1/2019

Das evangelische Magazin im Oldenburger Land

Wir sind so frei! Schwarzer Humor

In aller Freiheit Irrtum oder Selbsttäuschung? Nicht jede Entscheidung trifft man ganz frei

„So wird, wie der Apostel schreibt, liebe erwartete. So hatte sie dagesessen. Den Gemeinde, der Glaube in der Liebe Blick schweifen lassen. Ab und zu ein tätig. Amen.“ Pastor Eleutherus stieg paar Worte aufgeschnappt. Etwas von gemessenen Schrittes die Stufen vom der „Freiheit eines Christenmenschen“ Kanzelkorb hinab. Keine leichte Übung. vernommen, der „niemandem unter- Sein Körperumfang schränkte die tan“ und doch „jedermanns Knecht“ Bewegungsfreiheit doch arg ein. Eben sei. Aber das war ihr zu theoretisch hatte er, wie er es gern formulierte, gewesen. Die Geschichte von Jesus, den „das Wort verkündigt“. Ein Manuskript vier Freunden und deren gelähmtem brauchte er nicht. Christus sollte im frei Kumpel fand sie schon besser. Das war gesprochenen Wort in seine Gemeinde ihr direkt zu Herzen gegangen. Wie die kommen und sein Werk ausrichten. Der Freunde aus freien Stücken alles nur Geist weht, wo und wie er will. Dessen Erdenkliche und mehr für ihren kranken Freiheit soll man nicht durch das Kor- Freund getan . Sich über Regeln sett festgeschriebener Formulierungen und Konventionen hinweg gesetzt hindern. Eleutherus lächelte, während hatten. Genauso würde sie das machen. er innehielt, um den Moment auszukos- Für ihren Mann. Seit dem Schlaganfall ten (und kurz zu verschnaufen). wusste sie, wozu sie fähig war.

Trude Treuseel saß hinten im recht Die Untiefen des Gemeindelebens Zur Person überschaubar besetzten Kirchenschiff. In Gedanken versunken saß sie da. Sie Eben noch hatte sie ihren Mann ver- fühlte sich frei und unbeschwert. Sie Pfarrer Stephan Bohlen, gebo- sorgt. Nach seinem Schlaganfall hatte hatte gar nicht bemerkt, dass Eleuthe- ren 1962, ist seit 2015 durch den Kirchenkreis zur sich ihr Leben vollkommen verändert. rus in seiner ganzen Bedeutungsschwe- „Pastoralen Mitversorgung“ der Eigentlich hatten ihr Mann und sie re den Segen gesprochen hatte. Erst als Kirchengemeinde für den sich auf das Rentnerdasein gefreut. sein massiger dunkler Schatten an ihr Pfarrbezirk Süddorf zugeteilt. Endlich keine Verpflichtungen mehr. vorüberrollte, wurde ihr bewusst, dass Endlich frei. Und dann dies: Schlagan- der Gottesdienst zu Ende war. Der gebürtige Edewechter war fall. Immer war sie dagewesen für ihn. zuvor zehn Jahre lang Pfarrer in der Hatte an seinem Bett gesessen. Seine Sie wartete noch das Orgelnachspiel Kirchengemeinde Zwischenahn, Hand gehalten. Ihm das einge- ab, dann erhob sie sich und ging zum Pfarrbezirk Rostrup, aktiv. reicht, ihn gewaschen und angezogen. Ausgang. Am Schriftenstand nahm sie Davor war er von 1998 bis 2006 Spaziergänge unternommen. Er im noch ein paar Gemeindebriefe mit. Die Pfarrer in der Kirchengemeinde Rollstuhl und sie dahinter. Schritt für verteilte sie gern bei ihren Spaziergän- Golzwarden. Schritt in ein neues Leben. gen in der Nachbarschaft. Eleutherus In seiner „Braker Zeit“ gründete er hatte das noch nicht mitbekommen. zusammen mit Anke und Stefan Aus freien Stücken Genauso wenig wie den Rest ihrer Stalling, Andreas Technow, Tho- Aus freien Stücken war sie mitgegan- Geschichte. Über diese Untiefen des mas Meyer, Kerstin Pflugrad sowie gen. In großer Freiheit hatte sie getan, Gemeindelebens sah er hinweg. Als mit Katja Waldschmidt und Petra was zu tun war. Aus Liebe. Am Sonntag Trude an ihm vorbeiging, reichte er Bohlen das Kabarettensemble hatte sie sich angewöhnt, in die Kirche ihr die Hand und lächelte. Er schaute „Schwarzer Humor“, das 2003 erst- zu gehen. Sie genoss die Zeit für sich. durch sie hindurch und dachte an die mals beim Regionalen Kirchentag Was der beleibte Mann in Schwarz geschliffenen Formulierungen seiner in Brake auftrat. sagte, verstand sie nicht immer. Hörte freien Rede. Welch ein Jammer, dachte auch nicht immer zu. Die Ereignisse er, dass ich mich hier verschwende. In Stephan Bohlen ist verheiratet und rund um die Krankheit ihres Mannes aller Freiheit. Als dienstbarer Knecht. hat zwei Kinder im Alter von 17 und hatten sie davon befreit, dem gehor- 20 Jahren. chen zu müssen, was MAN von ihr Pfarrer Stephan Bohlen

2 Editorial

„Es gibt keine offene Gesellschaft ohne gleichzeitige Phasen von Ängstlichkeit Editorial und Unsicherheit“, räumt Bundesprä- sident a.D. Joachim Gauck ein. Aber „wir haben die Freiheit der Wahl, wir haben auch Kraft und Mut, aber ohne Ängste ist diese Freiheit nicht zu Liebe Leserinnen, haben“. liebe Leser, Mehr auf den Seiten 4 und 5 mehr als ein Drittel der deutschen Können kleine Prinzen frei sein? An- Bevölkerung ist unter 30 Jahre alt nette Böhnig, stellvertretende Leiterin und hat somit den Fall der Berliner und Fachbereichsleitung „Leben mit Mauer gar nicht erlebt. Vor diesem Kindern“ der Evangelischen Famili- Hintergrund ist die Frage nach der enbildungsstätte (EFB) / Bedeutung der Freiheit ein aktuelles -Land, stellt Thesen und Thema, dem wir uns mit dieser Aus- Leitgedanken vor, wie Erziehung zur gabe von „horizont E“ stellen wollen. Freiheit gelingen kann. Dafür hat der Redaktionskreis Mehr auf Seite 16 Menschen aus Politik, Wissenschaft, Gesellschaft, Kultur und Kirche gebeten, ihre Sicht auf die Freiheit und deren heutige Bedeutung darzu- stellen. Exemplarisch fragen wir im Heft auch nach, wo die Kirche zur Freiheit beitragen kann, und stellen Arbeitsfelder vor, die vielleicht we- niger im Blick kirchlichen Handelns liegen. „Kirche der Freiheit“: Wir haben Bischof Thomas Adomeit, Kreispfarrerin Ulrike Hoffmann, Pfarrer Bernhard Busemann und die Kirchenälteste Doris Ich hoffe, dass diese Ausgabe Mut Fangmann gefragt, was ihnen „Freiheit“ bedeutet und an welchen Stellen sie macht, Freiheit zu leben und zu wa- auch Grenzen der Freiheit erleben. gen – für sich selbst und für andere. Mehr auf den Seiten 22 und 23 Das gilt ebenso für die Kirche, die zuweilen noch viel zu sehr Angst Impressum davor hat, anstößig zu sein oder sich uneins zu zeigen. Dabei ist sie Teil „horizont E” ist das Magazin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg. Es erscheint dreimal im Jahr 2019 im Einzugsgebiet der oldenburgischen Kirche. der oftmals zerrissen erscheinenden Herausgeber: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg Welt. Darin liegt aber genau ihre Mitarbeit: Thomas Adomeit, Birgit Blank, Stephan Bohlen, Annette Böhnig, Anke Brockmeyer, Bernhard Chance, dass ihre Wahrheit doch Busemann, Michael Eberstein, Doris Fangmann, Olaf Grobleben, Dirk-Michael Grötzsch, Uwe Haring, Ulrike Hoffmann, Annette Kellin, Kerstin Kempermann, Hans-Werner Kögel, Wilfried Kürschner, Ute Passage, Rebekka noch geglaubt wird. Reinhard, Falko Schilling und Martin Schweer. Bildnachweise: Anke Brockmeyer, Bundesarchiv, B 145 Bild-F003014-0002/ Brodde/CC-BY-SA 3.0, Tobias Cohrs/CC-BY-SA-3.0, Uwe Haring, Katholische Akademie Bayern, Alberto Cabello/CC-BY-SA-3.0, Dutch Eine anregende Lektüre wünscht mit National Archives/Ron Kroon/Anefo, Peter Hutchins, Annette Kellin, Kerstin Kempermann, Tobias Kleinschmidt, freundlichen Grüßen Hans-Werner Kögel, Elliot Landy, pixabay.com, Jens Schulze, Wikimedia Commons/CC-BY-SA 3.0 sowie Privatfo- tos und public domains. Grafik/Gestaltung/Produktion: studio für gestaltung, Ute Packmohr, Delmenhorst Anschrift: „horizont E”· Philosophenweg 1 · 26121 Oldenburg, · [email protected] www. kirche-oldenburg.de Druck: Sachsendruck Plauen GmbH Diese Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Hans-Werner Kögel Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden.

3 Auf ein Wort

Freiheit ist nicht ohne Angst zu haben Bundespräsident a.D. Gauck appelliert an unseren Mut zur Verantwortung

Anlässlich der 55. Sicherheitskonferenz Umbruchzeiten wie der Kopernika- frei, er fühlte sich manchmal auch im Februar in München hat Bundes- nischen Wende oder dem Beginn des gegängelt, aber das ganze System hing präsident a.D. Joachim Gauck in der Industriezeitalters. (…) Politik darf die- nicht von ihm ab. Er war eingeordnet, Katholischen Akademie Bayern seine se Ängste nicht ignorieren. Aber Politik hatte eine gewisse Rollensicherheit und Gedanken zur politischen und gesell- muss den verunsicherten Menschen Beheimatung, einen gewissen Halt. schaftlichen Entwicklung in Deutsch- gemeinsam mit der Wirtschaft auch die (…) Es ist die moderne Gesellschaft, land und international formuliert. vielen Möglichkeiten und Chancen vor die uns in den Individualismus entlässt Darin zeigt er die Chancen, aber auch Augen führen, die sich mit dem Über- und uns zumutet, über die grundle- die Ängste auf, die mit unserer Freiheit gang in ein neues Informationszeitalter genden Dinge selbst zu entscheiden: verbunden sind. „horizont E“ hat die eröffnen. (…) Wie wir unser Leben gestalten und wesentlichen Aspekte herausgegriffen. was unserem Leben Sinn gibt. Ist es „(…)Landauf, landab wird augen- Freiheit schafft Unsicherheit verwunderlich, dass dann eine Unsi- blicklich immerfort diskutiert über die Der große Sören Kierkegaard hat in cherheit im Raum ist, zumal in Zeiten Ordnung der Welt, die ins Rutschen seinem Jahrhundert, dem 19. Jahr- eines fragilen Übergangs? gerät, und besorgt gesprochen über hundert, die Angst den Schwindel der die Außen- und Sicherheitspolitik, Freiheit genannt. Vielleicht erschließen Es gibt keine offene Gesellschaft ohne deren Akteure nicht mehr verlässlich wir uns diese Aussage am besten, wenn gleichzeitige Phasen von Ängstlich- sind. (…) Mit Erschrecken sehen wir wir uns erinnern, dass Freiheit un- keit und Unsicherheit. (…) Aber: Wir die zunehmende Friedlosigkeit und glaubliche Handlungs- und Spielräume wissen aus der Erfahrung, dass uns eine Erosion des Vertrauens zwischen eröffnet, zahllose Möglichkeiten – zum Kräfte zuwachsen können, die die den Staaten. (…) Wir erleben große Guten, aber auch zum Schlechten. Ängste weder leugnen noch löschen, Unsicherheit und eine diffuse Angst, (…) ln der vormodernen Gesellschaft aber die sie relativieren und die uns in vielleicht vergleichbar nur mit großen kannte jeder seinen Platz: Er war nicht das Stadium von Handlungsfähigkeit

Es gibt keine offene Gesellschaft ohne gleichzeitige Phasen von Ängstlichkeit und Unsicherheit.

Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck auf der Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014 in München.

