Das Politische in der Literatur der Gegenwart – Abstracts –

Internationale und interdisziplinäre Tagung an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, vom 18.-20.05.2017, D 238, D 239 Veranstalter: Prof. Dr. Stefan Neuhaus, Dr. Immanuel Nover; Universität Koblenz-Landau; Campus Koblenz; Institut für Germanistik; Universitätsstr. 1; 56070 Koblenz; Mail: [email protected]; [email protected]

18. Mai 2017

Das Politische in der Literatur um 1995. Eine Erkundung (Einführung; 13:30 Uhr)

Prof. Dr. Lothar Bluhm

Die 1990er Jahre zeigen sich im soziokulturellen Bereich als eine Phase der Neujustierung nach den politischen Umwälzungen der Jahre 1989/90. Der dabei zu beobachtende Aushandlungspro- zess von neuen Wirklichkeitssichten manifestiert sich auch in Hinblick auf das Politische in der Literatur. Der Beitrag will den Blick fokussieren auf das Zeitfenster der Jahre 1994 bis 1996 und anhand einer Auswahl literarischer Werke von , Günter Grass, Christian Kracht, Bernhard Schlink, Monika Maron, und anderen das Mit-, Neben- und Gegeneinan- der unterschiedlicher Konzeptualisierungen des Politischen in der Literatur erkunden.

Universität Koblenz-Landau, Campus Landau Fachbereich 6: Kultur- und Sozialwissenschaften Institut für Germanistik Im Fort 7 D-76829 Landau

1

Wie politisch ist Intertextualität? Spielarten von rewritings im deutschsprachigen Ro- man der Gegenwart (Sek. 1, 14:15 Uhr)

Dr. Julian Osthues

Seit der Jahrtausendwende ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine beachtliche Anzahl an Romanen erschienen, die sich an kolonialen Quellentexten buchstäblich abarbeiten. Be- sonders die Gattung der Reise- und Entdeckerliteratur hat zur Um-, Neu- bzw. Weiterschreibung angeregt: Hans Christoph Buch bearbeitet in seinem Roman Kain und Abel in Afrika (2001) Richardt Kandts Reisebericht Caput Nili. Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils (1904), in Thomas Stangls Der einzige Ort (2004) haben Briefe, Dokumente und Berichte von Alexander Gordon Laing und Réne Caillié Eingang gefunden, kolportiert in Die Vermessung der Welt (2005) Passagen des Reisetagebuchs Alexander von Humboldts, während Ilija Trojanow in Der Welten- sammler (2006) u.a. auf The Lake Regions of Central Africa (1860) von Richard Burton zurückgreift. Als Spezialfall der Intertextualität besitzen solch ‚postkoloniale rewritings‘ eine dezidiert politische Dimension, indem sie sich in ein kritisches Verhältnis zu ihren Prätexten setzen. Mein Beitrag geht erstens der Frage nach, wie politisch sich Theorien der Intertextualität (Genette/Lach- mann/Hutcheon) zeigen. Inwie-fern interessieren sie sich für ein strategisches Potential von Text- Text-Beziehungen, das versucht, in herrschende Diskurse einzugreifen – etwa im Sinne eines Ein- spruchs in den eurozentrischen Literaturkanon, wodurch marginalisierte Stimmen ins Zentrum dringen und zu Wort kommen können, um ihre (Gegen-)Geschichte zu erzählen. Die Frage nach dem Politischen der Intertextualität drängt sich nicht zuletzt auf, da seitens postkolonialer Studien der Vorwurf geäußert wurde, intertextuelle Ansätze würden den soziokulturellen Kontext des schreibenden Subjekts ausblenden zugunsten eines dominant gesetzten Textbegriffs, der ethische und politische Probleme und Fragestellungen außer Acht lasse (vgl. Reif-Hülser 2006, 72; Wagner 2006). Ferner wäre nach weiteren Anschlüssen zu fragen, die meiner Beobachtung nach in postko- lonialen Studien bislang nicht beachtet wurden, wie z.B. die Ansätze Jacques Rancières in Politik der Literatur (2008). Dieser Umstand mag nicht zuletzt deshalb überraschen, da Rancière mit Be- griffen arbeitet, die eine Affinität zu wichtigen Kategorien postkolonialer Theorien besitzen (z.B. ‚Stimme‘/‚Fürsprache‘). Mit dem Roman Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung (2016) rückt der Beitrag zweitens einen Text in den Fokus, der jüngst für Aufsehen sorgte. Der aus Algerien stammende Autor Kamel Daoud formuliert damit eine kritische Kontrafaktur zu Albert Camus’ Roman L’Étranger (1942; dt. Der Fremde). Der Beitrag fragt nach den politischen Implikationen, die Daouds rewriting unterlegt sind und welche Rolle konkret, d.h. vor allem ästhetisch, der literarische Prätext Camus’ im Kontext einer rewriting-Poetik spielt, die sich als ‚ästhetische Intervention‘, als Eingriff in „das Sagbare und das Sichtbare“ (Rancière 2008, 20) begreifen lässt. Ob die Literatur das Potential hat, einen „spezi- fischen Erfahrungsraum[ ]“ (ebd., 13) zu ermöglichen, in dem vormals ausgeschlossene Stimmen zu Gehör kommen und ihr Recht auf (Selbst-)Repräsentation einfordern können, gilt es am Beispiel von Daouds Roman und weiteren Texten exemplarisch zu erörtern.

Universität Bremen / FB 10: Sprach- und Literaturwissenschaften GW 2, Raum B 3640 Postfach 33 04 40, 28359 Bremen Email: [email protected] http://www.fb10.uni-bremen.de/lehrpersonal/osthues.aspx

2

Zwischen Unzeitgemäßheit und Gegenwartsemphase: Nietzsches „große Politik“ (Sek. 1, 15:30 Uhr)

Dr. Joachim Harst

Nietzsche setzt den Begriff „große Politik“ in der Gesamtheit seines Werks widersprüchlich ein. Bezeichnet er zunächst Regierungspolitik auf internationaler Ebene, macht sich Nietzsche den Be- griff zuletzt zu eigen, um in Ecce homo zu behaupten: „erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik“ (KSA 6,296). Gemeint damit ist u.a. seine Publikationspolitik, die strategische Veröffentli- chung und Verbreitung der Schriften Ecce homo und Der Antichrist, mit denen Nietzsche eine politi- sche Krise und Zeitenwende hervorrufen will. Nietzsches „Litteratur“ versteht sich entsprechend nicht mehr vorrangig als philosophische Reflexion, sondern als Ereignis, dessen Sprengkraft Nietz- sche immer wieder metaphorisch untermalt, wenn er seine Schriften als „Dynamit“ bezeichnet. Mit der Inanspruchnahme des Begriffs „große Politik“ durch Nietzsche geht demnach auch eine Wandlung im Selbstverständnis des Philosophen einher. Präsentierte er sich zunächst als den „Unzeitgemäßen“, der zu seiner Gegenwart quer steht, zielt die Publikationspolitik der letzten Jahre auf ein Wirken in der Gegenwart, ja vielleicht sogar auf die Produktion einer neuen Gegen- wart hin – endet doch Der Antichrist mit der Einführung einer neuen Zeitrechnung. Es scheint also, dass Politik und Gegenwart bei Nietzsche über die Frage nach dem Einsatz von Literatur verknüpft sind, und mein Beitrag wird dieser Verknüpfung nachgehen.

Universität Bonn Institut für Germanistik, Allgemeine und Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Abteilung Komparatistik Am Hof 1d 53113 Bonn

3

Die verstiegene Affirmation des Kriegs … durch seine literarische Kritik. Die literari- sche Debatte und Produktion anlässlich der deutschen Kosovo-Intervention 1999 (Sek. 2, 16:15 Uhr)

Dr. Steffen Hendel

Der Sammelband Krieg der Geister bot 1914 deutschen Intellektuellen ein Medium, ihre Begeisterung für den kommenden Ersten Weltkrieg darzubieten. 1999 taten sich ihre Nachfolger anlässlich eines erneuten deutschen militärischen Engagements im Kosovo schwerer. Krieg der Köpfe titelte der Spie- gel. Er ermahnte den ‚schweigenden‘ deutschen Geist, sich in die Debatte einzumischen: Das ‚Nie wieder Krieg‘, polit-moralischer Konsens der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, sollte an der neuen politischen Wirklichkeit, die da hieß ‚Wieder Krieg‘, Maß nehmen. Der Publizist Willi Winkler wendete sich gegen die „Musterung“ der Intellektuellen und Schriftsteller, er wettert gegen die eingeforderte „deutsche Art und Kunst im Kriege“. György Konrád, damaliger Präsident der Akademie der Künste, wundert sich, weshalb „nette, kluge Leute“ denn nun „Blödsinn“ reden und reden sollen. Beide setzen dem Versuch der politischen Indienst- nahme der Literatur ein Verständnis des intellektuellen Selbst entgegen, das ihr freies, literarisches Wort nicht nur als Vernunft, sondern darin den ultimativen Kriegseinwand versteht. In der online- Anthologie NULL streiten anlässlich des Kosovo-Kriegs , Thomas Meinecke und Joachim Helfer über diese kritische Leistung der Literatur und des Worts per se. Dass Literatur für sich der deutlichste Einwand gegen Krieg sei, findet des Weiteren Niederschlag in literarischen Arbeiten. Programm schon bei Handkes Winterlicher Reise bzw. Gerechtigkeit für Serbien einige Jahre früher (1996), liegt die Emphase des literarischen Worts gegen die praktisch gültige Politik auch dem aktuellen Diskursstück Installation Sieg. Kalligraphie des Krieges, das Stefan Wirner 1999 veröf- fentlichte, und dem erst 2007 herausgebrachten genrehybriden Marslanzen oder Vasallen recht sein muss von Uwe Dick zugrunde. Alle diese (literarischen) Wortbeiträge beweisen Gegenwartssinn, sie sind mitnichten ignorant gegenüber aktueller Politik oder wohleingerichtet im ‚Elfenbeinturm‘. Zugleich, so meine These, formulieren sie darin eine Kritik, die sich mit einem profunden, aber nun politisch harmlosen Ide- alismus plausibilisiert. Angesichts diskursiver wie praktischer Erfolglosigkeit ihrer Kriegskritik be- harren sie nicht auf dem Inhalt ihrer Kritik, sondern rechtfertigen die Kritik mit ihrem Status als Literatur. Dadurch scheint das Verhältnis auf den Kopf gestellt: Der politische Einwand der Lite- ratur bewahrheite sich in ihrer praktischen Ungültigkeit. Das wird als Selbstbewusstsein vortragen. Nolens volens ist damit die literarische Kritik an der Politik dessen Affirmation.

