Nummer 1/2015

Beilage BadKreuznacher Heimatblätter

Waldflora und Holzwirtschaft im -Hunsrück-Raum Ein historischer Überblick

VON RAINER SEIL, RÜDESHEIM AN DER NAHE

1. Naturräumliche und botanische Grundlagen

Der Nahe-Hunsrück-Raum mit Hunsrück und ist der südliche Teil des Rhei- nischen Schiefergebirges, dessen Gesteine stark vergröbert gesehen im Norden dem Devon (Schiefer, Quarzit) zuzuordnen sind, während sich südlich daran die Gesteine und die daraus resultierenden Böden aus der Zeit des Rotliegenden anschließen, die teilweise vulkanischer Herkunft sind. Der eigentliche Hunsrück ist auf seiner Hoch- fläche etwa 350 bis 500 Meter hoch. Der Soonwald erreicht Höhen von über 650 m und der Erbeskopf im Idar-Wald stellt mit 816 m die höchste Erhebung in Rheinland- Pfalz dar.

Das Klima des Untersuchungsgebietes ist sehr variabel. In den höchsten Lagen des Hunsrücks werden im langjährigen Jahres- mittel Januartemperaturen von -2,5 Grad Celsius ermittelt. Im Juli liegen sie bei +13,5 Grad Celsius. Wesentlich wärmer ist es in den geschützten Tallagen von Mosel, Nahe und Mittelrhein. Im Jahresdurchschnitt kommen 47 Prozent aller Winde aus Süd- west und West, 35 Prozent aus Nordwest bis Nordost und 8 Prozent aus Süd bezie- hungsweise Südost. An 25 bis 30 Tagen im Jahr treten Stürme auf mit Windstärke 8 und mehr. Davon entfallen 80 Prozent auf das Halbjahr November/April und nur 20 Prozent auf die Zeit von Mai bis Oktober.

Die natürliche Vegetation unseres Rau- mes (potenzielle Klimaxvegetation) war ur- sprünglich ein reines Laubwaldgebiet. Als heimische Koniferen gelten lediglich Wa- cholder (Juniperus communis) und Wald- kiefer (Pinus sylvestris). Der bedeutende deutsche Forstwissenschaftler Hans Haus- rath (1866–1945) nahm an, dass für die Zeit um 1300 in Deutschland der Anteil des Laubwaldes bei 75 Prozent lag, der des Na- delwaldes bei 25 Prozent.

Von Natur aus überwog in weiten Teilen unserer Region der Rotbuchen-Hochwald. Die Rotbuche (Fagus sylvatica), einst die vorherrschende Baumart in Deutschland und Mitteleuropa, kann sich unter günsti- Fundstelle: Karl Hasel, Vom Urwald zum Wirtschaftswald, 1987, S. 28 2 (Seite 2 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 1/2015

türlichen Verbreitungsgebiete liegen in den höheren Mittelgebirgen oberhalb 800 Me- tern und in den Alpen bis 2000 Meter. Bo- taniker rechnen sie zur subalpinen Zone. In den ursprünglichen Wuchsgebieten erreicht der Baum eine stattliche Höhe von bis zu 70 m. Die Fichte wäre damit das höchste Ge- hölz in Europa. In der Regel sind es aller- dings nur 30 bis 50 m.

Rheinland-Pfalz gilt als waldreiches Bun- desland. Der Waldanteil des Staatsgebiets der Bundesrepublik Deutschland beträgt heute etwa 30 Prozent. In Rheinland-Pfalz liegt der Waldanteil bei 42 Prozent. Beson- ders bewaldet sind die Gebiete der ehema- ligen Regierungsbezirke Koblenz (44 Pro- zent der Fläche) und (42 Prozent der Fläche). Waldärmer sind, vom Pfälzer Wald abgesehen, die südlichen Teile unseres Bundeslandes, bedingt vor allem durch das waldarme Rheinhessen und die dicht be- siedelten Anteile an der Oberrheinischen Tiefebene. Im Landkreis Bad Kreuznach sind besonders die nördlich des Kreisge- bietes liegenden Regionen stark bis fast aus- schließlich bewaldet (Hunsrück, Soonwald). Südlich der Nahe nimmt die Bewaldung ab und leitet im Osten des Kreisgebietes all- mählich zum waldarmen rheinhessischen Hügelland über.