4 Auf ein Wort

setzen. Kräfte, die die in uns ruhende Verantwortungsbereitschaft, die Mut, Tatkraft, lnnovationsbereitschaft, Risikobereitschaft wecken. (…) Lassen Sie mich für einen Moment in mein altes Dasein als Pastor zurückgehen: Ich hatte als junger Mensch immer Furcht vor einer bestimmten Bibelstelle (…) aus dem Schöpfungsbericht. Da heißt es: „Und Gott schuf den Men- schen nach seinem Bilde, nach Gottes Bilde schuf er ihn“ (1. Mose 1,27). Ich betrachtete die Welt in meiner Nachkriegsjugend mit großer Skepsis, besonders Deutschland. Das, was der Bundespräsident a.D. Joachim Gauck während seines Vortrags bei der Katholischen junge Student da aus den Büchern und Akademie Bayern im Januar dieses Jahres. Filmen zur Kenntnis nahm über die eigene Heimat, in der man deutsch Gott lässt uns entscheiden Erich Fromm lässt uns weiterlesen. sprach, deutsche Musik liebte, Hand Der große Psychologe Erich Fromm Was passiert nach dieser Tat? Einen anlegte zum wirtschaftlichen Aufbau, und der große Philosoph und Politik- Tag später findet sich das Paar außer- aber über Massenmorde, Gewalt wissenschaftler Karl Popper haben halb des Paradieses. (…) Von jetzt an und Totschlag schwieg, das hat mich mehrfach darüber gesprochen, dass wird es sich danach sehnen, in die heile abgestoßen. Ja, ich kann sagen: Ich es verborgen unter den verschiedenen Ordnung eines geschützten Raumes habe dieses Land gehasst. Und dann Ängsten so etwas wie eine Grundangst zurückkehren zu können, den wir lese ich da in der Heiligen Schrift: Gott gibt, die die Menschen gar nicht so Paradies nennen. Das Paar wird nie schuf den Menschen nach seinem genau definieren können. Ein diffuses, wieder dort hinkommen, aber immer Bilde. (…) Jedenfalls empfand ich die verunsicherndes Grundgefühl: die wird es sich danach sehnen und daran Bibelstelle als so provokant, (…) dass Furcht vor der Freiheit. (…) Interes- denken, dass es dort sein könnte. (…) ich mir vorgenommen hatte: Darüber sant, dass auch der eher linke Psy- Wir haben die Freiheit der Wahl, wir predigst du nie. Aber irgendwann – ich chotherapeut und Psychologe Fromm haben auch (begrenzt) Kraft und Mut, war schon alt geworden – kehrte die auf die Bibel verweist, (…) [auf] die aber ohne Ängste ist diese Freiheit Bibelstelle zu mir zurück. Ich konnte Geschichte von Adam und Eva. Da nicht zu haben.(…) den Text plötzlich lesen und sagte: wird also der Apfel weitergereicht – Oh, was für ein schönes Wort. Und der Gläubige weiß da schon: Das ist Warum entwickeln wir keinen positi- wissen Sie, wie das kam? Es hängt mit Sünde, Gott will es nicht, das tut man ven Bezug zu diesem so gewordenen diesem Begriff der Verantwortung nicht. Aber scheinbar paradoxerweise Hort des Rechtes, der Freiheit und der zusammen. Für mich hieß dieser Text hat Gott den Menschen so geschaffen, Demokratie? Warum bekennen wir uns plötzlich: Gott schuf den Menschen dass er auch tun kann, was er nicht tun dazu nicht in Dankbarkeit und Freude mit einer geheimnisvollen Gabe, die soll. Also schlussfolgerte der Psychologe und meinetwegen auch mit Stolz? Aus kein anderes Geschöpf hat, sondern (…): Der Schöpfer hat den Menschen dieser Freude heraus entstehen dann nur er. Der Mensch kann sich selber als freies Geschöpf gewollt. Er hat ihn auch die Kräfte, die gegen die Angst erkennen und für sich und andere Ver- in die Freiheit hinein geboren. Und das aktiv werden können. Der Glaube hilft antwortung übernehmen. Er kann das Paar entscheidet sich, Gottes Gebot dabei. Er will nicht Menschen, die aus in Liebe tun, er kann es mit Mut tun, nicht zu folgen, sondern selbst das der Verantwortung fliehen, sondern mit Ängstlichkeit – aber er ist immer Gebot zu setzen: Ich setze meine Kraft unser Gott ist ein Gott, der die Auf- gemeint als der, der diese besondere ein und entscheide mich im Rahmen brüche segnet und Menschen bei ihren Fähigkeit besitzt. (…) meiner Freiheit. Eine große Tat. Aber Aufbrüchen begleitet. (…)

Wir danken Bundespräsident a.D. Gauck für die freundliche Genehmigung des Abdrucks. Der gesamte Vortrag ist nachzulesen unter https://www.joachim-gauck.de/deutschland-europa/katholische-akademie-bayern

5 Auf ein Wort

Gesicht und Farbe der Freiheit Drei Generationen im Gespräch über Grenzen und Privilegien

seits aus Künstlern. Seine Schulzeit in Erfurt war „für jemanden aus katho- lischen Verhältnissen natürlich nicht wirklich von Freiheit geprägt“. Zwar war er zunächst in der Pionier-Orga- nisation, „weil meine Eltern meinten, es sei noch zu früh, allein in der Klasse dagegen zu sein“. Zur Jugendweihe und in den kommunistischen Jugend- verband FDJ ging er jedoch nicht.

Unfreiheit überwinden Als Bausoldat gemustert, Ausbildung zum Silberschmied, Arbeit im Muse- um Gotha als Metallrestaurator und später im Betrieb eines Großonkels als Silberschmied. „In der Wendezeit war Wolfgang Zapfe wirbt für Europa: „Freiheit und Frieden hängen zusammen.“ aber das Arbeiten nicht mehr mein Hauptthema“, erzählt Marcus Ruge, wie er „Plakate geklebt und die Stasi Drei Generationen, drei Perspektiven, vor, die nach Freiheit rufen.“ Diese besetzt“ habe. „Wir haben Unfreiheit ein Statement: Wir lieben die Freiheit. Eindrücke haben Zapfe geprägt, haben erlebt und versucht, sie zu überwin- Ein pensionierter Schulleiter, der für ihn zum leidenschaftlichen Europäer den.“ Europa wirbt; ein Freiberufler, der in gemacht. „Freiheit und Frieden hängen der DDR aufwuchs; eine Jugendliche, zusammen.“ Nach Mauerfall und Zivildienst hat die viel aus ihrer Freizeit macht – ein er in der Gastronomie gearbeitet, war Gespräch über Grenzen und Geschich- Chef mehrerer Lokale. Dann hat ihn te, über Politik und Privilegien. Die Jugend gewinnen ein befreundeter Künstler in die Nähe Bis zu seiner Pensionierung war Wolf- von Fulda geholt. Dort wirkte Ruge Wolfgang Zapfe kam 1943 in Hanno- gang Zapfe fast drei Jahrzehnte lang wieder als Metallgestalter, hat Plasti- ver zur Welt und wuchs im Leiter des Gymnasiums Antonianum ken, große Tore für Paris und ganze auf – im Osten des Westens. Hier , das in dieser Zeit zur Europa- Ladeneinrichtungen gefertigt. verlief wenig später vier Kilometer schule ernannt wurde. Er war und ist entfernt die Grenze zur DDR. Er davon überzeugt, dass vor allem die Mit 25 zog er aber zurück zu seinen hat als Schüler ein Foto in der Zei- Jugend für Europa gewonnen werden Eltern nach Erfurt, wo sein Vater seit tung gesehen von einem Jungen, dem muss – „sonst bleibt die Idee Stück- 1990 Oberbürgermeister war. Hier durch eine Mine das Bein abgerissen werk“. Sein ehrenamtliches Engage- machte er das Fachabitur, um Innenar- wurde. Das Kind verblutete, weil ihm ment für die überparteiliche Europa- chitektur zu studieren. Seit 2002 führt im deutsch-deutschen Niemandsland Union führte ihn bis ins Präsidium auf er in Vechta zusammen mit einem niemand vom Westen aus helfen durf- Bundesebene. Dass im Kreis Vechta ehemaligen Kommilitonen und mit te. „Was für uns im Westen Freiheit auch in diesem Jahr wieder an vielen acht Beschäftigten ein Büro für Innen- bedeutet, haben wir im Vergleich zum Ortstafeln für die Europa-Wahl gewor- architektur mit Kundschaft aus ganz Osten erlebt und in der Schule thema- ben wird, ist ihm zu verdanken. Deutschland. tisiert.“ Zapfes Schwiegersohn Marcus Ruge Der 17. Juni 1953 in Berlin, der wurde 1969 auf der anderen Seite der Freiraum zur Entfaltung Ungarn-Volksaufstand 1956, der damaligen innerdeutschen Grenze ge- Ruges Cousine Martha Kraft ist 16 Prager Frühling 1968: „Da kommen boren – in eine Familie väterlicherseits und lebt in der thüringischen Landes- Panzer und gehen gegen Menschen aus Handwerkern und mütterlicher- hauptstadt Erfurt. Sie besucht die Wal-

6 Auf ein Wort

Die 16-jährige Martha Kraft aus Erfurt genießt und nutzt „sehr viel Marcus Ruge hat bis zum Mauerfall seine „Freiheit in der Unfreiheit“ Freiraum“ an der Waldorfschule. gesucht.

Wir müssen dafür sorgen, dass in den Regionen die Eigenheiten bestehen bleiben. dorfschule und genießt die Freiheiten von Erfurt aus via Videokonferenz per Wochen in St. Petersburg. „Austausch- dort. „Wir bekommen keine Noten, Tablet zum Gespräch beiträgt: „Wir schüler sind Friedensboten“, betont der sondern am Ende des Schuljahrs eine sehen daran, wie unnormal das bei frühere Gymnasialdirektor Zapfe. „Da- Art Brief von jedem Lehrer. Darin uns zu DDR-Zeiten war.“ Er erinnert durch bekommt Europa ein Gesicht.“ steht, was gut war und was nicht, was sich an „diese ständige Unfreiheit bis man noch besser machen könnte.“ Die zur Eigenzensur beim Aussprechen der Fehler der Union Schule biete ihr „sehr viel Freiraum, Gedanken“. Auch Marcus Ruge hat Kontakte nach mich zu entfalten“. Ungarn, weiß von „Stimmen, die Aber da war auch „die Nische Künst- sagen: ,Jahrelang haben uns die Russen Freiraum, Freiheit, Freizeit. Montags ler und Kirche – da hat man sich ein gesagt, was wir machen müssen – und bis freitags ist sie an jedem Nachmittag Stück weit seine Freiheit in der Unfrei- jetzt sagt es uns Brüssel‘“. Wolfgang musisch aktiv – als Sängerin, als Cel- heit gesucht“. So habe er „nicht alltäg- Zapfe räumt Fehler der Union ein: listin, als Tänzerin. „Das wäre so an lich gemerkt, dass ich unfrei war – wie „Die EU hat 2004 die neuen Mitglie- einer staatlichen Schule nicht möglich, ich mir aber auch heute nicht alltäglich der überfordert.“ wie ich bei meinen Freunden dort sehe. klar mache, wie frei ich bin“. Die sind alle immer gestresst – und Trotzdem – oder gerade deshalb – ich habe noch ein Leben neben der engagiert Zapfe sich für Europa. Nicht Schule.“ „Zutiefst erschüttert“ aber für ein System à la Vereinigte Einen Wandel von Freiheit zu Unfrei- Staaten von Europa. „Wir müssen Kann sie sich vorstellen, wie der heit, zu „illiberaler Demokratie“ beob- dafür sorgen, dass in den einzelnen Alltag in der DDR war? Ein Leben in achtet Wolfgang Zapfe in Ungarn, wo Regionen die Eigenheiten bestehen Unfreiheit? „Meine Eltern reden mit er zuletzt wieder mit einer Gruppe der bleiben. Europa muss seine bunte uns Geschwistern darüber, wie es für Europa-Union war. „Die Menschen re- Farbe bewahren.“ sie damals war. Und sie machen uns den nicht mehr so offen, wenn sie sich bewusst, wie privilegiert wir aufwach- nicht vorher umgedreht und geschaut Ein munteres Gespräch über die Frei- sen dürfen.“ Martha meint damit haben, ob jemand in der Nähe mögli- heit. Drei Biografien, drei Persönlich- auch die vielen Praktika während ihrer cherweise etwas notiert, was nicht zur keiten, eine Botschaft. Marcus Ruge Schullaufbahn – im Handwerk, im Regierungsmeinung passt.“ Das habe bringt es auf den Punkt: „Heute wer- Wald, im Ausland auf einem Bauern- ihn „zutiefst erschüttert“. den Kinder und Jugendliche geschult, hof und bald in einem Altenheim im sich eine Meinung zu bilden, um die Oldenburger Münsterland. Martha pflegt eine Art Brieffreund- Freiheit leben zu können.“ schaft mit der ungarischen Enkelin der Brieffreundin von Marcus Ruges Mut- Uwe Haring Eigenzensur der Gedanken ter, ihrer Tante. In der Waldorfschule Gastgeber Marcus Ruge hört in Vechta lernt sie neben Englisch auch Russisch, aufmerksam zu, was seine Cousine war gerade mit ihrer Klasse für zwei

7 Musiktipps

Popmusik als Klang der Freiheit? Vier große Lieder zu jener Sehnsucht, die in uns allen steckt