Germanistische Literaturwissenschaft Institut für Germanistik Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Ludwig-Wucherer-Straße 2 06108 Halle, S. [email protected]

4

Literarische Modellierungen des Politischen in Szenarien des Entscheidens (Sek. 2, 17:00 Uhr)

Kerstin Wilhelms

Die Ausgangsfrage des vorgeschlagenen Vortrags ist die vielgestellte nach den Funktionsweisen politischer Literatur: Wie macht Literatur Politik? Dabei ist davon auszugehen, dass Literatur selbst politisch ist und nicht etwa lediglich politische Prozesse widerspiegelt oder ästhetisiert. Vielmehr besteht nach Rancière die ‚Politik der Literatur‘ in einem Hörbarmachen des Ausgeschlossen, dem Einnehmen divergierender Perspektiven und schließlich einem Reflektierbarmachen vielschichti- ger Abläufe wie z.B. von – so könnte man übertragen – Entscheidensprozessen. Entscheiden, so die politikwissenschaftliche Position, ist das Kerngeschäft der Politik. Zugleich aber ist Entschei- den auch ein spannungsgeladener Höhepunkt literarischer Texte, an denen, so die These, Politik- modelle lesbar werden. Grundlegend ist dabei die Überlegung, dass Texte nicht einfach nur bestehende Politikvorstel- lungen abbilden oder als Exemplum für diese dienen, sondern selbst an der Modellierung von Politikverständnissen beteiligt sind und damit produktive Elemente des politischen Diskurses dar- stellen. In dem Vortrag werden daher Szenarien des Entscheidens in Dave Eggers The Circle, Ulrich Pelzers Teil der Lösung, Karen Duves Macht, Kathrin Rögglas Die Alarmbereiten und Michel Houelle- becqs Unterwerfung auf die sich in ihnen vollziehenden Modellierungen des Politischen befragt.

Forschungskoordinatorin Graduiertenkolleg Literarische Form Robert-Koch-Str. 29 D-48149 Münster Deutschland Tel.: +49 251 83-30152 Fax: +49 251 83-30151 [email protected]

5

Von der engagierten zur subversiven Literatur? Aktuelle Konzepte politischer Gegen- wartsliteraturen im Vergleich (Abendvortrag Landesbibliothek Koblenz, 19:00 Uhr)

Dr. Thomas Ernst

Die Gegenwartsliteratur erscheint nur dann als unpolitisch oder gesellschaftlich wirkungslos, wenn ihre Ästhetik am Maßstab ihres inhaltlichen Engagements und ihre Autoren am Ideal einer gesell- schaftlich herausgehobenen Intellektuellenrolle gemessen werden. Die gesellschaftliche Legitima- tion einer solchen spezifischen Form der engagierten Literatur ist in den letzten Dekaden immer brüchiger geworden, dabei haben die kulturelle und mediale Globalisierung, Diskurse über das ‚Ende der Geschichte‘ und die Konkurrenz der neuen und neuesten Medien eine wichtige Rolle gespielt. Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre, so eine erste zentrale These des Vortrags, entfaltet die engagierte Literatur und die Vorstellung des universellen Intellektuellen außerhalb der literari- schen Diskurse keine wirkliche Kraft mehr, während Feuilletons, Verlage und Autoren allerdings weiterhin vor allem eine engagierte Literatur und die öffentliche Inszenierung von Intellektuellen fordern und fördern. Vor diesem Hintergrund vergleicht der Vortrag zunächst literaturwissenschaftliche Ansätze, die das politische Schreiben in der Gegenwart in unterschiedlicher Weise analysieren. Neben An- sätzen, die weiterhin am Begriff der engagierten Literatur festhalten oder diesen um Begriffe wie Aufklärung oder Ethik erweitern (vgl. u.a. Lützeler & Kapczynski 2011, Rüther 2013, Wagner 2015, Brokoff/Geitner/Stüssel 2016), sowie Enno Stahls Plädoyer für einen sozialen Realismus (vgl. Stahl 2013, Solty/Stahl 2016) soll meine Konzeption einer Literatur als Subversion (vgl. Ernst 2013; siehe zu den Transformationen der Gegenwartsliteratur auch Tommek/Galli/Geisenhans- lüke 2015) vorgestellt werden. Literarische Texte treten in der Gegenwart, so die zweite zentrale These des Vortrags, in ein produktives Verhältnis zu vier Diskursen der Subversion: dem politisch- institutionellen, dem künstlerisch-avantgardistischen, dem subkulturellen und dem dekonstrukti- vistischen Diskurs der Subversion. Diese vier Diskurse der Subversion werden von literarischen Texten archiviert, reflektiert, problematisiert oder mit- und gegeneinander verhandelt. Während ich bislang vor allem das Analyseverfahren einer Literatur der Subversion entwickelt und exemplarisch auf die gegenwartsliterarischen Felder der avancierten Popliteratur (Thomas Mei- necke), der minoritären Literatur (Feridun Zaimoğlu) und der Untergrundliteratur (Social Beat) appliziert habe, werde ich in meinem Vortrag vergleichend vorgehen. Dabei lautet die dritte zent- rale These des Vortrags, dass sich engagierte Autoren und öffentliche Intellektuelle der Gegenwart wie Navid Kermani, Ilija Trojanow und einerseits einer experimentellen Autorin wie Ka- thrin Röggla, den Ästhetiken der Avantgardezeitschrift Idiome. Neue Prosa und einer Netzintellektu- ellen wie Kathrin Passig andererseits gegenüberstellen lassen. Dieser Vergleich wird sich auf zwei Ebenen vollziehen: Erstens interessiert mich – analog zu Foucaults Differenzierung eines univer- sellen und eines spezifischen Intellektuellen –, wofür sich Kermani, Trojanow und Zeh einerseits sowie Röggla, die Idiome und Passig andererseits öffentlich einsetzen und wie sie sich als intellektu- elle Stimmen inszenieren. Zweitens rücken die literarischen Ästhetiken in den Fokus: Welche (po- litischen) Inhalte werden in ausgewählten Veröffentlichungen präsentiert? Welches Arsenal an po- litischen oder subversiven Topoi, Figuren und Sprachen bestimmt die jeweiligen Texte? Und wel- che ästhetischen Strategien nutzen die Autorinnen und Autoren? Dieser Vergleich soll vor allem klären helfen, ob sich in der Gegenwartsliteratur tatsächlich eine engagierte Literatur einerseits von einer Literatur der Subversion andererseits unterscheiden

6 lässt. Daneben wird die Frage diskutiert, ob der Kanon der politischen deutschsprachigen Literatur nicht retrospektiv erweitert werden muss, wenn man das Konzept einer Literatur der Subversion auch auf frühere Texte appliziert. Abschließend gibt der Vortrag einen kurzen Ausblick auf den digitalen Wandel der Literatur und seine Folgen für die Konzeptionen einer engagierten wie auch einer subversiven Literatur.

Ass. Prof. of German Studies University of Amsterdam Faculty of Humanities Department of Modern Foreign Languages and Cultures Spuistraat 134 NL-1012 VB Amsterdam

Phone: +31-20-525-3876 E-mail: [email protected] Weblog: http://www.thomasernst.net/ Twitter: @DrThomasErnst

7

19. Mai 2017

Macht – Gedichte. Das Politische in der Gegenwartslyrik (09:00 Uhr)

Prof. Dr. Michael Braun

Die „alte Tante Politik“ hat sich aus der Lyrik verabschiedet, sie ist müde und feudal geworden, meint Nora Bossong in der „Zeit“-Serie „Politik und Lyrik“ (2011). Ein Blick auf Anthologien und die Lyrikproduktion seit 1995 bestätigt den Befund weitgehend. Die Politik in zeitgenössischen Gedichten ist dem Politischen gewichen, das sich als Markierung einer Position dichterischen Spre- chens beschreiben lässt, das in Dialog tritt mit gesellschaftlichen Prozessen und naturwissenschaft- lichen Forschungen. Dabei geht es aber nicht mehr um den traditionellen Gegensatz von Engage- ment und Hermetik, sondern um eine Poetik des Politischen jenseits von Tendenzliteratur und Gesinnungsästhetik. Mein Beitrag fragt danach, wie das Gedicht das Politische einsetzt und inwiefern sich das traditio- nelle Konzept des Engagements gewandelt hat, das Adorno in Abgrenzung von Sartres Qu’est-ce que la littérature? (1947) auf „Geblök, auf das, was alle sagen“ (Engagement, 1962) reduzierte. Meine These ist: aus dem engagement politique ist ein engagement personnel oder eine „Dégagiertheit“ () geworden, und der „Artist als Statthalter“ eines „gesamtgesellschaftlichen Sub- jekts“, wie es im Adorno-Deutsch hieß, ist längst einer selbstironischen „Ersten Person Plural“ (Enzensberger, Rebus, 2009) gewichen. Als Beispiele werden Gedichte von Ulrike Draesner, Hans Magnus Enzensberger, Durs Grünbein, Marion Poschmann u.a. herangezogen.

Universität zu Köln Institut für deutsche Sprache und Literatur II Gronewaldstr. 2 50931 Köln Deutschland [email protected]

8

Poetik der populistischen Phrase. Zur Ergründung des Politischen bei Benjamin von Stuckrad-Barre und Sibylle Berg (Sek. 3, 09:45 Uhr)

Dr. Matthias Schaffrick

Der Populismus ist ein zunehmend bestimmender Teil der mise-en-forme (Claude Lefort) unserer Gesellschaft, also des Politischen, aber nur selten Thema der Gegenwartsliteratur. Einen literatur- wissenschaftlichen Zugang zum Thema „Populismus“ gewinnt man am besten über die Phrase, weil sie, so die These des Vortrags, als leicht reproduzierbare, tendenziell inhaltslose Formulierung die Währung des Populismus darstellt, der den „Volksmund“ über die demokratischen Legitimati- onsverfahren politischer Institutionen stellt. Phrasen bilden ein konstitutives Element der Poetik von Benjamin von Stuckrad-Barre. Sein Buch Was.Wir.Wissen. (2005) besteht aus Listen voller populärer, teils politischer Phrasen, die im „Volksmund“ gebräuchlich sind. Dieses Phrasenarchiv ermöglicht es, die poetische Funktion der Phrase zu rekonstruieren, während in anderen Texten Stuckrad-Barres nachzuvollziehen ist, in wel- chen Zusammenhängen die Phrase ihr Potenzial als Element postfaktischer Rhetorik entfaltet (z.B. in Deutsches Theater [2001]). In den Texten von Sibylle Berg wiederum wird die Phrasenhaftigkeit populistischer Wutbürger-Rhetorik satirisch ergründet und konterkariert. Dieses antipopulistische Programm, das selbst zur Phrase tendiert, verfolgt sie in ihrer Spiegel Online-Kolumne Fragen Sie Frau Sibylle ebenso wie auf ihrem Twitter-Account, und sie gibt ihm eine postdramatisch monolo- gisierte Form in ihrem Theaterstück Viel gut essen (2014).