2. Vegetationsveränderungen seit dem Mittelalter

2.1. Mittelalter und frühe Neuzeit

Hier wie anderswo hat seit über 1000 Jah- ren der Mensch massiv in das natürliche Fundstelle: Karl Hasel (wie oben), S. 29 Pflanzenkleid eingegriffen und es stellen- weise völlig umgestaltet. Im dicht besiedel- ten Mitteleuropa gibt es im Grunde ge- nommen keine urtümlichen Landschaften gen Bedingungen zu einem stattlichen Baum wirtschaft treffen wir sie jedoch häufig in mehr. Selbst heute urig anmutende Baum- von bis zu 40 Metern Höhe entwickeln. Sie mehrstämmigen Exemplaren von meist bis riesen in früheren Hudewäldern [Hüte- be- ist ein typisches Schattholz und gegenüber zu zehn Metern Höhe an. In den weiter süd- ziehungsweise Weidewälder] sind das Er- anderen Gehölzen sehr dominant. Außer lich an den Soonwald anschließenden Fluss- gebnis früherer anthropogener, das heißt der Buche gedeihen in ihrem Schatten tälern waren von Natur aus Eichen-Hain- durch den Menschen vorgenommener kaum andere Gehölze oder Pflanzen, wes- buchenwälder verbreitet, da es hier schon halb sich von Natur aus ziemlich reine Bu- wesentlich trockener ist. chenbestände herausbilden, in unserer Re- gion in ihrer äußerst artenarmen Form. An wenigen klimatisch besonders son- nenexponierten Hängen unserer Region ha- Das natürliche Areal der Rotbuche deckt ben sich teilweise bis heute submediterrane sich mit den gemäßigten Regionen Europas. Gehölze erhalten, beispielsweise an den Hemmend wirken ihre mangelnde Frostre- Felsköpfen im Mosel-, Nahe- und Mittel- sistenz (vor allem im Osten) und ihre Emp- rheintal. Häufig werden solche Standorte findlichkeit gegenüber Dürre und Hitze. In- heute von Weinbergen eingenommen. Cha- teressant ist in diesem Zusammenhang, rakterarten bei den in Mitteleuropa sonst dass in Mitteleuropa unter natürlichen Vo- seltenen Gehölzen sind zum Beispiel die raussetzungen in Bergregionen Nadelwäl- Elsbeere (Sorbus torminalis), der Felsen- der sich an die Laubwälder anschließen. Im ahorn (Acer monspessulanum), die Weich- Mittelmeerraum verhält es sich dagegen sel (Prunus mahaleb) und weitere eher umgekehrt. Dort bildet die Rotbuche die strauch- und krautartige Pflanzen. Elsbeere obere Waldgrenze (zum Beispiel auf Korsi- und auch Felsenahorn haben ihren Ver- ka). breitungsschwerpunkt in Südeuropa. In der Botanik werden sie als äußerst wärmelie- Das zweite wichtige Laubgehölz in un- bende Gehölze der submediterranen Xe- serem Raum ist die Trauben-Eiche (Quer- rothermvegetation [aus dem nördlichen cus petraea), der Baum des Jahres 2014. Sie Mittelmeerraum stammende Pflanzen, die ist eine klassische Lichtholzart und erlaubt Wärme lieben und Trockenheit ertragen] auch andere Gehölze und Sträucher in ihrer zugeordnet. In Mitteleuropa kommt der Fel- Umgebung, weshalb an ihren Standorten senahorn weit nördlich isoliert nur in den die Boden- und Strauchflora abwechs- Tälern von Nahe, Mittelrhein und Mosel vor lungsreicher und vielfältiger gestaltet ist als (Weinbauklima). Felsenahorn (Acer monspessulanum). im Buchenhochwald. Auch die Traubenei- Fundstelle: Alfred Blaufuß, Charakteristische Pflanzengesellschaften che kann unter günstigen Wachstumsbe- Der Vollständigkeit halber sei bereits an und Pflanzen des mittleren und unteren Nahegebietes aus ökologi- dingungen stattliche 40 Meter Höhe errei- dieser Stelle zum besseren ökologischen scher und geographischer Sicht, Bad Kreuznach 1983 (Heimat- kundliche Schriftenreihe des Landkreises Bad Kreuznach, Band 13, chen. Bedingt durch die im Nahe-Huns- Verständnis als wichtigstes Fremdgehölz 2. Aufl.), S. 39 rück-Raum lange betriebene Niederwald- die Fichte (Picea excelsa) genannt. Ihre na- Bad Kreuznacher Heimatblätter - 1/2015 (Seite 3 des Jahrgangs) 3

