Quelle: www.tierrechtsgruppe‐zh.ch Kommentar von uns: Achtung – sehr politisch links! (Aber Euer Herz für die Tiere schlägt ja auch dort…) Und es lohnt sich defintiv, mehr dieser Materialien anzuklicken…

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Auch die Natur wartet auf die Revolution Flyer zum 1. Mai 2012 vom Tierbefreiungsbündnis Zitronenfalter Dem Schlachten ein Ende setzen - Marxismus und Tierbefreiung Schwerpunktnummer der Zeitung “antidotincl.”, herausgegeben von der TRGZH Die Befreiung der Tiere - Ein Angriff gegen die herrschende Klasse Flyer zum 1. Mai 2013 vom Tierbefreiungsbündnis Zitronenfalter Einen Schritt über Animal Liberation hinaus Interview von Marco Maurizi mit der Gruppe Assoziation Dämmerung aus Deutschland - übersetzt von der TRGZH Feminismus und Tierbefreiung – Teile desselben Kampfes Text der TRGZH zum internationalen Frauenkampftag, erschienen im Vorwärts vom 28.02.2014 Interview mit dem Tierbefreier Peter Young Interview mit der Tierrechtsgruppe Zürich Interview mit der Tierrechtsgruppe Zürich in der sozialistischen Zeitung Vorwärts vom 22.11.2013 Interview mit Marco Maurizi Podcast: Theorie um Tierbefreiung Interview mit der Tierrechtsgruppe Zürich vom 25.10.2010. Rezension zu "Antispeziesismus" von Matthias Rude Buchrezension, erschienen in der sozialistischen Zeitung Vorwärts vom 6.12.2013 Tierbefreiung

Die Tierfrage in linker Tradition und Gegenwart Audiofile zum Vortrag von Matthias Rude an den zweiten Linken Hochschultagen 2013 Eine Frage der Notwendigkeit? Über Effizienz, Notwendigkeit und Konsequenzen der modernen industriellen Tierproduktion - Von Mark Hadyniak Gesellschaftstheorie, Ideologiekritik und Klassenkampf Gründungstext der Assoziation Dämmerung Hohe Menschen und niedrige Tiere Geht’s um Naturverhältnisse, sinkt das Niveau linker Debatten schlagartig - Von Susann Witt-Stahl Kapitalismus, Wachstum und Naturzerstörung Audiofile zum Vortrag von Athanasios Karathanassis an den zweiten Linken Hochschultagen 2013 Natur und Arbeit sind in falscher Hand Für eine Verknüpfung der Analyse von kapitalistischer Produktionsweise und Naturbeherrschung On the genesis of Towards a Political Approach to the Man-Animal Relationship - Von Marco Maurizi The Dialectical Animal von Marco Maurizi Tiere und Emanzipation Über die "geheime" Geschichte der Tierbefreiung - Von Matthias Rude Verwertungsfreie Koexistenz zwischen Mensch und Tier? - Schattenblick Thementreff Gespräch mit u.a. Susann Witt-Stahl, Melanie Bujok und Ingolf Bossenz // Audio-Version zum Anhören Reader

Beasts of Burden Capitalism - Animals - Communism Das Mensch-Tier-Verhältnis in der kritischen Theorie Adornos und Horkheimers Von Carsten Haker Der Speziesismus und seine Verflochtenheit mit herrschenden Ideologien Von Susann Witt-Stahl Aphorismen

Der Wolkenkratzer / The Skyscraper Ein Aphorismus von Max Horkheimer / An Aphorism by Max Horkheimer Mensch und Tier Ein Aphorimus von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Moshe Zuckermann - Zertretener Wurm Ein Aphorismus von Moshe Zuckermann für die in Österreich angeklagten AktivistInnen. Repression

Antirep-Broschüre der RJZ Infos, um sich gegen Repression zu schützen Security Guidelines Kleines Handbuch gegen Repression im politischen Alltag Archiv

Reader: Theorie um Tierbefreiung. Vorwort Dokumentation der Vortragsreihe vom November und Dezember 2010. 100 Jahre Schlachthof: Film Film zur Kundgebung am 2.10.2009 Broschüre : Argumente gegen Tierausbeutung zur Unterhaltung April 2009 Broschüre : Veganismus als ethische Grundlage gegen die Ausbeutung der Tiere März 2009 Broschüre SUFO : Tierausbeutung um jeden Preis? Mai 2009 Flyer: FÜR DIE BEFREIUNG VON MENSCH, TIER UND NATUR Ein Textzusammenzug aus: "Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen". 22.01.2011 Harlan Flyer Flyer zur Demo gegen Harlan am 28.11.2012 Interview mit Steve Best 21.9.2010 TRGZH Newsletter Nr. 1 Inhalt: - Spotlight: SHAC - Interview mit Steve Best - Kommentar zum Zirkusbericht 2010 des STS - Agenda Vortragsfolien : Tierausbeutung um jeden Preis? Mai 2009 Zeit für einen Paradigmenwechsel oder die Frage nach der Moral Ein Text der TRGZH - 17.12.2010 Dem Schlachten ein Ende setzen No. 19 I 2014 Marxismus und Tierbefreiung

Marxismus Ein Leitfaden für eine zeit­ gemässe Kritik an der Ausbeu­ tung von Tieren Seite 4

Revolutionäre Moral Ohne eine revolutionäre Moral ist der Kampf für eine freie Gesellschaft nicht zu gewinnen Seite 12

Das Schlacht- haus Europas Die Macht der deutschen Fleischindustrie bestimmt die Ausbeutung der Tiere in ganz Europa Seite 16

Vegan for Profit Über vegane Wachstums­ märkte und Pop-Veganismus Seite 22

Vom Wider- stand zum Klassenkampf Zur Notwendigkeit einer politischen Strategie für die Befreiung der Tiere Seite 27 02 ― 03

Editorial

Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie Sie den Unsere AutorInnen argumentieren, warum die Be- Aufbau der heutigen, kapitalistischen Gesellschaft freiung von Mensch und Tier ohne eine historisch- im Querschnitt illustrieren würden? Max Horkheimer materialistische Analyse und Kritik des Kapitalis- wählte einst den «Wolkenkratzer» als bildliche Dar- mus nicht möglich ist und warum andersherum das stellung – alle oberen Stockwerke sind besetzt durch Verhältnis der gegenwärtigen Gesellschaft zur die (mit und ohne Waffengewalt) Herrschenden in Natur und zu den Tieren in den Blick genommen Wirtschaft und Politik. Unten haben die Ausgebeu- werden muss. Sie zeigen auf, wer in den oberen teten und Marginalisierten ihren Platz. Den Keller be-­ Stockwerken des Wolkenkratzers von der Ausbeu- schrieb der kritische Theoretiker als Schlachthof, in tung der Tiere profitiert und auf wessen Kosten die dem «das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden Profitmacherei in den unteren Stockwerken geht. der Tiere» darzustellen wäre. Mit seiner Metapher In ihren Beiträgen denken sie darüber nach, warum verwies er nicht nur darauf, dass die Ausbeutung sowohl Mitgefühl und Moral als auch realpolitische der Tiere zum Fundament des Kapitalismus gehört, Schritte unverzichtbar sind auf dem Weg hin zu sondern auch darauf, dass «der Schweiss, das Blut, Verhältnissen, in denen weder Menschen noch die Verzweiflung der Tiere» unsichtbar gemacht – Tiere gesellschaftlich produziertes Leid ertragen im Keller der Gesellschaft versteckt – wird. müssen. Gleichwohl machen sie deutlich: Soll das Zahlreiche linke Bewegungen haben bis heute da- moralische Mitgefühl nicht anästhesiert und sollen für gekämpft, dass der Wolkenkratzer zusammen- politische Errungenschaften nicht etwa über Ange- bricht, damit an seiner Stelle ein neues Haus ent- bote für einen «vegan-lifestyle» oder durch einen stehen kann, in dem um des Lebens willen gelebt «Green New Deal» in die Profitlogik integriert wer- und nicht für Profite, sondern nach Bedürfnissen den, bedürfen sie einer revolutionären Ausrichtung. produziert wird. Dabei haben sie allerdings den Auf der Suche nach Spuren historischer Vorbilder Keller übersehen und das gesellschaftlich produ- legen sie Beispiele für eine umfassende Solidarität zierte Leiden der Tiere und dessen Aufhebung oft mit allen leidensfähigen Wesen frei. mit ideologischen Argumenten von ihrer Agenda Last but not least wenden sie sich der Frage zu, verbannt. welche Rolle Kunst und Musik für gesellschaftliche Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung ver- Befreiung (nicht) spielen können. sucht hingegen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts ans Tageslicht zu befördern, was in den Die Frage nach der richtigen politischen Praxis ist Untiefen des Wolkenkratzers geschieht. Ihr Ziel ist nicht leicht zu beantworten – viele Fragen müssen es, das Schlachten – sinnbildlich für das Leiden der indes erst noch gestellt werden. Mit unseren Bei- Tiere schlechthin – zu beenden. Das Problem ist trägen wollen wir deshalb zur Diskussion darüber nur: In weiten Teilen ignoriert sie den Rest des Wol- anregen, wie die Tierrechts- und Tierbefreiungsbe- kenkratzers. Die historisch noch junge Bewegung wegung kämpft, welche Veränderungen in ihrer macht sich bis dato nicht bewusst, dass die Tieraus- politischen Ausrichtung notwendig wären – aber beutung ihre Ursache in der kapitalistischen Klas- auch darüber, wie und warum ihr mit Repression sengesellschaft hat. begegnet wird, wenn sie es schafft, zugunsten der Tiere die Gewinne in den oberen Etagen des Wol- Als revolutionäre Linke und TierbefreierInnen sitzen kenkratzes zu schmälern. wir zwischen den Stühlen. Am Anfang dieser Zei- tung steht das Anliegen, die Kluft zwischen Marxis- Die Befunde der AutorInnen sind aufschlussreich mus und Tierbefreiung zu verringern. Längst ist es aber nicht nur erfreulich, wie Sie, liebe LeserInnen, an der Zeit, den ursächlichen Zusammenhängen bei der Lektüre der folgenden Seiten feststellen des heutigen Wirtschaftssystems einerseits und werden. Die gute Nachricht ist: das Potenzial für der Ausbeutung von Menschen und Tieren ande- fruchtbare Debatten und die Perspektive für eine rerseits analytisch und politisch zu begegnen. Wir gesellschaftsverändernde Praxis sind jedenfalls wollen Denkanstösse geben, warum man sich für vorhanden. die Befreiung der Tiere und die Abschaffung des Kapitalismus gleichermassen einsetzen sollte. Tierrechtsgruppe Zürich

IMPRESSUM

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Inhaltsverzeichnis

Christian Stache Marxismus und Tierbefreiung 4

Interview im Weekly Worker «Auch die Natur wartet auf die Revolution» 6

Marco Maurizi Speziesismus und historischer Materialismus 8

Matthias Rude Die Befreiung von Mensch und Tier: Ein Kampf mit linker Tradition 10

Susann Witt-Stahl Solidarität des Lebens: Plädoyer für eine revolutionäre Moral 12

Moshe Zuckermann Von Pflanzen, Tieren und Sentimentalität 15

Christian Stache Das Schlachthaus Europas 16

Tierrechtsgruppe Zürich Ein tierisches Geschäft: Die Schweizer Fleischindustrie 18

Poster Der Wolkenkratzer 20

John Lütten Vegan for Profit 22

Athanasios Karathanassis Mythos grüne Marktwirtschaft: Wie grün kann ein Green New Deal sein? 24

Standpunkt Angela Davis über Veganismus als Teil einer revolutionären Perspektive 26

Tierrechtsgruppe Zürich Vom sozialen Widerstand zum Klassenkampf 27

Tierrechtsgruppe Zürich Konzerngesteuerte Repression gegen die Tierrechtsbewegung 29

Marco Maurizi How does revolution sound like? Über Musik, Kunst und Befreiung 31

Interview mit Albino «Politischer Rap hat das Potential, Klassenbewusstsein zu reanimieren» 33

Buchrezension Der Dschungel 35

Buchrezension Tierethik. Grundlagentexte 36

Buchrezension Antispeziesismus 38 04 ― 05

Marxismus und Tierbefreiung

Die originäre marxistische Theorie – der historische Materialismus und die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem idealen Durchschnitt – ist nicht nur unerlässlich für die richtige Erkenntnis der heutigen Gesellschaft. Sie ist auch ein Leitfaden für eine zeitgemässe Kritik der Tierausbeutung.

n den Grundrissen, den erst post mortem veröf­­ fentlichten Vorarbeiten zu seinem ökonomie­ theoretischen Hauptwerk, behauptet Karl Marx: «Zum Tier, Boden etc. kann au fond Ikein Herrschaftsverhältnis stattfinden durch die Aneignung, obgleich das Tier dient. Die Aneig­ nung fremden Willens ist Voraussetzung des Herr­schaftsverhältnisses. Das Willenlose also, wie Tier z.B., kann zwar dienen, aber es macht den Eigner nicht zum Herren.» Zwar revidiert Marx diese Position im Kapital ausdrücklich, indem er feststellt, dass z.B. Pferde sehr wohl einen «eignen Kopf» haben. Als Theoretiker, der nach der Einheit von Natur- und Geisteswis­ senschaft trachtete, hätte er sich gewiss auch von den Erkenntnissen der naturwissenschaft­ lichen Forschung belehren lassen, die – nach seinem Tod – seine Hypothese falsifizierten. Das hindert jedoch ApologetInnen der Ausbeu­ tung von Tieren bedauerlicherweise nicht da­ ran, sie bis heute zu bemühen. Marx und Engels waren als Personen keine An­ Karl Marx und sein kongenialer Partner Friedrich Engels. hänger der zeitgenössischen «Abschaffer der Tierquälerei», die sie im Manifest der Kommu­ nistischen Partei als Vertreter des «Bourgeoisie ­- d.h. das Verhalten der Menschen zueinander Menschen Verhältnisse untereinander und zur so­zialismus» abkanzeln. Angesichts der Positio­ und zur Natur in der kapitalistischen Produk­ Natur eingehen, die dazu dienen, ihre Bedürf­ nen karitativer TierschützerInnen besitzt diese tionsweise in Abgrenzung zu anderen vorkapi­ nisse zu befriedigen. politische Einschätzung, abgesehen von der talistischen, wie etwa der feudalistischen, und Allerdings hat dieser Prozess keineswegs einen heute relativ unüblichen Wortwahl, durchaus nachkapitalistischen Formen, wie der kommu­ absoluten Bruch zwischen Natur- und Men­ noch immer eine Berechtigung. nistischen, untersucht. Die wissenschaftliche schengeschichte erzeugt. Vielmehr haben sich Trotz alledem: Marx’ und Engels’ Werke, ihre Darstellung und Kritik der kapitalistischen die Natur und die menschliche Gesellschaft in Theorien, Thesen und Gedanken bieten für Produktionsweise hat Marx nach umfassenden beständig sich fortentwickelnden Prozessen der TierbefreierInnen und Menschen, die Argu­ Vorarbeiten, an denen sich auch Engels betei­ Koevolution, deren Ziele und Zwecke keines­ mente für die Befreiung der Tiere zumindest ligt hat, vor allem mit seinem dreibändigen wegs im Vorhinein feststanden oder -stehen, ge­ prüfen wollen, weitaus mehr als ein paar fehl­ Opus magnum Das Kapital – Zur Kritik der politi­ geneinander verselbständigt, ohne jemals die interpretierte Sentenzen. schen Ökonomie geleistet. Beziehung zueinander aufgegeben zu haben. In ihrem Werk geht es im Wesentlichen um Natur und Gesellschaft sind also voneinander zwei­erlei: Zum einen entwickeln sie aus der Kri­ Der historische Materialismus … Der Aus­ geschieden, relativ unabhängig voneinander tik an den idealistischen Interpretationen der gangspunkt für die Entwicklung des histori­ und gleichzeitig unterhalten sie weiterhin Be­ Geschichte menschlicher Gesellschaften ein schen Materialismus ist die Kritik an idealis­ ziehungen zueinander. Verständnis von der Art und Weise, wie die Ge ­ tischen Interpretationen der Geschichte, wie Die politisch-ökonomischen Beziehungen aller schichte der Gesellschaft, der Natur und die da­ etwa an Hegels Philosophie oder der christlich- bisherigen Gesellschaftsformationen, ein­ zugehörigen Denkformen interpretiert werden abendländischen Religion. Diese werden auf­ schliesslich der gegenwärtigen kapitalistischen müssen. Ihre Lesart der Geschichte als Einheit grund ihres Idealismus' als bürgerliche Ideolo­ Gesellschaft, haben immer zwei grosse Klassen von Gesellschafts-, Natur- und Denkformen gien verworfen. Weder Gott oder der mensch­ hervorgebracht, die sich antagonistisch gegen­ wird für gewöhnlich als «historischer Material­ liche Geist noch die Sprache bestimmen die über gestanden haben. Der Konflikt zwischen ismus» bezeichnet. Der historische Materialis­ Geschicke der menschlichen Geschichte, son­ ihnen, der sich aus ihren widerstreitenden In­ mus ist aber, wie Engels mehrfach in Briefen an dern die politisch-ökonomische Praxis der Ge­ teressen ergibt, ist bis heute der Motor der his­ seine Weggefährten betont hat, keine «fertige sellschaft. torischen Entwicklung. Daher heisst es auch Schablone, wonach man sich die historischen Marx und Engels zufolge hat nicht nur die bei Marx und Engels an einer bekannten Stelle Tatsachen zurechtschneidet» und «kein Hebel menschliche Gesellschaft, sondern auch die Na­ im Manifest der Kommunistischen Partei: «Die Ge­ der Konstruktion à la Hegelianertum», sondern tur eine Geschichte. Die Menschen haben sich schichte aller bisherigen Gesellschaft ist die ein «Leitfaden beim historischen Studium». aber durch die gesellschaftliche Produktion und Geschichte von Klassenkämpfen.» Zum anderen haben Marx und Engels vor allem Reproduktion sukzessive aus der direkten Ein­ In jeder der verschiedenen Gesellschaftsfor­ die historisch besondere Form der kapitalisti­ heit mit der Natur herausgearbeitet. Die Ge­ mationen, wie etwa der antiken, der feudalisti­ schen Organisation gesellschaftlicher Arbeit, sellschaftsgeschichte beginnt damit, dass die schen oder der kapitalistischen, bestimmt das ― 05

Sein das Bewusstsein und nicht umgekehrt, sie ausbeuten.» Der Speziesismus, d.h. das Set tInnen und ArbeiterInnen. Der Zweck kapita­ d.h. die politisch-ökonomische Basis bestimmt von Ideologien, mit denen andere Spezies als der listischer Gesellschaften besteht darin, dass das den politisch-kulturellen Überbau. Das «in letz­ Mensch abgewertet werden, ist nicht die Ursa­ Kapital sich über die Ausbeutung der Arbeite­ ter Instanz bestimmende Moment» der gesell ­ che der Tierausbeutung, sondern ihre Folge. rInnen möglichst grosse ökonomische Profite schaftlichen Entwicklung ist also die politische Maurizi stellt die Kritik an der Tierausbeutung sichert. Ökonomie einer jeden Gesellschaftsformation. unter Bezug auf den historischen Materialis­ Die Tiere sind ebenso wie die restlichen Ele­ Sie weist allen anderen Produktionsweisen und mus also vom Kopf auf die Füsse. Er leugnet je­ mente der Natur den gesellschaftlichen Bezie­ den Elementen des Überbaus ihren Platz inner­ doch nicht, dass der Speziesismus die Ausbeu­ hungen im Kapitalismus extern. Weder kaufen halb einer Gesellschaft zu. Allerdings handelt tung der Tiere rechtfertigt und verschleiert. sie ihre Lebensmittel auf dem Markt noch es sich dabei nicht um ein deterministisches Folgt man Marx und Engels, beuten zudem schuften sie in der Fabrik für einen Lohn. Da Verhältnis, wie Engels hervorhebt: «Die ökono­ nicht «die Menschen» «die Tiere» aus. Vielmehr sie zur Produktion von bestimmten Waren be­ mische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen sind in den unterschiedlichen Klassengesell­ nötigt werden und sie sich auch nicht zur Wehr Momente des Überbaus – politische Formen des schaften Tiere und die unterdrückte Klasse setzen können, werden die Tiere und andere Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassun­ im­mer im Interesse und unter der Leitung der Naturstoffe als verfügbare Produktionsmittel gen, nach gewonnener Schlacht durch die sieg­ herrschenden Klasse exploitiert worden. Das (z. B. als Milch- und Fleischproduzent) und Ar­ ende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, bedeutet weder, dass die Tiere Teil der unter­ beitsgegenstände (etwa in der Herstellung von und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen drückten Klassen gewesen, noch dass die be­ Leder) angeeignet. Die ArbeiterInnen vollziehen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, herrschten Klassen zimperlich mit den Tieren diese Monopolisierung gratis und z. T. unter juristische, philosophische Theorien, religiöse umgesprungen sind. Aber die durch die jeweili­ Einsatz offener Gewalt im Produktionsprozess Anschauungen und deren Weiterentwicklung ge Gesellschaftsformation gesetzten Zwecke der im Interesse und im Auftrag des Kapitals. zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwir­ gesellschaftlichen Produktion und Konsumtion Als Produktionsmittel und Arbeitsgegenstände kung auf den Verlauf der geschichtlichen führen nicht nur zum Klassengegensatz, son­ dienen die Tiere der Produktion von Profit. Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen dern auch zu einem Antagonismus zwischen Damit dieser möglichst hoch ausfällt, sorgen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwir­ der herrschenden Klasse und den Tieren. die KapitalistInnen dafür, dass sie möglichst kung aller dieser Momente, worin schliesslich Schliesslich bietet der historische Materialis­ effizient in den Produktionsprozess integriert durch alle die unendliche Menge von Zufällig­ mus eine überzeugende Lösung für eine Frage, werden. Wie bei der Aneignung anderer Natur­ keiten [...] als Notwendiges die ökonomische die sowohl von Tierrechtler- und Tierbefreie­ stoffe geschieht dies in beständig wachsenden Bewegung sich durchsetzt.» rInnen als auch von BefürworterInnen der Aus­ Quanta und unter Abstraktion von einigen ih­ beutung von Tieren zwar immer wieder disku­ rer Qualitäten (z.B. ihrer Leidensfähigkeit), von ... und die Tiere tiert, aber nicht wirklich beantwortet wurde: den Folgen der Produktion und Konsumtion Der historische Materialismus von Marx und Worin besteht der Unterschied zwischen Men­ für die Tiere und die Natur sowie schliesslich Engels kann dabei helfen, wesentliche Elemente schen und Tieren? Marx und Engels schreiben unter Abstraktion von ihren eigenen Reproduk­- der Ausbeutung von Tieren in der Geschichte in Die deutsche Ideologie, die Menschen fingen an, tionskreisläufen. Im Produktionsprozess werden zu verstehen und zu erklären. sich von den Tieren zu unterscheiden, indem sie die von den Tieren produzierten oder die durch Wenn man ihre Kritik an metaphysischen In­ ihre Lebensmittel und damit auch ihre Gesell­ sie dargestellten Gebrauchswerte durch die Ver­- terpretationen der Geschichte ernst nimmt, ist schaft reproduzierten. Sie konstatieren also, ausgabung menschlicher Arbeitskraft zu einem es z.B. falsch zu glauben, dass Menschen Tiere dass die Menschen ihre Differenz zu den Tieren Produkt gemacht, das Träger von Profiten ist. ausbeuten, weil sie Vorurteile gegen sie entwi­ durch ihre gesellschaftliche politisch-ökono­ Diese werden für die KapitalistInnen am Markt ckelt haben, weil die Menschen schlecht über mische Praxis in der historischen Entwicklung realisiert, wenn die Ware, wie z.B. ein Stück Tiere denken, sie mit negativ konnotierten hergestellt haben. Aber: Die Menschen tun dies, Fleisch, verkauft wird. Kategorien bezeichnen oder weil die bestehen­ ohne ihre Gemeinsamkeiten mit den Tieren auf­ Genau genommen basiert die Produktion von den Gesetze die falschen sind. Vielmehr haben zugeben. Sie bleiben gleichzeitig Naturwesen, Profiten im Kapitalismus also nicht nur auf der die Menschen diese Ideen usw., weil Tiere in die auch ihre natürlichen Bedürfnisse (nach Ausbeutung der ArbeiterInnen, sondern auch der politisch-ökonomischen Praxis der Gesell­ Essen, Trinken usw.) befriedigen müssen. Der auf der der Natur und der Tiere. Die kapitalisti­ schaften ausgebeutet werden. Der italienische Unterschied zwischen Menschen und Tieren sche Produktionsweise funktioniert nur, «indem Philosoph Marco Maurizi schreibt: «Wir beuten ist entsprechend nicht absolut-ontologischer, sie zugleich die Springquellen alles Reichtums Tiere nicht aus, weil wir sie für niedriger halten, sondern gradueller Natur und Resultat der untergräbt: die Erde und den Arbeiter» – wo­ sondern wir halten Tiere für niedriger, weil wir historisch gesellschaftlichen politisch-ökono­ bei die Tiere einen Teil der Natur bilden, für die mischen Praxis. Aus diesem Unterschied kann Marx hier stellvertretend auf die Erde verweist. dementsprechend keine Legitimation für die Die Anschauung, welche unter der Herrschaft Ausbeutung von Tieren abgeleitet werden. des Privateigentums und des Geldes entspre­ chend von der Natur und den Tieren gewonnen Die Tiere in der kapitalistischen Produktions­ wird, ist die wirkliche Verachtung, die prakti­ weise: gratis Produktionsmittel und Waren sche Herabwürdigung der Natur im Allgemei­ Wenn man nun vor dem Hintergrund des his­ nen und der Tiere im Besonderen. torischen Materialismus nach einer Erklärung Ein Ende der Tierausbeutung ist demzufolge dafür sucht, wieso Tiere in der gegenwärtigen nur unter der Bedingung machbar, dass im kapitalistischen Gesellschaftsformation aus­ Klassenkampf mit der kapitalistischen Produk­- gebeutet werden, dann muss man untersu­ tionsweise gebrochen wird. Nur dann besteht chen, welche Stellung und welche Funktion den die Möglichkeit, dass Thomas Münzers Diktum, Tieren in dieser historisch besonderen Form auf das Marx sich beruft – «auch die Kreatur der Organisation gesellschaftlicher Arbeit zu­ müsse frei werden» –, Wirklichkeit wird. gewiesen wird. Die kapitalistische Produktionsweise basiert im Christian Stache promoviert an der Universität Kern auf zwei sozialen Verhältnissen: auf der Hamburg im Fach Sozial- und Wirtschafts­ «Für einen Ochsen ist es immer dasselbe Opfer, Organisation der Arbeit über den Markt und geschichte und ist Beirat der Informationsstelle wenn er geschlachtet wird.» Karl Marx auf dem Klassenverhältnis zwischen Kapitalis­ Militarisierung e.V. (IMI). 06 ― 07

«Auch die Natur wartet auf die Revolution»

Am Rande der Herbstakademie 2013 der Gruppe Assoziation Dämmerung aus Hamburg führte Maciej Zurowski, Communist Party of Great Britain (CPGB), ein Interview mit Susann Witt-Stahl, Christian Wittgen und Christin Bernhold. Das Interview erschien im Weekly Worker Nr. 994 unter dem Titel Animal Liberation and Marxism. Bei der hier vorliegenden Fassung handelt es sich um ausgewählte, ins Deutsche übersetzte Passagen.