Universität Siegen Germanistisches Seminar Neuere deutsche Literaturwissenschaft I Adolf-Reichwein-Str. 2 57068 Siegen [email protected]

9

Der eingehegte Terrorist? Dorothea Dieckmanns Guantánamo (Sek. 3, 11:00 Uhr)

Stephanie Willeke

Es ist ein weitverbreiteter Vorwurf, dass die Gegenwartsliteratur durch Strategien des Rückzugs in das Innere der Protagonisten und der Ausblendung alltagspolitischer Debatten unpolitisch sei. Diese literarischen Verfahren kommen auch in dem 2004 erschienenen Roman von Dorothea Dieckmann zum Tragen – Guantánamo ist allerdings alles andere als unpolitisch. Dies liegt zum einen in dem titelgebenden Raum der Handlung. Es gibt wohl keinen Ort auf der Welt, der den ‚Krieg gegen den Terror‘ so symbolisiert wie das US-Militärgefangenenlager Guantánamo Bay auf Kuba. Neben dem direkten Bezug zum Terrorismus und den neuen Kriegen (Münkler 2002) wer- den an diesem Raum auch andere politische Implikationen deutlich, wie sich beispielsweise an dem Versprechen Barack Obamas, das Lager zu schließen, zeigt. Der Verstoß gegen die Grundrechte durch die dauerhafte Inhaftierung von Menschen ohne gerichtliches Verfahren, deren rechtlicher Status so ausgelöscht wird, wodurch „mit dem detainee von Guantanamo das nackte Leben seine höchste Unbestimmtheit“ (Agamben 2004, 10) erreicht, bringt viel Widerstand mit sich. Der Raum Guantánamo wirft moralische und ethische Grundsatzfragen auf, die auch das Selbstverständnis und nicht zuletzt die Legitimation von Kriegen tangieren: Das erklärte Ziel, demokratische Struk- turen in Ländern wie dem Irak zu etablieren, scheint durch den Verlust eigener rechtsstaatlicher und demokratischer Werte problematisch. All dies ist dem literarischen Text durch die Verortung in diesem Raum, der den Ausnahmezustand zum Dauerzustand erhebt und das „Nachkriegsge- fängnis zum fortgesetzten Schlachtfeld“ (Butler 2005, 99) macht, inhärent – ohne derartige Dis- kussionen zu narrativieren. Der Roman Guantánamo ist zum anderen nicht unpolitisch, weil er genau das fokussiert, was vom öffentlichen Diskurs und damit von politischen sowie ethischen Aushandlungsprozessen weitgehend ausgeschlossen ist – die Inhaftierten. Im Mittelpunkt steht der Häftling Rashid, an dem die Strukturen und Mechanismen des Lagers veranschaulicht werden, die ebenfalls ein politisches Moment bilden. Es soll die These entfaltet werden, dass die dargestellten rigiden Lagerstrukturen, zu denen Folter und Verhöre ebenso gehören wie die panoptische, vollkommene Überwachung durch die „Experten für Menschenhaltung“ (Guantánamo, 42) und die Sprache des Lagers, die jeg- lichen positiven semantischen Gehalt der Wörter pervertiert, dem Phänomen Terrorismus, das sich eindeutiger Definitionen und Grenzsetzungen entzieht, antithetisch gegenüberstehen. Der ‚un- sichtbare‘ Terrorist wird in die Sichtbarkeit gezogen, seine Unbestimmtheit wird aufgelöst, der Terrorismus ‚eingehegt‘. Der Roman stellt damit eine soziale und politische Wirklichkeit aus, die nicht nur von der ‚anderen‘ Seite aus beleuchtet wird, sondern auch direkt auf rechtsstaatliche und demokratische Grundsätze verweist, die ausgehebelt werden, und schreibt sich damit in den poli- tischen Diskurs ein. Die Frage, inwieweit das einzelne Individuum erniedrigt und entmenschlicht werden darf zum vermeintlichen Wohl der Gesellschaft, ist dabei nur eine, die durch diesen Roman aufgeworfen wird.

Universität Paderborn Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft Fakultät für Kulturwissenschaften Warburger Str. 100 33098 Paderborn [email protected]

10

„Der Weltuntergang hat hier bereits stattgefunden. Mehrmals.“ – Literatur als Ort der Verhandlung gesellschaftlicher Fragen in Juli Zehs Unterleuten (2016) (Sek. 3, 11:45 Uhr)

Prof. Dr. Sonja E. Klocke

In ihrem neusten und bisher umfangreichsten Roman Unterleuten schafft Juli Zeh mit dem gleich- namigen brandenburgischen Dorf einen überschaubaren Kosmos, in dem die verschiedensten Ak- teure ihre gesellschaftliche und politische Wirklichkeit aushandeln. Wie bereits in früheren Roma- nen verdeutlicht Zeh damit nicht nur, wie Menschen sich in ihrem Handeln ihrem eigenen Mikro- kosmos und dessen Werten gemäß immer vermeintlich „richtig“ verhalten, wenngleich sie oftmals großen Schaden verursachen, sondern sie greift abermals auch durch ihr literarisches Schaffen in Fragen des Politischen ein. Am Beispiel der individuellen Reaktionen auf einen in der Nähe von Unterleuten von einer Investmentfirma geplanten Windpark verdeutlicht der Roman, welche Rolle die Spannungsfelder Individuum/Gesellschaft, Information/Manipulation, Idee und Recht des In- dividuums/neoliberale Wirtschaftsordnung, Globalisierung/Regionalisierung, Glauben/Wissen, sowie Moral/Eigeninteresse im aktuellen politischen Geschehen spielen. Zu diesem Zweck lässt Zeh verschiedene Gruppen in Unterleuten, die sich alle auf unterschiedliche Weise vom neusten „Weltuntergang“ in Form der geplanten Windkraftanlage bedroht fühlen, aufeinanderprallen. Meine Analyse des Romans verdeutlicht, wie Zeh durch ihre Behandlung der obengenannten Spannungsfelder Literatur nicht nur als Form der Kritik am Bestehenden in Politik, Ökonomie und Gesellschaft in allen Dimensionen – vom Lokalen über das Nationale zum Globalen –, son- dern als Ort, an dem die großen gesellschaftlichen Fragen des 21. Jahrhunderts verhandelt werden, etabliert. Indem sie beispielsweise Wissenschaftler auf Bauern oder digitale Kommunikationsfor- men auf den „Dorffunk“ prallen lässt, verdeutlicht die Autorin, dass Werte, Wissen, Wissenschaft und Kultur als diskursive Elemente, die Gesellschaften grundlegend strukturieren, zugleich macht- affine und machtkritische Strukturen aufweisen. Dies geschieht zum einen, indem konkurrierende Paradigmata nach Kriterien in Auseinandersetzung miteinander treten, die den eigenen Legitima- tionsansprüchen nicht entsprechen; zum anderen, indem Tendenzen der Wissensgenerierung und -organisation nach Kriterien einer jeweiligen Nützlichkeit und Opportunität kanalisiert werden. Somit stellt Unterleuten zweifelsohne die Frage nach dem Verhältnis von Wissen, Macht und Wis- senschaft provokativ neu.

Department of German, Nordic, and Slavic University of Wisconsin – Madison 844 Van Hise Hall 1220 Linden Drive Madison, WI 53706 USA [email protected]

11

Das Kind von Marx und Lucio Fulci oder: Zur Dimension des Politischen in Dietmar Daths Die salzweißen Augen (Sek. 3, 14:00 Uhr)

Esteban Sanchino Martinez

Spätestens mit dem Aufkommen der Moderne und der damit einhergehenden Autonomisierung der Kunst dürfte das Verhältnis von Ästhetik und Politik – strukturhomolog zu dem der Ästhetik und Moral – zu den größten Streitfragen innerhalb des kunsttheoretischen Diskurses gehören. Die Bandbreite der eingenommenen Positionen im literarischen Feld reicht dabei vom L’art pour l’art über das avantgardistische Theorem von der Verschmelzung von ‚Literatur‘ und ‚Leben‘ bis hin zur 68er Losung „alles ist politisch“. Mit Blick auf die neuere deutsche Pop-Literatur (Kracht, Stuckrad-Barre) wird in diesem Kontext mehrheitlich darauf verwiesen, dass diese keine eindeutige politische Position erkennen lasse bzw. schlicht und ergreifend unpolitisch sei. Am Beispiel Dietmar Daths, dem wohl produktivsten deutschen Pop-Literaten der Gegenwart, und seines Romanessays Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit kann dage- gen nicht nur en passant darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch aktuelle Pop-Literatur in einem konventionellen, ideologiekritischen Sinne politisch sein kann; Daths Text soll hier vielmehr exemplarisch zum Anlass genommen werden, um die Dimension des Politischen in einem literari- schen Text feldtheoretisch als die Schicht zu identifizieren, die Rückschlüsse auf die relative Posi- tion des jeweiligen Akteurs im literarischen Feld seiner Zeit ziehen lässt. In Abgrenzung zum Begriff der ‚politischen Literatur‘, verstehe ich unter dem ‚Politischen in der Literatur‘ die meist verschleierte Ebene eines Textes, die sich ‚hinter‘ dem formgebenden Dis- kurs der Literatur verbirgt, und eine Arbeit mit Oppositionsbeziehungen und Absatzbewegungen offenbart. Das Politische in der Literatur drückt sich somit in den am Text ablesbaren Distinkti- onsbewegungen aus, die ein Gefühl evozieren, was als erstrebenswert und was als ablehnungswür- dig erscheint. Dass Dath auf dieser Ebene in seinem Romanessay etwa eine ästhetische Aufwertung des „Niederen“ vornimmt und damit nicht nur den klassisch bürgerlichen Kunstgeschmack her- ausfordert, sondern ebenso gegen die „Hipster-Popintellektuellen“ und den Poststrukturalismus argumentiert, ist Resultat eines Wechselspiels von Daths Position in der Struktur des literarischen Feldes und seiner habitusbedingten Disposition, die Struktur desselben gemäß seinen Neigungen zu verändern.