treiben. Hierbei wurden zwei kleine ßige Holzentnahme in der Nähe der Eisen- Schweine als eines gerechnet. Die Tiere hütten vor allem auf Kosten der Buche. Um wurden vor dem Eintrieb gezählt und er- 1800 verbrauchte jede der drei Soonwald- hielten am Ohr eine Einkerbung. Rüben, hütten etwa 80 Hektar Kohlholz. Die Holz- Kartoffeln und andere Futterpflanzen wa- kohlenmeiler wurden erst am Ende des Ers- ren noch weitgehend unbekannt bezie- ten Weltkrieges im Soonwald gelöscht. Die- hungsweise in der Viehhaltung nicht üb- se Bewirtschaftungsform hatte einen er- lich. Bis weit ins 18. Jahrhundert war die heblichen Anteil an der Walddezimierung Waldweide die wichtigste Grundlage der unserer Region. Es wurde mehr Holz benö- heimischen Viehhaltung. Erst danach ka- tigt als nachwachsen konnte, sodass in den men Stallhaltung und Stallfütterung auf. späteren Jahren die Eisenwerke verstärkt auf Steinkohle zurückgreifen mussten. Zur Bauholzentnahme kann im histori- schen Rückblick festgehalten werden: Bis Die Pottaschegewinnung tat ein Übriges. zum Ende des 14. Jahrhunderts wurden Pottasche war wichtiger Rohstoff zur Dün- Häuser ausschließlich aus Holz- und Holz- ger-, Glas- und Seifenherstellung. Hierzu fachwerk gebaut. Elf Orte des Amtes Win- eignete sich aufgrund ihres kalihaltigen terburg, des Oberamtes Kreuznach und das Holzes die Buche ganz besonders mit ent- Dorf entnahmen das not- sprechend schwerwiegenden Folgen für wendige Bauholz aus dem nahen Soonwald. diese Baumart. Allein zwischen Pferdsfeld Danach wurde das „Halbsteinhaus“ favori- und wurden zeitweise bis zu 20 siert und entsprechend strenge Vorschriften Pottaschekessel betrieben. Um fünf Kilo- für Bauwillige erlassen. Allgemein wurde gramm Glas herzustellen, benötigte man erst dann neu gebaut, wenn das Vorgän- fünfzig Kilogramm Pottasche, zu deren Her- gergebäude sich in einem so desolaten Zu- stellung ein Festmeter Buchenholz erfor- stand befand, dass es unbewohnbar, schon derlich war. Auch die Salinen fraßen Un- fast einsturzgefährdet war. Geplant wurde mengen Holz zur Befeuerung der Salzsie- Elsbeere (Sorbus torminalis). ein neues Wohnhaus für mehrere Genera- deanlagen. Fundstelle: Alfred Blaufuß (wie oben), S. 42 tionen. Es durfte nur in gleicher Größe wie- der neu gebaut werden. Der erste Stock war Ab Mitte des 18. Jahrhunderts zeichnete in Steinbauweise auszuführen. Für den sich eine steigende „Holznot“ ab. Vieh- zweiten Stock und das Dach wurde Holz be- wirtschaft und übermäßige Holzentnahme Waldnutzungen. Unsere Region, insbeson- nötigt. Ein Forstbeamter wies zuerst Wind- hatten vor allem den Gemeindewaldungen, dere die Waldgeschichte des Soonwaldes, fall als Bauholz zu, dann Aspe und Erle, zu- aber auch den herrschaftlichen Wäldern ist schon seit langem forsthistorisch und letzt die wertvollere Eiche. nachhaltig geschadet. Der kurpfälzische forstwissenschaftlich genau untersucht und Kurfürst Carl Theodor, um nur den be- in zahlreichen Publikationen dokumentiert Nach dem Dreißigjährigen Krieg lebte kanntesten Landesherrn seiner Zeit im Süd- worden. der Hollandholzhandel auch in unserer Re- westen zu benennen, erkannte diese Prob- gion wieder auf. Es gab ihn nicht nur im lematik und legte zumindest ansatzweise Anthropogene Eingriffe in die Vegetati- Schwarzwald. In früheren Jahrhunderten den Grundstein zu einer modernen Forst- onsentwicklung geschahen in unserem konnten die bedeutenden Seefahrernatio- wirtschaft. Er ließ zur Ausbildung des Forst- Raum hauptsächlich auf Kosten des Laub- nen Holland und England das notwendige personals eigens eine „Hohe Kameralschul“ waldes, allem voran auf Kosten der Buche. Bauholz für ihre umfangreichen, schon da- in Kaiserslautern