33. Jahrgang | Nr. 125 02/2019 | A 59349 | € 4,75

Das humanistische Magazin www.diesseits.de

Selbstbestimmung Potenzial und Gefahren Ethik des im digitalen Zeitalter von Zukunftstechnologien autonomen Fahrens Beitrag über das Transhumanist Stefan Lorenz Das Dilemma permanente Online-Sein Sorgner im Interview einer Debatte

Mensch vs. Maschine? Unser Umgang mit neuen Technologien Inhalt Editorial Schwerpunktthemen

Liebe Humanist*innen,

ZUR DEBATTE der technische Fortschritt verläuft exponentiell: Er hat sich in den vergangenen Jahr­ Künstliche Intelligenz Selbstbestimmung Reflektionen und Perspektiven im digitalen Zeitalter zehnten beschleunigt – und nimmt immer schneller an Fahrt auf. Bei vielen Menschen 07 Von Harro Kiendl 24 Von Ralf Schöppner erzeugen diese Entwicklungen verständlicherweise auch Ängste. Denn wie sollen wir sicherstellen, dass die Technologien zum Nutzen der Menschheit eingesetzt werden? INTERVIEW Auf der anderen Seite sehen manche Posthumanist*innen zuversichtlich einer Transhumanismus: Singularität entgegen, in der die biologische Evolution des Menschen zu einem »Dass diese Entwicklungen technischen Abschluss kommt. Eine blinde Technikgläubigkeit wäre ebenso absurd wie nicht kommen, ist quasi Wie die katholische Kirche Frauen- eine reflexartige Ablehnung neuer Technologien. Die Technik ist nur das Werkzeug: ausgeschlossen« rechte in Kroatien einschränkt Wie eigentlich immer macht unser Verhalten als Menschen den großen Unterschied. 12 Stefan Lorenz Sorgner im Interview 28 Von Nada Peratovic

Wir sollten als Gesellschaft nicht davor zurückschrecken, ihren Einsatz zu INTERVIEW reglementieren oder auch gesellschaftlich zu fördern. Um hier die richtigen ZUR DEBATTE »Wir wollen zeigen, dass Entscheidungen treffen zu können, müssen wir uns aber zunächst informieren, Herz oder Hirn? Humanismus konkret über die Auswirkungen einzelner Technologien intensiv nach­denken und in einen Todesdiagnostik zur Organspende und greifbar ist« gesellschaftlichen Dialog treten. Wir sollten uns offen, aber kritisch mit Technologien Von Gita Neumann Sabrina Banze im Interview 17 32 wie Künstlicher Intelligenz oder Digitalisierung beschäftigen, Denk­richtungen wie den Transhumanismus hinterfragen und über ethische Fragestellungen nachdenken, wie sie

HUMANISMUS HISTORISCH beim Autonomen Fahren entstehen. Dazu möchte ich mit dieser Ausgabe einladen – PHILOSOPHISCHER EXKURS Die gescheiterte Trennung und gerne auch dazu, mit uns in den Austausch zu treten, z.B. mit einem Leserbrief an Ethik des autonomen Fahrens von Kirche und Schule in der [email protected]. Dilemma einer Debatte Weimarer Republik Von Maximilian John Von Michael Schmidt 20 40 Ich wünsche eine inspirierende Lektüre! Mit humanistischen Grüßen

Weitere Themen Florian Zimmermann Präsident des Bundesverbands HVD AKTUELL REZENSION Humanistischer Verband Deutschlands e. V. 04 Termine Digitaler Humanismus Der kategoriale Unterschied­ HVD AKTUELL von Mensch und Maschine – HuGH tritt HVD Bundesverband bei 36 Von Ralf Schöppner – Neue Satzung für den HVD 06 – Nächste diesseits im Doppelpack Uwe Christian Arnold Ein Nachruf HUMANISTS INTERNATIONAL Von Gita Neumann Internationale Humanist*innen 38 Impressum trafen sich im Land der Geysire Herausgeber (V.i.S.d.P.): Dr. Florian Zimmermann Erscheinungsweise: diesseits erscheint viermal jährlich. Von Marieke Prien im Auftrag des Humanistischen Verbandes Deutschlands e.V. , An dieser Ausgabe haben mitgewirkt: Tina Bär, Thomas Hummitzsch, 10 [email protected] Maximilian John, Harro Kiendl, Gita Neumann, Nada Peratovic, Marieke Redaktion & Anzeigen: Lydia Skrabania, [email protected] Prien, Sabine Schermele, Michael Schmidt, Ralf Schöppner, Florian Layout: Alexander Paul, www.alex-grafik.de Zimmer­mann. Beiträge von Gastautor*innen entsprechen nicht zwangs­läufig der Druck: Newprint blue GmbH, Berliner Str. 13–14, 10715 Berlin Meinung des Herausgebers. Die diesseits-Redaktion bemüht sich um Abonnent*innenservice: Jenny Gramatzki, [email protected] geschlechtergerechte und inklusive Sprache. Auch unsere Gast­ Redaktionsanschrift: diesseits – Das humanistische Magazin, c/o autor*innen sind angehalten, hierauf Rücksicht zu nehmen, die Redaktion Humanistischer Verband Deutschlands e.V., Wallstr. 61, 10179 Berlin, nimmt jedoch keine diesbezüglichen Änderungen an Originaltexten vor. Tel.: 030 613904-61, E-Mail: [email protected], Web: www.diesseits.de Spendenkonto: HVD Bundesverband, Bank für Sozialwirtschaft, Bildnachweise: Alle in diesseits verwendeten Bilder wurden im Einklang IBAN: DE41 1002 0500 0003 3271 01, BIC: BFSWDE33BER. mit den Bestimmungen der jeweiligen Rechteinhaber verwendet. Bankverbindung für die Aboverwaltung: HVD Bundesverband, Bank für Sämtliche Rechte liegen bei den Urhebern. Sozialwirtschaft, IBAN: DE68 1002 0500 0003 3271 00, BIC: BFSWDE33BER. Illustration Cover: Nicolas de Larmessin; Foto KI: Pixabay 155161 OpenClipart-Vectors; Illustration Kopf: Flickr Creative Commons/Kirby; Kopf: Flickr Creative Illustration Nicolas de Larmessin; Foto KI: Pixabay 155161 OpenClipart-Vectors; Cover: Illustration Foto Zimmermann: Evelin Frerk Foto Schulen: Wikimedia Commons/Bundesarchiv; Foto Banze: Hoffotografen; Nada Peratovic; 562059; Foto Kroatien: Diesseits/A. Paul/A. Paul; Foto Selbstbestimmung: Pxhere Fahren: Pixabay 1807541 Sasint; Illustration Foto Organspende:

2 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 3 Fachtagung der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg: Termine Erasmus Humanist, nicht Nationalist Christopher Street Day 2019: auch in diesem Jahr wieder mit von der Partie, 9. September 2019, 9–17 Uhr, Seminarräume Wir Humanist*innen sind dabei! wenn es am Samstag, 27. Juli ab 12 Uhr in Berlin Brückenstr. 5a, 10179 Berlin heißt: »Stonewall 50 – Jeder Aufstand beginnt mit HVD AKTUELL HVD AKTUELL 27. Juli 2019, ab 12 Uhr, Berlin (Ku‘damm bis deiner Stimme«. Unter diesem Motto steht die De­ Programmpunkte der Fachtagung sind u.a. Brandenburger Tor) monstration für Gleichberechtigung, Sichtbarkeit Vorträge zu folgenden Themen: Geschichtspolitik und Toleranz zugunsten der LGBTIQ*-Bewegung der AfD; Der Europäer Erasmus von Rotterdam. Ein Nachdem der Humanistische Verband Ber­ in diesem Jahr. Die Humanist*innen aus Berlin und Humanismus ohne Grenzen; Erasmus von Europa; lin-Brandenburg im vergangenen Jahr das erste Brandenburg werden an der diesjährigen De­ Das europäische Viergestirn des Humanismus: Mal mit einem Großfahrzeug am Umzug zum monstration mit einem eigenen Truck auf der Stra­ Erasmus, Morus, Vives, Collet; Erasmus von Rotter­ Christopher Street Day teilgenommen hat, ist er ße sein – unter dem Motto »Es ist scheißegal, wen dam und der christliche »Judenhass«; Der Politolo­ Du liebst!« – ein Zitat aus der aktuellen Kampagne. ge Erasmus.

Wir Humanist*innen bekennen uns im gesam­ Mit Gideon Botsch, Enno Rudolph, Hubert Can­ ten Bundesgebiet zu den Regenbogenfarben! Ne­ cik, Frieder Otto Wolf, Hildegard Cancik-Lindemai­ ben Berlin werden Mitglieder unserer Landesver­ er, Richard Faber. Eine Kooperation mit der Huma­ bände und die Jungen Humanist*innen u.a. in nistischen Akademie Deutschland. l Hamburg, Stuttgart, Köln und Frankfurt an den CSD-Paraden teilnehmen. Der HVD Rhein­ Infos und Anmeldung: anmeldung@humanistische- land-Pfalz/Saarland wird außerdem am 20. Juli in akademie-bb.de Trier und am 16./17. August in Koblenz mit einem Infostand vor Ort sein. l

Herbsttagung der Humanistischen rung der letzten Jahrzehnte wird zunehmend die Akademie Berlin-Brandenburg: sogenannte »Kirchenförmigkeit« des auf die Wei­ Deutscher Humanistentag 2019 der Austausch 100 Jahre Trennung von Staat marer Verfassung zurückgehenden deutschen Re­ in Hamburg: zwischen Huma­ und Kirche in Deutschland ligionsverfassungsrechts kritisiert. Und doch bie­ nist*innen aus tet sein Trennungsgrundsatz auch Potentiale, die Humanisten für Menschenrechte Visionen für das nächste Jahrhundert und Toleranz Deutschland und Bevorteilung der beiden großen Kirchen gegen­ der EU, aber über anderen Religions- und Weltanschauungsge­ 5.–8. September 2019, Trostbrücke 4–6, auch die Diskus­ 23. Oktober 2019, 16–21 Uhr, Friedrich-Ebert- meinschaften abzubauen. Neben einer Bestands­ 20457 Hamburg sion ideologi­ Stiftung, Hiroshimastr. 17, 10785 Berlin aufnahme der 100jährigen Trennung von Staat scher und philo­ und Kirche wird die Fachtagung einen Blick in die Programmpunkte des diesjährigen Humanis­ sophischer An­ Vor dem gesellschaftlichen Hintergrund von Zukunft werfen: Welche religionspolitischen Visio­ tentags sind Vorträge, Diskussionen und Work­ sichten ver­ Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisie­ nen werden den Herausforderungen der Gegen­

shops zu Themen wie »Menschenrechte in schiedener Reli­ Wikimedia Commons/National Gallery (Künstler: Hans Holbein d.J.) Foto Erasmus: Christoph Braun; wart gerecht und tragen zur Gleichbehandlung Deutschland und Europa«, »Religionsfreiheit in gionen, um das der verschiedenen Weltanschauungen und Religi­ Deutschland und der EU« oder »Beteiligung von friedliche Zu­ onen bei? Atheisten am Religionsunterricht für alle«. Abge­ sammenleben al- rundet wird das Programm z.B. durch eine alterna­ ler Weltanschau­ Eine Kooperation der Humanistischen Akade­ tive Hafenrundfahrt, Musik und einen Science- ungen in Deutschland und Europa zu fördern. Der mien Berlin-Brandenburg und Deutschland und Slam. Humanistentag wird von allen wichtigen säkularen der Friedrich-Ebert-Stiftung, gefördert von der Organisationen getragen und in Zusammenarbeit Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Eingeladen sind Wissenschaftler*innen, Politi­ mit ihnen durchgeführt. l Europa. l ker*innen, Vertreter*innen von Religionsgemein­ schaften sowie Mitglieder humanistischer Organi­ Mehr Infos und Anmeldung unter www.deutscher- Infos und Anmeldung: anmeldung@humanistische- akademie-bb.de sationen. Ziel des Deutschen Humanistentags ist humanistentag.de Wikimedia Commons/ Foto CSD: Konstantin Börner; Kirche:

4 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 5 Humanistische Gemein­ schaft Hessen tritt HVD Künstliche Intelligenz Bundesverband bei Reflektionen und Bei der Landesversammlung der Humanisti­ verbandes, hieß die HuGH herzlich im Verband schen Gemeinschaft Hessen (HuGH) am 30. März willkommen. Am 29. Juni 2019 hat die Landesmit­ HVD AKTUELL 2019 wurde die über Jahre gewachsene enge Ver­ gliederversammlung des HVD Hessen das Gesetz l Perspektiven bindung zwischen dem HVD Hessen und der HuGH zur Eingliederung in die HuGH angenommen. besiegelt: Zum einen wurde der HVD Hessen in die Von Harro Kiendl HuGH aufgenommen, zum anderen wurde der Beitritt der HuGH zum HVD Bundesverband be­ schlossen. Unterstrichen wird diese Entscheidung Was unterscheidet Mensch und Maschine? Kann die Maschine dem Menschen durch ein neues Logo, das in seiner Symbolik ebenbürtig werden – oder ihn gar überflügeln? sowohl die Zugehörigkeit zum HVD als auch die Bindung an die Historie der HuGH unterstreicht. Florian Zimmermann, Präsident des HVD Bundes­ an könne keine Maschine bauen, die sagen, dass der Test nunmehr bestanden worden rechnet, so hieß es um 1500. Denn sei, die anderen verneinen dies. Besonders vehe­ Rechnen sei eine geistige Tätigkeit, dies ment vertritt der Philosoph Markus Gabriel die Mkönne eine Maschine nicht: Und wenn doch, dann Auffassung, dass sich menschliche Intelligenz nie­ stecke der Teufel darin! Auch Gottfried Wilhelm mals durch Maschinen ersetzen lässt. 1 Neue Satzung für den In eigener Sache: Nächste Leibnitz meinte um 1700, eine Maschine, »aus de­ ren Struktur gewisse Gedanken, Empfindungen Dieser Streit ruft ein Zitat von Max Planck in Er­ Humanistischen Verband Ausgabe der diesseits und Perzeptionen erwüchsen«, sei unmöglich. innerung: »Eine neue wissenschaftliche Wahrheit Denn im Inneren einer Maschine würde man pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, Deutschlands kommt im Doppelpack »nichts als gewisse Stücke sehen, de­ dass ihre Gegner überzeugt werden ren eines an das andere stoßet, und sich als belehrt erklären, son­ Bei der außerordentlichen Bundesdelegierten­ Die nächste Ausgabe der diesseits wird planmä­ niemals aber wird man etwas dern vielmehr dadurch, dass ih­ versammlung (BDV) des Humanistischen Verban­ ßig erst im November erscheinen, kommt dafür antreffen, woraus man eine re Gegner allmählich ausster­ des Deutschlands am 13. April 2019 in Berlin wur­ aber als Doppelausgabe! Wir haben uns dafür ent­ Perzeption oder Empfin­ ben und dass die heran­ de mit großer Mehrheit eine neue Satzung ange­ schieden, diesen Schritt zu gehen, da einige wich­ dung erklären könnte«. wachsende Generation von nommen. Die neue Satzung, die noch vom Amts­ tige Termine, wie z.B. der Humanistentag im Sep­ Aber nach dem Aufkom­ vornherein mit der Wahr­ gericht bestätigt werden muss, sieht u.a. einen tember, sich mit unserem üblichen Veröffentli­ men der ersten Computer heit vertraut gemacht ist.« kleineren Vorstand mit klaren Zuständigkeiten so­ chungsturnus für Heft 126 überschneiden würden, hielt der Mathematiker wie einen Delegiertenrat vor. Die sich durch die wir diese aber unbedingt redaktionell aufgreifen Alan Turing maschinelle Der obige Streit ist auch Änderung der Satzung ergebende neue Struktur möchten. Leser*innen der diesseits müssen sich al­ Intelligenz immerhin für ideologiegeprägt: So wer­ ist notwendig, da sich die Landesverbände in den so ein wenig gedulden, bekommen dafür aber be­ möglich und erdachte den mit dem Wort »künst­ letzten Jahrzenten verändert haben, mit teils sehr sonders viel Lesestoff, wenn die Tage wieder kür­ 1950 seinen berühmten lich« auch gern die Synony­ unterschiedlichen Mitgliederentwicklungen. Die zer werden. l Test: Ein menschlicher Frage­ me »gekünstelt«, »unnatür­ neue Struktur soll sich diesen Gegebenheiten an­ steller führt über eine Tastatur lich«, »unecht« und »gewollt« passen und ihnen gerecht werden. Florian Zim­ und einen Bildschirm ohne Sicht- assoziiert. (Wenn ein Biber einen mermann, Präsident des Humanistischen Verban­ und Hörkontakt mit zwei ihm unbe­ Baum fällt, um einen Teich aufzustau­ des Deutschlands, hob bei der BDV hervor, dass kannten Gesprächspartnern eine Unterhal­ en, betrachten wir das als einen »natürlichen« die neue Struktur den Bundesverband außerdem tung. Der eine Gesprächspartner ist ein Mensch, Prozess. Weshalb sollte dann die Entwicklung eines handlungsfähiger und somit in der Öffentlichkeit der andere eine Maschine. Wenn der Fragesteller KI-Programms »künstlich« sein?) Sodann ist der sichtbarer machen wird. l nicht klar sagen kann, welcher von beiden die Ma­ Begriff »Intelligenz« sehr unscharf und lässt daher schine ist, ist der Maschine ein dem Menschen Deutungsspielräume offen. Diese werden gern ge­ ebenbürtiges Denkvermögen zu unterstellen. In­ nutzt, um an der Sonderstellung der menschlichen zwischen sind zahlreiche solcher Tests durchge­ Intelligenz festzuhalten. Menschliche Intelligenz führt worden. Ihre Ergebnisse werden jedoch von wird als das definiert, was Maschinen (noch) nicht