Schlossplatz 2 48149 Münster [email protected]

12

Demo ohne Demos? Politische Emotionen, Handlungsfähigkeit und „Unvernehmen“ in Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. (Sek. 3, 14:45 Uhr)

Dr. Marion Löffler und Dr. Georg Spitaler

Der von Marlene Streeruwitz als ihre Figur Nelia Fehn verfasste Roman Die Reise einer jungen Anar- chistin in Griechenland. (2014), ein Zwillingsroman zu Nachkommen. (2014), erscheint auf den ersten Blick als klassische „Erzählung der Politik“. In unserem Beitrag wollen wir jedoch den Blick auf die komplexere Thematik (politischer) Handlungsfähigkeit richten und Aspekte literarischer Pro- duktivität im theoretischen Diskurs des Politischen aufzeigen. Bezugspunkt unserer Analyse ist Rancières Konzept des Politischen bzw. der Demokratie, wie er es in Das Unvernehmen. Politik und Philosophie erläutert. Sein emphatischer Politik- und Demokra- tiebegriff ist fokussiert auf das Erscheinen des Demos, der ein Unrecht sichtbar macht, zugleich die ursprüngliche Gleichheit als Sprechen (und verstanden werden) realisiert und die herrschende politische Routine und Kontrolle (Polizei) unterbricht. Die Handlungsfähigkeit ist auf den Moment der Unterbrechung beschränkt, das Subjekt politischen Handelns ist ein notwendig nicht-identitä- res, das als politisches Subjektivierungsangebot offen für solidarische Beteiligung unterschiedlicher Akteure bleiben muss. Analog dazu versteht Rancière politische Praxis von Literatur (und Ästhetik) in der Unterbrechung der „Aufteilung des Sinnlichen“. Dies setzt jedoch die Existenz und Wirk- samkeit eines ästhetischen Regimes voraus, wie auch im Politischen die (hegemoniale) Wirksamkeit einer polizeilichen Ordnung als Bedingung für deren Unterbrechung erscheint. Politische Hand- lungsfähigkeit in der Gegenwart ist aber mitunter gerade durch die Beweglichkeit und Adaptions- fähigkeit der hegemonialen (neoliberalen) Konstellation gehemmt. Wenn die herrschende Ordnung subjektlos erscheint, wer ist dann das Gegenüber, mit dem Sprechen, mit dem Gleichheit realisiert werden soll? Wer ist im Unvernehmen mit wem? Wie wirkt neoliberale Subjektivierung auf politische Handlungsfähigkeit? Ist das politische Subjekt noch im Politischen denkbar oder ist es immer schon Teil der Polizeiordnung? Und wie kann heute noch ein kollektives, nicht-identitäres Subjekt gedacht werden? Wir gehen davon aus, dass Streeruwitz als Nelia Fehn viele dieser Fragen aufwirft und dabei auch zur Theoretisierung politischer Hand- lungsfähigkeit beiträgt. In dieser Hinsicht orientieren wir uns am sogenannten affective turn, der be- wirkt hat, dass in der Politischen Theorie die Bedeutung politischer Gefühle, Affekte und Emoti- onen in ihrer Relevanz für politisches Handeln in der gegenwärtigen (neoliberalen) Konstellation ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sind. Literatur als ein Medium, in dem Gefühle und Emotionsausdruck zu Handlungsträgern werden können, bietet hier zahlreiche Anschlusspunkte.

Dr. Marion Löffler Dr. Georg Spitaler Institut für Politikwissenschaft Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung Universität Wien Rechte Wienzeile 97 Universitätsstraße 7 1050 Wien 1010 Wien [email protected] [email protected] www.georgspitaler.at

13

Zwischen unproduktivem Zynismus und groteskem Humor? als politische Dichterin (Sek. 3, 16:00 Uhr)

Dr. Urania Milevski

Als Meilenstein feministischer Errungenschaften gefeiert, kontrovers diskutiert oder als völlig wert- los verworfen – selten wurde einer Neuerung im Strafrecht so viel Beachtung geschenkt wie Para- graf 177 des Strafgesetzbuches. Vergewaltigung spiegelt die gesellschaftlichen Geschlechterverhält- nisse und ungleiche Verteilung von (Handlungs-)Macht. Viele sehen deswegen in der Anpassung des Strafrechts nur die Symptombehandlung eines viel tiefer liegenden Problems. Eine dieser Stim- men, so möchte mein Beitrag zeigen, ist Karen Duves. Bereits ihr Erstling Regenroman (1999) for- muliert sexualisierte Gewalt aus und stellt sie neben andere Gewaltformen, die in den gesellschaft- lichen Strukturen Deutschlands fest verankert sind. Dabei wird nicht nur die Vergewaltigung der Protagonistin Martina in detaillierter Erzählgenauigkeit ausgestaltet, auch legt der Roman durch die Vergewaltigung des Protagonisten Leons dar, inwiefern der Passus ‚Nein heißt Nein‘ auch für männliche Sexualität von Bedeutung ist. Der beißende Zynismus von Duves Erzählstimme, die die Einsichten in die Gedankenwelt der Figuren konterkariert, lässt, so scheint es, durch Unterhalt- samkeit vergessen, wie politisch brisant das Dargestellte ist. Genau hier setzt die Kritik an, die Duve als Teil der Riege des sogenannten ‚Literarischen Fräuleinwunders‘ und Popliteratin (vgl. Bartel 2006, Degler/Paulokat 2008, 74) betrifft: Die Texte seien ohne Tiefe und damit ohne kriti- sches Potenzial – sie seien schlichtweg unpolitisch. Diesem Urteil will der geplante Vortrag widersprechen. In diesem Zusammenhang soll Regen- roman als Erzählung des Politischen kenntlich gemacht werden, um ihn mit Duves weiterem Schaf- fen in Beziehung zu setzen, insbesondere mit ihrem kürzlich erschienenen Roman Macht (2015). Dieser mutet wie eine aus ihrem Debut hervorgegangene Dystopie an: Macht erschafft eine fiktio- nale Welt der Zukunft, die in der Tradition der feministischen Utopien steht (vgl. Holland-Cruz 1988, Bock 1988, Tower Sargent 2012), jedoch durch die erzählende Figur des reaktionären Sebas- tian dystopisch gebrochen wird. Durch die Erzählung von (zukünftiger) Politik bezieht der Roman Stellung zur Auffassung von Demokratie als Utopie eines allumfassenden Konsenses, der die öf- fentliche Meinung mit dem „Körper des Volkes“ (Rancière 1997, 109) gleichsetzt. Macht wird – ganz im Gegensatz zu Regenroman – von der Kritik durchaus als politische Erzäh- lung gelesen, augenscheinlich, weil er eine Erzählung der Politik und damit in die entsprechende literaturhistorische Tradition einzuordnen ist. Erneut wird dabei gefragt: Wieviel Politik verträgt die Kunst? Während der Roman den Ausschlag dafür gibt, Duve den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor zu verleihen, weil sie „gesellschaftlich hochbrisante Themen“ mit Sarkasmus und Ironie zu präsentieren weiß (Stadt Kassel/Brückner-Kühner-Stiftung 2016), sind sich Frank- furter Allgemeine Zeitung und Die Zeit einig: Mit engagierter Literatur habe das nichts zu tun. Vielmehr sei der Roman als Verabschiedung von der Literatur per se zu lesen (vgl. Schröder 2016) und auf unproduktive Weise zynisch (vgl. Encke 2016). Vorwürfe, die so alt sind wie die politische Dich- tung selbst. Die Produktivität der fiktionalen Aushandlungsprozesse in Duves Romanen sollen deswegen im Spannungsfeld zwischen einem Erzählen des Politischen und dem Erzählen von Po- litik verortet werden. Die Zerrissenheit der Rezeption ist dabei nicht Zufall, sondern Zweck der Ironikerin, um „das Gespräch in Gang zu halten“ (Rorty 1987, 408) – zu Gunsten der Vitalität demokratischer Praxis.

14

Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie Deutsches Institut Jakob-Welder-Weg 18 D-55099 Mainz [email protected] www.urania-milevski.com

15

Ästhetisches Kalkül vor politischem Grund. Das Verhältnis von Kunst und Politik in den Romanen Christian Krachts (Sek. 3, 16:45 Uhr)

Dr. Christoph Kleinschmidt

Christan Krachts Figurenarsenal der Selbstfinder, Aussteiger und Taugenichtse sind kaum dazu angeraten politische Autorität zu verkörpern. Gleichwohl agieren diese Figuren häufig in histori- schen Krisenmomenten wie der iranischen Revolution (1979) oder der kolonialen Expansionspo- litik des Deutschen Reiches (Imperium). Der Vortrag möchte diese Ambivalenz beleuchten und auf- zeigen, wie gerade ein solches Spannungsverhältnis von Eskapismus und gesellschaftlichen Um- bruchsituationen zu einer Neubestimmung des Politischen in der Gegenwartsliteratur führen kann. Ein wesentliches Moment kommt dabei der Frage der Wahrnehmung zu. Denn das offensichtliche Unvermögen der Figuren, den Bezug zur Wirklichkeit zuverlässig einzuschätzen, sorgt dafür, dass Konzepte der Eindeutigkeit (und das impliziert eindeutige politische Stellungnahmen) selbst zwei- felhaft werden. Dem Vorwurf des Totalitären gegenüber den Romanen Krachts kann damit ein Perspektivismus entgegengesetzt werden, der das Verhältnis von Ästhetik und Politik in der Schwebe hält.

Universität Tübingen Deutsches Seminar Wilhemstr. 50 72074 Tübingen [email protected]

16

Jenseits des politischen Realismus: Kontrafaktisches Erzählen als Modus politischen Schreibens in der Gegenwartsliteratur (Sek. 4, 09:45 Uhr)

Michael Navratil

Das Ende des Kalten Krieges brachte gerade für die deutschsprachige Literatur eine Neuverhand- lung der Möglichkeiten und Grenzen politischen Schreibens mit sich, die bis heute andauert. In der Rückschau auf die literaturpolitischen Diskussionen und Skandale der 1990er Jahre lassen sich allerdings in vielfacher Weise Kontinuitäten mit der Diskussion um das politische Schreiben vor der Wende nachweisen: So wurde die Frage nach der politischen Literatur in aller Regel weiterhin an eine spezifische Konzeption des politischen Realismus geknüpft, blieb also der (meist unausge- sprochenen) Vorannahme verpflichtet, dass politische Literatur realistische Literatur zu sein habe, wel- che explizit zu aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Fragen Stellung bezieht – und zwar primär in Form mimetischer Abbildung und kritischer Kommentierung. Demgegenüber galten jene formal eher spielerischen und der internationalen literarischen Postmoderne verpflichteten Erzählformen, die sich in den 1980er und 90er Jahren unter Labels wie „Wiederkehr des Erzäh- lens“ oder „Neue Lesbarkeit“ etablierten, weitgehend als unpolitisch, wo nicht gar als eskapistisch. Seit Beginn des neuen Jahrtausends jedoch lässt sich anhand einer Vielzahl literarischer Texte im deutschsprachigen Raum belegen, dass auch und gerade solche Werke, bei denen eine entschie- dene Loslösung vom Paradigma des Abbildungsrealismus zu konstatieren ist, einen politischen Anspruch erheben können: Dystopische Literatur, Science Fiction und Alternativgeschichte erwei- sen sich in zunehmendem Ausmaß als produktive Formen einer literarischen Kommentierung po- litischer Verhältnisse. Der Vortrag will das Phänomen des kontrafaktischen Erzählens, wie es in der deutschsprachi- gen Literatur etwa seit der Jahrtausendwende verstärkt auftritt, als möglichen Modus politischen Schreibens präsentieren. Dabei wird von einem weiten Begriff des Kontrafaktischen ausgegangen, der alternativgeschichtliche Erzählungen (Thomas Brussig, , Christian Kracht) ebenso zu umfassen vermag wie utopische oder dystopische Texte (Dietmar Dath, Juli Zeh, Karen Duve, Reinhardt Jirgl, Leif Randt) und gewisse kreative, non-mimetische Ausprägungen des Do- kumentarismus (, , Kathrin Röggla). Es soll aufgezeigt werden, dass sich das kontrafaktische Erzählen als Formoption politischen Schreibens in besonderer Weise anbietet, da es in seiner per definitionem transfiktionalen Referenzstruktur immer schon einen Vergleich von realer Welt und Diegese impliziert und sich somit für eine Kritik, Subversion oder Affirmation bestehender politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse im Medium der Literatur besonders eignet. Der Vortrag ist in drei Abschnitte unterteilt: In einem ersten Teil soll die (implizite) Verbin- dung von politischer Literatur und Realismus, wie sie die Nachwendediskussionen um das politi- sche Schreiben durchzieht, anhand einer kursorischen Betrachtung einschlägiger Diskurspositio- nen explizit gemacht werden. Im zweiten Teil wird eine kurze Arbeitsdefinition des kontrafakti- schen Erzählens präsentiert, das politische Potenzial dieses Erzählverfahrens herausgestellt und seine hohe Prävalenz in der Gegenwartsliteratur belegt. Im dritten Teil des Vortrags werden an- hand eines Vergleichs zweier kontrafaktisch erzählter Werke, Michel Houellebecqs Unterwerfung sowie eines deutschsprachigen Beispiels, die Potenziale kontrafaktischer politischer Narration in der konkreten Textanalyse erprobt.