Assoziation Dämmerung organisierte im Gründe, warum eine wirkliche Befreiungsbe­ Menschen mit Nahrungsmitteln zu versorgen, November 2013 eine Herbstakademie wegung auch die Befreiung der Tiere beinhal­ quasi über Nacht massiv erhöhen. Ein grosser unter dem Slogan: «Auch die Natur wartet ten muss. Teil der produzierten Nahrungsmittel wird auf die Revolution» (Herbert Marcuse), momentan als Tierfutter verwendet, was bei wobei die Befreiung der Tiere im Fokus Als eine CPGB-Delegation im Januar 2013 anhaltender Fleischproduktion nichts anderes stand. Wo seht ihr die Verbindung zwischen Hamburg besuchte, habt ihr uns vorgewor- bedeutet, als dass weniger Menschen ernährt Tierbefreiung und Marxismus? Ist fen, dass wir uns, was Tiere anbelangt, werden können. Die Stilllegung der Fleisch­ letzterer nicht eine anthropozentrische auf ein neukantianisches Argumentations- produktion würde deshalb den Fortschritt hin Bewegung? niveau herablassen. Was habt ihr damit zum Kommunismus sogar erleichtern. Christian Wittgen: Der Kapitalismus ist der zen­ gemeint? Ich möchte nochmals kurz auf Susanns Aus­ t­rale Gegenstand unserer Gesellschaftskritik. Susann Witt-Stahl: Die wichtigste Eigenschaft, führungen zurückkommen und sie um einen MarxistInnen sollten nicht den Fehler begehen die wir mit Tieren teilen, ist, dass wir einen Punkt ergänzen: Die Tierbefreiungsaktivis­ und ihre Kritik nur auf bestimmte Teile der quälbaren Körper besitzen. Die meisten Mar­ tInnen sollten sich allerdings auch nicht all­ kapitalistischen Destruktivität beschränken. Sie xistInnen lassen diese Gemeinsamkeit ausser zu selbstgefällig abwenden, wenn ihnen der sollten sich mit ihrem ganzen Ausmass be­­fas­ Acht. Sie beschränken sich darauf, bloss die Idealismus einiger MarxistInnen begegnet. sen. Wenn man das konsequent macht, re­a­li- Differenzen zu Tieren zu bestimmen und hy­ Schliesslich argumentieren viele von ihnen an­ siert man schnell, dass in der kapitalistischen postasieren die Vernunft. Genau hier kommt dauernd idealistisch, z. B. wenn sie speziesisti­ Produktionsweise nicht nur die Klasse der Lohn­ der Neukantianismus ins Spiel: konsequente sche Ideologien für die Ausbeutung von Tieren arbeiterInnen ausgebeutet und unterdrückt historische MaterialistInnen würden sich nie verantwortlich machen. Ich denke, dass es die wird. Tatsächlich finden sich in den Werken von für so ein affirmatives und undialektisches Tierbefreiungsbewegung daher bis zu einem Marx – von seinen frühesten Schriften bis hin Verständnis von Vernunft aussprechen, das im gewissen Grad auch selbst zu verantworten hat, zu seinen ökonomischen Spätwerken – Belege Grunde genommen identisch ist mit der Art, von der marxistischen Linken isoliert zu wer­ dafür, dass auch die Natur – und damit eben­ wie die bürgerliche Gesellschaft Vernunft defi­ den. Man muss natürlich bedenken, dass sie, falls die Tiere – vom Kapital unterjocht und aus­- niert und fetischisiert. verglichen mit anderen Bewegungen, eine im­ gebeutet werden, wenn auch nicht in derselben Versteh mich bitte nicht falsch: Die Kategorie mer noch sehr junge Bewegung ist. Als solche Art und Weise wie die KollegInnen in den Be­ der Vernunft ist wichtig, und ich will sie nicht hat sie Fehler gemacht. Zum Beispiel haben trieben. vernachlässigen. Aber viele MarxistInnen mei­ zahlreiche AkteurInnen einen links-libertären Diese Erkenntnis ist der Ausgangspunkt, um zu nen, dass Menschen Vernunft besitzen und Antikommunismus vertreten. Die Tierrechts- verstehen, dass durch den Kapitalismus nicht Tiere nicht – Ende der Geschichte. Dieses Ver­ und Tierbefreiungsbewegung hat also ihre ei­ nur unser Verhältnis zu den Produktionsmit­ ständnis ist unwissenschaftlich und schlicht ge­­nen Kinderkrankheiten. Diese waren ohne teln, zu unseren Arbeitsbedingungen und zu falsch, denn Vorstufen der Vernunft existie­ Zweifel ein Resultat einer elementaren Empa­ den Waren, die wir produzieren, entfremdet ist, ren bereits in der Natur. Auf einem anderen thie gegen­über Tieren und als solche verständ­ sondern genauso unser Verhältnis zu Tieren Niveau handeln auch Tiere vernünftig: z. B. lich. Aber im Bereich des politischen Diskurses und zur Natur. Diese entfremdete Beziehung wenn sie Wintervorräte anlegen. Natürlich ist waren und sind sie ein reales Hemmnis. zur Natur – die bis zu einem gewissen Grad von diese Vernunft nicht identisch mit der mensch­ der beherrschten und der herrschenden Klasse lichen Vernunft – aber Vernunft, das müssen Durch eine informierte, historisch-material-­ geteilt wird – muss ebenso kritisiert werden wie wir erkennen, ist nicht vom Himmel geregnet. istische Analyse kommen einige Wenige die Ausbeutung des Menschen. Viele MarxistInnen reflektieren das nicht. Das ist aber auch bei einer kommunistischen ein Punkt, an dem sie in den Idealismus zurück­ Position an. Anfängliche Standpunkte sind Christin Bernhold: Als MarxistInnen sollten wir fallen. meistens banal und naiv. darüber hinaus zwei Dinge einbeziehen. Ers­ Christin Bernhold: Ja, das ist richtig. Viele haben tens, dass wir durch die Entwicklung der gesell­ Angenommen, es gäbe eine internationale aber auch kein Interesse an einer historisch- schaftlichen Produktivkräfte und eine Reihe Revolution und ein Teil der Welt hätte materialistischen Analyse. Was Christian be­ gesellschaftlicher Faktoren an einem Punkt ste­ mit einer Nahrungsmittelknappheit zu schreibt, erklärt übrigens auch, weshalb die hen, an dem objektiv keine Notwendigkeit für kämpfen, die nur mit fortlaufender oder «gemässigte Linke» der Tierbefreiungsbewe­ gesellschaftliches Leiden mehr besteht. Zwei­ sogar intensivierter Fleischproduktion gung gegenüber tendenziell aufgeschlossener tens, dass die Fähigkeit zu Leiden etwas ist, was zu überwinden wäre. Wie würdet ihr dieses eingestellt ist. Sie teilt im Kern den moralisti­ Menschen und Tiere gemein haben. Es gibt also Problem angehen? schen Ansatz, der einen grossen Teil der Tierbe ­ keinen Grund, die Tiere von dem Unterfangen Christian Wittgen: Ich glaube nicht, dass wir die­ freiungsbewegung charakterisiert. Es ist z. B. auszuschliessen, das gesellschaftlich produ­ sem Problem jemals begegnen werden. Wenn nicht überraschend, dass das Netzwerk Emanzi­ zierte Leiden zu beenden – im Gegenteil. Dies wir die Fleischindustrie abschafften, dann patorische Linke, das in der Partei Die Linke orga­ sind nur die banalsten und offensichtlichsten würden sich im Gegenteil unsere Fähigkeiten, nisiert ist, sich für einen solchen Moralismus ― 07

ziemlich offen gibt, ganz einfach, weil es seine beit, die Aggressivität, die Misere und die Un­ eigenen zentralen Themenfelder – Feminismus gerechtigkeit in dieser Gesellschaft. und Antirassismus – auf dieselbe, im Prinzip bürgerliche Art und Weise behandelt. Susann Witt-Stahl: Wer unsere Ideen akzeptiert, aber weiterhin Fleisch isst, bleibt einem Prozess Christian Wittgen: Es sollte andersherum auch der Selbstentfremdung verhaftet. Wenn man nicht vergessen werden, dass viele traditionelle Tiere als quälbare Körper erkennt, dann kann Linke sich dafür entschieden haben, jede soziale man sie nicht essen. Durch den Konsum von Bewegung, die ab Mitte des 20. Jahrhunderts an Tieren entsteht unvermeidbar ein anderes Ver­- Kraft gewonnen hat, zu ignorieren. Natürlich hältnis zu ihnen: sie werden als Dinge, als Ob- gab es Konflikte und viele neue soziale Bewe­ jekte wahrgenommen – nicht als Wesen, die gungen haben sich gleich von Beginn an von der nach Glück streben oder zumindest keinem traditionellen Linken distanziert. Die ortho- Leid ausgesetzt sein möchten. Auf einer indi­ doxe Linke hat sich andererseits aber auch nicht viduellen Ebene will ich mit dieser Verdingli­ dadurch hervorgetan, einen kritisch-solidari­ chungslogik brechen. Ich will keine quälbaren schen Umgang etwa mit der feministischen oder Körper essen, weil ich diese Entfremdung und der Tierbefreiungsbewegung zu suchen. Sie hat dieses falsche Bewusstsein von Tieren nicht re­ einfach befunden, dass diese keine relevanten produzieren will. Ausserdem denke ich, dass Kräfte seien, weil sie ihren Fokus nicht auf es für KommunistInnen wichtig ist, in Wider­ Arbeitskämpfe im Betrieb gesetzt haben. spruch zu den herrschenden Verhältnissen zu handeln. Wir tun das in vielen anderen gesell­ Es wurde vielfach darauf hingewiesen, dass schaftlichen Bereichen, beispielsweise wenn es Fleisch nun mal die billigste, am ein­ um Sexualität geht. Natürlich ragt so ein Han­ fachsten verfügbare Art der Ernährung für deln über moralischen Protest nicht hinaus, Menschen aus der ArbeiterInnenklasse aber das ist kein Problem, solange wir uns nicht ist. Veganismus ist also – gemessen am von bürgerlichen, sondern von revolutionären finanziellen und zeitlichen Aufwand – ein Moralvorstellungen leiten lassen. Warum also luxuriöser Life­style. Kommt es wirklich nicht das Gleiche tun, wenn es um Tiere geht? darauf an, ob einzelne Menschen heute auf- Du hast recht, dass der Veganismus heute eine hören, Fleisch zu essen? Und wie ge­denkt Form von Lifestyle ist, aber daran trägt der ihr, diesen Punkt mit den Belangen des Pro­ Veganismus keine Schuld – das Problem ist letariats in Verbindung bringen zu eine falsche Ökonomie, welche neue Märkte er­ können? schliesst und Privilegien für bestimmte soziale Christin Bernhold: Veganismus ist in dem Sinne Klassen produziert. wichtig, dass durch ihn der Konsum eines er­ mordeten, quälbaren Körpers negiert wird. Man Wie stellt ihr euch dann die Überzeugung verbleibt allerdings auf einer individualisti­ der Massen vor? Ich frage mich auch, ob schen Ebene, versteht man ihn nicht als Teil ihr die Identifizierung mit anderen unter­- eines umfassenden gesellschaftspolitischen drückten Spezies nicht überschätzt. Wie Kampfes. Der Fakt, dass es zahllose Menschen wahrscheinlich ist es, dass sich die Arbeite- gibt, denen eine vegane oder vegetarische Er­ rInnenklasse einst mit Tierbefreiung nährung nicht möglich ist, bestätigt nur, dass als eigene Forderung identifizieren wird? das Projekt Tierbefreiung Teil einer Kritik der Susann Witt-Stahl: In seinem Vortrag an der politischen Ökonomie sein muss. Ich will na­ Herbstakademie hat Matthias Rude diverse türlich nicht mit dem Finger etwa auf hun­ historische Beispiele für die Solidarität von An­ hatten, sondern dahingehend, dass sie sich gernde Menschen zeigen und ihnen erzählen, gehörigen der ArbeiterInnenklasse mit Tieren teilweise selbst in ihnen wiedererkennen konn­ sie sollen kein Fleisch mehr essen. Vielmehr genannt. In einem Punkt bin ich mit ihm nicht ten – es war eine Form der Identifikation, und gilt es aufzuzeigen, wie diese Gesellschaft ganz einer Meinung und zwar bezüglich der damit eine Vergewisserung der eigenen Unter­ funktioniert und eine Situation, in der es sich Bedeutung dieser Solidarität für unser heutiges drückung und Unfreiheit. viele Menschen nicht leisten könnten, mit dem Animal-Liberation-Projekt. Teilweise werden Essen von Fleisch aufzuhören, selbst wenn sie die Taten von Einzelpersonen glorifiziert, und Christin Bernhold: Du fragst dich, ob wir mit der es wollten, ist Teil davon – ebenso wie die Tat­ Leute folgern daraus Dinge, die in der Geschich­ geschichtlichen Identifikation übertreiben, sache, dass die Profiteure der Fleischproduk­ te nie so massgeblich waren, wie Tierfreunde aber unser Anliegen ist nicht die Glorifizierung tion in den kapitalistischen Zentren zu einem es gerne glauben würden. Die Resultate von der Vergangenheit. Wir haben auch nicht die nicht geringen Teil dafür verantwortlich sind, Matthias’ Forschung sind selbstverständlich Hoffnung, mit den nächsten zwei Kongressen dass Menschen andernorts Hunger leiden. wertvoll, aber ich persönlich würde sie nicht so die gesamte ArbeiterInnenbewegung für uns Gleichzeitig ist eine Kritik am (Fleisch)Kon­ hoch hängen und daraus allzu viele historische zu gewinnen. Eine Gruppe von Menschen hat sum aber auch richtig, gerade dort, wo seine Hoffnungen ableiten. die Notwendigkeit dieses politischen Projekts Notwendigkeit nicht gegeben ist. Man kann in Allerdings glaube ich, dass diese Beispiele ele­ erkannt – nicht mehr und nicht weniger. Wenn diesem Zusammenhang mit Herbert Marcuse mentarer Identifikation ausgebeuteter Men­ wir jedoch nicht jetzt versuchen, es nach vor­ von «falschen Bedürfnissen» sprechen, die in schen mit Tieren in dem Sinne wichtig sind, ne zu bringen, werden wir auch in 20 Jahren einer kapitalistischen Gesellschaft produziert dass sie aufzeigen, wie gewisse grundlegende keinen Fortschritt gemacht haben. Ich meine werden. «Falsch» in dem Sinne, dass sie dem In­ Impulse die Geschichte durchwirkt haben: nicht, dass wir – oder irgendein anderes linkes dividuum durch partikuläre gesellschaftliche Menschen haben die Behandlung der Tiere Projekt – zwangsläufig in Kürze grossartige Mächte auferlegt werden, die von seiner Un­ immer mit gewissem Unbehagen wahrgenom­ politische Erfolge erzielen werden. Aber man terdrückung profitieren. Falsche Bedürfnisse men. Nicht unbedingt in der Hinsicht, dass sie sollte deshalb nicht frustriert die Hände in den perpetuieren die Ausbeutung durch Lohnar­ Mitgefühl für die geschundenen Kreaturen Schoss legen. Das ist ein Lebensprojekt. 08 ― 09

Speziesismus und historischer Materialismus

Obwohl eine enge Verbindung zwischen Tierausbeutung und der Ausbeutung des Menschen besteht, verfügt die Tierbefrei­ ­ ungsbewegung über keine politisch-ökonomische Kritik. Bezieht sie nicht die gesellschaftlichen Ursachen und Implikationen der Unterdrückung von Tieren ein, stösst sie zwangsläufig an ihre Grenzen und verkennt ihr revolutionäres Potential.

bschon der Begriff des Speziesismus lichen Gesellschaft und die gesellschaftliche Speziesismus unter Berücksichtigung sowohl von Richard Ryder geprägt wurde, hat Natur der menschlichen Geschichte ignoriert. der materiellen als auch der ideellen Seite zu ihn erst durch sein ein­ Für die Geschichtsblindheit der «apolitischen» re­konstruieren? Zunächst müssen wir davon flussreichstes Buch, Animal Liberation, AntispeziesistInnen gibt es gute Gründe: Ihre ausgehen, dass wir erst in einem bestimmten Opopularisiert. Singer defi­niert den Speziesismus Theorie macht nur Sinn, solange wir davon Stadium der Evolution des Homo sapiens zu als ein moral­isches Privileg, das auf der Spezies­ ab­sehen, wie die Gesellschaft wirklich funk­ «herrschenden Tier­en» – wie Singer es ausdrü­ zugehörigkeit gegründet ist, d. h. als die Idee, tioniert. Es ist nicht verwunderlich, dass viele ckt – geworden sind. Die Voraussetzung für die dass die Interessen von menschlichen Tieren Tier­rechtsaktivistInnen eine politische Verän­ menschliche Herrschaft über die Natur war ein per se wichtiger sind als die Interessen von nicht- derung der realen gesellschaftlichen Verhält­ mächtiges soziales und symbolisches System menschlichen Tieren. Das ist eine verengt the­ nisse ablehnen und stattdessen Tierbefreiung zur Überwindung des magischen Kosmos der oretische Definition des Speziesismus. Aber als eine moralische und individuelle Entschei­ Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, in denen Singer selbst führt in dem Buch auch eine his­ dung predigen, die «jedermann» betrifft: ganz Töten und Getötet-Werden noch gleichstehen­ torische Beschreibung des Speziesismus ein unabhängig davon, wer man ist, an welchem de Möglichkeiten waren und die Menschen sich und versucht, durch Zitationen von Aristoteles, Ort oder zu welcher Zeit man lebt oder ob die­ selbst nicht als «besser» – nicht einmal als «an­ Augustinus, Thomas von Aquin, Descartes und ses «jedermann» überhaupt existiert. Frei nach ders» – als Tiere vorstellten. Kant zu beweisen, dass die abendländische Kul­ dem Motto: Sowohl die herrschenden als auch Die Geburtsstunde der materiellen Beherr­ tur eine im Wesentlichen speziesistische Kultur die unterdrückten Klassen sind für Tiere nichts schung der Natur durch den Menschen liegt in ist. Das aber wirft grosse Probleme auf. anderes als «Nazis». Doch stimmt das wirklich? der Jungsteinzeit. Die «Erfindung» der Land­ Denn der Speziesismus ist eine Praxis, nicht nur Tragen beide die gleiche Verantwortung für das, wirtschaft und der Domestizierung von Pflan­ ein moralisches Vorur­teil. Man muss deshalb was heute in der Welt geschieht? Müssen wir im zen und Tieren machte eine radikale Verände­- eine materielle von einer ideellen Seite des Spe­- Kampf für gesellschaftliche Veränderung­­ beide r­ung unserer Umwelt möglich. Sie war der erste ziesismus unterscheiden. Bei der Lektüre von als «Unterdrücker» der Tiere verurteilen? Und Schritt, die Natur zum blossen Material für Animal Liberation wird nicht klar, ob Singer hier ist dies überhaupt eine sinnvolle Strategie zur unsere Bedürfnisse zu machen, statt in einen beschreibt, wie der Speziesismus historisch als Veränderung der Gesellschaft? Als historischer Dialog mit ihr zu treten. Mit der sogenannten Praxis entstanden ist oder ob er beschreibt, wie Materialist hege ich Zweifel daran. «neolithischen Revolution» entwickelten die verschiedene menschliche Gesellschaften ihr Menschen ein anderes Verhältnis zu ihren nicht- konkretes Verhalten gegenüber Tieren a poste­ Der Speziesismus als historisch-materialis­ ­menschlichen Gegenübern. Die jungsteinzeit­ riori gerechtfertigt haben. Singer scheint dieser tisches Problem Wann ist der Speziesismus lichen Siedlungen führten eine systematische Unterschied überhaupt nicht bewusst zu sein: entstanden? Die Frage nach seinem Ursprung Kontrolle über den «biologischen Zyklus» ande­ Er stellt die Ideen der Philosophen und die reale ist nicht eindeutig, weil der Speziesismusbe­ rer Spezies ein. Solch einseitige Beziehungen – Behandlung der Tiere nebeneinander, als ob griff eine materielle und eine ideelle Seite ein­ in denen die Existenz des einen Partners dem letztere eine Wirkung der ersteren sei. Der schliesst. Vom materiellen Standpunkt aus be­- anderen Partner vollständig ergeben ist – ma­ Grund für diese Konfusion und Verwechslung trachtet, ist der Speziesismus die Praxis, die das chen das aus, was wir für gewöhnlich als «Herr­­- der materiellen und ideellen Dimension ist, Tier zum Objekt unserer Bedürfnisse macht. schaft» bezeichnen. Die «Versklavung» der dass Singer von dem abstrakten Standpunkt der Aber dieser Verdinglichungsprozess impliziert nicht-menschlichen Natur ist die Bedingung bürgerlichen Ethik und nicht aus der konkreten eine ideelle Seite, nämlich die ideologische sine qua non des Speziesismus, d. h. die materiel­ Perspektive revolutionärer Politik spricht. Rechtfertigung, nach der wir es für richtig hal­ le Basis, auf welcher Menschen sich als «Herren» Das grundlegende Problem des von Singer be­ ten, Tiere als blosse Gegenstände zu benutzen. betrachten können. Es kann nicht bestritten gründeten metaphysischen Antispeziesimus Was passiert nun, wenn wir die reale Geschichte werden, dass diesem ersten Schritt eine ausser­ ist, dass er die historische Natur der mensch­ b e ­­trachten und versuchen, die Ursprünge des ordentliche Beschleunigung der menschlichen ― 09

Evolution folgte: Grob gesagt, zwischen 8000 indirekt ihr materielles Leben selbst.» Nur Tierausbeutung und Klassengesel­lschaft Die und 3000 v. Chr. waren die politischen, ökono­ durch einen solchen Prozess war die Entste­ Ausbeutung der Tiere und die Ausbeutung der mischen, wissenschaftlichen und technologi­ hung des menschlichen Selbst möglich. Die Menschen haben sich seit ihren historischen schen Grundlagen für die menschliche Gesell­ Geschichte ist der Raum dieser Autopoiesis Anfängen wechselseitig bedingt. Die Zähmung schaft geschaffen worden, wie sie uns von der des Bewusstseins: Die menschliche Kultur, der Tiere und der Ackerbau haben den gesell­ Geschichte überliefert wurde. Es war eine von der «Geist», ist etwas, das wir konkret produ­ schaftlichen Überschuss (Surplus) geschaffen, Männern beherrschte, hierarchische Ordnung, zieren. Was Marx und Engels über den «Unter­ der die Trennung zwischen geistiger und ma­ die von der Religion und der Wissenschaft ideo­ schied» zwischen Mensch und Tier schreiben, terieller Arbeit und die Entstehung der Klas­ logisch gerechtfertigt und reproduziert wurde. darf aber nicht als eine ontologische und stati­ sengesellschaft ermöglicht hat. Die Entwick­ Die Geschichte als Geschichte der Herrschaft sche Differenz verstanden werden. Sie sprechen lung der Klassengesellschaft wiederum hat die begann. eher von einer Aktivität, einer Handlung. Men­ Ausbeutung der Tiere und der Menschen für Doch auch wenn die jungsteinzeitliche Revolu­ schen unterscheiden sich – das ist wörtlich zu den Gewinn der herrschenden Eliten verstärkt. tion die Basis unserer Herrschaft über die Natur nehmen: sich anders machen – von den anderen Auch wenn die mesopotamischen Könige den und somit die materielle Möglichkeit der spezi­ Tieren dank ihrer Geschichte. Auf der einen Stier nicht wie ein Ding sahen, war das dem Stier esistischen Ideologie geschaffen hat, so hat sie Seite ist dieser Unterschied real, weil wir uns aufgezwungene Joch die Voraussetzung der diese Ideologie dennoch nicht produziert. Spe­ und unsere Umwelt durch die Arbeit tatsäch­ Ex­i­stenz des meso­po­tamischen Staates, da es ziesismus ist eine Ideologie, die auf bestimm­ lich verändern. Auf der anderen aber bleibt er die notwendige Akkumulation ermöglichte, um ten allgemeinen Begriffen beruht. Sie bedient illusorisch, weil wir immer noch Tiere sind, Teil die staatliche Bürokratie zu ernähren. Wenn sich eines allgemeinen Begriffs von «Spezies», der Natur, materielle Wesen. Der Geist, den Tiere zum Rädchen im Herrschaftsmechanis­ der es ermöglicht, auf einer Seite alle Menschen wir schaffen, ist ein Betrug. Aber gerade das mus werden, sind sie schon nicht mehr dem unter dem Begriff «Mensch» und auf der ande­ beweist unsere Einzigartigkeit: Der Mensch ist Men­schen überhaupt, sondern der höheren Not­ ren Seite alle Tiere unter dem Begriff «Tier» zu das Tier, das vergisst, dass es ein Tier ist. wendigkeit des Staates unterworfen. Es ge­ fassen. Die Singerische Argumentation greift Wir sollten nicht vergessen, dass der Mensch schieht nur durch eine innere gesellschaftliche erst, nachdem dieser Unterschied sich histo­ ein gesellschaftliches Tier ist und dass histo­ Hierarchie, dass das äussere Verhältnis zum risch durchgesetzt hat und gewissermas­sen rische Veränderung immer als gesellschaftliche Tier selbst hierarchisch wird (Menschen kon­ Fundament der abendländischen Rationalität Veränderung verstanden werden muss. Marx trollieren Menschen, die Tiere kontrollieren). geworden ist. Aber die universellen Begriffe betont, dass die Menschen die Grundlagen ihrer Das ist wieder ein diale­k­tischer Prozess: Hat von «Mensch» und «Tier» entstehen erst im materiellen Existenz produzieren. Dabei spricht die Sklaverei des Stiers die Sklaverei des Men­ geschichtlichen Verlauf. In gewisser Hinsicht er immer von dem Menschen als sozialem Wesen, schen ermöglicht, so hat die menschliche Skla­ sind sie erst Resultat der Moderne. d. h. dem realen Menschen, nicht demjenigen, verei die Distanz zwischen der Spitze und der Wir haben also gesehen, dass sich der Begriff den die Welt der Moral­philosophie beherbergt. Basis der Pyramide vergrössert. des Speziesismus als höchst problematisch he­ Aber die ma­terielle Produktion ist immer durch Die obige historische Beschreibung ist sicher­ rausstellt. Seine ma­terielle Seite – die physische irgendwelche Zwänge charakterisiert. Wenn eine lich noch zu allgemein gehalten. Ich denke aber, Ausbeutung – fällt nicht mit seiner ideellen Gruppe von Menschen die Regeln der kollekti­ dass es wichtig ist, in dieser Richtung weiter­ Seite – der ideologischen Rechtfertigung der ven Reproduktion festlegt, wird der Einzelne zuarbeiten. Denn der Speziesismus ist nicht Unterdrückung – zusammen. Sie bilden gar immer gezwungen, sich einzubringen. Schon bloss ein Vorurteil, sondern eine gesellschaft­ einen Chiasmus. Historisch hat die Praxis der von Anfang an scheint die gesellschaftliche liche Struktur, die einer detaillierten soziolo­ Ausbeutung der Tiere angefangen, als wir uns Ordnung das Individuum unter eine gewisse gischen und historischen Analyse unterzogen diese noch nicht als etwas völlig Anderes vor­ Diktatur des Kollektivs gezwungen zu haben, werden muss. Wenn wir die gesellschaftlichen stellten. Dagegen haben wir angefangen, unsere obwohl die ersten Jäger-und-S a m m l e r - G e s e l ­l­- Ursachen und Implikationen des Speziesis­ Herrschaft über die Tiere anzuprangern, als wir schaften grundsätzlich egalitär waren. Aber mus offenlegen, zeigt sich, dass es sich bei der sie nicht mehr als unseresgleichen wahrneh­ solche Gesellschaften haben sich «entwickelt», Ausbeutung von Tieren und der Ausbeutung men konnten. Warum erscheint uns der Spezi­ mehr und mehr die Form von Stämmen und von Menschen nicht um zwei völlig getrennte esismus in einer verzerrten Form? Weil in der chiefdoms angenommen, die soziale Struktur oder verschiedene Formen der Unterdrückung metaphysischen Version des Antispeziesimus wurde hierarchisiert und zen­­tralisiert: Eine handelt. Im Gegenteil: die Befreiung der Tiere ein wichtiges Detail ausgelassen wird: dass der Zentralautorität, die gleichzeitig religiös und ist mit der Befreiung der Menschen identisch. Mensch selbst ein Tier ist. Somit müssen wir politisch war, fing an, die Verteilung der Res­ Der Kern des Problems ist die zerstörende Lo­ uns nicht nur die Frage stellen: «Wann haben sourcen zu organisieren und zu kontrollieren. gik des Kapitals, eine Logik, die bestimmte wir angefangen, die anderen Tiere zu unter­ Es ist einfach, sich vorzustellen, dass eine – gesellschaftli­ che­ Strukturen voraussetzt (Klas­ drücken?», sondern auch: «Wann haben wir wahrscheinlich durch natürliche Differenzen sen­ge­sellschaft, wirtschaftliche Aus­beu­tung, ver­gessen, dass wir Tiere sind?» legitimierte – Autorität (physische Fähigkeit, Staatsgewalt). Solche Stru­k­turen wurden vor Vor 30 000 Jahren, als die ersten Homo sapiens Schlauheit usw.) sich von der Person, die sie in­ Tausenden von Jahren durch die Unterdrü­ auf der Erde wandelten, nahm die menschliche nehat, abspaltet und zum Privileg wird. Gesell­- ckung von Menschen und Tieren geschaffen. Entwicklung ihren Ausgang. Seitdem hat sich schaftliche Zwänge, Religion und Auto­ri­­tät Der Speziesismus kann daher nur verstanden die kulturelle Dimension der menschlichen nötigten die Menschen dazu, eine ungleiche und bekämpft werden, wenn wir die unterdrü­ Existenz, d. h. das Produkt menschlicher Arbeit Ordnung zu akzeptierten, die ihre Unterdrü­ ckende Struktur der Klassengesellschaft selbst und Intelligenz, in einem Masse entwickelt, wie ckung immer wieder reproduziert. Die gesell­- in Frage stellen. es nie zuvor in der Natur da gewesen war. Marx schaftlichen Regeln begannen von oben oktroy­- und Engels schreiben in Die Deutsche Ideologie: iert und vom Individuum als normal introjiziert Marco Maurizi ist Philosoph und Musiker aus «Man kann die Menschen durch das Bewusst­ zu werden. Interessant ist, dass die materielle Rom. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der sein, durch die Religion, durch was man sonst Naturbeherrschung – wie sie oben anhand der Philosophie der Geschichte aus der Perspektive will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst jungsteinzeitlichen Domestizierung von Tieren der Kritischen Theorie, des Marxismus und der fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, und Pflanzen beschrieben wurde – zur selben klassischen dialektischen Philosophie. Er ist sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu p r o ­- Zeit begann und gesellschaftliche Produktions­ Autor von Büchern über Theodor W. Adorno und du­zieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche form wurde, zu der sich auch der Klassenkampf Nikolaus von Kues, sowie mehrerer Essays über Organisation bedingt ist. Indem die Menschen als Form gesellschaftlicher Bewegung etabliert Antispeziesismus aus einer sozialistischen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie hatte – d. h. nach der Geburt des Staates. Perspektive. 10 ― 11

Die Befreiung von Mensch und Tier Ein Kampf mit linker Tradition

Es ist noch weitgehend unbekannt, dass es für den Aufbau einer Bewegung für die Befreiung von Mensch und Tier zahl- reiche historische Vorbilder gibt: Zur Thematik existiert eine weit zurückreichende, genuin linke theoretische – und auch praktische – Tradition. Die Solidarität mit Arbeitstieren als Ausgebeutete konnte bereits seit den Anfängen der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaftsformen als integrales Element revolutionärer Theorie und Praxis fungieren.