Foto KI: Pixabay 155161 OpenClipart-Vectors der Fachwelt unterschiedlich bewertet. Die einen können.

6 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 7 Unberührt von diesem Streit entwickelt sich die Wie die obige Liste zeigt, sind viele vermeintlich Die KI als lernendes Kind Erste Realisierungen zeichnen sich ab: Man Technik weiter, so auch die Disziplin der Computa­ nur dem Menschen vorbehaltene Bastionen inzwi­ wird Automobile mit KI-Systemen ausstatten, die tional Intelligence mit ihren drei Säulen Evolutio­ schen gefallen. Wohin kann dies führen? Verortet Der Fortschritt dürfte dadurch einen neuen sich untereinander absprechen und ohne Eingriff näre Algorithmen, Künstliche Neuronale Netze man diese Bastionen auf einer meerumspülten In­ Schub gewinnen, dass man der Entwicklung der der Fahrer konzertiert agieren können, z.B. zur und Fuzzy Control 2. Die dritte Säule basiert auf der sel, dann sieht man, dass das Meer Stück für Stück maschinellen Intelligenz dieselben Chancen wie Ausführung eines für alle gefahrlosen gemeinsa­ Erfindung der unscharfen Logik (Fuzzy-Logik) davon abträgt. Es wäre allerdings voreilig, daraus der Entwicklung der menschlichen Intelligenz ein­ men Bremsmanövers. Die Kehrseite dieser Autar­ durch Lotfi A. Zahdeh (1965). Sie erlaubt eine com­ zu schließen, dass diese Insel alsbald ganz ver­ räumt: Kinder entwickeln sich zu intelligenten und kie der KI-Systeme ist dann aber, dass die KI-Syste­ putergerechte Modellierung sprachlicher Ausdrü­ schwinden wird. Denn das Meer spült an der Rück­ unabhängigen Erwachsenen durch Interaktionen me zum Schaden der Fahrer auf Abwege geraten – cke, in denen unscharfe Begriffe wie »etwas«, seite der Insel auch wieder neuen Sand an: Auf­ mit anderen Menschen und mit ihrer Umwelt, in sogar miteinander konspirieren – könnten. Wie »ziemlich« oder »kaum« vorkommen. Insgesamt grund der sich ändernden Lebensbedingungen der auch zufällige Ereignisse stattfinden. Dabei weit diese schon gediehen sind, lässt sich daran ist es mit der Computational Intelligence gelun­ und der menschlichen Weiterentwicklung stellen stellen die Konfrontationen mit Zufällen die Kinder ablesen, dass die Robert Bosch GmbH gerade ein gen, die drei vorwissenschaftlichen Problemlö­ sich immer wieder ganz neue Aufgaben – etwa in vor Situationen, die von ihren Eltern nicht voraus­ Patent für ein Kontrollmodul angemeldet hat, das sungsstrategien – Versuch und Irrtum, Nutzung den Bereichen der Digital- und Gentechnik – von de­ bedacht werden konnten. Durch die Bewältigung KI-Systeme am Missbrauch ihrer Autonomie hin­ unbewusster Erfahrungen und Nutzung sprachlich nen wir noch nicht wissen, ob sie auch maschinell dieser Situationen werden die Kinder autark. Ent­ dern kann. 3 kommunizierter Erfahrungen – zu computerisie­ lösbar sind. Die Insel wandert also, wird aber sicher­ sprechend sind weitere Fortschritte bei der Ent­ ren. Beispiele für höchst erfolgreiche Anwendun­ lich nicht schon morgen gänzlich verschwinden. wicklung der maschinellen Intelligenz zu erwarten, Ein letzter Blick auf jene Insel: Dort steht die gen sind Optimierung, Prognose, Regelung, Da­ indem man Computer miteinander vernetzt und Bastion der Mathematik, die bisher erstaunlich tenanalyse, Mustererkennung, Spracherkennung, mit einer Umwelt konfrontiert, in der auch zufällige standhaft geblieben ist. Jeder mathematische Be­ Schach- und Go-Spiel sowie die Suche nach verbor­ Ereignisse stattfinden. So kann im KI-System Autar­ weis hat nämlich eine endliche Länge, er kann genen Zusammenhängen. All dies hat unseren All­ kie entstehen, die sich nicht mehr als »stures Abar­ aber dennoch eine »Allaussage«, d.h. eine für un­ tag dramatisch verändert. beiten von Rechenvorschriften« inkriminieren lässt. endlich viele voneinander verschiedene Fälle zu­ treffende Aussage, machen. Schon der Lehrsatz des Pythagoras gilt für alle nur denkbaren recht­ 1966 entwickelte der Informatiker Joseph Weizenbaum das Computerprogramm ELIZA, das über Skripte verschiedene Gesprächspartner wie u.a. einen Psycho­therapeuten simulieren kann. ELIZA kann als frühe Umsetzung des Turing-Tests gesehen werden, hätte diesen jedoch nicht winkligen Dreiecke. Solche Allaussagen können bestanden: Ihre Gesprächspartner können recht einfach herausfinden, dass sie mit einer Maschine kommunizieren. Computer, abgesehen von einfachen Sonderfällen, bisher nicht liefern. Sie können jeweils nur immer einen einzelnen Fall – einen nach dem anderen – behandeln. Haben wir überhaupt noch nicht ver­ standen, was sich im Hirn abspielt, wenn es einen mathematischen Beweis führt? l

Prof. Dr. Harro Kiendl war bis zu seiner Emeritierung 2001 Inhaber des Lehrstuhls für Elektrische Steuerung und Regelung an der Universität Dortmund. Seine Arbeiten im Bereich von Fuzzy Control, einem Zweig der Compu­ tational Intelligence, haben zahlreiche Methoden zur Computerisierung intelligenten menschlichen Handels hervorgebracht. Darüber hinaus hat er sich immer auch für nicht­ technische Anwendungen interessiert, siehe z.B. www. hyperfuzzy.de.

1 Gabriel, M. (2018), Der Sinn des Denkens. Ullstein Verlag. 2 Kiendl, H. (2012), Computational Intelligence: Muster ihrer Entstehung. In: Automatisierungstechnik at, 60, S. 589–598. 3 Kontrollmodul für Künstliche Intelligenz, Deutsche

Hier steht später die Bildquelle Patentanmeldung DE 10 2017 212 839 A1. Foto KI: Photodisc Object Series 26 OS26108 (Montage: Diesseits/A. Paul); Kiendl: Annette Hauptmann

9 Internationale Humanist*innen trafen sich im Land der Geysire

Von Marieke Prien

In der isländischen Hauptstadt Reykjavik versammelten sich Humanist*innen aus aller Welt: Am Wochenende vom 31. Mai bis 2. Juni fanden mehrere inter­ nationale humanistische Veranstaltungen und Events statt. Das Wochenende

begann mit den Mitgliederversammlungen der European Humanist Federation HUMANISTS INTERNATIONAL (EHF) und der Young Humanists International.

ie EHF stellte zwei Resoluti­ ökonomische Ungleichheit und onen vor, die »Reykjavik Demokratie. In jedem Teil gab Declaration on the es Vorträge von drei Red­ DFamily and « ner*innen sowie eine Podi­ und die »Reykjavik Decla­ umsdiskussion. ration on the Climate Ch­ ange Crisis«, die zusam­ Der Sonntag begann men mit Humanists In­ mit der Mitgliederver­ ternational erarbeitet sammlung von Huma­ wurde. Außerdem wurde nists International. Hier Freddy Mortier von der wurden nicht nur die Re­ belgischen Organisation solutionen zum Klima­ deMens.nu in den Vorstand wandel sowie die EHF-Re­ gewählt. solution zu Familien ange­ nommen, sondern auch ein re­ Bei der Mitgliederversamm­ formiertes Mitgliedssystem. Bei lung der Young Humanists Internatio­ den Wahlen wurden nal wurden ein neuer Vizepräsident und ein (Humanists UK) und Uttam Niraula (SOCH Generalsekretär gewählt. Vizepräsident ist nun Jad Nepal) in ihren Positionen als Präsident bzw. Bei­ Zeitouni von der belgischen Organisation deMens. sitzer bestätigt, Roslyn Mould (Humanist Associati­ nu, Generalsekretär ist der vorherige Vizepräsident on of Ghana) wurde neu als Beisitzerin in den Vor­ Scott Jacobsen aus Kanada. Resolutionen wurden stand aufgenommen. aufgrund der vielen strukturellen Umstellungen der letzten Jahre nicht verabschiedet. Der Sonntagnachmittag wurde mit verschiede­ nen Workshops gestaltet. Teilnehmende konnten Am Samstag trafen sich die Teilnehmenden bei zwischen Sessions zu humanistischen Zeremonien der Konferenz »What are the Ethical Questions of und Beratung sowie Kampagnen und Kommuni­ the 21st Century?«, die von dem isländischen hu­ kation entscheiden. l manistischen Verband Sidmennt organisiert wur­ de. Eröffnet wurde die Konferenz vom isländi­ Marieke Prien studiert Kognitionswissenschaften in Osnabrück. Als Präsidentin der Young Humanists Inter­ schen Präsidenten Guðni Th. Jóhannesson und be­ national war sie vor Ort, wo sie auch den Bundesverband

Foto Gruppe: Iver Daaland Åse; Eis: Marieke Prien fasste sich mit den Themen Umwelt, Geflüchtete, JuHu vertrat.

10 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 11 Sollten wir in die menschliche Dieses aktive Eingreifen wird von vielen aber höchst kritisch gesehen. Selbstgestaltung eingreifen? Transhumanismus: Diese technischen Enhancement-Möglichkei- Unsere Gene verändern oder Chips ten, wie wir sie gegenwärtig entwickeln, stehen in in unsere Gehirne einpflanzen, um der Tradition von dem, was wir als Menschen im- musikalischer und intelligenter zu mer schon gemacht haben: Wir als Menschen sind

INTERVIEW »Dass diese Entwicklungen INTERVIEW Wesen, die sich ständig im Prozess der Selbstüber- werden oder unsere Gesundheits­ windung befinden. Damit hat sich die Frage nach spanne zu erweitern? Die Denk­ dem Wesen des Menschen aufgelöst. Menschen nicht kommen, ist quasi richtung des Transhumanismus sieht sind ständig sich im Werden befindliche Lebewe- es als legitim, gar als verpflichtend an, sen. Das ist sprachlich schwer zu fassen, denn mit der Wesensbestimmung geht immer die Vorstel- die Grenzen menschlicher Möglich­ ausgeschlossen« lung einer unveränderlichen Natur einher, die aber keiten zu erweitern. Stefan Lorenz gerade auf der Basis von diesem Denken nicht Stefan Lorenz Sorgner im Interview mit Lydia Skrabania Sorgner, einer der führenden mehr konsistent zu denken ist. Philosophen des Post- und Trans­ humanismus, sieht großes Potenzial in Dennoch: Es gibt ja einen ganz starken Unter- schied zwischen der natürlichen, für sämtliche Le- Cyborg-Techniken, Gentechniken und bewesen stattfindenden Evolution – und beispiels- der Digitalisierung des Menschen. weise einer aktiven, selbst gesteuerten und be- Im Interview plädiert er dafür, diese wussten Veränderung des menschlichen Erbguts. »Verbesserungs­techniken« zu nutzen – Wenn wir nicht steuern, nicht eingreifen wür- den, dann wäre das nicht in unserem Interesse. Das trotz der Gefahren und ethischen sehen wir am deutlichsten bei unseren Nachkom- Risiken, die diese zugleich bergen. men. Wenn wir kleine Kinder im Wald aussetzen würden, dann hätten sie keine Chance zu überle- ben. Wir hätten keinen Grund, Kindern Mathematik, Sprachen und Kunst beizubringen, wenn wir nicht davon ausgingen, dass dies Eigenschaften sind, die ihnen bei einem florierenden Leben behilflich sind. Und mithilfe der neuesten Techniken erweitern wir einfach nur das Spektrum der Eingriffsmöglichkei- err Sorgner, worum geht es in der Denk­ ten, um dem Nachwuchs – oder auch uns selbst – richtung des Transhumanismus? bei der Erfüllung eines florierenden Lebens behilf- Der Transhumanismus rückt von dem lich zu sein. Natürlich gehen mit jeder neuen Maß- Hjahrtausendalten Grundverständnis des Men- nahme auch neue Gefahren einher – die schließe schen ab, das zwischen der immateriellen Seele ich gar nicht aus. Aber zu realisieren, dass hier alle und dem materiellen Leib unterscheidet. Diese unsere Fähigkeiten ganz entscheidend an die Steu- Unterscheidung stellt auf der Grundlage des ge- erung gekoppelt sind, ist eine zentrale Einsicht. Wir genwärtigen Denkens ein unplausibles Menschen- sind daher stets Cyborgs gewesen, d.h. kyberneti- bild dar. Im Transhumanismus werden Leib und sche Organismen. Der Κυβερνήτης ist der Steuer- Seele in einer Einheit zusammengedacht. Und da- mann. Die Sprache ist unser erstes Upgrade, mit mit geschieht ein Paradigmenwechsel noch unge- dem uns unsere Eltern und unsere Umwelt zu ge- ahnten Ausmaßes, d.h. wir brechen hier komplett steuerten Organismen werden lassen. mit der westlichen Geistesgeschichte – deswegen wird so energisch, so heftig auf den Transhuma- Und was für neue Steuerungsmöglichkeiten wä-­ nismus reagiert. Der Mensch ist – und zwar in allen ren das? Aspekten – evolutionär entstanden und er wird Es gibt unterschiedliche Techniken, die beson- sich weiterentwickeln, falls er nicht aussterben ders vielversprechend sind. Sie lassen sich grund- sollte. Und wir haben jetzt die Möglichkeit, aktiv sätzlich in drei Bereiche unterteilen: Cyborg-Tech- und immer stärker in die menschliche Selbstge- niken, Gentechniken und die Digitalisierung des

Foto Skulptur: Flickr Creative Commons/Kirby Foto Skulptur: Flickr Creative staltung einzugreifen. Menschen.