gründen. Diese Einrich- Gelegentlich hört man den überspitzten mals global agierenden Schiffsflotten nicht tung wurde 1784 mit der Universität Hei- Spruch, dass wir in einem natürlichen Bu- aus ihren heimischen Wäldern decken. Hol- delberg vereinigt. chenwaldgebiet ohne Buchen wohnen. Im ländische Floßherren kauften vor allem im Mittelalter und in der frühen Neuzeit waren südlichen Soonwald die besten und größten An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhun- jedoch vor allem die Eichen begehrt, da die Eichen auf. Das Holz wurde auf der Nahe dert erfolgten in der heimischen Forstwirt- Eicheln, weniger die Bucheckern, eine zum Rhein geflößt. Von 1720 bis 1750 kam schaft tiefgreifende Änderungen. Der in wertvolle Viehnahrung darstellten. Aus die- es in den Hoch- und Mittelwäldern wald- geborene Johann Peter Kling sem Grund wurden Schweine und andere reicher Gemeinden (zum Beispiel Bocke- (1749–1808) gilt als Begründer der moder- Haustiere zur Mast in den Wald getrieben. nau) zu regelrechten Plünderungen. Frei- nen Forstwirtschaft in der Kurpfalz und in Es galt der Spruch, dass in Eichenwäldern lich eigneten sich die genannten Huns- Bayern. Er regte den Anbau von Nadelhöl- die besten Schinken wachsen. Fraßen die rückbäche nicht auf Dauer zu einer Trift. Tiere dagegen überwiegend ölhaltige Ein Versuch, Holz auf dem Ellerbach von Bucheckern, galt ihr Fleisch als weniger aro- der Daubacher Brücke über Kreuznach zur matisch. Im Soonwald wurde zwischen Nahe zu flößen, erwies sich als Fehlschlag. Rauh- und Schmalzweide unterschieden. Etwas erfolgreicher verlief die Holztrift auf Die Rauhweide (auch Blumen- bzw. Rauch- dem Guldenbach von Rheinböllen zur Na- weide genannt) war für die Rinderhaltung he. Doch blieben die Transportschwierig- von Bedeutung, die Schmalzweide für die keiten für Triftholz bestehen. Aus diesen Schweinehaltung. Gelegentlich wurden Gründen war zumindest an peripheren auch Ziegen und Schafe in den Wald ge- Standorten im 18. Jahrhundert der Soon- trieben. Die letzteren Haustiere schadeten wald noch vergleichsweise naturnah. So ist durch das Aufreißen der Vegetationsdecke es zumindest einer zeitgenössischen Wald- mit ihren scharfen Hufen, durch Schälschä- beschreibung von Johann Goswin Widder den und den Verbiss junger Baumspröss- aus dem Jahre 1788 zu entnehmen. linge dem Wald nachhaltig. Daher wurden ihre Weiderechte zunächst eingeschränkt, Die Forstnebennutzungen in unserer Re- später ganz verboten. gion erreichten in der Zeit der Vorindustri- alisierung einen besonderen Höhepunkt Diese Waldbewirtschaftung im Rahmen mit der Gründung einer Reihe von Eisen- der Viehhaltung war für die ansässige Be- hütten. Dieser Wirtschaftszweig entstand völkerung zeitweise bedeutender als die ei- jedoch nicht im Nahetal, sondern in den aus gentliche Holzentnahme. Die Waldweide- heutiger Sicht eher abgelegenen Tälern des nutzung war etwa im Soonwald äußerst Gräfenbachs und des Guldenbachs, wo die streng geregelt. Um 1765 besaßen zum Bei- Gräfenbacherhütte, die Rheinböller Hütte spiel die vier Dörfer , Spall, Allen- und die Stromberger Neuhütte vor Ort ge- feld und die „Gemeindewey- fundene oberflächennahe Eisenerze („Wa- Holzlagerplatz im 16. Jahrhundert. digkeit“ im Mandeler Wald. Im Winter- sem-erze“) verhütteten. Diese frühe Form Fundstelle: Georg Agricola, Vom Bergwerk XII Bücher, Basel 1557 burger Amt durfte jeder Viehhalter drei der Montanindustrie setzte den Wäldern (Reprint in der Heimatwissenschaftlichen Zentralbibliothek des Schweine frei zur Eckernmast in den Wald stark zu. So ging im Soonwald die übermä- Landkreises Bad Keuznach) 4 (Seite 4 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 1/2015