In der Popmusik spiegelt sich das Tem- Luther King ermordet worden. Simo- po der digitalen Kultur der Gegenwart. nes Trauer über diesen gewaltsamen Deshalb kann sie aktuelle Zeitphä- Tod ist bei ihrem Auftritt zu spüren. nomene aufgreifen und ausdrücken. Simone, geboren im Jahr 1933, hat Was verrät uns die Popmusik über die noch von ihren eigenen Großeltern „Freiheit“, nach der wir uns sehnen, erfahren, was Sklaverei bedeutete. die wir genießen oder die wir bedroht Mit ihrem Song, bei dem es um einen fühlen? Dazu vier Namen. Bombenanschlag im Jahr 1963 auf eine schwarze Kirche in Birmingham Janis Joplin – geht, prangert sie den alltäglichen Ras- „Me and Bobby McGee“ sang Janis Joplin auf „Freedom’s just another word for sismus in den USA an. Dieser populäre dem Album „Pearl“ von 1971. nothing left to loose“ Song wurde geradezu zu einer Hymne Diesen wohl bekanntesten Liedvers, der US-amerikanischen Bürgerrechts- den Janis Joplin je gesungen hat, hat bewegung. Die Kraft populärer Musik sie auch selbst gelebt und sich dazu in kann Menschen motivieren, gemein- ihrem Leben viele Freiheiten genom- sam für ihre Rechte und damit für ihre men. In puncto Sex und Drogen dürfte Freiheit einzutreten. ihr nichts fremd gewesen sein. Die Popmusik ermöglicht ihr und anderen Kanye West – „New Slaves“ Künstlerinnen und Künstlern ein Le- Der schwarze Rapper Kanye West ben frei von überkommener Bürger- sagt: „Heute sitzen mehr Afroamerika- Kanye West veröffentlichte „New Slaves“ 2013 lichkeit. Doch Janis Joplin stirbt bereits ner im Gefängnis als es im 19. Jahr- auf dem Album „Yeezus“. mit 27 Jahren, mit ihrem kurzen Leben hundert Sklaven gab.“ Seinen Song zahlt sie einen hohen Preis für ihre „New Slaves“ nutzt er heute, um dieses Sehnsucht nach Freiheit, die sie in der Gefängnissystem anzuklagen. Damit Welt der Popmusik zu finden meint. hat seine Musik zu einer öffentlichen Debatte über offenbare gesellschaftli- Bob Dylan – che Unfreiheit beigetragen. „Chimes of Freedom“ 1964 singt Bob Dylan den von ihm Viele Fragen müssen offen bleiben. geschriebenen Song „Chimes of Free- Warum äußern sich Musiker politisch? dom“. Hier werden in der Popmusik Welches kommerzielle Kalkül könnte neue Inhalte laut, wenn Dylan „the sich dahinter verbergen? Was kann countless confused, accused, missus- Popmusik dazu beitragen, dass indi- ed, strung-out ones an‘ worse“ (die viduelle und gesellschaftliche Freiheit „Mississippi Goddam“ ist auf dem Album „Nina unzähligen Verwirrten, Beschuldigten, verwirklicht werden? Eins jedenfalls Simone in Concert“ von 1964 zu hören. Missbrauchten, Erschöpften und vieles bleibt: 1972 singt Rio Reiser mit seiner Schlimmere) erwähnt. Mit seiner Mu- Band Ton Steine Scherben „Wir sik gibt er Menschen eine Stimme, die müssen hier raus“. Rauskommen aus unter Unfreiheit und Ungerechtigkeit dem ein oder anderen Gefängnis, weil leiden. Popmusik kann menschliches die Sehnsucht nach Freiheit und der Leid und die Sehnsucht nach Befrei- Wunsch nach Befreiung groß gewor- ung beschreiben und so zu kritischer den sind – auch daraus sind einige der Auseinandersetzung mit bestehender besten Popsongs entstanden. Politik inspirieren.

Nina Simone – „Mississippi Goddam“‚ „Gottverdammtes Mississippi“ singt Pfarrer Olaf Grobleben, Beauftragter Nina Simone am 7. April 1968 in der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg für Ethik, „Chimes of Freedom“ sang Bob Dylan 1964 New York. Drei Tage zuvor ist Martin Islam- und Weltanschauungsfragen erstmalig auf „Another Side of Bob Dylan“.

8 Thema

Freiheit heißt Verantwortung übernehmen und Vorbild sein Ein Essay vom Verhaltensforscher Prof. Dr. Martin K.W. Schweer

„Die Freiheit des erwachsenen Men- Umsetzung im sozialen Miteinander schen heißt Verantwortung.“ Mit – gerade in einer Gesellschaft, die zu- dem aus seiner Sicht wichtigsten Satz nehmend komplexer, schwieriger und während seiner Amtszeit als Bundes- undurchschaubarer zu werden scheint. präsident ermutigte Joachim Gauck Zentrale Herausforderungen wie der immer wieder dazu, Verantwortung zu Umgang mit einer immer älter wer- übernehmen – für sich selbst genauso denden Gesellschaft, die Bewältigung wie für andere. des Klimawandels, die Zuwanderungs- problematik oder auch Fragen der Glo- Ein Blick auf seine Biografie erklärt balisierung und Digitalisierung werden diese angemahnte Nutzung der wert- von weiten Teilen der Bevölkerung als vollen Ressource Freiheit: Joachim bedrohlich erlebt und tangieren das Gauck war viele Jahre evangelischer Bedürfnis nach subjektiver Sicherheit Pastor in der DDR. Bereits sehr früh und Kontrolle ganz erheblich. engagierte er sich dort in der Oppo- sition, er war u.a. Mitbegründer des Quellen des Vertrauens Neuen Forums und leitete die wö- Nicht umsonst erleben wir in vielen chentlichen Friedensgebete in Rostock. Ländern – auch in Deutschland – einen kaum geahnten Zuspruch zu Der ehemalige Bundespräsident populistischen Parteien, die diesem Be- steht insofern glaubwürdig für all dürfnis nach Sicherheit und Kontrolle jene, denen das Privileg der Freiheit mit unlauteren, da viel zu einfachen keineswegs in die Wiege gelegt wurde, Antworten begegnen. Abschottung sondern die es sich erkämpfen mussten und Ausgrenzung nehmen zu, stereo- und dessen Wert daher umso mehr zu types und vorurteilsbehaftetes Denken schätzen wissen. Denn wie bei vielen werden wieder salonfähig, so etwa mit elementaren Dingen, die unser Leben Blick auf einen wachsenden Antise- ausmachen, gilt auch für die Freiheit: mitismus in unserem Land, von dem Wie wichtig sie für uns ist, bemerken die Welt doch fordern darf, dass es Zur Person wir erst, wenn sie eingeschränkt wird. aus seiner Vergangenheit die richtigen Lehren gezogen hat. Professor Dr. Martin K.W. Schweer Ein fataler Irrglaube (54) hat an der Ruhr-Universität Bo- Heutige Generationen in Deutschland Gerade vor diesem Hintergrund chum Psychologie, Pädagogik und leben in einer Gesellschaft, in der Frei- bedarf die junge Generation echter Soziologie studiert. An der Univer- heit selbstverständlich scheint. Sie wird Vorbilder, die Verantwortung überneh- sität Vechta leitet er seit 1998 den nicht infrage gestellt, sie ist gesetzt. men und Quellen des Vertrauens sind. Arbeitsbereich Pädagogische Psy- Dies ist aber ein fataler Irrglaube. Aus Vertrauen in dem Sinne, das Risiko chologie, das Zentrum für Vertrau- Freiheit resultiert nämlich, wie von einzugehen, sich auf Prozesse der Ver- ensforschung und die Arbeitsstelle Gauck zu Recht gefordert, Verantwor- änderung einzulassen und diese aktiv für sportpsychologische Beratung tung. mitzugestalten. So wird Selbstvertrau- und Betreuung „Challenges“. en gefestigt und eine Persönlichkeits- Er hat langjährige Erfahrung in Die Verantwortung, sich dieses Pri- entwicklung gefördert, die den Spagat der Beratung und Betreuung von vilegs stets bewusst zu sein und sich zwischen dem Bedürfnis nach Freiheit Leistungs- und Hochleistungssport- für dessen Erhalt einzusetzen. Dazu und den Gefahren einer entsolidarisie- lerinnen und -sportlern sowie im gehört untrennbar, für Überzeugun- renden Gesellschaft bewältigen wird. Unternehmens- und Führungskräf- gen einzutreten. Humanistische Werte tekontext. Zudem ist er im Sinne des wie Respekt und Achtung, Gerech- Wissenschaftstransfers für diverse tigkeit und Solidarität sind keinesfalls Institutionen gutachterlich tätig. nur sympathische Schlagworte für Prof. Dr. Martin K.W. Schweer, Universität Festreden, sie bedürfen der täglichen Vechta, Zentrum für Vertrauensforschung

9 Thema

Wenn die Freiheit millionenschwer wird Interview mit Petra-Kristin Bonitz von der Toto-Lotto Gesellschaft Niedersachsen

Verschafft ein Millionengewinn ten aber dazu, sich von einem seriösen einem seriösen und vertrauensvollen Freiheit oder neue Sorgen? Kreditinstitut hinsichtlich des Anlegens Kreditinstitut beraten zu lassen, wie Geld kann immer nur das geben, was des Geldes beraten zu lassen. das Geld nach den eigenen Bedürfnis- der Mensch entscheidet. Durch die sen angelegt werden kann. Hinsichtlich neue Freiheit, sich über Geld keine Wie sollten Lottogewinner mit Spenden raten wir dazu, sich beim Sorgen mehr zu machen, gibt es Anfragen oder Bittstellern umge- unabhängigen Deutschen Zentralin- andere Dinge, mit denen man sich hen? stitut für soziale Fragen beraten zu auseinandersetzen muss. Wir raten Ge- Auch dazu geben wir keine Beratung, lassen, welchen seriösen Empfängern winnern dazu, sich erst Gedanken zu da der Gewinner dies selbst entschei- man sein Geld anvertrauen kann, um den eigenen Vorstellungen und Wün- den sollte. Er oder sie hat dabei alle nachhaltig zu helfen. schen zu machen, bevor sie handeln. Freiheiten. Sollte jemand Freude daran Dadurch können womöglich Sorgen haben, Geld zu verschenken, raten Wann endet Ihre Betreuung der vermieden werden. wir jedoch dazu, sich im Vorfeld von Großgewinner? einem Steuerberater informieren zu Hochgewinner erhalten von uns die Raten Sie zu Geheimhaltung (vor lassen. Wie bereits geschildert, empfeh- Gewinninformation und bekommen Familienangehörigen, Freunden, len wir, allenfalls dem engsten Vertrau- das Angebot, uns in der Lotto-Zentrale Arbeitskollegen etc.) und zum tenkreis von einem Hochgewinn zu zu besuchen. Nicht jeder nimmt dieses Weiterarbeiten? erzählen. Angebot an. Sollte es zu dem persönli- Wir raten dazu, von dem Gewinn chen Gespräch kommen, raten wir zur höchstens sehr engen Vertrauten zu Können Sie abschätzen, wie Besonnenheit und dazu, erst in Ruhe berichten. Man sollte sich in Ruhe viele ihrer „Großgewinner“ Geld zu überlegen, wie man das künftige überlegen, wem man welche Infor- spenden, und wenn ja, in welchen Leben gestalten möchte, bevor man mationen gibt. Mit einem Millionen- Summen? beispielsweise seine Arbeit kündigt. gewinn ist man wirtschaftlich gesehen Dazu liegen uns keine Informationen Nach diesem Gespräch endet unsere auf einer sicheren Seite. Er bietet die vor. Aus Gesprächen ergibt sich aber, Beratung. Unsere Kunden wissen aber, Möglichkeit, frei zu entscheiden, wie dass eine Spendenbereitschaft ausge- dass sie sich immer an uns wenden man sein Leben gestalten möchte. prägt ist, um auch andere Menschen können. Manche möchten weiterarbeiten oder am Glück teilhaben zu lassen. einer anderen Arbeit nachgehen, andere möchten künftig auf Arbeit Beraten Sie in Sachen Geldanla- verzichten. gen, etwa nach ethischen Kriteri- Das Interview führte Michael Eberstein. en? Oder geben Sie nur Tipps, wo Gibt es Tipps zum Geldausgeben? es entsprechende Beratung gibt? Wir geben keine Tipps, was mit dem Wir tätigen hier keine Empfehlungen. Geld gemacht werden könnte. Wir ra- Wir raten allenfalls dazu, sich von