12 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 13 »Wir haben jetzt die dies zu vermeiden, werde ich also vermutlich Das, was China macht, ist schlau und es wird doch implizit zu einem Verhalten gezwungen, den größten ökonomischen Erfolg haben: Psy­ Stefan Lorenz Sorgner Möglichkeit, aktiv und immer das von dem, was ich eigentlich möchte, ab­ chologische, physiologische und raum-zeitliche stärker in die menschliche weicht … Informationen einzelner Menschen werden in Stefan Lorenz Sorgner gilt als einer der füh- Genau deswegen müssen wir darüber spre­ die digitale Welt übersetzt und in einem Inter­ renden Philosophen des Post- und Transhu- Selbstgestaltung einzugreifen.« chen, das ist die entscheidende Frage! Denn dass net-Panoptikum, das mit einem Sozialkreditsys­ manismus. Er ist Philosophieprofessor an der diese Entwicklungen nicht kommen, ist quasi aus­ tem verbunden ist, vollständig überwacht. Mithil­ John Cabot University in Rom, Direktor und geschlossen. Also wie sollen wir damit umgehen? fe dieser beständigen Überwachung werden vie­ Mitbegründer des Beyond Net- Wir müssen auch über die gesellschaftlichen Kon­ le wichtige Informationen über die Menschen ge­ work sowie Autor mehrerer Bücher, u.a. Cyborg-Techniken – das meint Mensch-Ma- sequenzen sprechen – wie können wir persönliche neriert, hinsichtlich Kriminalitätsvorbeugung, »Transhumanismus« (Herder 2016) und schine-Schnittstellen, richtig? Die gibt es ja be­ Interessen und Interessen von Versicherungen Förderung der Lebensqualität und der Gesund­ »Übermensch« (Schwabe 2019). reits. und Arbeitgebern am besten ausbalancieren? Des­ heitsspanne, Eigenschaften von menschlichen Ja, was zumindest schon funktioniert, sind halb ist ein verstärkter gesellschaftlicher Diskurs Genen und bestimmten Krankheiten. In Europa Chips. Die Tufts University hat z.B. vor anderthalb darüber sehr notwendig. haben wir die Vorratsdatenspeicherung stark li­ Jahren einen RFID-Chip realisiert, der im Zahn im­ mitiert. Wir sammeln viele dieser Informationen plantiert wird, den Gehalt der Nahrung analysiert, Und wir müssen doch auch über neue Regeln nicht. Aber diese Informationen bedeuten nicht die ich zu mir nehme, und die Daten per Bluetooth sprechen. Vieles, was künftig technisch möglich nur Macht, sondern auch finanziellen Reichtum. an mein Smartphone übermittelt. Das sagt mir sein wird, können wir uns noch gar nicht ausma­ Europa verliert eine ganz entscheidende Grund­ dann: Die Pizza von gestern Abend war ein biss­ len – und die technische Entwicklung schreitet lage für das ökonomische Florieren. Aber auch chen zu fett, heute solltest du eher einen Salat es­ sehr schnell voran. für politische Entscheidungen, wissenschaftliche sen. Das heißt, solche Chips wandern in die Vor dem Hintergrund der jeweiligen Möglich­ Forschung und unternehmerische Innovationen menschlichen Körper und analysieren physiologi­ keiten muss man fragen: Was wollen wir hier recht­ sind diese Informationen notwendig. Ist es in un­ sche Vorgänge. Es wird aber auch daran gearbei­ lich erlauben? Und es bedarf immer wieder eines serem Interesse, auf diese Informationen zu ver­ tet, Gedanken in Texte umzuwandeln. Solche neuen gesellschaftlichen Diskurses, der Rahmen zichten? Wenn wir nicht umschwenken und uns Hirn-Computerschnittstellen sind ein großer Be­ muss immer ein flexibler sein. Die Möglichkeit, ei­ den Möglichkeiten der Überwachung, und damit reich, an dem verschiedene Forschungsinstitutio­ ne angemessene ethische Regelung, eine Rah­ einhergehend den Korrelationen von Informatio­ nen arbeiten. Damit wird uns ermöglicht, eine menbedingung zu finden, ist immer an ganz be­ nen und digitalen Daten zuwenden, dann ist der Technik, die bereits bei Maschinen besonders er­ stimmte kulturhistorische Situationen und auch an ökonomische Abstieg Europas nicht aufzuhalten. folgreich angewendet wird, auch auf den Men­ die technischen Möglichkeiten gekoppelt. Das Hiermit würden noch weitere Herausforderun­ schen zu übertragen, nämlich die Predictive Main- heißt, diese Grenzen können nicht abstrakt im luft­ gen bis hin zu erneuten Bürgerkriegen einherge­ tenance, vorausschauende Instandhaltung. Damit leeren Raum gestaltet werden, sondern müssen hen. wir negativen Entwicklungen entgegensteuern jeweils den konkreten kulturellen Bezug eines Lan­ können, müssen sich Blutdruck oder Blutzucker­ des, einer Situation mitberücksichtigen. Totale Überwachung für finanziellen Wohl­ spiegel noch nicht einmal verändern, sondern es stand – zulasten der persönlichen Freiheit? Die wird vorab analysiert und gesundheitsgefährden­ Mit der aktuell herrschenden starken Regle­ Gefahren die darin stecken, sind doch enorm! de Zusammenhänge werden aufgedeckt. Noch be­ mentierung in Europa geht uns aber ein ganz ent­ Natürlich gehen damit auch Gefahren und He­ vor im Körper eine Dysfunktionalität auftritt, be­ scheidender Wohlstandsfaktor verloren: in Hin­ rausforderungen einher, aber ich sage: Diese kommst du einen Hinweis, dass es gefährlich sein sicht auf die Digitalisierung durch die Reglemen­ Überwachung ist ganz entscheidend in unserem könnte, wenn du eine bestimmte Gewohnheit wei­ tierung der Vorratsdatenspeicherung und in Hin­ Interesse, auch im individuellen Interesse, weil terlebst. Du kannst dich daran halten oder nicht, sicht auf die Gentechniken durch die starke Regle­ wir auf diese Weise auch erfahren, welche Eigen­ aber das sind wichtige Informationen für die Er­ mentierung bzw. weitgehenden Verbote. Diese schaften, Lebensweisen und Medikamente hilf­ weiterung der Gesundheitsspanne, was ja im Inte­ beiden vielversprechenden Technikbereiche ge­ reich sind, um unsere Gesundheitsspanne zu er­ resse der meisten Menschen ist. Insofern ist es hen uns verloren, werden aber in anderen Län­ weitern. Und eine komplette Überwachung muss eben auch im Interesse von Vielen, auf genau die­ dern wie den USA und vor allem in China bereits nicht mit den Werten einhergehen, wie sie in Chi­ se Techniken zurückzugreifen. genutzt. na praktiziert werden. Sondern wir können hier in Europa die Vorteile der Digitalisierung nutzen, Das klingt zwar gut, aber ich sehe darin zugleich Ja, China nutzt die Digitalisierung und Big Data aber gleichzeitig die Errungenschaften der Auf­ die Gefahr der Einschränkung persönlicher Frei­ zur systematischen Komplettüberwachung sei­ klärung aufrechterhalten, indem wir unsere Wer­ heit. Denn diese Daten sind ja sehr wahrschein­ ner Bürger*innen – das sogenannte Sozialkre­ te und damit gerade auch die Pluralität hochhal­ lich nicht nur mir zugänglich, sondern zum Bei­ ditsystem, mit dem die Bürger*innen zu mehr ten: Die Fokussierung auf negative Freiheit, also spiel auch meiner Krankenkasse, die mich für »Aufrichtigkeit« im sozialen Verhalten erzogen die Abwesenheit von Zwang, ist hier entschei­

»ungesundes Verhalten« evtl. sanktioniert. Um werden sollen … Privat Foto Sorgner: dend.

14 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 15 »Eine komplette Über­ hat, der unabsehbare, gravierende Folgen für die Betroffenen haben könnte. Und die Forscherge­ wachung muss nicht mit den meinde sagt zum Großteil, dass dies angesichts Herz oder Hirn? Werten einhergehen, wie sie der mittlerweile bereits sehr guten Behandelbar­ keit von HIV nicht verantwortungsvoll ist. Anderer­ in China praktiziert werden.« seits gab es einen Arzt im 19. Jahrhundert, Edward Todesdiagnostik Jenner, der eine Idee hatte, wie man gegen Pocken

vorgehen könnte. Er hat die Technik und die theo­ ZUR DEBATTE retischen Grundlagen einer Impfung entwickelt – zur Organspende Ich habe große Zweifel, dass die persönliche Frei­ und diese dann an einem Bauernjungen durchge­ heit des Einzelnen nicht automatisch durch so führt, um sie im Anschluss zu überprüfen, indem Von Gita Neumann ein System beschnitten wird, insbesondere wenn er ihn bewusst mit Pocken infizierte. Ob die Imp­ es um wirtschaftliche Interessen geht. Wieder fung funktioniert, war damals unklar. Das Risiko das Beispiel Gesundheit: Selbst, wenn mir als war enorm groß, der Vorgang moralisch nicht Dass die Organe unbedingt mit s geht hier nicht darum, ob der sicher diag­ Einzelperson zwar letztlich überlassen bleibt, wirklich zu rechtfertigen. Aber: Die Impfung war bestattet werden müssten, gilt vielen nostizierte Hirntod als der Tod des Men­ wie ich mich ernähre, ob ich rauche oder eine Ri­ erfolgreich. Aufgrund dieses sehr risikoreichen schen anzusehen ist. Dies kann aus huma­ Humanist*­innen als irrational und sikosportart betreibe, dann würde ich in einem Eingriffs konnte es realisiert werden, dass Pocken Enistischer Weltanschauung mit guten Gründen be­ solchen System doch für »schädliches Verhalten« heute weltweit quasi ausgerottet sind. Es handelte archaisch. Die Gegenseite beharrt jaht werden. Beleuchtet werden soll vielmehr, was bestraft werden, müsste also höhere Zahlungen sich also um einen im Einzelfall schwer rechtfertig­ darauf, dass für eine Spende die vorher auf der Intensivstation noch mit sterbenden an meine Krankenkasse leisten – oder mich von baren Eingriff. Wenn wir aber die allgemeinen Kon­ informierte Zustimmung erforderlich Komapatienten zum Zweck der Organentnahme selbst »Sozialkredit-konform« verhalten. Das hat sequenzen ansehen, wurde damit Millionen von geschieht. ist. Beide Positionen setzen die mit Pluralität und Abwesenheit von Zwang nicht Menschen das Leben gerettet. Hirntoddiagnostik voraus – worüber mehr viel zu tun. Primärer Hirntod bei Sicher wird es, gerade im Versicherungswesen, Dann wird so ein Eingriff mit all seinem Risiko kaum jemand Bescheid weiß. Dabei schlagendem Herzen zu radikalen Veränderungen kommen. Wahr­ rechtfertigbar? gehen die allermeisten Menschen scheinlich können wir die Konsequenzen in ihrer Wenn sich zeigen würde, dass der erwähnte davon aus, dass sie dann tot sind, Organe retten Leben – so lautet das Credo der Radikalität noch nicht einmal so genau abschät­ Eingriff in China eine analoge Bedeutung fürer­ Nächstenliebe. Seit veröffentlichte Organspende­ zen. Ich glaube aber, dass die Pluralität trotzdem folgreiche genetische Impfungen gegen HIV ha­ nachdem ihr Herz aufgehört hat zu zahlen in Deutschland einen Tiefstand auswiesen, gewährleistet werden kann, weil eben Herausfor­ ben sollte, dann würden wir diesen Fall, der derzeit schlagen. ist deren Erhöhung allgemein das erklärte Ziel. derungen bei jeder einzelnen Lebensführung ein­ von der wissenschaftlichen Community abgelehnt hergehen. Das wiederum funktioniert nur bei ei­ oder verächtlich angesehen wird, ganz anders be­ nem finanziellen Florieren. Wenn es uns finanziell werten. Das bleibt abzuwarten. Das Entscheidende gut geht, können wir es uns leisten, auch für die ist, dass genetische Veränderungen nicht mora­ zusätzlichen Kosten einer individualisierten, idio­ lisch verwerflich sein müssen, sie können mora­ synkratrischen Lebensführung aufzukommen. lisch sogar legitim sein. In der Tat können zahlrei­ che Verbesserungsmaßnahmen ganz stark in un­ Noch einmal zu China: Als im vergangenen serem Interesse sein. Das ist die Mauer, die ich ver­ Herbst bekannt wurde, dass ein chinesischer suche abzutragen. Möglicherweise können be­ Wissenschaftler genetisch veränderte Babys ge­ stimmte genetische Modifikationen sogar mora­ schaffen und HIV-immun gemacht haben will, lisch geboten sein. Genauso wie es eine morali­ löste das weltweit Empörung aus. Das zeigt sehr sche Pflicht ist, Kinder gegen Masern impfen zu eindringlich, dass die Technologie oft bereits viel lassen, könnte auch die genetische Impfung ge­ weiter ist als der gesellschaftliche Diskurs dazu. gen HIV einen ähnlichen Status erlangen, wenn Wie ist Ihre Haltung dazu? dieser Vorgang auf verlässliche Weise realisiert Die Empörung, die dieser Fall hervorgerufen werden kann. hat, liegt darin begründet, dass dieser chinesische Forscher einen sehr riskanten Eingriff entwickelt Danke für das Gespräch! l Foto Organspende: Pixabay 1807541 Sasint Foto Organspende:

16 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 17 »Bei Spendenbereitschaft geht formationen zur Organspende erfolgen, wenn sie Dabei gibt es eine andere Möglichkeit, die den den Organspendeausweisen zur Ankreuzung ge­ etwa einen Personalausweis beantragen oder Pool möglicher Organspender*innen sogar stark nannte Voraussetzung »im Fall meines Todes«. es nicht mehr um das Wohl den Hausarzt aufsuchen. Ihre Entscheidung soll erweitern würde. In der Schweiz wird auch der »nor- Fast alle Schulungsteilnehmer*innen verstehen des irreversibel komatösen dann – wie auch im Spahn-Entwurf der Wider- male« Herzstillstand nach zehn Minuten, was ein- darunter, ihr Herz habe aufgehört zu schlagen und spruch – in einem vorgesehenen Online-Register fach festzustellen ist, als Voraussetzung für eine Or- erst dann würde ihr Leichnam aufgeschnitten. Der Patienten, sondern um die festgehalten werden. Die beiden Modelle ähneln ganentnahme akzeptiert. Es hat sich gezeigt, dass Chirurg und Publizist Dr. Bernd Hontschick spricht optimale Konditionierung sich also ziemlich. dann – mit Ausnahme des Herzens – die Organe von bewusster »Irreführung« durch die Organ­

noch durchaus transplantationsfähig erhalten sind. spende-Lobby und davon, der Hirntod sei für Spen­ ZUR DEBATTE seiner zu entnehmenden Informierte Zustimmung der*innen eine »eher riskante Erfindung, die be­ Organe.« ohne Aufklärung? Humane Alternative zu ängstigen kann.« irreführendem Konstrukt Auch beim Vorschlag von Baerbock, Kipping Der Mangel an Spenderorganen lässt sich kaum u.a. kann von einer informierten Zustimmung keine Vor einer Organentnahme werden in der beheben, wenn nur die sehr seltenen Sterbefälle Rede sein, dazu bedürfte es einer schonungslosen Schweiz laut Patientenverfügung oder ärztlich dia- von primärem Hirntod bei schlagendem Herzen – Statt wie hierzulande gesetzlich auf einer Zustim- medizinischen Aufklärung. Tabuisiert wird hierzu- gnostiziertem Sterbeprozess Intensivmaßnahmen etwa ein Prozent aller Sterbefälle, in der Regel mung zu bestehen, scheint als Voraussetzung da- lande jedoch die Überschneidung von Organent- abgestellt. Verabreicht werden dann nur noch durch schwerste Kopfverletzung – in Betracht zu ein nicht erfolgter Widerspruch vernünftig und nahme mit Hilfe zum Sterben und mit der Untersa- schmerzstillende, ruhigstellende und narkotisie- kommen. Die beiden vorliegenden Gesetzentwür­ zumutbar. Eine solche Neuregelung wird in einem gung von intensivmedizinischen Maßnahmen rende Mittel. Dass eben diese bei der Hirntoddiag- fe unterscheiden sich weit weniger als sie behaup­ Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Jens durch eine Patientenverfügung – bevor der Hirn- nose hierzulande nicht mehr verbreicht werden, ten. Warum wird hierzulande von niemandem Spahn (CDU) und dem SPD-Gesundheitspolitiker tod eingetreten ist. Bei Spendenbereitschaft geht ist ein besonders gravierender Umstand – Grund auch das Schweizer Modell als eine humane Alter­ Karl Lauterbach u.a. vertreten. Die Befürworter*in- es nicht mehr um das Wohl des irreversibel ko- ist eine sonst mögliche Verfälschung der endgülti- native erwogen? l nen der Widerspruchslösung wollen damit ver- matösen Patienten, sondern um die optimale Kon- gen Hirntoddiagnostik. mehrt organbedürftigen Kranken zwischen Todes- ditionierung seiner zu entnehmenden Organe. aussicht und Hoffnung zum Leben verhelfen. Das heißt, es werden kurz vor Todeseintritt noch Beim Hirntod handelt es sich um ein Konstrukt Gita Neumann (geb. 1952) ist Dipl.- Eingriffe wie Herzkatheter, Reanimation etc. nur zur Legitimierung. Der deutsche Gesetzgeber wür- Psychologin, Sozial­wissen­schaft­lerin und Philosophin und Mitglied der Alternativ zu Spahn setzen federführend An- zum Nutzen Fremder vorgenommen. Besonders de sich niemals auch nur dem Verdacht aussetzen, Akademie für Ethik in der Medizin nalena Baerbock (Grüne) und die Linken-Vorsit- bedenklich stimmen – wenn man darüber Be- wehrlose Menschen durch die Organentnahme tö- (AEM, Göttingen). Sie publiziert u.a. zende Katja Kipping in ihrem Gesetzentwurf dar- scheid wüsste – die zur endgültigen Diagnostik ten zu lassen. Dahinter steht auch das hierzulande zu Patienten­auto­nomie, Religions- und Welt­an­schauungsfragen, auf, dass eine »bewusste und freiwillige Entschei- notwendigerweise zugefügten Schmerzreize, um drastische Verbot jeglicher »aktiven« Sterbehilfe. Lebens- und Sterbehilfe.­ E-Mail: dung« wie bisher beibehalten werden soll. Die Er- eine vielleicht doch noch vorhandene Reaktion des Der Hospizarzt Dr. Jürgen Bickhardt thematisiert in [email protected]. mutigung der Bürger*innen dazu soll durch In- erst höchstwahrscheinlich Hirntoten zu testen. seinen Patientenberatungsschulungen stets die in afen Foto Besteck: Pixabay 1807541 Sasint; Neumann: Hoffotogr

18 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 19 »Nicht alles im Straßenverkehr Ethik des ist vorher berechenbar« autonomen Unterkomplexität der Debatte Fahrens Die Debatte (im Sinne der Ethik als Reflektion von moralischen Setzungen) ist notwendig. Es wird eine Entscheidung getroffen werden, wie Fahrzeu­ ge in diesen Situationen reagieren, da es unmög­ Dilemma lich wäre, sie nicht zu treffen. Die Debatte darüber wird nicht nur in den philosophischen Fakultäten der Universitäten oder bei den Ingenieur*innen geführt, sondern auch in großen Tageszeitungen, PHILOSOPHISCHER EXKURS PHILOSOPHISCHER einer Debatte EXKURS PHILOSOPHISCHER sowohl in Deutschland als auch international. Von Maximilian John Doch die Debatte hat dabei einige Probleme, die dafür sorgen, dass sie unterkomplex geführt wird. Wie soll ein autonomes Fahrzeug im Im Folgenden möchte ich diese Probleme erläu­ tern und Ansätze für eine sinnvollere Diskussion Falle eines drohenden Unfalls reagieren? anbieten. Da dies vorab entschieden und programmiert werden muss, braucht Ein erstes Problem der Debatte ist, dass nicht es eine Debatte. Doch diese wird zwischen autonomen und hochautomatisierten Fahrzeugen unterschieden wird. Hochautomati­ unterkomplex geführt. sierte Fahrzeuge fahren weitestgehend ohne menschliche Eingriffe, geben die Fahrzeugkontrol­ le in Grenzsituationen allerdings wieder an den Fahrer bzw. die Fahrerin ab. Diese*r hat dann eine gewisse Zeit (in der Forschung werden Zeitabstän­ de zwischen drei und fünf Sekunden diskutiert), bis das Fahrzeug wieder in seiner bzw. ihrer Kontrolle ist. Autonome Fahrzeuge behalten dagegen auch in Grenzfällen die Kontrolle: In vielen Plänen ist ei­ s gibt kaum einen Lebensbereich, der nicht aufgrund der immer weiter steigenden Rechen­ Noah J. Goodall ausführt, bleiben selbst in Simula­ ne Übernahme der Kontrolle durch einen Men­ zumindest indirekt von der fortschreiten­ leistung von Computern keine Fahrer*in mehr be­ tionen, bei denen alle Fahrzeuge autonom agie­ schen nicht einmal vorgesehen. Für hochautomati­ den Digitalisierung der letzten Jahre und nötigen würden. ren, immer noch gewisse Restrisiken für Kollisio­ sierte Fahrzeuge stellt sich die ethische Frage also EJahrzehnte betroffen ist. Auch die menschliche nen. Auch wenn autonome Fahrzeuge das Unfallri­ nicht im gleichen Maße, da die möglichen Reaktio­ Fortbewegung ist hier keine Ausnahme. Angefan­ Mehr als 60 Jahre später hat sich diese These – siko wahrscheinlich erheblich reduzieren werden nen eingeschränkt sind oder in diesen Situationen gen vom Fahrradcomputer bis hin zu Neufahrzeu­ anders als Moores Voraussage der Etablierung des (wozu es bisher noch wenige belastbare Nachwei­ doch wieder ein Mensch selbst entscheiden muss. gen, deren eingebaute Rechner eine ganze Reihe Heimcomputers – noch nicht bewahrheitet. se, allerdings sehr deutliche Tendenzen gibt), so von Aufgaben im Straßenverkehr übernehmen, Doch die Anzeichen mehren sich, dass sich dies in senkt sich das Risiko eben nicht auf null. Entspre­ Doch auch wenn die Debatte auf autonomes gibt es eine große Spannbreite von digitalen Er­ den nächsten Jahren oder spätestens Jahrzehnten chend werden selbst unter idealen Voraussetzun­ Fahren beschränkt wird, ist diese in der derzeit po­ weiterungen, die uns in diesem Teil des täglichen ändern wird. Doch mit der Ermöglichung des auto­ gen – die wir in der Realität in der Form wohl nie pulären Form nicht unproblematisch. Sie wird Lebens begegnen. Und das Ende der technischen nomen Fahrens kommen neben technischen und umsetzen werden können – immer noch Situatio­ meist anhand von Gedankenexperimenten ge­ Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Immer mehr juristischen auch ethische Fragen auf. – Wie soll nen entstehen, in denen ein Schaden oder gar Ver­ führt, die etwas so aussehen: Ein Auto fährt über Programme werden entwickelt, um den Menschen ein Fahrzeug in einem Unfallszenario reagieren? letzungen und Todesfälle unausweichlich sind. Wie eine glatte Straße und gerät ins Schlingern. Eine im Straßenverkehr immer mehr Aufgaben abzu­ das autonome Fahrzeug in diesen Fällen reagieren Gruppe Kinder kommt um die Ecke. Soll das Auto nehmen. Schon im Jahr 1965 stellte der Intel-Mit­ Doch könnten denn autonome Fahrzeuge nicht soll, muss vorher entschieden und einprogram­ die Kinder überfahren und die Insassen retten begründer Gordon Earle Moore die These auf, jeden Unfall verhindern? Brauchen wir dann über­ miert beziehungsweise per Machine Learning oder die Kinder retten und die Insassen töten, da

dass es in der Zukunft Autos geben könnte, die haupt noch eine Ethik? Wie der Verkehrsforscher Hier steht später die Bildquelle »beigebracht« werden. es mit einem Baum kollidiert? Diesseits/A. Paul Foto Fahren:

20 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 21 »Risiko ist ein blinder Fleck jede Entscheidung unter Garantie zu einem vorher ren (beispielsweise dadurch, dass alle autonomen und Bewegungsprofile erstellt werden können. bestimmbaren Ergebnis führt, analog wie etwa die Fahrzeuge vernetzt sind), so verringert sich zwar Hier ist eine Abwägung nötig: Ab welchem Nutzen, vieler Moralvorstellungen« Eingabe einer Rechnung in einen Taschenrechner die Unsicherheit, lässt sich aber nicht komplett also weniger Unfällen, nehmen wir in Kauf, dass immer das gleiche Ergebnis anzeigt. Wenn Ent­ aufheben: Insbesondere, wenn nicht autonome unsere Fortbewegung möglicherweise ständig scheidung A getroffen wird, trifft Folge B zwangs­ Fahrzeuge an der Situation beteiligt sind, fehlen überwacht werden kann? Welche Risiken nehmen läufig ein. Wenn dies der Fall wäre, müssten wir Daten, da sie in dem Moment noch gar nicht exis­ wir für wie viel Komfort in Kauf? Inwiefern unter­ uns über die Ethik autonomen Fahrens keine Ge­ tieren, sondern erst im Vollzug entstehen. Ein scheidet sich diese mögliche Überwachung von Diese Art von Gedankenexperimenten ent­ danken machen. Es käme schlicht und ergreifend Computer kann zwar berechnen, dass ein*e Fuß­ der Gefahr durch Smartphone-Nutzung, die heute spricht strukturell augenscheinlich dem Trol­ nicht zu Unfällen. Die Realität sieht aber anders gänger*in wahrscheinlich in der Situation aus­ schon Realität ist? ley-Problem. Jenes Gedankenexperiment, das in aus. Nicht alles im Straßenverkehr ist vorher bere­ weicht, aber es ist genauso möglich, dass er oder seiner modernen Form auf die britische Moralphi­ chenbar, insbesondere wenn nicht-autonome Ve­ sie es nicht tut. Zu guter Letzt wird der technische Stand zu we­ losophin Philippa Foot zurückgeht, geht wie folgt: hikel (andere Autos, Fahrräder) und Menschen zu nig in der Debatte berücksichtigt. Die Entwicklung Ein Moralsubjekt führt eine Straßenbahn, deren Fuß an der Situation beteiligt sind. Es handelt sich Die Frage nach den Risiken der Fahrzeuge wird nicht enden, wenn die ersten Bremsen versagen. Auf der Strecke vor der Bahn in den Worten Ottfried Höffes um eine Entschei­ autonomen Vehikel auf den Straßen rollen. Mögli­ befinden sich fünf Personen, die das Gleis nicht dung unter Risiko. Philippa Foot weist bei ihrer Konzeption des cherweise können Fahrzeuge zu diesem Zeitpunkt verlassen können. Das Moralsubjekt kann die Trolley-Problems selbst darauf hin, dass dieser von noch gar nicht so genaue Manöver in Krisensitua­ PHILOSOPHISCHER EXKURS PHILOSOPHISCHER Bahn allerdings auf ein enges Nebengleis umlei­ Risiko ist ein blinder Fleck vieler Moralvorstel­ Sicherheiten ausgeht, die in der Realität so nicht tionen vollführen, sind aber dennoch deutlich si­ ten, auf der sich eine Person befindet, die eben­ lungen. Dabei stellen sie teleologische Moralvor­ gegeben sind: »In der Realität wäre es kaum si­ cherer. Daraus ergibt sich die Frage, ob es sinnvoll falls nicht ausweichen kann. Auf dem Gleis, auf stellungen vor ein großes Problem: Wie soll damit cher, dass der Mann auf der engen Strecke (der ist, das autonome Fahren schon zu erlauben, wenn dem die Bahn weiterfährt, werden die Personen umgegangen werden, wenn eine Handlung so­ zweiten Möglichkeit) getötet würde. Möglicherwei­ insgesamt weniger Menschen sterben, im Einzel­ beziehungsweise die Person sterben. wohl die Möglichkeit hat, das größtmögliche Glück se kann er sich an die Seite drücken, während die fall aber Tode, die verhindert werden könnten, in für die größtmögliche Anzahl an Menschen zu er­ Bahn vorbeifährt. Der Fahrer würde in dem Fall Kauf genommen werden müssen. Soll möglicher­ Es gibt nicht nur Entscheidung A oder B möglichen und genauso das Gegenteil? Hierzu nicht herausspringen und ihn mit einer Brechstan­ weise schon eine Regelung etabliert werden, die gibt es verschiedene Ansätze – auf einer Makro­ ge erschlagen.« Oder anders: Die Konzeption des anfangs technisch unmöglich ist, auf lange Sicht Diese Gedankenexperiment wird oft herange­ ebene etwa Hans Jonas‘ Verantwortungsethik, die Gedankenexperiments sieht eine Diskussion über aber nutzt, da weniger Änderungen vollzogen wer­ zogen, um die Unterschiede zwischen telelogi­ besagt, dass jede Handlung, die die Möglichkeit Risiken in dem Sinne nicht vor. den müssen? scher (auf die Konsequenzen gerichtete) und deon­ hat, die Menschheit auszulöschen, ausgelassen tologischer (auf die Handlung gerichtete) Moral­ werden muss, unabhängig vom möglichen Ge­ Die Debatte um das Trolley-Problem wärmt nur Diese Fragen sind sicherlich nicht die einzigen, vorstellungen zu unterscheiden. Zunächst einmal winn. eine alte Debatte zwischen deontologischer und die sich bei der Etablierung stellen werden. Doch erscheint eine Übertragung des Gedankenexperi­ teleologischer Ethiken auf, für die das Problem es sind Fragen, die sich auf die Technik beziehen ments naheliegend und sinnvoll. Allerdings hat Beim autonomen Fahren findet der Umgang schon in der Schule häufig herangezogen wird. und kein 50 Jahre altes Gedankenexperiment in diese Struktur das Problem, dass sie der Komplexi­ mit Risiko auf zwei Ebenen statt: Einerseits muss Diese Debatte hinterlässt einen bitteren Beige­ neuer Fassade erneut durchdiskutieren. Neue Pro­ tät von Situationen im Straßenverkehr nicht ge­ abgeschätzt werden, welches Risiko für einen Un­ schmack, denn sie verzerrt das Bild der Technik bleme erfordern neue Fragen – und selbst wenn recht wird. fall für welchen Komfort eingegangen werden und nimmt den Platz von Debatten ein, die sachbe­ wir versuchen, diese mit alten Konzepten (bei­ muss. In der Praxis heißt das, welche Regelungen zogener sind. spielsweise des Utilitarismus oder Spielformen der Autofahrer*innen (oder selbst Spieler*innen (z.B. Geschwindigkeitsbegrenzung) vorgenommen Tugendethiken) zu lösen, so braucht es zumindest von Rennspielen am Computer) sollte auffallen, werden sollen, die das Risiko einer potenziellen Ein Beispiel hierfür ist das Thema Datenschutz: auch eine neue Anwendung dieser Ansätze. l dass dies eine sehr simple Konstruktion für den Unfallsituation verringern, im Gegenzug aber die Autonome Fahrzeuge werden wahrscheinlich nicht Straßenverkehr oder den Umgang mit Vehikeln Fahrtdauer verlängern. Auf der anderen Ebene allein mit einem Computer an Bord fahren, son­ generell ist. In keiner Situation, in der es nicht so­ muss das Fahrzeug in der potenziellen Unfallsitua­ dern auch mithilfe von Cloud-Diensten – das Auto Maximilian John ist Beisitzer im wieso schon zu spät ist, gibt es nur zwei Möglich­ tion selbst, wenn also der Risikofall eingetreten ist, muss also ständig mit dem Internet verbunden Vorstand des Bundesverbandes JuHu. Er studiert Philosophie im keiten. Das lässt sich schon daran belegen, dass ei­ reagieren. Keine Aktion führt mit einer Garantie zu sein. Das heißt auch, dass das Fahrzeug und mit Master an der Technischen ne leichte Variation von Gas und Bremse oder ein einem Ergebnis. Entsprechend müssen Lösungen ihm die Insassen potenziell überwacht werden Universität Darmstadt. paar Grad stärkerer Lenkradeinschlag durchaus ei­ gefunden werden, wie mit dieser Unsicherheit um­ ne weitere Möglichkeit sind. Nun könnte einge­ gegangen werden kann. Ein möglicher Ansatz wendet werden, dass dies zwar faktisch Möglich­ hierfür wäre, Schäden mit Zahlen zu belegen und keiten sind, für die Diskussion aber nicht notwen­ diese dann mit dem berechneten Risiko zu ver­ dig, wenn sie zum gleichen Ergebnis führen wür­ rechnen. den. Das setzt aber einerseits voraus, dass es bei »Ab welchem Nutzen nehmen wir in Kauf, dass unsere Handlungen nur auf die Konsequenzen ankommt. Diese Unsicherheit lässt sich auch nur bedingt Andererseits heißt das, dass die Entscheidung un­ technisch lösen. Selbst wenn alle erbringbaren Da­ Fortbewegung möglicherweise ständig überwacht werden kann?