nicht stabilisierend auf die Waldbewirt- Um 1909 galten in Preußen als Wälder bil- schaftung einwirken können. Noch 1831 dende Holzarten: Kiefer, Fichte, Weißtanne, konstatierte der Agrarfachmann Johann Lärche, Buche, Eiche, Erle, Esche, Birke, Nepomuk Schwerz, die meisten Hunsrück- Hainbuche, Ulme, Aspe, Ahorn und Edel- höhen seien „von Holz entblößt, daher ohne kastanie. Die preußischen Wälder Schmuck, ohne Schutz und ohne Nutzen ... (8 270 134 Hektar) bestanden damals über- Während der französischen Verwaltung sind wiegend aus Nadelwald, allem voran aus alle Waldungen so verhauen worden, daß den Kiefernwäldern in den Diluvialgebieten sie das Ansehn regelmäßiger Forsten ver- der Ostprovinzen. Im Deutschen Reich ent- loren haben.“ Und nach dem Urteil des fielen auf Nadelholz 67,5 Prozent, auf Laub- Forsthistorikers Reinhard Gildemeister von holz 32,5 Prozent, wobei die einzelnen 1962 hat in den Jahren der französischen Baumarten wie folgt vertreten waren: Herrschaft, „namentlich während der ers- ten, republikanischen Phase, im Kiefer: 44,6 Prozent Hunsrück ... die im Verhältnis zum Zeit- raum wohl größte Waldvernichtung aller Fichte und Tanne: 22,8 Prozent Zeiten stattgefunden.“ Lärche: 0,1 Prozent Nachdem das linke Rheinufer als Folge des Wiener Kongresses Preußen zugespro- Buche (Hochwald): 13,1 Prozent chen worden war, kam es für die überwie- gend ländliche Bevölkerung zu tiefgreifen- Eiche (Hochwald): 4,2 Prozent Mit Holz beheizter Kessel zum Salzsieden den Veränderungen. Diese betrafen vor al- (16. Jahrhundert). Fundstelle: Georg Agricola (wie oben) lem die gewohnten, Jahrhunderte alten Eiche (Niederwald): 3,2 Prozent Weideberechtigungen. Auch in der Baum- artenzusammensetzung vollzogen sich im Birken-Erlen-Aspenhochwald: 3,2 Prozent Rahmen der nun zielstrebig forcierten zern an und ließ eigens Fichtensamen aus Hochwaldbegründung große Einschnitte. Weidenheger: 0,3 Prozent Bayern kommen und aussäen („Klingsches Die Begründung mit Hochwäldern wurde Verfahren“). Erste Fichtenanpflanzungen mit standortfremden Koniferen durchge- Mittelwald: 5,0 Prozent entstanden um 1786. In unserer Region be- führt, allen voran mit der Fichte. Das 19. fasste er sich darüber hinaus mit der Ent- Jahrhundert war allgemein das Jahrhundert Sonstige: 3,5 Prozent wässerung des Soonwaldes. Dieses Wald- des Nadelholzanbaues. In den deutschen gebiet war damals vielerorts noch stark ver- Mittelgebirgen wurde die Fichte zum Brot- (Quelle: Handwörterbuch der Staatswis- sumpft. Bis 1790 waren 136 Kilometer Drai- baum der Forstwirtschaft, in sandigen Re- senschaften. Jena 1909 S. 391) nagegräben gezogen. In den Gemeinde- gionen die Kiefer. wäldern war die Situation völlig anders. Um 1937 betrug das Verhältnis Laubwald Dies hing vornehmlich mit der äußerst kon- Die örtliche Bevölkerung stand dieser zu Nadelwald in Deutschland 28 Prozent zu servativen Einstellung der ländlichen Be- Neuerung mit ihrer allmählichen „Verfich- 72 Prozent. Zur Erinnerung: Um 1300 ver- völkerung und der Gemeindeverwaltungen tung“ eher skeptisch gegenüber. Sie be- hielt es sich 75 zu 25 Prozent. Es hatte in- zusammen, die ihre seit Jahrhunderten ver- deutete die schrittweise Aufgabe der bisher nerhalb von 600 Jahren eine Umkehr dieses trauten Bewirtschaftungsmethoden nicht seit Generationen praktizierten Waldweide Verhältnisses stattgefunden! aufgeben wollten. in teilweise stark heruntergekommenen Ei- chenwäldern. Die Fichte wurde von den (Schluss folgt) Einheimischen verächtlich „Preußenbaum“ 2.2. Napoleonische und preußische Zeit genannt. Es ist überliefert, dass Fichten- schonungen im Hunsrück in den unruhigen Auch die von 1796 bis 1814 in unserer Re- 1840er Jahren zeitweise von Soldaten be- gion regierenden Franzosen förderten zeit- wacht werden mussten, um sie den schäd- weise den Nadelholzanbau. Sie ließen im lichen Zugriffen der Bevölkerung zu ent- Soonwald weiterhin Drainageleitungen le- ziehen. Der preußische Staat zahlte später gen, bis 1811 etwa 63 Kilometer zusätzliche den einst Waldweide betreibenden Dörfern Entwässerungsgräben ziehen und versuch- hohe Ablösesummen in Goldmark. Allein in ten Klings Projekt damit fortzusetzen, was den staatlichen Forstämtern Entenpfuhl und letztendlich aber nicht gelang. Im Gegen- Neupfalz betrug die Entschädigung für die teil: Die politischen und militärischen Um- alten Waldrechte 560 000 Goldmark. In Ge- wälzungen der ersten Jahre des 19. Jahr- samtpreußen wurde hierfür von 1857 bis hunderts verursachten für die Waldbestän- 1892 die ungeheuer stattliche Summe von de in Hunsrpück und Soonwald eine tief- 72 Millionen Goldmark bereitgestellt. greifende Krise. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte ver- Das Ende der napoleonischen Zeit brach- änderte sich vor allem in den Hochlagen te neben kriegerischen Ereignissen eine all- von Idar-, Hoch- und Soonwald das Land- gemeine wirtschaftliche Not. Nicht nur mi- schaftsbild nachhaltig. Es entstanden dort litärische Einquartierungen erhöhten den fast ausschließlich Fichtenmonokulturen Holzbedarf. Die Not leidende Bevölkerung („Holzäcker“). Andere standortfremde Na- plünderte die Waldungen und schreckte delhölzer spielten im Nahe-Hunsrück-Raum auch nicht vor Übergriffen gegenüber Forst- keine besondere Rolle. Zeitweise wurde im beamten zurück. Aus dem Jahr 1814 ist ein größeren Umfang der Anbau mit der Euro- besonders schwerer Fall von Waldplünde- päischen Lärche (Larix decidua) versucht, rung in der Gegend um Kreuznach überlie- doch aufgrund der gleyartigen Böden im fert. 60 Einwohner umliegender Dörfer holz- Soonwald davon Abstand genommen. Auch Holzbefeuerter Schmelzofen zur Eisenverhüttung ten in zwei Monaten illegal 16 Morgen die Kultivierung mit der Waldkiefer brachte (16. Jahrhundert). Fundstelle: Georg Agricola (wie oben) Schlagwald des Barons von Recum ab und nicht den gewünschten Erfolg, zumal Kie- verursachten einen Schaden von 1000 Gul- fern falscher Provenienz genommen wur- den. den. Breitkronige Tieflandskiefern litten in höheren Lagen unter Schneebruch. Stel- Als die Franzosen 1814 abzogen, waren lenweise gibt es noch solche Aufforstungen Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen die heimischen Wälder völlig herunterge- auf den Porphyrköpfen um Bad Münster monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein wirtschaftet. Die französische Forstverwal- oder im Bad Sobernheimer Stadtwald auf für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach tung hatte aufgrund der kriegerischen Ent- kiesigen Standorten. e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, wicklung und personeller Fehlbesetzungen Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 2/2015