10 Thema

Geborgte Freiheit Haftstrafen auf Bewährung setzen viel Disziplin voraus

Menschen, die ihre Freiheit aufs Spiel Weitere Chancen geben setzen oder die sogar Furcht haben vor Für die Öffentlichkeit ist es manchmal der Freiheit, erleben Hanspeter Teetz- nicht nachvollziehbar, warum Strafen mann und sein Team beinahe täglich. wieder und wieder zur Bewährung Teetzmann ist seit zwei Jahren Leiter ausgesetzt werden. „Es gibt Fälle, in des Ambulanten Justizsozialdienstes denen dem Täter noch weitere Chan- (AJSD) in Oldenburg. Ein Schwer- cen gegeben werden müssen“, verteidigt punkt des AJSD ist die Bewährungshil- Teetzmann dieses Vorgehen. „Manch- fe von Straftätern. mal bekommen sie nach der dritten oder vierten Bewährungsstrafe ihr „Das Ziel ist es, jemanden so zurück Leben doch noch in den Griff.“ Und auf den rechten Weg zu bringen, wenn nicht? „Wird eine Strafe dann dass er sich gesetzeskonform verhält“, nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt, beschreibt Teetzmann die Arbeit seiner müssen auch alle anderen Bewährungs- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und strafen abgesessen werden. Da kommt fügt hinzu: „Um das zu erreichen, ist dann manchmal einiges zusammen – es wichtig, dass die Leute ihre Prob- das ist nicht selten ein Schock für den leme in den Griff bekommen.“ Der Verurteilten.“ Wichtig sei es, so der Druck hoher Schulden, Drogensucht, AJSD-Chef, dass die Bewährungshelfer psychische Probleme – all dies kann zu in ihrer Beurteilung klar seien. „Es nützt Straftaten führen und auch dazu, nicht Der AJSD und die Opferhilfe niemandem, wenn in der Bewährungs- 48 Standorte mit 450 Mitarbeiten- aus eigener Kraft aus der Kriminalität hilfe Mitleid und zu viel Gutmütigkeit ausbrechen zu können. „Daran schei- den hat der AJSD landesweit, sie im Spiel sind.“ Jeder Bewährungshelfer sind angegliedert an das Oberlan- tern viele Bewährungsstrafen“, erklärt müsse sich bewusst sein, dass man schei- der AJSD-Leiter. desgericht Oldenburg. Aufgaben tern könne. „Das gehört zur Professio- des AJSD sind die Bewährungshilfe, Genau hier setzt die Bewährungshilfe nalität in diesem Beruf dazu.“ Führungsaufsicht, Gerichtshilfe, an: Die Mitarbeitenden des AJSD Übergangsmanagement Täter-Opfer-Ausgleich und die Aus- begleiten ihre Klienten zur Schuld- Am anderen Ende der Strafe setzt das steigerhilfe aus der rechtsradikalen ner- oder Drogenberatung, machen „Übergangsmanagement“ an, ebenfalls Szene. Hanspeter Teetzmann ist Termine bei der Agentur für Arbeit, eine Aufgabe des AJSD. Hier wer- zudem Geschäftsführer der Stiftung kontrollieren, ob der Betroffene gegen den Straftäter betreut, die nach einer Opferhilfe, die ebenfalls ihren Sitz Bewährungsauflagen verstößt und fra- verbüßten Haftstrafe wieder in die in Oldenburg hat. Lange habe der gen nach den Gründen. Der Drogen- Freiheit entlassen werden. Schon rund Fokus nur auf dem Täter gelegen, süchtige, dem im Moment des Rück- ein halbes Jahr vor der Haftentlassung sagt er. „Den Blick auch auf das falls die Konsequenzen egal sind, die unterstützt die Bewährungshilfe die Opfer zu öffnen, war eine wichtige hoch Verschuldete, die aufgrund der Gefangenen dabei, sich neue Strukturen Horizontverschiebung“, findet er. finanziellen Belastungen keinen Sinn aufzubauen. „Wer entlassen wird, hat Mehr zum AJSD und zur Opferhilfe in der Schuldnerberatung sieht, der Se- Anlaufadressen“, so Teetzmann. Für unter www.ajsd.niedersachsen.de xualstraftäter, dem es nicht gelingt, sich viele, die nicht auf die Unterstützung und www.opferhilfe.niedersachsen. im Griff zu haben – sie alle riskieren von Familie oder Freunden zurück- de mit einem Rückfall in die Kriminalität greifen können, ist das ein wichtiger ihre Freiheit. „Aber das spielt für sie in Halt in der fremd gewordenen Freiheit. Bewährungsstrafen diesem Augenblick keine Rolle“, weiß Ein stabiles Umfeld ist ein Dreh- und Zur Bewährung können nur Strafen der Jurist, der zuvor 16 Jahre lang Di- Angelpunkt: „Wer hier eine Basis hat, mit einem Strafmaß von bis zu zwei rektor des Amtsgerichts Delmenhorst wird sehr viel seltener rückfällig“, so die Jahren ausgesetzt werden. Verstößt war. Privat engagiert Teetzmann sich Erfahrung Teetzmanns. ein Täter gegen die Bewährungs- zudem ehrenamtlich als Synodaler der auflagen, kann die Strafe in eine oldenburgischen Kirche. Anke Brockmeyer Haftstrafe umgewandelt werden.

11 Im Gespräch

Von eigenen Ideen bleibt nicht viel übrig Kinderphilosophen diskutieren über die Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben

Fühlen sich Kinder heute frei? Ein Überleben erst ermöglichten. Harun Eltern dann aber unterstützt.“ Auch beherztes „Ja“ war von der zehnjähri- hielt dagegen, dass dennoch jede Pflan- Leon erlebte Selbstbestimmung, als er gen Maira und den drei Jungen Leon ze nur für sich selbst sorge. Katego- sich für lange Haare entschied. (14), Piet und Harun (beide 13) nicht rien wie „Freund- und Feindschaft“ zu hören. Das morgendliche Aufste- könnten Pflanzen gar nicht empfinden, Von den Eltern „überrollt“ hen, die Schule und viele Vorgaben erklärte Leon. „Woran liegt es, dass bisher für euch von Eltern und anderen Erwachsenen so wenig Selbstbestimmung möglich geben ihnen offenbar das Gefühl, nur Gibt es ein selbstbestimmtes war?“, wollte Müller nun wissen. Für wenige Freiheiten zu haben. Anderer- Leben? Harun war völlig klar: „Weil so viel seits zeigen sie sich sogar bereit, Frei- vorbestimmt wird, so viel geplant und Nun wollte der Philosophie-Lehrbe- heiten anderer zu begrenzen, etwa geprägt ist.“ Das fange schon mit dem auftragte wissen, wie weit es überhaupt beim Konsum von Schoko-Cremes, Aufstehen und Zur-Schule-Gehen möglich sei, seine Lebensziele selbst wenn das der Umwelt hilft. an. Auch Leon meinte, dass Kindern zu bestimmen. Piet räumte ein, man und Jugendlichen (zu) viel von Eltern könne nicht alles tun, sollte aber „alles Die vier Schüler diskutieren gele- und anderen Erwachsene vorgegeben versuchen durchzusetzen, was man gentlich vor den Fernsehkameras des werde. Piet fühlt sich sogar von ihnen sich vorgenommenen hat.“ Dafür aber Bürgerfernsehens „Oeins“ mit dem „überrollt“. Von eigenen Ideen der müssten die äußeren Bedingungen Philosophie-Lehrbeauftragten Hans- Kinder bleibe nicht viel übrig, „wir ha- stimmen, war für Harun klar: „Hier Joachim Müller sowie der 24-jährigen ben nicht so viel Entscheidungsrecht“. ist viel mehr möglich als in anderen Anglistik- und „Werte und Normen“- Werner Kuhns sagte, er empfinde im Ländern, wo es zum Beispiel kaum Studentin Michelle Kerkhoff sowie Alter Vorgaben „nicht als Fremdbe- Schulen gibt oder Naturkatastrophen dem Sozialarbeiter i.R. Werner Kuhns. stimmung, sondern als Gewohnheit.“ herrschen.“ Jüngst ging es dabei um die Frage, was Es sei jedoch sinnvoll, mehr darüber ein gutes, gelingendes Leben sei und nachzudenken, etwa beim Verhältnis was dafür nötig sei. Werner Kuhns berichtete als ältester von Arbeits- und Familienzeit. Teilnehmer von jenen Erfahrungen, Müller begann mit den biologischen wo er sein Leben selbst bestimmen Der Philosophie-Experte griff das Unterschieden von Pflanzen und konnte. Allerdings: „Als junger Mensch „Überrollen“ noch einmal auf: „Was Menschen: „Könntest du dir auch ein habe ich oft nicht das gemacht, was möchtet ihr in Zukunft auf jeden Fall gelingendes Leben als Pflanze vorstel- andere wollten – zum Beispiel habe selbst bestimmen?“ Maira antwortete, len?“ Für Maira wäre es allenfalls gut, ich meine Haare lang wachsen lassen.“ ohne zu zögern: „Was ich im Beruf „wenn man sich ausruhen will“. Piet Der Widerspruch habe ihn zwar beflü- werden möchte.“ Leon möchte „als war überzeugt, dass dies nur möglich gelt, „aber das war es nicht“. Wichti- Regisseur meine Schauspieler selbst sei, wenn man keine Ansprüche habe: ger sei gewesen, ohne seine Eltern zu aussuchen.“ Auch Harun möchte vor „Ein Mensch braucht Herausforderun- leben und seine Partnerin wählen zu allem seinen weiteren Ausbildungsweg gen.“ Und Leon meinte: „Mir würde können. Im Beruf sei dagegen „nicht selbst bestimmen. Er setzte aber hinzu, die Welt fehlen.“ Dem konnte sich viel mit Selbstbestimmung“ gewesen. dass zu dieser Freiheit auch die passen- dann auch Maira anschließen: „Die Aber jetzt als Rentner erlebe er große den Noten gehörten. Bewegungsmöglichkeit wäre auch für Freiheiten in Entscheidungen. mich eine Bedingung für gelingendes Michelle klang fast schon resigniert: Leben.“ Angespornt vom Beispiel des Ältesten „Ich habe ja meinen Lebensweg schon in der Runde erklärte Maira, dass sie bestimmt: Ich werde Lehrerin.“ Aber Mit der steilen These, Pflanzen könn- das Gefühl von Selbstbestimmung sie wolle auch noch einen Traum ver- ten keine Freundschaften schließen, gehabt habe, als sie aussuchen durfte, wirklichen – „eine Auszeit nehmen und da sie sich mit anderen Pflanzen um auf welche Schule sie gehen wolle. eine Weltreise machen“. Das Resig- ihre lebensnotwendigen Ressourcen Für Michelle war es ähnlich: Sie setzte native wollte sie dann aber auch nicht wie Wasser streiten müssten, erweiterte sich gegen die Bedenken ihrer Eltern stehen lassen: „Wir sind hier schon Piet das Themenfeld. Michelle verwies durch, schon in der siebten Klasse von privilegiert. In anderen Gesellschaften auf funktionierende Öko-Systeme, in der Realschule zum Gymnasium zu wird vorgeschrieben, wen man heira- denen sich Pflanzen gegenseitig das wechseln. „Später haben mich meine ten darf oder sogar muss.“

12 Im Gespräch

Über ein selbstbestimmtes Leben philosophierten (v.l.) Hans-Joachim Müller, Lange Haare sind für Leon ein Zeichen der Selbstbestimmung. Harun, Maira, Leon, Piet, Michelle Kerkhoff und Werner Kuhns.

Was die Freiheit einschränkt deinem Supermarkt angeboten wird, Joachim Müller der Jüngsten die Chan- Dann wollte Müller noch wissen, was würdest du die Freiheit nutzen, das ce zu einem Schlusswort: „Wenn man die Freiheit der Kinder einschränken Angebot einzuschränken?“ Leon war sich um die Umwelt sorgt“, erklärte würde. Für Maira wäre es ganz klar, klar dafür. Es müsste doch reichen, von Maira, „dann ist es wichtig, dass man wenn sie mit dem Bus zur Schule jeder Produktart nur einen Hersteller auch etwas für sie tut.“ fahren müsste, „dann hätte ich deutlich anzubieten. Maira würde dafür sorgen weniger Zeit für mich“. Piet sah es wollen, dass es weniger ungesunde Pro- Die Aufzeichnung des „Philosophiecafés“ auch so: „Das Fahrrad gibt mir viele dukte gäbe, vor allem bei den Süßig- für den Oldenburger Lokalsender „Oeins“ Freiheiten; ohne das wäre ich stark keiten. Harun gab zu bedenken, dass beobachtete Michael Eberstein. eingeschränkt.“ Und Werner Kuhns mit der eigenen Entscheidungsfreiheit hat es einst auch so erlebt: „Ohne Auto die Freiheit der Kunden begrenzt hätte es meine Möglichkeiten im Beruf werde. Michelle hielt dagegen, dass und das Lösen von meinen Eltern stark solche Einschränkungen dazu beitra- gen könnten, Überproduktionen zu eingeschränkt. Heute bin ich nicht Info: mehr so darauf angewiesen“. Für vermeiden. „Ja“, setzte Piet hinzu und „Das Philosophiecafé – Michelle wäre der Verlust der eigenen griff das Beispiel Schoko-Cremes auf: Was ist ein gelingendes Leben? 2/6“ Wohnung – „wenn ich wieder zu mei- „Ich würde mich für eine entscheiden, wird auf „Oeins“ gesendet: nen Eltern zurückziehen müsste“ – ein die die Umwelt weniger belastet.“ herber Verlust. am 22. Mai um 19 und um 23 Uhr. Mit der Frage, ob zu einem gelingen- am 23. Mai um 19 und um 23 Uhr Schließlich konkretisierte Müller: den Leben dazugehöre, etwas Gutes und am 26. Mai um 14 Uhr. „Wenn du entscheiden dürftest, was in für die Welt getan zu haben, gab Hans-

In der Mediathek von „Oeins“ wird die Sendung unter der Rubrik „Denkmal“ weiterhin abrufbar sein unter: https://www.oeins.de/mediathek/rubriken/

Keine eigene Wohnung mehr zu haben, wäre für Michelle Kerkhoff Piet fühlt sich von den Vorgaben Erwachsener „überrollt“. ein herber Verlust der Freiheit.

