deutschen Bundestages die Initiative ergreift, um ein und Bürgern Berlins die für soziale und kulturelle Zwe- Gebäude wie den Palast der Republik abreißen zu lassen, cke dringend notwendigen Mittel zu entziehen. 6548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Drittens stimme ich aus inhaltlichen Gründen gegen terhin neben der gemeinsamen EU-Position ein deut- (C) die Beschlussempfehlung: Der Bundestag hat vor Jah- sches Positionspapier zum Weltgipfel erwarten. resfrist alternativ zwischen Schloss und Palast entschie- den. Eine klare Mehrheit entschied sich für einen Neu- Denn die Frage, wo wir eigentlich in diesem Wandel bau in der Kubatur des Schlosses. Beschluss ist stehen und welche Ausgangsposition wir konstatieren Beschluss und Text ist Text. Alles darüber hinaus ist va- müssen, stellt sich mit weit größerem Nachdruck für die riabel und offen. Deshalb wäre der rasante Abriss des globale Perspektive. Dies gilt für die Kernfragen auch Palastes der Republik ein fataler Fehler – nach vorn und der globalen Informationsgesellschaft, nämlich des Zu- nach hinten geschaut. gangs zu IuK-Infrastrukturen und relevanten Inhalten, des kompetenten Umgangs mit ihnen wie der Fragen der Im Beschluss des Bundestages wurden drei Seiten des kulturellen Vielfalt sowie von Schutz und Sicherheit Neubaus beschrieben: die West-, die Nord- und die Süd- – auch Rechtssicherheit – in globalen IuK-Netzen, in seite. Das ist nachvollziehbar. Und das gilt. Die Ostseite gleicher Weise. Denn: Während wir etwa in Europa um indes blieb offen. Der Beschluss des Bundestages Fortschritte ringen, immer weitere Bevölkerungsteile ins schließt daher nicht aus, Teile des Palastes zu erhalten. Internet zu bringen und hier bereits von 50 Prozent plus Diese Option sollte nicht ohne Not verworfen werden. X reden, oder darum ringen, die Infrastrukturen breit- Sie eröffnet auch architektonische Spielräume, die Stadt bandig auszubauen und bei Fragen des Rechtsrahmens kritisch zu einen. – auch aufgrund wegweisender EU-Richtlinien zur elek- tronischen Kommunikation, zum Datenschutz oder zum Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung, weil mit Urheberrecht – deutliche Fortschritte gemacht haben, dieser die wichtigste Frage nicht beantwortet wird: Wird stellt sich die digitale Spaltung zu den Schwellen- und der Schlossplatz ein öffentliches Areal und gelingt es ge- Entwicklungsländern und verstärkt auch innerhalb dieser rade hier, Ost und West, alte und neue Geschichte zu- weitaus gravierender dar. Dies ist der Grund, weshalb sammenzuführen? wir von einer eklatanten globalen Chancenungleichheit sprechen müssen, und damit stellt sich für die internatio- nale Gemeinschaft die zentrale politische Herausforde- Anlage 4 rung, diese Ungleichheit durch geeignete Maßnahmen zu verringern. Nur dann können die Lebens- und Zu- Zu Protokoll gegebene Reden kunftschancen der Menschen weltweit angenähert und zur Beratung des Antrags: Chancengleichheit vom Geburtsort und sozialer Herkunft möglichst unab- in der globalen Informationsgesellschaft si- hängig gemacht werden. chern – VN-Weltgipfel zum Erfolg führen (Ta- Dass wir davon weit entfernt sind, zeigen nicht nur (B) gesordnungspunkt 13) (D) das durchgreifende sozioökonomische Nord-Süd-Ge- fälle, sondern eine ganze Reihe von Untersuchungen und Jörg Tauss (SPD): Die wachsende Bedeutung der statistischen Erhebungen, die Jahr für Jahr eine eklatante Möglichkeiten elektronischer Information und Kommu- Ungleichheit im Zugang und in der Nutzung elektroni- nikation in allen gesellschaftlichen Bereichen wird leider scher IuK-Technologien zeigen, die tendenziell sogar immer noch allzu oft – in diese Kritik schließe ich uns zunimmt. Lassen Sie mich dazu nur einige Zahlen zitie- alle ein – allein auf die OECD-Welt der entwickelten ren: Laut der OECD-Studie „Understanding the Digital Länder bezogen. Dieser Wandel zur Informationsgesell- Divide“ von 2001, Nielsen Net-Ratings und der ITU wie schaft hat aber längst nicht nur große Auswirkungen auf dem World Population Data Sheet 2002 stammen weiter- die Schwellen- und Entwicklungsländer und stellt diese hin etwa 80 Prozent der knapp 600 Millionen Internet- vor enorme Herausforderungen. Darüber hinaus be- nutzerinnen und -nutzer aus OECD-Ländern. Während stimmt dieser Wandel auch die zukünftigen Erfolgschan- in der EU durchschnittlich etwa 32 Prozent und Nord- cen sowohl der Wirtschaft wie der Menschen in diesen amerika knapp 50 Prozent der Bevölkerung Onlinezu- Ländern. gang haben, sind es in Mittel- und Osteuropa inklusive Russlands lediglich 8,3 Prozent, in Lateinamerika gar Allein dies wäre Grund genug, den nun bevorstehen- 5 Prozent, in China 2,6 Prozent und in Indien den Weltgipfel der Vereinten Nationen zur globalen In- 0,7 Prozent. Schlusslicht bildet hier Afrika, wo unter formationsgesellschaft zu begrüßen. Dieser einzige Ausklammerung Südafrikas sogar nur 0,5 Prozent der Weltgipfel in diesem Jahr bietet einen angemessenen Bevölkerung online sind. Rahmen für eine umfassende, die OECD-Perspektive übergreifende Debatte zu den neuen Herausforderungen Gleiches lässt sich für die Verfügbarkeit von Infra- der Informationsgesellschaft. Die Vorbereitungen stehen strukturen sagen, denn die internationalen Unterschiede gegenwärtig vor dem Abschluss. Auch wenn zahlreiche in der Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit der techni- Fragen noch offen sind, bin ich überzeugt, dass wir bald schen Infrastrukturen bilden ein zentrales Hemmnis für Endfassungen sowohl der Grundsatzerklärung wie des die globale Chancengleichheit. Insbesondere die Ent- Aktionsplans werden diskutieren können. Ausdrücklich wicklungsländer können dem Innovations- und Aufbau- möchte ich dem BMWA für den inklusiven Ansatz in der tempo der OECD-Staaten nicht folgen und fallen zuneh- Vorbereitung des Gipfels danken. Die regelmäßigen mend zurück. So basiert die globale digitale Spaltung Runden mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der durchaus auch auf einer eklatanten infrastrukturellen Wirtschaft haben sicherlich zu einem konstruktiven und Spaltung: Während in der OECD in 2001 auf 100 Ein- kreativen Dialog beigetragen, an dessen Ende wir wei- wohner durchschnittlich 52 Festnetzanschlüsse und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6549

(A) 54 Mobilnetzanschlüsse kamen, sind es bei den Ent- schere zwischen Haushalten mit relativ hohen und nied- (C) wicklungsländern lediglich 8,7 bzw. 7,5. Auch im Be- rigen Einkommen weitaus größer, ist der Frauenanteil reich von PCs und Internet-Hosts dokumentiert sich die geringer und konzentriert sich die IuK-Infrastruktur wie infrastrukturelle Zweiklassengesellschaft: Während in -Nutzung auf die städtischen Zentren und sozialen Eli- 2001 knapp 61 Prozent aller PCs und über 86 Prozent ten. 2001 hatte über ein Drittel der Weltbevölkerung der Internethost-Computer in der EU oder in Nordame- noch nie telefoniert, waren laut UNDP gemessen am rika standen, entfallen auf Mittel- und Osteuropa, China, monatlichen Durchschnittseinkommen die Internet- Lateinamerika, Indien und Afrika lediglich 19 Prozent zugangskosten in Madagaskar 510-mal, in Nepal etwa der PCs und sogar lediglich 4,6 Prozent der Hosts. 250-mal und in Sri Lanka noch 50-mal höher als in den USA und kostete etwa in Bangladesch ein PC noch das Auch die interregionalen Verbindungskapazitäten Achtfache eine Jahreslohns. verdeutlichen die Konzentration der weltweiten Infor- mations- und Datenströme auf die OECD-Welt: Wäh- Hinter diesen Zahlen zur internationalen digitalen rend in 2002 ausgehend von Nordamerika nach Europa Spaltung verbirgt sich ein enormes Risiko für die ökono- etwa 208 Gigabits pro Sekunde – Gbps – zur Verfügung mische, soziale und auch politische Stabilität dieser Län- standen und auch Asien – vor allem Japan, Taiwan und der von morgen – die digitale Spaltung von heute droht Südkorea – noch mit etwa einem Viertel, also etwa auf globaler Ebene die Chancenungleichheit zu reprodu- 56 Gbps, angebunden war, stand zu Lateinamerika mit zieren und auch für kommende Generationen zu verfesti- 23,5 Gbps eine achtfach geringere, zu Afrika mit gen. Dies ist der Grund, weshalb eine moderne Entwick- 1,2 Gbps lediglich eine 160fach geringere und von Eu- lungspolitik nicht an den besonderen Anforderungen der ropa nach Afrika sogar eine 250fach geringere Kapazität Informationsgesellschaft vorbeisehen kann und es – im – nämlich 0,82 Gbps – zur Verfügung. Auch wenn die internationalen Vergleich – zunehmend auch nicht tut. absoluten Kapazitäten schnell zunehmen, bleiben doch Wir müssen uns hierbei insbesondere um die Länder die eklatanten Abstände bestehen. Zur Verdeutlichung kümmern, die in den Entwicklungsprojektionen der möchte ich nur daran erinnern, dass allein in New York Weltbank den Anschluss an den Wandel zur Informa- mehr Telefone genutzt werden als im gesamten ländli- tionsgesellschaft weiter zu verlieren drohen. Zu diesen chen Asien und dass es allein in London mehr Internet- so genannten Latecomern gehören eben nicht nur die am accounts gibt als in ganz Afrika. Zudem entspricht die wenigsten entwickelten Länder – die „least developed gesamte Internetbandbreite Afrikas in etwa