DAS ERBE DER GRÜNDER

Im Wirtschaftswunder-Deutschland schien es, als wäre das „Tausendjährige Reich“ seit tausend Jahren vorbei. Erst der Auschwitz- Prozess führte vielen Deutschen die NS-Verbrechen klar vor Augen. Die Gesichter des Bösen Von GEORG BÖNISCH

SS-Mann sitzt 1939 dem Fotografen mit seiner Familie Porträt. 24 Jahre später verfolgt er (r., 3. Reihe) mit dem Mitangeklagten Wilhelm Boger (vorn l.) den Prozess in Frankfurt am Main. AP (L.); ARCHIV FRIEDRICH / INTERFOTO (O.); JAD WASHEM (R.) WASHEM JAD (O.); AP (L.); ARCHIV FRIEDRICH / INTERFOTO

32 SPIEGEL GESCHICHTE 2 | 2009 amen sind mitnichten discher Religion und jüdischer Intelli- die Chefs, die Organisatoren, die Erfin- Schall und Rauch, und die genz war – und zur Massenmordstätte der der monströsen Todesfabrik. Son- schlichte Kombination wurde. Zum Synonym für „eine Revolu- dern 22 Männer aus der dritten, vierten, aus Zahlen und Buchsta- tion gegen die Menschheit schlechthin“, fünften Reihe, kleine und ganz kleine ben kann das Grauenhaf- wie der israelische Geschichtsforscher Lichter. Da war der Kaduk, Oswald Ka- teN des Grauens nur auf den ersten, Yehuda Bauer schrieb. Zum Symbol des duk, ein Unterscharführer der SS, nied- schnellen Blick verbergen. 4 Ks 2/63 – Genozids mit seiner industriellen Ver- riger Dienstgrad also. Aber fast jeder oder „Strafsache gegen Mulka und an- nichtung von sechs Millionen Juden und Häftling in Auschwitz zitterte vor Angst, dere“: zwei Chiffren, die für das bekann- Hunderttausenden Sinti und Roma. wenn es hieß: „Der Kaduk kommt!“ teste Strafverfahren in der deutschen In Frankfurt am Main, wo dieser Pro- Oder der Boger, Wilhelm Boger, ein Geschichte stehen. zess vom Dezember 1963 bis zum Au- Hauptsturmführer. Er hatte sich ein be- Und das wahrscheinlich wichtigste: gust 1965 stattfand, ging es um die Er- sonders qualvolles Folterinstrument den Auschwitz-Prozess. mordung von etwa 29 000 Menschen, ausgedacht, die „Boger-Schaukel“. Der Auschwitz, auf Polnisch O´swiecim, vor allem jüdischer Menschen – nur Klehr, , ein Tischlergeselle, jene Kleinstadt, die einmal Zentrum jü- 29 000. Und vor Gericht standen nicht Oberscharführer. Mit Phenol spritzte er

In Auschwitz-Birkenau werden ungarische Juden nach ihrer Ankunft im Mai 1944 selektiert.