ter Gewissheit getroffen werden kann, dass also ten im Moment der Unfallsituation vorhanden wä­ Foto John: Privat Welche Risiken nehmen wir für wie viel Komfort in Kauf?«

22 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 23 ZUR DEBATTE ZUR DEBATTE

ren zentralen Konzepten, z.B. Verantwortung, ver­ Bei einer solchen Überlegung sollte man ver­ trägt. Dabei wären solche Klärungen hilfreich auch suchen, an unserem Alltagsleben, an unserer Selbstbestimmung gegenüber manchen deterministischen Tenden­ Praxis und unserem schon vorhandenen Ver­ zen in der Hirnforschung wie angesichts der Digi­ ständnis von Selbstbestimmung anzuknüpfen. talisierung unserer Lebensverhältnisse. Klärungen So kommt man gar nicht erst in Versuchung, im digitalen Zeitalter dieser Art sind keineswegs philosophische Selbst­ von der theoretischen Idylle eines vollends beschäftigung, denn Konzepte und Begriffe kön­ selbstbestimmten Lebens auszugehen, sondern nen uns als normative Folie bzw. regulative ethi­ steckt sofort mitten in einem Spannungsver­ Von Ralf Schöppner sche Idee helfen, individuelle Verhaltensweisen hältnis: Wir haben einerseits den Anspruch und und gesellschaftliche Verhältnisse zu beurteilen das Selbstverständnis, ein möglichst selbstbe­ und zu kritisieren. stimmtes Leben führen zu wollen, und ander­ seits erleben wir im Alltag eine ganze Reihe von iest man aktuelle Texte des Humanismus, Anspruch und Zweifel Schwierigkeiten und Hindernissen, die uns an ob Humanistische Selbstverständnisse, der Möglichkeit von Selbstbestimmung zweifeln Rahmenlehrpläne von humanistischer Le­ In einem grundlegenden Sinne ist zunächst lassen. Uns passieren Dinge, auf die wir keinen Lbenskunde oder Pressemitteilungen zu jeweils ge­ durchaus klar, woher der humanistische Impuls Einfluss haben und die unsere Wünsche und rade aktuellen Themen wie z.B. zum assistierten nach Selbstbestimmung rührt: Er richtet sich ge­ Pläne durchkreuzen. Wir sind biografisch ge­ »Man schaut nicht einfach hin Suizid, so ist schnell zu erkennen, dass Selbstbe­ gen Fremdbestimmung durch religiöse Autoritä­ prägt und unterliegen vorgegebenen gesell­ und wählt etwas, man steckt stimmung ein zentrales Konzept mindestens des ten und Schriften, politische Führer und autoritäre schaftlichen wie biologischen Bedingungen. Im immer schon bis zum Hals im zeitgenössischen Humanismus ist. Gleichzeitig Herrschaftsformen oder auch hierarchische Bezie­ sozialen Umfeld ergeben sich stets Rücksicht­ aber scheint nicht immer ohne Weiteres klar zu hungsformen. Ist nun Selbstbestimmung aber nahmen auf andere oder Verpflichtungen ihnen Leben.« sein, was genau denn dabei unter Selbstbestim­ noch mehr als Widerstand gegen Fremdbestim­ gegenüber, die uns in unserer Selbstbestim­

Iris Murdoch mung zu verstehen ist und wie diese sich mit ande­ 1574583 RawPixel 562059, Pxhere Pxhere Foto Tablet: mung? mung einschränken können.

24 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 25 »Ist soziale Anerkennung Nehmen wir an, Sie sind der Ansicht, zur Selbst­ Und natürlich kann man es noch weitertreiben: Selbstbestimmung stets und in jedem Lebensbe­ bestimmung gehört es, dass man halbwegs gute Stellen Sie sich vor, unsere Person lebt in einem reich klappt. Sie kann sich lokal, d.h. in einzelnen eine notwendige Bedingung Gründe für seine Entscheidungen hat, damit man Land, in dem das permanente Online-Sein eine ver- Bereichen realisieren, sie muss nicht als »totale« – für die Realisierung von nicht von irgendwelchen diffusen Motiven ange­ breitete gesellschaftliche Norm ist: alle machen das immer und in allen Lebensbereichen – verstanden trieben wird. Würden Sie sagen, man sollte bei der und alle sollen das auch. In ihrem nahen sozialen werden. Sie ist dann graduell und stets nur als ein Selbstbestimmung? Reflexion der eigenen Gründe vor allem auch über­ Umfeld wird unsere Person massiv »gedisst«, bewegliches Mischverhältnis von Selbst- und legen, ob die eigenen Wünsche wirklich die eigenen wenn sie nicht erreichbar ist und nicht umgehend Fremdbestimmung zu haben. Ein starkes und an­

sind? Und ob sie nicht stattdessen nur vom sozia­ auf alle eintreffenden Nachrichten antwortet. Wür­ spruchsvolles Verständnis von Selbstbestimmung ZUR DEBATTE len Umfeld gelehrt, auferlegt oder gar manipuliert den Sie unter diesen Voraussetzungen den ständi­ mag als Ansporn dienen, selber und mit anderen Dieses Spannungsverhältnis gehört zu einem wurden? Würden Sie sagen, es gehört zur gelun­ gen Griff nach dem Smartphone als selbstbe­ einiges dafür zu tun: sich Spielräume zu erarbeiten modernen Verständnis von Selbstbestimmung da­ genen Selbstbestimmung dazu, dass man sich stimmt bezeichnen? Oder würden Sie sagen, unter und Gesellschaft politisch so zu gestalten, damit zu: Selbstbestimmung »ist kein Ponyhof« und man selbst Rechenschaft über die Herkunft der eigenen solchen gesellschaftlichen Bedingungen ist in die­ Selbstbestimmung so weit wie eben möglich ge­ sollte sie entsprechend nicht als etwas Selbstver­ Wünsche gibt? Sollte unsere Person sicher sein, ser Hinsicht überhaupt keine Selbstbestimmung lingt. Das Verständnis sollte allerdings nicht zu ständliches und Unkompliziertes propagieren. dass es ihr eigener Wunsch ist, ständig zum Smart­ möglich, bzw. sie kann eigentlich nur in der Ver­ stark und zu anspruchsvoll sein, so dass es kaum Überlegen Sie: Wann schreiben Sie sich oder einer phone zu greifen und nicht eine durch die Sozialen weigerung der Norm bestehen? noch jemand erfüllen kann. Es bedarf eines abge­ anderen Person zu, dass sie selbstbestimmt agiert? Netzwerke verursachte Zwanghaftigkeit? rüsteten und nicht-illusionären Verständnis von Probieren wir das an einem alltäglichen Beispiel. Zeigt uns diese letzte Wendung womöglich Selbstbestimmung, mit dem man sowohl an dem Nehmen wir nun an, die Person hat für sich ei­ auch noch, dass soziale Anerkennung eine notwen­ humanistischen Impuls eines selbstbestimmten Wenn das Smartphone zweimal klingelt nen guten Grund und ist überzeugt, es handelt dige Bedingung für die Realisierung von Selbstbe­ Lebens festhalten kann als auch die heteronomen sich um ihren eigenen Wunsch. Würden Sie sagen, stimmung ist? Kann man erwarten, dass unsere Seiten des menschlichen Lebens nicht übergeht. l Stellen Sie sich eine Person vor, deren Smart­ dieser Grund sollte auch für andere verständlich Person »offline« geht, wenn sie dafür von nieman­ sein? Reicht es, wenn diese Person z.B. sagt, »Ich dem respektiert und anerkannt wird, wenn ihr Die ausführliche Fassung des Beitrages erscheint in: Ralf phone ständig Töne von sich gibt und die jedes Schöppner (Hrsg.): Humanistische Identität heute – Huma­ Mal ohne zu zögern auf ihr Display schaut. Rührt möchte da immer nachgucken, am liebsten auch Streben nach Selbstbestimmung nicht von ande­ nismus zwischen Universalismus und Identitätspolitik. Band es sich mal nicht, schaut sie natürlich erst recht. nachts, weil ich sonst die wirklich wichtigen Dinge ren wertgeschätzt wird? 12 der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Ber­ lin-Brandenburg, Alibri-Verlag, Aschaffenburg November Diese Person möchte gerne wissen, wer sich da des Lebens verpasse«? Oder würden Sie sagen, 2019. gerade meldet oder eben auch nicht. Würden Sie diese Person handelt dann eigentlich nicht wirklich Abrüsten und festhalten sagen, die Person handelt selbstbestimmt, weil sie selbstbestimmt, denn sie befindet sich im Irrtum ja schließlich ihren eigenen spontanen Wünschen über sich selbst und die Welt? Verhindert Selbst­ Desto weiter Sie jetzt gerade mitgegangen Dr. phil. Ralf Schöppner ist folgt? Oder würden Sie sagen: Nein, zur Selbstbe­ täuschung Ihres Erachtens Selbstbestimmung? sind, desto anspruchsvoller, komplexer und stär­ praktischer Philosoph und Direktor der Humanistischen Akademien stimmung gehört auch eine Reflexion der eigenen ker ist Ihr Verständnis von Selbstbestimmung. Was Deutschland und Berlin-Branden­ Wünsche, d.h. die Überlegung, ob man diesen Und gehen wir noch einen Schritt weiter: Was nicht notwendig bedeutet, ein übertrieben idealis­ burg. Wunsch wirklich verfolgen will oder nicht? Ist würden Sie sagen, wenn unsere Person deshalb tisches Verständnis zu haben. Schließlich muss Selbstbestimmung also einfache Wunscherfüllung ständig auf ihr Smartphone schaut, weil sie wissen man ja nicht davon ausgehen, dass das mit der oder reflexiver Verfolg der eigenen Wünsche? will, wie ihr neuestes Mobbing-Video über eine Mit­ schülerin im Netz ankommt. Würden Sie sagen, das Nehmen wir an, es reicht Ihnen nicht, Selbstbe­ ist natürlich schlimm, aber für die Frage der Selbst­ stimmung nur als Erfüllung der jeweils gerade vor­ bestimmung ist es völlig unerheblich, ob es sich um liegenden Wünsche zu verstehen. Sie denken, dass ethisch wertvolle oder boshafte Wünsche bzw. Akti­ ein Mindestmaß an Reflexion dazugehört. Reicht onen handelt? Würden Sie also sagen, auch eine es Ihnen dann für Ihr Verständnis von Selbstbe­ moralisch verwerfliche Handlung kann eine selbstbe­ stimmung, wenn unsere Person sich nach einer stimmte Handlung sein? Oder würden Sie stattdes­ Reflexion ihrer spontanen Wünsche auf einer zwei­ sen sagen, das kann keine selbstbestimmte Hand­ Sie wünschen sich auch mehr ten Stufe mit diesen identifiziert, sie bejaht und lung sein, weil es zu einem richtigen humanisti­ Solidarität und Selbstbestimmung z.B. wieder zum Smartphone greift, um zu schau­ schen Verständnis von Selbstbestimmung dazu ge­ en, ob eine neue Nachricht da ist? Oder würden Sie hört, nicht nur die eigene Selbstbestimmung, son­ und möchten dem Humanismus sagen: Nein, die Person sollte auch einen guten dern auch die des anderen zu achten? Würden Sie eine starke Stimme geben? Grund für ihre Entscheidung haben. Sollte die Re­ sagen, dass man Selbstbestimmung nur dann wirk­ flexion also mindestens eine halbwegs gute Be­ lich wertschätzt und dass es merkwürdig ist, wenn Dann unterstützen Sie unsere Arbeit durch gründung hervorbringen (z. B. weil unsere Person man nur die eigene meint? Dass jemand, der ein Ihre Mitgliedschaft oder mit einer Spende! wirklich auf eine sehr wichtige Nachricht wartet), solches Video postet, nicht wirklich selbstbestimmt oder ist das egal, reicht es Ihnen, wenn sie zumin­ handelt, weil er Selbstbestimmung mit egoistischer