Natur», schreibt Marx und bezieht sich in die­ Abschaffung der Sklaverei, widmete, war All sem Sinne auf den Reformator und Revoluti­ Slave-Keepers that Keep the Innocent in Bondage onär in der Zeit des Bauernkrieges, Thomas (1737) von Benjamin Lay – übrigens gedruckt Münzer, der es für unerträglich erklärt hatte, von . Lays Argumente ge­ «dass alle Kreatur zum Eigentum gemacht wor­ gen die Haltung von SklavInnen und für den den sei, die Fische im Wasser, die Vögel in der Vegetarismus sind nicht zu trennen: Er wollte Luft, das Gewächs auf Erden – auch die Kreatur schlicht keine Erzeugnisse gebrauchen oder müsse frei werden». Im Gang der Geschichte Dienstleistungen in Anspruch nehmen, die das wurde dieser Zusammenhang immer wieder Ergebnis von SklavInnenarbeit waren – ob diese von progressiven Personen und Bewegungen nun von Menschen oder von Tieren verrichtet erkannt, die folgerichtig die Erweiterung des worden war. Lay beeinflusste Genera­tionen emanzipatorischen Imperativs über den Men­ von Gegnern und Gegnerinnen der Sklaverei, schen hinaus forderten. «Im Kern meiner Em­ die seine Praxis teilweise annahmen und fort­ pörung gegen die Starken finde ich, soweit ich führten. zurückdenken kann, meinen Abscheu gegen die Tierquälerei wieder», schreibt z. B. Louise Frauen- und Tierrechtsbewegung Einem klei­ Michel, die berühmte Kämpferin der Pariser nen Stück einer doppelt verschwiegenen Ge­ Kommune, in ihren Memoiren. Weiter heisst es schichte kann man auf den versteckt liegenden dort: «Von der Zeit, da ich auf dem Land die Pfaden des Londoner Battersea-Parks nachspü­ Grausamkeiten gegen die Tiere erlebte und das ren: Kaum auffindbar, am Rand eines Weges entsetzliche Bild ihrer Lebensbedingungen er­- nahe des Old English Garden, steht die Statue fasste, stammt mein Mitleid für sie und da­ eines Hundes. Sie wurde 1985 gestiftet, um ein durch mein Bewusstsein über die Verbrechen im Jahr 1910 aus dem Park entferntes Denkmal der Macht. So handeln die Führenden mit den zu ersetzen, das dort stellvertretend für alle Völkern! Ich konnte nicht umhin, diese Überle­ Opfer von Tierexperimenten errichtet worden gung irgendwann anzustellen.» Michel fordert war. Die Hunde-Statue erinnert nicht nur dar­ nicht weniger als die vollkommene Freiheit: an, dass im 19. und im frühen 20. Jahrhundert «Alles, alles muss befreit werden, die Geschöpfe bemerkenswerte Allianzen zwischen der Anti­ und die Welt.» vivisektions- und der ArbeiterInnenbewegung existierten – prominente VertreterInnen der Ar­- Kampf gegen die Sklaverei Im Gegensatz zu beiter­Innenbewegung unterzeichnen 1896 ein den ProletarierInnen sind der versklavte Mensch Manifest gegen die Vivisektion, in dem es er Scheidungsprozess von Produzent und das domestizierte Tier nicht «frei», ihre heisst: «Solches Experimentieren an lebenden und Produktionsmittel bildet die Arbeitskraft zu veräussern; vielmehr gehören Tieren widerspricht den wirklichen Empfin­ Grundlage der kapitalistischen Pro­ sie selbst vollständig – mit ihrem Körper, ihrer dungen und wahren Interessen der arbeiten­ duktionsweise: Die Vertreibung des Arbeitskraft, ihren Nachkommen – ihren Besit­ den Klasse», – sondern sie ist auch ein Denk­ DAckerbauers von Grund und Boden entriss ihm zerInnen. Noch offensichtlicher und unvermit­ mal für die engen Verbindungen zwischen der seine Mittel zur Selbstversorgung und machte telter findet hier Ausbeutung statt – direkter Frauen- und der ersten Tierrechtsbewegung. ihn zum Proletarier, wie es im Kapital von Karl aber äussert sich mitunter auch die Solidarität: Forscht man nach, so erfährt man, dass die fe­ Marx heisst. Diese gesellschaftliche Umwälzung Das Bewusstsein darüber, dass Arbeitstiere ministische Bewegung im des frühen war eng mit der industriellen Ausbeutung von Leidensgenossen sind, kommt in den Stimmen 20. Jahrhunderts derart mit der Tierrechtsbe­ Tieren verbunden: In der Industrie, in welcher von SklavInnen deutlich zum Ausdruck. Fre­ wegung verbunden war, dass die Medizinstu­ die LohnarbeiterInnen ihre Arbeitskraft ver­ derick Douglass etwa verglich im 19. Jahrhun­ dentInnen des University College, die ab 1906 ausgaben mussten, wurde vermehrt auch die dert seine Situation mit derjenigen von Ochsen: gegen die Aufstellung des Denkmals protestier­ Arbeitskraft von Tieren eingesetzt. Angehörige «Ich sah nun, in meiner Situation, einige Ähn­ ten, Antivivisektions- und Frauenwahlrechts­ der proletarischen Klasse sahen Gemeinsam­ lichkeit mit jener von Ochsen. Sie waren Besitz, bewegung gleichsetzten: Sie störten zahlreiche keiten in ihrer eigenen Ausbeutung und derje­ und so war ich es; sie sollten gebrochen werden, Veranstaltungen letzterer, um gegen erstere nigen von Tieren – und genau hier liegt der Ur­ und ich ebenso.» vor­zugehen. Die StudentInnen versuchten im­ sprung des Tierbefreiungsgedankens. Entsprechend spielen Ansätze von Tierbefrei­ mer wieder, das Denkmal zu zerstören, stiessen Die Anschauung, welche unter der Herrschaft ung und Vegetarismus eine wichtige Rolle in dabei aber auf den vehementen Widerstand des Privateigentums und des Geldes von der der Anti-Sklaverei-Bewegung, und zwar von der VivisektionsgegnerInnen sowie der Bevöl­ Natur gewonnen werde, sei «die wirkliche Ver­- Anfang an: Eines der ersten Werke, das sich kerung des ArbeiterInnenviertels, die in dem achtung, die praktische Herabwürdigung der ausschliesslich dem Abolitionismus, also der Hund offenbar ein Symbol für ihre eigene Un­ ― 11

terdrückung sah. Über Jahre hinweg wurde der Konflikt, bekannt als Brown Dog Riots, aus­ getragen. Ort der Auseinandersetzungen war sowohl Battersea als auch das Londoner Zent­ rum, wo auf dem Trafalgar Square Demonstra­ tionen mit mehreren Tausend Teilnehmenden stattfanden. Die erklärte Absicht der militanten Suffraget­ ten, die für das Frauenwahlrecht kämpften, war es, niemals Menschen oder Tiere zu gefährden – aber, so Emmeline Pankhurst (1858 – 1928), Mit­ glied der Independent Labour Party und Mitbe ­ gründerin der Women’s Social and Political Union (WSPU), im Jahr 1913: «Wenn es dafür notwen­ dig ist, um das Wahlrecht zu erhalten, werden wir soviel Schaden an Eigentum anrichten, wie wir können.» Die Massnahmen reichten von Streikposten und Ankettungen bis hin zum Ein- satz von Brandbomben. «Es gibt etwas, um das sich Regierungen viel mehr Sorgen machen, als um menschliches Leben, und das ist die Sicher­ heit des Eigentums», liess Pankhurst verlaut­ baren, und weiter: «Das Argument der zer­ «Brown Dog Riots» im Londoner Stadtteil Battersea. brochenen Fensterscheibe ist das wertvolls­te Argument moderner Politik.» Dieser Ausspruch Pankhursts ist oft überliefert – ihr Engagement Moment gewesen, sie habe sogar die Überzeu­ seren Natur» – das hielt Herbert Marcuse für für Tiere aber wird meist verschwiegen. gung vertreten, dass es keine Emanzipation unabdingbar für die Entwicklung hin zu einer des Menschen ohne Emanzipation der Natur künftigen Revolution. Bereits 1965 schrieb er: Solidarität mit den quälbaren Körpern Ähn­ geben könne. Auch Zuckermann plädiert des­ «Dass die Gewalt beseitigt und die Unterdrü­ lich verhält es sich mit anderen linken Kämpfe­ halb dafür, die theoretische Forderung nach ckung so weit verringert wird, als erforderlich rinnen und Kämpfern. An dieser Stelle sei Rosa internationaler Solidarität um den Komplex ist, um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Luxemburg genannt, die in ihrer Haftzeit in umfassender Leiderfahrung zu erweitern – Aggression zu schützen, sind die Vorbedingun­ Breslau im Dezember 1917 eine Erfahrung fest­ eine Forderung, die in der Geschichte linker gen einer humanen Gesellschaft.» gehalten hat, die wohl zum Eindrucksvollsten Bewegungen immer wieder erhoben worden Das Streben nach der Befreiung der Tiere und gehört, was sich in der sozialistischen Litera­ ist. Von Leonard Nelson etwa, dem Gründer des der Wunsch, die Menschheit zu emanzipieren, tur zum Thema Solidarität mit Tieren findet: Internationalen Sozialistischen Kampfbundes, der resultieren also nicht aus unterschiedlichen Büffel, als Zugtiere vor einen Karren gespannt, im Deutschland unter Hitler antifaschistischen Zielen oder Interessen; sie lassen sich nicht werden von Soldaten auf dem Gefängnishof ge­- Widerstand organisierte, stammt das Diktum, gegeneinander ausspielen, im Gegenteil gilt: prügelt, bis sie bluten. In einem ihrer Briefe aus ein Arbeiter, der nicht nur ein «verhinderter Tierbefreiung ist Voraussetzung und Resultat dem Gefängnis, in denen sie ihre eigene Situa­ Kapitalist» sein wolle und dem es also ernst sei der Emanzipation des Menschen. Wenn sie kein tion mit jener eines Tiers im Käfig oder «eines mit dem Kampf gegen jede Ausbeutung, betei­ anderes Verhältnis zur unterdrückten Natur wilden Tieres im Zoo», vergleicht, schreibt sie: lige sich nicht an Tierausbeutung: «Entweder und zu den Tieren entwickeln, können die «Mein armer Büffel, mein armer, gelieb­ter man will gegen die Ausbeutung kämpfen, oder menschlichen Emanzipationsbewegungen nicht Bruder, wir stehen hier beide so ohn­mächtig man lässt es bleiben. Wer als Sozialist über diese zum Erfolg führen. und stumm und sind nur eins in Schmerz, in Forderungen lacht, der weiss nicht, was er tut. Nicht nur ist die Herrschaft des Menschen über Ohnmacht, in Sehnsucht.» Das Denken Rosa Der beweist, dass er nie im Ernst bedacht hat, den Menschen in vielfältiger Art und Weise mit Luxemburgs war bestimmt von einer grund­- was das Wort Sozialismus bedeutet.» Aber ge­ der Herrschaft über die Tiere verbunden, der sätzlichen Verbundenheit mit allen fühlenden nau das ist in der Linken immer noch Standard: gesamte kapitalistische Gesellschaftsbau grün­ Wesen; man kann von einem Soli­daritäts­ Die Forderung nach Tierbefreiung wird abge­ det auf ihrem Leiden. Entsprechend beschrieb konzept sprechen, für das Speziesgrenzen keine tan, nicht ernst genommen. Horkheimer diesen metaphorisch als ein Haus, Rolle spielen. «Sie wissen, ich fühle und leide dessen Dach eine Kathedrale und dessen Keller mit jeglicher Kreatur», schreibt sie in einem Befreiung radikal denken Sie gilt sogar, wie es ein Schlachthof sei. Dort befinde sich «die Tier­ Brief aus dem Gefängnis vom 7. Januar 1917; in der Dialektik der Aufklärung von Max Hork ­ hölle in der menschlichen Gesellschaft [...], der auf einer Versammlung sagte sie im Jahr da­ heimer und Theodor W. Adorno heisst, als Ab­- Schweiss, das Blut, die Verzweiflung der Tiere». rauf: «Jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie fall von der Kultur: Aufs Tier zu achten wird Soll der kapitalistische Wolkenkratzer gestürzt abgewischt werden konnte, ist eine Anklage.» als Verrat am Fortschritt angesehen. Der Kul­ und eine neue, befreite Gesellschaft aufgebaut Als den «wahren Odem» des Sozialismus be­ turprozess des Westens, der im Zuge der Euro­ werden, müssen wir ganz unten ansetzen – zeichnete sie «rücksichtsloseste revolutionäre päisierung der Erde hegemonial geworden ist, denn eine Zivilisation, deren Fundament sich Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit»: zeichnet sich geradezu durch die Unterdrü­ auf permanenter Unterdrückung und unvor­ Eine Welt müsse umgestürzt werden – doch wer ckung der inneren und äusseren Natur aus. stellbarem Leiden errichtet, hat kein Recht dabei «aus roher Unachtsamkeit einen Wurm Dass Naturunterdrückung ständig Herrschaft dazu, sich frei zu nennen. zertritt, begeht ein Verbrechen». Der israeli­ reproduziert, da verdrängte Triebimpulse auf sche linke Theoretiker Moshe Zuckermann Tiere und Menschen, die als Tiere oder als tier­ Matthias Rude ist Autor des Buches Antispe­ in­ter­pretiert das Denken und Handeln Rosa ähnlich verunglimpft werden, projiziert wer­ ziesismus der theorie.org-Reihe des Schmetter- Luxemburgs als visionären Kampf um Ver­ den, hat die Kritische Theorie im Anschluss an ling-Verlages, schreibt für das linke Magazin söhnung von Mensch und Natur. Empathie Freud gezeigt. «Ein neues Verhältnis zwischen Hintergrund und das marxistisch ausgerichtete und Leiderfahrung seien bei ihr ein zentrales Mensch und Natur – seiner eigenen und der äus­- Kulturmagazin Melodie & Rhythmus. 12 ― 13

Solidarität des Lebens Plädoyer für eine revolutionäre Moral

Der Mensch heute lebt im Bann einer «verkehrten Metaphysik». Nicht für begangene Grausamkeiten, sondern für die Weigerung mitzumachen, muss er sich rechtfertigen. Es ist höchste Zeit, sich des mimetischen Impulses, der uns innewohnt und unser Mitgefühl auslöst, bewusst zu werden. Ohne eine Moral, die das Leiden und Mitleiden beredt werden lässt, ist der Kampf für eine freie Gesellschaft nicht zu gewinnen.

in Hirschkälbchen verliert in einer in die Wassermassen, schwimmt zu dem Hirsch­- werden die beiden mit lautem Jubel von Men­ Sturmflut den Kontakt zu seiner Fami­ baby, packt es und geht unter. Nur die Hand, in schen aus der Umgebung empfangen. Der kleine lie. Es treibt hilflos in einem reissenden der er das paralysierte kleine Wesen hält, ragt Hirsch wird zurück zu seinen Eltern gebracht. Fluss und droht jeden Moment zu er­ noch aus den Fluten. Nach einiger Zeit taucht Ein Happy End wie aus einer Disney-Filmpro­ Etrinken. Belal beobachtet die sich anbahnende Belal wieder auf und kann sich und seinen duktion. Tiertragödie. Der Junge stürzt sich ohne Zögern Schütz­ling schliesslich ans Ufer retten. Dort Derartige Szenen (diese hat sich in Noakhali, im Südosten von Bangladesch, abgespielt) er­ scheinen vor dem Hintergrund des millionen­ fachen Gemetzels in den Schlachthöfen und Laboratorien, das im fortgeschrittenen Kapi­ talismus tagtäglich routinemässig vollzogen wird, nicht nur unwirklich – sie muten geradezu absurd an. Besonders an Orten, wo «die Leute» gewöhnlich «ganz andere Probleme» haben, als sich um Tiere zu sorgen, so das gängige Klischee über die BewohnerInnen der Armenhäuser die­ ser Welt. Doch Tag für Tag zeigen Menschen überall, bis hinein in die dunkelsten Winkel der Zivilisation, immer wieder spontan Mit­ gefühl gegenüber Tieren in Not und helfen ih­ nen – uneigennützig. Dieser Widerspruch zum rücksichtslosen Bestehenden verdient eine nä­ here Betrachtung

Der Krieg um das Mitleid In dem Aufsatz Das Tier, welch ein Wort! von Jacques Derrida finden sich einige bemerkenswerte Sätze: «Zwei Jahr­ hunderte, auf die ich mich beziehe, um vor ihrem Hintergrund unsere eigene Gegenwart zu situieren, sind zwei Jahrhunderte eines un­ gleichen Kampfes, eines Krieges, dessen Un­ gleichgewicht sich eines Tages verlagern könnte: zwischen jenen, die nicht nur bloss dem tieri­ schen Leben, sondern noch jenem Gefühl des Mitleides Gewalt antun, und jenen anderen, die sich auf das unwiderlegliche Zeugnis jenes Mitgefühls berufen. Es ist ein Krieg, der um das Mitleid entbrannt ist. Dieser Krieg hat ohne Zweifel kein Alter, aber, und so lautet meine Hypothese, er ist in eine kritische Phase einge­ treten und wir mit ihm.» Die von Derrida genannten «zwei Jahrhun­ derte» sind die Zeit, die Menschen und Tiere bereits unter der Knute des Kapitalismus leben und leiden. ApologetInnen der marxistischen Weltanschauung, der gemäss die Geschichte der Menschheit die Geschichte der Herrschaft des Menschen über den Menschen und perma­ nenter Klassenkämpfe ist, mag Derridas These ― 13

befremden. Betrachtet man aber die DNA des Mitleids, dann findet man einen historisch-ma­ terialistischen Wahrheitskern in seiner Aussage.

«Weh spricht: Vergeh!» Der Philosoph Mirko Wischke reflektiert im Rahmen seiner Überle­ gungen zu Theodor W. Adornos «Moral der Be­ troffenheit» in Anlehnung an ein Diktum des Kritischen Theoretikers eine «Solidarität mit den quälbaren Körpern», der ein «mimetischer Impuls» innewohne. Der mimetische Impuls ist ein Trieb, eine motorische Reaktionsform, die einem körperlichen Spannungszustand entstammt, also eine an das Leibliche rückge­ bundene Gefühlsmotivation. Er «wird in den Momenten sichtbar, in denen das Subjekt sich ‹in angstloser Passivität der eigenen Erfah­ Praktische Solidarität: AktivistInnen dringen zu einem Tiertransporter und versorgen die leidenden Tiere mit Wasser. rung anvertraut› [Adorno]: im solidarischen Mitgefühl, wie es etwa ein Kind beim Anblick des stummen Leidens von Tieren empfindet; des Menschen, der sich mit Hilfe seines Selbst­ Impuls nur schwer Entfaltung zu vernünftigen im einfühlenden Nachempfinden von Schmer­ behauptungstriebes von der Natur gelöst, sich sozialen und moralischen Verhaltensweisen, zen», so Wischke. ihr gegenüber behauptet, sie nach und nach sondern regressive Momente brechen sich Bahn: Der mimetische Impuls ist somit auch eine beherrscht, schliesslich vollständig unterjocht «Wer jemals eine nationalsozialistische Ver­ Keimform des Sozialen, der gegenseitigen Hilfe hat. Dafür musste er im Laufe der Evolution sei­ sammlung in Deutschland besucht hat», schrieb und der Fürsorge (u.a. der Brutpflege). Ohne das ne mimetischen Impulse, mit denen er sich der Max Horkheimer in seiner Kritik der instrumen­ gegenseitige Einfühlen und Nachahmen hätte Natur anschmiegt und sich ihr anpasst, brutal tellen Vernunft, «weiss, dass die Redner und die sich gesellschaftliche Arbeit, durch die der unterdrücken. Dieser Vorgang geschieht blind. Zuhörer ihr Hauptvergnügen daran hatten, ge­ Men­sch sich selbst erschafft und humanisiert, Dem Menschen ist er nicht bewusst. Er tut es sellschaftlich unterdrückte mimetische Triebe nicht entwickeln können. Der mimetische permanent und vergisst immer mehr, dass er zu betätigen, wenn auch nur, indem sie ‹rassi­ Impuls ist Bedingung der Möglichkeit einer selbst Natur und auch ein Tier ist. Dieser Vor­ sche Feinde› lächerlich machten und angriffen, noch in weiter Ferne liegenden Gesellschaft der gang ist nicht nur ein phylogenetischer. Er wie­ die angeklagt waren, in unverschämter Weise «Solidarität des Lebens überhaupt» (Max Hork­- derholt sich in der individuellen Entwicklung ihre eigenen mimetischen Gewohnheiten zur heimer). jedes Menschen. Schau zu stellen». Der Drang, Leiden zu beseitigen, ist bereits in In der Moderne findet der Selbsterhaltungstrieb Selbsterhaltungstrieb und mimetischer Impuls der Materie des quälbaren Körpers angelegt. seine gesellschaftliche Übersetzung in instru­ sind also dialektisch. Ihre Unterdrückung und «Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des mentelle Vernunft: Eine noch nicht zur Ver­ Leugnung halten die Hintertür zur Barbarei dialektischen Gedankens, sind die vielfach ver­ nunft gekommene Vernunft, deren einziger unweigerlich einen Spalt offen. Als bewusste mittelte, manchmal unkenntlich gewordene Betriebszweck Zweckerfüllung ist – ein Organ, und vom Subjekt eingedachte, nicht mehr blin­ Gestalt von Physischem», schrieb Adorno in das ausschliesslich auf Beherrschen und nicht de Naturmomente sind sie ein Treibstoff für Negative Dialektik. «Alles Geistige ist modifizier­ auf Verstehen programmiert ist, vorwiegend die Lokomotive der Geschichte. ter Impuls, und solche Modifikation der qua­ nur eine Ordnung der Dinge kennt und sie ideo­ litative Umschlag in das, was nicht bloss ist.» logisch als alle Vorgänge in Natur und Gesell­ Mitleid allein ist zu wenig Als Vorform der Jede Schmerzerfahrung «meldet der Erkennt­ schaft notwendig allein bestimmende begreift: Empathie, die sich in der Negativität von Herr ­ nis an, dass Leiden nicht sein, dass es anders Das Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens schaft, unter der die überwältigende Mehrheit werden solle. ‹Weh spricht: Vergeh!›» – sie ist oder des bellum omnium contra omnes (der Krieg der Menschen und die Tiere zu leiden haben, die Schnittstelle zwischen dem Materialisti­ aller gegen alle), der subkutane kategorische als Mitleid äussert, kann sich der mimetische schen und dem Kritischen, das nach einer an­ Imperativ des Kapitalismus. Impuls zum Antidot gegen Gewalt und Grau­ deren gesellschaftlichen Praxis verlangt. Aber nicht nur der Selbsterhaltungstrieb sinkt samkeit entwickeln. Der bedeutendste Mit­ immer wieder zurück in den Abgrund blinder leidsphilosoph Arthur Schopenhauer hat das Die Dialektik von mimetischem Impuls und Natur. Unter der Fuchtel einer im Widerspruch Mitleid als intuitive Erkenntnis fremden Lei­ Selbsterhaltungstrieb Dem mimetischen Im ­ zwischen Kapital und Arbeit verharrenden dens und höchste Form der Aufhebung der puls steht der Selbsterhaltungstrieb gegenüber. Ökonomie (die mit dem Neoliberalismus totali­ Trennung zwischen dem Ich und dem Anderen Dieser ist wie jener ein Naturmoment und un­ täre Züge annimmt und kein Aussen und kein definiert, die das Ego des blinden Selbsterhal­ abdingbare Voraussetzung für die Zivilisation Anderes mehr zulässt) erfährt der mimetische tungstriebs in die Schranken weisen. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Prinzipien­ philosophInnen, die unter Missachtung der hi­ erarchischen Klassenstruktur der Gesellschaft AUS MAX HORKHEIMER: MATERIALISMUS UND MORAL starre Regelwerke mit positiven Verhaltensnor­ men vorlegten, die für alle gleich gelten, obwohl «Die Solidarität der Menschen ist jedoch ein Teil seren Gaben des Menschen, vor allem die Ver­ nicht alle unter gleichen ökonomischen und so­ der Solidarität des Lebens überhaupt. Der Fort­ nunft, heben die Gemeinschaft, die er mit den zialen Bedingungen leben, bestimmte die Kriti­ schritt in der Verwirklichung jener wird auch den Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des sche Theorie moralisches Handeln nur negativ Sinn für diese stärken. Die Tiere bedürfen des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, als ein Handeln, das alles unterlässt, was Lei­ Menschen. Es ist die Ehre der Schopenhauer­ aber die Verwandtschaft seines Glücks und den – im Sinne von verhinderbarem Unrecht – schen Philosophie, dass sie die Einheit von uns Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar.» verursachen könnte. und ihnen ganz ins Licht gerückt hat. Die grös­ Mitleid allein verändert nichts. Nietzsche hatte nicht Unrecht, als er es als «Sklavenmoral» be­ 14 ― 15

Marktes» zementiert er die Klassenstruktur der Gesellschaft, segnet die Drangsalierungen der Lohnarbeit, die imperialistischen Kriege und Raub- und Plünderungsfeldzüge in den letzten natürlichen Lebensräumen. Vulgärdar­ winismus steckt in der Metapher von dem «Boot», das angeblich «voll» ist, mit der eine mörderische Realität gerechtfertigt wird, die jährlich Tausende im Mittelmeer ertrinken lässt. Er steckt in der Dämonisierung jeglichen Kollektivs und der Solidargemeinschaft, hinter der Lobpreisung des oftmals als «Individualis­ mus» verklärten Egoismus und der Verküm­ merung des Menschen zur Geldmonade.

Der Mensch, der wir sein könnten Im Bann dessen, was Friedrich Pollock «verkehrte Meta­ physik» nannte, die den kapitalistischen Ge­ sellschaftsbau wie ein Nebelschleier umwölkt und «voraussetzt, dass die bürgerliche Welt, in der jeder nur für sich sorgen kann, die natürli­ che ist, und dass deshalb jedes andere Verhalten einer Begründung bedarf», wird die Sorge um die Alten, Kranken und Schwachen als «falsche Sentimentalität» diskreditiert. Geradezu des TeilnehmerInnen einer Demonstration stürmen eine Versuchstierzucht und befreien einen Beagle. Hochverrats an der Zivilisation der verwalteten Welt wird angeklagt, wer Tieren, die in den Schlachtstrassen sogar noch in langen Schlan­ zeichnete, die das Elend nur verdoppelt und zahn­los. Die Klassenherrschaft, die das Lei­ gen anstehen müssen, um einen qualvollen Tod keinen aktiven und offensiven Widerstand leis­ den produziert, muss konsequent angegriffen zu bekommen, Mitgefühl entgegenbringt. «Es tet. Ausserdem kann Mitleid sehr ungerecht werden. Denn, wie Engels es formulierte, eine gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die sein, den UnterdrückerInnen und Ausbeute­ «über den Klassengegensätzen und über der Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu rInnen statt den Unterdrückten und Ausgebeu­ Erinnerung an sie stehende, wirklich mensch­ verbieten» (Adorno). Gleiches gilt für das Mit­ teten zukommen – vor allem in der modernen liche Moral wird erst möglich auf einer Gesell­ leid. Mediengesellschaft, in der die Armen, Schwa­ schaftsstufe, die den Klassengegensatz nicht Daher können die ProfiteurInnen der Unrechts­ chen und Geknechteten stets im Dunkeln und nur überwunden, sondern auch für die Praxis verhältnisse und deren verblendete Tellerle­ die Mächtigen, Reichen und Schönen stets im des Lebens vergessen hat». ckerInnen auch nur verächtlich mit dem Kopf Rampenlicht stehen. Der Kapitalismus hat mit schütteln über Belal – den «dummen Jungen» der Kulturindustrie eine ausgeklügelte Appara­ Die Diktatur des Vulgärdarwinismus Das Pro­- aus Bangladesch, der sogar sein eigenes Leben tur der Massenmanipulation hervorgebracht, b­lem heute – in blinder Naturbeherrschung sta­ einsetzte, um ein Hirschkälbchen aus den Flu­ die unsere Gefühle schamlos ausbeutet, unter g ­­­nierende und damit vorerst misslungene­­ vZi i ­ ten zu retten. All jene, die sich nicht in kaltem den herrschenden Bedingungen nicht ausleb­ lisation – ist, dass deren regressiven Momente Zynismus üben, noch nicht in der eigenen bür­ bare Liebe, Schmerz und Trauer der Menschen zur Ideologie erhoben werden und der «indi­ gerlichen Kälte erstarrt sind, aber auch nicht kanalisiert, ihnen beim verordneten Konsum viduelle Selbsterhaltungstrieb» als das «allein ausbrechen wollen, begnügen sich damit, das von standardisiertem Kitsch generös die Lizenz Entscheidende im Menschen» begriffen und «wundersame Kind» nicht ohne Sympathie zu zum Weinen gibt, aber ihr Elend und seine zur nahezu allein herrschenden Moral erhoben bestaunen; sie begegnen ihm wie der «dritten wahren Ursachen tröstend verhüllt. Niemand wird, wie der Ökonom und Kritische Theore­ Art» – dem ganz Anderen. Revolutionäre und wusste das besser als die Kritischen Theoreti­ tiker Friedrich Pollock beklagte. Die Gesell­ Revolutionärinnen hingegen fühlen sich ihm ker, die nicht Marxisten gewesen wären, wenn schaft im fortgeschrittenen Kapitalismus hat verbunden. Sie begreifen den Impuls, dem er sie sich blind einer Haltung anvertrauen hät­ sich offenbar so weit von der Agenda der Eman­ folgte, als emotionalen Zündstoff für die Spren­- ten, die von inhumanen Verhältnissen gezei­ zipation und Aufklärung entfernt, «dass man gung des Klassengesellschaftsbaus, verknüpfen tigt wird. Das Mitleid «bestätigt die Regel der für das eigentlich Menschliche, das heisst, alles, ihn mit antikapitalistischer Politik auf Basis Unmenschlichkeit durch die Ausnahme, die es was sich erst unter besseren Bedingungen ent­ des Historischen Materialismus und lassen sie praktiziert» (Adorno) . Der Marxismus aber zielt wickeln kann», einer Begründung und Recht­ in einer Solidarität mit den quälbaren Körpern auf Verhältnisse, die kein gesellschaftliches Un­- fertigung bedarf. wirkmächtig werden. Sie wissen, Belal ist we­ recht produzieren, das Mitleid erfordert. Das moralische (Mit-)Gefühl wird anästhe­- sentlich einfach nur der Mensch, der wir alle Die Entfaltung einer wahrhaft revolutionären s ­i e r t und kaum mehr in Solidarität übersetzt. sein könnten in einer Gesellschaft, deren Er­ Moral, die dem mimetischen Impuls entspringt, Her­ausgebildet hat sich ein omnipräsenter Vul­ schaffung wir nicht mehr aufschieben dürfen. uns zum Mitleid mit denen bewegt, die Leiden gär­­darwinismus, der uns die Regeln des Zu­ Derrida hatte recht: Der Krieg um das Mitleid ausgesetzt sind, und uns antreibt, das Leiden zu sammenlebens diktiert. Er strebt nach der Ver­ ist in eine kritische Phase eingetreten und wir beseitigen, muss ebenso mit einer fundamen­ abschiedung von jeder Hoffnung auf eine freie mit ihm. talen Gesellschafts- und Ideologiekritik wie Vernunft und nach vollständiger Anpassung mit dem Aufbau politische Schlagkraft entwi- an das, was die instrumentelle Vernunft als Susann Witt-Stahl ist freie Journalistin und ckelnder Organisationsstrukturen einherge­ «natürliche Hierarchie» anerkennt (ein System, Autorin. Sie berichtet für Tageszeitungen und hen. Ohne das Korsett kritischer Theorie bleibt dessen Prinzipien sich nicht selten zum Fa­ Magazine u.a. über internationale Krisen, das Mitgefühl halt- und richtungslos – ohne schismus verdichten). Camoufliert mit dem Be­ beispielsweise aus dem Nahen Osten und der wirksame widerständische Praxis bleibt es griff der «freien Konkurrenz» und des «freien Ukraine. ― 15

VON PFLANZEN, TIEREN UND SENTIMENTALITÄT

Nietzsche fragt: «Giebt es etwas Ekelhafteres, als man die Kreatur gequält hat (bzw. – wie der Philosoph die Sentimentalität gegen Pflanzen und Thiere, Nietzsche – das Mit­leid mit der gequälten Kreatur von Seiten eines Geschöpfes, das wie der wüthends­te eliminiert wissen wollte). In der Sentimentalität wie Feind von Anbeginn unter ihnen gehaust hat und auch im Weinen angesichts erfahrenen Leids kodiert zuletzt bei seinen geschwächten und verstümmelten sich performativ jenes Verlangen nach der Wieder­ Opfern gar noch auf zärtliche Gefühle Anspruch gutmachung dessen, was nicht mehr wiedergutge- erhebt!» Nietzsches Frage ist mehrdimensioniert. macht werden kann. Man bereut – moralisch, schluch- Die sich aufdrängende Antwort ist, dass es in zend oder eben senti­­ ­mental – das, woran man, der menschlichen Gesellschaft durchaus mehr als gesamtzivilisatorisch betrachtet, unwiderruflich teilge-­ genug Erscheinungen gibt, die ekelhafter sind habt hat. Aber es lässt­ sich eben nicht eliminieren, als das, worauf sich Nietzsche bezieht. Nicht eindeutig was nun einmal stattgefunden hat. Das ist es ja, was ist indes, ob besagte Erscheinungen nicht eng, das Entsetzen auf dem Gesicht von Walter Benjamins wenn auch indirekt, mit dem zusammenhängen, Engel der Geschichte auslöst: Er weiss um die fort­- worauf Nietzsches Frage zielt. Man bedenke, dass währ­ende Katastrophe der Zivilisationsgeschichte, Horkheimers und Adornos These über die sich möchte die in ihr angehäuften Trümmer zusammen­ durch die gesamte menschliche Zivilisation ziehen­de fügen, kann es aber nicht mehr. Nur die Erinnerung Dialektik der Aufklärung in der Annahme eines dessen, was geschehen ist, nur das Nichtver­ges­sen inneren Zusammenhangs zwischen der äusseren ist ihm geblieben. Und selbst das ist durch Zeit­ Naturbeherrschung durch den Menschen und abstand und räumliche Distanz bedroht. der Beherrschung seiner inneren Natur wie der des Und doch: Der Anspruch «auf zärtliche Gefühle», den Menschen durch den Menschen fusst. Nicht aus­ Nietzsche angewidert abfertigt, wie denn komple- geschlossen, dass Nietzsche – der bekan­ntlich die mentär dazu die sehnsüchtige Bestrebung, dass «Verhaustierung» des Menschen verabscheute – Verbrochenes wiedergutgemacht werde, birgt in sich auf einen ähnlichen menschlichen Zu­sammenhang auch die wie immer fahle Hoffnung, dasssich der­einst verwies, als er von «Pflanzen undThieren» sprach. alles wenden und die «Sentimen­talität gegen Andererseits – wer weiss: Es war ein ge­schla­­genes Pflanzen und Thiere» verüberflüssigt haben werde. Pferd, das ihn – am Beginn seiner tragischen Reise in den Wahnsinn – veranlas­ste, in hemm­ungs­ Moshe Zuckermann ist Soziologe und loses Weinen auszubrechen und voller Erbarmen Professor für Ge­schichte und Philosophie an der das gequälte Tier zu umarmen. Universität Tel Aviv. Zuletzt erschien von ihm das Buch Israels Schicksal. Wie der Zionismus Aber vielleicht ist es gerade die Tatsache, dass man seinen Untergang betreibt. «wie der wüthendste Feind von Anbeginn unter ihnen gehaust hat», die bewirkt, dass man jene Sen­timentalität an den Tag legt, vor der Nietzsche seinen Abscheu empfand. Denn in der Sentimen­talität widerspiegelt sich ja auch das schlechte Ge­wissen darüber, dass