der Sao countries“ –, sondern auch die beiden bevölkerungs- Paulos und ebenso entspricht die Internetbandbreite ganz reichsten Staaten der Erde: Indien und China. Diese bei- Lateinamerikas der der südkoreanischen Hauptstadt den Staaten sind auch deshalb sehr gute Beispiele für die Seoul. innere digitale Spaltung in Schwellen- und Entwick- (B) (D) Diese digitale globale Spaltung hat aber neben der lungsländern, weil durchaus international vergleichbare technischen auch erhebliche soziale und kulturelle Di- IT-Infrastrukturen, Dienstleistungsangebote und Nut- mensionen. Bereits die Enquete-Kommission „Globali- zungskompetenzen in diesen Ländern bestehen – etwa in sierung der Weltwirtschaft“ der vergangenen Legislatur- Bangalore oder dem boomenden Shanghai –, diese je- periode hat darauf hingewiesen, dass sich die einzelnen doch sowohl lokal begrenzt sind als auch nur geringe Ungleichheiten in den Schwellen- und Entwicklungslän- Bevölkerungsteile daran partizipieren können. Die Kon- dern wechselseitig verstärken und in ihrer Summe zentration der Verfügbarkeit und Nutzungskompetenz sowohl zu enormen innergesellschaftlichen digitalen etwa auf die wohlhabenden städtischen Eliten und die Klüften als auch zu prohibitiven Zugangs- und Nutzungs- strukturelle Ausblendung der ländlichen Regionen, in barrieren führen. So privilegieren die immer noch hohen denen nach wie vor die Bevölkerungsmehrheiten leben, Zugangspreise, die technischen Voraussetzungen und die oder gar ganzer Erdteile, wenn wir an Afrika mit Aus- notwendigen individuellen Kompetenzen die ohnehin nahme Südafrikas denken, ist eklatant. hinsichtlich der Kaufkraft, Qualifikationen und Bil- Die Dimension der Herausforderung für die internati- dungsniveau besser gestellten kleinen Eliten in den städ- onale Gemeinschaft ergibt sich allein aus der Größen- tischen Zentren. So lebten etwa 2001 in der Hauptstadt ordnung der zitierten globalen Ungleichheiten. Der Kampala nur 4 Prozent der ugandischen Bevölkerung, Weltgipfel zur Informationsgesellschaft wird zu dieser zugleich befanden sich hier aber über 60 Prozent aller Te- Fülle an Problemaspekten keine Rezepte erarbeiten kön- lefonleitungen. In Vietnam ist die ländliche Bevölkerung nen, zu komplex sind die Mechanismen und zu viel- praktisch vom Telefonnetz ausgeschlossen, obwohl hier schichtig die Interessenlagen. Aber er kann und muss ein etwa 80 Prozent der Gesamtbevölkerung leben. deutliches Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft Ebenso haben eventuell bestehende kulturelle und so- zur gemeinsamen Verantwortung für die Verringerung ziale geschlechtsspezifische Diskriminierungen einen er- der internationalen Chancenungleichheiten in der globa- heblichen Einfluss auf den Zugang von Frauen zu IuK- len Informationsgesellschaft erreichen. Wir sind daher Möglichkeiten in Entwicklungsländern; zudem sind außerordentlich froh darüber, dass in die Deklaration Frauen statistisch häufiger von Analphabetismus und und den Aktionsplan grundlegende Prinzipien Eingang Armut betroffen. Während in Lateinamerika 38 Prozent, gefunden haben, die weit über technisch-wirtschaftliche in Asien 22 Prozent der Internetnutzer Nutzerinnen sind, Problemaspekte hinausgreifen und ethische, grundrecht- machen Frauen im Nahen Osten lediglich 6 Prozent der liche, soziale, politische und kulturelle Fragen gleichbe- Internetnutzer aus. So ist im Allgemeinen in den rechtigt danebenstellen. Für die SPD-Bundestagsfrak- Schwellen- und Entwicklungsländern die Nutzungs- tion ist der Wandel zur Informationsgesellschaft eben 6550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) nicht nur eine Frage technischer Infrastrukturen und Liberalisierungspolitik hinsichtlich der IuK-Märkte un- (C) wirtschaftlicher Globalisierung. Sie sollte vielmehr als ter Berücksichtigung nationaler und lokaler Besonder- ein umfassender gesellschaftlicher Wandel begriffen heiten. Insbesondere muss einer weiter gehenden Dere- werden, der zahlreiche Auswirkungen auf Technologie-, gulierung die Einrichtung effektiver Aufsichtsstrukturen Bildungs-, Kultur- und Medienpolitik sowie auf die in- sowie die Schaffung belastbarer, fairer Wettbewerbsbe- ternationale Kooperation und Entwicklungshilfe hat. dingungen vorausgehen. Nur so können die Attraktivität für ausländische Investitionen und die Verfügbarkeit wie Lassen sie mich zu den Grundsätzen aus unserer Sicht Leistungsfähigkeit der Infrastrukturen erhöht und zu- noch einige Anmerkungen machen: gleich die Nutzungskosten tatsächlich deutlich gesenkt Erstens ist und bleibt die Grundlage internationaler werden. Politik und Kooperation die Achtung und Durchsetzung Drittens werden die internationalen Informations- der allgemeinen Menschenrechte. Dies gilt auch für die märkte von Unternehmen aus OECD-Ländern domi- Bewältigung des Wandels zur globalen Informationsge- niert. Da Informationen und Wissen als – zumal digitali- sellschaft. Das umfassende Meinungs- und Informa- sierte – immaterielle Güter in elektronischen Netzen tionsfreiheitsrecht des Art. 19 der Menschenrechtserklä- verarbeitet werden können, gerät das Immaterialgüter- rung gewinnt natürlich in einer digital vernetzten Welt recht – und damit unter anderem das Patent- und Urhe- eine besondere Bedeutung. Die grundrechtlichen Impli- berrecht sowie die Leistungsschutzrechte – in den Fokus kationen sind ebenfalls keineswegs unerheblich, wobei der kontroversen Diskussionen um einen modernen ich nur auf die Durchsetzung der informationellen Rechtsrahmen für die digitale Informationsgesellschaft. Selbstbestimmung und auf das zunehmend in Bedräng- Auch innerhalb der Industriestaaten ist seit längerem ein nis geratende Fernmeldegeheimnis verweisen möchte. neues Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Ebenso ist hier zu prüfen, inwieweit eine Erweiterung in Kreativen, Urheber und Rechteinhaber einerseits und Richtung positiver Kommunikations- und Informations- den neuen Anforderungen der Informations- und Wis- zugangsrechte sinnvoll sein kann. Vor allem aber dürfen sensgesellschaft, einer modernen Bildungs- und Innova- keine nationalen Sicherheitsinteressen oder kulturelle tionspolitik und den Interessen der Nutzerinnen und Nut- Besonderheiten eine generelle Zensur in elektronischen zer andererseits zu konstatieren; ich erinnere nur an den Medien begründen. Dies gilt für das Internet genauso ersten Korb der Umsetzung der Urheberrechtsrichtlinie. wie für die zu sichernde freie Berufsausübung von natio- Befürchtet wird, dass eine zu weit gehende künstliche nalen und internationalen Journalistinnen und Journalis- Verknappung des Informationszugangs oder gar Mono- ten vor Ort. Eine grundrechtlich in abgeschottete natio- polisierung der Nutzung oder Verwertung fortschrittli- nale Zonen zergliederte Weltinformationsgesellschaft cher Innovationen in der digitalen Welt unverhältnismä- kann es allein aus technischen Gründe nicht geben, sollte (B) ßige Zugangs- und Nutzungsbarrieren aufbaut. Dies gilt (D) dies aber auch aus politischen, sozialen und kulturellen natürlich insbesondere in zunehmend wissensbasierten Erwägungen nicht. Gesellschaften, in denen die Lebenschancen des Einzel- Nichts erscheint zweitens derzeit dringender, als zu nen wesentlich vom Wissenserwerb und von der Wis- einem Aufholprozess hinsichtlich der Infrastrukturen in sensverwertung abhängig sind und die Zukunftsfähigkeit den Schwellen- und Entwicklungsländern zu kommen. der Wirtschaft und Verwaltung wesentlich von der Effi- Allerdings sind wir hier sehr skeptisch hinsichtlich der zienz des Produktionsfaktors und Parameters Wissen ab- tatsächlichen Vorteile eines zentralen, verbindlichen di- hängt. gitalen Solidaritätsfonds, wie er vor allem vonseiten der Entwicklungsländer und zivilgesellschaftlicher Akteure Dieses Spannungsverhältnis stellt sich auf globaler gefordert wird. Die Erfahrungen mit dem Aids-Fonds Ebene noch weitaus gravierender dar, da internationale sollten uns hier vorsichtiger machen und uns ermutigen, Vereinbarungen – zu nennen ist hier neben den WIPO- nach effektiven Alternativen Ausschau zu halten. Dass Verträgen vor allem TRIPS – allen Unterzeichnerstaaten eine übereilte Privatisierung und Liberalisierung der na- die Sicherung eines vergleichbaren Rechtschutzes für tionalen IuK-Märkte die Lösung nicht sein kann, lässt geistiges Eigentum auferlegen. Der Deutsche Bundestag sich gerade am Beispiel Indiens und Argentiniens zei- hat bereits mit seinem Beschluss zum Antrag zu den gen. Denn auch – oder gerade – private Investoren kon- GATS-Verhandlungen unter dem Titel „Bildung als öf- zentrieren sich auf betriebswirtschaftlich lukrative städ- fentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern“ seiner tische Zentren und sparen etwa in Indien ganze ländliche Befürchtung Ausdruck verliehen, dass eine zu weit ge- Regionen aus. In Argentinien verlangten marktbeherr- henden Kommerzialisierung zentraler Dienstleistungs- schende westliche Gesellschaften zunächst sogar höhere bereiche – hier im Bildungs- oder Kulturbereich – sich Preise als zuletzt die staatlichen Monopolisten. Die kon- aufgrund ökonomischer Renditeerfordernisse erheblich troversen Auseinandersetzungen und Proteste im Um- sozial differenzierend auswirkt und es zu einer Verringe- feld der Verhandlungen zur so genannten Doha-Runde rung der Angebotsvielfalt kommt, da die Dienste- und der WTO und speziell zu den Verhandlungen zur weiter- Contentanbieter sich auf wenige lukrative Inhalte und gehenden Liberalisierung im Dienstleistungssektor Märkte konzentrieren werden. Die Gewährleistung von – Stichwort GATS – belegen die Konfliktträchtigkeit Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung, Informatio- dieser Fragestellungen. nen und Wissen sowie die Sicherstellung eines hohen Qualitätsstandards im Bildungswesen gehören nicht nur Notwendig erscheint daher eine vorsichtige, abge- in Europa zum Kernbereich staatlicher Daseinsvorsorge, stimmte und zeitlich nicht übereilte Privatisierungs- und die durch übereilte Deregulierungsmaßnahmen nicht ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6551