dest irgendwie nachgedacht hat? Willkürfreiheit verwechselt? Foto Schöppner: Arik Platzek Bitte wenden Sie sich an den HVD-Landesverband in Ihrer Nähe, den Bundesverband JuHu oder an den HVD-Bundesverband. 26 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 E-Mail: [email protected],diesseits · Jahrgang 33 · Heft Telefon: 125 030 613904-34 27 Pixabay 2847508 Jarmoluk eute sind Frauen ungehorsam und stre­ ten der katholischen Hochschulen als außenpoliti­ ben nach Gleichberechtigung! Sie sind die sche Einheit in Form von öffentlichen Universitä­ Wie die katholische Zweiten, während Männer die Ersten ten direkt der Kirche und dem Heiligen Stuhl un­ Hsind.« »Frauen, probiert keine Männer vor der Ehe tergeordnet sind. Kroatische Soldaten sind ge­ aus, sonst werdet ihr Schlampen!« So und ähnlich zwungen, von Amts wegen auf auf Steuerkosten Kirche Frauenrechte in werden Frauen in Kroatien vom katholischen Kle­ zur Pilgerfahrt zu gehen. Öffentliche Medien ha­ rus zurechtgewiesen. Für das Wort »Schlampe« ben sich in ein Instrument der katholischen Propa­ hat sich der betreffende Erzbischof im Nachhinein ganda verwandelt. Kroatien einschränkt entschuldigt. Er habe von der Würde der Frau ge­ sprochen und wie wichtig es doch sei, diese zu »Besorgte Eltern« gegen Verhütung und schützen. Dann sei ihm halt, bei der Predigt, das Von Nada Peratovic gleichgeschlechtliche Ehe Wort »Schlampe« herausgerutscht. Die Frauen in Kroatien können über solche »Ausrutscher« nicht Seit Längerem bedient sich die katholische Kir­ In Kroatien werden die Grenzen zwischen dem kroatischen Staat und der (mehr) lachen. che außerdem der Hilfe verschiedener katholi­ katholischen Kirche immer weiter aufgelöst. Schritt für Schritt werden scher Laienvereinigungen, die ihre konservativ öffentliche Einrichtungen, das Bildungs-, Wissenschafts- und Gesundheitssystem Die katholische Kirche selbst ist eine ultrapatri­ fundamentalistische Agenda weitertreiben. So be­ archale, hierarchisch aufgebaute Organisation, in anstandeten im Jahre 2012 einige Vereinigungen HUMANISTS INTERNATIONAL HUMANISTS INTERNATIONAL instrumentalisiert und Menschenrechte und humanistischen Prinzipien welcher alle wichtigen Entscheidungen an obers­ als »besorgte Eltern« den Lehrplan des neugestal­ beschnitten und beseitigt. Vor allem die Rechte von Frauen sind in Gefahr. ter Stelle von Männern getroffen werden. In dieser teten interdisziplinären Fachs Gesundheitskunde Organisation haben Frauen keine Rechte. Auf in­ für Grund- und Mittelschulen, welcher ihren Kin­ ternationaler Ebene behindert der Vatikan zusam­ dern Verhütungsmittel sowie Homosexualität als men mit islamischen Staaten die meisten Aktionen etwas »Normales« näherbringen sollte. Dies wi­ zur Stärkung der Frauenrechte und rechtfertigt derspreche ihrer Religionsfreiheit, der Freiheit, ih­ dies immer wieder mit religiösen Freiheiten. Ist es re Kinder in ihrem Glauben zu erziehen. Sie forder­ nicht zynisch, dass die Organisation, in welcher ten, dass man ihre Rechte als Eltern anerkenne Frauen keine Rechte besitzen, sich dennoch beru­ und verlangten, dass das Fach nur fakultativ ange­ fen fühlt, über die Rechte von Frauen (bzw. die Ein­ boten werde. schränkung dieser Rechte), insbesondere über ih­ re körperliche und sexuelle Autonomie, zu bestim­ In der Folge setzte das kroatische Verfassungs­ men? gericht das Fach Gesundheitskunde wegen »pro­ zessualen Mängeln« bei dessen Einführung außer Die Auflösung der Grenzen zwischen dem kroa­ Kraft. Ein neues Curriculum wurde ausgearbeitet, tischen Staat und der katholischen Kirche bzw. ihr welches keine größeren Veränderungen bot, die gemeinsames Handeln führt zur schrittweisen Be­ katholischen Aktivisten dennoch ein wenig besänf­ seitigung all jener Menschenrechte und humanis­ tigte. Derzeit wird eine neue Version der Gesund­ tischen Prinzipien, welche die katholische Kirche heitskunde für das Jahr 2019/2020 vorbereitet, in ohnehin nicht anerkennt. Während die katholische welcher alle umstrittenen Inhalte der alten Version Kirche ihre Autonomie beibehält und auf Grundla­ ausgelassen werden. Sexualität dient demnach ge besonderer Regeln, die häufig gegen die Geset­ nun nur der Reproduktion. ze und die Verfassung der Republik Kroatien ver­ stoßen, als »Staat im Staat« handelt, gibt es kaum eine öffentliche Einrichtung in Kroatien, die von kirchlichen Eingriffen und Kontrollen verschont geblieben ist.

Das gesamte Bildungssystem von öffentlichen »Es gibt kaum eine öffentliche Kindergärten bis zu öffentlichen Universitäten Einrichtung in Kroatien, die Vor dem Gebäude der Kroatischen Bischofskonferenz in wird zur Förderung des Katholizismus als offizieller Zagreb wird ein dort auf dem Bürgersteigt aufgemalter staatlicher Ideologie genutzt. Religionslehrer wer­ von kirchlichen Eingriffen Regenbogen entfernt. Der Regenbogen mit der Beschriftung den von der Kirche berufen, vom Staat, aus Steuer­ »Ima jedna duga (cesta)« (deutsch: »Es ist ein langer Weg«) und Kontrollen verschont entstand dort am Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, mitteln, entlohnt. Die Autonomie der Universität

Inter- und Transphobie im Jahr 2015. Wikimedia Commons/Libela.org Foto Straßenreinigung: wird praktisch außer Kraft gesetzt, da die Fakultä­ geblieben ist.«

28 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 29 »Enthusiastische Katholiken in zwei Wochen über 450.000 Unterschriften zu verweigern die Mitwirkung an Schwangerschafts­ Die Repatriarchalisierung der kroatischen Ge­ sammeln. Damit kam ein Referendum zur Verfas­ abbrüchen und werden unter Konservativen als sellschaft fing schon Anfang der neunziger Jahre beten vor Spitälern gegen sungsänderung zustande; bei einer sehr niedrigen Nationalheldinnen gefeiert. Apotheker*innen ver­ an. Mit dem immer lauter werdenden Aufruf, den Schwangerschaftsabbrüche Wahlbeteiligung wurde das Begehren mit über 60 weigern es, Frauen die Pille auszuhändigen. Frauen – im Namen der Zygote, des Embryos und Prozent der Stimmen angenommen. Nur eine he­ des Fötus – das elementarste Recht auf ihre kör­ und für ungeborene Kinder.« terosexuelle Partnerschaft darf sich als Ehe be­ In diesem Jahr wurde bei einer Frau ein Schwan­ perliche Autonomie zu beschneiden, strebt Kroati­ zeichnen. gerschaftsabbruch ohne Anästhesie durchgeführt. en einem schrecklichen Höhepunkt zu. Der Anästhesiologe berief sich auf sein Gewissen. Auch das öffentliche Gesundheitswesen blieb Im vergangenen Jahr haben sich die schon ge­ In der Geschichte des Kampfes für die Emanzi­ von der Besetzung der Kirche nicht verschont: Die nannten Laienvereinigungen gegen die Ratifizie­ pation und die Menschen- und Bürgerrechte der Im Religionsunterricht, welcher seit der kroati­ katholische Fakultät organisierte zusammen mit rung der Istanbul-Konvention ausgesprochen. Frauen war(en) die Kirche(n) regelmäßig eine der schen Unabhängigkeit Anfang der neunziger Jahre den öffentlichen Wissenschafts- und Gesundheits­ heftigsten und stärksten Gegnerinnen solcher Be­ durch die Verträge mit dem Heiligen Stuhl wieder einrichtungen unter der Schirmherrschaft der Prä­ Die Gegenbewegung kommt strebungen. Viele Frauen starben, weil man religi­ zurück in die Schulen fand, lehrt man die Kinder, sidentin, der Kardinäle und der Bischöfe einen auch von Gläubigen öse Dogmen ihren Leben vorzog. Homosexualität sei eine Sünde. Masturbation so­ gynäkologischen Kongress und gab ein Lehrbuch wieso. Atheisten werden als Egoisten umschrie­ über Gynäkologie heraus, das darauf abzielte, den Bei einer gewissen Zahl von Gläubigen stößt Frauenrechte wurden Frauen nie geschenkt. ben, die, gemäß eines Zitats von Johannes Paul II, Beruf der Gynäkologie den obsessiven Ambitionen dieser Konservatismus immer mehr auf Unver­ Wir mussten sie immer hart erkämpfen. Dies wis­ HUMANISTS INTERNATIONAL nicht in der Lage wären, ohne Gott gute Menschen der kirchlichen Hierarchie zu unterwerfen. ständnis und Ablehnung. Viele gläubige Frauen, sen auch kroatischen Feministinnen, Humanistin­ zu erziehen. Ohne Gott erziehe man Menschen, die sich bis jetzt mit dem politischen Wirken ihrer nen und Atheistinnen, die sich jedes Jahr, in immer die für Auschwitz verantwortlich sind. – So steht es Seit 2014 versammeln sich enthusiastische Ka­ Kirche nicht auseinandergesetzt und unsere Sor­ größerer Zahl, vor die Menschenmenge stellen noch immer in den kroatischen Religionsbüchern tholiken während der Fastenzeit vor Spitälern, um ge um die Wahrung des säkularen Charakters des und, bevor sie dann verhaftet werden, mit ihren ei­ für die achte Klasse. zu beten. Sie beten gegen Schwangerschaftsab­ Staates nicht ernstgenommen haben, sehen sich genen Frauenkörpern den religiösen, frauenver­ brüche und für ungeborene Kinder. Immer mehr nun gezwungen, ihre eigene Beziehung zur Kir­ achtenden Menschenzug des »Marsches fürs Le­ 2012 verlangten wiederum (mehr oder weniger Ärzte verweigern gesetzlich geregelte Abtreibun­ che zu überdenken. Viele distanzieren sich von ben« – wenigstens für kurze Zeit – zum Halten die gleichen) Laienvereinigungen, dass ein Artikel gen aus Gewissensgründen. »Das Leben«, welches der katholischen Kirche und beteiligen sich aktiv bringen. l in die kroatische Verfassung aufgenommen wer­ mit der Empfängnis beginnt, besitze ein Recht, ge­ am Widerstand gegen die religiöse Frauenfeind­ den soll, der die Ehe als eine Partnerschaft zwi­ boren zu werden. Abtreibung sei Mord. Ganze Be­ lichkeit und Homophobie. Diese gläubigen Frau­ Nada Peratovic ist Gründerin und schen Mann und Frau vorschreibt. Sie schafften es, legschaften gaben zur Protokoll, dass in ihrem Spi­ en sehen wir als unsere säkularen Verbündeten. Präsidentin des humanistisch- an über 2.000 Standorten (überwiegend vor Kir­ tal keine Schwangerschaftsabbrüche mehr durch­ feministischen Vereins »Zentrum chen) und mit einer großen Schar von Freiwilligen, geführt werden. Auch einige Krankenschwestern 2016 organisierten die katholischen Laienverei­ für Zivilcourage« in Kroatien und Autorin des Buches »Humanismus nigungen den ersten »Marsch fürs Leben«, der für Kinder«. Aktuell schreibt sie an dieses Jahr zum vierten Mal durchgeführt wurde. dem Bilderbuch »Der gute Mensch – Humanismus für Kleinkinder«. Der »Rote Widerstand« gegen den sogenannten »Marsch fürs Leben«- Paradoxerweise marschieren in diesem Marsch fürs (ungeborene) Leben auch verurteilte Kriegs­ verbrecher und Volksverhetzer mit; jene sind auch sonst gern gesehene Gäste in klerikalen Kreisen. Denn dem historischen Revisionismus hat sich die katholische Kirche in Kroatien schon lange ver­ Dies ist der erste von zwei Artikeln von Nada schrieben. So versucht sie, die Gräueltaten des fa­ Peratovic zum Thema. Im zweiten Teil, der in schistischen Ustascha-Regimes im Zweiten Welt­ der nächsten Ausgabe von diesseits erschei- krieg zu relativieren, von ihrem eigenen morali­ nen wird, geht es um den Kampf kroatischer schen Versagen abzulenken und den aktuellen, Frauenrechtler*innen gegen die Einschrän- auch von ihr unterstützten Nationalkonservativis­ kung von Frauen- und Menschenrechten in mus zu rechtfertigen. ihrem Land. Foto Demo: Nada Peratovic; Foto Peratovic: Privat Foto Peratovic: Foto Demo: Nada Peratovic;

30 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 31 INTERVIEW INTERVIEW

abrina, wie ist eure Kampagne konzipiert? Welche Ziele hat die Kampagne, was wollt ihr da­ »Wir wollen zeigen, dass Wie seid ihr an die Medienauswahl heran­ mit vermitteln? gegangen? Wir wollen zeigen, dass Humanismus konkret SInsgesamt hatten wir den Wunsch, mehr Ge­ und greifbar ist. Sichtbar machen, was für die Men­ Humanismus konkret schichten zu erzählen, näher zu den Leuten zu schen bei uns Humanismus bedeutet und wie das kommen. Uns war relativ schnell klar, dass wir konkret in ihrem Alltag aussieht. Denn Humanis­ Menschen aus dem Verband vorstellen möchten – mus ist deutlich mehr als eine verkopfte Theorie. und dass wir sie selbst erzählen lassen wollen. Wir Wenn man die Leute erzählen lässt, was sie ma­ und greifbar ist« wollten den Verband in seiner Vielfalt darstellen, chen und was ihnen wichtig ist, welche Werte sie das heißt, wir brauchten Frauen und Männer, Ber­ vertreten, dann wird relativ schnell klar, wie alltäg­ Sabrina Banze im Interview mit Lydia Skrabania liner*innen und Brandenburger*innen, Junge und lich und praktisch Humanismus ist. Deshalb erzäh­ Alte, Hauptamtliche und Ehrenamtliche. len wir auch keine abgeschlossene Geschichte, wir „Seit Anfang des Jahres läuft die Kampagne EINE_R VON UNS des Humanistischen kuratieren viel mehr die Geschichten, die Thea, Verbandes Berlin-Brandenburg. Von Beginn an hat das Team des Referats Presse- Unsere Kampagne sollte zudem crossmedial Richard, Karina und all die anderen zu erzählen ha­ funktionieren, die Menschen sowohl im Netz als ben. Wir erreichen – zum Beispiel über die sozia­ und Öffentlichkeitsarbeit dazu stark auf digitale Kanäle und soziale Medien auch in ihrem realen Alltag erreichen. Es stand von len Netzwerke – auf diese Weise sehr niedrig­ gesetzt. Welche Möglichkeiten eröffnen Facebook, YouTube und Co. einer Anfang an fest, dass wir dafür bewegte Bilder schwellig Menschen, die uns noch gar nicht ken­ Organisation wie dem Humanistischen Verband? Wie geht man mit Trollen brauchen und dass wir die sozialen Medien stark nen. Und viele erkennen sich und ihren Alltag dar­ und Shitstorms um? Sabrina Banze spricht über die mediale Gestaltung der nutzen wollen. Vieles ist danach gewachsen – es in wieder, sie leben nämlich nach humanistischen sind immer mehr Ideen dazugekommen. Werten, ohne sich das vor Augen zu führen. Kampagne, positiven und negativen Erfahrungen in den sozialen Medien und hilfreiche Strategien. Foto Kampagne: Konstatin Börner

32 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 33 Die Kampagne

Mit EINE_R VON UNS stellt der Humanis­tische tionen bekommen als auf glatte Beiträge, an de­ Verband Berlin-Brandenburg Persönlichkeiten vor, nen sich niemand reibt. Wir merken, dass es klare, die sich für eine menschlichere Gesellschaft stark emotionale Botschaften sind, hinter denen sich machen. 25 Videoportraits sind das Herzstück der Leute versammeln. Auf schwammige Aussagen Kampagne, einige davon waren im Frühjahr bereits bekommt man keine Reaktionen. im Kino zu sehen. Darüber hinaus ist die Kampagne RUBRIK auch im Stadtbild zu finden – etwa auf Plakaten,