Nietzsches Pferd aus Béla Tarrs meisterlichem Film «A torinói ló». 16 ― 17

Das Schlachthaus Europas

Die ökonomische Struktur der deutschen Fleischindustrie und die Strategien der Fleisch-KapitalistInnen bestimmen die Ausbeutung der Tiere in der gesamten Europäischen Union.

ie deutsche Fleischindustrie ist das 125 von ihnen werden Tiere mit Ausnahme von ermordeten Rindern rangieren die deutschen Herz der Tierausbeutungsindustrie in Geflügel geschlachtet. 39 sind in der Geflügel­ RindfleischproduzentInnen hinter der franzö­ der Bundesrepublik Deutschland (BRD) fleischproduktion aktiv und 386 zählen zur sischen Konkurrenz auf Platz zwei. Im dritten und der Europäischen Union (EU). Die fleischverarbeitenden Industrie. grossen Sektor der Fleischerzeugung, der Ge­ DEigentümerInnen der Schlachthöfe und Fleisch­ Diese Unternehmen bilden den Kern der Tier­ flügelfleischproduktion, liegen die deutschen verarbeitungsunternehmen sowie ihre Vasal­ ausbeutungsindustrie in der BRD. Sie liefern Konzerne gleichauf mit den britischen und lInnen in den Führungsetagen von Konzernen die Waren für die Weiterverarbeitung und den hinter den französischen auf Platz zwei in der wie Tönnies, Vion, Westfleisch und PHW sind die Handel mit Tierwaren, bilden die Vorausset­ EU. Jährlich werden allein in der BRD über grös­s­ten Triebkräfte hinter der Tötung von jähr­ zung für den gewinnbringenden Betrieb von 700 Millionen Hühner, Enten, Gänse usw. um lich hunderten Millionen Lebewesen. Kapitalis­ Mastanlagen sowie die Produktion von Futter­- ihr Leben gebracht. Deutschland ist also, wie tIn­nen wie Clemens Tönnies, Michiel Herkemij, mitteln und sie mindern die Produktionskos­ der Journalist Johannes Schulten prononciert Carsten Schruck oder Paul-Heinz Wesjohann ten z. B. für die Milch- und Eierindustrie. Zu­ schrieb, «der Schlachthof Europas». verdienen damit Jahr für Jahr Milliarden. dem sind die Gewinnmargen in der Fleischin­ Die enorm gewachsenen Gewinne der deutschen dustrie höher als in allen anderen Bereichen, in Kapital und Arbeit in der Fleischindustrie – Fleischindustrie in den letzten 15 Jahren grün­ denen mit Tieren Geschäfte gemacht werden. neoliberaler Kapitalismus pur In der deutschen den nicht nur darauf, dass Schweine, Rinder, Sie ist laut der jüngsten statistischen Erhebung Fleischindustrie sind im europaweiten Vergleich Hühner usw. dem schnöden Mammon ge­opfert der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsin­ die meisten ArbeiterInnen beschäftigt. Ge­ werden. Sie sind insbesondere das Resultat eines dustrie (BVE) mit einem Anteil von 23,3 Prozent mäss den Angaben des Statistischen Bundesamts strategischen Projekts, mit dem die Fleisch- des jährlichen Gesamtumsatzes (2013) die (SBA) arbeiteten im Jahr 2013 in den genannten BaronInnen die Struktur ihrer Industrie trans­ grösste Branche des insgesamt viertgrössten 550 Betrieben 82 440 KollegInnen, Tendenz formiert haben. Dessen Eckpfeiler sind die Zweigs des Industriekapitals, der Ernährungs­ leicht sinkend. Die Umsätze stiegen zwischen Neo­­liberalisierung der Beziehungen zwischen industrie, in der Bundesrepublik. Mit knapp den Jahren 2000 und 2013 um fast 100 Prozent, Lohnarbeit und Kapital im Betrieb, die Expo­rt- 40 Milliarden Euro erreichte sie im Jahr 2013 während die Anzahl der Beschäftigten bestän­ orientierung der Produktion und die Oligopo­ einem neuen Rekordumsatz. dig zurückging. Die Daten des SBA sowie die lisierung des Fleischmarkts sowie die Einbin­ Die Schweinefleischproduktion ist die ökono­ Geschäftsberichte der führenden Unternehmen dung des deutschen Staates zur Exportförde­ misch profitträchtigste der drei grossen Bran­ ergeben zweifellos, dass die Produktivität der rung. Mit dieser strategischen Ausrichtung chen, während die Rindfleisch- und Geflügel­ Fleischproduktion in den vergangenen zehn trotzt der Teil des deutschen Industriekapitals, produktion nahezu gleich auf sind. Gleichzeitig Jahren enorm gestiegen und die Lohnquote der mit der Schlachtung und Verarbeitung von wird quantitativ am meisten Schweinefleisch gleichzeitig gefallen ist. Tieren seinen Reibach macht, sogar erfolgreich pro­duziert. Die deutschen Unternehmen Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, der seit Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise. schlachteten 2013 über 60 Millionen Schweine dass das industrielle Kapital in der deutschen und sind da­mit die führenden Schweinefleisch­ Fleischindustrie be­sonders vom Neoliberalisie­ Die deutsche Fleischindustrie In Deutschland hersteller Europas. Weltweit werden sie nur rungsschub der rot-grünen Bundesregierung existieren in der Fleischindustrie 550 Betriebe von ihren Pendants in China und den USA in und der Regierungen in der Europäischen Union mit jeweils min­destens 50 ArbeiterInnen. In den Schatten gestellt. Mit über 3,5 Millionen profitiert hat. Im Zuge der Deregulierung und ― 17

Flexi­bilisierung der Arbeitsverhältnisse haben Exportgetriebene Akkumulation Bis zur Jahr­ Landwirtschaft­ und Verbraucherschutz (BMELV), die Fleisch-MagnatInnen die Beziehungen in tausendwende haben in der BRD die Fleischwa­ gegenwärtig Bundesminister für wirtschaft­ den Betrieben nachhaltig umstrukturiert: ren-Importe die Exporte deutlich überschrit­ liche Zusammenarbeit und Entwicklung und Laut einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans- ten. Aber seitdem hat sich das Verhältnis von seit 1994 Bundestagsabgeordneter für die bayri­ Böckler-Stiftung (HBS) sind insbesondere seit Import und Export um 180 Grad gedreht. Spä­ sche CSU, trägt die deutsche Fleischwirtschaft Anfang des neuen Jahrhunderts die Stamm­be­ testens mit der Sättigung des Fleisch- und Ge­ damit «in nicht un­erheblichem Umfang zum l e g s c h a f ­ten durch NiedriglöhnerInnen er­s e t­­z t flügelmarktes im Jahr 2005 hat sich der Export Exporterfolg der deutschen Wirtschaft insge­ worden. Die Fleisch-Bosse beschäftigen seitdem zum wesentlichen Wachstumsmotor insbeson­ samt bei». grösstenteils Leih- und WerksarbeiterInnen, die dere der grossen Fleischkonzerne entwickelt. In Deutschland produziertes Fleisch wird in häufig aus Osteuropa stammen und in der BRD Zwar produziert die deutsche Fleischindustrie über 100 Länder geliefert. Den bedeutendsten zu Hungerlöhnen zwischen drei und fünf Euro noch für den nationalen Markt und die Basis Absatzmarkt bilden die Mitgliedsstaaten der pro Stunde schuften. Zugleich halten sie sich für ihrer Profite liegt im Inland. Die Wachstums- EU, in die über 80 Prozent der Fleischexporte qualifizierte Tätigkeiten nur noch eine kleine und entsprechend die neuen Gewinnpotentiale ausgeführt werden. Der wichtigste Markt aus­ Stammbelegschaft. Die zuständige Gewerkschaft werden aber im Ausland verortet. Im letzten serhalb der EU ist bislang der russische. Von Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) schreibt in Agrarpolitischen Bericht der Bundesregierung aus hervorgehobener Bedeutung für die zukünfti­ ihrem Branchenbericht 2011, dass nach ihren eige­ dem Jahr 2011 heisst es z. B., dass mit der Markt­ ge Ausdehnung der Ausfuhren ist die Öffnung nen Schätzungen bei Tönnies zehn, bei Vion 50 sättigung im Inland «auch die Bedeutung aus­ diverser asiatischer Märkte. Es zeichnet sich und bei Westfleisch wiederum nur zehn Prozent ländischer Märkte für deutsche Erzeuger und bereits jetzt ab, dass in den nächsten Jahren all­ der Beschäftigten einen festen Arbeitsplatz die Notwendigkeit von Exporten zugenom­ mählich relativ mehr in Drittstaaten und weni­ haben. Genaue Angaben lägen nicht vor, weil men» habe. ger in die EU ausgeführt werden wird. die Firmenleitungen diese geheim hielten. Der Der Branchenprimus, die Tönnies-Gruppe, er­ weitaus grösste Teil der KollegInnen in den Be­ wirtschaftete im Jahr 2013 beispielsweise be­ Die Herrschaft des Oligopols Dem fakten­ trieben ist nicht sozialversicherungspflichtig reits 55 Prozent seiner Umsätze durch den Flei­ reichen alljährlichen Ranking der allgemeinen beschäftigt und hat nahezu keine klassischen schexport in andere Staaten. Bei Vion sind es fleischer zeitung ist zu entnehmen, dass einige ArbeiterInnenrechte mehr, wie die Beispiele der 32 und bei Westfleisch 42 Prozent, Tendenz stei­ wenige Konzerne die gesamte Fleischproduk­- drei führenden Konzerne anschaulich belegen. gend. Neben den dänischen Unternehmen sind tion und den Markt für Fleischwaren in der Da die ArbeiterInnenschaft in den Betrieben die deutschen die führenden Exporteure von Bundesrepublik dominieren. Die Schweine­ der Fleischindustrie intern entsprechend in ver­- Schweinefleisch in der EU. Insgesamt beträgt fleischproduktion wird bestimmt von drei schie­dene Gruppen hoch fragmentiert ist, kön­ der Anteil von Schweinefleisch zwei Drittel der grossen Unternehmen, von denen die Tönnies- nen die Firmenchefs die KollegInnen leichter Exporte. Rind- und Geflügelfleisch belaufen Gruppe mit deutlichem Abstand an erste Stelle gegeneinander ausspielen, während es diesen sich auf jeweils ein Sechstel der Fleischwaren, steht. Die drei Marktführer Tönnies, Vion und kaum gelingt, sich kollektiv entlang ihrer ge­ die Deutschland verlassen. Westfleisch haben zusammen einen Marktan­ meinsamen Interessen zu organisieren. Die NGG Fleischwaren im Wert von 9 Milliarden Euro teil von über 55 Prozent. Vion ist zugleich mit macht nur ungenaue Angaben dazu, wie viele bilden unter den Agrarexporten laut der Bun­ Abs­tand der grösste Rinderfleischhersteller, KollegInnen in der Fleischindustrie überhaupt desregierung mit einem Anteil von 14,9 Prozent gefolgt von Tönnies und Westfleisch. In der Ge­ Gewerkschaftsmitglieder sind. Die AutorInnen die grösste Teilmenge. Die deutschen Fleisch- flügelproduktion hat die PHW-Gruppe de facto der HBS-Studie hingegen konstatieren, dass Exporte sind allein zwischen 2005 und 2010 ein Monopol inne. «der Anteil gewerkschaftlich organisierter Be­ um 60 Prozent angestiegen. Knapp 25 Prozent Insgesamt sind die Top 10 der Fleischindustrie schäftigter relativ gering ist». Darüber hinaus der ge­sam­ten Fleischproduktion in der BRD ist nicht nur schneller als der Durchschnitt der besitzen überhaupt nur rund 30 Prozent der für den Export bestimmt. Die Fleischausfuhren Unternehmen gewachsen. Zwischen 2004 und Betriebe in der Fleischindustrie eine Tarifbin­ machen immerhin knapp 1 Prozent aller deut­ 2011 konnten sie ihren Marktanteil sogar um dung. Die restlichen 70 Prozent müssten sich schen Exporte aus. Laut Gerd Müller, von 2005 16 Prozentpunkte von 59 auf 75 Prozent aus­ also gar nicht an Tarifverträge halten, selbst bis 2013 Parlamentarischer Staatssekretär im dehnen. Allein die drei führenden Unternehmen wenn welche abgeschlossen würden. damaligen Bundesministerium für Er­näh­rung, haben ihren Marktanteil im gleichen Zeitraum von 43 auf 54 Prozent ausgeweitet. Dabei set­ zen Tönnies und Westfleisch auf Ausdehnung der Produktion und die Übernahme anderer Unter­ nehmen, während Vion versucht, der Kon ­kur- ­renz dadurch zu trotzen, dass es alle Teile des Unternehmens verkauft, die nicht zum Kern- bereich zählen. Die Gewerkschaft NGG, W i s­s e n ­ schaftlerInnen,­ FabrikantInnen und Unter­ nehmer­ver­bän­de sowie die Fachpresse stimmen darin überein, dass sich der Konzentrations- und Zentralisa­tionsprozess der vergangenen Jahre weiter fortsetzen wird. Aus Umfragen geht hervor, dass vor allem die führenden Un­ ternehmen weitere Investitionen in die Aus­ weitung der Produk­tion und in die Übernahme anderer Firmen planen. Ferner nehmen Vertre­ terInnen des Mittelstands an, dass die Zahl der mittelständischen Betriebe weiter abnimmt.

Der willige Helfer – der deutsche Staat Das deutsche Kapital in der Fleischindustrie ist kei­ neswegs nur auf sich selbst angewiesen. Wie zahlreiche Anfragen im Deutschen Bundestag 18 ― 19

sowie Berichte der Bundesregierung unter­ mauern, geht der deutsche Staat dem Kapital Ein tierisches Geschäft zur Hand. Kaum überraschend sticht das Bun­ desministerium für Landwirtschaft und Ernährung (BMLE; früher BMLEV) als besonders aktiver Die Schweizer Staatsapparat hervor. Der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär im BMLEV, Gerd Müller, sagte beim Eröffnungs­ empfang der Jahrestagung 2012 des Fleischindustrie Verbands der Fleischwirtschaft (VFD) und des Bundesverbands der Deutschen Fleisch­warenindustrie (BVDF) frank und frei, auf welche Arbeit sich das Ministeri­ Die Schweizer Fleischindustrie besitzt zwar nicht dieselbe internationale um konzentriert: Zum einen kümmerten sich Relevanz wie ihr deutsches, brasilianisches oder nordamerikanisches die BeamtInnen «um die Überwindung soge­ nannter nichttarifärer Handelshemmnisse im Pendant. Den heimischen Markt dominiert sie dennoch. 80 Prozent des in phyt­osanitären oder veterinärrechtlichen Be­ der Schweiz verkauften Fleisches stammen aus der hiesigen Produktion reich». Zum anderen «fördert das BMELV aktiv von Unternehmen wie Coop und Migros. Sie machen damit ein Milliarden­ die Exportanstrengungen der Wirtschaft». geschäft auf dem Buckel schlecht bezahlter LohnarbeiterInnen und mit Im Rahmen von Projekten finanziert das BMLE z. B. Massnahmen zur Beobachtung der Me­ dem Tod von Millionen von Tieren. dienlandschaft in Staaten, die als potentiel­ le Absatzmärkte gelten, oder Initiativen zur Werbung und Kontaktaufnahme so­wie zur ie Produktion und Verarbeitung von mindestens 50 Angestellten. 14 dieser Betriebe Erkundung und Öffnung von Märkten, etwa Fleisch ist mit einem Umsatzanteil schlachten Tiere mit Ausnahme von Geflügel, in Form bilateraler Veterinärabkommen. Es von mehr als 15 Pro­zent am Total der drei schlachten Geflügel und 29 sind in der Ver­ gelang beispielsweise, die Märkte Japans, Süd­ Schweizer Nahrungsmittel­industrie arbeitung von Fleisch tätig. Proviande schreibt, koreas und Chinas für deutsche Fleischexporte Deine ihrer stärksten Subbranchen. Pro Jahr dass die 15 grössten Schlachtbetriebe der zu öffnen. Die unterschiedlichen Anstreng­ werden in der Schweiz insgesamt ca. 9,7 Mrd. Schweiz im Moment rund 80 Prozent der ge­ ungen werden gebündelt auch von der «ge­ Franken mit Fleisch und Fleischwaren umge­ samten Fleischmenge herstellen. meinsam getragenen Exportförderungsorga­ setzt, wie der Direktor des Schweizer Fleisch Fach­ n­isation der deutschen Fleischwirtschaft», der verbandes (SFF), Ruedi Hadorn, im März 2014 in Detailhandelsriesen Coop und Migros domi­ German Meat GmbH, geleistet, in der «sich Unter­ der deutschen Fachzeitschrift Fleischwirtschaft nieren Der führende Fleischproduzent und nehmen und Organisationen aus allen Stufen schrieb. Gemäss der Branchenorganisation Pro­ -ver­arbeiter der Schweiz ist die Bell AG, die zu der Fleischverarbeitung zusammengeschlos­ viande – der Organisation von Produzenten, zwei Dritteln der Coop-Gruppe gehört. Bell sen» haben. Gefördert wird der Zusammen­ Verarbeitern und Handel – wurden 2012 in der beschäftigte 2013 in der Schweiz und der EU schluss – vom BMLE. Schweiz fast eine halbe Million Tonnen Fleisch 6606 Menschen und machte 2,62 Mrd. Franken produziert, davon stammte über die Hälfte von Umsatz. Zusammen mit der Micarna SA, einem Das Schlachten beenden? P r o g r e s ­s i v e B e w e­ Schweinen. Mehr als 62 Mio. tierische Indivi­ Unternehmen der Migros-Gruppe mit 2510 Mit­- gungen, die Mensch und Tier vor Ausbeutung duen (inklusive Geflügel) müssen jährlich für arbeiterInnen und einem Umsatz von 1,34 Mrd. und Gewalt schützen wollen, müssen sich un­ die Fleischproduktion ihr Leben lassen. Franken, erzielt sie laut Proviande rund 50 Pro­ weigerlich der unheimlich-systematischen po­li­ In der gesamten fleischverarbeitenden Bran­- zent Marktanteil. Der drittgrösste Betrieb, die tischen Ökonomie des Fleisch-Kapitals stellen. che arbeiten nach Angaben von Proviande ca. Sutter AG, die zur landwirtschaftlichen Genos­ Es geht kein Weg daran vorbei, den Herkemijs, 23 000 Personen. Laut der Betriebszählung 2012 senschaft Fenaco gehört, verarbeitete 2013 nach Westjohanns und Co den wirtschaftlichen Zweck des Bundesamts für Statistik gibt es 564 schlach ­ eigenen Angaben 14 Prozent des Schweizer des Schlachtens zu nehmen, um es zu beenden. tende und fleischverarbeitende Betriebe. Rund Fleisches. Über 70 Prozent der Geflügelschlach­ zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten für die tungen gehen aufs Konto von Micarna und Bell, Christian Stache 46 mittleren und grösseren Betriebe mit jeweils bei den restlichen Schlachttieren sind es etwa

NAMING NAMES: WER PROFITIERT VON DER AUSBEUTUNG DER TIERE?

Joesley Mendonça Batista Gregory R. Page Clemens Tönnies JBS S.A. Cargill Tönnies Fleischwerk Weltgrösste Schlachtkapazität 22 % Marktanteil bei Fleisch­ Branchenführer in Deutschland Umsatz : 38,7 Milliarden Dollar produkten in den USA Umsatz: 4,6 Milliarden Euro Umsatz: 32,5 Milliarden Dollar

Donnie Smith Michiel Herkemij Lorenz Wyss Tyson Foods inc. Vion Bell Weltgrösster Fleischhersteller Grösster Schweinefleisch­ Marktführender Fleischpro­ Umsatz : 33,3 Milliarden Dollar verarbeiter Europas duzent in der Schweiz Umsatz: 13,3 Milliarden Dollar Umsatz: 2,6 Milliarden Franken

Quelle: Fleischatlas 2014 der Heinrich Böll Stiftung. Die Umsatzzahlen beziehen sich auf die Lebensmittelumsätze der Konzerne. ― 19

50 Prozent. Aufgrund ihrer grossen Markt­ macht standen die zwei Unternehmen schon verschiedentlich im Fokus der Wettbewerbs­ kommission. Die beiden grossen Detailhändler Migros und Coop, die bekannt sind für Firmenübernahmen, verdanken ihre dominante Marktstellung zu einem grossen Teil der Strategie der vertikalen Integration. Sie versuchen nicht nur den Ver­ kauf, sondern auch die Produktion der zu ver­- kaufenden Güter zu kontrollieren. Im Bereich Fleisch haben sie dazu eigene Produktionsbe­ triebe gegründet, vormals öffentliche Schlacht­ höfe übernommen und konkurrierende Firmen und deren Produktionsstätten aufgekauft. Im Bereich Geflügel vollziehen sowohlBell als auch Micarna heute die gesamte Wertschöpfung «vom Ei bis zum Teller», wie es in der Unternehmens­ broschüre von Micarna heisst.

Zunehmende internationale Ausrichtung Rund 20 Prozent des in der Schweiz konsumier­ ten Fleisches werden importiert. Über die Hälfte davon ist Geflügelfleisch, das in erster Linie aus Brasilien und Deutschland stammt. Insgesamt kommen ca. 30 Prozent der Schweizer Fleisch­- importe­ aus Deutschland. Noch ist der Schweizer Fleischmarkt stark protektioniert, z.B. durch Importkontingente. Seit längerem gibt es aber Bestrebungen, ein bilaterales Freihandelsab­ kommen im Agrar- und Lebensmittelbereich mit der EU auszuhandeln. Nach Aussage des SFF Viele ungelernte und ausländische Arbei­ Arbeitenden in der Fleischbranche einen aus­ werden diese Bemühungen durch die Annah­ terInnen Das Lohnniveau in der Schweizer ländischen Pass besitzen. Von ihnen sind rund me der «Masseneinwanderungsinitiative» 2014 Fleischbranche ist, analog zu anderen Branchen, 40 Prozent unqualifiziert. bis auf weiteres blockiert. Dafür konnte im Juli höher als in den umliegenden Ländern. Der 2013 ein Freihandelsabkommen mit der Volks­- Grossteil der Arbeitsverhältnisse ist durch Ge­ Fleisch-Kampagne wird vom Bund mitfinan­ republik China für Trockenfleisch und Schlacht- samtarbeitsverträge (GAV) geschützt. Zum einen ziert Der Schweizer Staat unterstützte laut dem nebenprodukte abgeschlossen werden. gibt es den für die ganze Schweiz verbindlichen Agrarbericht 2013 die Viehwirtschaft im Jahr 2012 Wie der Direktor des SFF in der Fleischwirtschaft GAV für das Metzgereigewerbe, der durch die Ver­ mit insgesamt 90,8 Mio. Franken. An Proviande, ausführt, sind die Schweizer Produktionskos­ tragspartner SFF, dem Arbeitgeberverband der die im Auftrag des Bundes Vollzugsaufgaben ten in der Fleischindustrie im Vergleich zu den fleischverarbeitenden Branche, und Metzgerei­ auf dem Schlachtvieh- und Fleischmarkt aus­ Nachbarländern aufgrund hoher Rohmaterial-, personalverband (MPV), ausgehandelt wird. Zum führt, wurden 6,5 Mio. Franken aus­bezahlt. Arbeits- und Regulierungskosten fast doppelt anderen werden, ebenfalls durch den MPV, GAV Da­runter fällt auch die Absatzförderung von so hoch. Darum werden nur rund drei Prozent mit einzelnen Unternehmen abgeschlossen. Fleischprodukten durch Marketing- und Kom­ des hier produzierten Fleisches exportiert, Solche existieren auch für Bell und Micarna. Zu­ munika­tionsmassnahmen, wie z.B. die Werbe­ hauptsächlich in Form von Bündnerfleisch, dem werden LeiharbeiterInnen durch den GAV kampagne «Schweizer Fleisch – alles andere ist einer Schweizer Trockenfleischspezialität. Die Personalverleih geschützt. In den Betriebsverträ­ Beilage». Schweizer Fleischindustrie ist also im Ausland gen der Grossverteiler ist 2014 ein Mindestlohn wegen der hohen Preise nur sehr bedingt kon­ für ungelerntes Personal von 3800 Franken im Internationale Entwicklungen im Kleinen Die kurrenzfähig. Da der Schweizer Fleischmarkt Monat festgelegt – ein niedriger Lohn für internationale und europäische Entwicklung aber seit Jahren gesättigt ist, ist die internati­ Schwei­zer Verhältnisse. Im allgemeinen GAV der Fleischindustrie (siehe Artikel auf Seite 16), onale Orientierung für das weitere Wachstum gibt es gar keine Mindestlöhne für ungelernte zeigt sich auch in der Schweiz – nur im Klei­ der Unternehmen zentral. Bell hat deshalb in ArbeitnehmerInnen. nen. In den Schlachtstrassen und an den Fliess­ den letzten Jahren in Europa kräftig Unterneh­ Gemäss Auskunft des MPV sind ca. 60 Prozent bändern der Alpenrepublik arbeiten zu einem men eingekauft, wie zum Beispiel den Schin­ der ArbeiterInnen in der Schweizer Fleischin­ grossen Teil LohnarbeiterInnen aus dem Aus­ kenhersteller Abraham, mit dem Bell im Bereich dustrie ungelernt. Die Branche klagt seit Jahren land zu niedrigen Löhnen. Die Marktmacht in Rohschinken in Deutschland Marktführerin über einen Mangel an gut ausgebildeten Fach­- der hiesigen Fleischindustrie konzetriert sich ist. Unterdessen arbeiten fast die Hälfte aller kräften, der durch den Zuzug von auslän­- auf immer weniger und gleichzeitig grössere Bell-Angestellten in der EU. Noch beschränkt d­ischen Fachkräften aufgefangen werden soll. Unternehmen, denen der Staat trotz riesiger sich das Unternehmen im Ausland auf die Wei­ Der Anteil ausländischer Arbeitskräfte in der Gewinne sogar noch finanziell und politisch terverarbeitung von Fleischprodukten. Aller­ Schweizer Fleischindustrie ist schon seit dem unter die Arme greift. Möglicherweise liegt in dings sprach CEO Lorenz Wyss 2012 in Finanz Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit hoch und dieser relativ einheitlichen globalen Entwick­ und Wirtschaft über Pläne, auch im Ausland hat den Zahlen des BFS zufolge stetig zugenom­ lung der Fleischindustrie aber auch ein Ansatz­ einen Schlachtbetrieb zu kaufen, um nicht men. Im Zusammenhang mit der «Massen­ punkt für eine kollektive Praxis des Protests von den wenigen existierenden Betrieben ab­ einwanderungsinitiative» führte der SFF eine und Widerstands. hängig zu sein. Erhebung bei den grössten Fleischverarbeitern durch, die gezeigt hat, dass rund 60 Prozent der Tierrechtsgruppe Zürich

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Vegan for Profit

Über «LOHAS-People» und grüne Wachstumsmärkte, Life­style-VeganerInnen und «radikale Bekehrer» – und warum Tierrechtsbewegte sich fragen sollten, wie der Kapitalismus eigentlich funktioniert.