17

Universität Potsdam Am Neuen Palais 10 Haus 5, Zi. 2.03 D-14469 Potsdam [email protected]

18

Dimensionen des Politischen in zeitgenössischen Poetikvorlesungen (Sek. 4, 11:00 Uhr)

Dr. Katharina Meiser

Poetikvorlesungen sind im deutschsprachigen Raum an zahlreichen Universitäten zu festen Insti- tutionen avanciert. Von den Veranstaltern werden sie als öffentliches interdisziplinäres und intel- lektuelles Forum ausgewiesen, in dessen Rahmen „Fragen der Kunst, Kultur, Politik und Philoso- phie“ thematisiert und „Literatur, Wissenschaft und Öffentlichkeit“ miteinander ins Treffen ge- führt werden. Angesichts dieses Anforderungsprofils haben Gegenwartsautoren in ihren Poetik- vorlesungen nicht ausschließlich Fragen nach der ästhetischen Verfasstheit ihrer Literatur zu be- antworten; erwartet wird von ihnen auch eine gesellschaftliche Positionierung und eine Funktions- bestimmung ihrer Literatur. Nicht zuletzt deshalb sind Poetikvorlesungen ein zentraler Aushand- lungsort der traditionellen Gretchenfrage, ob die zeitgenössische Literatur nun ‚autonom‘ oder ‚en- gagiert‘ zu sein habe. Aber inwiefern bildet dieses Spannungsfeld die Auseinandersetzung von Ge- genwartsautoren mit dem Politischen (in) der Literatur überhaupt noch ab? Welche anderen Para- meter bestimmen darüber hinaus die Frage nach den politischen Dimensionen des Literarischen? Der Vortrag geht diesen Fragen exemplarisch anhand der Vorlesungen von Thomas Glavinic, Ro- bert Menasse, , Feridun Zaimoglu und Juli Zeh nach. Unter Zuhilfenahme feld- und systemtheoretischer Prämissen wird aufgezeigt, (1) auf der Grundlage welchen Politik- und Litera- turverständnisses die Autoren für oder wider schriftstellerisches ‚Engagement‘ argumentieren, (2) mit welchem Geltungsanspruch sie ihre Position vertreten, (3) wie sie sich inhaltlich positionieren und (4) in welchen kommunikativen Modi ihre Auseinandersetzung mit dem Politischen erfolgt.

Universität des Saarlandes Arbeitsstelle für österreichische Literatur und Kultur FR 4.1 Germanistik Campus C 5 3, Raum 218 D-66123 Saarbrücken E-Mail: [email protected]

19

(Ent-)Schärfungen – Terrorideologien als Material von Reenactments in der Gegenwartsliteratur (Sek. 4, 11:45 Uhr)

Dr. Robert Walter-Jochum

„Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?“ stellte schon die Frage nach dem Zu- sammenhang von (künstlerischer) Rede und kriegerischer Tat – entschlossener bekräftigte der BKA-Präsident Holger Münch im Juni 2016 diesen Zusammenhang: „[d]ie Sprache kommt vor der Tat“ (Lohse/Wyssuwa in FAZ, 04.06.16). Ideologischer Rede kommt aus beiden Perspektiven eine hohe Relevanz zu – aus Gründen der Erkenntnis über Zusammenhänge politischer oder ter- roristischer Bewegungen wie auch aus solchen der Prävention. Werden ideologische Aussagen Gegenstand von Literatur und Kunst, so werden Letztere um- gehend politisch: Wenn sie sich auch nicht notwendigerweise im klassischen Sinne einer littérature engagée selbst als Beiträge zum politischen Handeln im Konkreten begreifen, nutzen die Medien des Ästhetischen dessen spezifische Erkenntnispotenziale, um zu einer Auseinandersetzung mit den Figuren der ideologischen Rede und ihren Protagonisten zu gelangen. Einen besonderen Fall bilden dabei in jüngerer Zeit Reenactments, die die „Hasstexte“, die ihren Gegenstand bilden, in ihrer unveränderten wörtlichen Gestalt zu literarischen Texten werden lassen. Sie lassen den Ideologen das Wort – und nehmen es ihnen gleichzeitig, indem sie die ideo- logischen Reden in neue Kontexte und Aufführungssituationen bringen, sodass sie selbst wiede- rum in anderem Sinne politische Wirksamkeit entfalten: Die Gruppenbildung in „Wir“ und „die Anderen“, die für die Ideologie zentral ist, wird so unterlaufen und durch alternative gruppenbil- dende Prozesse ersetzt. Die Rezeptionssituation wird verändert, es kommt, so wohl die Hoffnung der Künstler, zur Möglichkeit eines analytischen und diagnostischen Umgangs mit dem Material, der die eigene, vermeintlich säkular-rationalistisch ausgerichtete Klientel als Gruppe stärkt und dem als emotional-entrückt wahrgenommenen Ideologen gegenüberstellt – wie sich zeigt, geschieht das paradoxerweise nicht zuletzt durch spezifische Verfahren der affektiven bzw. emotionalen Modu- lation, die das Reenactment vornimmt, das so gewissermaßen das wiedergegebene Ereignis der Hassrede einer Dysposition (Didi-Huberman) unterwirft und also einerseits „entschärft“, anderer- seits einem schärferen (analytischen) Blick aussetzt. Im Mittelpunkt des Vortrags steht die Herausarbeitung der skizzierten Vorgehensweisen an zwei auch mediales Aufsehen erregenden Beispielen der jüngeren Zeit – Milo Raus theatralem Reenactment einer Erklärung des rechtsradikalen Massenmörders Anders Breivik vor dem Osloer Amtsgericht (Breiviks Erklärung, 2012) sowie Romuald Karmakars filmischer Wiedergabe der In- struktionen des Imams Mohammed Fazazi in der Hamburger Al-Quds-Moschee, die von den 9/11-Attentätern um Mohammed Atta frequentiert wurde (Hamburger Lektionen, 2006).

Freie Universität SFB Affective Societies, TP C04 Habelschwerdter Allee 45 14195 Berlin [email protected]

20

Virtuelle Bilder des Terrorismus: Tristesse Royale (1999) und September. Fata Mor- gana (2010) als literarische Reflexionen auf die Medialisierung des Politischen (Sek. 4, 14:00 Uhr)

PD Dr. Isabelle Stauffer

Die Annahme, dass das Politische eine mediale „Scheinwelt“ aus „virtuellen Bildern“ sei, ein von Medien erzeugter „flimmernder Schneesturm der Halbwahrheiten und Lügen“, verbindet zwei so unterschiedliche Texte der Gegenwartsliteratur wie das Performance-Protokoll Tristesse Royale (1999) und Thomas Lehrs Roman September. Fata Morgana (2010). Beide Texte reflektieren die Me- dialisierung des Politischen vor dem Hintergrund des Terrorismus. Was sie jedoch voneinander trennt, ist nicht nur die Zäsur von 9/11, sondern auch die Frage, wie sie sich selbst zum Politischen positionieren. Entgegen der kritischen Stimmen bei Erscheinen von Tristesse Royale spielt das Politische in dem literarisierten Gespräch zwischen Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhard Nickel, Ale- xander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre eine eminente Rolle. Deutlich wird dies schon an den Kapitel-Überschriften Der Flug der Steine und Der Fall der Mauer. Die neue Eigentlich- keit, die nach den Terror-Anschlägen auf das World Trade Center ausgerufen wurde, schien die Popliteratur jedoch eingeholt zu haben: Die (Selbst-)Ironie des Pop ist kein Ausweg mehr ange- sichts des real und medial omnipräsent gewordenen Terrors. Thomas Lehrs Roman September. Fata Morgana (2010) montiert Zeitungs- und Fernseh-Nach- richten in den Romantext ein. Thematisiert werden der Sechstagekrieg, der Golfkrieg sowie die zwei Irakkriege der USA, die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center und das Aschuramassaker 2004 der Al-Qaida in Bagdad. Diese Geschehnisse werden sowohl von irakischer Seite als auch von amerikanischer Seite geschildert. Die mediale Herstellung des Politischen ist dabei ein zentraler Gegenstand dieser Diskurse. Der Vortrag fragt danach, wie Tristesse Royale und September. Fata Morgana die Medialisierung des Politischen und die virtuellen Bilder des Terrorismus thematisieren und wie sie ihnen ästhetisch begegnen. In Frage steht damit auch, ob und welche politische Haltung die Texte damit einnehmen. Als theoretische Bezugspunkte werden hierfür unter anderen Colin Crouchs Postdemokratie, Jean Baudrillards Theorie der Simulakren sowie Forschungen zu den Medien des Terrors und der Ter- rorbekämpfung produktiv gemacht.

Johannes Gutenberg-Universität Mainz Deutsches Institut Jakob-Welder-Weg 18 55128 Mainz [email protected]

21

Kontrapunkt und Transgression: Selbstkonstruktionen als Politische Handlung (Sek. 4, 14:45 Uhr)