INTERVIEW Wie sind denn die Reaktionen, die ihr bekommt? Aufklebern oder Postkarten. Tatsächlich bisher fast ausschließlich positiv, Mehr unter www.einevonunswerden.de die Beiträge werden viel geteilt. Unsere noch über­ und www.einervonunswerden.de schaubaren Follower-Zahlen bei Facebook und steigen langsam aber stetig, auch dank der Kampagne. Einige Kampagneninhalte polarisieren durchaus stark. »Gott hilft nicht« zum Beispiel wird oft falsch verstanden – als wollten wir sagen, dass Glauben nicht hilft. Dabei hilft vielen Menschen ihr Glaube, das streiten wir gar nicht ab. Aber wir den­ Potenziell muss man sich im Netz und in den so­ Ist es denn manchmal schwierig, nicht die Ner­ ken, dass es keine übernatürliche Instanz gibt, die zialen Medien aber auch mit Negativem wie Hate ven zu verlieren, wenn jemand im Netz herum­ Sabrina Banze ist Teil des Referats Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg. Gemeinsam mit ihrem Team, die Dinge schon richten wird. Die Menschen müs­ Speech, Trollen und Fake News herumschlagen. wütet oder hetzt, sich dann nicht im Tonfall zu Thomas Hummitzsch und Josefine Löser, hat sie die Kampagne EINE_R ONV sen selbst tätig werden. Über solche Missverständ­ Klar, Trolle, Shitstorms – das kann’s geben. Das vergreifen? UNS konzipiert. nisse entstehen häufig spannende Gespräche und hatten wir allerdings in der Form erst einmal, mit So sehr uns Hass und Hetze auch manchmal Diskussionen. Anhänger*innen der AfD. Es hat auch einiges an wütend machen: Es geht nie ohne Höflichkeit, aber Zeit und Nerven gekostet, die Negativbewertung das gilt ja auch für den privaten Umgang. Wenn Welche Vorteile haben soziale Medien bezie­ der »AfD-Klickarmee« wieder auszugleichen. An­ man Menschen, die einem wütend begegnen und hungsweise Kanäle? Welche Erfahrungen habt sonsten gibt es natürlich wie auch in der echten einen anfeinden, auch wieder mit Wut begegnet, ihr damit gemacht? Welt immer Leute und Positionen, mit denen man bekommt man eine Wutspirale, einen Kreislauf, Eure Kampagne ist sehr vielfältig und bezieht je­ Der ganz große Vorteil ist, dass soziale Medien sich auseinandersetzen muss. Ein deutlicher Un­ den keiner mehr aufbrechen kann. Das bringt gar de Menge Medien ein: Kino, YouTube, Facebook, extrem niedrigschwellig sind! Sie bieten eine tolle terschied zur echten Welt ist: Im Netz lesen viele nichts. Manchen geht es nur darum Stunk zu ma­ Webseite, Plakate, Postkarten … Wo und wie be­ Möglichkeit, Menschen zu erreichen. Denn auf die Menschen mit. Und auch die nehmen wahr, ob chen, die sind dann sowieso für kein Argument of­ kommt ihr das meiste Feedback? eigene Website müssen die Leute erst einmal kom­ und wie wir auf kritische Stimmen reagieren. fen. Und man tut sich selbst auch keinen Gefallen Wir merken die Wirkung vor allem in den sozia­ men. Es ist viel leichter, unseren Facebook-Kanal damit. len Medien und auf der Straße, also da, wo wir den zu abonnieren und zu schauen: Was machen die? Ein Shitstorm kann also langfristig sogar etwas direkten Kontakt mit Menschen haben, ob das nun Wo sind die vertreten? Wofür stehen die? Man Positives bringen, wenn er eine starke Positionie­ Noch einmal zurück zu eurer Kampagne: Was digital oder analog ist. Natürlich kommt auch die kann also sympathisieren ohne sich direkt festle­ rung ermöglicht? würdest du sagen, was war bisher das Span­ eine oder andere E-Mail als Reaktion, aber gerade gen zu müssen. Und das funktioniert auch über Ja, wir haben damals viel positives Feedback be­ nendste, das ihr aus den Rückmeldungen für auf Social Media haben wir gemerkt, dass wir auf Landesgrenzen hinaus. Wir bekommen Nachrich­ kommen, weil wir uns dazu entschieden hatten, euch mitgenommen habt? Kampagnenstatements wie »Hass bringt nichts« ten nicht nur aus Berlin und Brandenburg, son­ ganz transparent zu machen, warum wir es nicht Eine tolle Erfahrung sind die Reaktionen, die oder »Es ist scheißegal, wen Du liebst« mehr Reak­ dern aus ganz Deutschland. für richtig halten, die AfD wie jede andere Partei zu man bekommt, wenn man mit klaren Statements behandeln. Wir haben gemerkt, diese Transparenz rausgeht und Haltung zeigt. Damit können sich die wird honoriert. Aber es kostet eben manchmal auch Leute dann identifizieren – und wenn nicht, kön­ Zeit und Nerven. Wir führen nicht jede Diskussion nen sie darüber diskutieren. Das ist, glaube ich, über Stunden hinweg. Wir antworten zwei, drei, vier was die Kampagne so trägt. l Mal. Und wenn wir merken, es läuft sich tot, dann lassen wir’s. Und wir weisen darauf hin, dass man bitte auf unserer Seite nett zueinander ist. Foto Banze: Hoffotografen; Fotos Kampagne: Konstatin Börner Foto Banze: Hoffotografen;

34 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 35 ausschließlich den Gesetzen der Kausalität unter­ worfen (Kapitel 4). Der Bordcomputer HAL lässt in Digitaler Humanismus »2001: Odysee im Weltraum« den Astronauten Da­ ve trotz dessen argumentativer Bemühungen nicht zurück ins Raumschiff und bricht das Ge­ Der kategoriale Unter­ spräch einfach ab, weil sich unsere komplexe ethi­ REZENSION sche Verständigungspraxis des Gebens und Neh­ mens von Gründen, die ein eigenständiges Erfas­ schied von Mensch sen von Sinn und Bedeutung impliziert, nicht algo­ rithmisieren lässt: (Kapitel 11). Vielleicht lässt sich dies – expliziter als im Buch – fassen als die not­ wendige Unterscheidung von einerseits »Intelli­ und Maschine genz«, die auch Computer und Roboter haben können, und andererseits »Bewusstsein« (als »ver­ Julian Nida-Rümelin, Nathalie Weidenfeld: Von Ralf Schöppner körpertes« zu verstehen), das mehr ist als Intelli­ »Digitaler Humanismus – genz und das Maschinen nicht haben können. Eine Ethik für das Zeitalter Künstlicher Intelligenz einen bleibenden kategori­ der Künstlichen Intelligenz«; Worum geht es bei »digitalem geb., mit Schutz­umschlag, alen Unterschied von Mensch und Maschine, von Zusammen mit dem Simulationsargument, das Humanismus«? An einer Antwort 224 S., € 24,-; ISBN: 978-3- Gehirn und Computer, zu begründen. Maschinen im Übrigen nicht ausschließt, dass Maschinen 492-05837-7 versucht sich das Buch »Digitaler können nicht empfinden, nicht entscheiden, nicht manche Dinge besser und schneller erledigen kön­ Humanismus. Eine Ethik für das denken und keine moralischen Urteile fällen. Sie nen als Menschen (z.B. Verarbeitung großer Da­ Zeitalter der Künstlichen Intelligenz« können – so Nida-Rümelin und Weidenfeld – all tenmengen oder Berechnungen), spielt im Buch von Julian Nida-Rümelin und Nathalie das nur simulieren. Ava gaukelt Caleb in »Ex Ma­ die Grundannahme einer weitgehenden »Unver­ china« Gefühle vor, sie hat aber nicht wirklich wel­ änderlichkeit der Menschennatur« (S. 206) bzw. »menschliche Autorschaft«: Dass Menschen die Weidenfeld. Das Thema wird im Buch che und versteht auch nicht, was es heißt, Gefühle der menschlichen Lebensform eine zentrale argu­ Möglichkeiten der Technik ethisch bewusst für sowohl in seiner Breite behandelt als zu haben (Kapitel 3). In »Matrix« kann Neo am En­ mentative Rolle: Menschen haben spezifische na­ sich nutzen, anstatt sich ihr zu unterwerfen. Das auch ansprechend und zugänglich de eine von Gründen geleitete Entscheidung tref­ türliche Eigenschaften, die sich auch durch Digita­ ist natürlich nicht neu, aber auch nicht deswegen vermittelt. fen, er ist nicht wie die Maschinen lisierung nicht ändern. Dieser relativ starke essen­ falsch. tialistische Grundzug wird unter Humanistinnen und Humanisten zu diskutieren sein. Gerät so nicht Gelegentlich scheinen die philosophischen Aus­ ie insgesamt 19 Kapitel des Buches setzen aus dem Blick, dass auch das Verständnis des führungen etwas zu sehr im Modus des Behaup­ stets mit filmischen Beispielen ein – »I, Ro­ »Menschlichen« sich historisch ändern kann? Dass tens oder Sollens (»wir sollten …«) und Dürfens bot«, »Matrix«, »Ex Machina«, »Blade Run­ z.B. der Mensch, so wie wir ihn heute kennen, sich (»wir dürfen nicht …«) gehalten zu sein. Was z.B. im Dner« u.a. – und entfalten davon ausgehend unter­ unter Verkümmerung des heute als »menschlich« Kapitel 4 zur Willensfreiheit hervortritt: Dass die haltsam ihr jeweiliges Thema: Digitale Simulation Geltenden durchaus in Richtung »Maschine« ent­ Verneinung des Vorhandenseins von Willensfrei­ von Gefühlen; warum KIs nicht denken können; wickeln kann? Was sich ja durchaus schon manch­ heit nicht unseren Gefühlen, unserem Selbstbild zur Ethik der Kommunikation im Internet; die Uto­ mal beobachten lässt. Wir hätten dann nicht etwa oder unserer Lebensform entspricht, ist ja nicht pie der Liquid ; die transhumanistische Maschinen gebaut, die Menschen simulieren, son­ ohne weitere Erklärungen ein Beleg für ihr Vor­ Versuchung etc. Auf diese Weise wollen die dern die Menschen hätten sich ein Beispiel an den handensein, denn wir können uns über uns täu­ Literaturwissenschaftlerin und Filmtheoretikerin Maschinen genommen. schen. Hier wird man zusätzlich auf andere ein­ Nathalie Weidenfeld und der Philosoph und Wis­ schlägige Publikationen von Nida-Rümelin zurück­ senschaftstheoretiker Julian Nida-Rümelin die Wenn Nida-Rümelin und Weidenfeld über die greifen müssen. »trockene philosophische Analyse mit fiktionalen »Silicon-Valley-Ideologie«, die »Digitalisierungsi­ Welten« verbinden, um das Ganze »erfahrungsge­ deologie« oder die »KI-Ideologie« schreiben, so la­ Das Buch hat einführenden Charakter und lie­ sättigter und lebensnaher zu machen« (S. 14). Die den sie uns sinnigerweise zum Nachdenken darü­ fert als solches reichlich Denkanregungen. Wer filmischen Beispiele – das muss man sich als Lese­ ber ein, ob diesen nicht die irrige Annahme einer sich mit den »digitalen Themen« schon intensiver rin oder Leser klarmachen – dienen dabei nicht als vollständigen Mathematisierbarkeit der Welt und beschäftigt hat, wird aber eher von den philoso­ Belege für die vertretenen Thesen, sondern zu de­ des menschlichen Lebens zugrunde liegt. Den »di­ phischen Erörterungen in humanistischer Pers­ ren Illustration. gitalen Humanismus« sehen sie als eine Alternati­ pektive profitieren können. Diese wiederum sind ve zu diesen »Ideologien«, eine Ethik für das Zeit­ stellenweise anspruchsvoll, aber hier – und das ist Das humanistische Kernstück des Buches ist alter der künstlichen Intelligenz. Jenseits von Tech­ gut so – nicht zugeschnitten auf philosophisches

das Anliegen, angesichts von Digitalisierung und Regan Geeseman James Blair, Foto Roboter: Wikimedia Commons/NASA/Bill Stafford, nikeuphorie und Technikfeindschaft gehe es um Fachpublikum. l

36 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 37 Medienauftritten, Interviews, Podiumsdiskussio­ Christian war mit acht anderen Ärzt*innen Be­ nen und Filmdokumentationen. Die ARD brachte schwerdeführer gegen den § 217 StGB, worüber 2012 eine Dokumentation über seine Arbeit, sein Le­ das Bundesverfassungsgericht am 16. und 17. Ap­ ben, seine Hobbys, wozu das Golfspielen gehörte. ril verhandelte. Er hatte eigentlich so lange »noch durchhalten« wollen, doch sein Statement musste Christian war ein neugieriger, gescheiter, viel­ dort ohne ihn verlesen werden. seitig interessierter Mensch. Herziehend über sei­ ne standes- und parteipolitischen Widersacher so­ Patient*innen und ihre Angehörigen waren wie alles Klerikal-Religiöse, eckte er oft an, hinzu Christian gegenüber voll Dankbarkeit und Vereh­ kam seine Berliner Schnodderigkeit. Doch ließ er rung. In Kondolenzschreiben klagt jetzt z. B. eine auch erkennen, wie sehr ihn die schweren Schick­ Familie: »Ein Mensch ist nicht mehr da, der uns per­ sale seiner Patient*innen oft mitnahmen. sönlich Zuversicht gab.« Eine langjährige Patientin schreibt: »Ich verdanke ihm, dass ich doch wieder – Christian konnte in aller Beiläufigkeit beeindru­ weitgehend – angstfrei in die Zukunft blicken kann cken und nicht nur mit seiner umfassenden Bil­ im Wissen, mir notfalls selbst helfen zu können.« dung und Herzenswärme, sondern auch mit un­ Und ein Sohn, dessen querschnittgelähmter Mut­ zähligen prominenten Bekanntschaften und sub­ ter Christian über ein Jahrzehnt hilfreich zur Seite tilen Kenntnissen über alles Mögliche. Er las viel, stand: »… fühlt sich sein Tod für mich an, als wäre täglich, verschlang Bücher regelrecht. Schließlich jemand aus unserer Familie gestorben. … Ohne ihn schrieb er selbst eines, mit dem Titel »Letzte Hilfe«. wäre das Sterben meiner Mutter so viel anders, frü­ Seine Begeisterung etwa für alte Spielfilme oder her und viel weniger würdevoll gewesen.« Opernaufführungen übertrug er gern auf sein Ge­ genüber. Die Pointe seiner häufig zum Besten ge­ Kolleg*innen haben nach Christians Tod zum Uwe Christian Arnold gebenen, teils derben Witze endete meist unter ei­ Ausdruck gebracht, wie sehr sie bei ihm den Mut genem Lachen, mit um Zustimmung heischendem bewunderten, als »Querulant« gegen Autoritäten »Ist der nicht gut?!« vorzugehen. Das bezog sich auch auf ein 2007 ein­ Ein Nachruf geleitetes Gerichtsverfahren zwischen ihm und Christan wandte sich gegen eine profitorien­ der Berliner Ärztekammer, welches fünf Jahre spä­ Von Gita Neumann tierte »Lebensverlängerungs-Medizin« und erst ter durch das Berliner Verwaltungsgericht zu sei­ recht gegen die Bevormundung durch Staat und nen Gunsten entschieden wurde. Deutschlands bekanntester Sterbe- und Suizidhelfer, der Berliner Arzt Kirche. Dies brachte ihn, der immer schon areligös eingestellt war, in eine teils erbitterte Gegner­ Nur für einen engsten Kreis hat gemäß seinem Uwe Christian Arnold (1944-2019), ist aufgrund schwerer Erkrankung bei schaft zu Religions- und Hospizvertreter*innen, letzten Wunsch der Humanistische Verband Ber­ sich zu Hause selbstbestimmt gestorben. die eine Sterbebegleitung bis zum bitteren Ende lin-Brandenburg eine säkulare Urnenfeier ausge­ verabsolutieren, so aussichtslos leidvoll dies auch richtet. Unsere Anteilnahme gilt seiner Ehefrau sei. und Gefährtin Helga Arnold und den drei Söhnen we Christian Arnold wurde von allen schen einen anderen Arzt nicht hatten finden kön­ jeweils mit Familie, wobei Christian auf insgesamt Freund*innen, wie auch hier von mir, nur nen. Auf seine Hilfsbereitschaft und Zuverlässig­ Er starb am 12. April zu Hause, selbstbestimmt, acht Enkelkinder stolz sein konnte. l Christian genannt. Wir trauern um ihn, keit war absolut Verlass. wie es so schön heißt, als Kraftlosigkeit und Lei­ Uder den Schalk im Nacken hatte und das Leben denssymptome im Endstadium seiner Krebser­ Gita Neumann, ehemalige Referentin für Lebenskunde liebte. Als Facharzt für Urologie war er von 1980 Ich lernte ihn zur Jahreswende 1999 / 2000 bei krankung unerträglich wurden. Lange hatte er da­ im HVD BB, war eine langjährige Wegbegleiterin und bis 2000 in eigener Praxis tätig, später auch als Be­ meiner Tätigkeit im Humanistischen Verband gegen angekämpft. Freundin von Uwe-Christian Arnold und seiner Familie. triebsarzt. Seit Ende der neunziger Jahre beschäf­ Deutschlands kennen. Eine erste gemeinsam kon­ tigte er sich zunehmend mit Fragen des Humanen zipierte Fernsehaufnahme mit ihm als Sterbehel­ Sterbens. Zu guter Letzt stand er wie kein anderer fer in unserer Geschäftsstelle musste damals noch Mediziner in Deutschland aufgrund seiner hun­ vollständig anonymisiert werden – gezeigt wurden dertfach geleisteten ärztlichen Suizidassistenz im nur seine Beine. So offen und ehrlich, wie Christian Lichte der Öffentlichkeit. In ganz Deutschland hat­ dies im Laufe der Zeit tat, hat sich kein deutscher ten sich in den letzten 20 Jahren schwerstleidende Arzt zur praktizierten Sterbehilfe bekannt. In der Patient*innen an ihn gewandt. Christians »letzte Sendung »Hart, aber fair« stellte er die ärztliche Hilfe« war für ihn keinesfalls eine bequeme, aber Sterbebegleitung inklusive Freitodhilfe menschlich