er sich noch vor zehn Jahren für eine diversen Lebensmittelskandale und kriti­schen Geschäftsführer der veganen Supermarktkette vegane Lebensweise entschloss, Berichte über die industrielle Fleischpro­duk­ , in seinem Buch Vegan für alle. Der ehema­ dem waren Spott und Argwohn tion suchen Teile der Gesellschaft nach alter­ lige Mercedes-Manager, der nach einem Burn- sicher. VeganerInnen galten als zart nativen und nachhaltigen Lebensweisen, die Out sein Leben umkrempelte und Veganer Wbesaitete Naivlinge, penetrante Müsli-Moralis­ sie in ihren konkreten Alltag übersetzen kön­ wurde, präsentiert sich darin als geläuterter tInnen, VerzichtsethikerInnen und quengelige nen. Die Öffentlichkeit wird empfänglicher für Öko-Unternehmer, der den Kapitalismus jetzt KostverächterInnen, die einem den Einkauf und die moralischen, ökologischen und sozialen nutzen will, um Veganismus salonfähig und den Restaurantbesuch vermiesen. Entsprechend Argumente für eine vegane Lebensweise, und die Welt besser und grüner zu machen. Sein Geistreiches bekamen Tierrechts- und Tier­ derzeit deutet nichts darauf hin, dass sich das Credo: «Solange wir in einem System des Big be­freiungsaktive bei Infoständen in den Fuss­ so bald wieder ändern wird. Für Tierrechts- Business leben, ist Big Business also nicht der gänger­zonen zu hören. Die Zahl der Vegan- und Tierbefreiungsbewegte ja doch eigentlich Feind – sondern der Schlüssel für alle Verän­ Versandshops und veganen Restaurants war optimale Bedingungen. derung.» Bis Ende 2015 soll es in ganz Europa überschaubar und manche Vegan-Produkte Und hier die schlechte Nachricht: Für die, die 21 Veganz-Filialen geben. waren wirklich ungeniessbar. Und was «vegan» ernsthaft an einem fundamentalen Wandel im Auf die Zauberkräfte der Marktwirtschaft ver­ überhaupt heisst, das musste man in diversen Verhältnis von Mensch und Tier interessiert traut man auch im von der veganen gesellschaft WG-Küchen, Cafés und Restaurants erst müh­ sind, ist der Lifestyle-Veganismus mittlerweile deutschland herausgegebenen vegan magazin: sam erklären. eine echte Bedrohung. Denn der Weg in die «Die vegane Bewegung ist ein Wachstums­ Mittlerweile hat sich einiges geändert. Noch Koch- und Talkshows und Society-Magazine markt und setzt weltweit Schritt für Schritt nie war es in den westlichen Industrienationen wird nicht nur mit einer völligen Entpolitisie­ einen ethischen Bewusstseinswandel in Gang», so einfach wie heute, vegan zu leben und mit rung erkauft, die die ökologischen und mora­ wird dort euphorisch verkündet. Bei der am den Gründen dafür auch auf offene Ohren zu lischen Argumente dem neoliberalen Zeitgeist Kiosk erhältlichen Zeitschrift ist man deshalb stossen. Veganismus hat seinen Platz in den Er­ andienen will, statt diesen als Teil des Problems sichtlich bemüht, sich als vegane Version gän­ nährungsplänen und den Szenelokalen urbaner zu kritisieren. Schlimmer noch: Er funktioniert giger Lifestyle- und Society-Magazine à la Vanity Metropolen gefunden und ist zum «Hot Topic» gerade durch die Abgrenzung von den ver­ Fair zu inszenieren. diverser Talkshows und Diskussionsrunden meintlich «extremen», «intoleranten» und Damit liegen die hippen VeganerInnen ziemlich avanciert. Vegane Supermärkte, Restaurants «radi­kalen» TierbefreiungsaktivistInnen und im Trend: Der Lifestyle of Health and Sustainabi­ und Imbisslokale spriessen geradezu aus dem bemüht dazu das Bild vom militanten Tier­ lity, kurz LOHAS, ist auf dem Vormarsch. Die Boden. Auch in der Schweiz scheint vegane schutz-Fanatismus, mit dem man Tierrechts­ Beweggründe für eine vegane oder «grüne» Küche – wie die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) im bewegte seit jeher diffamieren will. Der Life­ Lebensweise sind unterschiedlich, eines haben vergangenen Juli schrieb – buchstäblich «in style-Veganismus lenkt das Streben nach einem die «Neuen Ökos» und Lifestyle-VeganerInnen aller Munde» zu sein. Und das Versprechen ist gesellschaftlichen Wandel in konformistische, jedoch gemein: Nicht klassischer politischer verlockend: Wer vegan lebt, braucht auf nichts marktförmige Bahnen und diskreditiert dabei Aktivismus, sondern der eigene Konsum und mehr zu verzichten, lebt gesünder und tut auch noch jene, die der Tierausbeutung ernst­ die individuelle Lebensführung sollen die Welt gleichzeitig etwas für die Tiere, den Planeten haft ein Ende bereiten wollen. zu einem besseren, faireren Ort machen. Mit und sich selbst. Klingt doch prima, oder? ihren Vegan-Shops, Kochbüchern und Bio-Fair- Ein Wachstumsmarkt «Man kann die traditio­ Vegan-Bistros wollen sie dazu einen Beitrag Vegan ist Pop Lifestyle-Veganismus ist en vogue. nellen grossen Lebensmittelkonzerne [...] nicht leisten. Und das wachsende Interesse an der «grünen», schlagen. Aber man kann sie kaufen. Wenn sie veganen Lebensweise ist auch ein Indikator sehen, dass mit und Soja im grossen Stil Grüne Klassenversöhnung Damit keine Mis ­s- für einen gesellschaftlichen Wandel: Ange­ Geld zu machen ist, sogar weltweit, werden sie verständnisse aufkommen: Niemand behaup­ sichts drohender ökologischer Krisen und der umdenken», meint Jan Bredack, Gründer und tet, dass wir grüne technologische Innovation, faire und nachhaltige Produkte sowie eine Veränderung unserer Lebensweisen nicht tat­ sächlich bräuchten. Und auch Öko-Unterneh­ merInnen wie Jan Bredack mögen nette Typen sein, die nur das Beste wollen. Das Problem an der LOHAS-Ideologie ist ein anderes: Sie schiebt Probleme, die der Wachstumszwang der kapitalistischen Marktwirtschaft und ihr auf brutale Konkurrenz gegründetes Wettbewerbs­ system notwendig erzeugen müssen, auf das individuelle Konsumverhalten und die Verant­ wortung der KonsumentInnen ab. Nicht nur die Ursache, sondern auch die gesellschaftlich höchst ungleich verteilten Möglichkeiten zur Lösung dieser Probleme werden damit ver­ schleiert. Die ökologische und die soziale Frage ― 23

werden um ihre gesellschaftliche Dimension sam mit dem Kunden etwas voranbringen will. buch Vegan for Fun über Tierrechtsaktivis­tInnen gebracht, wenn sie – darin ganz dem neolibe­ Dann würde die grüne Kundschaft positiv auf aus. Der sportliche Mittdreissiger aus Berlin ralen Zeitgeist folgend – auf Fragen der indivi­ die Imagekampagne des Unternehmens reagie­ hat sich mit seinen Kochbüchern und zahlrei­ duellen Lebensführung reduziert werden. Die ren. Vorausgesetzt, man ist glaubwürdig und chen Fernsehauftritten erfolgreich als Gesicht Gestaltung des eigenen Lebens wird nicht nur weiss, auf welche Signale die Zielgruppe an­ des bundesdeutschen Lifestyle-Veganismus zum primären, sondern zum einzigen Austra­ springt: «Das Wording für die LOHAS-Affinen etabliert. «Doktrinen sind out», gibt sein Vor­ gungsort gesellschaftlicher Widersprüche. Un­ muss Lebensfreude, Naturbezug, Opti­mismus wort ferner bekannt. Um wessen Doktrinen behagen wird nicht mehr durch Protest geäus­ ausdrücken und Glücksmomente für den All­ genau es sich dabei handelt, erfährt man auch sert – sondern warenförmig, durch den Kauf tag versprechen. Es geht um Verantwortung ja, hier nicht. der «grünen» Alternativen. aber nicht um Ethik. Um Handeln ja, aber nicht «Bisher war Veganismus ein revolutionärer Akt Die Lifestyle-VeganerInnen und «LOHAS-Peo­ um Kontrolle. Um Bewusstsein, aber nicht um gegen den Mainstream. Aber ich möchte den ple» kennen deshalb auch kein Oben und kein Gewissen. Um Initiative, aber nicht um Kont­ Veganismus in die Mitte der Gesellschaft ho­ Unten in der Gesellschaft mehr – sie kennen rolle. Ein bisschen Weltfrieden. Behaglichkeit len – auch wenn er dann nicht mehr anti und nur noch vereinzelte KonsumentInnen und mit einem Schuss Verantwortung. Nachhaltig­ sexy ist», schreibt auch Jan Bredack. Dass er für Unternehmen, mit denen sie Hand in Hand für keit als Idyll.» «manche militante Veganer» ein Feindbild sei, die gute Sache kämpfen. Die dabei zugrunde weil er «ihre schöne revolutionäre Idee mög­ liegende Annahme, dass die ProduzentInnen Kochbücher statt Flugblätter Je wohlwollen­ lichst vielen Menschen zugänglich machen» einer Ware und ihre AbnehmerInnen gleicher­ der die Zeitungs- und Fernsehberichte über wolle, kann er nicht nachvollziehen. Non-Profit- massen für deren Entstehungsbedingungen die Lifestyle-VeganerInnen, ihre Kochbücher, Konzepte würden schliesslich nicht – oder noch und die ökologischen und sozialen Folgen ver­ Supermärkte und Restaurants, desto stärker nicht – funktionieren. Und schliesslich gelte antwortlich wären, offenbart jedoch ein naives die Abgrenzung von den «radikalen», «intole­ für seine Supermarktkette ja auch: «Es geht um Verständnis der Machtstrukturen in modernen ranten» oder «doktrinären» Tierrechtsaktivis­ mehr als ein paar vegane Supermärkte – es geht Ökonomien. Statt die Forderungen nach einem tInnen. darum, das System zu ändern.» Ende von Naturzerstörung und der Ausbeu­ «Veganismus soll nicht regulatorisch verordnet Die Message der beiden Berufsveganer ist klar: tung von Mensch und Tier auch an die gesell­ werden, sondern eine frei wählbare Option blei­- Geht weniger demonstrieren und stellt keine schaftlichen Eliten und die tatsächlichen Ent­ ben», mahnte z. B. die Neue Zürcher Zeitung im radikalen Forderungen – kauft lieber bei Veganz scheidungsträger – Unternehmen, Konzerne, Juli 2014. Wer so eine Verordnung eigentlich ein und benutzt die Kochbücher von Attila ArbeitgeberInnenverbände, ihre Think Tanks gefordert hatte, blieb ihr Geheimnis. Entwar­ Hildmann. Die Stigmatisierung der angeblich und Lobbygruppen – zu richten, richten die nung gab man hingegen bei Lauren Wildbolz, «radikalen» TierrechtsaktivistInnen ist ein Lifestyle-VeganerInnen und «Neuen Ökos» sie die 2010 das erste vegane Restaurant in Zürich fester Bestandteil ihrer Marketingstrategie. nur noch an sich selbst. Vor lauter Aberglauben eröffnet hatte. Ihr gelinge es, «nicht als funda­ Dabei war es gerade das jahrelange Engage­ an ihre Macht als KonsumentInnen vergessen mentalistische Körnlipickerin wahrgenommen ment der nun als «intolerant» verrufenen Tier­ sie die Macht und Verantwortung der Produ­ zu werden, die anderen vorschreibt, wie sie zu freundInnen, das ihnen den umsatzstarken zentInnen völlig. Die LOHAS-Ideologie und der leben haben», lobte ein anderer NZZ-Artikel im Vegan-Hype erst ermöglicht hat. Glaube an das vegane Unternehmertum sind vergangenen Juli. Auch dank ihr hätten Vega­ grüne Klassenversöhnung. nerInnen nicht mehr das Image von «radikalen Die Tiere vom Kapitalismus befreien Das Ver­- Bekehrern». sprechen, die Welt durch Konsum zu einem bes­ «Behaglichkeit mit einem Schuss Verantwor­ Die Einteilung der Vegan-Community in zwei seren Ort zu machen, ist so alt wie der Kapita­ tung» Bei den UnternehmensberaterInnen und Fraktionen folgt einem einfachen Schema. Auf lismus selbst. Aus der Konsumkritik der einen Think Tanks der (Kultur-)Industrie rennen die der einen Seite gibt es die umgänglichen Life­ wird so der Wachstumsmarkt der anderen. Ein marktgläubigen Konsum-VeganerInnen damit style-VeganerInnen, die locker und erfrischend perfider Integrationsmechanismus, der fort­ offene Türen ein – denn die haben längst be­ undogmatisch sind. Sie machen keine Demons­ schrittliche und subversive Forderungen um griffen, dass sich mit den neuen «grünen» trationen, sie eröffnen Restaurants und Cafés. ihren potentiell gesellschaftskritischen Gehalt Lebensentwürfen eine Menge Geld verdienen Sie schreiben keine Flugblätter, sondern Koch­ bringt und der soziale Bewegungen in Gut und lässt. «Ein neuer grüner Lebensstil, der ohne bücher. Und dann gibt es die missionarischen Böse spaltet. Nun rennen die VeganerInnen Freund-Feind-Schema, ohne Verzichtsethik und Krawall-VeganerInnen, die radikalen Funda­ scharenweise in ihre Vegan-Supermärkte und Konsumphobie auskommt, breitet sich aus», mentalistInnen. Wer genau sie sind, erfährt Kochkurse, vergeben Vegan Food Blog Awards stellte eine Broschüre der Berliner Unterneh­ man nie. Aber sie sind offenbar wichtig genug, und fachsimpeln über Kuchenrezepte – statt mensberatung stratum bereits 2008 fest. Man dass man sie immer wieder negativ erwähnen ihren Anliegen politisch Gehör zu verschaffen. hatte eine Studie über das Milieu der «LOHAS- muss. Worum es den nervigen AktivistInnen Aber mal ehrlich: Dieses Problem haben sich People» angefertigt und wollte wissen, wie geht, scheint völlig egal zu sein. Dass sie das die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegten Unternehmen die neuen «LOHAS-affinen Ziel­ Image des intoleranten Fanatikers gerade des­ zum Teil auch selber eingebrockt. Seit jeher gruppen» am besten ansprechen könnten. halb haben, weil die Medien es ihnen immer haben sie vorrangig den individuellen Konsum «Werbekampagnen kommen immer dann gut wieder verpassen, ebenso. Sie sind der klassi­ und eine an der persönlichen Lebensführung an, wenn sie den Einklang mit der Natur be­ sche Pappkamerad, auf den man eindrischt, orien­tierte Boykott-Politik propagiert. Nun schwören. Friedliches Zusammenleben, Natur­ um den Nebenmann umso besser aussehen zu kommen die «LOHAS-Unternehmer» und Kom­- idyll und tierische Sympathieträger sind die lassen. Und wie der Zufall es so will, treffen die merz-VeganerInnen, nehmen ihnen ihre Argu­ Komponenten», rät stratum Öko-Kapitalis­tIn­nen Stigmatisierungen immer jene, die mehr for­ mente dankend aus der Hand, verdienen einen und jenen, die es werden wollen. Man solle sich dern als vegane Kochbücher und Öko-Super­ Haufen Geld damit – und stellen die verdutz­ als «handelndes Unternehmen» darstellen, das märkte. ten AktivistInnen abermals als radikale Spin­ «den aktuellen Herausforderungen adäquat be­ nerInnen hin. gegnet». Das Unternehmen solle «gemeinsame Geht lieber shoppen! «Wenn ich erwachsene Zeit also, sich neu aufzustellen und zu überle­ Ziele und Werte, die es mit dem Kunden teilt» Menschen in Kuhkostümen sehe, die ‹Fleisch gen, wie der Kapitalismus funktioniert – nicht betonen und Verantwortungsbewusstsein im ist Mord›-Plakate hochhalten, schmunzle ich wahr? Sinne der «Koexistenz von Mensch und Natur» auch heute manchmal innerlich und frage mich, ausstrahlen. Der Unternehmer solle sich als was man damit bezwecken möchte», lässt sich John Lütten studiert in Jena und schreibt u. a. kumpelhafter Buddy präsentieren, der gemein­ Attila Hildmann im Vorwort zu seinem Koch­ für die junge Welt. 24 ― 25

Mythos grüne Marktwirtschaft Wie grün kann ein Green New Deal sein?

Das umweltpolitische Konzept des sogenannten Green New Deal (GND) scheint Vielen als Ausweg aus der immer offensichtlicher werdenden ökologischen Krise. Warum dieser Deal aber ungeeignet ist, dem Klimawandel und dem zunehmenden Ressourcenmangel wirksam entgegenzutreten, wird klar, wenn man sich von einem entscheidenden Tabu befreit – der Infragestellung der kapitalistischen Wachstumslogik.

er Rooseveltsche New Deal der 1930er- täten sollen weiterhin wachsen, aber weniger des 19. Jahrhunderts etwa um den Faktor tau­ Jahre war eine Interventionsstrategie Schadstoffe emittieren und weniger Ressourcen send gewachsen, was rechnerisch eine jährliche gegen die damalige Wirtschaftskrise. verbrauchen als bisher. Wachstumsrate von 3,5 Prozent ergibt». Damit Umfassende Wirtschafts- und Sozialre­ Diese Reduktion muss aber – um der ökologi­ verdoppelte sich der fossile Energieverbrauch Dformen beflügelten insbesondere das Wachstum schen Krise wirksam entgegentreten zu kön­ über ca. 200 Jahre gesehen, zumindest in dem des Konsumgütersektors. Verbunden mit öko­ nen – in einem Ausmass stattfinden, das zurab ­ von Sieferle betrachteten Zeitraum, etwa alle nomischen Entwicklungen dieser Zeit, wie die soluten Verringerung von Schadstoffausstössen 20 Jahre. Die technischen Entwicklungen rei­ enorme Erhöhung der Produktivkraft, entstand und Ressourcenverbräuchen führt. Vorausset­ ch­en also weder in Bezug auf ihr Tempo noch ein wachstumstreibendes Paket, das paradig­ zung ist also eine technische Stufe der Material- in Bezug auf ihre Qualität, um die Folgen der matische Veränderungen nicht nur der Arbeits- und Energieeffizienz, die über dem gesamt­ Wachstumssteigerungen «einfangen» zu kön­ und Lebensweisen zur Folge hatte. Mit der Mas­ ökonomischen Wachstum liegt. Wie sieht die nen. Effizienzfortschritte werden durch das ge­- senproduktion und dem Massenkonsum von diesbezügliche Realität aus? samtökonomische Wachstum überkompensiert. Waren veränderte sich auch der Umgang mit der Das spricht nicht gegen «grüne Technologie», Natur in dramatisch destruktiver Weise. Effizienz und Wachstum: Ein streitendes Paar wenn zumindest folgende Voraussetzungen Ebenso wie der als Vorbild dienende Roosevelt­ Die Effizienzfortschritte sind in der Tat beacht­ erfüllt sind: Erstens müssten Effizienzsteige­ sche New Deal zielt der GND auf ökonomisches lich. So sank z.B. der Energiebedarf pro Brutto­ rungen entlang des gesamten Produktions-, Wachstum ab; allerdings mit dem Unterschied, inlandsprodukteinheit in den OECD-Ländern Trans­port- und Verbrauchsprozesses (von der dass der GND mit sogenannter grüner Techno­ von 1970 – 1991 durchschnittlich um fast 33 Pro­ Rohstoffgewinnung bis zum Recycling) zu we­ logie Investitionsräume erschliessen soll. Die zent und der globale Energieverbrauch sank niger Natur(ver)nutzungen führen, was grund- Modernisierung des Bahnverkehrs, der Ausbau pro Bruttoinlandsprodukteinheit von 1980 bis legende ökonomische Veränderungen, wie z. B. der Elektromobilität, energetische Stadtsa­- 2002 um 22,7 Prozent. eine Umstellung des fossilistischen Energie­ n­ie­­r­ungen u.a. sollen darauf hinwirken, dass Noch beachtlicher sind allerdings der abso­lute wandlungssystems, erfordert. Zweitens müssten «lange Wellen nachhaltigen Wachstums» ent­ Anstieg des Energieverbrauchs und der damit effizienzsteigernde Technologien eingesetzt stehen und die «lineare Produktion zur Kreis­ verbundene Anstieg u.a. der klimarelevanten werden, um herkömmliche Prozesse zu ersetzen laufökonomie [wird, – A.K.] in der Reststoffe Schadstoffemissionen und Ressourcenver­ und nicht zu ergänzen. Aber selbst wenn diese zum Ausgangspunkt neuer Wertschöpfungs­ bräuche. Allein von 1970 – 1990 ist der globale Voraussetzungen erfüllt würden, was ange­ ketten» werden, wie Grünen-Politiker und Vor­ Energiebedarf von ca. 4861 Millionen Tonnen sichts gegenwärtiger nationaler wie internati­ standsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Öläquivalent (Mtoe) auf 7779 Mtoe gestiegen. onaler Umweltpolitiken nicht zu erwarten ist, Fücks, schreibt. Nach Rolf Peter Sieferle, Professor für All­ könnten diese Massnahmen bei anhaltendem Ziel dessen soll es sein, wirtschaftliche Wert­ gemeine Geschichte an der Universität St. Gal­ Wachstum der kapitalistischen Ökonomie die schöpfung und Naturverbrauch zu entkoppeln. len, ist «der globale Verbrauch fossiler Energie­ ökologische Krise nicht lösen. In ökonomische Mit anderen Worten: Wirtschaftliche Aktivi­ träger – also Gas, Öl, Kohle – [...] seit Beginn Prozesse und Produkte implantierte grüne ― 25

Technologie könnte dann die zunehmenden und die übrige Natur instrumentell zu fügen. Mythos grüne Marktwirtschaft Naturverbräuche bestenfalls verlangsamen. Es In seinem Buch Der Preis des Wohlstands bringt wäre für eine Wende hin zu substanzieller Na­ Elmar Altvater diese kapitalistische Praxis auf turentlastung nicht ausreichend, da eben die den Punkt: «Die nichtnutzbaren Arten sind Wie grün kann ein Wachstumsausmasse die Effizienzsteigerungen wertlos; Pflanzen sind Unkraut, nicht nutzbare um ein Mehrfaches übersteigen. D.h. der Ein­ Bäume bilden den Unwald, Tiere sind Schäd­ satz grüner Technologie kann nur auf dem linge und Stoffe sind Abraum. Über das ökolo­ Green New Deal sein? Hintergrund abnehmender ökonomisch-stoff­ gische System, in dem Unkraut, Unwald und licher Prozesse ein wirksamer Beitrag zur Schädlinge nützliche Wesen sind, wird die Folie Lösung der ökologischen Krise sein. der Selektion nach den Kriterien der Verwert­ Wenn man also das Wachstumsdogma nicht in barkeit gelegt.» Frage stellt, bleibt erstens das Hoffen auf fast Es geht also primär nicht (mehr) um den ur­ schon schlagartige Entwicklungen des techni­ sprünglichen Zweck einer Ökonomie – die Be­ schen Fortschritts, die u.a. dazu führen, dass friedigung von Bedürfnissen; sie selbst, die der Verbrauch fossiler Brennstoffe nahezu voll- Stoffe ihrer Befriedigung u.v.m. dienen der ­ständig reduziert wird und die Materialeigen­ Kapitalverwertung. So existiert eine verkehrte schaften herbeiführen, die zur Folge haben, Ökonomie, die nicht primär dem Leben der dass nur ein Bruchteil von dem verbraucht wird, Subjekte dient; die Subjekte, die restliche was bisher zum Wachstum der Ökonomie er­ Natur u.v.m. dienen einer zum Ersatzgott forderlich ist. Zweitens bleibt die Hoffnung auf aufge­blähten, verselbständigten Struktur des die rasche Umsetzung dieser (fiktiven) Tech­ «immer mehr» mit konkreten, oftmals dest­ nologien in nahezu sämtlichen ökologisch ruktiven Folgen. bedeutenden ökonomischen Prozessen; und Die sogenannte Marktwirtschaft oder treffen­ das muss drittens angesichts einer inzwischen der die kapitalistische Ökonomie, in die die globalen Ökonomie weltweit ablaufen. Dieses Masslosigkeit wesentlich eingeschrieben ist, teils unmögliche, teils sehr unwahrscheinliche kann daher nicht einmal hellgrün sein. Sie Szenario als Ausweg aus der globalen ökologi­ kann – um bei dem Farbengleichnis zu bleiben – schen Krise zu proklamieren, ist daher keines­ bestenfalls einen sehr leichten Grünstich er­ wegs zielführend. halten, nämlich dann, wenn grüne Techno­ Blosse moralische Apelle an die Protagonis­ lo­gie den Raubbau an der Natur verlangsamt. tInnen des Wachstums – das Gros der Politike ­ Wachstumsbegrenzungen oder gar -schrump­ rInnen, die KonsumentInnen der Massenware fungen widersprechen dem Wesen der auf und insbesondere die UnternehmerInnen – grenzenloses Wachstum abzielenden kapitalis- haben bisher nicht ausgereicht und werden tischen Ökonomie. Selbst bei der Realisierung­ auch in Zukunft nicht reichen, die Probleme (bisher) unmöglicher Effizienzfortschritte Versuch, zu duschen, ohne nass zu werden. So des destruktiven Umgangs mit der Natur zu müs­sten diese im Kampf gegen die Masslosig­ gilt es – besser gestern als heute –, diesem «Wi­ lösen. Denn auch ohne die mangelnde morali­ keit immer neue Stufen erklimmen. Immer derspruch» entgegenzuwirken. Mit anderen sche Integrität, die subjektive Gier nach Macht mehr Aufwand, d.h. auch stofflicher und ener­ Worten: Es sind Strukturen einer Wirtschafts­ und Geld oder ohne die (teils vermeintlichen) getischer Aufwand, müsste betrieben werden, weise der Masslosigkeit, die es zu verändern Bedürfnisse nach den schönen, vielen Dingen um dem fortschreitenden Wachstum folgen zu gilt. Ein GND in bisherigen Konzeptionen und der Warenwelt, die den Alltag überfüllen, und können. im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie ist auch mit einer hocheffizienten, von Technolo­ So «frisst» sich nicht nur das Wachstum selbst daher ungeeignet zur Wende gegenwärtiger gie bestimmten Ökonomie, bleibt die innere auf, indem immer mehr Wirtschaftsleistung gesellschaftlicher Naturverhältnisse; grüne Logik einer Wirtschaftsweise wirksam, die auf aufgebracht werden muss, um die zerstöre­ Technologien in Postwachstums- und postkapi­ nichts abzielt, ausser auf die endlose Profit­ rischen Folgen des masslosen Wachstums zu talistischen Gesellschaften sind aber geeignet, maximierung. Bleibt es also bei einer blossen reparieren. Auch der technische Fortschritt zur Lösung ökologischer Krisen beizutragen. Kritik an subjektiven Verhaltensweisen und «frisst sich selbst» und abgesehen davon ist Es gibt keine Alternative zur Natur und es gibt Werthaltungen, ignoriert man weiterhin die jeder Stoffumwandlungsprozess in der Natur auch keine Alternativen zur Ökonomie, aber es Struktur und wesentliche Funktionsweisen begrenzt und jeder Effizienzfortschritt stösst gibt Alternativen zur kapitalistischen Form der der kapitalistischen Ökonomie, in der Wert irgendwann an seine Grenzen. Das Kapital Ökonomie. So gilt es, andere Formen des Wirt­ und Stoff untrennbar sind. kann dementgegen theoretisch endlos wachsen. schaftens (solidarische, konviviale, entschleu­ Es kennt keine letzte Zahl bzw. eine Profit­ nigte u.a.) kollektiv zu erkämpfen und zu ent­ Kapitalismus und Wachstum: Eine untrenn­ höhe, von der es heisst, «jetzt reicht es»; denn wickeln; und das heisst auch, Lebensqualität bare Dauerbeziehung Um nun den Wachs­ ein Ende der «Jagd nach mehr» bedeutet im neu zu verstehen, in der Zeitsouveränität nicht tumszwang des Kapitalismus verstehen zu kön­- Geflecht der Konkurrenz die Gefahr des Schei­ mit Langeweile verwechselt wird und Genüg­ nen, muss man innere Funktionsweisen dieses terns als KapitalunternehmerIn. So steigt die samkeit nicht mit Verlust und Mangel. Systems aufdecken. Das Kapital jagt im globa­ Gefahr, dass der kapitalistische Umgang mit len Konkurrenzgeflecht mit anderen Kapitalen der Natur auch grossräumige Ökosysteme un­ Athanasios Karathanassis ist Lehrbeauftragter nach bestmöglichen Standorten, grösstmögli­ umkehrbar zerstört, denn Ressourcen sind an den Universitäten Hannover und Hildesheim. chen Marktanteilen, immer neuen Investitions­ nicht endlos verfügbar und die natürliche Seine Arbeitsschwerpunkte sind gesellschaft- räumen und immer höheren Renditen. Die Aufnahmefähigkeit von Schadstoffen ist z. T. liche Naturverhältnisse, Krisen und Strukturent- (Natur)Stoffe, ebenso wie die Arbeitskraft, schon jetzt überschritten. wicklungen im globalisierten Kapitalismus durch deren Einsatz die Profite hervorgehen und Soziale Bewegungen. Sein neuestes Buch sollen, dienen in dieser Struktur lediglich als Resümee Ein Green New Deal innerhalb des Kapitalistische Naturverhältnisse. Ursachen Mittel dem Zweck, die eingesetzte Kapital­ Kapitalismus mit dem Ziel der Entkopplung von von Naturzerstörungen – Begründungen einer summe weitestgehend zu übertreffen. Diesem Wirtschaftswachstum und Naturverbrauch Postwachstumsökonomie erscheint im Quanti­tativismus haben sich Menschen, Tiere und -zerstörung ist gleichbedeutend mit dem Dezember 2014. 26 ― 27

Angela Davis

ÜBER VEGANISMUS ALS TEIL EINER REVOLUTIONÄRENPERSPEKTIVE

Die US­-amerikanische Bürgerrechtlerin und marxistische Philosophin Angela Davis plädierte in einem Podiumsgespräch mit Grace Lee Boggs an der University of California in Berkeley am 2. März 2012 dafür, Tierbefreiung als notwendigen Teil linker Gesellschaftskritik zu begreifen. An dieser Stelle dokumentieren wir ihren Wortlaut in deutscher Übersetzung.

Ich denke, das Feld der Ernährung wird die nächste essen. Wenn sie ein Steak essen oder Hühnerfleisch, grosse Arena für unsere Kämpfe bilden. Ich bin manch- denken die meisten Menschen nicht über das enorme mal wirklich enttäuscht, dass viele unter uns sich für Leid nach, das diese Tiere ertragen, nur um Lebensmittel- so radikale Aktivisten halten, aber gar nicht darauf kom­- produkte zu werden, damit sie von Menschen kon­ men, über das Essen nachzudenken, das wir unseren sumiert werden können. Ich denke, dass die fehlende Körpern zuführen. Wir realisieren nicht das Ausmass, wie kritische Auseinandersetzung mit der Nahrung, sehr wir in den gesamten kapitalistischen Prozess die wir essen, demonstriert, wie sehr die Warenform die eingebunden sind dadurch, dass wir unkritisch an jener primäre Art und Weise geworden ist, mit der wir die Lebensmittelpolitik partizipieren, welche uns von Welt wahrnehmen. Wir gehen nicht über das hinaus, was den grossen Konzernen aufgetischt wird. Ich erwähne Marx den Tauschwert des tatsächlichen Objektes normalerweise nicht, dass ich vegan bin, aber da genannt hat – wir denken nicht über die Verhältnisse habe ich mich entwickelt. Ich denke, dass es der richtige nach, die dieses Objekt verkörpert und die massgeblich Moment ist, darüber zu sprechen, weil es Teil einer für den Produktionsprozess dieses Objekts waren, revolutionären Perspektive ist – wie können wir nicht nur ob es sich dabei nun um unser Essen, unsere Kleidung, zu Menschen ein Verhältnis entwickeln, das von Mit­- unsere iPads oder alle anderen Dinge handelt, die wir gefühl geprägt ist, sondern wie können wir ein em­pat­hi­ verwenden, um eine Ausbildung an einer Institution sches Verhältnis auch zu den anderen Lebewesen wie dieser zu erwerben. Das würde wirklich revolutionär entwickeln, mit denen wir diesen Planeten teilen, und sein, eine Gewohnheit zu entwickeln, sich die men­sch­ das würde bedeuten, der gesamten kapitalistischen lichen und nichtmenschlichen Verhältnisse hinter all den industriellen Art der Nahrungsmittelproduktion eine Objekten, die unsere Umwelt bilden, vorzustellen. Kampfansage zu machen. [...] Die meisten Menschen denken nicht über die Tatsache nach, dass sie Tiere Angela Davis ― 27

Vom sozialen Widerstand zum Klassenkampf

Überlegungen zu den Widerstandspraxen der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung und der Frage nach einer revolutionären Strategie.

