Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien April 2010

Noblesse oblige

Krystian Zimerman

Was sie verbindet, ist viel mehr als das gemeinsame Heimatland: Krystian Zimerman und Frédéric Chopin. Nun treffen die beiden wieder im Musikverein zusammen.

Am Anfang das Licht. Ein Wunderkind ist in der Welt. Es hat sich nicht vorgedrängt. Ist einfach da. Glücklich, atmen zu können. Man schreibt den 5. Dezember 1956, und der liebe Gott hat beschlossen, sein Manna an diesem winterlichen Tag über dem oberschlesischen Städtchen Zabrze auszustreuen. Der Name des Kleinen verwundert niemanden im christkatholischen Polen: Krystian wird er genannt. Und trägt das Geheimnis noch in sich. Denn die da um ihn herumstehen und sich freuen über seine Ankunft auf Erden, wissen ebenso wenig wie die weite Musikwelt, die späterhin häufig genug über diesen Künstler staunen wird, welch immenses Talent da in der Wiege liegt. Mögen die Dinge wunderlich sein, sie entwickeln sich erst mit der Zeit.

Mindestens 101 Prozent Beim Vater erhält Krystian früh den ersten Klavierunterricht. Kaum sieben Jahre alt, tritt er erstmals im polnischen Fernsehen auf, mit zwei seiner eigenen Kompositionen. Ein selbstbewusstes Debüt. Das schon zu diesem Zeitpunkt auf einen noch heute gültigen Wesenszug des Pianisten hinweist: Nie wird er etwas tun, von dem er nicht zu mindestens einhundertundeins Prozent überzeugt ist. Manche nennen das Perfektion. Man kann es aber auch einfach eine Haltung nennen. Oder eine Anschauung. So wie Zimerman selbst dies einmal getan hat, übrigens in vollendeter dialektischer Manier. Auf die Frage, ob sein Perfektionismus denn gar keine Grenzen kenne, antwortete er: „Für mich ist es kein Grund, aufzuhören, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas unspielbar ist in der Weise, in der ich es haben will. Ich suche dann erst recht nach Wegen, wie es doch gehen könnte. Und zum größten Teil finde ich sie auch, das dauert nur seine Zeit. Ich probiere etwas, und im nächsten Konzert gehe ich einen Schritt weiter, und am Ende bin ich vom Ausgangspunkt so weit entfernt, dass man mir Perfektionismus vorwirft. Die Vorstellung von Perfektion verschiebt sich ja immer weiter mit dem Weg, den man geht.“

Alles sitzt, alles stimmt Der Weg, sein Weg, war gefüllt mit Kostbarkeiten, künstlerischen wie menschlichen. Man denke nur an die jugendlichen Begegnungen mit den Tastendioskuren Artur Rubinstein und Vladimir Horowitz, mit dem Komponisten Witold Lutoslawski (der später ein Klavierkonzert für ihn schreiben wird) sowie mit und . Oder rufe sich die Erinnerung an seinen Lehrer hervor, den Pianisten und Pädagogen Andrzej Jasinski, der ihn nicht nur in der Kunst des Klavierspiels unterweist; bei ihm absolviert Zimerman ein ganzes Studium, zu dem neben mehreren Sprachen (Französisch, Englisch, Deutsch) die Fächer Musiktheorie, Geschichte, Mathematik, Physik und Klavierbau zählen. Und auch wenn man es nicht belegen kann: Man spürt sie förmlich, diese umfassende Bildung. In jedem Takt. Vielleicht ist er gerade deswegen unter den großen Pianisten der Aristokrat, der Edelmann.

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Alles sitzt, alles stimmt, alles ist en gros und en detail geschmackvoll. Und natürlich brillant.

Das Spiel eines vollendeten Kavaliers Aber nochmals sei an dieser Stelle auf einen veritablen Irrtum hingeweisen. Manche Beobachter haben Zimerman seiner technischen Brillanz wegen zum legitimen Horowitz- Nachfolger stilisiert. Doch diese beiden Künstler, die schon habituell so unterschiedlich sind, wie man es sich nur denken kann, trennen auch in interpretatorischer Hinsicht Welten. Wohl hat der weitaus Jüngere mit dem Älteren weiland über die Kunst des Klavierspiels debattiert, also gewiss einige fruchtbare Ratschläge mit auf den Weg genommen. Doch dem Typus des durch und durch subjektivistischen Virtuosen, wie ihn Horowitz denn doch verkörpert, entspricht Zimerman keineswegs. Weder kennt sein Spiel derart donnernde Bassoktaven, noch findet man darin effektheischende Diskant-Arabesken oder übertriebene Rubato- Verzückung.