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Waldflora und Holzwirtschaft im Nahe-Hunsrück-Raum

Ein historischer Überblick kurze Zeit später konnten die heimischen genug Schäleichen zur Verfügung standen. Eichenniederwälder den großen Lohebedarf Während der Kriegsjahre konnten vor allem nicht mehr decken, so dass beispielsweise die Staatswaldungen kaum noch Eichenlohe VON RAINER SEIL, RÜDESHEIM AN DER NAHE die Kreuznacher Gerbereien etwa zwei Drit- liefern, bestanden sie doch überwiegend aus tel ihrer Lohe aus pfälzisch-bayerischen Fichtenhochwald. An der oberen Nahe wur- Wäldern beziehen mussten. Die intensive de daher Fichtenrinde als Gerbrinde genutzt. (Schluss) Niederwaldwirtschaft förderte vor allem die In beiden Weltkriegen mussten Kriegsge- Eiche, da sie sich – im Gegensatz zur Buche – fangene Lohe schälen. Neben den im 19. und 20. Jahrhundert aus dem Wurzelstock wieder regenerieren zielstrebig vorangetriebenen Hochwaldbe- kann. Dies ging wiederum vor allem auf gründungen mit der standortfremden Fichte Kosten der Buche. Um 1855 bestanden zwei Exkurs zur Jagd spielte die klassische Niederwaldwirtschaft Drittel der Waldfläche des Kreises Kreuz- im Naheraum eine große Rolle. Zwar gab es nach aus Eichenschälwaldungen. Ansonsten Wild und Wald stellen eine besondere diese Forstwirtschaftsform schon wesentlich diente der Eichenniederwald als Brennholz- Einheit dar. Gerade auf diesem Gebiet liegen früher, wie die Forstordnungen der Graf- lieferant. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Untersuchungen vor. Allgemein schaft aus den Jahren 1470 und trat in der einheimischen Niederwaldwirt- bleibt festzuhalten, dass besonders in Mit- 1501 belegen, doch sollte sie im 19. Jahr- schaft durch das ständige Sinken der Lohe- teleuropa das ökologische Gleichgewicht in hundert nochmals eine besondere Blüte er- preise ein Niedergang ein. In den Gerberei- der Tierwelt schon lange gestört ist. Große leben. Das Prinzip der Lohegewinnung ba- en hatte ein großer Wandel stattgefunden. Raubtiere wie Bär, Wolf und Luchs sind siert auf der Tatsache, dass vornehmlich die Statt heimischer Lohe importierte man aus schon lange aus den heimischen Wäldern Rinde der Eiche gerbstoffreich ist. Eichen Lateinamerika Quebrachoholz. Dieser Roh- verschwunden, weshalb der Mensch regel- wurden in einem immer wiederkehrenden stoff ist um ein vielfaches gerbstoffreicher als mäßig als Jäger auftreten musste. Der letzte Turnus von 16 bis 18 Jahren geschält („ge- heimische Eichenrinde. Neben der klassi- Bär wurde 1446 in Westfalen erlegt, der letz- loht“). Diese Gerbrinde („Lohe“) wurde in schen Rotgerberei kamen mehr und mehr te Wolf 1852 im Soonwald und der letzte Gerbmühlen gemahlen und an die zahlrei- chemische Gerbstoffe zum Einsatz, zum Bei- linksrheinische Wolf 1900 bei Saarlouis. chen Gerbereien geliefert. spiel Alaun (Weißgerberei). Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Um 1816 befanden sich zahlreiche Ger- Im Frühjahr fanden in Bingen, Kreuznach Wolf und Luchs auch im Westen Deutsch- bereien in Kreuznach (22), (17), Strom- und anderen Orten „Lohmessen“ statt. Der lands Standwild. Im Rahmen der allgemei- berg (16) und Sobernheim (5). Doch schon Tiefpunkt des Niedergangs der Nieder- nen Zivilisierung wurden sie immer weiter waldwirtschaft war um 1896 erreicht. Die Staatswälder (zum Beispiel der Soonwald) waren in dieser Zeit schon durchweg Hoch- wald (Fichten, zum Teil Buche). In den Ge- meinde- und Privatwäldern überwog der mittlerweile als unproduktiv empfundene Niederwald. In der Gegend um Meisenheim und Sobernheim betrug der Niederwaldan- teil über 80 Prozent. Dieser Umstand brachte der Umgebung von Meisenheim die Be- zeichnung „Heckenland“ ein. „Hecke“ ist eine landschaftliche Bezeichnung für „He- ckenwald“ und meint den Niederwald. Danach begann man auch in den Ge- meindewäldern mit der Hochwaldbegrün- dung. Doch sollte nicht vergessen werden, dass zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert zu- mindest für kurze Zeit die traditionelle Nie- derwaldwirtschaft wieder belebten. In bei- den Weltkriegen spielte Leder eine große Rolle. Im Ersten Weltkrieg war das Deutsche Reich von den internationalen Märkten ab- geschnitten. In der Zeit des Dritten Reiches und des anschließenden Zweiten Weltkrie- ges überwog das vom NS-Regime forcierte Riesenbuche (19. Jahrhundert). Autarkiedenken. Doch waren die klassi- Rieseneiche (19. Jahrhundert). Fundstelle: Eduard Mielck, Die Riesen der Pflanzenwelt, schen Schälwälder teilweise so stark über- Fundstelle: Eduard Mielck (Die Riesen der Pflanzenwelt, Leipzig & Heidelberg 1863 nutzt, dass zuletzt stellenweise nicht mehr Leipzig & Heidelberg 1863 2 (Seite 6 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 2/2015