zum Niederbrennen von Schlachthöfen und zielen darauf, die Profiteure der Tierausbeu­ tung ökonomisch zu schädigen, Tiere aus den Käfigen zu befreien und das verborgene Leiden der Tiere ins öffentliche Bewusstsein zu brin­ gen. Indem die ALF die Unternehmen angreift, die vom Elend der Tiere profitieren, wendet sie sich gegen die wirklichen Triebkräfte hinter deren Ausbeutung: die ökonomischen Interes­ sen des Kapitals. Durch die Aktionen der ALF gelingt es immer wieder, die Gewalt gegen Tiere und das da­ Wandbild und Spray am 1. Mai 2014 in Zürich. mit verbundene Leid partiell zu verhindern. Gleichzeitig tendiert die ALF aber zu einer Feti­ schisierung der Methode der direkten Aktion. ie politische Praxis der Tierrechts- und Kam­p­agnen gegen Unternehmen, die sich am Sie verzichtet auf eine politisch ausgearbeitete Tierbefreiungsbewegung ist häufig ra­ Geschäft mit der Ausbeutung von Tieren be­ und einheitliche Strategie sowie feste Orga­ dikaler als ihre theoretische Analyse. teiligen. Die Verbreitung der direkten Aktion nisationsstrukturen und setzt allein auf die In puncto Theorie dominieren seit den als politisches Kampfmittel geht in der moder­ autonome Initiative einzelner militanter Akti­ DAnfängen der Bewegung bürgerlich-idealis­ nen Bewegung auf die Entwicklung der Taktik vistInnen, die sich bloss für spezifische Aktio­ tische Strömungen, welche die Ausbeutung der der Animal Liberation Front (ALF) zurück. Diese nen zusammenschliessen. Daher bleibt ihr Wi­ Tiere auf eine geistige Ursache wie den «Spezi­ Taktik besteht darin, dass kleine, unabhängige derstand in vielen Punkten individualistisch esismus» oder den «Mensch-Tier-Dualismus» Zellen nach bestimmten Grundsätzen Sabota­ und unzusammenhängend und kann nicht die zurückführen. Folglich sehen sie den Schlüssel geakte durchführen. Seit der Gründung der ALF politische Schlagkraft entwickeln, die für eine zur Überwindung der Tierausbeutung in der im Jahr 1976 in England sind in ihrem Namen gesellschaftliche Befreiung der Tiere notwen­ Veränderung des gesellschaftlichen Bewusst­ weltweit tausende militante Aktionen verübt dig wäre. seins. Die Befreiung der Tiere soll durch moral- sowie unzählige Tiere vor dem sicheren Tod Einen etwas höheren Grad an Taktik und Or­ ische Appelle, Aufklärung über den Veganis­mus bewahrt worden. Die Aktionen der ALF reichen ganisation entwickelt das Campaigning, das seit oder das Aufbrechen von Denk- und Sprechmus­ von Farbanschlägen gegen Pelzgeschäfte bis den 1990er-Jahren zu den charakteristischen tern erreicht werden. Diese idealistischen Vorstellungen verkennen nicht nur die Abhängigkeit des Bewusstseins von den jeweiligen historisch-materiellen Be­ AIR FRANCE – AIR SOUFFRANCE! dingungen. Sie ignorieren auch die kapitalis­ tische Produktionsweise als die wesentliche Stop Vivisection und Gateway to Hell sind internationale Transportgeschäft aussteigen. Damit wird versucht, die Grundlage des destruktiven Verhältnisses zu Tierrechtskampagnen, welche sich für ein Ende der Ver­ Luftbrücke zu kappen, sodass die Labore nur noch unter Tieren in der gegenwärtigen Gesellschaftsfor­ suchstiertransporte und für eine tierversuchsfreie Wis­ erschwerten Bedingungen Tiere beziehen können. mation. Betrachtet man jedoch die konkrete senschaft einsetzen. Im Fokus dieser Kampagnen ste­ Diese ausgefeilte Taktik sorgt für Umsatzeinbussen und Praxis der Bewegung, stellt man fest, dass oft hen Fluggesellschaften, zu deren Geschäft der Transport rote Köpfe. Die US-amerikanische Tierversuchslobby instinktiv materialistischer vorgegangen wird von Versuchstieren gehört. Hierzu zählt z. B. Air France- sprach im Januar 2014 von einer «Krise der Versuchs­ als die theoretische Orientierung nahelegt. KLM. Die Airline beliefert Tierversuchslabore weltweit tiertransporte» und meinte, dass es ohne staatliche Hilfe Eine Vielzahl der Aktionen und Widerstands­ mit Affen, Hunden und anderen Tieren und macht sich zunehmend schwierig werde, Tiere an Versuchslabore formen setzt unmittelbar bei der Produktion auf diese Weise mitverantwortlich dafür, dass diese in zu liefern. Der Protest und die Kampagnen von Tier­ an und richtet sich gegen die Art und Weise, den Laboren gequält und getötet werden. rechtsaktivistInnen seien ein Faktor, weshalb ein Gross­ wie diese unter kapitalistischen Verhältnissen Für die Tierversuchsindustrie sind die Transporte auf teil der Flugunternehmen nicht mehr dazu bereit sei, organisiert ist. Damit handeln die Aktivis­ dem Luftweg von entscheidender Bedeutung. Viele der Versuchstiere zu transportieren. Air France ist eine der tInnen genuin systemkritisch. Sie wissen es Versuchstiere werden in speziellen Farmen gezüchtet letzten Fluggesellschaften, die dies noch tun. Deshalb nicht, aber sie tun es. – Primaten werden teils auch in der Wildnis gefangen. finden vor ihren Check-In-Schaltern weltweit regelmäs­ Die Affen werden aus Ländern wie China, Mauritius und sig Demonstrationen statt. Die Tierrechtsgruppe Zürich Vietnam importiert. beteiligt sich seit dem Sommer 2013 an der Kampagne Direkte Aktionen und Kampagnen gegen Fluggesellschaften wie Air France-KLM sind das Binde­ gegen Air France-KLM und half mit, dass diese auch in Unternehmen Die politische Praxis der Tier­ glied zwischen den Herkunftsorten der Tiere und den der Schweiz Fuss fasste. Regelmässig finden seither rechts- und Tierbefreiungsbewegung wird vor Versuchslaboren. Internationale Protestkampagnen Proteste an den Flughäfen in Zürich und Basel statt. allem durch zwei Formen des Widerstands ge­- üben daher so lange Druck auf sie aus, bis sie aus dem prägt: durch direkte Aktionen und durch 28 ― 29

Widerstandsformen der Bewegung zählt. Die­ aus dem Wesen der kapitalistischen Produkti­ sondern muss darauf ausgerichtet sein, das ses Konzept ist darauf ausgerichtet, die Kräfte onsverhältnisse selbst. Der Weg zu einer befrei­ Klassenbewusstsein, die Klassenkämpfe und mehrerer Gruppen und Einzelpersonen zu ten Gesellschaft ohne Ausbeutung von Mensch die Organisierung der unterdrückten Massen bündeln und sie auf den Kampf gegen ausge­ und Tier führt daher nur über den revolutio­ zu stärken. Drittens muss daher die Entwick­ wählte Unternehmen der Tierausbeutungsin­ nären Bruch mit dem Kapitalismus. Zwar führt lung des politischen Dialogs und die Bündnis­ dustrie zu konzentrieren. Dadurch soll die eine sozialistische Revolution nicht automatisch­ arbeit mit Kräften der revolutionären Linken Ef­fek­tivität des Widerstands erhöht werden. zur Aufhebung der Tierausbeutung. Doch nur vorangetrieben werden. Kampagnen legen bestimmte Ziele fest, z. B. sie schafft die materiellen Voraussetzungen da­ Hieraus lassen sich bereits einige Fragen ablei­ die Schliessung eines Tierversuchslabors oder für: die Vergesellschaftung der Produktions­ ten, welche die Bewegung im Hinblick auf ihre der Ausstieg eines Modekonzerns aus dem mittel und die Ausrichtung der Produktion an gegenwärtigen und neu zu entwickelnden Pra­ Pelzhandel, und setzen den ausgesuchten Geg­ den Bedürfnissen der Gesamtheit wie der einzel­ xisformen diskutieren muss: Wie können im ner solange gezielt unter Druck, bis die Forde­ nen Individuen – anstatt an der Produktion von Kampf gegen die kapitalistischen Unternehmen rungen erreicht sind. Hierfür bedienen sich Mehrwert im Interesse einer kleinen Gruppe Bündnisse mit der ArbeiterInnenbewegung ge­- Kampagnen einer breiten Palette an Mitteln: von KapitalbesitzerInnen. Daraus folgt für den schlossen werden? Unter welchen Bedingun­ Demonstrationen und regelmässige Kundge­ Kampf um die Befreiung der Tiere, dass er eine gen und Umständen können militante direkte bungen vor Unternehmensstandorten, aufrüt­ revolutionäre Perspektive entwickeln und sich Aktionen zur Hebung des Bewusstseins und telnde Enthüllungen über die Situation der als Teil des Klassenkampfs gegen die kapitalis­ der Förderung der Kämpfe der Massen beitra­ Tiere, Email- und Telefonproteste, Boykottauf- tische Ordnung begreifen muss. gen? An welchen Orten des politischen Wider­ rufe oder Störungen von Aktionärsversamm­ Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung stands lassen sich die Ausbeutung der Tiere lungen. Häufig werden Tierrechtskampagnen steht somit vor der Aufgabe, ihren Kampf im und die Ausbeutung der Menschen gemeinsam auch durch militante Aktionen der Animal Libe­ Rahmen einer umfassenden Strategie zur Über­- bekämpfen? Wie kann in der Bündnisarbeit mit ration Front unterstützt. windung des Kapitalismus zu konzipieren. Auch dem Widerspruch umgegangen werden, dass Mittels des kollektiven Kampfes gegen ein­ wenn sie erst am Anfang dieses Prozesses steht, ein Grossteil der revolutionären Bewegung die zelne Unternehmen konnte insbesondere die zeichnen sich drei wichtige Voraussetzungen Tiere noch nicht als Teil der Ausgebeuteten er­ Pelz- und Tierversuchsindustrie in den letzten dafür bereits ab: Erstens die Überwindung der kannt hat? usw. Jahren erfolgreich geschwächt bzw. ihre Ge­ idealistischen und (klein-)bürgerlichen Vor­ Eine revolutionäre Strategie für den Kampf für schäftstätigkeiten erschwert werden. Allerdings stellungen in der Bewegung und die Ausarbei­ Tierbefreiung lässt sich sicherlich nicht von entwickeln auch Tierrechtskampagnen keine tung einer historisch-materialistischen Analyse heute auf morgen entwickeln. Wir denken aber, politische Strategie für die gesellschaftliche der Tierausbeutung. Zweitens die Abkehr von dass es notwendig ist, spätestens jetzt mit der Befreiung der Tiere. Sie treten der industriellen der Ein-Punkt-Politik (single issue) hin zu einer Arbeit daran zu beginnen. Denn die Befreiung Verwertung der Tiere in gewissen Bereichen Politik des Klassenkampfs. Da eine Befreiung der Tiere ist entweder Teil des Klassenkampfes zwar vehement entgegen, aber sie konzentrie­ der Tiere erst durch den Sturz des Kapitalismus oder sie ist keine. ren sich einzig und allein auf die Durchsetzung möglich wird, kann sich die politische Praxis von Forderungen zur Verhinderung von Tier­ der Bewegung nicht allein an der Verhinde­ Tierrechtsgruppe Zürich leid im Hier und Jetzt. So sehr dies seine Berech­ rung von Leid und Tod der Tiere orientieren, tigung hat, die gesellschaftlichen Ursachen, welche die Ausbeutung der Tiere überhaupt erst bewirken, und die Bedingungen ihrer Über­ windung werden dabei meist ausgeklammert. KÄMPFE VERBINDEN Die Grenzen dieses Ansatzes offenbaren sich nicht nur im Hinblick auf die Universalität der Am 1. Mai, dem internationalen Kampftag der er, antimilitaristischer und antifaschistischer Posi­ kapitalorientierten Aneignung der Natur in der ArbeiterInnenklasse, gehen unterschiedliche linke tionen und organisiert neben dem Revolutionären bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch ange­ Bewegungen, Parteien und Organisationen für 1. Mai u.a. auch Mobilisierungen gegen das WEF sichts der zunehmenden konzerngesteuerten eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Ras­ und gesellschaftliche Rechtsentwicklungen. Repression gegen die Bewegung, die sich den sismus und Krieg – für eine Alternative zum real Auch wenn die Ablehnung von Tierausbeutung rücksichtslosen Verwertungsinteressen des Ka­ existierenden Kapitalismus auf die Strasse. Für nicht zum Grundkonsens des Bündnisses gehört, pitals entgegenstellt (siehe Artikel auf Seite 29). die Tierrechtsgruppe Zürich ist die Teilnahme am sind wir der Ansicht, dass die Bemühung um einen Durch den Widerstand gegen die Ausbeutung 1. Mai seit ihrer Gründung im Jahr 2008 fester Be- gemeinsamen Organisierungsprozess der revo­lu­ der Tiere gerät die Tierrechts- und Tierbefrei­ standteil ihrer politischen Praxis. Aus dem Ver­ tionären Kräfte wichtig ist. Daneben sehen wir in ungsbewegung in Konfrontation mit dem Ka­ ständnis heraus, dass die Überwindung der Aus­ der Bündnisarbeit auch eine Möglichkeit zur kri­ pital und seinen staatlichen Organen. Doch beutungsverhältnisse nur durch die Entwicklung tischen Diskussion mit unseren MitstreiterInnen die AktivistInnen machen sich die antikapi­ einer Politik des Klassenkampfs möglich ist, und GenossInnen: Die Linke kann nicht darauf talistischen Implikationen ihrer Forderungen schloss sich die Gruppe vor einigen Jahren dem verzichten, sich mit der Zerstörung der Natur und nicht bewusst und entwickeln bis anhin keine Revolutionären Bündnis an. Das Bündnis vereint der Knechtung der Tiere auseinanderzusetzen. politische Theorie und Strategie zur Befreiung linke Kräfte auf der Grundlage antikapitalistisch­ Der Protest gegen die Ausbeutung von Mensch der Tiere. und Tier kann nur wirkungsvoll sein, wenn er sich die gesellschaftlichen Ursachen dieser Ausbeu­

tung bewusst macht. Die Tierrechtsgruppe Zürich Tierbefreiung heisst Klassenkampf Es ist eine versteht die Zusammenarbeit mit progressiven grundlegende Erkenntnis historisch-materia­- Kräften als Notwendigkeit im Kampf gegen die l­istischer Theorie, dass Ausbeutung primär eine herrschende Klasse und ihre ApologetInnen. Frage der politisch-ökonomischen Praxis ist, «Eine der wichtigsten Waffen in diesem Kampf ist ohne die ideologische und kulturelle Phänome­ der Aufbau internationaler Solidarität der Unter­ ne nicht erklärt werden können. Solange die drückten gegen die Herrschaft des Kapitals», kapitalistische Gesellschaftsordnung besteht, heisst es in unserem Aufruf zur Teilnahme am kann die Tierfrage nicht gelöst werden, denn die 1. Mai 2014. Sie «bildet die Grundlage für eine re­ Profitmacherei auf Kosten der Natur, der Tiere volutionäre linke Politik». und der lohnabhängigen Menschen ergibt sich ― 29

Konzerngesteuerte Repression gegen die Tierrechtsbewegung

Die Kriminalisierung der Tierrechts- und Umweltbewegungen nahm im Zuge westlicher Sicherheitsdoktrinen seit dem 11. September 2001 erheblich zu. Der Einfluss mächtiger Konzerne spielte dabei eine zentrale Rolle. Mittel und Ausmass der Repression erinnern an die antikommunistische McCarthy-Ära in den USA.

«Das Auge des Gesetzes sitzt im Gesicht der herrschenden Klasse.» Ernst Bloch

m Mai 2005 verkündete der stellvertretende Geschäftsbetrieb der berüchtigten Tierver­ tInnen von SHAC wegen «animal enterprise Direktor des FBI, John Lewis, während einer suchsfirma Huntingdon Life Sciences (HLS) immer terrorism» zu insgesamt 23 Jahren Gefängnis Anhörung des US-Senats: «Die grösste terror­ wieder massiv zu stören. SHAC outete die Ge ­ verurteilt, obwohl ihnen zu keiner Zeit krimi­ istische Bedrohung im Inland ist die öko- schäftspartnerInnen von HLS und führte so nelle Handlungen nachgewiesen werden konn­ Iter­roristische Tierrechtsbewegung.» Es «gibt lange eine Kampagne gegen sie, bis sie die ge­ ten. Die Vorwürfe gegen sie erschöpften sich in nichts und niemanden in unserem Land wie schäftlichen Beziehungen zu HLS beendeten. Lappalien, wie etwa dem Versenden schwarzer diesen spezifischen Terrorismus, der in den ver­- In zahlreichen Fällen war diese Strategie erfolg­ Endlos-Faxe oder Telefonbelästigungen. Da­ gangenen Jahren eine so hohe Zahl von Gewalt­ reich. HLS stand mehrmals kurz vor dem Ruin rüber hinaus befand das zuständige Gericht verbrechen, terroristischen Aktionen, Brand- und konnte nur durch staatliche Subventionen in Trenton, New Jersey, sie für schuldig, zu stiftungen usw. begangen hat». Dass die damals einerseits und ein rigoroses Vorgehen der bri­ Gewalttaten aufgerufen zu haben – tatsäch­ gut 30 Jahre alten militanten Gruppen Animal tischen und US-amerikanischen Strafverfol­ lich lagen als Beweise jedoch lediglich Berichte Liberation Front (ALF) und Earth Liberation Front gungsbehörden andererseits überleben. Etliche über militante Aktionen gegen HLS-Geschäfts­ (ELF), im Gegensatz zu rassistischen Banden SHAC-AktivistInnen sitzen derzeit in Haft oder partnerInnen vor, die SHAC zu informativen oder fanatischen Abtreibungsgegnern, bei ihren warten auf ihre Prozesse. Die Kampagne wurde Zwe­cken auf ihrer Homepage veröffentlicht Aktionen niemals Menschen verletzt oder gar am 12. August 2014 offiziell eingestellt. «Wir hatte. Nur wenige Monate nach der Verurtei­ getötet haben, tat Lewis als blossen Zufall ab. haben nicht länger nur gegen HLS g e ­k ä m p­f t ; lung der AktivistInnen unterzeichnete der da­ Die «Bedrohung» durch «Öko-Terroristen» wir kämpften gegen die Regierung – ein noch malige US-amerikanische Präsident, George W. be­ginnt für das FBI ohnehin nicht erst bei den viel grösserer und mächtigerer Gegner», schrieb Bush, am 27. November 2006, auf dem Höhe­ militanten Aktionen der ALF und ELF, sondern SHAC zuletzt auf ihrer Website. punkt des War on Terror, den Animal Enterprise schliesst auch die 1999 in England gegründete Terrorism Act (AETA). globale Tierrechtskampagne Stop Huntingdon Kriminalisierung legalen Protests Ein Jahr Dieses Gesetz gibt der US-Justiz die vollum­ Animal Cruelty (SHAC) ein. nachdem man die Tierrechtsbewegung in den fängliche Legitimation, gegen Personen vorzu­ SHAC ist es gelungen, mit friedlichen Mitteln, USA zur «terroristischen Bedrohung» erklärt gehen, die sich gegen die wirtschaftlichen In­ Massenprotesten und zivilem Ungehorsam den hatte, wurden im März 2006 sechs Aktivis­ teressen tiernutzender Unternehmen (Animal 30 ― 31

Enterprises) stellen. Wegen der Beteiligung an hingehend erweitert, dass er gegen Tierrechts­ Sondergesetze wie der Animal Enterprise Terro­ Tierrechtskampagnen können AktivistInnen aktivistInnen angewendet werden kann. Laut rism Act oder der SOCPA ermöglichen es heute, damit offiziell zu «Terroristen» gemacht werden, SOCPA Art. 145 macht sich eine Person strafbar, selbst friedliche TierrechtsaktivistInnen straf­ in Hochsicherheitsgefängnisse gesteckt werden die mit der Absicht handelt, einer Tierversuchs­ rechtlich zu verfolgen, sollten ihre Strategien oder sogar in sogenannten Communications firma «Verluste oder Schäden jeglicher Art» gegen die Tierausbeutungsindustrie erfolg­ Management Units (CMUs) isoliert, also beinahe zuzufügen oder sie bei «der Durchführung reich sein. Wirtschaftsverbände begegnen den ohne Kommunikation zur Aussenwelt, gefangen irgendeiner ihrer betrieblichen Tätigkeiten» zu «grünen» Bewegungen zudem mit kostspie­ gehalten werden. Obwohl das Gesetz geschrie- behindern. Antitierversuchskampagnen, welche ligen PR- und Medienkampagnen. Potter zu­ ben wurde, um einzelne TierrechtsaktivistInnen­ ihre GegnerInnen meist in der Pharma-, Kos­ folge ist die systematische Lancierung solcher aus dem Verkehr zu ziehen, ist nicht aus­zu­ metik- oder Chemieindustrie haben, sollen da­ Verleumdungskampagnen eine der effektivsten schliessen, dass es auch z. B. gegen gewerkschaft­ mit bekämpft und zerschlagen werden. Vorgehensweisen der Unternehmen, um Akti­ lich organisierte ArbeiterInnen in der Tier­- «Es wird oft über staatliche Repression gespro­ vistInnen, die gegen die industrielle Ermor­ industrie angewendet werden könnte, die ihre chen. Aber ich würde argumentieren, dass das, dung von Tieren und gegen die rücksichtslose Arbeit niederlegen und sich in Arbeitskämpfen was jetzt gerade passiert, eine Verschiebung hin Plünderung der Erde kämpfen, in der Öffent­ gegen ihre Bosse in Stellung bringen. Das Ge­ zu konzerngesteuerter Repression ist», bringt lichkeit als «Kriminelle», «Vandalen» oder als setz ist derart vage formuliert, dass jegliche Will Potter diese Entwicklungen auf den Punkt. «Terroristen» diffamieren zu können. Dies pas­ Aktivitäten, die einen «Verlust von Profit» oder In seinem Buch Green is the New Red zieht er einen siert ganz im Sinne westlicher «Sicherheits»- einen «wirtschaftlichen Schaden» verursachen, Vergleich zur Ära der «Red Scare» in den 1940er- Doktrinen, auf deren Basis staatliche Repres­ egal ob mit friedlichen oder militanten Mitteln, und 50er-Jahren, als die herrschende Klasse in salien nahezu jeden Versuch oppositioneller verfolgt und kriminalisiert werden können. den USA über Jahre hinweg eine anti­kom­mu­- Praxis und jeden noch so zögerlichen Wider­ Wie das Center for Constitutional Rights (CCR) nistische Hetze betrieb und DissidentInnen stand treffen, der den kapitalistischen Ge­ berichtete, wurden z. B. im Jahr 2009 in Kali­ aller politischen Couleur verfolgte. Der Angst schäftsbetrieb nur geringfügig stört. Mit einem fornien vier TierrechtsaktivistInnen unter Be­ vor dem Kommunismus und seinen tatsächli­ Bündel aus medialen, rechtlichen und politi­ zugnahme auf den AETA vor Gericht gestellt, chen oder nur mutmasslichen AnhängerInnen schen Kampagnen und Massnahmen wird zu­ weil sie «protestiert, mit Kreide auf den Boden wurde damals z. B. mit Gesetzen begegnet, dem gegen all jene vorgegangen, die sich dem geschrieben, Parolen gerufen, Flugblätter ver­ mittels derer Menschen linker Gesinnung zur Kapitalismus organisiert entgegenstellen und teilt und im Internet nach Informationen über Bedrohung der nationalen Sicherheit erklärt sich nicht mit «sozialer», «grüner», «fairer» und Tierversuchsfirmen gesucht haben». Das CCR werden konnten. Analog zu dieser «Red Scare» «biologischer» Label-Politik abspeisen lassen. ist eine non-profit NGO mit Sitz in New York, bezeichnet Will Potter die neue konterrevoluti­ die sich für die Einhaltung und Weiterentwick­ onäre Hysterie vor der Tierrechts- und Umwelt­ Tierrechtsgruppe Zürich lung der Grund- und Menschenrechte sowie für bewegung daher als «Green Scare». die Rechte von Gefangenen einsetzt. Am 5. Au­ gust 2014 bat sie den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten in einem Antrag um eine rechtliche Prüfung, ob mit dem Animal Enter­ «KNEBEL-GESETZE» STATT AUFKLÄRUNG prise Terrorism Act das in der US -Verfassung ga­ rantierte Recht auf freie Meinungsäusserung zugunsten der Geschäftsinteressen einzelner In Ländern, in denen die Tierindustrie über mass­ Undercover-Filmrecherchen einer Tierrechts­grup­ Grossunternehmen geopfert worden sei. Der gebliche polit-ökonomische Stärke verfügt, wer­ pe als «diabolisch». «Es scheint, als ob jetzt jede den zunehmend sogenannte Ag-Gag Laws (be­ Woche Tieraktivisten in Massentierhaltungen ein­ Beschluss des AETA im US-Kongress geht näm­ deutet etwa: «Knebel-Gesetze» des Agribusiness) brechen. […] Diese Leute sind Vandalen. Diese lich massgeblich auf die Kapitalinteressen der verabschiedet. Diese Gesetze verbieten es, heim­ Leute sind ähnlich wie Terroristen», sagte sie auf Tierindustrie zurück, wie aus der Arbeit des lich Videos und Fotos von Haltungs- und Trans­ der Jahreskonferenz der Farmers' Association im unabhängigen Journalisten und Autors Will portbedingungen oder der Schlachtung von Juli 2013. Potter hervorgeht. Tieren zu machen. Denn für die Industrie stellt Investigativer Journalismus in Schlachtfabriken die Veröffentlichung solchen Materials ein mas­ oder Mastbetrieben wird mit Ag-Gag Gesetzen «Green is the New Red» Aufgrund seiner sives Problem dar. Es empört nicht nur Konsu­ zu einem kriminellen Akt erklärt, das Filmen von Recherchen konnte Potter beweisen, dass der mentInnen, sondern löst punktuell auch Proteste Tierquälerei und Tierausbeutung im Zeitalter von AETA nicht durch eine unabhängige Legislative aus, die strengere Tierschutzmassnahmen for­ Smartphones und YouTube verboten. Was sich entstanden ist. Vielmehr haben an Tierversu­ dern. Müssen solche in die Realität umgesetzt hinter den Türen der Tierindustrie verbirgt, soll chen beteiligte Pharmakonzerne wie Pfizer, werden, steigen die Produktionskosten und die im Dunkeln bleiben – Profite sollen geschützt GlaxoSmithKlein und Boehringer Ingelheim zusam­ Profite sinken. Mit Ag-Gag Gesetzen will sich die werden. men mit Branchenorganisationen wie der Fur Tierindustrie daher vor dem Blick und der Kritik Commission oder der National Cattlemens Beef der Öffentlichkeit schützen. Sieben US-Bundes­ staaten haben solche Gesetze zwischen den Association ihren politischen und ökonomischen Jahren 2011 und 2014 eingeführt. In weiteren Einfluss genutzt, um denAETA mitzugestalten. steht die Verabschiedung solcher Gesetze in ab­ Schliesslich ist es zu ihrem Nutzen, wenn aus sehbarer Zeit an. In Europa werden mit Kamera TierrechtsaktivistInnen per Gesetz «Terroris­ ausgerüstete AktivistInnen längst als «Tierrechts­ ten» gemacht werden können. Für Potter steht extremisten» klassifiziert. ImEU Terrorism Situa­ fest, dass «Öko-Terroristen nicht Menschen, tion and Trend Report 2011 der europäischen sondern Profite bedrohen», und weil sich die Polizeibehörde Europol heisst es z. B., dass «Bilder Aktivitäten und Forderungen der Tierrechts­ von kranken und misshandelten Tieren» als bewegung negativ auf Konzerngewinne aus­ «Desinformationsmethoden» verwen­det würden. wirken, bedienen sich die wirtschaftlichen Eli­ In Australien werden indes noch schärfere Töne ten dem Schutz des bürgerlichen Staates – und angeschlagen. Katrina Hodgkinson, die zustän­- zwar nicht nur in den USA. dige Agrikulturministerin im australischen Bun­ Auch in Grossbritannien wurde der sogenannte desstaat New South Wales, bezeichnete zwei Serious Organised Crime and Police Act (SOCPA) da­ ― 31

Über Musik, Kunst und Befreiung How does revolution sound like?

Politik und Ästhetik in einem abzuhandeln ist schwierig – dies zeigt sich in jedem Versuch, die Rolle der künstlerischen Avantgarde in einem revolutionären Prozess zu erklären. Wie ist das Verhältnis zwischen Kunst und Revolution zu denken? Und was können wir diesbezüglich aus dem 20. Jahrhundert lernen?

ie Idee einer Beziehung zwischen Kunst liedern bestehen. Von Folk Musik zu Hip Hop, und Revolution ist typisch für das von We Shall Overcome zu Killing in the Name of, 20. Jahrhundert. Auf der einen Seite haben viele unterschiedliche Musikgenres ver­ stellte die Vorstellung eines Umwäl­ sucht, die Idee der Revolution in Liedern aus­ Dzungsprozesses hin zu einer neuen sozialen Ord­- zudrücken. Nicht ohne eine gewisse Spannung nung die gesellschaftliche Rolle der Kunst selbst zwischen Ausdruck und Bedeutung. Wie Theodor in Frage: Es wurde möglich zu fragen, ob und wie W. Adorno bemerkte, gibt es einen gewissen bestimmte ästhetische Ausdrücke einen Beitrag Widerspruch zwischen einem politischen In­ zum revolutionären Prozess leisten würden oder halt, der Forderung nach einer radikalen Ver­ ob sie Teil der Vergangenheit wären. Auf der an­ änderung der Welt, wie sie ist, und einer Form – deren Seite ging die Idee der Revolution in die hier im Sinne des Songs –, die wesenhaft mit der Kunstwerke selbst ein und einige KünstlerInnen Welt verbunden ist, die verändert werden soll. begannen, die Vorrangstellung der Politik im Die festgelegte Struktur des Liedes, seine me­ Prozess der Veränderung der Gesellschaft in lodischen, harmonischen oder rhythmischen Frage zu stellen: Die Avantgardebewegungen in Muster, strafen den radikalen politischen In­ der Kunst stellten sich mehr oder weniger alle halt Lüge, der transportiert werden soll. Wäh­ auf den Standpunkt, dass die Zustände nicht rend diese Elemente sich selbst als unschuldige verändert werden können, wenn sie noch in alt­ Bestandteile einer gleichbleibenden «Tradition die Massenmedien eingebläut werden, durch hergebrachter Weise wahrgenommen werden. der Populärmusik» darstellen, sprach Adorno Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Während revo­lutionäre Politik meist mehr an von der Warenform der Populärmusik, um da ­ Aufklärung berechtigterweise als naiv abgetan einer Kunst interessiert ist, die revolutionäre rauf hinzuweisen, dass es in einer modernen worden. Sie haben aber auch aufgezeigt, dass es Ideen unter­stützen kann, erachtet revolutio­ kapitalistischen Gesellschaft keine «music of der Kulturindustrie auf effiziente Art gelingt, näre Kunst den im künstlerischen Prozess im­ the people» geben kann. Alles wird durch den ihre eigenen inneren Antagonisten in Form plizierten Wandel der Perspektive und der Sinn­ Tauschwert berührt und transformiert. Nichts, von «radikalen» oder «nicht-konformistischen» lichkeit schon an sich als eine Art Revolution. was angeblich oder wirklich aus vor-kapitalis­ Kulturgütern zu entwerfen bzw. einzugliedern. Radikale Musik besass innerhalb solcher Aus­ tischen Gesellschaftsverhältnissen stammt, So erzeugt die platte Wiederholung bekannter einandersetzungen stets nur eine marginale überlebt als blosses solches. Die Konstellation, Muster durch die Mainstream-Medien gleich­ Rolle. Während die von der Avantgarde ausge­ in welche die kapitalistische Produktionsweise sam den Drang, aus ihren festgeschriebenen Re­ arbeiteten ausdrucksvollen visuellen Innova­ alles versetzt, verändert die Bedeutung und geln auszubrechen (ohne Hollywood-Klischees, tion­en in der politischen Propaganda und in Funktion selbst derjenigen Phänomene, die so schreiben die beiden beispielsweise, hätte Werbe­kampagnen einsetzbar waren, kann eine vor­geben, vom Markt unberührt oder den Orson Welles nicht das enfant terrible spielen revolutionäre Musik – d. h. eine Musik, die mit den Marktanforderungen äusserlich zu sein. Kein kön­nen). Als Adorno und Horkheimer von etablierten Regeln der Tonalität bricht – vom hör­ kulturelles Phänomen, sei es ein Mainstream- der totalitären Eigenschaft der Kulturindustrie enden Ohr nicht so einfach ohne ein Gefühl von Erfolg oder eine ästhetische Rebellion gegen sprachen, meinten sie damit genau diesen Wi­ Schock und Unbehagen absorbiert werden (das den Markt, kann somit als ein «freies» Produkt derspruch. Nicht nur ist das System der Medi­ ist auch der Grund dafür, dass tonale Disso­- der menschlichen Schöpfungskraft bezeichnet enkonzerne indifferent gegenüber dem politi­ n­anzen in der Kulturindustrie hauptsächlich in werden, denn seine Sprache und sein Inhalt schen Inhalt seiner Waren, solange sich diese Soundtracks von Horrorfilmen verwendet wer­ sind an die vorherrschenden Bedingungen der an ein Publikum verkaufen und dadurch zu den). Die starke Intensität der musikalischen Er­ Produktion geknüpft. Sowie es um kommerz­i­- einer Marke, einem bestimmten Marktziel ma­ fahrung, die das stetige Bemühen des hörenden elle Musik geht, ist das ohnehin klar. Gängige chen lassen: vor dem Hintergrund der mono- Ohrs voraussetzt, im Laufe der Zeit die Gesamt­ Radiomusik ist so konstruiert, dass sie be­ polistischen Struktur der Weltwirtschaft haben heit des musikalischen Diskurses zu rekonstru­ stimmten Kriterien wie Länge, Angemessen­ die KünstlerInnen die Wahl zwischen dem Ein­ ieren, scheint revolutionäre Musik zu Isolation heit, musikalische Verständlichkeit, Sound­ fügen in die Marktlogik und der kulturellen und Bedeutungslosigkeit zu verdammen. qualität usw. entspricht. Die Vorstellung, dass Irrelevanz. Das eigentliche Problem ist, dass die Zuhörer tatsächlich «auswählen, was sie solche ökonomischen und politischen Schran­ Musik und Kapitalismus Es ist kein Zufall, mögen», ist angesichts einer Welt, in der die he­ ken die ästhetische Dimension als solche beein­ dass die klassischen «Soundtracks» von Befrei­ gemoniale Kultur sich auf ein begrenztes Set an flussen. Das heisst, sie beeinflussen die Entste­ ungsbewegungen hauptsächlich aus Protest­ Vorstellungen beschränkt, die konstant durch hung eines Kunstwerks von innen heraus. 32 ― 33