13 Ehe: gegenseitige Freiheit war niemals Die glücklichen Sklaven Freiheitsberaubung gleichbedeutend mit sind die erbittertsten Freiraum für im beiderseitigen einem Freibrief für Feinde der Freiheit. Einvernehmen. Ich mag verdammen, Willkür. Marie von Ebner- Oscar Wilde was du sagst, aber ich Mahatma Gandhi Eschenbach werde mein Leben dafür die Freiheit einsetzen, dass du es sagen darfst. Wer anderen die Frei-- Evelyn Beatrice Hall heit verweigert, ver dient sie nicht für sich Die Freiheit des Men- selbst. Falls Freiheit überhaupt schen liegt nicht darin, Abraham Lincoln etwas bedeutet, dann dass er tun kann, was Freiheit ist ein Gut, das bedeutet sie das Recht er will, sondern, dass er durch Gebrauch wächst, darauf, den Leuten das nicht tun muss, was er durch Nichtgebrauch dahin zu sagen, was sie nicht nicht will. schwindet. Angst ist die Wir, die wir hinter der Mau- hören wollen. Jean-Jacques Rousseau Furcht vor unserer eigenen er gesessen haben, dach- Aus dem Nachwort zu Wahrer Frieden ist nicht Unfähigkeit zum Frieden. „Animal Farm: nur Freiheit von Angst, ten wirklich, wenn wir die Carl Friedrich A Fairy Story“, 1945 sondern auch Freiheit Bewegungsfreiheit hätten, von Not. von Weizsäcker wenn wir lesen könnten, Freiraum für eigene Gedanken George Orwell (1912-2007) Rede bei der Entgegennahme was wir wollen, dann wäre des Friedensnobelpreises, die Welt in Ordnung. Oslo, 10.12.2009 Regine Hildebrandt „Leben ist nicht genug!“ Barack Obama über Frieden sprach der Schmetterling. „Sonnenschein, Freiheit und ein kleines Blümchen Auf den Bergen ist muß man haben!“ Freiheit. Der Hauch der Der Schmetterling Grüfte steigt nicht hinauf Hans Christian Andersen Die Freiheit ist kein in die reinen Lüfte. Geschenk, von dem man Die Braut von Messina IV, Der Tod ist besser als billig leben kann, 8. (Chor) ein Leben in Sklaverei. sondern Chance und Friedrich Schiller Harriet Ann Jacobs Verantwortung. Richard Freiherr Es gibt mehr als eine von Weizsäcker Art der Freiheit… die Freiheit zu, und die Freiheit von. In den Ta- Die Freiheit ist wie das gen der Anarchie war es Freiheit bedeutet, dass Meer: die einzelnen Wo- die Freiheit zu. Jetzt ist man nicht unbedingt gen vermögen nicht viel, dir die Freiheit von alles so machen muss aber die Kraft der gegeben. Unterschätze Freiheit nur für die Anhänger der wie andere Menschen. Ich weiß, du meinst es Regierung, nur für Mitglieder Brandung ist gut, lass es dabei! Astrid Lindgren das nicht. einer Partei – mögen sie noch so unwiderstehlich. Ich bin allein, allein, Margaret Atwood, Václav Havel doch ich bin frei. A Handmaid‘s Tale zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit des Zitat von Elsa: Andersdenkenden. Nicht wegen Als ich aus der Zelle Die Eiskönigin – des Fanatismus der Gerechtigkeit, durch die Tür in Richtung völlig Unverfroren sondern weil all das Belebende, Freiheit wird von Unter- Es lebe die Freiheit. Freiheit ging, wusste ich,- Heilsame und Reinigende der Letze Worte vor seiner drückern niemals frei- dass ich meine Verbitte politischen Freiheit an diesem Hinrichtung am willig gegeben; sie muss rung und meinen Hass Wesen hängt und seine Wirkung 22. Februar 1943 Freiheit ist ein Luxus, von den Unterdrückten zurücklassen musste, Es nützt der Freiheit versagt, wenn die Freiheit Hans Scholl den sich nicht jedermann eingefordert werden. oder ich würde meine nichts, dass wir sie zum Privilegium wird. Leben lang gefangen Rosa Luxemburg, leisten kann. Martin Luther King abschaffen, um sie zu Karl Marx bleiben. schützen. „Die russische Revolution“, 1918 Nelson Mandela Wolfgang Thierse Tipps

Können kleine Prinzen frei sein? Wie Erziehung zur Freiheit gelingen kann – Gedanken und Thesen

Welchen (Stellen-)Wert hat Freiheit heute in der Erziehung? Was brauchen Kinder? Was brauchen Eltern? Und was brauchen Kinder von ihren Eltern? Was wird von Vätern und Müttern heute erwartet – wie frei sind sie?

Zu Fragen wie diesen hat Annette … die wie Leuchttürme sind, klare Böhnig Thesen und Leitgedanken Signale geben und deutlich sagen, aufgestellt. Böhnig ist stellvertretende was sie wollen und was sie nicht Leitung und Fachbereichsleitung „Le- wollen, statt sich alles gefallen zu ben mit Kindern“ der Evangelischen lassen Familienbildungsstätte (EFB) Delmen- … die sich Zeit nehmen für das eigene horst/Oldenburg-Land. Kind, es kennenlernen – im Spiel, im gemeinsamen Tun; zum Beispiel „Kompetente Kinder brauchen auch in einer Gruppe kompetente Eltern“ … die in sich die Kraft entwickelt ha- (Jesper Juul, Familientherapeut) ben, sich und ihren Kindern immer mehr zu vertrauen Kinder brauchen ... … die ihre Kinder beteiligen, damit … Beständigkeit und Freiraum – Si- sie an ihren Erfahrungen wachsen cherheit, Struktur, Rituale, Auspro- können bieren … die ihren Kindern altersentspre- … Aufmerksamkeit und bedingungslo- chende Entscheidungsfreiheit se Zuwendung geben. … eine gute Bindung und stärkende Beziehungserfahrungen „Hilf mir, es selbst zu tun“ … Zeit (Maria Montessori, italienische Ärztin, Reformpädagogin, Philosophin und „Zwei Dinge sollten Kinder von Philanthropin) ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel“ Die Evangelischen Familienbildungs- Eltern zum Austausch zu schaffen (Johann Wolfgang von Goethe) stätten geben Müttern und Vätern … sich in schwierigen Zeiten Unter- Empfehlungen. Sie begleiten die Eltern stützung zu holen Es ist hilfreich für Mütter und Väter, dabei in den verschiedenen Gruppen … zu hinterfragen, ob es ihrem Kind sich immer wieder zu fragen, welche und Angeboten. guttut, stets im Mittelpunkt zu Haltung und welches Denken sie mit stehen. ihrer Erziehung und in ihren Bezie- Sie machen den Eltern Mut ... … zu hinterfragen, ob es ihrem Kind hungen in der Familie fördern möch- … zu entdecken und zu akzeptieren, gut tut, stets im Mittelpunkt zu ten. dass ihre Kinder eigene Persönlich- stehen. Können „Prinzessin“ oder keiten mit ganz eigenen Eigen- „Prinz“ frei sein? Was ist, wenn sie Sollen die Kinder gehorsam und ange- schaften, eigenen Bedürfnissen und größer werden? passt sein? Tun, was die Eltern wollen? ganz eigenem Tempo sind Oder sollen die Kinder zu Menschen … gelassen zu bleiben, sich zu heranwachsen, die ein hohes Maß an entspannen, selber das Leben zu Selbstständigkeit, Kompetenz und genießen Selbstwertgefühl mitbringen? … auszuhalten, dass die Kinder eigene Erfahrungen und Fehler machen – Das Geheimnis Dann brauchen Kinder kleine und große, auch schmerzhaf- des Glücks ist die Freiheit, Mütter und Väter ... te das Geheimnis der Freiheit … die bereit sind, sich zu entwickeln … Konflikte bewusst gemeinsam zu … die sich reflektieren und infrage lösen und gewaltfrei zu erziehen ist der Mut (Perikles) stellen … sich ein Netzwerk mit anderen

16 Thema

„Freiheit, die ich meine ...“ Der Begriff hat viele – teilweise auch erstaunliche – Bedeutungen

Viele Ältere werden sich an dieses teleuropa von 1813 bis 1815 zusam- Volkslied erinnern, seine Melodie mengefasst, mit denen die französische mitsummen und wenigstens die erste Vorherrschaft über große Teile des Strophe aufsagen können: „Freiheit, europäischen Kontinents beendet wur- die ich meine, / Die mein Herz erfüllt, de“. In Deutschland am stärksten im / Komm’ mit deinem Scheine, / Süßes Gedächtnis geblieben ist die Völker- Engelsbild.“ Das Lied wurde 1815 von schlacht bei Leipzig im Oktober 1813, Max von Schenkendorf verfasst, die in der die Truppen Russlands, Preu- einfache, eingängige Melodie stammt ßens, Österreichs und Schwedens Na- von Karl August Groos. In der „Wiki- poleon die entscheidende Niederlage pedia“ ist zu lesen, dass Schenkendorf beibrachten. „In der Schlacht wurden es unter dem Eindruck der siegreichen von den 600.000 beteiligten Soldaten Befreiungskriege verfasste. 92.000 getötet oder verwundet.“

Keine Verpflichtungen Dies mag ein überraschender Ein- stieg in die Begrifflichkeit des Wortes „Freiheit“ sein – der Verweis auf die Geschehnisse im Herbst 1989 in der DDR ist aber unübersehbar. Auch vor dreißig Jahren ging es um Frei- heit im Sinne von „Unabhängigkeit“ oder „Ungebundenheit“, genauer um einen „Zustand, in dem jemand von bestimmten persönlichen oder ge- sellschaftlichen, als Zwang oder Last empfundenen Bindungen oder Ver- „Reisefreiheit“ war eine zentrale pflichtungen frei ist und sich in seinen Forderung der DDR-Bürger. Entscheidungen oder Ähnlichem nicht (mehr) eingeschränkt fühlt“. Dies ist die Definition des Wortes „Freiheit“ im „Deutschen Universalwörterbuch“ von Duden (2015), genauer gesagt, die erste von drei Bedeutungsnuancen, die Zur Person das Wort hat. Die zweite ist mit der ersten eng verbunden und meint die „Möglichkeit, sich frei und ungehindert Dr. Wilfried Kürschner (geb. 1945) zu bewegen; das Nichtgefangensein“. ist emeritierter Professor für All- Sie ist offenbar bei einer der zentralen gemeine Sprachwissenschaft und Forderungen der DDR-Bürger damals Germanistische Linguistik an der gemeint, denen es um „Reisefreiheit“ Universität Vechta. Er ist Mitglied ging, um die „Freiheit, ins (westliche) des Gemeindekirchenrats Vechta. Ausland reisen zu können“. Heute erinnern nur noch Gedanktafeln, wie hier am und sogar im Plural bei „besondere Tröndlinring in Leipzig, an diese Forderungen. Glaubensfreiheit Freiheiten genießen“, „sich gewisse Eine dritte Bedeutungsvariante von Freiheiten erlauben, herausnehmen“. „Freiheit“ meint das „Recht, etwas zu Befreiungskriege? Unter dieser Be- tun; ein bestimmtes (Vor)recht, das In dieses Bedeutungsgefüge passen zeichnung – auch „Freiheitskriege“ ist jemandem zusteht oder das er sich sich auch die „Religionsfreiheit“ und in Gebrauch – werden die „kriegeri- nimmt“, wie es etwa in der Fügung die „Glaubensfreiheit“ ein, das „Recht, schen Auseinandersetzungen in Mit- „die Freiheit der Wahl haben“ vorliegt seinen religiösen Glauben frei zu

17 Thema

wählen, sich zu dieser Konfession zu bekennen“. Dies meint die sogenannte „positive Religionsfreiheit“. Ihr Ge- genstück ist die „negative Religionsfrei- heit“, also die „Freiheit von Religion“, die „Freiheit eines Menschen, zu keiner oder nicht zu einer bestimmten Religi- onsfreiheit zu gehören bzw. eine solche verlassen zu können und auch nicht zu einer Teilnahme an kultischen Hand- lungen, Feierlichkeiten oder sonstigen religiösen Praktiken gezwungen oder genötigt zu werden“. Dazu gehören auch, fügt „Wikipedia“ hinzu, „die Freiheit, die persönlichen, religiösen/ Zu den Befreiungskriegen zählte auch die Völkerschlacht bei Leipzig im Jahr 1813, weltanschaulichen Überzeugungen hier nach einem Gemälde von Wladimir Iwanowitsch Moschkow von 1815. nicht zu offenbaren, und das Recht, Eidesformeln in einer religiös/weltan- schaulich neutralen Form abzulegen“. erinnert haben: „... denn meine Ge- danken / zerreißen die Schranken / Zynischer Gebrauch und Mauern entzwei: / die Gedanken Das Substantiv „Freiheit“ ist vom sind frei“. Damals, aber nicht mehr Adjektiv „frei“ abgeleitet. Auch dieses lange, gab es noch die „Freie Deutsche Wort meint je nach Kontext und Jugend“ (FDJ) und den „Freien Deut- Gebrauchszusammenhang Unter- schen Gewerkschaftsbund“ (FDGB), schiedliches. Die Grundbedeutung ist beides staatliche Organisationen und „unabhängig, nicht gebunden“, wie Instrumente im politisch-ideologischen Machtgefüge der SED, wie es in der Zynische Bedeutung erhielt das Wort „Freiheit“ bei sie etwa im „freien Willen“ oder im der Beschriftung der Eingangstore von Konzentrati- „Wikipedia“ heißt – Belege dafür, wie „freien Spiel der Kräfte“ vorliegt. Auch onslagern wie beispielsweise in Auschwitz. im Volkslied hat sie einen prominenten Wörter im Gegensatz zu ihrem Sinn, Platz: „Die Gedanken sind frei.“ Es ist zynisch, bestenfalls ironisch gebraucht „hopfenhelden.de“ heißt es dazu: etwa in derselben Zeit entstanden und werden können. Dies trifft in besonders „Ein winziger Rest Alkohol bleibt zur vertont wie „Freiheit, die ich meine“. schlimmer Weise auf die Beschriftung geschmacklichen Abrundung auch im 1989/90 mag man sich in der DDR der Eingangstore von Konzentrations- alkoholfreien Bier. Nach gesetzlichen der Zeilen aus der vierten Strophe lagern mit „Arbeit macht frei“ zu. Maßgaben darf ein Getränk als „alkoholfrei“ bezeichnet werden, wenn Bauch trotz „Bauchfrei“ der Alkoholgehalt 0,5 Prozent nicht Ob es 1989/90 auch schon überschreitet. Selbst Fruchtsäfte dürfen „alkoholfreies Bier“ oder gar nach dieser Vorgabe Spuren von „bauchfreie T-Shirts“ gab? Wie Alkohol enthalten. Also aufgepasst, so oft hilft auch hier ein Blick ins die Wörterbuchdefinition, „keinen Wörterbuch. In den Zeiten der Alkoholgehalt aufweisend“ führt in die deutschen Teilung gab es zwei Irre. Und ein „bauchfreies T-Shirt“ ist Ausgaben des Rechtschreib-Dudens, nicht „frei von Bauch“, sondern eines, einen Duden-Ost aus Leipzig, das „den Bauch frei lässt“. Vielleicht ist einen Duden-West aus Mannheim, es sogar „bügelfrei“. danach den Einheitsduden (aus Übrigens: Joachim Gauck, der frühere Mannheim). „Bauchfrei“ erscheint Pastor in Rostock, DDR-Bürgerrecht- dort erstmals 2004, also lange nach ler und nach der Friedlichen Revoluti- der Wiedervereinigung. „Alkoholfrei“ on (auch „Wende“ genannt) Beauftrag- gab es nur im Westen, und zwar seit ter für die Stasi-Unterlagen, wählte, als 1973. Im Osten ist nur „alkoholarm“ er 2017 mit großem Zapfenstreich als aufgenommen, übrigens die korrektere Bundespräsident verabschiedet wurde, Bezeichnung, wenn es um Bier und als eines der Musikstücke die Melodie andere Getränke geht. Alkoholfreies von „Freiheit, die ich meine“. Max von Schenkendorf (1783–1817) nach einem Bier ist nämlich keineswegs frei von Stahlstich vor 1818 jedem Alkohol. Auf der Internetseite Dr. Wilfried Kürschner

18 Thema

Warum Angst nur ein anderes Wort für Freiheit ist Ein Appell an den Mut, eigene Entscheidungen zu treffen

„#Angst bedeutet #Freiheit. Zur Person Sie entsteht, weil wir entscheiden können, wie wir leben wollen.“ Dr. Rebekka Reinhard (geboren am 3. Dezember 1972 in München) ist Twitter freie Philosophin, Buchautorin und international tätige Beraterin für Unternehmen und Führungskräfte zu den Themen Persönlichkeit, Füh- rung, Ethik und Female Empower- ment. Ihr Motto lautet: Philosophie gehört in den Alltag!