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Menschen einfach tot. „Heute bin ich lich war. Aus ihren Expertisen entstand dem die, die ihn am eigenen Leibe er- der Lagerarzt“, jubelte er dabei. dann eine der wichtigsten Publikatio- fahren haben, gestorben sein werden“. Und dann der Mulka, , nen jener Zeit – Titel: „Anatomie des Damit meinte er weniger die Verbrechen Adjutant des Lagerkommandanten, der SS-Staates“. der Nazis als vielmehr die „tiefgründige sich als feiner Pinkel gerierte und von Ohne Zweifel, der Auschwitz-Prozess Umformung der deutschen Gesellschaft nichts gewusst haben wollte. Das Ge- war ein Durchbruch. Immer mehr Deut- durch das totalitäre System“ (Historiker richt wies ihm jedoch nach, dass er sche wurden sich nun klar über die Manfred Görtemaker) – mit der Konse- mehrfach an der Rampe gestanden hat- Dimension der Menschenvernichtung quenz, dass sozusagen die Rücknahme te – dort, wo die Selektionen stattfan- (noch waren die Begriffe Holocaust oder dieser Umformung nachfolgende Gene- den. Wer fähig zur Arbeit war, der durf- Schoa nicht geläufig) und über die Rol- rationen beschäftigen würde. te noch leben, wer es nicht war, der starb le, die sie selbst im sogenannten Dritten kurze Zeit später nach minutenlangem Reich gespielt hatten – entweder als sei- Die im Umfeld des Prozesses unter Todeskampf in der Gaskammer. ne begeisterten Anhänger oder zumin- den Bürgern zu beobachtende Ambiva- 183 Tage lang verhandelte die Straf- dest als jene, die es tolerierten. lenz, ja Widerläufigkeit – Interesse ei- kammer, sie hörte 359 Zeugen, 248 von Und der Prozess sorgte schließlich für nerseits, Ablehnung andererseits – zieht ihnen waren Häftlinge in Auschwitz. Als eine Änderung der juristischen Praxis. sich durch die aufwachsende Bundes- der Vorsitzende Hans Hofmeyer die Ur- Erst verlängerte die Politik die Verjäh- republik. Hier der Neubeginn in einer teile verkündete, stockte ihm mehrfach rungsfristen für Mord, später hob sie die erst einmal so gut wie unbekannten De- die Stimme, und als er die Ermordung Mordverjährung ganz auf. Deshalb kön- mokratie, die Orientierung zum Westen von Kindern schilderte, brach er in Trä- nen NS-Verbrecher heute noch, egal, wie hin und damit notwendigerweise ver- nen aus. Auschwitz, alt sie sind, vor Gericht bunden ein „normativer Bruch mit der sagte Hofmeyer zum gestellt werden. NS-Vergangenheit“, wie es der Zeitge- Schluss, sei die Hölle Ob aber der Ausch- schichtler Clemens Vollnhals formu- gewesen – eine „Hölle, witz-Prozess als ein lierte. Dort die Frage, wie denn nun ein die für das normale wirklicher Wende- Millionenheer ehemaliger National- menschliche Gehirn punkt in der jüngeren sozialisten, ob Täter oder Mitläufer, in nicht auszudenken ist“. deutschen Geschich- diesen neuen Staat zu integrieren sei. Gewiss, angesichts te beschrieben werden Hier die gewaltig hohe Mauer des dieser Beschreibung fie- kann, wie es viele For- Schweigens und die Überzeugung fast len die Urteile recht scher und Deuter tun, der Hälfte aller Bürger, noch Mitte der milde aus: drei Frei- wird wohl immer um- fünfziger Jahre, ohne den Krieg wäre sprüche, elf