Das Erlebnis der Grenze: Avant-garde, Free Musik überschnitten und mit ihr verschmol­ lität in einem exzentrischen Verhältnis zur Ge­ Jazz, Art Rock und Punk In den späten 1960er- zen. Selbst Popmusik begann, die Grenzen der sellschaft und Natur steht. Auf der einen Seite Jahren kritisierte Adorno das Verhalten der herkömmlichen Form des Songs aufzubrechen ist Kunst rational, weil Kunstwerke durch die avantgardistischen Musik. Im Versuch, die Un- und produzierte beherzte Versuche, einen Gesetze der Form strukturiert sind. Und doch menschlichkeit kommerzieller und tradition­ musikalischen Diskurs aufzubauen, der nicht ist diese Rationalität nicht identisch mit der in­ eller Musik und deren Bündnis mit dem Sys­ mehr an die Regeln tonaler Sprache, kommer­ strumentellen Vernunft, welche die moderne tem der politischen Herrschaft anzuprangern, ziellen Erfolg oder repetitives Hören gebunden Gesellschaft durchdringt: Das Kunstwerk ist hatte die progressivste Musik jener Zeit jede war: «Art-Rock», wie diese Versuche genannt nutzlos gemäss den pragmatischen Bedürfnis­ Verbindung zur Erfahrung, «Musik geniessen wurden, zielte darauf, alle möglichen musika­ sen von Herrschaft. Auf der anderen Seite ist zu können», verloren: Sie verfolgte immer radi­ lischen Erfahrungen in einer freien Form zu die Kunst expressiv, sie ist bedeutungstragend, aber auf eine Art, die nicht auf Begriffe redu­ ziert werden kann: Sie ist offen für Interpre­ tation. Das ist der Grund dafür, wieso «enga­ gierte Kunst» irgendwie absurd ist. Kunst ist an sich schon ein Protest gegen die Logik der Herrschaft und des Tauschwerts und jeder Ver­ such, sie auf das Medium irgendeiner «Messa­ ge» zu reduzieren, läuft Gefahr, ihr subversives Potential zu verringern. So ist die Idee von l’art pour l’art (Kunst um der Kunst willen) in gewis ­ ser Hinsicht der grösste ästhetische Akt der Rebellion gegen die Gesellschaft und ihre Vor­ schriften. Gleichzeitig aber kann Kunst die ge­ sellschaftlichen Widersprüche nur ausdrücken, nicht aber lösen. Jeder Versuch, in der reinen künstlerischen Rebellion einen Ausweg aus den bestehenden Verhältnissen zu finden, ist dazu verdammt, aus der Kunst einen Götzen zu machen und ins magische Denken zurückzu­ fallen. Wer die Vorstellung einer ästhetischen Revolution zu ernst nimmt, verfällt in Irratio­ nalismus. Aus dem gleichen Grund landet jeder politische Versuch, die Widersprüche des Kapi­ talismus zu umgehen und «jetzt zu handeln», ohne diese Widersprüche vorher einer ernst­ haften ökonomischen und politischen Analyse kaler die unaufgelöste Dissonanz und die Un­ verbinden, uneingeschränkt von den Diktaten zu unterziehen, in politischem Ästhetizismus. vorhersehbarkeit von Melodie und Rhythmus. des Marktes. Gleichwohl konnten all diese Strö­ Jedes echte Kunstwerk muss seinen Weg durch Revolutionäre Musik konnte die Unmensch­ mungen des radikalen Experimentierens die das widersprüchliche soziale Feld finden, in lichkeit nur noch durch Annahme unmensch­ sozialen Grenzen, die ihnen der Kapitalismus dem Form und Inhalt, Ausdruck und Bedeu­ licher Eigenschaften denunzieren (Cage, Stock­- setzte, nicht überwinden: Das Streben nach tung, künstlerische Autonomie und politisches hausen). Dadurch wurde sie, obwohl sie durch­ musikalischer Freiheit sowohl im Rock als auch Engagement sich ohne gegenseitige Versöh­ aus einen ästhetischen Protest gegen das apo­ im Jazz der 1970er-Jahre mündete schliesslich nung treffen. Musik und Kunst sind nur dann litische Vergnügen der Mainstream-Musik in der sterilen Selbstgefälligkeit des «progressive verlässliche Ausdrücke der Befreiung, wenn sie verkörperte und dabei den Horror unter der Rocks» und des «Fusions», deren zunehmende die ungelösten gesellschaftlichen Spannungen Oberfläche des Alltags im Kapitalismus enthüll­ Professionalisierung später von der ehrfurchts­ verkörpern und diese sprechen lassen, statt sie te, zunehmend statisch, mechanisch und aus­ losen Primitivität von Punk und Hip-Hop ab­ge­- ideologisch zu verdecken oder zu mimen. Wir druckslos. Sie wurde zu einer Art Nachahmung lehnt werden sollte. Punk und Hip-Hop drück­ können und dürfen von der Kunst keine revolu­ des Leblosen, dem sie entgegentrat und das ten die Unzufriedenheit über die Widersprüche tionäre Veränderung erwarten, denn sie drückt sie anzuprangern versuchte. Gleichzeitig be­ der moderaten, sozialdemokratischen Politik die gesellschaftlichen Konflikte lediglich aus. gannen diejenigen populären Phänomene, die aus: Die Angst einer verlorenen Generation, Nur durch politische Praxis kann die soziale Adorno in den 1930er- und 40-Jahren noch scharf welche die Brutalität der Ära Thatcher und Re ­ Energie, die Kunst inkorporiert, den Weg zu kritisierte (kommerzieller Jazz und easy-listen­ agan zu spüren bekommen sollte. Es kann kei­ ökonomischem Wandel finden. Revolutionäre ing Musik), einen eigentümlich umgekehrten nen vollständigen ästhetischen Wandel geben, Politik sollte daher nicht versuchen, Kunst in Prozess der ästhetischen Veränderung. Jazz- solange die Gesellschaft keinem politischen ein Instrument des politischen Kampfes zu MusikerInnen wurden zunehmend unzufrie­ Wandel unterzogen wird. verwandeln. Kunst ist nicht dafür da, die Be­ dener mit den Regeln des Jazz der 1950er- und Der Grund für diese Unmöglichkeit liegt in der freiung der Menschen zu predigen (in gewisser 60er-Jahre und begannen, genau all diejenigen Natur der Kunst selbst, in ihrem Verhältnis Hinsicht strebt Kunst aus sich heraus die Befrei­ Muster aufzubrechen, die Adorno zuvor als zum gesellschaftlichen Ganzen und dem Zivi­ ung der gesamten Natur an). Vielmehr sollte regelkonform kritisierte: Rhythmische, melo­ lisationsprozess. Wie alle kulturellen Phäno­ die Politik die Autonomie der Kunst respektie­ dische und harmonische Wiederholung wurde mene hat auch die Kunst ihren Ursprung im ren und die Befreiung der Kunst als solche pro­ durch den avantgardistischen Jazz von Musi­ magischen Denken und dessen Versuch, die pagieren. Das Verhältnis von Politik und Kunst kern wie Ornette Coleman, Cecil Taylor und Natur zu kontrollieren. Im Zivilisationsprozess ist auch Teil des sozialen Widerspruches. Ihre Archie Shepp zunehmend aufgelöst. Dabei wurde der Drang zur Beherrschung und Kon­ Spannungen können daher nur in einer ande­ entstanden beispiellose Formen musikalischen trolle der Natur allmählich vom rationalen ren Gesellschaftsordnung gelöst werden. Experimentierens, die sich in einigen Fällen Denken übernommen, während die Kunst zu mit westlicher «weisser» avantgardistischer einer sozialen Aktivität wurde, deren Rationa­ Marco Maurizi ― 33

«Politischer Rap hat das Potential, Klassenbewusstsein zu reanimieren»

Die Kulturindustrie ästhetisiert den Kapitalis­mus und legt einen hübschen Schleier über die hässliche Realität. Musik, die soziale und politische Pro­zesse auf- und angreift, lüftet diesen Schleier. Genau dies ist die Hauptmo­ ­tivation von Albino, wie er der Tierrechtsgruppe Zürich im Interview erklärt. Im Jahr 2015 feiert der Hip-Hop-Artist sein 20-jähriges Jubiläum.

Albino, du politisierst mit deiner Wechselwirkung stehen und die Analyse der können, wie wichtig und motivierend Arbeite­r­- Kunst und politisierst damit die Kunst. daraus resultierenden Widersprüche nicht nur lieder für die GenossInnen altersübergreifend Was sind deine Anliegen? für mich zu wertvollen Erkenntnissen führen sind. Dennoch denke ich, dass gerade politi­ Ich möchte mit meiner Musik die menschen- kann. Denn darum geht es mir natürlich auch: scher Rap das Potential entfalten kann, Klassen- und naturverachtenden gesellschaftlichen Ver­- mich menschlich und politisch weiterzuent­ bewusstsein zu reanimieren und revolutionäre hältnisse auf- und angreifen. Mir ist Mitte der wickeln und gleichzeitig anderen Menschen Gedanken zu verbreiten. 1990er-Jahre bewusst geworden, dass ein Gross­­- Mut und Motivation zu geben, dies ebenfalls teil der Fragen, die mich intensiv beschäftig­ten, zu tun. Inwiefern hat die Hip-Hop-Kultur etwas von den bürgerlichen Medien so gut wie nicht mit Klassenbewusstsein zu tun? behandelt wurden. Mir fehlten wahrnehmbare Ersetzt politischer Rap gewissermassen Bereits im Strassenrap wird eine Menge Sozial­ Stimmen, die meine Anliegen angemessen re­ das, was das politische Lied für die frühere kritik sicht- und hörbar. Dies geschieht nur präsentierten. Deswegen entschloss ich mich, ArbeiterInnenbewegung war? zumeist in einer Sprache, die für die «emanzi­ meine Inhalte und Themen, wie das Mensch- Für die jüngeren Generationen gilt das sicher. patorische» Linke nicht tragbar erscheint. Die Tier-Verhältnis, imperialistische Kriege, Natur­- Die Alltagskultur sowie die Art der Sprache zieht sich dann gerne angewidert in ihr heime­ zerstörung und Kapitalismuskritik, selber zu ver­ändert sich ja laufend und die Form der liges Szenehäuschen zurück und verschliesst formulieren und in die Öffentlichkeit zu tragen. politischen Lieder somit zwangsläufig auch. Augen und Ohren. Ich finde es wichtig, diese Gleichzeitig habe ich auch immer versucht, in Rapmusik ist dabei wie kaum ein anderes Me­ Barriere zu überwinden, sich zu öffnen, sich meinen Texten einen Bogen zu schlagen zu ei­g­e­- dium in der Lage, soziale Missstände zu schil­ den sozialen Realitäten zu stellen, Zusammen­ ­nen Widersprüchen und «privaten» Prozes­sen dern und zu spiegeln. Zwar habe ich auf dem hänge deutlich zu machen und den Fokus auf in meinem engeren Umfeld, da sie mit den ge­ diesjährigen UZ-Pressefest – dem Volksfest der den Klas­sen­gegner zu legen. Genau hier kommt sellschaftlichen Verhältnissen in einer engen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) – erleben politischer Rap ins Spiel. Dieser sollte po­li­ 34 ― 35

tische Aufklärungsarbeit leisten und so­ lischen Zugang stehen zu bleiben. Ein Teil ANZEIGE zialrevolutionäre Ziele formulieren, ohne der Bewegung hat diese Notwendigkeit dabei einen elitä­ren Kreis linker Szenerap­ erkannt. Dies führte ja schliesslich auch perInnen zu kreieren. dazu, dass sich die Tierrechts- zur Tier­ www.melodieundrhythmus.com befreiungsbewegung weiter entwickelt In dem Track Uffnpunkt von Pyro One hat. Nur dürfen wir auch hier nicht stehen singt die populäre Autonome-Szene bleiben und bei einer Herrschaftskritik Rapperin Sookee: «Antideutsch verharren, die gar nicht dazu in der Lage und Antiimp – Wer organisiert was – ist, zu erklären, wie und warum Herrschaft ich muss jeden Gig checken­ – damit entsteht. Stattdessen müssen wir die Un­ die letztgenannten meinen Shit nicht terdrückung der Tiere aus ihrer Position mitrappen.» Mit diesen Worten in der kapitalistischen Gesellschaft erklä­ positioniert sich Sookee an der Seite ren und unsere Ziele als Teil des Klassen­ POPMUSIK «antideutscher Antifas». In deinem kampfes begreifen. Noch ist es bei weitem Song Ein falsches Spiel hältst du den kein Konsens in der Bewegung, dass die KLASSENKAMPF «Antideutschen» den Spiegel vor. Um Beendigung der Tier­ausbeutung nur über was geht es? die Überwindung des Kapitalismus mög­ Es geht darum, dass ein Grossteil von de­ lich sein wird. Ich hoffe, dass wir dies än­ nen, die sich moderne linke Kultur auf die dern werden, dass wir vermitteln können, Fahnen schreiben, in meinen Augen kul­ dass unser Kampf beispielsweise auch turindustrielle Vasallen und Türöffner gleichzeitig den Kampf gegen imperia­ für die neoliberale Agenda sind. Es ist er­ listische Kriege und soziale Verelendung www.melodieundrhythmus.com September/Oktober 2014 | € 4,90 Mai/Juni 2014 | € 4,90 www.melodieundrhythmus.com schreckend zu beobachten, wie aus einer beinhalten muss. € 5,30 www.melodieundrhythmus.com n: Belgie 5,30 € Belgien: 5,30 € Juli/August 2014 | € 4,90 Frankreich: 5,30 € Frankreich: 5,30 € luxemBurg: 5,30 € luxemBurg: 5,30 € rreich: Öste 8,50 chF Österreich: 5,30 € treffenden Kritik am wiederaufflammen­ schweiz: schweiz: 8,50 chF

Belgien: 5,30 € Frankreich: 5,30 € luxemBurg: 5,30 € den Nationalismus zur Wendezeit eine Österreich: 5,30 € Angenommen, es käme zu einem schweiz: 8,50 chF

T H E menschenverachtende Ideologie erwach­ grossen Streik in einer Schlachtfabrik E L M T A I  T PSYCHOANALYSE DISSONANZEN  NAtioNAL sen konnte, die es geschafft hat, innerhalb des deutschen Branchenprimus MuSiK iNtEr MUSIKGesamtKunstwerK PUSSY RIOT faschismus in Kiew des linkspolitischen Spektrums prokapi­ DAS UNBEWUSSTE DER DEMASKIERT Tönnies – würdest du den kämpfenden POPMUSIK KULTURINDUSTRIE Griechenlands Musiker in der krise KLASSENKAMPF »stritery« in sibirien und iM ural BOSSA, HARDCORE FREUDOMARXISMUS hiGhlife in Ghana LIVE talistische, kriegstreiberische und rassis­ Kollegen und Kolleg­innen einen Konferenz: Simon ReynoldS ARGENTINIENWIDERSTAND CLASSSTARKULT: IeRt dietmaR dath | maRtin newell M&R PR äSent POPROMPIENDO VON UNTEN: SISTEMAS: FEATURE Joe CaRduCCi | u.a. DAS BEDÜRFNIS (WARNACH) MYTHEN BUARQUE/CÉSAR/DOTA/ ScHLAcHTENGESÄNGE tische Positionen salonfähig zu machen. Track widmen? WAR DiE toP tEN MARLEY/RATOS/U.V.A.GEFÄNGNISMUSIK STATT FRIEDENSHYMNEN DAS UNBEHAGEN IN DEr rEvoLutioNSLiEDEr RUSSISCHE MUSIKER ÜBER DIE [Psycho] ANALySE TRAGÖDIE IN DER UKRAINE Das Lied zeigt natürlich Das kann ich mir durchaus vorstellen. Der DER MUSIKKULTUR ANALYSE Ein falsches Spiel »WrEcKiNg BALL« »RISE LIKE A PHOENIX« FREUD MOSHE ZUcKERMANN zum einen meine Verachtung für Leute, Track würde darauf abzielen, dass wir da­ MoShE ZucKErMANN PIONIER DER ANDROGYNITÄT LIVE SCHMELZENDES die von Freiheit schwatzen, gleichzeitig von wegkommen müssen, soziale Kämpfe METALL PRO & CONTRA aber die unmittelbaren Interessen und isoliert voneinander zu betrachten. Dass BRUCE SPRINGSTEEN: KRITIKER DES BEYOND THE AMERIKANISCHEN Bedürfnisse der allermeisten fühlenden wir eine sehr breite, solidarische Bewe­ TRAUMS? REDSHIFT FESTIVAL Indi­vi­duen ignorieren und teilweise sogar gung brauchen, statt vieler single issue LONDON ( MUSIK & ZEITGESCHEHEN ) aktiv bekämpfen. Zum anderen möchte Bewegungen. Der Song würde die Not­ GOOGLE VS. INDIES ich mit dem Song an die linken Wurzeln wendigkeit aufgreifen, den Klassenkampf KoLuMNE ASSociAtioN oF MuSicAL MArxiStSchSweRt J erinnern, die für mich bedeuten, für eine bewusst anzunehmen und zu führen und PRInce & GebRaU sozialistische Gesellschaft­ zu kämpfen, die gleichzeitig deutlich machen, dass Soli­ kaiser chiefs CHAINapes & |THE laibach GANG || KRAFTKLUB | TRICKY | LETZTESEAN INSTANZ LENNON | | SVÄNG SLEAFORD MODS | MADSEN | TORI AMOS | FRIEDEMANN lykke li | Guano frei ist von Krieg, Gewalt, Ausbeutung und da­r­i­tät nicht beim Menschen halt machen daMon albarn | Klassenherrschaft, Armut und Diskrimi­ darf und auch Tiere berücksichtigen muss. nierung. Und diese Vorstellung ist unver­ In diesem Sinne würde ich den streiken­ einbar mit einer «antideutschen Linken», den GenossInnen den Gedanken der Ver­ die aktiv an der Auflösung einer revo­ gesellschaftung und der Konversion der lutionären Bewegung arbeitet. Michael Schlachtbetriebe nahelegen, die für alle Sommer und Susann Witt-Stahl analy­ Beteiligten einen heilsamen Quanten­ sieren und dokumentieren dies in ihrem sprung bedeuten würde. aktuellen Buch Antifa heisst Luftangriff auf hervorragende Weise.

Dein lyrischer Widerstand richtet AKTUELLES ALBUM: sich stets auch gegen die Unterdrück­ ANDERLAND (2013) ung und Er­mor­dung von Tieren. Du bist auch schon länger in der Tier­- rechts- und Tierbefreiungsbewegung aktiv. Was für Entwicklun­gen siehst du in der Bewegung bzw. auch für dich Mit dabei: persönlich? Holger Der Zugang zum Veganismus vollzog sich Burner, bei mir wie bei vielen anderen über Emo­ Master Al, tionen. Die Bilder der Schlachthofrealität, Kallsen, der brutalen Tiertransporte, der Versuchs­ Sokom, labore, all das hat in meinem Innern ein Be­ 12 Finger Dan, Bassbarth, Maddi & Dini, ben ausgelöst, das schliesslich den Schritt Conexion Musical, Callya, EmLyn, ERHÄLTLICH IM BAHNHOFSBUCHHANDEL 8,55 CHF zum Veganismus veranlasste. Ich denke, Minutes from Memory und Madcap UND BESTELLBAR UNTER MELODIEUNDRHYTHMUS.COM dass es wichtig ist, nicht bei diesem mora­ ― 35

«Der fleischgewordene Geist des Kapitalismus»

Rezension – Upton Sinclairs im Jahr 1905 erschienener Enthüllungsroman Der Dschungel, ein Buch über die Lebens­ bedingungen der ArbeiterInnen der Chicagoer Schlachthöfe, ist 2013 vom Zürcher Europa Verlag neu aufgelegt worden. Eine gute Gelegenheit, um aus Tierbefreiungsperspektive einen Blick auf den Klassiker zu werfen.

Sinclair verstand sich als po­ Schlachthöfen von Chicago das Schlachten beschrieben als «der fleischgewordene Geist des litischer Schriftsteller und am Fliessband eingeführt. Es heisst, Henry Kapitalismus» – verantwortlich sind für ihrer hoffte, mit seinen Büchern Ford habe dort die Inspiration für seine Au­ beider Situation: «Sie wollten aus einem Schwein etwas zur Veränderung der toproduktion gefunden. Die immergleichen das Maximum an Profit herausholen; und das­ Gesellschaft beitragen zu Handgriffe wurden in hoher Geschwindigkeit selbe wollten sie auch aus dem Arbeiter und aus können. Im Fokus seines li­- und mit einer Routine ausgeführt, die keinen der Gesellschaft herausholen. Was das Schwein terarischen Schaffens stan- Platz liessen für Mitgefühl mit den Tieren. davon hielt und was es litt, blieb dabei ausser ­den daher sozialkritische Eindrücklich schildert Sinclair diese rationali­ Betracht; und nicht anders verhielt es sich mit Themen mit hohem Rea­ ­­li­ sierte Tötungsmaschinerie: «Es war Schweine­ dem Arbeiter.» tätsbezug. Der Roman Der fleischfabrikation auf maschinellem Wege, Sinclair beklagte sich nach der Veröffentlichung Dschungel, der Bertolt Brecht Schweinefleischfabrikation mit angewandter des Romans, dass er die Öffentlichkeit mit später zu seinem Drama Die Mathematik. Dennoch – irgendwie musste auch seinen Schilderungen ins Herz treffen wollte, Heilige Johanna der Schlacht­ der Hartgesottenste dabei über die Schweine aber lediglich deren Magen getroffen habe. Die höfe inspirierte, spielt in den nachgrübeln. Sie waren so ahnungslos, sie ka­ Bevölkerung zeigte sich angesichts der schlim­ Union Stock Yards in Chicago, wo sich ab Mitte des men so völlig vertrauensselig an, sie waren so men hygienischen Zustände in der Fleischver­- 19. Jahrhunderts die Pro­duktion der nord­ame­ ausgesprochen menschlich in ihrem Protest – arbeitung vor allem um die Qualität ihres Essens ri­kani­schen Fleischindustrie konzentrierte. und sie hatten ja so recht! Sie hatten nichts ge­ besorgt. In der Folge wurden schärfere Gesetze Durch den Konzentrationsprozess­ entstand die tan, wofür sie so etwas verdient hätten, und zur Verbesserung der hygienischen Bedingun­ soge­nannte Packingtown, ein riesiger Schlacht- dem Unrecht wurde noch der Schimpf hinzu­ gen erlassen. In der Tat haben sich diese bis hofkomplex mit Fleischverarbeitungs- und Kon­ ­- gefügt durch die Art, wie die Sache hier ablief: heute stark verbessert, an der Situation der servenfabriken, die um­geben waren von un­ dieses Hochzerren in so herzloser, unpersön­ LohnarbeiterInnen – und der Tiere – hat sich zähligen Viehpferchen. Daneben bildete sich ein licher Manier ohne jede Bekundung von Mit­ aber wenig geändert (siehe die Artikel auf Seite riesiger Slum, in dem die ArbeiterInnen, grös­s- gefühl, ohne den Tribut einer Träne. [...] Es 16 – 19). Obwohl Sinclair nicht die Befreiung der tenteils MigrantInnen und Angehörige ethni­ war ein entsetzliches Verbrechen, das in einem Tiere im Sinn hatte, kann die Tierrechts- und scher Minderheiten, zusammengepfercht­ unter Verlies begangen wird, unbemerkt und unbe­ Tierbefreiungsbewegung aus dem proletari­ schlechtesten hygien­ischen Bedingungen leb­ achtet, dem Blick verborgen und aus der Erin­ schen Roman etwas lernen: Die Tiere sind nicht ten. Sinclair beschreibt die Lebensbedingungen­ nerung gelöscht.» die einzigen Leidtragenden der Fleischindus­ dieser Menschen am Beispiel des lit­au­isch­en Anfangs ist Jurgis froh, selbst kein Schwein zu trie. Vielmehr erwirtschaften die Kapitalis­- Immigranten Jurgis Rudkus und seiner Familie. sein. Mit der Zeit erkennt er aber, dass auch tIn­nen ihre Profite sowohl durch die Ermor­ Nach seiner Übersiedlung in die USA findet Jur­ er «nichts Besseres als ein Schwein» ist, «ein dung von Tieren als auch durch die Ausbeu­ gis Arbeit in einem Schlachthof in Packingtown, Schwein, das den Fabrikanten gehörte». Er er­ tung der lohnabhängigen Menschen. wo er statt der erträumten amerikanischen Frei­ kennt, dass weder das Schwein noch er selbst heit harte Arbeitsbedingungen vorfindet. Opfer eines unabänderlichen Schicksals sind, Tierrechtsgruppe Zürich Für den Sozialisten Sinclair war die Geschichte sondern dass die Betreiber der Schlachthöfe – von Jurgis Rudkus und seiner Familie ein Sinn­bild für die Lebensumstände der Lohn­ arbeiterInnen aus der untersten Schicht der US-amerikanischen Gesellschaft. Es war sein erklärtes Anliegen, ihre Situation zu verbes­ sern. Seine vor Ort recherchierten detaillierten und bildhaften Beschreibungen der Abläufe und Zustände in den Schlachthöfen beleuchten aber nicht nur das Elend der dort arbeitenden Menschen. Sie werfen auch ein Schlag­licht auf das Leid der Tiere, die in den Schlachtstrassen zu Tausenden ihr Leben lassen mussten: «Die Tiere quiekten in allen Tonarten, grunzten, wimmerten vor Todesangst; einen Moment war es still, dann folgte ein erneuter Ausbruch, noch lauter als vorher, aufschwellend zu einem ohrenbetäubenden Inferno.» Um in kurzer Zeit immer grössere Mengen an Fleisch produzieren zu können, wurde in den 36 ― 37

Die Grenzen bürgerlicher Tierethik

Rezension – Der umfangreiche Sammelband Tierethik. Grundlagentexte von Friederike Schmitz hält, was sein Titel verspricht. Das ist zugleich seine grösste Stärke und seine grösste Schwäche. Der Band gibt einen guten Einblick in den Status quo des moraltheoretischen Tierrechtsdiskurses. Wissenschaftliche Schützenhilfe für die Befreiung der Tiere liefern die versammelten AutorInnen nicht.