(A) fährdet werden darf. Sie ist auch in den Schwellen- und Fünftens bietet die globale Informationsgesellschaft (C) Entwicklungsländern eine Grundvoraussetzung für eine aus kultureller Perspektive ein großes Potenzial zur erfolgreiche Bewältigung des Wandels zur Informations- Wahrung und Förderung der kulturellen Vielfalt und und Wissensgesellschaft. Hier sind zudem die Potenziale Sprachenpluralität in der Welt, wie es die UNESCO und der neuen IuK-Technologien, über Vernetzungen und der Europarat zurecht fordern. Die allgemeine Globali- Kooperationen zu einem weltweit chancengleichen, sierungsdiskussion konzentriert sich seit Jahren auch auf ortsunabhängigen Zugang zu Bildungsinhalten beizutra- die Frage, ob es infolge der wirtschaftlichen Globalisie- gen, bei weitem nicht ausgeschöpft worden. rung sowie einer als westlich geprägt wahrgenommenen „Globalisierungskultur“ zugleich zu einer Vereinheitli- Insgesamt handelt es sich aber hierbei um einen lang- chung der nationalen und lokalen Perspektiven, Erfah- wierigen und mühevollen Meinungsbildungs- und An- rungs- und Handlungskontexte sowie Wertesysteme und passungsprozess der Politik wie des Rechts an eine nach damit einer Verringerung der globalen kulturellen Diver- wie vor hohe technische, wirtschaftliche und auch so- sität kommt. Bezüglich der Informationsgesellschaft ziale Entwicklungsdynamik. Der Weltgipfel wird nicht spricht gerade der Indikator Sprachverteilung der Inter- umhinkommen, diesen Aspekt aufzugreifen. Ebenso il- netnutzer und der Internetseiten deutlich für diese These. lusorisch wäre es aber, von diesem Gipfel entscheidende Während 2001 Mandarin von knapp 900 Millionen Men- Anreize zur Weiterentwicklung des internationalen Im- schen oder etwa 14,5 Prozent der Weltbevölkerung ge- materialgüterrechts zu erwarten – dies ist auch gar nicht sprochen wurde, gefolgt von Spanisch mit 5,5 Prozent seine Aufgabe. und Englisch mit 5,3 Prozent, waren die Internetnutzer Viertens gehen wir davon aus, dass parallel zur gesell- der OECD zufolge zu 45 Prozent englisch- sowie zu schaftlichen Bedeutung elektronischer Kommunikation 5 Prozent spanischsprachig. Chinesisch sprachen etwa auch der Schutz und die Sicherheit in Netzen an Bedeu- nur 8 Prozent und Deutsch immerhin 6 Prozent der Inter- tung gewinnt. Der hinreichende Schutz von technischen netnutzer. Noch eklatanter sind die Ungleichgewichte Infrastrukturen und von Nutzerinnen und Nutzern vor hinsichtlich der Sprachen, in denen die Webseiten ver- Schadprogrammen wie Viren und Würmern oder vor fasst sind: Knapp 70 Prozent aller Internetinhalte sind in Angriffen, die die Verfügbarkeit oder Funktionsfähigkeit Englisch verfasst, gefolgt von je 6 Prozent deutsch- und beeinträchtigen oder unautorisierten Zugang zu oder gar japanischsprachigen Seiten. Nur 4 Prozent der Websei- Manipulation von sensiblen Inhalten erlauben, ist eine ten waren in Chinesisch und nur 2 Prozent in Spanisch zentrale Akzeptanzvoraussetzung für die neuen IuK- verfasst. Die Dominanz des Englischen als neuer „digi- Möglichkeiten. Ebenso ist die Verfügbarkeit und Leis- taler Universalsprache“ der globalen Informationsgesell- tungsfähigkeit der IuK-Netzwerke als Teil der kritischen schaft ist also unabweisbar. Infrastrukturen moderner Gesellschaften – gerade in An- (B) (D) betracht der terroristischen Bedrohungen – zu gewähr- Die kulturelle und sprachliche Vielfalt sowie lokale leisten. Zum Schutzaspekt zählt die Durchsetzung eines und regionale Erfahrungszusammenhänge bilden aber effektiven, modernen Datenschutzes ebenso wie die hin- eine Grundvoraussetzung für die Schaffung neuer, krea- reichende Befähigung der Nutzerinnen und Nutzer zum tiver Inhalte und innovativen Wissens. Die globale Infor- effektiven Selbstschutz, die Anreizbildung zum techni- mationsgesellschaft bliebe inhaltsarm und weit hinter ih- schen Systemschutz und zur Förderung des Sicherheits- ren gesellschaftlichen Potenzialen zurück, wenn sie bewusstseins. Auch die internationale Zusammenarbeit lediglich als kostensenkendes Transportmedium für Da- bei der Bekämpfung des Missbrauchs der Netze, etwa ten oder effiziente rechtliche oder ökonomische Transak- durch kriminelle Machenschaften, illegale Inhalte oder tionen genutzt würde. Vielmehr bietet die globale Infor- unaufgefordert zugesandte Werbemails – dem Spam- mationsgesellschaft gerade durch die Senkung der ming –, oder in der internationalen Strafverfolgung ist Zutrittsbarrieren und Transaktionskosten weitaus breite- sicherlich weiter zu vertiefen. ren Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit, mit lokalen, regionalen oder gar individuellen Inhalten im Internet Was wir aber in globalen digitalen Netzen brauchen, präsent zu sein – ihnen auch im digitalen Zeitalter eine sind nicht nationale Alleingänge in Law-and-order-Ma- Stimme zu geben. Wir benötigen spezifische Fördermaß- nier, sondern die Schaffung belastbarer internationaler nahmen und internationale Kooperationsprojekte, die die Mindeststandards etwa in Fragen des Datenschutzes, des Anreize zur Produktion, Distribution und Nutzung ent- Jugendschutzes, der Reichweite und Intensität der Ver- sprechend vielfältiger kultureller Inhalte für die Informa- pflichtung unbeteiligter Dritter oder des Umgangs mit tions- und Wissensgesellschaft erhöhen. Hierbei sollte Spam und kriminellen Angeboten. Erste Anfänge sind aber beachtet werden, dass aufgrund der Dominanz klas- mit den Datenschutzrichtlinien der EU oder mit der sischer elektronischer Medien wie Fernsehen und Hör- Cybercrime-Konvention des Europarates gemacht, aber funk in den Entwicklungsländern der Bedarf an Inhalten zahlreiche kritische Fragen sind weiterhin offen. Die für diese Medien nicht vernachlässigt werden darf – sie Voraussetzung für einen effektiven Selbstschutz, sei es sind hier ein elementarer Bestandteil der Informations- des Individuums, des Unternehmens, der Forschungs- gesellschaft und als solche zu beachten. einrichtung wie der Behörde, ist allerdings, dass die Nichtregulierung kryptographischer Verfahren weiter- Sechstens schließlich sollten wir bei der Internetver- hin aufrechterhalten wird. Jede Relativierung, sei es waltung eher einer Evolution als einer Revolution den Schlüsselhinterlegung oder anderes, wäre eine Einbruch- Vorzug geben, auch wenn sich an der Struktur und an der schneise und würde gerade europäische Sicherheits- und fehlenden Entscheidungstransparenz der ICANN viel Wirtschaftsinteressen nachhaltig schaden. kritisieren lässt. Die hinreichende Sicherstellung der 6552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) technischen Funktionsfähigkeit elektronischer Informa- Fachleute und – erstmals – Vertreter von nicht staatli- (C) tions- und Kommunikationsnetze und -dienste bildet da- chen Organisationen werden auf dem World Summit on bei eine Grundvoraussetzung für die Erfüllung weiter the Information Society, WSIS, Prinzipien für eine ge- gehender Anforderungen in der globalen Informations- rechte Entwicklung der globalen Informations- und Wis- gesellschaft, von denen wir bisher gesprochen haben. sensgesellschaft erarbeiten. Der Gipfel ist das bislang Die wachsenden Anforderungen hinsichtlich der welt- hochrangigste Treffen von Akteuren, die sich mit der In- weiten und sicheren Verfügbarkeit und Interoperabilität formationsgesellschaft befassen. Ziel des Gipfels ist es, der neuen elektronischen IuK-Möglichkeiten richten globale Entwicklungen zur Informations- und Wissens- sich aber primär auf technische und fachliche Koordina- gesellschaft zu forcieren und dadurch insbesondere zur tionsnotwendigkeiten und berühren – anders als die wei- Überwindung der so genannten digitalen Spaltung beizu- teren Implikationen der globalen Informationsgesell- tragen. Der UN-Weltgipfel bedeutet also die große schaft – weitaus seltener politische Fragestellungen. Die Chance, als globale und zentrale Plattform einen Dialog ICANN weist insofern den richtigen Ansatz einer trans- und Lösungsmöglichkeiten zwischen Vertretern der Re- nationalen Selbstverwaltungsplattform auf, die vor allem gierungen, der Parlamente, der internationalen Organisa- die Vorteile der fachlichen Nähe zwischen Regulierer tionen sowie den Akteuren der Zivilgesellschaft zu und Regulierungsgegenstand und der geringen Reak- schaffen. Der Weltgipfel