Wir Deutschen sind große Sicherheits- auch dazu motivieren, über sich selbst die sich unserem Verständnis entzie- fanatiker. Risiken sind für uns nicht da, hinauszuwachsen. hen. Deshalb gilt es im Zweifelsfall, um angenommen, sondern ausgeschal- „zu handeln, bevor man versteht“, wie tet zu werden. Wir halten die Angst für Die große Philosophin und politische der französische Philosoph Emmanuel etwas Negatives, Sinnloses, Ineffizi- Denkerin Hannah Arendt hat den Lévinas schrieb. entes, das so gar nicht in das perfekte besten Rat für den Umgang mit der Leben passt, das uns vorschwebt. Angst: Nicht der (verunsicherten) Beim Entscheidungentreffen geht es Herde hinterherrennen, sondern den weniger darum, eine bestimmte Ziel- Der dänische Philosoph Sören Kier- eigenen Verstand einsetzen! (Fast) vorgabe zu erreichen. Sondern darum, kegaard sieht das ganz anders. Für jeder von uns ist schließlich fähig, seine jetzt einen Anfang zu machen; immer ihn ist Angst bloß ein anderes Wort grauen Zellen zu aktivieren, Fragen zu wieder. Zum Helden des eigenen Le- für Freiheit. Angst entsteht nur, weil stellen, den Dingen auf den Grund zu bens kann man nur werden, wenn man wir uns frei entscheiden können, wie gehen, frei zu werden – wir müssen uns sich aus der Sofaecke herausbewegt wir leben wollen, meint Kierkegaard. nur endlich dafür entscheiden, dies zu und dem Alten, Abgedroschenen den Weil wir nie mit hundertprozentiger tun. Kampf ansagt. Sicherheit wissen, ob unsere Ent- scheidungen die richtigen waren – ob Freiheit ist lernbar > durch VERANTWORTUNG: sie uns Erfolg oder einen Rückschlag > durch SELBERDENKEN: Hören Freisein heißt nicht, tun und lassen zu bescheren werden: „Habe ich da viel- wir auf, immer gleich reflexartig drauf- können, was immer man will. Wirklich leicht etwas übersehen? Was, wenn ich los zu googlen, sobald ein Problem frei sind wir dann, wenn wir bereit mir mit meiner Wahl etwas Wichtiges auftaucht. Versuchen wir lieber, selbst sind, Verantwortung zu übernehmen. verbaue?“ Diese grundlegende Unge- eine Antwort zu finden. Wenn wir uns Für uns selbst und andere. Die Ent- wissheit ist es, die unsere Freiheit so angewöhnen, eine Situation kritisch schlossenheit zum Engagement ist der beängstigend macht. Denn keiner von zu durchdenken und uns ein eigenes beste Weg zu einem selbstbestimmten, uns kann in die Zukunft sehen. Urteil bilden, werden wir nicht nur glücklichen, erfolgreichen Dasein. unabhängiger von den Meinungen an- Ängstliche Menschen warten darauf, Wenn Angst aber bloß ein anderes derer. Wir lernen auch, uns selbst ernst dass ihre Erwartungen erfüllt werden. Wort für Freiheit ist, ist sie alles andere zu nehmen. Wer sagt denn, dass das, Glückliche Menschen gestalten selbst. als sinnlos. Sondern überaus nützlich! was „man“ sagt oder fürchtet, auch der Angst ist nie konkret, sondern immer Wahrheit entspricht? Ich bin davon überzeugt: In Zeiten des auf ein hypothetisches „Was-wäre- Wandels ist Orientierung wichtiger Wenn“ gerichtet – auf das, was in die- > durch SPONTANEITÄT: Exzessives denn je. sem Leben alles auf dem Spiel steht. Grübeln hat noch keinen Menschen Angst kann lähmen – aber sie kann freier gemacht. Es gibt tausend Dinge, Dr. Rebekka Reinhard

19 Aus der Praxis

Vom Hausmeister bis zum Prediger Erfahrungen eines Verkündigungsmitarbeiters in bewegten Zeiten in West und Ost

Als ich im Sommer 2015 als Pfarrer weiterhin Vorurteile gegenüber denen gesungene Kyrie – meines Erachtens der Evangelischen Kirche in Mittel- aus dem „Dunkelland“ gab und gibt. fester Bestandteil eines lutherischen deutschland (EKM) in die oldenbur- Um meine Verbundenheit mit der Gottesdienstes – wieder einführen gische Kirche wechselte, geschah das neuen Heimat zu signalisieren, erklärte wollte, kommentierte ein altgedienter mit großer Freude. Es war auch ein ich kurzerhand meine Bereitschaft, Kirchenältester dies mit den Worten: Stück gelebte Freiheit, die nach der Plattdeutsch zu lernen. Der Kurs fiel „Dat deit nich not!“ Gleichwohl sah „Wende“ zwar als Reise-, nicht aber aus, und ich konnte – einigermaßen ich mich auf dem richtigen Kurs, als als Arbeitsfreiheit für Ostpfarrer durch erleichtert – damit umgehen, habe es mich der Bischof besuchte und mich das landeskirchliche Besetzungsrecht aber ganz gut zum verstehenden Hö- ermutigte, das lutherische Profil zu bestand. Nun öffnen sich seit gerau- ren gebracht, welches immer wieder stärken. In der EKM ist das verknüp- mer Zeit vereinzelt Landeskirchen für durch das Verlesen von plattdeutschen fende, identitätsstiftende Band die Theologen aus Gesamtdeutschland. Im Geschichten im Seniorenkreis getestet große Form mit gesungener Liturgie Herbst 2018 wechselte ich in die EKM wurde. und zwei Schriftlesungen. Die einfache zurück. Eine Neu-Beheimatung war Form in Oldenburg ist schätzenswert, für mich und meine Frau gemeinsam Allmählich wuchs zusammen, was da der Prediger hier die Mitte des Got- nicht gelungen. Ich blicke dennoch zusammengehörte. Meine mitteldeut- tesdienstes nach seiner Fasson gestalten dankbar auf diese Zeit zurück. sche Sturheit und mein preußischer kann. In Mitteldeutschland musste ich Leistungswille korrespondierten gut mich erst wieder daran gewöhnen, ge- Immer noch Vorurteile mit dem friesisch-herben Naturell gebenenfalls das Abendmahlsgeschirr Die Türen des „Westens“ haben sich und der auf Kontinuität setzenden neben Traubensaft, CD-Player und für mich als ostdeutschen Mittfünf- Gemeindekultur. Ich glaube aber Schraubendreher dabeizuhaben. ziger, der die Hälfte seines Lebens in sagen zu dürfen, dass Ostdeutsche der DDR verbracht hat, in Gestalt der viel mehr leisten müssen, um im Echte Karfreitagssituation Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg und Westen anerkannt zu werden. „Hier Insgesamt befindet sich die ev. Kirche einer großen friesischen Kleinstadtge- kannst Du noch Pfarrer sein“, hieß es in den ländlichen Regionen im Osten, meinde freundlich geöffnet. Dennoch am Anfang meines Dienstes von der wo sich parallel die Menschen auch ab- war der Beginn sehr schwer, da es Vorgesetzen. Ja und nein! Als ich das gehängt sehen von positiver Entwick-

Mit dem Gemeindekirchenrat des evangelischen Kirchspiels Querfurt berät Pfarrer Falko Schilling die Aufgaben, die aus der vergangenen Legislaturperiode für die Kirchengemeinde erwachsen sind.

20 Aus der Praxis

lung, in einer echten Karfreitagssitua- tion. In meiner jetzigen Dienstregion, nahe der Lutherstadt Eisleben, beträgt die Kirchenmitgliedschaft bis zu rund 15 Prozent der Bevölkerung, teilweise aber auch nur noch fünf Prozent (wie z.B. Eisleben) der Bevölkerung. In der friesischen Kleinstadt samt der einge- meindeten Dörfer ca. 50 Prozent! Der Rückgang schreitet in Ost wie West un- vermindert fort, auch der Gottesdienst- besuch ist teilweise kläglich. In beiden Landeskirchen werden nach wie vor die Konfirmanden zwangsweise – was vollkommen unevangelisch (Freiheit!) ist – zum Gottesdienst verpflichtet, den weder ihre Eltern noch ein Großteil Am „Kummersee“ legten die Querfurter Kirchenältesten die Kritikpunkte ab, mit denen sie der Kirchenältesten besuchen. nicht zufrieden waren.

Ehrenamtliche zur Mitarbeit als Jugendlichen geschieht vorwiegend in Kirche wird gerufen Kirchenälteste zu gewinnen, ist sehr Projekten, in der EKM ortsbezogener. Aufbrüche in der Kommunikation schwierig. So lastet immer mehr Arbeit Gleichzeitig hat die Beförderung der des Evangeliums in die Welt, dies hat auf wenigen Hochverbundenen und Regionalisierung als Form der ver- das Reformationsjahr 2017 gezeigt, den Hauptamtlichen. In der EKM war bindlichen Zusammenarbeit zwischen sind nötig und möglich. Im Kirchen- ich bei meiner Rückkehr in den glei- Hauptamtlichen und Gemeinden kreis - haben chen Kirchenkreis, in dem ich vor zehn untereinander in der EKM nachgelas- Haupt- und Ehrenamtliche an fast Jahren tätig war, von der Kläglichkeit, sen und ist dem Modell „Erprobungs- allen Orten gemeinsam ein oder meh- ja dem Verschwinden mancher Got- räume“ gewichen, wo Aufbrüche und rere Gottesdienste „Reinschnuppern tesdienstgemeinde samt dazugehöriger Gemeindeentwicklung „von unten“ – Gemeinsam Gottesdienst erleben!“ Pfarrstelle regelrecht geschockt. initiiert und getragen sein sollen und und auch andere Projekte vorbereitet die Landeskirche finanziell und bera- und gefeiert. Das hat die Gemein- Geschicktes Management tend unterstützt. schaft vor Ort gestärkt und allen eine In Oldenburg sind die Mitgliederbasis gute Beanspruchung geschenkt. In und die Finanzierung der Gemeinden In Oldenburg ist die Freiheit der Ge- meiner ostdeutschen Kleinstadt bat solide, trotz der eingeleiteten Spar- meinden und Pfarrer/innen ein hohes der Bürgermeister die Kirchen, sich maßnahmen; der Gebäudezustand Gut. OL 2.0 hat unter dem Sparzwang mit einem eigenen Kirchenprogramm ist ebenfalls gut. Bauen ist allerdings die Debatte um Neuansätze „von am Bürgerfest zum 1. Mai gegen die schwierig und zudem sehr bürokra- oben“ angestoßen und Zukunftsper- Inbesitznahme der Innenstadt durch tisch. In der EKM bedarf es eines spektiven entwickelt, die allerdings rechte Gruppierungen zu beteiligen. geschickten Managements, um die an der Basis mit wenig Begeisterung Was gibt es Besseres, als derart gerufen Substanz zu erhalten, in Zukunft wohl aufgenommen wurden. Die Chancen zu werden!? auch des Mutes, Kirchen abzugeben einer regionalisierten Zusammenarbeit oder kontrolliert verfallen zu lassen. sollten vor dem Hintergrund des wach- „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ Es gibt aber deutlich mehr Baumittel senden Problems des Fachkräfteman- – wenn wir dieses Wort des Apostels von Kirchenkreisen und Landeskir- gels und dem Erfordernis, Profil zu aufgreifen, werden wir auch in Zukunft che durch die Pachteinnahmen. Beim zeigen, in West wie Ost aktuell bleiben. mutig weiter Kirche gestalten können Personal ist die oldenburgische Kirche Nötig wäre der gezielte Abbau von – mit allen Möglichkeiten aber auch eine eher pfarrerzentrierte Kirche, und Bürokratisierung und Verrechtlichung, Begrenzungen. es gibt definitiv zu wenige hauptamt- um dem Leitbild der mündigen Ge- liche Kirchenmusiker/innen in der meinde und der Freiheit des Christen- Fläche. Die Arbeit mit Kindern und menschen auf der Spur zu bleiben. Pfarrer Falko Schilling