konsequente Reaktion darauf, dass diese Men­ überzeugend dar. Er erhielt unzählige Anfragen zu Foto Arnold: Evelin Frerk

38 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 39 Hoffman war als preußischer Kultusminister So gingen Hoffmann und Haenisch, zunächst bereit, die ihm durch die Novemberevolution zuge­ noch gemeinsam handelnd, daran, kirchliche Privi­ Die gescheiterte fallene Macht zu nutzen, um grundlegende Verän­ legien zu beseitigen. Schnell verfügten sie die Frei­ derungen im Verhältnis zwischen Kirche und Staat willigkeit des Religionsunterrichts für Schüler*in­ durchzusetzen. Jedoch zeigte sich schnell, dass nen und Lehrer*innen sowie das Ende der geistli­ Trennung von Kirche Macht und Einfluss der konservativen und klerika­ chen Schulaufsicht. Ihre Erlasse sahen nicht vor, len Kräfte viel stärker waren, als es in der revoluti­ den Religionsunterricht aus der Schule verbannen, onären Situation des Novembers 1918 den An­ sondern nur religiöse Handlungen wie Schulgebe­ und Schule in der schein hatte. Dies und die unterschiedliche Heran­ te etc. Weitergehende Eingriffe, wie etwa die Ein­ gehensweise seines SPD-Kollegen Haenisch, der führung der weltlichen Schule, unterließen sie. Ihr ebenfalls Freidenker war, führten bald zum Schei­ Handeln ging nicht über Forderungen hinaus, wie tern des Versuchs, den kirchlichen Einflusses aus sie beispielsweise auch der Deutsche Lehrerverein Weimarer Republik der Schule zu beseitigen. erhoben hatte. Im Namen der Revolution vollzo­ gen sie längst überfällige Reformen, wie das auch Von Michael Schmidt Das preußische Volksschulunterhaltungsgesetz in anderen gesellschaftlichen Bereichen bereits

HUMANISMUS HISTORISCH von 1906 hatte den konfessionellen Charakter der geschehen war. HUMANISMUS HISTORISCH Die vor 100 Jahren in Kraft getretene Weimarer Verfassung bewerkstelligte die Volksschule festgeschrieben. Vor allem in den Trennung von Kirche und Staat. Jedoch handelte es sich hierbei um eine unvoll­ ländlichen Gebieten lag die Schulaufsicht in der Dennoch erhob sich nunmehr ein wahrer Pro­ Hand der Kirchen. So war u.a. der Ortsgeistliche teststurm. Die ohnehin sehr unwillige Schulverwal­ ständige Trennung, viele Privilegien der Kirchen blieben erhalten. Am misslichsten­ qua Amt nicht nur Mitglied, sondern auch in der tung machte den Anfang. Ungeachtet der revoluti­ wirkte sich das im Bereich des Schulwesens aus: Den Kirchen gelang es, fast alle Regel der Vorsitzende des Schulvorstands. Der Re­ onären Umwälzungen, die stattgefunden hatten, Regelungen aus dem Kaiserreich in die Weimarer Republik hinüberzuretten. ligionsunterricht war mit bis zu vier Wochenstun­ wies das brandenburgische Provinzialschulkollegi­ den eines der Hauptfächer und Prüfungsfach. um darauf hin, dass diese Anordnungen der gel­ tenden Gesetzeslage widersprächen. Auch die Di­ ie Beseitigung des kirchlichen Einflusses rektoren der höheren Schulen in Berlin und der auf die Schule wurde bereits vor der No­ Provinz Brandenburg protestierten heftig. Schließ­ vemberrevolution nicht nur von freidenke­ lich teilten Regierungsbeamte aus dem Rheinland Drischen Organisationen, sondern auch von Lehrer­ und aus den damals noch preußischen Provinzen verbänden und dem liberalen Bürgertum gefor­ Posen und Oberschlesien mit, dass das Vorgehen dert. Die SPD ging in ihrem Parteiprogramm noch des Kultusministeriums die dortigen separatisti­ weiter und forderte die weltliche Schule. Damit schen Tendenzen begünstige und somit die Ein­ verbunden war die Hoffnung auf eine grundlegen­ heit des Reiches gefährde. de Reform des Schulwesens und das Ende der Pauk- und Prügelpädagogik. Mit der Novemberre­ An der Spitze der Protestbewegung stand je­ volution schien der Zeitpunkt gekommen, dies doch die katholische Kirche. Der Kardinalstaatsse­ durchzusetzen. Vor dem Hintergrund der zwischen kretär des Vatikans, Pietro Gasparri, hatte in einem SPD und USPD vereinbarten Parität übernahm der Schreiben an den Erzbischof von Köln die deut­ USPD-Politiker Adolph Hoffmann gemeinsam mit schen Bischöfe darin bestärkt, »sich kraftvoll zum Konrad Haenisch von der SPD am 12. November Schutze der bedrohten Rechte [zu] erheben und 1918 das preußische Kultusministerium. für die Aufrechterhaltung einer Volksschule ein[zu] treten, die zum Grundpfeiler den Religionsunter­ Wie kein anderer war Hoffmann mit seiner Vita richt hat«. Entsprechend intervenierten die katho­ prädestiniert, die Trennung von Schule und Kirche lischen Bischöfe nunmehr massiv, und zwar nicht voranzutreiben. Er gehörte zu den führenden Köp­ nur in Preußen, sondern reichsweit. In diversen fen der freidenkerischen Bewegung, u.a. war er Protestschreiben und Hirtenbriefen vertraten sie seit 1873 in der Berliner freireligiösen Gemeinde einen kompromisslosen Standpunkt, der auf die aktiv. Seine religionskritische Schrift »Die zehn Ge­ Erhaltung ihrer bisherigen Privilegien zielte. bote und die besitzende Klasse« hatte eine riesige Auflage erreicht. Er hatte Prozesse gegen das Evangelische Gremien waren etwas moderater preußische Kultusministerium geführt, um die Be­ im Ton, verwahrten sich aber ähnlich wie die staat­ freiung seiner Kinder vom Religionsunterricht zu lichen Verwaltungen dagegen, dass »auf Gesetzen

erreichen. Eine Klasse der weltlichen Rütlischule in Berlin-Neukölln, 1926. beruhende Zustände durch andere als gesetzliche Foto Klasse: HVD Kulturhistorisches Archiv

40 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 41 konnte er sich der vorgetragenen Argumentation hinsichtlich der fragwürdigen Rechtsgrundlage Band 7 in der Schriftenreihe der getroffenen Maßnahmen nicht entziehen. der Humanistischen Akademie Hoffmann dagegen hatte die revolutionäre Gunst Deutschland: der Stunde nutzen wollen, um möglichst viele un­ umkehrbare Tatsachen zu schaffen. Humanistische Interventionen Nachdem die USPD am 3. Januar 1919 ihre Mi­ nister aus der Regierung zurückgezogen hatte, be­ Praktische Menschlichkeit mühte sich die nunmehr allein von der SPD gestell­ in der Gegenwart te preußische Regierung, das Verhältnis zu den Frieder Otto Wolf Kirchen zu entspannen. Alle unter Mitwirkung von Hoffmann verabschiedeten Erlasse wurden einge­ schränkt oder außer Kraft gesetzt, den Kirchen Der Band versammelt einige neue Seit 2001 arbeitet Frieder Otto und bislang unveröffentlichte Texte versichert, dass die endgültige Regelung dieser Wolf daran, sein Modell des inklusive zweier unveröffentlichter Fragen der Nationalversammlung vorbehalten praktischen Humanismus näher Interviews neueren Datums sowie zu bestimmen – nicht primär als 7 eine Reihe von älteren und bisher blieb. systematische Gesamtkonstruktion, nur verstreut – in Zeit schriften sondern in einer Folge von Stellung- oder online – publizierten Texten: In der Nationalversammlung ließ sich die SPD nahmen aus aktuellen Anlässen. Aus konzeptuelle und begriffliche Konkretisierungen zu Welt- auf einen Kompromiss mit der katholischen Zent­ diesen Konkretisierungen speisen sich immer wieder Versuche zu einer weiter- anschauung, Welt anschauungs- rumspartei ein, der letztlich jeden Versuch, das Titelblatt der Zeitschrift Freie Schulgemeinde gehenden Artikulation von Grundsätzen pflege, Bekenntnis, Humanistik Schulwesen zu entkonfessionalisieren, zunichte des praktischen Humanismus sowie und Humanismus forschung. machte. Die bestehende Rechtslage wurde bis Stellungnahmen zu benachbarten 324 Seiten, kartoniert, Alibri Verlag; philo sophisch-politischen Positionen. ISBN 978-3-86569-291-7, € 25,– zum Erlass eines Reichsschulgesetzes festge­ Anordnungen, insbesondere durch Verfügungen schrieben. Ein solches Gesetz kam jedoch ange­ einer vorläufigen Regierung, abgeändert werden«. sichts der völlig konträren Auffassungen der Par­ teien in der Schulpolitik nie zustande. Mit der ver­ Obwohl es den Großkirchen bei ihrem Kampf fassungsrechtlich abgesicherten Bewahrung der um die christliche Schule eher darum ging, einen vorrevolutionären Rechtslage blieb das preußische drohenden Machtverlust zu verhindern, gelang es Volkschulunterhaltungsgesetz von 1906 in Kraft. ihnen, eine große Zahl von Gläubigen für dieses Damit blieb dort – und das betraf zwei Drittel des Schulbuch Ziel zu mobilisieren. Die Argumentation, dass die Deutschen Reiches – nicht nur der Religionsunter­ Thematisch ist das Buch in 6 Kapitel Abschaffung des Religionsunterrichts als Pflicht­ richt ordentliches Lehrfach, sondern auch die Zu­ Humanistische gegliedert: fach die Religionsfreiheit bedrohe, verfing bei vie­ sammensetzung der Schuldeputationen unverän­ Lebenskunde 1. Ich bin Teil der Natur len Gläubigen. Sie hielten es offenkundig für ihr dert. 2. Ich und die anderen gutes Recht, dass die staatliche Schule die Kinder Band 1 3. Alle anders – alle gleich in ihrem konfessionellen Sinn zu erziehen habe. Letztlich durchgesetzt werden konnte nur die Befreiung von der Erteilung bzw. Teilnahme am 4. Selbst entscheiden Haenisch, der aufgrund einer Erkrankung Hoff­ Religionsunterricht. Auch das Vorhaben, zumin­ 5. Die Welt verstehen manns seit dem 10. Dezember 1918 die Amtsge­ dest für die große Anzahl der in den Hochburgen 6. Das Leben gestalten schäfte alleine führte, geriet ob dieses heftigen der Arbeiterbewegung vom Religionsunterricht Die Kapitel orientieren sich an den Gegenwinds in ein Dilemma. Im Prinzip teilte er abgemeldeten Kinder weltliche Schulen einzurich­ Postulaten des Rahmenlehrplans für den die Auffassungen Hoffmanns, aufgrund des mas­ ten, gelang im Verlauf der Weimarer Republik nur Humanistischen Lebens kundeunterricht: Naturzugehörigkeit, Verbundenheit, siven Widerstands lenkte er aber ein – wohl auch gegen erhebliche Widerstände aus Kirchen und Gleichheit, Freiheit, Vernunft und l Ab dem Schuljahr 2019/2020 steht den Weltlichkeit. unter dem Druck seiner Partei, die angesichts der bürgerlichen Parteien. Berliner und Brandenburger offenkundig recht erfolgreichen Kampagne der Lebenskundelehrer*innen erstmals ein Das Buch ermöglicht den Kindern auf Kirchen Stimmenverluste bei den bevorstehenden Schulbuch zur Verfügung. Gedacht ist spielerische Weise den ersten Kontakt Michael Schmidt ist Diplom-Politologe­ das im März 2019 erschienene Buch zur weltlich-humanistischen Wahlen zur Nationalversammlung fürchtete. Er und arbeitete bis zu seinem Ruhe­ vorrangig für die Klassenstufen 1 und 2. Weltanschauung. vertrat nunmehr die sozialdemokratische Haltung, stand in der Abteilung Bildung des Großformatige Illustrationen laden die Bestellung unter www.lebenskunde.de HVD Berlin-Brandenburg. Er war die Entscheidungen über die innere Struktur der Kinder dazu ein, sich mit Fragen über oder 030 61390467 zum Preis von u.a. Projekt­leiter der Aus­stellung sich und die Welt zu beschäftigen. € 12,– (plus Porto). zu schaffenden neuen Staatsform demokratisch »Humanisten im Fokus – Zerstörte

legitimierten Gremien zu überlassen. Dadurch Vielfalt«. Foto Schmidt: Arik Platzek Foto Plakat: HVD Kulturhistorisches Archiv;

42 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 diesseits · Jahrgang 33 · Heft 125 43 ohne diesseits fehlt etwas diesseits gibt’s seit 1987 jetzt auch online zum kostenlosen Download: www.diesseits.de/ download