Dr. Gundela Hachmann

Seit der narrativen Wende der 1990er Jahre hält das Erzählen in vielen Disziplinen Einzug. Unter dem Begriff Storytelling breitet sich eine Praxis aus, die sich narrativer Verfahren bedient, um disziplinspezifische Inhalte effizienter zu kommunizieren. Unzählige Handbücher und Ratgeber adaptieren Storytelling für Manager, Politiker, Arbeitssuchende, Eltern, Psychologen, oder Lehrer und überhaupt jeden, der sich selbst, sein Projekt, seine Firma oder Marke sprachlich darstellt, zum Beispiel in Blogs, bei Bewerbungen, oder auf Firmenwebseiten. Sowohl der wachsende Bedarf an solchen auto-narrativen Erzählformen als auch die zunehmende Notwendigkeit, solche Erzählformen zu rezipieren, machen deutlich, dass hier eine neue Kompetenz nötig wird. Das Erstellen und der Umgang mit Storytelling werden zu zentralen Fähigkeiten, die das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Handeln der Individuen sowohl informieren als auch umsetzen. Das Handeln in politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontexten beruht zunehmend darauf, dass Individuen selber eine erzählende Selbstpräsentation vornehmen können und fremde Selbstpräsentationen kompetent verstehen und kontextualisieren können. An dieser Stelle kann das literarische Feld wichtige Impulse liefern. Innerhalb des literarischen Feldes hat sich parallel zur narrativen Trendwende in Wirtschaft, Politik und Technologie auch ein Trend zu einer ganz speziellen Form des Storytelling vollzogen: Zusätzlich zu ihren veröffentlichten oder aufgeführten Werken erzählen Autoren, Künstler, Regisseure oder Komponisten immer häufiger in Interviews, bei Poetikvorlesungen oder auf Blogs über sich selbst und ihre Arbeit. In solchen Paratexten entfalten sich Auto-Narrative, die nicht den eindeutigen Fiktionsstatus literarischer Werke haben, die aber dennoch, mit Wolfgang Iser gesprochen, im Spannungsfeld von Fiktivem, Imaginärem und Realem angesiedelt sind und die ebenso die Plastizität menschlicher Identität inszenieren. Im Gegensatz zu dem politisch-wirtschaftlich geprägten Diskurs über das Storytelling erlaubt der Diskurs des literarischen Feldes eine sehr viel größere formale und inhaltliche Spannbreite. Die Vielfalt macht das literarische Storytelling zu einem Fundus konzeptioneller und formaler Möglichkeiten, anhand derer zentrale Eckpunkte einer Kompetenz der narrativen Selbstpräsentation erschlossen werden können. Politisches Handeln findet in diesen Paratexten im 21. Jahrhundert selten in Form von expliziten Stellungnahmen oder parteipolitischen Zuordnungen statt, wie man es von Nachkriegsautoren im 20. Jahrhundert kennt. Vielmehr inszenieren diese Paratexte die Selbstkonstruktion im Storytelling als komplexe Handlungen, denen immer auch eine politische Bedeutungsebene eingeschrieben ist. Anhand von zwei Denkfiguren werde ich diese Form politisch informierter Auto-Narrative näher bestimmen. Die erste Denkfigur ist der Kontrapunkt. Der Dirigent Daniel Barenboim (Charles E Norton Lecture, Harvard University, 2006) und der Romancier Robert Menasse (Frankfurter Poetikdozentur, 2005) evozieren beide die historische Figur Baruch Spinozas, um eine kontrapunktische Selbstkonstruktion vorzuführen. Indem sie Spinoza als eine Chiffre der Widerständigkeit inszenieren, fordern sie dazu auf, die Negativität gegensätzlicher Positionen nicht als Herausforderung oder Affront zu werten, sondern vielmehr als notwendigen Bestandteil in die eigene Positionierung zu übernehmen. Die zweite zu diskutierende Denkfigur ist die Transgression. Die deutsch-japanische Schriftstellerin Yoko Tawada (Hamburger Gastprofessur für interkulturelle Poetik, 2011) und der britische Romancier Salmon Rushdie (Tanner Lectures on Human Values, Stanford University, 2002) diskutieren beide jene 22

Spannung zwischen dem Drang zur Exploration des Neuartigen und Fremden einerseits und der Gefahr der Invasion und Verletzung des Anderen andererseits. Die beiden Denkfiguren, Kontrapunkt und Transgression, zeigen, inwiefern Auto-Narrative als eine besondere Form des Storytelling das Politische an der Identitätskonstruktion hervorheben, ohne sich dabei explizit zu einer konkreten Politik zu äußern.

Department of Foreign Languages and Literatures Louisiana State University Baton Rouge, LA 70803 Tel: 001(225)578-5170

23

Das Politikum des Theatertextes im Zeichen der Stunde der Weißglut (Sek. 5, 16:00 Uhr)

Dr. Artur Pelka

In den letzten Dekaden hat sich das Verständnis von der Politizität des Theaters und seiner Texte diametral verändert. Obwohl das Theater nach wie vor für ein politisches Medium per se gehalten wird, verschiebt sich der Schwerpunkt in der Bühnenpraxis, vor allem aber in der theaterwissen- schaftlichen Reflexion, von Inhalten auf eine spezifische Politik des Ästhetischen, die „den Zu- schauer zu einer Reflexion seines eigenen politischen Standorts zwingt“ (Fischer-Lichte). Generell betrachtet wird das Politische des Theaters zum „Politischen im Theater“ umgedeutet, das sich in „Ästhetiken des Performativen“ bzw. in der „Unterbrechung des Politischen“ als „Infragestellung gewohnter Wahrnehmungs- und Denkweisen“ manifestiert. Solch ein Politikbegriff, der die Selbs- treflexivität der Zuschauerin/ des Zuschauers als politischen Akt verabsolutiert, ist nicht nur seiner Verschwommenheit wegen äußerst problematisch, sondern auch deswegen, weil er den Text als Träger der Inhalte marginalisiert und damit auch nicht zuletzt die Heterogenität der Theaterformen verkennt. Der Beitrag will zum einen der Frage nachgehen, ob der im Rahmen der Politik des Ästheti- schen ästimierte autoreflexive, „emanzipierte Zuschauer“ (Rancière) nicht geradezu die ‚Uneman- zipierten‘ programmatisch ausschließt und letztlich zur Verfestigung einer „Klassentheatergesell- schaft“ beiträgt. Die Frage erscheint umso brisanter, als das Theater bei der aktuellen Eskalation des Flüchtlingsdramas als Ort der Repräsentation auffallend an Bedeutung gewinnt. Dies manifes- tiert sich nicht nur in unzähligen künstlerischen Reaktionen auf das Zeitgeschehen, sondern auch im außerästhetischen Bereich in Form von politischer Kundgebung, solidarischer Hilfeleistung für Flüchtlinge sowie ihrer Integration. Gerade angesichts des von Heiner Müller in seiner Büchnerpreisrede Die Wunde Woyzeck (1985) prophezeiten Wieder-Beginns der Geschichte durch eine Initialzündung „aus dem Süden“ will der Beitrag zum anderen exemplarische Theatertexte, die sich auf die „Stunde der Weißglut“ beziehen, nach ihrem Politikum befragen. Dieses gründet sich – so die These – auf ästhetische Strategien, die an das kognitive Vermögen des potentiellen Publikums durch die ‚Gewalt der Sprache‘ appellieren. In dieser Hinsicht erscheinen die von den Theatertexten getragenen Inhalte als komplementäre Elemente ihrer Formen und in dieser Verbindung gestalten sie erst ihre eminente politische Struk- tur mit, wobei die spezifisch begriffene ‚Gewalt‘ des Theatertextes als ästhetisch-politisches Mittel gegen das reale Spektakel der Gewalt verhandelt werden soll.

Uniwersytet Łódzki Instytut Filologii Germańskiej ul. Pomorska 171/173 PL-90-236 Łódź [email protected] http://germanistyka.uni.lodz.pl/pracownicy/dr-artur-pelka

24

Milo Raus Die Moskauer Prozesse (2013) oder: Wenn das Theater das Gerichtstheater ersetzt. Überlegungen zum Reenactment als Mittel politischen Theaters im 21. Jahr- hundert (Sek. 5, 16:45 Uhr)

Dr. Johannes Birgfeld und Dr. Caroline Frank

Spätestens seit der Jahrtausendwende zeigt sich in den deutschsprachigen Theaterproduktionen des 21. Jahrhunderts im Rahmen des dramatischen wie des postdramatischen Paradigmas ein un- bedingter „Wille zur Repolitisierung der Kunst“ (Rancière). Eine große Vielfalt von neuen ästheti- schen Konzepten für ein théâtre engagé wurden und werden entwickelt, etwa von Rimini Protokoll, Christoph Schlingensief, She She Pop, Dea Loher, Elfriede Jelinek, René Pollesch, Roland Schim- melpfennig, Albert Ostermaier oder Falk Richter. Innerhalb dieser Entwicklung des letzten Jahrzehnts kommt dem Schweizer Regisseur, Thea- termacher, Journalist und Wissenschaftler Milo Rau (Jg. 1977) eine Sonderstellung zu. So wie vor ihm Rimini Protokoll das Dokumentartheater der 1960er Jahre aufgegriffen und durch den Ver- zicht auf Schauspieler und den Einsatz von Experten des Alltags an ihrer Stelle wirkmächtig neu konzipiert haben, hat Milo Rau durch verschiedene Experimente mit der theatralen Praxis des Reenactments das Theater der Gegenwart um eine komplexe ästhetische ‚Sprache‘ bereichert und nachhaltig geprägt. Ein Spezifikum des Theaters von Milo Rau ist die globale Zuständigkeit, die Rau für sich und sein Theater mit Blick auf historische und politische Prozesse der Gegenwart in Anspruch nimmt. Dabei vertritt Rau ein kritisches, komplexes Konzept des politischen Theaters. „Politische Kunst“, so konstatiert er, „gibt es überhaupt nicht. [...] Ich persönlich habe natürlich eine politische Hal- tung“. Aber, so Rau weiter: „Ich persönlich halte nicht viel von Zeigefinger-Kritik. Es ist ästhetisch wirksamer, die Dinge zu zeigen, wie sie sind, und das Urteil den Zuschauern zu überlassen“. Der Vortrag will die Leistungsfähigkeit und die Grenzen der theatralen Verfahren Milo Raus als Mittel der Förderung öffentlicher Reflexion über politische Prozesse der Gegenwart in einer exemplarischen Analyse untersuchen: 2013 setzte Rau in Moskau das Theaterprojekt „Die Mos- kauer Prozesse“ um, bei dem im Sacharow-Zentrum an drei aufeinanderfolgenden Tagen insge- samt drei Prozesse „reinszeniert“ wurden, in denen seit dem Jahr 2000 verschiedene Künstler (u.a. Pussy Riot) wegen der Verletzung der öffentlichen Moral vor Gericht standen: „Alle drei [ur- sprünglichen] Prozesse verliefen nur äußerlich nach rechtsstaatlichen Standards. Kirchliche und staatliche Organe arbeiteten reibungslos zusammen, den Zeugen und Experten der Verteidigung wurde kein Gehör geschenkt. Mit diesen drei Prozessen endete das demokratische Russland.“ Nun aber führte Rau „die Prozesse noch einmal durch: nicht mit Schauspielern, sondern mit den Betei- ligten und Betroffenen selbst. Nicht nach einem Drehbuch, sondern gemäß der russischen Verfas- sung, und gemäß russischem Recht“. Und er betont, in seiner Inszenierung werde „erstmals nicht Gerichtstheater gespielt“, das „Theater sei rechtstaatlicher als die ursprünglichen Prozesse“, ja, es stelle „das Format der Rechtsfindung überhaupt erst her“.