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Grenzenlos frei!? Vier Statements zum Thema „Kirche der Freiheit“

durch „gute Werke“ erarbeiten. bruch der DDR: „Dafür haben wir 40 Zur Freiheit berufen zu sein, ist Jahre gebetet!“ Ich nicht. Auftrag und Verantwortung zugleich. Denn es setzt das Zurückstellen der Damit man mich nicht missversteht: persönlichen Freiheit voraus. Kirche Ich konnte und kann mich vorbehalt- als Versammlung der Glaubenden los darüber freuen, dass das Ende der möchte möglichst viele in der Gestal- DDR friedlich ablief. Aber für mich tung des Gemeindelebens und auch war die DDR – neben und trotz aller in der Leitung der Kirche beteiligen. Unsäglichkeiten – immer auch der So ist es Aufgabe des Bischofsamtes, historische Versuch, die soziale Frage die Freiheit des Glaubens in Bezug zu grundsätzlich und nachhaltig zu lösen. bringen zur Gemeinschaft der Gläu- Dabei habe ich mir keine Illusionen bigen. gemacht über den tatsächlichen Zu- stand dieses Experiments. Trotzdem Dieser Aufgabe stelle ich mich gern kann man sich über das Scheitern ei- in unserer Evangelisch-Lutherischen nes solchen Projekts nicht ungebrochen Kirche in Oldenburg. freuen; als Christenmensch, für den gesellschaftliche Gerechtigkeit wegen Bischof Thomas Adomeit: Thomas Adomeit, Bischof der Bindung an den Gott der Bibel ein Auftrag und Verantwortung vorrangiges Thema sein muss, schon zugleich gar nicht. Ihr aber, Brüder und Schwestern, seid Zur Freiheit zur Freiheit berufen. Galater 5,13 berufen zu sein, ist Auftrag Mir war sofort klar, dass der Zusam- Diese Glaubensaussage des Paulus und Verantwortung menbruch des „Ostblocks“ bedeuten ist eine wichtige Grundlage für uns würde: Kapitalismus pur, nun endlich als Kirche. In der Apostelgeschichte, zugleich. ohne jeden Rechtfertigungsdruck die von den ersten Christinnen und gegenüber einer real existierenden Christen und ihrer Gemeinschaft Alternative. berichtet, wird häufig erzählt, dass die Apostel frei und offen vom Evangeli- In meinem gemeindlichen Umfeld um redeten. Offensichtlich konnten habe ich keine Gesprächspartnerinnen sie die Freiheit, die Christus ihnen oder Gesprächspartner gefunden, mit mitgegeben hatte, deutlich spüren und denen ich meine Befürchtungen und, entsprechend handeln. ja: meine Trauer hätte teilen können. Bis heute erlebe ich die Kirche als Ihr seid zur Freiheit berufen – darin einen Raum, in dem die Toleranz steckt für mich vor allem ein Auf- endet, wenn ich Positionen vertrete, die trag. Durch Christus ist uns Freiheit „Sozialismusverdacht“ wecken. Hin- geschenkt. Niemand kann sie uns sichtlich der öffentlichen Positionie- nehmen. Unsere Aufgabe ist es, in und rung zu Fragen der sozialen Gerech- mit dieser Freiheit im Sinne Jesu zu tigkeit wünsche ich mir für mich selbst leben und zu handeln. Seine Freiheit und die Kirche mehr innere Freiheit macht uns unabhängig von der Mei- und gegenseitige Rückenstärkung und nung anderer. Wir sind allein Christus Kreispfarrerin Ulrike Hoffmann: weniger Berührungsängste mit unseren verantwortlich. Wo endet die Freiheit? potenziellen Verbündeten. Ich habe mich nie einsamer und Ulrike Hoffmann, Kreispfarrerin im Kirchen- Denn in der „Freiheit eines Christen- isolierter in meiner Kirche gefühlt als kreis Oldenburg Stadt menschen“ – wie es Martin Luther während des Mauerfalls 1989. Damals nannte – sind wir durch Christus vor war ich „Hilfspredigerin“ in einer Gott anerkannt. Christenmenschen Wilhelmshavener Gemeinde. Rundum müssen sich diese Anerkennung nicht einhelliger Jubel über den Zusammen-

22 Thema

es hat einen hohen Preis: Ich habe immer weniger Zeit, die Vielfalt und Mehr freie Zeit Buntheit menschlicher Begegnungen in der Gemeinde zu pflegen. Es gibt und kreative Arbeitswochen, da verbringe ich einen Freiräume viel zu großen Teil der Arbeitszeit mit Mails, Datenlisten, Gesetzestexten und internen Planungssitzungen. Wenn ein öffentlich leben und auch kritisch Pastor mehr Zeit am PC verbringen betrachten darf. Als wichtige „Freiräu- muss, als mit Personen im Gespräch me“ empfinde ich dabei Kirchen oder über das Evangelium zu sein, dann ist Gottesdiensträume mit besonderer das keine gute Entwicklung. Da würde Atmosphäre, in denen Spiritualität ich mir und meiner Kirche mehr freie gelebt werden kann, wo Menschen Zeit und kreative Freiräume wünschen. durch Wort und Musik spürbar die Im Blick auf die Suche nach Freiheit Erfahrung machen können, dass bin ich mir darum in einem Punkt sehr Gottes Botschaft guttut und frei macht. sicher: Der Geist der Wahrheit und der Pfarrer Bernhard Busemann: Die Freiheit, mich hier aktiv einzubrin- Freiheit weht nicht virtuell, sondern in Die grenzenlose Vielfalt der gen, schenkt mir das Priestertum aller der realen Begegnung von Menschen Gläubigen. Die Zehn Gebote sind ein Menschen und der gemeinsamen Feier der vielen gutes Beispiel für geschenkte Freiheit, Eine der ganz großen Freiheiten in Farben des Lebens. Da sehe ich den denn sie schützen die Freiheit meiner der Kirchengemeinde ist für mich die Kernauftrag unserer Kirche. grenzenlose Vielfalt der Menschen. Im Mitschwester und meines Mitbruders und so im Umkehrschluss auch meine Gottesdienst und Gemeindeleben be- Bernhard Busemann, geschäftsführender eigene. Ich kann nicht tun und lassen, gegnen sich der Multimillionär und die Pfarrer an der Christus- und Garnisonkirche was ich will, ohne mein Gegenüber im Obdachlose, der dreimonatige Täuf- in Wilhelmshaven ling und die 100-jährige Dame, das Blick zu haben. Migrantenkind aus dem Kindergarten und die Urwilhelmshavenerin aus dem Als Mitglied des Gemeindekirchenra- Häkelclub. In der Kirche kreuzen sich tes fühle ich mich aber immer mehr die Wege von Menschen, die ganz un- unfrei, wenn es um Verwaltungsange- terschiedliche soziale Schichten, Alters- legenheiten geht, ganz besonders im gruppen und Biografien repräsentie- Hinblick auf die eigenen Finanzen. ren. Sie alle miteinander ins Gespräch In diesen Bereichen fühle ich mich im zu bringen und im Geiste des Evan- verantwortlichen Handeln abhängig geliums gemeinsam nach Sinn und und ausgebremst. Es stellt sich mir die Vertrauen zu suchen, empfinde ich als Frage, ob sich die Diskrepanz zwi- ganz große und bereichernde theolo- schen der Freiheit, die uns im Glauben gische Freiheit. Ich kenne keine andere geschenkt wird, auf der einen Seite Institution in unserer Gesellschaft, die und die Einschränkungen, die mir eine Begegnung so vieler unterschiedli- in vielen Bereichen der Verwaltung cher Menschen ermöglicht. auferlegt werden, auf der anderen Seite, in dieser Form miteinander Die Grenzen der kirchlichen Freiheit vereinbaren lässt. Ich wünsche mir sehe ich leider auch. Das ist für mich Kirchenälteste von allen Verantwortlichen den Mut, den Gemeinden vor Ort wieder mehr eine ungute Entwicklung der Mo- Doris Fangmann: derne. Ich habe den Eindruck, dass Eigenständigkeit in allen Handlungsfel- ich immer mehr Arbeitszeit damit Mehr Mut zu mehr dern zu überlassen. Wir sind das Volk. verbringen muss, die Strukturen, Eigenständigkeit Sind wir so frei!? Gebäude und bürokratischen Formen Ich habe das Glück, in einem Land des kirchlichen Lebens zu beackern. zu leben, in dem ich ganz selbstver- Doris Fangmann, Kirchenälteste in der Kir- Das ist ohne Frage sehr wichtig. Aber ständlich meinen christlichen Glauben chengemeinde

23 Aus der Praxis

Ein Weg aus der Schuldenfalle Die Schuldnerberatung hilft, die finanzielle Freiheit wiederzuerlangen

„Schulden können das ganze Leben um mit allen Kontakt aufnehmen zu verändern. Viele unserer Klienten füh- können. „Nur so ist gewährleistet, dass len sich so in die Enge getrieben, dass die Klienten irgendwann wieder zur sie sogar krank werden. Schlafstörun- Ruhe kommen“, sagt sie. gen, Panikattacken, schon der Gang zum Briefkasten, in dem wieder eine Doch der Reihe nach: Wie kommt es Mahnung oder die Androhung von zum Schuldenberg? „Unsere Klien- Konsequenzen stecken könnte, macht ten sind nicht verschuldet, sie sind sie regelrecht fertig.“ Georgia Gries überschuldet, sie haben also wesent- weiß, wovon sie spricht. Die Diplom- lich mehr Schulden, als sie bedienen Sozialpädagogin und Schuldnerbera- können“, erklärt Gries. Einerseits sei terin hat täglich mit Menschen zu tun, es heute schnell möglich, in Armut die unter der Schuldenlast zu ertrinken abzurutschen, häufig aber auch im drohen. Sie zeigt ihnen einen Weg aus Zusammenhang mit trügerischer dieser Krise und in die Freiheit auf. Freiheit. „Oft ist es Werbung, die bei

Oft ist es Werbung, die bei bestimmten Produkten ein Gefühl von Freiheit und Anerkennung suggeriert. Es wird gekauft, ohne nachzudenken – Zur Person und plötzlich geht das Geld fürs Handy oder Georgia Gries ist Schuldnerberate- Auto weg, statt für Miete oder Strom. rin bei der Diakonie in .

Ein Haushaltsplan hilft bestimmten Produkten ein Gefühl von Die Karten offen auf Rund 60 bis 70 Klienten gibt es derzeit Freiheit und Anerkennung suggeriert. in der Schuldnerberatung der Diako- Es wird gekauft, ohne nachzudenken den Tisch legen nie mit Sitz in Jever (Friesland). Die – und plötzlich geht das Geld fürs Der Weg in die Schuldnerberatung Warteliste ist lang, längst nicht jeder, Handy oder Auto weg, statt für Miete wird meist erst beschritten, wenn der die Hemmschwelle überwunden oder Strom“, berichtet die Fachfrau. In nichts anderes mehr geht, auch Familie hat, sich fachlich versiertem Beistand dieser Situation würden oft noch ande- oder Freunde nicht mehr einspringen. anzuvertrauen, bekommt auch sofort re Waren über Versandhäuser bestellt. Dabei ist es Gries wichtig, zunächst einen Beratungstermin. Doch schon im „Im Schnitt hat jeder, der hierher- den Menschen und seine Situation Telefonat zur Terminvereinbarung gibt kommt, 40 Gläubiger – und längst den kennenzulernen. „Nur wer Stabilität die Schuldnerberaterin wertvolle Tipps Überblick verloren“, sagt Gries. im Leben hat, kann seine Schulden für den Alltag, unter anderem zum angehen. Falls eine Sucht besteht oder Schutz des Kontos, das keinesfalls von Bei mindestens 80 Prozent der Men- eine Trennung läuft, muss der Klient den Gläubigern leergeräumt werden schen, die in der Schuldnerberatung erst daran arbeiten.“ Wenn dann darf. Schon das bringe Erleichterung, der Diakonie Hilfe suchen, wird eine aber die Karten offen auf dem Tisch erlebt Gries. Wenn der erste persön- Privatinsolvenz angestrebt: ein Ver- liegen, erlebe sie oft, dass die Klienten liche Termin gekommen ist, geht sie fahren, das von einem Anwalt über- schon am Ende des erstens Besuchs planmäßig vor. Zunächst werden in nommen wird und an dessen Ende, wie befreit wirkten. Den Überblick zu einem Haushaltsplan alle Einkünf- zumeist nach sechs Jahren, in denen bekommen und die Aussicht auf einen te und Verpflichtungen aufgelistet, mit kleinen Raten versucht wird, so Ausweg, gebe viel Kraft. damit die Betroffenen einen Überblick viel wie möglich zurückzuzahlen, der bekommen. Wichtig sei zudem, dass Erlass der Restschuld steht. Annette Kellin die Liste der Gläubiger komplett sei,

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Von den Fesseln der Sucht befreit Fachstelle Sucht der Diakonie unterstützt auf dem Weg zur Abstinenz

Die Begegnung unter Gleichen – für viele Suchtkranke sind die Gruppen der Fachstelle Sucht der Diakonie ein Ort der Freiheit. So erlebt es Birthe Voß, Leiterin der Fachstelle in der . „Das Gespräch ist er- leichternd und befreiend. Die Teilneh- menden können offen über Rückfälle, ihre Sehnsüchte und Ängste spre- chen“, beschreibt Voß das Klima in den Gruppen. Scham und Tabus gibt es hier nicht. Vielmehr unterstützen sich die Patientinnen und Patienten gegenseitig.

Rückfälle gehören dazu.