wächst sie ursprünglich in den küstennahen Gebieten von Britisch Kolumbien bis Kali- fornien. Sie kann dort bis 100 Meter hoch werden. In Mitteleuropa erreicht sie immer- hin 50 Meter und stellt somit vielerorts eine Alternative für die Fichte dar. Viele Jahrhunderte umspannende Um- änderungen des Vegetationsbildes haben dazu geführt, dass nicht nur das Land- schaftsbild, sondern auch die Baumartenzu- sammensetzung völlig verändert wurden. Im Gegensatz zu klimatisch vergleichbaren Räumen in Nordamerika oder Ostasien war in Mitteleuropa die Baumvegetation eher artenarm. Durch menschlichen Einfluss wa- ren bestimmte heimische Baumarten selten geworden oder ganz verschwunden. Erin- nert sei an Elsbeere (Baum des Jahres 2011), Speierling (Baum des Jahres 1993), Birke, Aspe, Ulme, Linde, Ahorn und Esche. In Flussnähe betraf dies vor allem die einstmals artenreichen Weiden und Pappeln (Auwald). In jüngster Zeit versucht man dieser Ent- wicklung entgegenzuwirken. Das alljährlich verliehene Prädikat „Baum des Jahres“ soll Holzgatter am Gräfenbach im Soonwald zum Holzflößen. Kopiervorlage: Landesarchiv Koblenz, Bestand 53, C 12, Nr. 108 die Bevölkerung immer wieder für ein be- stimmtes Gehölz sensibilisieren. nach Osten verdrängt. Ursprünglich stand Vakuum. In den Hochwäldern musste für die 2.4. 1980er-Jahre bis Gegenwart die Jagd Adel und Klerus zu. Der „arme Besatzungsmächte Reparationsholz ge- Mann“ hatte lediglich als Jagdhelfer zu fun- schlagen werden. Zum Wiederaufbau der In der mitteleuropäischen Forstwirtschaft gieren. Die hohe Jagd auf gute Trophäen zerstörten Städte und Verkehrswege wurde sollten sich mit dem allgemein gestiegenen („Hirschgeweihe“) stand allein dem obers- gleichfalls viel Holz benötigt, wodurch große Umweltbewusstsein (ab 1970) erneut große ten Jagdherrn zu. Dessen Jagdleidenschaft Kahlschläge entstanden. Das galt bis weit in Wandlungen vollziehen. Ausgelöst wurde verschlang viel Geld, Zeit und Kraft. Von ei- die 1960er-Jahre. diese Entwicklung durch Umweltschäden, nem Kurfürsten des 18. Jahrhunderts ist Die Wiederaufforstung erfolgte zunächst Naturkatastrophen und dem zuletzt intensiv überliefert, dass seine Jagdausgaben mit aus Kostengründen wieder mit raschwüch- diskutierten „Klimawandel“ („Erderwär- 6000 Talern zu Buche schlugen. Mit diesem sigen Koniferen, in unserer Region haupt- mung“). für damalige Verhältnisse stattlichen Geld- sächlich mit der Fichte („Brotbaum der deut- Um die Jahreswende 1981/82 tauchte betrag hätte man 400 Schulmeisterstellen fi- schen Forstwirtschaft“). Die Überführung erstmals in Deutschland der Begriff „Wald- nanzieren können! Doch frönte der Adel der ehemaligen Niederwälder in Hochwald sterben“ in Presseartikeln auf. Später fand er weiterhin seinem Jagdvergnügen. Die Her- wurde ab den 1950er-Jahren wieder ver- sogar in anderen Sprachen (zum Beispiel zöge von legten eigens im Soon- stärkt aufgenommen. Bevorzugt wurden französisch: „le Waldsterben“) Eingang. wald einen „Tiergarten“ an. Erinnert sei dabei erneut Nadelgehölze, zunächst Fich- Hätte man damals schon ein Wort des Jahres auch an den im Soonwald wirkenden „Jäger ten, später verstärkt auch Douglasien, womit ermittelt, wäre dieser Begriff in den 1980er- aus Kurpfalz“, ganz gleich mit wem man ihn wieder eine fremde Holzart regional einsei- Jahren bestimmt dazu gekürt worden. In identifiziert. tig gefördert wurde. Die klassische Nieder- diesem Zusammenhang trat auch verstärkt Neben der Jagd auf Groß- und Niederwild waldwirtschaft wurde teilweise noch bis in der Terminus „Saurer Regen“ in der öffent- wurde auch das „kleine Waidwerk“ betrie- die 1960er-Jahre betrieben, zuletzt im Raum lichen Diskussion auf, eine Bezeichnung, die ben. Gemeint waren damit der Vogelfang und Kirn. Private und kommunale Niederwälder bereits 1872 von Robert Smith geprägt wur- die damit verbundenen Vogelherde, eine besaßen dagegen kaum noch wirtschaftliche de. Das „Waldsterben“ löste damals in Jagdart, die heute fast schon in Vergessenheit Bedeutung. Vielerorts waren sie dem Öd- Deutschland größte Betroffenheit aus, da geraten ist. Fünf Vögel erbrachten immerhin land gleichgestellt. dem Wald in weiten Kreisen der Bevölke- auf dem Markt 20 bis 25 Kreuzer. Erst 1888 In sonnigen Lagen wurde – teilweise rung eine mythologisch-emotionale Bedeu- wurde in Deutschland der Schutz nützlicher schon im 19. Jahrhundert – versucht, Nie- tung beigemessen wird. Deren Anfänge las- Vögel gesetzlich verankert. derwald in Weinbergsanlagen zu überfüh- sen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückver- Fakt ist, dass der gegenwärtige Wildbe- ren. Das regional bekannteste Bespiel ist um folgen („Romantik“). satz im mitteleuropäischen Wald nach wie Schloßböckelheim- zu su- Die Ursachen dieser „neuartigen Wald- vor zu hoch ist, so dass sich kaum noch Bäu- chen, wo 1903 die staatlich-preußische schäden“, gleichfalls eine zeitgenössische me von Natur aus verjüngen können. Das Weinbaudomäne angelegt wurde. Zuvor Umschreibung dieses Phänomens, sind äu- Rotwild frisst vor allem Laubbaumschösslin- befand sich dort ein mit schütterem Eichen- ßerst komplex und lassen sich nicht auf we- ge, weniger Nadelholzkeimlinge. Will man schälwald bestandener felsiger Abhang. Es naturnäheren Wald aufziehen, müssen die gab solche Bestrebungen auch in vielen an- jungen Bäumchen abgezäunt werden. deren Gemarkungen, sofern Sonnenexposi- Wenngleich die adlige Jagd längst der tion gegeben war beziehungsweise bei Ge- Vergangenheit angehört, zählt der Soonwald meinden mit kleiner Gemarkungsfläche immer noch zu den bevorzugten deutschen Ackerland benötigt wurde. Solche Maßnah- Jagdgebieten. Erinnert sei an die Diploma- men begannen häufig als Notstandsarbeiten tenjagden, die viele Jahre regelmäßig im in den 1920er-Jahren und wurden später Soonwald stattfanden. Den Anfang machte vom Reichsarbeitsdienst fortgeführt. übrigens 1954 Bundespräsident Theodor Hatte das Verhältnis Nadelwald zu Laub- Heuss. Jagdherr war von 1954 bis 1969 der wald um 1855 noch bei 90 Prozent zu 10 Pro- jeweils ranghöchste deutsche Diplomat. Nur zent gelegen, so betrug es um 1955 bereits 55 im Herbst 1963 fiel anlässlich des Kennedy- Prozent zu 45 Prozent. In den 1960er-Jahren Attentats die Diplomaten-Jagd aus. wurde in bestimmten Forstrevieren wieder die Lärche angebaut. Um 1976 wurde davon wieder Abstand genommen, weil diese 2.3. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Baumart vom Lärchenkrebs bedroht ist. Ab Lohrindengewinnung: Mit dem Lohlöffel wird die den 1960er-Jahren begann der verstärkte Lohrinde vom abgeknickten Stamm möglichst in Der verheerende Zweite Weltkrieg hin- Anbau der nordamerikanischen Douglasie einem Stück abgetrennt. terließ auch in der Forstwirtschaft ein großes (Pseudotsuga menziesii). In Nordamerika Vorlage: Kreismedienzentrum, Bad Kreuznach (Foto: G. Albert, Kirn) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 2/2015 (Seite 7 des Jahrgangs) 3