Freiheits- stritten bleiben, auch Hitler einer der größten deutschen strafen zwischen 42 wenn er maßgeblichen Staatsmänner geworden. Dort ein Best- Monaten und 14 Jahren, Einfluss auf die Gene- seller, der die Mitverantwortung fast al- sechsmal lebensläng- ration der protestieren- ler Zeitgenossen an dieser schrecklichen lich. „Es ist“, kommen- den 68er hatte. Ers- Ära und den späteren Gedächtnisverlust tierte ein französischer tens war er so eigent- fast einer ganzen Nation darüber be- Korrespondent, „als ob Ankläger Fritz Bauer 1967 lich nicht gewollt – nur schreibt – die „Blechtrommel“ von Gün- ein Meer von Blut im die Hartnäckigkeit ei- ter Grass. Und im Theater war das Stück Sand versickert“. Dennoch: Das erste (von nes einzelnen Mannes, des hessischen „Das Tagebuch der Anne Frank“ 1957 mehreren) Auschwitz-Verfahren, konsta- Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, mach- das meistgespielte überhaupt. tieren die beiden Autoren Gerhard Wer- te ihn möglich. Zweitens kam er viel zu Wer an der Vernichtung der Juden le und Thomas Wandres, habe bei vie- spät – ein Großteil des Volkes hatte es beteiligt war, der reüssierte häufig in len eine „ungeheure Wirkung“ gezeitigt. sich längst bequem gemacht in der Ecke Politik und Wirtschaft und ließ es sich des Vergessens und Verdrängens. gutgehen in neubürgerlicher Sekurität. Die Berichterstattung war nämlich Und drittens spricht gegen diese The- Wer aber Juden gerettet hatte, wie etwa so massiv, dass bald schon die Täter- se die Dramatik der Zahlen. Als der Pro- der Industrielle Berthold Beitz, dem namen – Kaduk oder Boger, Klehr oder zess ein halbes Jahr lief, da votierten bei schlug erst einmal Misstrauen entgegen Mulka – einer Mehrheit unter den West- einer Umfrage des Divo-Instituts 39 Pro- – wie auch jenen, die die Ideen der Wi- deutschen durchaus geläufig waren, das zent der befragten Bürger dafür, dass es derständler gegen Hitler verteidigten. Böse hatte also ein Gesicht bekommen. eigentlich so viele Jahre nach Kriegs- Gerade Intellektuelle sorgten sich, Und der Andrang vor dem Gerichtssaal ende Verfahren dieser Art gar nicht das fragile Gebilde Bundesrepublik kön- ließ nie nach. Etwa 20 000 Zuhörer, un- mehr geben dürfe. Schließlich, im Fe- ne schnell wieder Schaden nehmen. „Ich ter ihnen viele Schülerinnen und Schü- bruar 1965 und weit vor den Urteilen, betrachte das Nachleben des National- ler, erlebten – und erlitten – im Lauf der waren laut einer Wickert-Erhebung sozialismus in der Demokratie als poten- Hauptverhandlung die Konfrontation über 60 Prozent dafür, die Strafverfol- tiell bedrohlicher denn das Nachleben mit der Düsternis. gung von NS-Verbrechern einzustellen. faschistischer Tendenzen gegen die De- Auch hatten Gutachter die bis dahin In der politischen Kultur Deutsch- mokratie“, urteilte etwa der Philosoph der Öffentlichkeit weitgehend verbor- lands, prophezeite deshalb der US-ame- Theodor W. Adorno. gen gebliebenen Strukturen der NS-Tö- rikanische Politologe Sidney Verba, Anfangs, nach dem Schock vom 8. Mai tungsmaschinerie offengelegt, so detail- werde die Erfahrung des Nationalsozia- 1945 und noch vor den schnellen Urtei-