25

Dr. Johannes Birgfeld Dr. Caroline Frank Oberstudienrat im Hochschuldienst wiss. Mitarbeiterin Universität des Saarlandes FR 4.1 Germanistik FR 4.1: Germanistik Universität des Saarlandes Gebäude C5.3, Zi. 418 Geb. C 5.3, R. 214 Postfach 151150 0681/30257434 66041 Saarbrücken [email protected] [email protected] +49 (0) 681 302 2856 +49 (0) 681 302 4371

26

Mit der Politik ins Gericht gehen. Die politische Dimension des Gerichtsdramas am Beispiel von Ferdinand von Schirachs Terror und Elfriede Jelineks Das schweigende Mädchen (Sek. 5, 17:30 Uhr)

Dr. Johanna Canaris

Der Staat, in welchem wir leben, versteht sich als Rechtsstaat, dies bedeutet, dass der politische Raum, in welchem wir handeln, von Gesetzen definiert wird. Die Frage nach dem richtigen, rechten Handeln im Rahmen dieser Gesetze wird – und das auf allen Ebenen – vor unterschiedlichen Ge- richten verhandelt. Das Gericht und das Theater weisen in der Situation des Verhandelns eines Gegenstandes eine Verwandtschaft auf, wie vor allem Cornelia Vismann ausführlich gezeigt hat (vgl. Vismann 2011). Doch ist diese enge Beziehung keine Diagnose, die erst in der Gegenwart getroffen wurde. Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang Schillers Diktum: „Die Gerichts- barkeit der Bühne fängt da an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt.“. Hier wird bereits deutlich, dass ein qualitativer Unterschied zwischen Gericht und Bühne besteht. Auf der Bühne können Dinge zur Disposition gestellt werden, die vor einem ordentlichen Gericht nicht verhan- delbar sind. In der Dramengeschichte sind einige prominente Beispiele bekannt, von der attischen Tragödie (Die Eumeniden) über Kleist (Der zerbrochene Krug) bis zu (Die Ermittlung), wel- che ein Gerichtsverfahren auf die Bühne bringen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden Situationen – Gericht und Bühne – sichtbar machen. Dieser Beitrag soll sich nun mit zwei – ästhetisch äußert unterschiedlichen – Gegenwartsdra- men befassen. Gemeinsam ist beiden Dramen, dass sie sich mit Themenkomplexen befassen, die zu den großen Herausforderungen der gegenwärtigen Politik gehören. In Terror (2015) wird über den Abschuss einer entführten Passagiermaschine, die zu terroristischen Zwecken über einem Fuß- ballstation zum Absturz gebracht werden sollte, verhandelt. Das schweigende Mädchen (2014) hat die Verbrechen der mutmaßlichen Terroristen des sogenannten NSU und die Gerichtsverhandlung gegen die einzige Überlebende Zschäpe zum Inhalt. Neben der Frage, wie diese Themenkomplexe hier neu verhandelt werden und um welche Dimensionen das theatrale Gericht die Debatte bereichern kann, kommt noch die Frage nach dem politischen Moment dieser Texte in den Blick. Als Politisch möchte ich mit Hans-Thies Lehmann die Unterbrechung, die Erzeugung einer Gegenöffentlichkeit und eben nicht ausschließlich die Wiedergabe der Ereignisse auf dem Theater verstehen (vgl. Lehmann 2002). So soll im Vergleich der beiden Texte vor der Folie des Gerichts(-dramas) sowohl eine Be- schreibung von Tendenzen im gegenwärtigen Theater als auch im politischen Diskurs, dessen Be- standteil das Theater zugleich ist, versucht werden.

Universität Paderborn Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft Fakultät für Kulturwissenschaften Warburger Str. 100 33098 Paderborn [email protected]

27

20. Mai 2017

Die Politik des Zitats in der Österreichischen Gegenwartsliteratur. Zur Intersektionali- sierung des Blicks (Sek. 6, 09:00 Uhr)

Dr. Sabine Zelger

Es gibt zahlreiche Beispiele für die Experimentierfreudigkeit der österreichischen Gegenwartslite- ratur. Viele AutorInnen setzen sprachkünstlerische Wege der Wiener Moderne und des avantgar- distischen Schreibens der Nachkriegszeit fort. Formexperimentelle Literatur wird von österreichi- schen Institutionen und Jurys gut gefördert und ausgezeichnet, findet jedoch meist nur bescheidene Wege in die Öffentlichkeit. Das Politische dieser Literatur ist also im Rahmen einer staatlichen Förderungspolitik zu lesen und innerhalb eines oft beschränkten AdressatInnenkreises zu lokali- sieren. Dies gilt auch für weitgehend ausstehende Übersetzungen. Gleichzeitig scheinen diese Pro- duktionsbedingungen eine experimentelle Vielfalt im literarischen Feld zu ermöglichen, die nicht zufällig immer wieder in den Zusammenhang mit ihren politischen Implikationen gesetzt wird. Im Zentrum meines Vortrags soll nun exemplarisch an einer bewährten Methode des Sprach- experiments, dem Zitieren, gezeigt werden, wie in österreichischen Texten der Gegenwart politi- sches Potenzial angelegt ist. Die Zitate stammen aus Printmedien und Wissenschaft und treten als faktuale Elemente in Wechselwirkung mit der Fiktionalität der Literatur. Durch verschiedene Be- arbeitungen des Zitats, Techniken wie Dekontextualisierung, Vertauschung, Wiederholung, Re- duktion, werden die provozierten Erwartungshaltungen gestört. Im Sinne Jacques Rancièrs wird über die irritierten Wahrnehmungskonventionen in die „Aufteilung des Sinnlichen“ eingegriffen und dem hegemonialen Blick getrotzt. Politik wird als Unterbrechung von Denkgewohnheiten re- alisiert. Die Texte eröffnen hiermit Perspektiven auf bislang nicht Sicht- und nicht Sagbares, auf Äußerungen, die lediglich als Lärm wahrgenommen wurden. Aber um welche neuen Aufteilungen handelt es sich? Inwiefern lässt sich eine Politik der Literatur in einer Gegenwart frei flottierender Bezüge, aufgelöster Kategorien und Tendenzen der Hybridisierung denken? Und welche Rolle fällt dem Lektüreakt, den RezipientInnen zu? In meinem Vortrag werden ausgehend von der machtvollen geschlechtlichen di-visio der Welt (Pierre Bourdieu) intersektionale Verschränkungen untersucht, die die Dominanzverhältnisse der kategorialen Teilungsprinzipien (nach Geschlecht, Klasse, Alter, Gesundheit) verschieben. Zu zei- gen gilt es, inwiefern sich durch die spezifische Bearbeitung der Zitate Intersektionalisierungen des Blicks ergeben, die die Verhältnisse entlang der Achsen der Ungleichheit neu vermessen. Dies wird exemplarisch an kurzen Texten von Elfriede Jelinek, Margret Kreidl, Elfriede Gerstl und Lisa Spalt vorgeführt.

Universität Wien Inst. f. Germanistik Universitätsring 1 1010 Wien [email protected]

28

Taucherzeichen. Schlingensiefs Chance 2000. Wähle Dich selbst als Gebrauchsanlei- tung zur Demokratie (Sek. 6, 09:45 Uhr)

Anna Rick

„Am Freitag, den 13. März 1998, wurde Chance 2000 gegründet. Das vorliegende Buch wurde in 7 Tagen geschaffen.“ So steht es in der Danksagung von Christoph Schlingensiefs und Carl Hege- manns Buch zu Chance 2000. Wähle Dich selbst. Ein Projekt, das sich neben seiner scheinbar plötzli- chen Genese durch Sensation, Skandal, Theater auszeichnet. Allerdings bleibt das Buch bis dato aus der wissenschaftlichen Betrachtung von Parteigründung und Wahlkampfspektakel ausgeklam- mert. Dabei stellt gerade dieser Text – samt seiner Paratexte – ein interessantes Beispiel für den Diskurs des Politischen in der Literatur der Gegenwart dar. Flugblätter, Zitate, Briefe, Fotos, Back- rezepte erscheinen alphabetisch nach Rubriken geordnet. T wie Taucherzeichen offeriert folgende Lesart. Im Sinne von Taucherzeichen ist insbesondere das Buch sowohl als Aufforderung als auch als Frage – hier: an das Politische – zu verstehen. Konfrontation lautet die Devise, schließlich soll es der „Streit um das Dasein der Politik“ sein, „durch den es Politik gibt“ (Jacques Rancières).

Adolf-Reichwein-Str.2 57068 Siegen [email protected]

29

Zwischen Anpassung und Widerstand. Zur Darstellung der Auswirkungen politischer Systemwechsel auf das Individuum im Boxroman der Gegenwart (11:15 Uhr)

Dr. Anna S. Brasch

Gleich zwei Romane der letzten Jahre haben sich dem Feld Boxen gewidmet: Matthias Eckoldt veröffentlicht 2010 Letzte Tage. Boxerroman, einen Roman, der im postsozialistischen Boxermilieu situiert ist, und Stephanie Bart publiziert 2014 mit Deutscher Meister einen historischen Roman, der sich dem Boxsport in den frühen 1930er Jahren widmet. Auf den ersten Blick haben diese beiden Romane wenig gemeinsam. Bei genauerer Betrachtung jedoch verbindet die Texte, dass beide einen politischen Systemwechsel, mithin einen der großen Einschnitte in der deutschen Zeitgeschichte, und dessen Auswirkungen auf das Individuum zum Gegenstand haben. Eckoldts Roman ist in den Jahren nach der Wende situiert; er thematisiert und problematisiert den Anpassungs- und Annähe- rungsprozess ehemaliger DDR-Bürger an das neue politische, gesellschaftliche und vor allem öko- nomische System nach 1990. Stephanie Bart hingegen erzählt die Geschichte des Boxers Rukelie Trollmann, der 1933 nach der sogenannten ‚Machtergreifung‘ durch die Nationalsozialisten um den Titel des Deutschen Meisters gebracht wurde. Beide Texte stellen darüber hinaus eine Figur ins Zentrum, die aus unterschiedlichen Gründen im neuen politischen System keinen Platz haben oder finden: Der Sinto Trollmann behielt nach seinem letzten Kampf gegen Gustav Eder nur noch wenige Monate die Kampflizenz. Und Eckhardts ehemaliger DDR-Landesmeister, der nach der Wende Profi-Trainer geworden ist, scheitert letztendlich am kapitalistischen Boxgeschäft und ver- fällt dem Alkohol. Es ist nun kein Novum, dass über das Feld ‚Boxsport‘ zeithistorische Konstellationen verhan- delt werden; schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts hat der moderne Boxsport Eingang in literarische Texte gefunden. Bereits zu dieser Zeit diente der Boxsport als Projektionsfläche für die Verhandlung der heterogenen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Problemstel- lungen der Zwischenkriegsjahre. Ausgehend von den dargelegten Ausgangsbeobachtungen ver- folgt der geplante Vortrag ein doppeltes Ziel: In einem ersten Schritt soll anhand der beiden Ro- mane von Eckoldt und Bart untersucht werden, wie Zeitgeschichte in der Gegenwartsliteratur über das Feld Boxsport verhandelt wird. In diesem Zusammenhang gilt es zweitens, vor dem Hinter- grund der skizzierten Entwicklung in den 20er Jahren auch eine Einordnung in diachroner Per- spektive zu leisten, um so Kontinuitäten und Brüche in der Besetzung des Feldes Boxsport für die Verhandlung zeithistorischer Problemkonstellationen sichtbar zu machen.

Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Am Hof 1d 53113 Bonn [email protected]

30

Sprache – Literatur – Politik – Abstracts –

Workshop an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, am 17. Mai 2017, 14:00-18:00 Uhr Veranstalter: Prof. Dr. Stefan Neuhaus und Dr. Immanuel Nover

Sprache, Politik, Subversion (14:15 Uhr)

Apl. Prof. Dr. Hajo Diekmannshenke

„Sprache in der Politik“, um den Rahmen möglichst weit zu fassen, ist ein seit Jahrzehnten eta- bliertes Forschungsfeld der Linguistik. In den letzten Jahren hat nun eine verstärkte Beschäftigung mit dem Thema „Protest“ stattgefunden. Unter den vielfältigen Formen politischen Protestes finden sich auch Phänomene, die als „subversiv“ beschrieben werden können, und die bislang wissenschaftlich weitgehend unbeachtet geblieben sind. Im Vortrag soll zum einen Subversion als eine spezifische Form des politischen Protestes verstanden und in ihren Merkmalen und Formen (ansatzweise) theoretisch modelliert werden. Zum anderen soll ein besonderes Augenmerk auf die Nutzung ästhetischer Mittel im Rahmen sprachlich-kommunikativen subversiven Handelns gerichtet werden. Als Beispiele werden dabei u.a. die künstlerisch-politisch orientierte Dada- Bewegung sowie das politische Kabarett betrachtet. Ebenso soll dabei die Frage, inwiefern Sub- version auch komisch und unterhaltsam sein kann, diskutiert werden. Subversives (sprachlich-kom- munikatives) Handeln erweist sich damit in einer wissenschaftstheoretischen Perspektive als Schnittstelle von Linguistik und Literaturwissenschaft sowie weiteren kulturwissenschaftlich orien- tierten Disziplinen.

Universität Koblenz-Landau Campus Koblenz Institut für Germanistik Universitätsstr. 1 56070 Koblenz [email protected]

31

Politisch aufgeladene Lebensgeschichten am Beispiel von Judith Schalanskys Der Hals der Giraffe (2011) (15:00 Uhr)

Dr. Helmut Grugger

Mit dem Ende naturalistischer Schreibweisen waren zahlreiche Verfahren der Repräsentation ob- solet geworden, die sich historisch rund um die symbolische Darstellung des Allgemeinen am Einzelnen herausgebildet hatten. Ein Trick der klassischen Moderne bestand in reichlichem Ge- brauch von Metareferenz. So formuliert etwa die Gegenstimme in Leverkühns Visio in doch deut- licher Bezugnahme auf den NS-Terror: „Mit Symbolis, mein Guter, muß man sich durchaus be- gnügen, wenn man von der Höllen spricht.“ Der Prozess der Symbolisierung wird dadurch selbst fiktionalisiert und Teil der komplexen Verweisstruktur des Dr. Faustus. Die Frage ist nun, welche Verfahren dem in Texten der Gegenwartsliteratur gegenübergestellt werden. Judith Schalansky beschreibt in Der Hals der Giraffe den Verfallsprozess einer Lehrerin, der ‚irgendwie‘ mit dem Untergang einer ostdeutschen Schule in einem ebenfalls verfallenden Gebiet verknüpft ist und fast nebenbei auf zur DDR-Zeiten unzureichend problematisierte NS-Vergan- genheit deutet. Klar ist, dass sich das eine nicht mehr im anderen spiegeln und das Individuelle das Kollektive einfach symbolisieren kann, wie dies so oft bei Lebensgeschichten der Fall war. Die Analyse soll im Detail offenlegen, welche Funktion dem grundlegenden biologischen Diskurs des Romans in diesem Kontext zukommt, der ebenso zum ‚Ausdruck‘ des Unzeitgemäßen wie zu dem der Protagonistin wird, ohne als bloßer ‚Schlüssel‘ zu dienen. Diskutiert wird zunächst, wie Schalansky den Text konstruiert, um in einem zweiten Schritt seine kritische Struktur sichtbar zu machen. Neben der konkreten Problematisierung von Um- bruchphasen wie derjenigen nach 1989/90, geht es hier allgemein um die Rekonstruktion fataler individueller Denkprozesse in ihrer Wechselwirkung mit dem sozialen Raum. Der einleitend her- gestellte Bezug zur Moderne ist dabei nicht willkürlich. Es wird zu zeigen sein, wie Schalansky mittlerweile etablierte literarische Verfahren innovativ nutzt und sie mit einer spürbaren Leichtig- keit einsetzt, ohne dass das Erzählte deshalb in seiner Komplexität reduziert würde. Im Hintergrund steht die Frage, wie Politisches mit aktuellen erzählerischen Mitteln ‚symboli- siert‘ werden kann. Schalansky antwortet mit ihrer spezifischen Erzählanlage auf eine Situation, in der gesellschaftliche Entwicklungen nach den Erkenntnissen des Konstruktivismus nicht mehr einfach verursachend für Einzelne gedacht werden können und die Rede, dass alles politisch sei, ebenso ihre Grenzen gefunden hat wie der Entfremdungstopos. Die Beobachtung der aktiven Konstruktion der Welt ihrer Protagonistin durch diese selbst ist fern von einer sozial determinier- ten Figur, der ein eigentliches Ich gegenüberstünde. Gleichzeitig zeigt Schalansky, wie sehr die Denkprozesse ihrer Protagonistin auf ein komplexes ‚Außen‘ reagieren.

Mary Immaculate College, University of Limerick South Circular Road Limerick, Ireland [email protected]

32

Das Politische der Präsenz in Ulrich Peltzers Bryant Park und Teil der Lösung (16:15 Uhr)

Eva Stubenrauch

Ulrich Peltzers Erzählungen Bryant Park (2002) und Teil der Lösung (2007) erzeugen beide über den unvermittelten Einbruch von Präsenz ein Ereignis des Politischen. Präsenz meint hier das Ein- wirken einer materiellen Erscheinung auf menschliche Körper, die unmittelbare Auswirkungen auf unser räumliches Verhältnis zur Welt hat (vgl. Gumbrecht 2004, 10f.). Ist es in Teil der Lösung die plötzlich einsetzende und an eine Zirkusvorstellung erinnernde Performance eines Clowns und zweier Ballerina, die als Protest gegen Überwachungsstaat und unbedingte Globalisierung die Fig- urenwahrnehmung und -ausrichtung im Berliner Sony Center und damit dessen räumliche Struktur radikal verändern, figuriert der in Bryant Park literarisch verarbeitete Einsturz der Twin Towers in Manhattan am 11. September als Moment der Zäsur innerhalb der Dynamik des städtischen Alltags. Das Politische als Präsenz ergibt sich dabei aus deren unmittelbarem Zusammenhang mit Macht – als Potenzial, „Räume mit Körpern zu besetzen oder zu blockieren“ – und Gewalt – „die tatsächliche Umsetzung dieses Vermögens, also Macht als Performanz oder Ereignis“ (Gumbrecht 2012, 347) – und geht mit einem ästhetischen Erleben einher. In dieser Ästhetisierung von Gewalt wird ferner Präsenz als Textverfahren etabliert und – wie der vermittelte Zugang zur Welt – zugleich der vermittelte Zugang zur Diegese mit dem Verfahren der Präsenz einer Provokation ausgesetzt. Der Beitrag wird mit Hilfe von Peltzers Erzählungen Fragen von Nähe und Distanz, von Präsenz und vermittelter / „artifizieller“ Präsenz (Wiesing 2005) des Politischen behandeln.

Universität Koblenz-Landau Campus Koblenz Institut für Germanistik Universitätsstraße 1 56070 Koblenz [email protected]

33

Das Literarische in Zeiten von PEGIDA. Von Houellebecq bis Haftbefehl: Im dialekti- schen Dickicht von Politik und Literatur (17:00 Uhr)

Sebastian Schuller

Die Zeiten operativer Literatur scheinen vorbei. Wenn Benjamin noch die „Politisierung der Kunst“ (Benjamin 1955) als Maßnahme gegen den Faschismus fordern konnte, stellt, so zumindest das gängige Vorurteil, in der Gegenwart des angeblichen Endes der Geschichte, das Politische eine Leerstelle in der Literatur dar. Dies mag freilich nur Ausdruck des Verschwindens des Politischen – verstanden als ein die Fragmentation des Gesellschaftlichen transzendierendes Geschehen einer Wahrheit (Badiou/Tarby 2012) – sein, hat doch das Politische keinen festen Ort mehr in der ge- sellschaftlichen Realität. Es findet eine Entleerung des Politischen statt, in der Politik steht nur noch die Frage der besseren Administration auf dem Spiel und die Sphäre der Kunst erscheint als autonomes, unpolitisches Reservat innerhalb der Gesellschaft. In meinem Vortrag unternehme ich es, die Sage von der entpolitisierten Kunst im starken Sinne in Frage zu stellen. Das Politische, so meine These, ist nicht einfach der Literatur äußerlich – wie bereits der Ausdruck ‚politische Literatur‘ andeutet; von ‚politisierter Literatur‘ zu sprechen, so ließe sich konjizieren, bedeutet von ihr als Spezialfall der ansonsten eben gerade nicht-politischen Literatur auszugehen –, sondern: Der literarische Akt an sich kann als politisch begriffen werden, ist, mit Brecht gesprochen, eine Form „eingreifende[n] Denken[s]“ (Brecht 1967). Das heißt, dass Literatur als ein Modus gesellschaftlicher Produktion nicht nur jene Situationen und Diskurse, in denen sie steht, zum Vor-Schein bringt, sondern auch, indem sie sie durch den literarischen Akt dar-stellt, überhaupt erst her-stellt. Daher kann das Literarische nicht einfach als ein möglicher Ort des Politischen unter anderen verstanden werden, sondern gerade weil der literarische Akt ein Mo- ment gesellschaftlicher Produktion ist, ist er unausgesprochen politisch, da durch und in der litera- rischen Produktion die Bedingungen gesellschaftlicher Realität durch ihre Reflektion konstituiert werden - was freilich nicht heißen soll, dass Literatur alleiniger Ort der Konstitution des Gesell- schaftlichen wäre. Literatur ist ein Prozess unter anderen, der, in gegenseitigen und dialektischen Austausch gesellschaftliche Realität bedingt (Vgl. Marx 1968, 537ff.). Ich unternehme es diese These an Unterwerfung von Houellebecq oder den Texten des Rappers Haftbefehl zu diskutieren. Gegenwart und Gegenstand sowohl von Houellebecq als auch von Haftbefehl ist das Auseinanderfallen des Gesellschaftlichen, das seinen Ausdruck in der Kulturali- sierung und Ethnifizierung sozialer Konflikte, also in rassistischen Diskursen und Bewegungen, wie PEGIDA, findet. Beide, Houellebecq wie Haftbefehl, verarbeiten gerade diese identitären Dis- kurse und thematisieren die Entpolitisierung, von der das Subjekt im Neoliberalismus betroffen scheint, wobei sie weder klar regressive noch progressive Positionen in ihren Texten beziehen. Es gilt daher, das politische Unbewusste dieser Texte an die Oberfläche zu bringen und zu zeigen, wie sie, ohne ausgesprochen operativ sein zu wollen, als literarische Texte ins Gesellschaftliche eingrei- fen, selbst Räume des Politischen eröffnen und als politische Akte verstanden werden können. In diesem Sinne hieße die Politisierung der Literatur zu vollziehen, zu zeigen, dass Literatur als Lite- ratur immer schon politisch ist. [email protected]

34