muss Perspektiven für die Nut- tionszeiten zu nutzen sucht. Eine völlige Übernahme der zung und weitere Entwicklung der Informations- und Internetverwaltung durch die internationalen Regierun- Kommunikationstechnologie aufzeigen, die sowohl den gen würde hingegen viele Vorteile der Selbstverwaltung Belangen der Entwicklungs- als auch denen der Industrie- aufgeben, ohne Alternativen mit einer belastbaren Aus- länder Rechnung tragen. Neben einer gemeinsamen sicht auf Effektivitäts- und Effizienzgewinne der Inter- Deklaration der Staatengemeinschaft soll auf dem UNO- netverwaltung zu bieten. Weltgipfel ein Aktionsplan für das globale Kommunika- tionszeitalter entwickelt werden, der die wichtigsten Zu- Dennoch – dies sollte in Genf mit Nachdruck disku- kunftsschritte benennt und 2005 auf einer Folgeveran- tiert werden – rückt die zunehmend grundlegende gesell- staltung in Tunis überprüft werden kann. schaftliche und wirtschaftliche Bedeutung der elektroni- schen IuK-Möglichkeiten diese in die Nähe öffentlicher Auf dem Weltgipfel geht es also um eines unserer Güter und damit in den Aufgabenkatalog des National- zentralen Zukunftsthemen im 21. Jahrhundert: eine ge- staates zur Daseinsvorsorge. Diesem Umstand muss rechtere Entwicklung der globalen Informations- und durch eine angemessene, gegebenenfalls zu stärkende Wissensgesellschaft. Es geht unter anderem um wichtige Beteiligung der demokratisch legitimierten Regierungen Fragen der Grundrechte in der Informationsgesellschaft, an den ICANN-Entscheidungen hinreichend Rechnung um Cybersicherheit, geistige Eigentumsrechte, Fragen (B) getragen werden. Dringend notwendig ist vor allem einer effektiven globalen Internetverwaltung, globale In- (D) – wie bereits von der Enquete Kommission „Globalisie- frastrukturen und Fragen des Zugangs zu Information rung der Weltwirtschaft“ 2002 empfohlen – sowohl die und Wissen, um die digitale Spaltung zu überwinden. Steigerung der Entscheidungstransparenz der ICANN- Nur wenn die internationale Staatengemeinschaft es Gremien als auch eine echte Internationalisierung der schafft, die notwendigen politischen Strategien für eine ICANN selbst. Erst diese könnte die historisch bedingte Teilhabe aller an den modernen Informations- und Kom- US-amerikanische Dominanz in der Internetverwaltung munikationstechnologien zu entwickeln, kann das heute in einem tragfähigen, auch die Schwellen- und Entwick- noch ungenutzte Potenzial zur Verbesserung der Produk- lungsländer angemessen berücksichtigenden internatio- tivität und der Lebensqualität zum Nutzen der gesamten nalen Verwaltungsmodell für die Rootserver, das Do- Weltgesellschaft erschlossen werden. Hier liegen für uns mainnamen-System und die IP-Adressen aufheben. alle enorme Chancen, deshalb ist der Gipfel von enormer Bedeutung. Selbst dieser längere Problemaufriss war lediglich in der Lage, wenige Problemfelder zu adressieren und un- Umso schlimmer ist es, dass der Vorbereitungspro- sere Vorstellungen dazu darzulegen. Wir werden nicht zess, der sich nunmehr über zwei Jahre hinzieht, immer nur wiederholt mit diesen Fragestellungen konfrontiert mehr ins Stocken gerät. Zur Stunde tagen die Delegier- werden; vielmehr bildet dieser Wandel zur Informations- ten auf einer vierten außerordentlichen Vorbereitungs- gesellschaft einen wichtigen Kern der aktuellen nationa- konferenz, die notwendig geworden war, nachdem die len, europäischen oder internationalen politischen He- PrepCom 3 wegen zu großer Interessendivergenzen ab- rausforderungen. Lassen Sie mich von dieser Stelle aus gebrochen werden musste, und versuchen zu retten, was allen Delegierten und Staatsrepräsentanten alles Gute zu retten ist. Der WSIS-Prozess zur Weltinformationsge- und viel Erfolg für den Weltgipfel wünschen. Im Januar, sellschaft darf keinesfalls scheitern. so hoffe ich, können wir die Ergebnisse in diesem Hause Leider spiegelt diese negative Entwicklung das man- wieder diskutieren und hoffentlich über wesentliche gelnde Interesse und das völlig unzureichende Engage- Fortschritte auf dem Weg zur globalen digitalen Chan- ment der Bundesregierung im gesamten Vorbereitungs- cengleichheit berichten können. prozess und damit an der gesamten Thematik des Gipfels wider. Da hilft auch der Antrag nicht, den die Koalitions- Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Vom 10. bis fraktionen gewissermaßen in letzter Minute ohne kon- 12. Dezember 2003 wird in Genf der UNO-Weltgipfel krete Punkte zur deutschen Position und den deutschen zur Informations- und Wissensgesellschaft stattfinden. Zielen auf dem Gipfel einbringen. Die CDU/CSU-Bun- Zahlreiche Regierungsdelegationen, Interessenvertreter, destagsfraktion hat bereits im September in einer parla- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6553

(A) mentarischen Initiative auf die Bedeutung des Gipfels Internet Governance darauf hinwirken müssen, ICANN (C) hingewiesen und das Desinteresse der Bundesregierung als Modell weiterzuverfolgen und gleichzeitig bessere kritisiert. Unsere große Sorge war schon damals, dass Transparenz der Entscheidungen und eine stärkere Inter- die Bundesregierung die Bedeutung dieses Gipfels nicht nationalisierung der Selbstregulierungsorganisation hin- erkennt und dadurch wichtige Chancen auf dem Weg zur zuwirken. Die Liste von wichtigen Themen und zentra- globalen Informations- und Wissensgesellschaft ver- len Handlungsfeldern ließe sich beliebig erweitern. passt. Heute müssen wir feststellen, dass wir mit unseren Schließlich lassen sich Herausforderungen der Informa- Befürchtungen leider Recht hatten: Desinteresse auf tions- und Wissensgesellschaft durch die weltumspan- ganzer Linie! nenden neuen Technologien zumeist wirklich nur global lösen. Die Bundesregierung hat es jedoch versäumt, Im- Dies ist tragisch. Denn die Chancen, die mit der Nut- pulse zu setzen. Zudem hat sie in den vergangenen zwei zung der modernen Informations- und Kommunika- Jahren gerade einmal einen Mitarbeiter aus dem BMWA tionstechnologien verbunden sind, existieren bisher nur mit der Vorbereitung der Konferenz betraut, während an- theoretisch. Der Handlungsbedarf auf internationaler dere Länder, wie zum Beispiel Kanada oder Frankreich, Ebene ist enorm. Zwischen den reichen und den armen eigene Strategiegruppen eingerichtet haben, um einen ei- Staaten existieren enorme Ungleichheiten. Nur ein genen Beitrag vorzubereiten. So bleibt der fatale Ein- Bruchteil der Weltbevölkerung ist überhaupt in der Lage, druck auf internationaler Ebene, dass die Bundesregie- die Vorteile des Internets zu nutzen. In vielen Ländern rung kaum Interesse für die globalen Herausforderungen fehlen immer noch die infrastrukturellen und techni- der Informationsgesellschaft hat. Deutschland hat weder schen Voraussetzungen. Während bei uns der Trend in- einen signifikanten eigenen Beitrag geleistet noch einen zwischen zum „Zweithandy“ geht, haben in den ärmsten 48 Ländern weniger als 50 von 1 000 Einwohnern über- inhaltlichen Schwerpunkt gesetzt. haupt einen Telefonanschluss. Am Beginn des 21. Jahr- Die Bundesregierung hätte den Weltgipfel zudem nut- hunderts hat etwa die Hälfte der Weltbevölkerung noch zen müssen, um den notwendigen Dialog mit der Wirt- niemals ein Telefongespräch geführt. Für die rund schaft und den Akteuren der Zivilgesellschaft über die 6,5 Millionen Einwohner Ruandas gibt es weniger Tele- Ziele auf dem Weg in die globale sowie nationale Infor- fon- und Modemanschlüsse als für die Mitarbeiter der mationsgesellschaft neu zu beleben Stattdessen hat sie Weltbank. Afrika insgesamt ist schwächer im Internet die Wirtschaft gar nicht eingebunden – und die engagier- vertreten als die Stadt New York. ten deutschen Vertreter der Zivilgesellschaft arbeiten in- Die immer schnelleren technologischen Umwälzun- zwischen an einer eigenen Gipfelerklärung zur Infoge- gen bergen die Gefahr, dass sich die Kluft eher noch ver- sellschaft. Auch diese Chance für einen neuen Dialog stärkt und sich das Auseinanderdriften beschleunigt. Die wurde also verpasst. (B) (D) Weltbank geht davon aus, dass sich ohne Gegensteuern der Rückstand der so genannten Latecomers, zu denen Es bleibt zu hoffen, dass sich die Vorbereitungskonfe- außer Südafrika alle Staaten Afrikas gehören, im Ver- renz auf eine Agenda für den Weltgipfel einigen kann, gleich zu den führenden Nationen wie den Vereinigten die mehr als hohle Floskeln enthält. Leider sieht es so Staaten oder der EU in den nächsten zehn Jahren sogar aus, als ob große Chancen vertan werden. Der Bundes- noch erheblich vergrößern wird. Und hinter dieser Ent- kanzler wird dennoch Anfang Dezember nach Genf rei- wicklung verbirgt sich natürlich enormer Sprengstoff für sen. Aber zu einer bloßen Showveranstaltung vor Weih- die regionale, aber auch die internationale wirtschaft- nachten sollte der Weltgipfel nicht missbraucht werden. liche, soziale und politische Stabilität. Eine Grundvoraussetzung ist es, die Infrastruktur und Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im grenzüberschreitende Netzwerke aufzubauen bzw. zu Dezember findet in Genf – leider bislang noch weitge- modernisieren. Dies ist eine wichtige Aufgabe der Nati- hend unter Ausschluss einer breiteren