Ob noch in der Entgiftung oder bereits seit einiger Zeit trocken – in den verschiedenen Gruppen erlebt Voß die Patientinnen und Patienten in den Birthe Voß arbeitet seit 1986 für die Diakonie in der Wesermarsch. Zunächst unterschiedlichen Stadien der Sucht. baute sie die Außenstelle der Fachstelle Sucht in auf. Später Gemeinsam ist den Gruppenteilneh- übernahm sie die Leitung der Fachstelle Sucht in der Wesermarsch. Zu errei- mern, dass sie den dauerhaften Kampf chen ist die Fachstelle in Brake unter Telefon 04401 - 4717. Die Beratung für gegen die Sucht aufgenommen haben. Betroffene und Angehörige ist kostenfrei. Denn „Rückfälle gehören dazu. Und gerade dann ist die Gruppe wichtig“, sagt Voß. Die Erfahrung der anderen nannt wurden. Aber auch das Gefühl Sucht verhindert habe. „Wir waren an macht Mut, den Weg weiterzugehen. endlich wieder klar denken zu können das Suchtmittel gefesselt“, beschreibt Einen Weg der Befreiung. und Entscheidungen klarer zu treffen, es eine Teilnehmerin. Mit der Durch- benannten einige als neue Freiheit. trennung der Fesseln können sich die Betroffenen neue Ziele setzen. Befreit von der Sucht Zurück ins Leben „Für einige gehört es dazu, in Schulen „Befreiung ist das Wort, mit dem die „Die Sucht wirkt sich auf alles aus“, oder bei anderen Veranstaltungen über meisten Teilnehmerinnen und Teil- verdeutlicht Voß. Deshalb sei das ihre Geschichte zu sprechen. Anderen nehmer ihr Leben in der Abstinenz Gefühl der Befreiung in der Abstinenz Betroffenen zu helfen, gehört für viele beschreiben“, sagt Voß. In einer ihrer auch so groß. „Zurück ins Leben“, so zu ihrem Weg aus der Sucht“, be- Gruppen hat sie über das Thema Frei- beschrieben es die Kursteilnehmerin- schreibt Voß. Doch auch wenn die Ge- heit gesprochen. Die Patienten hoben nen und -teilnehmer. Oft ist es auch sellschaft beim Thema Sucht offener dabei ganz unterschiedliche Aspekte ein Zurück ins Familienleben. „Viele und informierter geworden ist – immer hervor. „Sich nicht mehr über die unserer Patientinnen und Patienten noch erleben Suchtkranke Ausgren- Finanzierung und Beschaffung Gedan- haben Kinder. Und egal, ob diese zung. „Auch das ist immer wieder The- ken machen zu müssen, ist befreiend“, noch klein oder schon erwachsen ma in den Gruppen. Und es ist toll zu schilderte ein Teilnehmer. „Ich kann sind: Sie sind immer erleichtert, wenn sehen, wie die Teilnehmerinnen und immer die Tür öffnen“ und „Ich kann ihre Eltern etwas gegen die Sucht Teilnehmer sich gegenseitig helfen, die jederzeit Auto fahren“ oder „Ich kann unternehmen“, sagt Voß. Erst in der Situation auch mal anders zu sehen.“ jederzeit Familie und Freunden helfen“ Abstinenz werde vielen bewusst, wie waren ganz konkrete Aspekte, die ge- viel das Trinken oder eine andere Kerstin Kempermann

25 Aus der Praxis

Per Brief zurück ins Leben Ehrenamtliche vom Schwarzen Kreuz nehmen Kontakt auf zu Strafgefangenen

Sich eben im Supermarkt etwas zu schen, die schon in Haft helfen, beides essen holen. Weggehen können, zu entwickeln. Aber wer im Gefängnis wann man will. Abends noch mit der ist, hat meist nur noch wenig Kontakt Freundin telefonieren: Ein Leben lang nach „draußen“, wenn überhaupt. waren das die Selbstverständlichkeiten des Alltags. Und nun, im Gefängnis, Hier will die christliche Straffälligenhil- brechen sie weg. Schmerzlich spürt fe Schwarzes Kreuz Angebote machen. ein Gefangener jeden Tag aufs Neue, Ihre rund 500 Ehrenamtlichen unter- welche Folgen seine Straftat jetzt für stützen Menschen in Haft dabei, neue ihn hat. Es fehlt die Freiheit, all die Lebenswege zu finden. In Briefen oder Ute Passarge, Öffentlichkeitsarbeit und kleinen Entscheidungen zu treffen, die Besuchen lassen sie sich ein auf das, Begleitung Ehrenamtlicher im Schwarzen ein normaler Tag mit sich bringt. „Ein- was Gefangene bewegt, und versuchen Kreuz fach mal einen Spaziergang machen ihnen den Rücken zu stärken. können, rausgehen können, das sind die Dinge, die mir fehlen. Der liebende Aufrichtig und aufrichtend Kontakt mit Menschen …” So schreibt Rudolf Rüßmann ist einer dieser Eh- ein Gefangener in einem Brief. renamtlichen. Er steht im Briefwechsel mit einem Gefangenen. Dabei ist Auch ich lerne von sein Gegenüber alles andere als geübt meinen Briefpartnern im Formulieren. Aber Handys und Internet sind im Gefängnis nun mal Freiheit – sie wird herbeigesehnt, Rolf Rüßmann, 68 Jahre, Chirurg im nicht erlaubt. „Oft muss ich die Briefe Ruhestand, ehrenamtlicher Mitarbeiter glitzert in Tagträumen und lockt mehrmals lesen, bis ich sie verstanden mit bunten Farben im abendlichen habe. Aber sie rühren mich stark an TV-Programm. Und doch: Je näher in ihrer Unbeholfenheit und Hilflosig- der Tag der Entlassung rückt, umso keit.“ Rüßmann geht auf alles ein, was mehr Angst macht sie auch manch der Gefangene schreibt. „Ich möchte einem Gefangenen. Ist er der Freiheit ausführlich, aufrichtig und aufrichtend überhaupt gewachsen? Schließlich antworten. Und vor allem respektvoll.“ ist er schon mindestens einmal völlig gescheitert. Wird sich eine Wohnung Auch Gabriele Lämmerhirt-Seibert finden, eine Arbeit? All die Hoffnun- schreibt Gefangenen. Jemand sagte ihr gen, die guten Vorsätze, halten sie einmal, er bewundere, dass sie sich um stand? Und werden Menschen da sein, Gabriele Lämmerhirt-Seibert, 61 Jahre, „diese schlechten Menschen“ kümme- Altenheimseelsorgerin, Vorstandsmitglied die ihm zur Seite stehen? re. Das hat sie irritiert. „Zum einen im Schwarzen Kreuz geben mir diese Kontakte sehr viel. Widerstände überwinden Sie sind keine Einbahnstraße, auch ich Das Schwarze Kreuz – Christliche Straf- Jahrelang hat die Justizvollzugsanstalt lerne von meinen Briefpartnern.“ Und fälligenhilfe e.V. ist seit 1925 bundesweit dem Gefangenen alle Abläufe vorge- sie sieht Inhaftierte nicht als „schlechte aktiv. Sein Anliegen ist es, Inhaftierte in schrieben. Da blieb kaum Raum für Menschen“. Für sie sind es Menschen, eine bessere Zukunft ohne Straftaten zu Eigeninitiative und Verantwortung. die Schuld auf sich geladen haben. begleiten und damit gleichzeitig neues Doch mit dem Tag der Entlassung soll „Die kann ich ihnen nicht abnehmen. Leid und neue Opfer zu verhindern. Dafür sucht das Schwarze Kreuz Eh- er von heute auf morgen wieder auf Aber ich kann vielleicht dazu beitra- eigenen Füßen stehen können. Sich renamtliche, die einen Briefwechsel mit gen, dass sie Verständnis entwickeln, einem Gefangenen eingehen. Die Ge- in einer Welt zurechtfinden, die ihm wie es dazu kommen konnte. Und schäftsstelle in Celle begleitet und berät fremd geworden ist. Und dazu alle Ab- vielleicht kann so weitere Schuld ver- die etwa 500 Ehrenamtlichen und bildet lehnung, alle Widerstände überwinden, mieden werden.“ Und damit wächst sie für die Tätigkeit aus. Das Schwarze die sich einem Haftentlassenen in den die Chance, später in Freiheit auch Kreuz ist Mitglied im Diakonischen Weg stellen. Um da überhaupt eine wirklich Fuß zu fassen. Werk der Landeskirche Hannovers. Fi- Chance zu haben, braucht es Rückgrat nanziert wird die Arbeit vor allem über und Selbstbewusstsein – und Men- Ute Passarge Spenden.

26 Nachgefragt

Hoffnung auf die Freiheit Interview mit Klaus Meine über den Scorpions-Song „Wind of Change“

Ihr Song „Wind of Change“ wird oft als Hymne der Freiheit ver- standen, weil er die Veränderun- gen durch den Fall des Eisernen Vorhangs spürbar macht. Dabei ist das Lied erst 1991 erschienen. Was gab den Anstoß zu diesem Welthit ihrer Band „Scorpions“? Wir haben vorher zweimal in Russ- land spielen können, 1988 und 1989. Der Unterschied war sehr deutlich zu spüren. Bei den zehn Konzerten 1988 in Leningrad (heute St. Petersburg) waren die Rotarmisten, die als Security eingesetzt wurden, noch Aufpasser. hätte ich nicht gedacht. Diese histori- DDR-Bands wie die Puhdys, Silly Sie folgten uns auf Schritt und Tritt. sche Vereinigung ist das Verdienst von oder Karussell hatten noch zu Ein Jahr später in Moskau zogen sie Michael Gorbatschow. Ihm ist es zu DDR-Zeiten ihrem Drang nach die Uniformjacken aus, warfen ihre verdanken, dass keine Panzer rollten, Freiheit in vielen Songs Ausdruck Mützen in die Luft und verbrüderten als die Menschen in der DDR Kerzen verliehen; ein gesamtdeutscher sich mit dem Publikum. 1989, bei die- anzündeten und „Wir sind das Volk“ Erfolg blieb ihnen aber, mit sem russischen Woodstock, haben wir riefen. Ausnahme von „Am Fenster“ von gesehen, dass sich die Welt verändert City, verwehrt. hatte. Ich habe noch ein Bild im Kopf: „Wind of Change“ ist für viele ein Die Puhdys haben wir vor dem Mauer- Wir sind alle zusammen, Musiker und „Gänsehaut-Lied“. Geht es Ihnen fall bei einem Konzert in Hannover Journalisten aus aller Welt, mit einem auch so? kennengelernt, die haben wirklich Boot auf der Moskva zum Gorki Park Tatsächlich bekomme ich oft eine gute Lieder geschrieben. Ihre Fans in gefahren – die ganze Welt in einem Gänsehaut, wenn unsere Fans das Lied der DDR haben ihre Texte mit den Boot, und alle sprechen eine Sprache mitsingen. Offensichtlich wird die Bot- versteckten Botschaften mit Sicherheit – Musik. schaft dieses Songs überall verstanden. verstanden. Der Song drückt die Hoffnung auf In der DDR durften Sie nie spie- die Freiheit aus, nicht nur in Deutsch- 15 Millionen verkaufte Ton- len. Haben Sie damals, Ende der land, nicht nur in Europa, sondern träger – das schafft zumindest 1980er Jahre, geahnt, dass schon auf der ganzen Welt. Deshalb singen wirtschaftliche Unabhängigkeit. bald die Mauer fallen würde? auch die jungen Fans mit, obwohl die Aber vielleicht auch eine gewisse Wir waren damals weltweit bekannt, Probleme inzwischen ganz andere Unfreiheit, weil Sie immer wieder auch in den USA, und wollten natür- geworden sind. Einen ganz besonderen dasselbe Lied spielen müssen? lich, inspiriert von unserem Freund „Gänsehaut-Moment“ hatten wir aber Nein, ganz im Gegenteil. In meinem Udo Lindenberg, auch in Ost-Berlin 1999, beim zehnjährigen Gedenken künstlerischen Leben spielt „Wind of spielen. Aber wir haben nie die Ge- des Mauerfalls, als wir zusammen Change“ eine ganz besondere Rolle, nehmigung dafür bekommen. Dafür mit Mstislaw Rostropowitsch und weil auch ich die Friedliche Revolution haben wir in Budapest gespielt, und 160 Cellisten aus aller Welt vor dem nicht vergessen kann. Darüber hinaus über diese Ungarn-Connection kamen Brandenburger Tor „Wind of Change“ ist es für jeden Künstler ein schönes dann auch unsere Russland-Konzerte spielten. Gefühl, einen Song zu spielen, der zustande. Aber von der Wiederverei- auch die Herzen der jungen Generati- nigung hat unsere Generation immer „Wind of Change“ ist mit 15 on erreicht, und zu wissen, dass „Wind wieder geträumt. Bei dem Festival in Millionen verkauften Tonträ- of Change“ immer mit dem histori- Moskau im August 1989 aber war gern der größte Erfolg deutscher schen Moment des Mauerfalls verbun- schon überall die Hoffnung zu spüren, Musiker weltweit. Der Song gilt den sein wird. dass es bald mehr Freiheiten geben auch, ähnlich wie „Freiheit“ von werde. Dass die Zeiten des Kalten Marius Müller-Westernhagen, Krieges so schnell vorbei sein würden, als Einheits-Hymne. Zahlreiche Das Interview führte Michael Eberstein.

27 Dat kannst glööven!

Ik vergeet jo al mol wat. Aber dat Eeten und de Lüh, de mi helpt, sind wunnerbar! Dat schallst mol sülvens sehn! Ropt Se bi us an: 0441-2100111

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