liert, wie es nach der Quellenlage mög- lismus noch zu spüren sein, „lange nach- len der Alliierten im Nürnberger Haupt- KLAUS-JÜRGEN ROESSLER / KEYSTONE

34 SPIEGEL GESCHICHTE 2 | 2009 Deportation aus dem Gefängnis Hohenasperg: Sinti und Roma werden im Mai 1940 durch das württembergische Städtchen Asperg zum Abtransport nach Polen geführt.

kriegsverbrecherprozess, hatten fast gerichtete Ludwigsburger „Zentrale sollten demnächst „unter allen Umstän- 80 Prozent der Westdeutschen es für Stelle der Landesjustizverwaltungen zur den“ vermieden werden. richtig erachtet, alle NS-Führungskräf- Aufklärung nationalsozialistischer Ver- Hofmeyer wollte eigentlich, da war te auf die Anklagebank zu setzen. 1950, brechen“ schon einiges an Material ge- er ganz Strafrichter, nicht die histori- die Folgeprozesse waren kaum beendet, sammelt. sche Besonderheit des Verfahrens sehen da stimmten gerade noch 38 Prozent Die entscheidenden Dokumente je- und auch nicht urteilen „über die Ge- dafür – wohl, weil vielen dämmerte, sie doch bekam ein Redakteur der „Frank- schichte“ (Wojak). Ihm ging es um die könnten von einer umfassenden Entna- furter Rundschau“, Thomas Gnielka, in persönliche Schuld der Angeklagten in zifizierung selbst betroffen sein. die Hand, als er den Holocaust-Überle- einem „gewöhnlichen Strafprozess“. Plötzlich ging es gegen die vermeint- benden Emil Wulkan besuchte: amtliche Also in der „Strafsache gegen Mulka und liche „Siegerjustiz“, plötzlich war man Protokolle über Häftlinge in Auschwitz, andere“, Aktenzeichen 4 Ks 2/63. für die Einstellung jeglicher Strafverfol- die angeblich „auf der Flucht“ erschos- Vielleicht deshalb auch hat der Pro- gung, das Wort der Jahre hieß einfach: sen worden waren. zess eines nicht verhindern können – Schlussstrich. Kaum jemand sprach über Gnielka überließ sie Bauer, und der dass sich eine Front der Leugner auf- die Blutrichter der Nazis mit ihren Tau- kämpfte bis zum Bundesgerichtshof dar- baute, die immer wieder antisemitische senden Todesurteilen. Die Verstrickung um, einen Prozess in Frankfurt zu orga- Tendenzen propagierten und forcierten. der Wehrmacht war angeblich gar kei- nisieren – gegen den Widerstand seiner Für dieses Verbrechen, die Verleugnung der Judenmorde, hat sich ein viel zu harmlos klingender Begriff eingebür- Staatsanwalt Bauer setzte auf die Wucht gert: Auschwitz-Lüge. Und statt die kollektive Erinnerung eines einzigen, großen Prozesses. einzufordern, wurde beständig disku- tiert über eine kollektive Schuld. So tat ne. Die Deportation der Juden, der Mas- eigenen Leute, die das Verfahren liebend sich denn auch in Westdeutschland eine senmord: kein Thema. gern abgegeben hätten, nach . „weltweit einmalige Generationskluft“ Ein Volk fieberte im Wirtschaftswun- Und gegen die Bestrebungen des Ge- auf, wie der Sozialwissenschaftler Ed- der, das „Tausendjährige Reich“ schien richtsvorsitzenden Hofmeyer, der ei- gar Piel bemerkt. tausend Jahre vorbei zu sein. Wenn es gentlich einen „Riesenprozess“ verhin- Wie verquer die Denklinien liefen, nicht Männer wie den hessischen Gene- dern und den angeklagten Sachverhalt in zeigt ein kleines Beispiel – Dachau. Das ralstaatsanwalt gegeben hätte – und eher Etappen verhandeln wollte. Ansonsten, KZ im Weichbild Münchens gilt als frü- zufällige Aktenfunde, die, schreibt die so argumentierte die Leitung des Land- heste Großeinrichtung des NS-Repres- Bauer-Biografin Irmtrud Wojak, zu ei- gerichts, sei die Kammer allein „durch sionsapparates. Eine 1950 begonnene nem „außerordentlichen Staatsverbre- den Umfang … überfordert“, erinnerte Dauerausstellung dauerte gerade mal chen“ führten, das auch deswegen bis- sich ein Untersuchungsrichter. drei Jahre, wenig später hätte auf An- lang keinerlei Beachtung gefunden hat- Auch jetzt setzte sich Bauer durch. regung bayerischer Landespolitiker das te, weil der Tatort Auschwitz weit weg Ihm war klar, dass kleinere Prozesse Areal der Menschenverachtung einge- lag: am Rande von Oberschlesien, und nacheinander nie die Wucht eines ein- ebnet werden sollen. Oberschlesien gehörte inzwischen zu zigen, großen Prozesses erzielen wür- Nur internationale Proteste verhin- Polen. den; Hofmeyer bewies denn auch (vor derten dies; 1965, die Bundesrepublik allem sich), dass eine solche Mammut- existierte schon 16 Jahre, wurde in Da- Zwar gab es bereits in Stuttgart eine verhandlung durchaus erfolgreich sein chau dann eine Gedenkstätte errichtet. Strafanzeige gegen den SS-Hauptsturm- konnte. Dennoch riet er nur wenig spä- Es war das Jahr der Urteile zu Ausch-

AKG führer Boger, auch hatte die gerade ein- ter öffentlich an, „derartige Prozesse“ witz – aber nur zufälligerweise.

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