Öffentlichkeit – onalstaaten Doch es reicht natürlich längst nicht aus, Ka- ein Weltgipfel der Vereinten Nationen statt. Es ist der bel in die Erde zu legen und Computer aufzustellen. einzige in diesem Jahr. Deshalb sind andere Themen auf der Agenda als not- Thema – und das ist das Besondere – ist zum ersten wendige Maßnahmen auf dem Weg zur Vision einer glo- Mal ausschließlich die „Informationsgesellschaft“. Ich bal vernetzten Weltgesellschaft ebenso wichtig. Hier hoffe sehr, dass dieser Gipfel die drängenden Fragen der hätte die Bundesregierung große Chancen gehabt, wenn globalen Informations- und Kommunikationsgesellschaft sie einen eigenen Beitrag formuliert und sich als Vorrei- auch wirklich aufgreift und diskutiert. ter betätigt hätte. Die Bundesregierung hätte sich aktiv für die Meinungs- und Informationsfreiheit einsetzen Mir geht es in erster Linie um Vorschläge und Maß- müssen. Sie hätte darauf hinwirken müssen, dass auf in- nahmen zur Überwindung der digitalen Spaltung und ternationaler Ebene Maßnahmen entwickelt werden, mit – ganz besonders wichtig – um die Anerkennung grund- denen den Entwicklungsländern ein fairer Zugang zu sätzlicher Medien- und Kommunikationsfreiheiten, die Bildungsinhalten ermöglicht werden kann. Sie hätte die auch Signalwirkungen auf totalitäre Systeme ausüben Chance gehabt, auf der internationalen Ebene auf die kann. notwendige Schaffung von internationalen Mindeststan- dards bei Datenschutz und -Sicherheit, beim Jugendme- Das Thema digitale Spaltung ist mittlerweile beinahe dienschutz und bei der Strafverfolgung in globalen Net- schon so etwas wie ein „Klassiker der Informationsge- zen hinzuwirken. Sie hätte im Bereich der globalen sellschaft“. 6554 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Selbst in den Industrieländern – das gilt auch für tan schwierige ökonomische Situation der IT-Branche zu (C) uns – gibt es immer noch die Kluft zwischen denjenigen, ignorieren. die Zugang zu digitalen Informationen haben, und sol- chen, die keinen Zugang haben. Wenn bundesdeutsche Unternehmen sich als „global player“ verstehen, dann sollten sie auch ein entsprechen- Nach Berechnungen des Deutschen Institutes für des Engagement für den Gipfel zeigen. Mein Eindruck Wirtschaftsforschung gab es im Frühjahr 1995 in ist, dass die zivilgesellschaftliche Akteure im bisherigen Deutschland gerade einmal 250 000 Internetnutzer und Gipfelprozess viel erreicht haben, während die Wirt- -nutzerinnen. Im Mai 2003 waren es bereits knapp schaft sich bislang doch sehr zurück gehalten hat. 39 Millionen. Dies bedeutet, dass aktuell etwa 47 Pro- zent der gesamten Bevölkerung in Deutschland online Mit der Teilnahme von Gerhard Schröder am Gipfel sind. Auch wenn diese Zahlen auf den ersten Blick be- hat die Bundesregierung jetzt ein deutliches Zeichen für eindruckend wirken, ist aber noch nicht einmal die die Bedeutung des Weltgipfels gesetzt. Ich hoffe, dass Hälfte der Bevölkerung online. auch ebenso deutliche inhaltliche Akzente von deutscher Seite gesetzt werden können. Die Überwindung der digitalen Spaltung ist eine der globalen Herausforderungen. Die gleichberechtigte Teil- Es darf auf dem Gipfel keine thematischen Tabus ge- nahme an der Informationsgesellschaft erfordert kom- ben, aus Angst vor dem Aufkündigen bestehender Ab- plexe und keine einseitigen Lösungen. Technik oder kommen und Übereinkünfte. Wir müssen den Weltgipfel Geld allein helfen nicht weiter, intelligente Strategien als Plattform nutzen, um gute Ideen für die Zukunft der und internationale Kooperationen sind gefragt: Informationsgesellschaft zu diskutieren. Dazu gehört, dass neue Umgangsformen mit geistigem Eigentum zur Ich denke da an Satellitentechnik – Brasilien hat zum Sicherstellung eines globalen Zugangs zu Wissen be- Beispiel damit angefangen, im ganzen Land Telefonzel- rücksichtigt und debattiert werden. Mein Credo: Wissen, len mit Internetanschluss mittels Satelliten aufzustellen – das mit öffentlichen Mitteln generiert wurde, muss auch oder aber an so genannte „Wireless Local Area Net- der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. works“, die einen lokalen und sehr günstigen Internetzu- gang ermöglichen und zugleich die Selbstverwaltung Ich möchte mich ebenfalls deutlich für das im Gipfel- fördern. prozess eingeforderte Recht auf Kommunikation aus- sprechen. Insbesondere die neuen Medien eröffnen Mög- Ich wünsche mir, dass auf diesem Gipfel auch Grund- lichkeiten, Meinungsfreiheit nicht nur passiv durch ein und Menschenrechte ausführlich thematisiert werden: Recht auf Information wahrzunehmen, sondern auch ak- Dazu gehört vor allem ein international anerkanntes tiv Informationen selbst zu verbreiten. Hier sollte der Recht auf informationelle Selbstbestimmung. (B) Gipfel ein deutliches Zeichen hinsichtlich der weiteren (D) Datenschutz und der Schutz der Privatsphäre sind Durchsetzung des Menschenrechts auf Kommunikation, längst internationale Themen, mit denen sich die Weltge- Meinungs- und Pressefreiheit setzen. meinschaft auseinander setzen muss. Datenschutz und Eindeutige Signale wünsche ich mir auch in Sachen Datensicherheit sind auf Dauer nur gewährleistet, wenn freier Software, deren Schutz in den vorläufigen Entwurf diese auch internationalen Standards entsprechen. der Gipfel-Deklaration aufgenommen wurde: Dies ist Deutliche Antworten finden muss der Gipfel im Hin- mit Sicherheit eindeutig ein Erfolg der Zivilgesellschaft, blick auf die Frage, wer das Internet regiert. der aber nichts bedeutet, solange nicht der Schutz von freier Software auch wirklich im Abschlussdokument Die Entwicklungsländer haben auf dem Gipfel eine festgeschrieben ist. Initiative für eine Kontrolle durch die Vereinten Natio- nen gestartet. Es stellt sich vor dem Hintergrund unserer Die Bundesregierung hat sich die Förderung von Erfahrung tatsächlich die Frage nach dem Sinn einer Re- Open Source und freier Software immer wieder auf die gulierung auf nationaler Ebene. Ich erinnere nur an die Fahnen geschrieben – deshalb hoffe ich, das mit unserer absurden Versuche der Bezirksregierung Düsseldorf, Hilfe diesem wichtigen Anliegen Rechnung getragen Zensur im weltweiten Netz zu betreiben. werden kann. Auch das nur scheinbar privatwirtschaftliche ICANN, Es ist mir eine Herzensangelegenheit, dass der Gipfel die Institution also, die für die Vergabe von Internet- zum Wohle einer weltweit freien und allen Menschen adressen zuständig ist, stellt für uns keine zukunftsfähige zugänglichen Informationsgesellschaft ein Erfolg wird. Lösung dar. Zu groß ist die Abhängigkeit von der ameri- kanischen Regierung, zu gering das Mitspracherecht der Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Wenn im Internetnutzer und zu weit sind auch die Entwicklungen, nächsten Monat in Genf die erste Runde des Weltgipfels Zonen außerhalb der Kontrolle von ICANN zu etablie- über die Informationsgesellschaft, World Summit on the ren. Information Society, WSIS, stattfindet, soll ein entschei- Auf dem Gipfel werden auch handfeste finanzielle In- dender Grundkonsens für die Zukunft der globalen In- teressen zur Sprache kommen. Ich erwähne hier nur den formationsgesellschaft gebildet werden. Es wird das Ziel Streit um die so genannten „Digital Solidarity Funds“, sein, einen juristischen, wirtschaftlichen, technischen die den Anschluss auch der Entwicklungsländer an die und auch politischen Rahmen für den Zugang von allen virtuelle Weltgemeinschaft fördern sollen. Hier ist si- Menschen weltweit zu Informationen und zu den Kom- cherlich auch die Wirtschaft gefordert, ohne die momen- munikationsnetzwerken zu schaffen. Wie schwierig sich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6555

(A) dieser Konsens jedoch gestaltet, zeigt das aktuelle Sto- Vaters erneut in den Deutschen Bundestag eingebracht. (C) cken der 3. Vorbereitungskonferenz für den Weltgipfel. Auffallend ist, dass offensichtlich die CDU/CSU-Bun- destagsfraktion nicht bereit war, diesen Gesetzentwurf Ein Grund dafür liegt sicherlich darin begründet, dass zu übernehmen; offensichtlich ist auch, dass die Fachpo- es dieser Gipfel nicht nur inhaltlich, sondern auch orga- litikerinnen und Fachpolitiker der Union im zuständigen nisatorisch Neuland betritt, indem sowohl die Zivilge- Bundestagsausschuss Verkehr, Bau- und Wohnungswe- sellschaft als auch die Wirtschaft in einem so genannten sen, bis auf drei Ausnahmen, diesen Gesetzentwurf nicht Multi-Stakeholder-Prozess bewusst in den Beratungs- unterstützen. prozess mit eingebunden werden. Wir Liberale sind hier- für aufgeschlossen, jedoch muss sich die Praktikabilität Dafür gibt es auch gute Gründe. Sie wissen, dass eine noch erweisen. umfassende Novellierung des Baugesetzbuchs ansteht. Angesichts dieses neuen Verfahrens ist es umso wich- Die parlamentarischen Beratungen werden in Kürze auf- tiger, mit ganz präzisen inhaltlichen Positionen den genommen. Und deshalb macht es keinen Sinn, im Vor- Weltgipfel vorzubereiten. An Präzision aber mangelt es griff auf die Novelle einzelne Regelungen vorab zu dem Antrag von SPD und Grünen. Er ist ein langatmiger ändern. Das gilt übrigens nicht nur für diesen Gesetzent- „Gutmenschen-Antrag“ mit blumigen Wunschformulie- wurf, sondern