Wer auf der Suche nach siehe dazu auch die Beiträge von Nussbaum de facto «Eigentum sind» (Francione, S. 160). In einer Einführung in den und Luke, eine gute Übersicht bietet Benton letzter Instanz heiligt der ökonomische Zweck, Mainstream der Tierethik im Band), die entgegen politisch diffamieren­ der Profit etwa eines Tierversuchslabors wie ist oder ein paar einschlä- den Falschbehauptungen Zeit ihrer Existenz Laboratory of Pharmacology and Toxicology (LPT), die gige moralisch-theoretische­ auch in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbe­ Mittel, wie etwa Tierversuche an Mäusen, Rat­ Argumentationen älteren wegung formuliert worden sind, sind vor allem ten, Hamstern, Meerschweinchen, Kaninchen, und jüngeren Datums ins­ zwei entscheidend, um seine Theorie zu verwer­ Hunden, Affen, Katzen, Schweinen, Fischen besondere aus dem eng­ fen. Singer akzeptiert erstens die derzeitigen und Vögeln. lischsprachigen Raum ken­- gesellschaftlichen Verhältnisse als Grenze für Francione erklärt die bestehenden Eigentums­ nenlernen will, sollte dieses seine praktische Ethik. In der Konsequenz be­ verhältnisse nicht historisch-materialistisch, er Buch kaufen. Um sich mit schneidet er zweitens seine Philosophie, der untersucht sie auch nicht in ihrer bürgerlichen den Kernaussagen der Au­- zufolge so gehandelt werden soll, dass am Ende Besonderheit oder analysiert im Anschluss da­ torInnen vertraut zu ma­ das grösstmögliche Glück generiert wird, weil ran ebenso wenig, welcher Platz Tieren in der chen, muss man aber nicht Glück in der gegenwärtigen Gesellschaft nur kapitalistischen Produktionsweise durch die unbedingt die 580 Seiten des mitunter er­ beschränkt hergestellt werden kann. Der Uti­ gesellschaftliche politisch-ökonomische Praxis müdenden moralphilosophischen Kleinkleins litarist kann sich schlicht keine Bewegung zugewiesen wird. Stattdessen behauptet er, dass durchackern. Es reicht eigentlich aus, die von vorstellen, in der gleichzeitig das Glück aller «der Eigentumsstatus [der Tiere; C.S.] unmit­ der Herausgeberin Friederike Schmitz hervor­ verwirklicht wird. Abgesehen von der kruden telbar auf der Idee» der Menschen beruhe, «dass ragend lesbare und ausführliche Einleitung Annahme, Glück sei quantitativ messbar, haben Tiere – anders als Menschen – kein Interesse an zum Band zu lesen. Der Eindruck, der sich be­ diese Prämissen zur Folge, dass das Glück und ihrem Leben haben, weil sie sich kognitiv von reits aus ihren Ausführungen auf den ersten das Leiden verschiedener Individuen, deren In­ uns unterscheiden» (Francione, S. 161), weil sie 70 Seiten ergibt, erhärtet sich bei der weiteren teressen aufgrund ihrer Leidensfähigkeit mo­ «als Eigentum der Menschen betrachtet wer­ Lektüre leider: Man lernt schnell, warum die ralisch relevant sind, gegeneinander abgewo­ den» (Francione, S. 172, Herv. C.S.). Tiere wür­ abgebildete Tierethik weder politischen Akti­ gen werden müssen: das Glück eines Schweins den also nicht unterdrückt, weil Menschen ein vistInnen noch wissenschaftlichen Theoretike­ gegen das Leiden eines menschlichen Säug­ speziesistisches Vorurteil haben, sondern weil rInnen anzuempfehlen ist, die sich zu Recht für lings, das Leid eines kranken Menschen gegen sie Tiere aufgrund ihres speziesistischen Vor­ die Befreiung der Tiere von der Barbarei in den das Leid des Versuchstiers und so weiter. Diese urteils – der absoluten «kognitiven Differenz» Schlachthöfen, Mastanlagen, Tierversuchsla­ perverse Rationalisierung der bürgerlichen Ge­- (Francione, S. 161) – zu Eigentum machten. Mit boren, Pelzfarmen und so weiter einsetzen. sellschaft kann niemandem als Leitfaden dafür dieser metaphysischen Begründung für Aus­ dienen, die nichtmenschlichen wie die mensch­ beutung der Tiere durch die KapitalistInnen Bürgerliche Tierethik, … Beispielsweise Peter lichen Tiere von ihrem gesellschaftlich er­ trennt Francione weniger von Singers Position, Singers präferenzutilitaristische Moralphiloso­ zeugten Leid zu befreien. Zumal Singer auch – derzufolge die Ausbeutung von Tieren auf «ein phie basiert auf der Vorstellung, dass die Inte­ seiner Philosophie immanent – die Tötung oder Vorurteil oder eine Voreingenommenheit ge­ ressen aller leidensfähigen Wesen auch in der Nutzung von Tieren nicht grundsätzlich ab­ genüber Wesen aufgrund ihrer Spezies» (Sin­ Ethik berücksichtigt werden müssten, daher lehnt. Wesentlich ist für ihn, ob «die allgemei­ ger, S. 81) zurückzuführen sei, als seine radikal auch zumindest die des Gros der Tiere. Anhand ne Glücksbilanz stimmt» (Schmitz, S. 53), wie erscheinende Kritik auf den ersten Blick sug­ von Vergleichen etwa zwischen neugeborenen Schmitz in ihrer Einleitung zu Recht kritisch geriert. Francione konterkariert durch seinen Menschen und Menschenaffen zeigt er in sei­ bemerkt. Rückfall in den Idealismus seine richtige und nem Aufsatz, dass die gängigen Abgrenzungen Gary L. Francione, einer der historischen Vor­ wegweisende Erkenntnis, dass die moralische zwischen Menschen und Tieren entlang be­- reiter der rechtswissenschaftlichen Debatte Einstufung der Tiere belanglos ist, solange sie s­timmter ausgewählter Eigenschaften wie zum über den Ein- und Ausschluss von Tieren ins Eigentum – genauer müsste man sagen: Privat­ Beispiel der Vernunft nicht haltbar sind, weil Rechtssystem, verwehrt sich gegen die – unter eigentum der KapitalistInnen – sind. auch nicht alle Menschen diese besitzen. An­ anderem von Peter Singer vorgenommene – ders als ihm fälschlicherweise unterstellt wird, Verknüpfung von Leidens- und kognitivem Tierrechte … Tom Regans Ansatz, Tieren uni­ schlussfolgert er daraus aber nicht die Abwer­ Vermögen zur Begründung von Tierrechten. verselle Rechte zuzusprechen, weil sie «Subjekt- tung der Menschen, die nicht dem Idealbild Für ihn bedürfe es «ausser der Empfindungsfä­ eines-Lebens» (Regan, S. 101) seien, war für die entsprechen (so genannte «nicht-paradigma­ higkeit keiner anderen geistigen Fähigkeit [...], historische US-Tierrechtsbewegung bedeutend,­ tische Menschen» (Pluhar, S. 112)), sondern den um in die moralische Gemeinschaft aufgenom­ auch wenn er theoretisch kaum haltbar ist. Einschluss bestimmter Tiere in die moralische men zu werden» (Francione, S. 154). Im Wider­ «Subjekt-eines-Lebens» sind alle Lebewesen un­- Gemeinschaft. spruch zu Singer gesteht Francione ein, dass abhängig ihrer Spezies, die Überzeugungen, Neben zahlreichen anderen Kritiken der Sin­ «Tiere keinen inhärenten oder intrinsischen Wünsche, Absichten und einen gewissen Zu­ gerschen Philosophie (für moraltheoretische Wert» in unserer Gesellschaft hätten, weil sie kunftsbezug haben. Unter dieser Vorausset­ ― 37

zung hätten zumindest die meisten Säugetiere cken die genannten TierrechtstheoretikerIn­ ken – eine stumpfe Waffe im Konflikt mit einer im fortgeschritten Alter unhintergehbare Rech­ nen im Band durch eine erstaunliche Ignoranz ökonomisch, politisch und ideologisch hoch­ te, wie das der körperlichen Unversehrtheit. gegenüber kritischer Rechts- und Staatstheorie. gerüsteten herrschenden Klasse, deren Hege­ und Will Kymlicka, zwei der der- Um das zu erkennen, muss man kein/e Verfechte­ monie sogar bis weit in die Linke hineinreicht, zeit aufgehenden Sterne am Himmel der Tier­ rIn von Paschukanis' Rechtstheorie, Marx’ Ein- wenn es darum geht, ob das Schlachten been­ rechtsdebatte und der Human-Animal-Studies, geht schätzungen des bürgerlichen Nationalstaats det werden soll oder nicht. Selbst die Integra­ Regans Herleitung von Tierrechten aus den in­ oder Hirschs Staatsableitungsthese sein. tion in die bürgerliche Demokratie, wie sie die trinsischen Eigenschaften der Tiere nicht weit Der ökosozialistische Soziologie-Professor Ted Eliten unter den Frauen, Schwarzen und Ho­ genug. Sie formulieren in ihrem Essay, dass man Benton etwa kritisiert Tom Regans moraltheo­ mosexuellen erreicht haben, ist für Tiere nahe­ zusätzlich zu den gemeinsamen Fähigkeiten retische Begründung für Tierrechte in seinem zu ausgeschlossen. Sie können sie weder in der «eine ganze Reihe von moralisch bedeutsamen Aufsatz mit einigen guten Argumenten. Er Auseinandersetzung mit den Kapitalisten er­ politischen Beziehungen zwischen Menschen verweist darauf, dass die formale Existenz von kämpfen noch wäre sie für die Kapitalverwer­ und Tieren in den Blick nehmen» müsse, «von Rechten in «kapitalistisch-liberalen Gesell­ tung und die Herrschaft ähnlich funktional. denen jede mit je eigenen, spezifischen Rech­ schaften» (Benton, S. 499) auch bei Menschen Bürgerliche Emanzipation ist ein Widerspruch ten und Pflichten verbunden ist» (Donaldson/ nicht dazu führt, dass diese auch wirklich ihre in sich. Kymlicka, S. 582). Quelle der Tierrechte seien Rechte wahrnehmen können, weil sie durch die Eine den gegenwärtigen gesellschaftlichen Ver­ also etwa «Beziehungen, die sich durch Zusam­ politisch-ökonomischen Herrschafts- und Aus­ hältnissen angemessene Moral überführte sich menarbeit und kollektive Selbstverwaltung, beutungsverhältnisse unterminiert werden. aufgrund der Einsicht in die eigene Ohnmacht sowie Beziehungen, die sich aus früheren In­ Zu­dem erklärt er, dass das bürgerliche Recht der eigenen politischen und theoretischen Un­- teraktionen oder historischer Ungerechtigkeit das Produkt eben jener historisch besonderen ­zulänglichkeit. Politisch-ökonomische Gesell­ ergeben» (Donaldson/Kymlicka, S. 550). Gesellschaften sei, deren Matrix sich dadurch schaftstheorie und – darin inbegriffen – Ideo ­ Aus diesen ergibt sich für die beiden AutorIn­ ­nen auszeichnet, dass die Natur und Tiere keine logiekritik bildeten die Fluchtpunkte revolu­ unter anderem, dass domestizierte Tiere als Rechtssubjekte sind und auch nicht sein kön­ tionärer Moral, die sich ihrer eigenen Grenzen «Mitbürger» mit Staatsbürgerschaft inklu­sive nen. Schliesslich sind sie weder Subjekte in der in einer Gesellschaft bewusst geworden ist. aller «staatsbürgerlichen Rechte» (Donald­son/ kapitalistischen Zirkulation noch sind sie in Der kategorische Imperativ – eigentlich eine Kymlicka, S. 552) und Pflichten in einem ge­ der Lage, Klassenkampf für sich zu führen. theoretische Unmöglichkeit für historische mischten politischen Kollektiv aus Menschen MaterialistInnen – besteht darin, alle Verhält­ und Tieren zu behandeln seien. Tiergemein­ … und ihre Grenzen Den Horizont der bürger­ nisse umzuwerfen, in denen Mensch und Tier schaften zum Beispiel «wildlebender Tiere» lichen Ethik und des Versprechens bürgerlicher erniedrigte, geknechtete, verlassene, verächt­ (Donaldson/Kymlicka, S. 565) wiederum sollten Emanzipation, das heisst die Hoffnung auf die – liche Wesen sind, und eine Gesellschaft einzu­ als souverän betrachtet werden. ob nun durch Rechte oder andere Mechanismen richten, in der Ethik nicht nur denk-, sondern Die Schwächen beider Ansätze liegen auf der gestaltete – Integration der Tiere in die realexis­­ auch umsetzbar wäre. Solange Moraltheorie, Hand. Individuen in bürgerlichen Gesellschaf­ tierende Demokratie, überschreitet kaum einer sei sie politisch oder juristisch, nicht derart ten erhalten ihre Menschenrechte weder auf­ der AutorInnen des Bandes. Das Problem daran über sich hinaustreibt, sorgt sie dafür, dass die grund biologisch-physischer, geistiger, emoti­ ist: Positive Moralphilosophie scheitert, wo die bestehende gesellschaftliche Totalität fortbe­ onaler Gemeinsamkeiten noch infolge ihrer reale politisch-ökonomische Praxis der Gesel­l­- stehen kann – mit den hinlänglich bekannten politischen Beziehungen untereinander. Diese schaft beginnt. Ihre Einrichtung erlaubt es Folgen für die arbeitende Klasse und die Tiere. sind das Resultat (historischer) Klassenkämpfe. dem Einzelnen nicht, politisch nach ethischen In den idealistischen Theorien Regans sowie Erwägungen zu handeln. So gut sie auch ge­ Die vorliegende Rezension erschien erstmals auf: Donaldsons und Kymlickas wird diese reale meint ist, soviel Emphase, Empathie, Wut und www.kritisch-lesen.de (Ausgabe 33 vom 1. Juli 2014) geschichtliche Genese des bürgerlichen Rechts berechtigte Empörung in ihr steckt, bleibt sie allerdings ausgeblendet. Ohnehin beeindru- hohle Phrase, individualistisches Wunschden­ Christian Stache

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Die Einheit im Kampf um die Befreiung von Mensch und Tier

Rezension – Der in der Reihe theorie.org erschienene Band Antispeziesismus von Matthias Rude legt die linken Wurzeln der Tierbefreiungsbewegung frei. Das Buch lässt hinsichtlich der Verbindung der Kämpfe um die Befreiung von Mensch und Tier einige Fragen offen. Dennoch liefert es einen wertvollen Einstieg für die Entwicklung eines Dialogs zwischen MarxistInnen und TierbefreiungsaktivistInnen.

«Das Streben nach der Befrei­ung Sicherlich darf die Analogie zwischen den Be­ Theorie dienen konnte» (S. 51). Genannt werden der Tiere und der Wunsch, die wegungen des Antirassismus (oder des Antisex­­ dabei u. a. Persönlichkeiten wie Benjamin Lay, Menschheit zu emanzipieren, ismus) und des Antispeziesismus nicht über­ Jean-Jacques Rousseau, Sylvester Graham, Lew verfolgen kei­n e u n t e r­s c h i e d­l i c h­- betont werden. «Tatsächlich stehen aber die Tolstoj, Louise Michel («die Rote Wölfin»), en Zie­le oder Interessen; sie lassen Ideologien und Herrschaftsverhältnisse, gegen Bertha von Suttner, die 1898 mit der Veröffent­ sich nicht gegeneinander aus­ die sie sich richten, derart miteinander in Ver­ lichung ihres Buches «Schach der Qual» die spielen, im Gegenteil gilt: Tier­ bindung, dass die Bestrebungen zur Befreiung Tierschlachtung und Tierexperimente anpran­ befreiung ist Voraussetzung und der Menschheit ihre Ziele nicht erreichen kön­ gerte, und der Kommunist Friedrich Wolf. Resultat der Emanzipation des nen, wenn sie ihren Blick vor der Unterdrückung Als besondere Persönlichkeit hebt er Rosa Menschen» (S. 15). So die Grund­ der Natur verschliessen» (S. 17). Genau hier Luxemburg hervor. Rude schreibt: «Das Den­ these­ des Buches Antispezies­is­mus sieht Rude die linke, antikapitalistische Bewe­ ken Rosa Luxemburgs ist bestimmt von einer von Matthias Rude – geboren gung gefordert. Denn «eine Linke, die Tieraus­ natürlich empfundenen, grundsätzlichen Ver­ 1983, Studium der Philosophie beutung nicht thematisiert [...], setzt nicht an bundenheit mit allen fühlenden Wesen, man und Religionswissenschaften in der Wurzel des Problems an und blendet ein kann von einem Solidaritätskonzept sprechen, Tübingen, aktiv in der Antispeziesistischen Ausbeutungsverhältnis aus, auf welchem der für das Speziesgrenzen keine Rolle spielen» Aktion Tübingen und «in der Linken» (Buch­ gesamte kapitalistische Gesellschaftsbau und (S. 114). Und: «Das Denken Rosa Luxemburgs» umschlag). die Herrschaft des Menschen über den Men­ kann in Hinsicht auf die «Solidarität mit den Unter dem Begriff «Antispeziesismus» versteht schen wesentlich gründen» (S. 16). Sie läuft Ge­ Unterdrückten [...] egal, welcher Spezies sie der Autor eine Theorie und Praxis, die sich ge­ fahr, die Radikalität ihrer Kritik einzubüssen angehören [...] tatsächlich visionäre Impulse gen den Speziesismus, also gegen den «gesamt­ und «muss sich daher jetzt der Frage stellen, ob geben» (S. 110). Das besondere an Rosa Luxem­ en Komplex von Vorurteilen gegenüber Tieren», sie auch auf diesem Feld den Kampf aufnimmt burg sei das Bewusstsein, Tiere als Individuen gegen ihre «Verdinglichung, Verachtung und oder es bürgerlichen Bewegungen überlässt, wahrzunehmen: «Luxemburg bedient sich grenzenlose Ausbeutung» richtet (S. 14). Er stellt womit sie hinter diese zurückfallen und die einer Sprache, die frei von speziesistischen dabei heraus, dass die «wesentliche Grundlage Chance preisgeben würde, eine wahrhaft be­ Wendungen ist; Tiere nimmt sie keineswegs als der Tierausbeutung» nicht eine wie auch im­ freite Gesellschaft zu erreichen» (S. 18). blosses Exemplar oder als Objekt von Studien mer geartete «speziesistische Ideologie oder der wahr, im Gegenteil begegnen sie ihr stets als Mensch-Tier-Dualismus» ist, «sondern die ka­ Historische Beispiele Insgesamt beschränkt Individuen mit eigener Persönlichkeit» (S. 112). pitalistische Produktionsweise» (S. 183). Er bie­ der Autor seine inhaltliche Argumentation für Am 7. Januar 1917 schreibt sie in einen Brief an tet damit einen materialistischen Ansatz und den Antispeziesismus allerdings stärker, als Hans Diefenbach: «Sie wissen, ich fühle und beruft sich auf den Marxisten und Tierbefrei­ das ein Buch in der Reihe theorie.org erwarten leide mit jeglicher Kreatur» (S. 115). ungsaktivisten Marco Maurizi: «Wir beuten liesse. Beispielsweise bleibt im Dunkeln, was Zu kritisieren ist an diesem historischen Abriss Tiere nicht aus, weil wir sie für niedriger halten, genau unter dem Begriff «Tierausbeutung» zu aber sowohl die eklektizistische Herangehens­ sondern wir halten Tiere für niedriger, weil wir verstehen ist und welche Formen diese in der weise, als auch der Fokus auf eine reine Per­ sie ausbeuten» (S. 183). heutigen Gesellschaft annimmt. Unklar bleibt sonen- und Ideengeschichte. Es gelingt dem So wie der Rassismus «als ideologische Recht­ ebenso, wie eine Befreiung der Tiere konkret Autor, weder einen tatsächlichen «roten Faden» fertigung für europäische Herrschaftsinteres­ aussehen würde. durch die Geschichte zu ziehen, noch die mate­ sen entstand, bildete sich der Speziesismus als Der Hauptteil des Buches bietet eine Art histo­ riellen – sprich: ökonomischen – Ursachen für Legitimationsideologie für das Ausbeutungs­ rischer Abriss, verbunden mit der Intention, das Aufkommen einer Tierrechtsbewegung auf­­- verhältnis gegenüber Tieren» (S. 16). Sowohl dem die «zahlreichen Verbindungen und Wechsel­ zuzeigen. Ein Kapitel, in dem Rude den «Ur­ Rassismus als auch dem Speziesismus fehlen wirkungen» aufzuzeigen, die zwischen der sprung der Tierbefreiungsidee» in dem sich ent­ «heute aus wissenschaftlicher Sicht vollkom­ Tierrechts- und «der Arbeiter-, Frauen- und wickelnden Kapitalismus lokalisiert, bleibt in men die Basis» (S. 16). Sie seien Konstrukte, um Friedensbewegung bestanden» (S. 11) und auch den Ansätzen stecken (S. 28f). Und auch bei den die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse heute noch bestehen. Es ist eine Art Streifzug Persönlichkeiten, die er aufzählt, scheint das der kapitalistischen Gesellschaft im Sinne der durch die revolutionären Bewegungen des einzige Kriterium zu sein, dass sie sowohl im Herrschenden aufrechtzuerhalten. Rude kon­ 17. – 20. Jahrhunderts (bürgerliche Revolu­ ­tionen Sinne der Tierrechtsbewegung als auch der Ar­ statiert: «Obwohl also die Entwicklung der in England und Frankreich, Abolitionismus- beiterInnen-, Frauen- bzw. Friedensbewegung Produktivkräfte inzwischen einen Stand er­ Be­wegung in den USA, Pariser Kommune, gewirkt haben. Es werden allerdings auch Per­ reicht hat, der es ohne Weiteres ermöglichen deutsche ArbeiterInnenbewegung) – mit kurzen sonen wie Gustav Struve, Clara Wichmann oder würde, auf die traditionell in der westlichen Exkursen etwa in das zaristische Russland oder Magnus Schwantje und Gruppierungen wie Kultur verankerte Tierausbeutung und das auch in den realen Sozialismus. der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK) damit verbundene Leid zu verzichten, wird sie Dabei stellt Rude heraus, «dass der Vegetaris­ oder die Lebensreformbewegung ge­n a n ­n t , fortgesetzt» (S. 13f). mus [...] als integrales Element revolutionärer ohne genauere politische Einordnung und Ein­ ― 39

schätzung, ob sie tatsächlich progressiv in der wieder auf und verortet sie (und damit auch zwar mehrfach betont, aber weder ökonomisch­ - ArbeiterInnen-, Frauen- bzw. Friedensbewe­ sich) in der linken Tierbefreiungsbewegung. gesellschaftlich noch philosophisch-ideologisch­ gung gewirkt haben. Er stellt nochmals dar, dass der Kampf um die hinreichend belegt. Wünschenswert wäre bei­ Befreiung der Menschen und der Tiere in einer spielsweise eine Argumentation der Thesen, Moderne Tierbefreiungsbewegung Aufschluss­ dialektischen Wechselwirkung stehen – «sie «dass Naturbeherrschung Menschen­beher­r­- reich ist der abschliessende Teil, in dem sich sind eins» (S. 188). Es geht nicht um eine Bevor­ schung einschliesst» (S. 188), oder dass «Tier­ der Autor der «modernen Tierbefreiungsbe­ zugung des einen oder des anderen Kampf­ befreiung [...] Voraussetzung und Resultat der we­gung» (S. 154) widmet, die Ende der 1960er- feldes, wie das von linker Seite gerne unterstellt Emanzipation des Menschen» ist (S. 15). Jahre – getragen von der Kritischen Theorie wird, sondern um die Einheit dieses Kampfes. Trotz der genannten Schwächen, würde ich das (Frankfurter Schule) – einen Aufschwung er­- «Wie die Tierbefreiungsbewegung notwendig Buch dennoch empfehlen – vor allem als Ein­ lebte. Diese Bewegung litt – nicht zuletzt auch anti­kapitalistisch sein muss, kann die antika­ stieg in die Beschäftigung mit der heutigen wegen einer Entfremdung von der Arbeite­ pitalistische Linke die Forderung nach der Be­ Tierbefreiungsbewegung. Dass dies sinnvoll ist, rInnen- bzw. der kommunistischen Bewegung – freiung der Tiere nicht länger unbeachtet las­ zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre. an «Theorie­armut» und Verbürgerlichung sen. Zum Aufbau einer starken Bewegung, die In der Tierbefreiungsbewegung bewegt sich (S. 182). So kam es auch dazu, dass die Bewe­ ihrem Verlangen nach gesellschaftlicher Be­ einiges: Sie erkennt ihren antikapitalistischen gung teil­weise von rechtem Gedankengut freiung Ausdruck verleihen will, wären beide Charakter und stösst auf der Suche nach revo­ infiziert wurde: Beispiele sind die «Vernich­ ideale Bündnispartner. Dazu muss die Tierbe­ lutionärer Theorie zum Marxismus (so z. B. tungsethik» Peter Singers (S. 164) oder Holo­ freiungsbewegung aus dem Bann bürgerlicher die Gruppe «Assoziation Dämmerung»). Als caust-Vergleiche à la Helmut F. Kaplan (S. 167). Ideologie treten, und die Linke ihre Tierfeind­ MarxistInnen sind wir jetzt gefragt, ihnen die Gegen diese Tendenzen wendet sich die linke lichkeit ablegen» (S. 189). Hände zu reichen. Es geht darum, gegenseitige Tierbefreiungsbewegung, die sich seit Ende Vorbehalte abzubauen und anzufangen, in ei­ der 1990er-Jahre und verstärkt seit den letzten Fazit Es gelingt dem Autor zu zeigen, dass die nen Dialog zu treten. Dieses Buch bietet dahin­ Jahren formiert. Sie versteht sich zunehmend Tierbefreiungsbewegung in ihrer Tradition gehend zahlreiche Anknüpfungspunkte. als antikapitalistisch und nimmt den Kampf «genuin links» (S. 185) ist, und «der Kampf für gegen den Opportunismus in ihren eigenen Tier­befreiung stets auch ein Kampf für die Die vorliegende Rezension erschien erstmals in der Reihen auf. Sie hat erkannt, dass es «ohne re­ Befreiung des Menschen war und er sich, wo Zeitschrift Marxistische Blätter (4/2014, S. 140-143) volutionäre Theorie [...] keine revolutionäre er konsequent war, im Rahmen antikapitalis­ Bewegung geben» kann (S. 183) und dass es tischer und sozial­istischer Bestrebungen äus­­- Mark Hadyniak studiert Archäologische nicht allein um individuelle Konsumentschei­ serte» (S. 185). Zu kurz kommt jedoch die Argu­ Wissenschaften in Bochum. Er ist Redaktions­ dungen geht, sondern die Befreiung der Tiere mentation, warum es für die antikapitalistische assistent bei den Marxistischen Blättern nur «gegen massive ökonomische Interessen» Linke ebenso notwendig ist, den Kampf für und veröffentlichte dort u.a. einen Artikel über erkämpft werden kann (S. 188f). die Befreiung der Tiere mit einzuschliessen. die Effizienz, Notwendigkeit und Konsequenzen In diesem Kontext steht auch das hier rezen­ Anders formuliert: Die dialektische Einheit des der modernen industriellen Tierproduktion. sierte Buch: Zum Schluss nimmt der Autor die, Kampfes um die Befreiung von Mensch und in der Einleitung begonnene Argumentation Tier aus der kapitalistischen Ausbeutung wird

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Es kam zu Von Nick Brauns Auseinandersetzungen, dabei zeigen Türkei vor Bürgerkrieg Fernsehaufnahmen, wie Spezialein heiten der Polizei Demonstranten Polizei und Paramilitärs ermorden Dutzende kurdische Demonstranten. Verteidiger von mit Pfefferspray angreifen. Es blieb Kobani fordern Hilfskorridor. unklar, ob Demonstranten verletzt - oder festgenommen wurden. In St. er türkische Staatspräsident Louis war am Mittwoch ein junger Recep Tayyip Erdogan und Schwarzer von einem weißen Polizi Ministerpräsident Ahmet Da- sten erschossen worden. Der Vorfall D ereignete sich nur wenige Kilometer Jetzt neu im Netzvutoglu riskieren mit ihrer Syrien-Po- von dem Ort Ferguson entfernt, wo- litik zunehmend einen Bürgerkrieg im es im August nach einem ähnlichen eigenen Land. Trotz Ausgangssperren Fall zu tagelangen Ausschreitungen in mehreren kurdischen Provinzen gekommen war. Der 32jährige Po und in den Innenstädten aufgefahre- lizist sei nicht im Dienst gewesen, www.jungewelt.dener Panzer gingen am Freitag erneut habe aber in seiner Uniform für eine Hunderttausende Demonstranten Sicherheitsfirma gearbeitet, teilten gegen die Unterstützung der Regie- (Reuters/jW) - die Behörden mit. Er sei beurlaubt rungspartei AKP für die Terrororgani- worden, die Ermittlungen dauerten sation »Islamischer Staat« (IS) auf die an. Straße. Polizei und Militär eröffneten - mehrfach das Feuer auf die Prote stierenden. Dabei riefen Beamte nach 12 000 Kurden zu Angaben kurdischer Medien Parolen 000 zogen die Dschihadisten weiter Kämp des IS. Seit Dienstag kamen bei den Kundgebung erwartetBis zu 12 - fer und schwere Waffen aus anderen Protesten nach Angaben von Innen- Regionen vor Kobani zusammen. Am Düsseldorf/Kassel. minister Efkan Ala 31 Menschen000 festgenom ums Freitag konzentrierten sich die Angriffe Kurden werden an diesem Samstag Leben. Mehr als 350 Menschen seien - einen Konflikt zwischen diesen Kräf- des IS auf die Verbindungsstraße zur zu einer Demonstration gegen die - verletzt und über 1 - OSMAN ORSAL / REUTERS / ORSAL OSMAN ten und der kurdischen Freiheitsbewe- türkischen Grenze, offenbar mit dem Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in men worden. 1 113 Gebäude und 1 117 - Die türkische Regierung setzt – wie hier am Donnerstaggung zu provozieren. in Diyarbakir »Diese – Militär Angriffe gegen DemonstrantenZiel, die Stadt ein vollständig abzuriegeln. Düsseldorf erwartet. Hinweise auf Fahrzeuge wurden demnach in Brand - wurden ausgeübt, um die Unterstüt- Die Vorsitzende der Partei der Demo geplante Provokationen oder Ge - gesetzt. mistisch und kurdisch-nationalistisch zung der kurdischen Gesellschaft für In Gaziantep – einer Durchgangs- kratischen Union (PYD), Asia Abdul gendemonstrationen gebe es bislang orientierte Hüda Par ist eine Front- Kobani zu unterbinden.« lah, appellierte aus Kobani an die Anti- nicht, sagte eine Polizeisprecherin stadt für ausländische IS-Kämp Der IS, der Kobani im Rahmen ei - organisation der verbotenen sunniti- IS-Allianz, einen »Hilfskorridor« über am Freitag. Seit den schweren An fer nach Syrien – ermordeten mit schen Hizbullah, deren Mitglieder in ner seit fast einem Monat andauernden türkisches Staatsgebiet zu öffnen. So griffen des IS auf die nordsyrische Schusswaffen und Macheten bewaff- - den 90er Jahren im Rahmen staatli- Großoffensive angreift, habe derzeit ein könne Unterstützung aus den anderen Stadt Kobani gehen Kurden in ganz nete Faschisten in der Nacht zum cher Konterguerilla Tausende zivile Viertel der Stadt unter seiner Kontrolle, zum Selbstverwaltungsgebiet Rojava Europa auf die Straße. In Düsseldorf- Freitag vier kurdische Demonstran - PKK-Unterstützer ermordet hatten. erklärte der Verteidigungsminister von gehörenden Kantonen sowie aus dem soll auch für die Freilassung des in ten. In Bingöl erschoss die Polizei Hizbullah-nahe Vereine, die in den Kobani, Esmat Al-Scheich, am Freitag. Nordirak zu den Verteidigern von Ko der Türkei inhaftierten PKK-Führers- fünf Insassen eines fahrenden Autos, - - Armenvierteln kurdischer Großstädte Nach unbestätigten Meldungen fiel die bani gelangen. Abdullah Öcalan demonstriert wer bei denen es sich ihr zufolge um PKK- aktiv sind, konnten in den letzten Jah- Kommandozentrale der Volksverteidi n Siehe Seite 3 den. Am Freitag besetzten kurdische Mitglieder gehandelt haben soll, die ren selbst in der PKK-Hochburg Di- gungseinheiten (YPG) in die Hände Aktivisten kurzzeitig die SPD-Zen zuvor bei einem Anschlag auf den yarbakir Hunderttausende Anhänger - der Islamisten, die zudem die Innen trale in Kassel. Knapp zwei Dutzend - Provinzpolizeipräsidenten zwei Be anlässlich des Prophetengeburtstages stadt mit Artillerie beschossen. Trotz junge Frauen und Männer hielten amte getötet hätten. In Diyarbakir und mobilisieren. Hinter den aktuellen Luftangriffen der US-geführten Allianz einen Sitzstreik ab, um gegen die IS-- anderen Städten erschossen Mitglie- Angriffen islamistischer Paramilitärs Barbarei zu protestieren. Sie forder der der offen mit dem IS sympathi- stecke der Staat, warnte PKK-Füh ten die hessische Landesregierung(dpa/jW)

sierenden »Partei der Freien Sache« rungskader CemilAzadiya Bayik Welat in. Ziel der Ta-sei es, auf, Maßnahmen gegen das Massa (Hüda Par) mehrere Demonstranten. geszeitung ker in Kobani zu ergreifen. wird herausgegeben von Islamistische Paramilitärs verschlepp- - Bundesausschuss Friedensratschlag junge Welt ten und folterten zudem kurdische 1 593 Genossinnen und Genossen die Entscheidung in Oslo. Beide hätten Aktivisten, bevor sie diese der Polizei (Stand 4.10.2014) große Verdienste, aber nicht in dem zur Festnahme übergaben. Die isla- - Sinne, den Alfred Nobel in seinem Te lash Satyarthi hat sich die Befreiung Informationen: www.jungewelt.de/lpg - - stament für den Preis vorgesehen habe. der Kinder zur Aufgabe gemacht. Er - Statt dessen wären beispielsweise der gründete die Organisation »Bachpan Whistleblower Edward Snowden, Wi - Bachao Andolan« (Bewegung zur kileaks-Gründer Julian Assange oder - Nobelpreisnachdem fürihr die Taliban vorKinderrechte zwei Jah Rettung der Kindheit) und rettete Tau die kolumbianische Regierung und die ren bei einem Anschlag ins Gesicht - - sende aus Sklaverei und Schuldknecht Guerillaorganisation FARC, »die sich schossen. 2013 schmückte sich US- Komitee in Oslo ehrt Malala Yousafzai und Kailash- schaft.Satyarthi Allein in seiner Heimat Indien auf einen schwierigen Friedensver (dpa/jW) er Friedensnobelpreis geht in Präsident Barack Obama mit ihr bei schuften offiziellen Angaben zufolge handlungsweg gemacht haben«, besse diesem Jahr an Malala Yousaf einem Empfang im Weißen Haus. Für 12,6 Millionen Kinder. Sie müssen re Preisträger gewesen. zai aus Pakistan und Kailash die kurze Zeit später ebenfalls in Wa - Müll sammeln, Steine schlagen, Obst n Siehe www.jungewelt.de D shington anwesende, damals neun Jah an Marktständen verkaufen oder Tee Satyarthi aus Indien. Das gab der Chef re alte Nabila Rahman hatte Obama servieren. des norwegischen Nobelpreiskomitees, hingegen keine Zeit. Diese hatte bei Als »zwar sympathische aber fal- Thorbjørn Jagland, am Freitag in Oslo einem US-Drohnenangriff in Paki - - sche Entscheidung« kommentierte der bekannt. stan ihre Großmutter verloren und war Malala Yousafzai ist mit 17 Jahren selbst durch Splitter schwer verletzt die jüngste Friedensnobelpreisträgerin worden. aller Zeiten. Die junge Frau aus Pa Der 60jährige indische Aktivist Kai kistan, die derzeit in Großbritannien lebt, setzt sich besonders dafür ein, Mädchen den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Weltbekannt wurde sie,