Zimermans Spiel ist ohne Ausnahme von distinkter Noblesse, es ist das Spiel eines vollendeten Kavaliers, der um die Essenz einer vollendeten Poesie weiß – und sehr wohl, wie sie zu klingen hat. Dazu passt, was Zimerman einmal über Horowitz und seine potenziellen Erben gesagt hat: „Ich glaube nicht, dass der Einschätzung, es gäbe nur wenige Pianisten, die eine derartige Tiefe und Individualität in ihrem Spiel besäßen, zuzustimmen ist. Es gibt sehr viele Talente heute. Wahr aber ist, dass sehr viele Pianisten heute keinen Reiz mehr in der großen Solistenkarriere empfinden. Mit dem Tod der großen Pianisten sind Vakuumstellen entstanden, die niemand mehr füllen kann, aber auch niemand mehr füllen will. Denn es hat sich irgendwie erwiesen, dass es eigentlich keinen Vorteil bedeutet, solche Karrieren zu machen.“

Poesie des Dualismus Da ist es wieder, das Zauberwort: Karriere. Aber was ist es schon mehr als ein Wort. Krystian Zimerman jedenfalls bedeutet es kaum mehr als ein nützliches Werkzeug, um das Wesen der Musik zu ergründen: Karriere als probates (prosaisches) Mittel zum höheren (poetischen) Zweck. Selbstredend hat er, wie Pollini und wie Argerich, profitiert vom Sieg beim Chopin- Wettbewerb in Warschau – damals 1975, als er mit gerade 18 Jahren der jüngste Teilnehmer war und als dritter Pole nach Halina Czerny-Stefánska 1949 und 1955 den Siegeslorbeer überreicht bekam. Dieser Sieg öffnete ihm alle Türen. Aber so prophetisch darf man sein: Er wäre ohnehin durch diese Türen hindurchgegangen, mit federndem, zugleich entschiedenem Schritt.

Der Grund liegt in seiner Art, Klavier zu spielen. Auf nachgerade frappierende Art und Weise erinnert es an jene aus dem Mund George Sands stammende Charakterisierung ihres Gefährten Frédéric Chopin, dieser sei „eine Mischung aus Liebem und Strengem, Keuschen und Feurigem“. Mit anderen Worten: Zimermans Klavierspiel ist die vollendete Poesie des Dualismus. Es ist seelenvoll und leidenschaftlich, sinnlich und singend, fest gefügt und frei.

Pianist, Musiker, Künstler, Mensch Damit steht Zimerman in einer ruhmreichen Tradition polnischer Pianisten, die im Grunde bei Chopin beginnt und von dort über Józef Hofmann und den glückhaften Virtuosen Artur Rubinstein bis zu ihm reicht.

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Mit diesem teilt Krystian Zimerman gewissermaßen die Kunst des Nicht-Übens. Fast achtzig Prozent der Zeit, die er mit einem Werk verbringt (und man kann sicher sein, dass es eine über die Maßen intensive Zeit ist), sitzt er nicht am Flügel. Das Üben, so Zimerman, sei eine Sache, seine Inspiration zu erweitern eine andere. Es spricht erneut der Dialektiker. Der darüber hinaus ein veritabler Humanist ist: „Für mich steht am Ende nicht der Musiker oder Künstler, sondern der Mensch. Am Anfang steht der Pianist, dann der Musiker, dann der Künstler und dann der Mensch. Auf allen Stufen muss man sich gleichzeitig bewegen und keine davon vernachlässigen! Spielst du zu viel Klavier, solltest du vielleicht nicht Klavier spielen.“

Erzählerische Würde Für ihn selbst kam anderes nie in Frage. Klavier spielen, das ist Leben. Und: eine Art, das Leben zu lieben. Es zu schildern. Würde man beispielsweise den russischen Pianisten einen Tastenzauberer nennen, käme für Zimerman nur dieser eine Begriff in Frage: Tastenpoet. Seine Interpretationen, und nicht nur der klassisch-romantischen Werke, sondern auch eines zeitgenössischen Stücks wie etwa der Zweiten Klaviersonate seiner (nach wie vor viel zu unbekannten) Landsfrau Grazyna Bacewicz, sind durchdrungen von erzählerischer Würde und Spannung, von tiefem, aber verständlichem Sinn. Und sie sind immer ausgewogen. Zimermans Spiel kennt keine Effekte: keine donnernden Bassoktaven, keine kitschigen Diskant-Perlereien, keine übertriebene Rubato-Verzückung. Das Werk wird nicht ausgekostet. Es wird vorgestellt, in all seinen Facetten. Seinen Glanz gewinnt es ganz von alleine. Zimerman ist „lediglich“ derjenige (nachschöpferisch Wirksame), der das alles mit äußerster Konsequenz gestaltet, klanglich wie strukturell in höchster Vollendung, ja frei nach dem Motto: Noblesse oblige.

Magie und Klarheit Es ist eine Magie, die mit Klarheit, Wucht, mit Grandezza und Prägnanz gepaart ist, dort, wo die Partitur es nahelegt. Zimermans Beethoven etwa trägt stets das Gepräge des Majestätisch- Erhabenen, selbst dort noch, wo Beethoven wütend wird. Seine Sicht auf die Romantiker Chopin, Grieg und Brahms (Schubert spielt er leider viel zu selten, obwohl dieser seiner Seele letztlich so nahe liegt!) ist subjektiv und schwärmerisch, ohne je deren sentimentaler Seite zu verfallen. Und doch: In gewisser Weise ist er ein Romantiker, dieser unvergleichliche Pianist, der bald in jenes Alter kommt, wo man ihn mit Fug als Grandseigneur titulieren darf. Ein Romantiker sozusagen, der, bevor er seine Leidenschaft ausübt, den Hut zieht. Wohl zeigt er uns seine Leidenschaften. Aber er hat sie unter Kontrolle. Sein Klavierspiel ist, und das ausschließlich, ein Sieg der tiefreichenden Reflexion über die pure Bravour.

Jürgen Otten

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