auch für weitere, die möglicherweise noch rungen, die niemandem weh tun. Ich vermisse zum Bei- vorgelegt werden. Wir sollten in einem geordneten Bera- spiel eine unmissverständliche Absage an die Zensur- tungsverfahren alle Änderungswünsche zum BauGB im maßnahmen in zahlreichen Ländern. Zusammenhang beraten, abwägen und entscheiden. Das sehen offensichtlich auch die CDU/CSU-Bundestags- Bundeskanzler Schröder hat sich entschlossen, per- fraktion und die überwiegende Mehrheit der Fachpoliti- sönlich an diesem Weltgipfel teilzunehmen. Das ist gut kerinnen und Fachpolitiker in der Union so. so. Der behandelte Antrag ist quasi das Reisegepäck, das ihm der Bundestag nach Genf mitgibt. Das Gepäck ist Auch inhaltlich ist dieser Gesetzentwurf überflüssig. umfangreich, leider aber nicht sehr hilfreich: Viel heiße Vielleicht ist den Unterzeichnern entgangen, dass der Luft! Dennoch wünschen wir diesem Gipfeltreffen im vorliegende Gesetzentwurf zum Europarechtsanpas- Interesse einer Chancengleichheit in der globalen Infor- sungsgesetz Bau Vorschläge macht, um die Planungsho- mationsgesellschaft jeden erdenklichen Erfolg. heit der Kommunen zu stärken, und zwar im Unter- schied zum Gruppenantrag in einer sinnvollen Weise. Ohne einen freien Zugang zu den Möglichkeiten der Die vorgeschlagene Neuregelung im § 35 Abs. 3 soll er- Informationsgesellschaft ist heute ein kultureller und gänzende Möglichkeiten schaffen, um privilegierte Vor- wirtschaftlicher Austausch kaum mehr möglich. Der „di- haben im Außenbereich durch Ausweisung von Vorrang-, (B) gitale Graben“ zwischen Nord und Süd muss überbrückt Eignungs- oder Belastungsflächen zu steuern. Diese (D) werden; denn er stellt ein beträchtliches Hindernis für Steuerungsmöglichkeiten werden jedoch erst mit dem die weltweite ökonomische und soziale Entwicklung dar. In-Kraft-Treten des Flächennutzungsplans wirksam. Wir hoffen daher, dass die Bundesregierung dem pro- Dies ist eine neu eingeführte planerische Steuerungs- grammatischen Titel dieses Antrages folgt und ganz möglichkeit im Flächennutzungsplan. Damit haben die konkret auf den Erfolg des Weltgipfels in Genf Einfluss Gemeinden das Recht, beabsichtigte Planungen durch nimmt. Um dieses Ziel zu fördern, stimmen wir dem An- eine befristete Zurückstellung von Baugesuchen für Vor- trag trotz seiner oben geschilderten Schwächen zu. haben nach § 35 Abs. 1 Nrn. 2 bis 6, während eines Ver- fahrens zur Ergänzung des Flächennutzungsplanes zu sichern. Über die Flächennutzungsplanung können Ge- Anlage 5 meinden die Ansiedlung privilegierter Anlagen, zum Beispiel Biomasse oder Windkraft, steuern. Dieser Vor- Zu Protokoll gegebene Reden schlag ist eine sinnvolle Grundlage für unsere künftige zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur parlamentarische Beratung. Änderung des Baugesetzbuches (Kommunale Rechte bei Windkraftanlagen stärken) (Tages- Dass im Gruppenantrag lediglich auf die Stärkung ordnungspunkt 14) kommunaler Rechte bei Windkraftanlagen abgehoben wird, ist ein Beleg dafür, dass es den Antragstellern gar nicht um bessere planungsrechtliche Instrumente der Wolfgang Spanier (SPD): Eine Gruppe von Abge- Kommunen geht, sondern dass sie sich grundsätzlich ge- ordneten beantragt die Änderung des Baugesetzbuchs, gen Windkraftanlagen stellen. Auch hier hinken die An- um die kommunalen Rechte bei Windkraftanlagen zu tragsteller der Entwicklung hinterher. Windkraft trägt stärken. Zunächst einmal, liebe Kolleginnen und Kolle- derzeit zu rund 3,5 Prozent zur Stromerzeugung bei. gen, wird auch Ihnen dieser Antrag bekannt vorkommen. Windstrom stellt gut 40 Prozent der Stromerzeugung aus Ein nahezu identischer Gesetzentwurf ist bereits am erneuerbaren Energien, übrigens rund 50 Prozent die 16. Mai 2002 in den Deutschen Bundestag eingebracht Wasserkraft. 2003/2004 werden Wasser und Wind in worden, damals allerdings noch von 80 Abgeordneten etwa gleich aufwiegen. Der Antrag aller erneuerbaren unterstützt. In der Zwischenzeit ist die Zahl geschrumpft Energien am Primärenergieträgermix beträgt rund 3 Pro- auf 50 Abgeordnete. Sozusagen in Familientradition hat zent, der Windstromanteil knapp 0,5 Prozent. der Nachfolger von Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, nämlich der Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten, Ihre Kritik an einer angeblich überzogenen Förderung diesen Gesetzentwurf gleichsam als Vermächtnis seines ist überholt. Wir legen einen Gesetzentwurf vor mit 6556 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) folgenden zentralen Punkten: Künftig werden nur noch ersten Blick gelingt dies ja auch prächtig. Schon jetzt (C) Windstandorte gefördert, an denen mindestens 65 Pro- stehen in Deutschland 14 000 Windräder, bis 2020 sollen zent des gesetzlich vorgegebenen Referenzertrages er- ganze 25 Prozent der Energie aus Wind gewonnen wer- reicht werden. Das bedeutet, dass circa 25 Prozent der den. potenziellen Binnenlandstandorte aufgrund schwacher Dass dieses Ziel erreichbar ist, daran darf allerdings Windverhältnisse nicht mehr durch das EEG förderfähig gezweifelt werden. Denn trotz der enormen Subventio- sind. Gleichzeitig wird ein zusätzlicher Anreiz für das nierung tun sich die Investoren immer schwerer, pas- Repowering an guten Küstenstandorten geschaffen. Da- sende Standorte zu finden. Das liegt unter anderem an mit wird der Ersatz alter, weniger effizienter Windkraft- den inzwischen über 500 Bürgerinitiativen, die sich ge- anlagen, die bis Ende 1995 in Betrieb gegangen sind, bildet haben, um die weitere Verschandelung ihrer Hei- durch neue, bessere Anlagen geschlossen. Die Degres- mat zu verhindern. Sogar Naturschützer beklagen inzwi- sion der Windförderung wird verstärkt. Künftig werden schen die „Verspargelung“ der Landschaft. die Einspeisevergütungen jährlich um 2 Prozent sinken. Doch nicht nur optisch stellen die bis zu 130 Meter Wir setzen auf die erneuerbaren Energien, wir setzen hohen Windräder eine Beeinträchtigung dar. Für Vögel darauf, dass sie einen bedeutenden Beitrag leisten zu und Fledermäuse sind diese Räder hochgradig gefährlich einer ökologisch sinnvollen Energieversorgung in unse- – zum einen durch die Rotoren selbst und zum anderen rem Land. Wir haben große Hoffnungen, dass im Off- durch den Einfluss der Rotoren auf die Flugroute der shore-Bereich neue Chancen für die Nutzung der Wind- Zugvögel. Sie können nicht in der Nähe der Anlagen ras- kraft eröffnet werden können. ten, denn sie werden durch den Schattenwurf irritiert. Ich habe den Eindruck, dass Sie unterschwellig, trotz Der Lärm der Anlagen ist so erheblich, dass beim – von eines Lippenbekenntnisses in Ihrem Antrag zu den er- Bundesminister Trittin angestrebten – Bau von Offshore- neuerbaren Energien, nicht konsequent auf den Ausbau Anlagen sowohl Vögel als auch Meeressäuger empfind- und die Förderung erneuerbarer Energien setzen, weil lich gestört würden. Lärm und Schattenwurf sind Sie letztlich doch in erster Linie auf den Erhalt und Aus- übrigens auch für die betroffenen Menschen höchst pro- bau der Kernenergie setzen. Ich glaube, es ist deutlich blematisch und belastend. So genannte Bewegungssug- geworden, dass dieser Antrag vor allem eines ist, näm- gestionen werden in der aktuellen Forschung als ernst zu lich überflüssig. nehmende Emission gewertet. Es ist schon auffällig, dass ein Aspekt offensichtlich Ein beträchtliches Sicherheitsrisiko ist auch die tech- überhaupt keine Rolle spielt – nämlich die Frage der Be- nische Anfälligkeit der Anlagen. Die enormen Kräfte, einträchtigung der Wohnbevölkerung durch Windkraft- welche auf die Windräder wirken, führen immer wieder (B) anlagen. Dieser Konflikt ist vor Ort wirklich ernst zu zu Ausfällen und sogar zum Abreißen der Rotorköpfe. (D) nehmen. Deshalb haben wir zurecht den Gemeinden Ein Einsatz in Offshore-Anlagen ist bisher kaum realis- bereits jetzt rechtliche Steuerungsmöglichkeiten für tisch. Wenn man nicht so dilettantisch wie bei der Ein- Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen führung der LKW-Maut vorgehen will, ist eine Test- gegeben. Dass wir darüber hinaus insgesamt im Bauge- phase von mindestens drei Jahren unter realistischen setzbuch die Steuerung privilegierter Vorhaben im Au- Bedingungen notwendig. ßenbereich neu regeln wollen, darauf habe ich schon Kommen wir zur Wirtschaftlichkeit. Die Windkraft hingewiesen. ist – wenig überraschend – vor allem von einer Naturge- walt abhängig: dem Wind. Sie kann also nur dort sinn- Ich freue mich auf intensive Beratungen des Europa- voll zum Einsatz gelangen, wo möglichst stabile und rechtsanpassungsgesetzes Bau im Fachausschuss. konstante Windverhältnisse herrschen Der Haken daran ist allerdings, dass das deutsche Binnenland in der EU Veronika Bellmann (CDU/CSU): Für eine moderne der Bereich mit den durchschnittlich schwächsten Wind- Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ist eine si- verhältnissen ist. Damit stellt sich das grundsätzliche chere, umweltgerechte und wirtschaftliche Energiever- Problem, dass Windenergie in Deutschland nur an sehr sorgung von höchster Bedeutung. Alle drei genannten wenigen Standorten ökonomisch effizient betrieben wer- Eigenschaften sind dabei als gleichrangig anzusehen. den kann. Weht der Wind zu schwach, so reicht er nicht Meiner Meinung nach entspricht die Windkraft grund- aus, die Reibungs- und Trägheitsmomente der Anlage zu sätzlich leider keiner dieser drei Kriterien. Auch wenn es überwinden – die Anlage steht still. Weht er zu stark, paradox klingt, aber sie ist weder generell umwelt- sind die Lasten auf den Rotor zu groß – die Anlage steht freundlich, noch sicher und erst recht nicht wirtschaft- ebenfalls still. Eine kontinuierliche Stromversorgung ist lich. Doch eines nach dem anderen. insofern mit Windenergie in Deutschland nicht möglich! Seit Jahren wird durch die Bundesregierung versucht, Da aber eine solche kontinuierliche Stromversorgung den Anteil der regenerativen Energien an der Energie- unbedingt notwendig ist, müssen weiterhin konventio- versorgung zu steigern. Die Intention ist dabei – auch im nelle Kraftwerke betrieben werden, die einen Ausfall des Hinblick auf das Kioto-Abkommen – zu begrüßen, die Windstroms kompensieren Der Vorteil der Ressourcen- Umsetzung allerdings, wie bei vielen Projekten der Bun- schonung durch Windenergie wird also verschwindend desregierung, nicht. Durch das Erneuerbare-Energien- gering, wenn eine Windenergieanlage nicht alleine, son- Gesetz im höchsten Grade subventioniert, soll vor allem dern nur im Zusammenspiel mit konventionellen Kraft- die Windkraft künstlich gefördert werden. Und auf den werken betrieben werden kann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6557

(A) Doch dank der Subventionen durch das EEG wurden Verringerung öffentlicher Unterstützung. Hierbei sollten (C) und werden trotz dieser großen Nachteile tausende wir uns an die von der EU vorgegebenen Kriterien orien- Windräder aus dem Boden gestampft – egal, ob in wind- tieren: Vereinbarkeit mit den Prinzipien des Elektrizitäts- armen oder windreichen Gegenden. Denn die Förderung binnenmarktes, Berücksichtigung der verschiedenen für Windkraftanlagen ist nicht unmittelbar an Standorte erneuerbaren Energiequellen, der unterschiedlichen geknüpft. Ausschlaggebend für die Förderung ist der so Technologien und geographischen Gegebenheiten, Ein- genannte Referenzertrag. Je besser der ist – also je wirt- fachheit und Transparenz und vor allem Effizienz! Eine schaftlicher eine Anlage arbeitet –, desto geringer fällt nach den unterschiedlichen Energieträgern differenzier- die Forderung aus. tere Förderung ist Grundlage für ökonomische und öko- logische Effizienz und damit für das Erreichen des Ver- Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass schlechte dopplungszieles. Eine Überforderung wie bei der Windstandorte, etwa im Binnenland, länger und damit Windkraft muss schleunigst beendet werden. Die geo- besser gefördert werden als gute, zum Beispiel an der graphischen Gegebenheiten müssen endlich stärker Be- Küste, da diese aufgrund des erzielten Referenzertrages rücksichtigung finden. nur für eine kurze Zeit Förderung erhalten – eine voll- kommen widersinnige Vorgehensweise! Ein weiterer Außerdem muss die undifferenzierte Subventionie- Zubau von Anlagen an windungünstigen Standorten im rung mittels Einspeisevergütung fallen. Sinnvoller wäre Binnenland ist weder ökologisch noch ökonomisch sinn- vielmehr eine Vergütung, die sich aus einer festgesetzten voll! Grundvergütung plus Marktpreis zusammensetzt. Auf- Statt weiterhin die Verspargelung unserer windarmen grund seiner Abhängigkeit vom Marktpreis wäre der An- Heimat zu fördern, sollten wir viel eher größeres Augen- lagenbetreiber gezwungen, sein Produkt selbst zu ver- merk auf den Export der Technologien in windreiche Re- markten, was wiederum Wettbewerbsfähigkeit bedingt. gionen Spaniens, Großbritanniens, Italiens, Frankreichs, Und es werden nur diejenigen Anlagen wettbewerbsfä- Norwegens usw. legen. Das käme dem Wirtschaftsstand- hig sein können, die durch standortnahe Erzeugung ge- ort Deutschland zugute. ringe Kosten aufweisen oder die wirklich gute Wind- standorte darstellen. Letztendlich muss es das Ziel sein, Windenergie wird in Deutschland erst ein marktfähi- eine Schaffung von Dauersubventionen – wie beispiels- ges Produkt sein, wenn es gelingt, die produzierte Ener- weise seinerzeit bei der Steinkohle – zu verhindern. Da- gie zu speichern. Bis die Wissenschaft dies ermöglichen mit täten wir den Herstellern, Betreibern, Verbrauchern kann, müssen vor allem die Gemeinden in ihren Rechten und nicht zuletzt der Technologie langfristig keinen Ge- gegenüber den Betreibern von Windenergieanlagen ge- fallen. stärkt werden. Die in diesen Angelegenheiten noch uner- (B) fahrenen Gemeinden und Gemeinderate wurden bisher (D) meist einseitig über vermeintlichen ökologischen Nutzen Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als informiert und stimmten leichtfertig zu. Doch selbst ich mich auf diese Rede vorbereitete und mir den Ge- wenn Sie sich über die Folgen im Klaren waren – die setzentwurf auf Drucksache 15/513 vom 28. Februar rechtliche Situation der Gemeinden war und ist oft zu 2003 näher anschaute, musste ich überrascht feststellen, schwach, um den Bau von Windkraftanlagen zu verhin- dass er beinahe wortwörtlich dem Gesetzentwurf auf dern. Viele Gemeinden werden aufgrund einer unstim- Drucksache 14/9132 vom 16. Mai 2002 entspricht. Al- migen Rechtsprechung empfindlich in ihrer Planungsho- lerdings fiel mir dann doch ein signifikanter Unterschied heit verletzt, weil sie im guten Glauben, nicht tangiert zu auf: War in der letzten Wahlperiode noch der Abgeord- sein, die Möglichkeiten der Überleitungsvorschriften für nete Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten der feder- Vorhaben im Außenbereich, gemäß Baugesetzbuch, führende Anstragsteller, so zeichnet jetzt sein Sohn nicht genutzt haben. Christian Freiherr von Stetten dafür verantwortlich. Das hat mich erneut überrascht, denn ich wusste bis heute Ziel unseres Gesetzentwurfs ist es daher, die Gemein- noch nicht, dass Gesetzentwürfe vererbt werden können. den, Regionalverbände oder anderen Planungsgemein- Es bliebe nur noch zu klären, ob dieser Vorgang mögli- schaften in ihrer Planungshoheit zu stärken und so vor cherweise erbschaftsteuerpflichtig ist. Ort eine ausgewogene Energiepolitik zu ermöglichen. Darüber hinaus muss schleunigst die Förderung der re- Der Gesetzentwurf ist allerdings durch seine Verer- generativen Energien durch das EEG korrigiert werden, bung keinen Deut besser geworden. Der Bundestag hat auch um die EU-Richtlinie zur Verdoppelung des Anteils seine mangelnde Qualität bereits in der Debatte vom erneuerbarer Energien an der Gesamterzeugung sicher- 27. Juni 2002 festgestellt, weswegen sich die Kollegin- zustellen. nen und Kollegen von der Opposition schon die Frage gefallen lassen müssen, warum wir diese Debatte heute Die Union bekennt sich seit Jahren zu diesem Ziel. erneut führen dürfen. Mit dem Stromeinspeisungsgesetz von 1991 haben wir bereits zehn Jahre vor der EU-Richtlinie die Grundlagen Es ist schon auffällig, dass ich die meisten von Ihnen für die breite Anwendung erneuerbarer Energien in der heute Morgen bei den großen Debatten über die Energie- deutschen Stromversorgung geschaffen. Die CDU/CSU politik und über den Emissionshandel vermisst habe. unterstützt allerdings auch mit Nachdruck die von der Dies zeigt deutlich, welchen wirklichen Stellenwert Sie EU in der Richtlinie angestrebten Ziele der Wettbe- der erneuten Einbringung Ihres Gesetzentwurfes einräu- werbsfähigkeit, der Begrenzung der Kosten für den Ver- men und wie ehrlich Sie es mit der Förderung von erneu- braucher sowie der mittelfristigen Notwendigkeit zur erbaren Energien halten. 6558 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003

(A) Sie irren sich, wenn Sie die Neufassung des § 35 riesigen Wolken aus den Kühltürmen des Braunkohle- (C) Abs. 1 Nr. 6 im BauGB aus dem Jahre 1995 dahin ge- kraftwerks Lippendorf, die selbst bei schönem Wetter hend interpretieren wollen, dass hiermit eine Privilegie- den Himmel der Stadt Zwenkau eintrüben. Von der CDU rung zugunsten der Windenergie herbeigeführt werden in Sachsen vernehme ich da keinen Aufschrei. Aber sollte. Es ging der damaligen CDU/CSU/FDP-Regie- wenn es um Windkraftanlagen geht, stehen sie alle ge- rung lediglich darum, die Gleichbehandlung der Wind- meinsam auf den Barrikaden. Und das nennen Sie eine energie mit anderen Stromerzeugungsanlagen sicherzu- ausgewogene Energiepolitik, die Sie mit Ihrem Gesetz- stellen. Das war dringend erforderlich. entwurf erreichen wollen? Das ist die pure Heuchelei und das werfe ich auch Ihrem Gesetzentwurf vor. Mit Ihrem Gesetzentwurf machen Sie deutlich, dass Sie sich als der Motor einer Lobby verstehen, die land- Da nützt es auch nichts, wenn Sie mit Blick auf Ihre auf, landab mit fadenscheinigen Argumenten gegen eine Klientel in der Land- und Forstwirtschaft versuchen, „Verspargelung der Landschaft“ antritt, in Wahrheit aber noch die Kurve zu den regenerativen Energie zu krie- Fundamentalopposition gegen eine Energiewende insge- gen, indem Sie die Förderung von Wasserkraft-, Bio- samt und insbesondere gegen die Windenergie betreibt. gas-, Solar- und Holzhackschnitzelanlagen befürwor- Und da Sie seit nunmehr fünf Jahren nicht mehr die ten. Da brauchen Sie uns zu nichts mehr aufzufordern, Bundesregierung stellen, versuchen Sie ihren Einfluss wenn ich Sie auf die Vergütungssätze im EEG hinwei- auf die nationale Energiepolitik über die Kommunen und sen darf. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass die das Planungsrecht geltend zu machen. Dabei instrumen- Windenergie den weitaus größten Anteil an den erneu- talisieren Sie ausgerechnet die Planungshoheit der Kom- erbaren Energien stellt und im Hinblick auf die Errei- munen, die wir von Bündnis 90/Die Grünen als ein ho- chung unsere Klimaschutzziele unverzichtbar gewor- hes und zu erhaltendes Gut ansehen. den ist. Wir wissen sehr wohl, dass es an bestimmten Standor- Darüber hinaus spricht die Zahl von 130 000 neu ent- ten durchaus ernstzunehmende Konflikte zwischen standenen Arbeitsplätzen in diesem Energiesektor für Windenergieerzeugern, Bürgerinteressen und Natur- und sich. Ich würde mir wünschen, dass es davon noch mehr Landschaftsschutzbelangen gibt. Daher ist es auch rich- auch in meinem Bundesland Sachsen und in meinem tig, dass die Kommunen einen offenen und nachvoll- Wahlkreis gäbe. ziehbaren Abwägungsprozess vornehmen müssen. Aber die Kommunen haben damit auch eine Verantwortung Marita Sehn (FDP): Windkrafträder sind hochsub- zugesprochen bekommen, die nicht dazu führen kann, ventioniert, ökologisch kontraproduktiv, tragen kaum et- dass eine Ausweisung von Vorranggebieten für die was zur allgemeinen Energieversorgung bei und ver- (B) Windenergie generell verweigert wird. schandeln die Landschaft – das schreibt der SPD- (D) Umweltminister des Landes Brandenburg, Wolfgang Konflikte müssen in einer transparenten und bürger- Birthler, in der „taz“. Diese einseitige Verteufelung der freundlichen Bauleitplanung im Vorfeld erkannt und Windenergie, wie sie hier von einem SPD-Umwelt- ausgeräumt werden. An diesem funktionierenden Pla- minister vorgenommen wird, kann ich so nicht teilen. nungsinstrument darf daher nicht gerüttelt werden. Die Windkraft bietet Chancen, die auch wir nutzen soll- Ich kann Ihnen übrigens eine Menge Beispiele liefern, ten. Dabei sollte es eigentlich selbstverständlich sein, wo genau diese Planungsinstrumente eben nicht dazu dass Windkrafträder dort aufgebaut werden, wo kontinu- geführt haben, dass zum Beispiel Natur- und Land- ierlich starker Wind herrscht. schutzbelange berücksichtigt wurden. In meinem Land- Aber wir müssen zunehmend feststellen, dass die Ak- kreis Torgau-Oschatz wurden schon so häufig Flächen zeptanz für Windenergieanlagen in der Bevölkerung aus Landschaftsschutzgebieten ausgegliedert, um an- drastisch abnimmt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Unter schließend dort Gewerbe- oder Industriegebiete auswei- anderem können es viele Menschen nicht verstehen, dass sen zu können, dass ich mittlerweile den Überblick in Regionen, in denen der Wind nicht ständig weht, An- verloren habe. Und der regionale Planungsverband lagen, hochsubventioniert, aufgebaut werden. Bedenkt Westsachsen mußte sich am Mittwoch vom Oberverwal- man, dass sie nur an durchschnittlich 77 Tagen im Jahr tungsgericht Bautzen bescheinigen lassen, dass der von Strom erzeugen und die restlichen 288 Tage stillstehen, ihm aufgestellte Braunkohleplan für den Tagebau kann zumindest ich dies nachvollziehen. Schleenhain null und nichtig ist. Ausgerechnet dieser Planungsverband hat sich aber in der Vergangenheit als Niemand beschwert sich über ein oder zwei Windrä- eifriger Streiter gegen die Windenergie hervorgetan, was der. Aber wenn in einigen ursprünglich sehr schönen Ge- sich auch in seiner Regionalplanung mit nur wenigen genden das Landschaftsbild nicht mehr von der Natur, Alibivorranggebieten niedergeschlagen hat. sondern von grauen, stillstehenden Windmühlen domi- niert wird, dann ist etwas falsch gelaufen. Man hatte aber andererseits nichts dagegen einzuwen- den, dass im Südraum von Leipzig riesige Flächen de- Es geht nicht um ein Verbot der Windenergie. Wir vastiert und viele Menschen aus ihren Siedlungen ver- wollen einen Ausbau, der dem Anspruch einer ökologi- trieben worden sind und noch vertrieben werden sollen, schen Energieerzeugung gerecht wird. Nicht auf Kosten wie zum Beispiel in Heuersdorf. Oder reden wir doch der Menschen, der Natur und der Landschaft, sondern im einmal über die Hunderte von Hochspannungsmasten, Einklang mit den Menschen, der Natur und der Land- die hier die Landschaft tatsächlich zerspargeln, oder die schaft. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. November 2003 6559

(A) Und dazu bedarf es einiger gesetzlicher Änderungen: Die Windenergie entwickelt sich aber auch zu einem (C) gefährlichen Spaltpilz in den Gemeinden des ländlichen Als besonders fatal für den geordneten Ausbau der Raumes. Sie teilt die Dörfer in Profiteure, die ihr Grund- Windenergie hat sich die Privilegierung im Außenbe- reich nach § 35 Baugesetzbuch erwiesen. Sie hat dazu stück zu guten Preisen an Windanlagenbetreiber ver- geführt, dass Gemeinden und Kommunen, die nicht über pachten, und die Bewohner der betroffenen Ortschaften, die notwendigen planerischen Kapazitäten verfügen, die mit den Folgen zu kämpfen haben. Und diese sind kaum eine Steuerungsmöglichkeit für den geordneten nicht unerheblich. So führt eine Windenergieanlage in Ausbau der Windenergie haben.Wer will, der kann – das Grundstücksnähe zu einem erheblichen Wertverlust der mag ein taugliches Motto für den Wilden Westen gewe- benachbarten Grundstücke und Häuser. Bei allem Ver- sen sein, aber als Grundlage für den Ausbau der Wind- ständnis für die Windenergie, aber wer will so ein Ding energie in einem dicht besiedelten Land ist das nichts schon vor der Terrasse stehen haben? Sie vielleicht? anderes als staatlich sanktioniertes Mobbing der Bürge- Außerdem führt der wilde Ausbau der Windenergie rinnen und Bürger. zu regelrechten Schildbürgerstreichen zwischen den Aber genau das passiert zur Zeit in vielen Bundeslän- Kommunen. Windanlagen werden möglichst an der dern, unter anderem auch in Rheinland-Pfalz. Nachdem Grenze zur Nachbargemeinde gebaut. Genau wie etliche der regionale Raumordnungsplan für die Region Mittel- Staaten gerne ihre Atommeiler an der Grenze zum Nach- rhein-Westerwald von Gerichten für nichtig erklärt barstaat bauen, genauso geht es mit der Windenergie. wurde, herrscht momentan eine planerische Anarchie. Frei nach dem Cattenom-Prinzip: Selber die Vorteile ha- Ein wichtiges Regulierungsinstrument für die geordnete ben und die Nachteile den anderen zuschustern. Das hat Ansiedlung von Windenergieanlagen fällt also derzeit doch nichts mit umweltfreundlichen Energien zu tun – aus. Diese Situation wird gezielt von Windkraftunter- das ist der Wilde Westen, nur dass der dieses Mal auf nehmen genutzt, um massiv Anträge für die Errichtung dem Hunsrück liegt. neuer Anlagen einzureichen. Die Antragsteller haben ei- nen Anspruch auf Genehmigung, wenn keine anderen Windenergie lässt sich eben nicht nur auf einem abge- öffentlichen Belange entgegenstehen. In einigen Ge- hobenen politischen Niveau diskutieren. Der Ausbau der meinden liegen Anträge für bis zu 80 Windenergieanla- Windenergie hat eine erhebliche lokale Dimension und gen vor. dieses sollten wir nicht länger ignorieren. Das wichtigste Das hat nichts mehr mit der idyllischen Mühle zu tun, Kapital der erneuerbaren Energien ist ihr Image als die am rauschenden Bach klappert. Das ist der Einstieg sanfte und umweltgerechte Energie. Dieses Kapital zer- in eine industrielle Windradbrache. Stellen Sie sich ein- stören Sie, wenn Sie weiterhin den Ausbau der Wind- (B) mal vor, Sie wohnen in einer kleinen Ortschaft, um- energie in Wildwestmanier fördern. (D) zingelt von 80 gigantischen Windrädern. Ich kann Ihnen Der vorliegende Entwurf ist eine ausgestreckte Hand. sagen, wenn die Bürgerinnen und Bürger einen Zauber- Wir wollen Windenergie nicht verhindern. Wir wollen trank hätten, sie würden am liebsten alles kurz und klein aber, dass der Ausbau landschafts-, umwelt- und vor al- hauen. „Die spinnen, die Politiker", das sagen sie dort lem auch menschenverträglich vorgenommen wird. Wir ohnehin schon. wollen erreichen, dass den Gemeinden die Zeit einge- Bitte stellen Sie sich einmal eine kleine Ortschaft vor, räumt wird, die sie für die Planung eines landschafts-, umringt von Windenergieanlagen, die oftmals höher sind umwelt- und menschenverträglichen Ausbaus der Wind- als der örtliche Kirchturm. Das hat nichts mehr mit energie benötigen. natur- und landschaftsverträglich zu tun – das ist die sys- tematische Zerstörung einer Kulturlandschaft. Ich Wir fordern von Ihnen nicht viel, sondern ein kleines möchte mal sehen, wie schnell sich die Einstellung der Zeichen, dass Sie trotz aller Begeisterung für die Wind- Bundesregierung zur Windenergie ändert, wenn im Ab- energie auch die Sorgen und Nöte der Betroffenen sehen. stand von 500 Meter um das Bundeskanzleramt oder in Wir wollen nicht, dass Sie die Energiewende anordnen, Hannover 80 Windräder stehen würden. Ein Machtwort sondern gemeinsam mit den Menschen durchführen. Ist wäre fällig! Frau Doris Schröder-Köpf, übernehmen Sie! das zu viel verlangt?

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