die Wahl der Baumarten auswirken. Vor al- Deutschland Holzeinfuhrland. Das bedeutet, lem in den tieferen Lagen unserer Region hat dass die Hälfte des Nutzholzes eingeführt die standortfremde Fichte klimatisch schwer werden muss. Langsamwüchsige Laubbäu- zu leiden. Langfristig kann von einer „Ent- me haben zu lange Umtriebszeiten. Schnel- fichtung“ gesprochen werden. Noch vor lere Rendite und Nutzung versprechen über 100 Jahren wurden vor allem die Mit- schnellwüchsige Koniferen. telgebirge in Westdeutschland „verfichtet“, auch weit außerhalb des natürlichen Ver- breitungsgebietes dieser Konifere. 3. Ausblick und neue Tendenzen Erinnern wir uns an die klimatisch-natür- lichen Wuchsbedingungen des Baumes, der In den letzten Jahren erfährt bei den optimal zwischen 800 und 2000 Metern Höhe Laubgehölzen vor allem die Buche eine un- in seinem natürlichen Umfeld gut gedeiht, so geahnte Aufwertung. Das war vor 100 Jah- ist festzustellen, dass nur die höchsten Erhe- ren völlig anders, vor allem aus ökonomi- Lohrindengewinnung: Die Rinde wird auf dem bungen in Rheinland-Pfalz um den Erbes- schen Gründen. Der Buchenbetrieb galt als Lohbett getrocknet. kopf die unterste Wuchsbedingung der arbeitsintensiv und ist im Vergleich zu dem Vorlage: Kreismedienzentrum, Bad Kreuznach (Foto: G. Albert, Kirn) Fichte erfüllen. Der Soonwald mit stellen- Fichtenforst wenig ertragreich. Oft handelt weise über 600 Meter liegt schon von seiner es sich um einen Verlustbetrieb, weil oft viel natürlichen Höhenlage her weit darunter. Schichtholz anfällt mit geringen Erlösen bei Gleichwohl sprechen zumindest in den hohen Aufbereitungskosten [Schichtholz ist nige Schlagworte reduzieren. Zunächst Kammlagen manche Botaniker der Fichte Rohholz, das nicht nach Einzelstämmen, wurden in den 1980er-Jahren erhöhte einen naturnahen Sekundärwaldstatus zu. sondern nach Raummetern verkauft wird]. Schwefeldioxideinträge in Luft und Boden Botaniker haben als Begleitflora Pflanzen Häufig werden Buchenhochwälder („do- durch Autoverkehr und Industrie („saurer ausgemacht, die auch in natürlichen Fich- martige Hallen“) von heutigen Waldbesu- Regen“) allein dafür verantwortlich ge- tenwäldern vorkommen. Dennoch hat in chern als naturnah empfunden. Doch sind macht. Nach neueren Untersuchungen sind jüngster Vergangenheit insbesondere der auch sie häufig ein Produkt der Forstwirt- auch vermehrte Stickstoffemissionen (Dün- Fichtenforst durch die Stürme schwer gelit- schaft des 19. Jahrhunderts. Noch um 1854 gung, Viehhaltung in der Landwirtschaft) ten. Als Flachwurzler hat die Fichte starken nahm die Buche zwei Drittel der Fläche des daran maßgeblich beteiligt. Zunächst wur- Orkanen in großer Höhenlage wenig entge- Soonwaldes ein. 1893 waren es nur noch 54 den sichtbare Baumschäden im Kronenbe- genzusetzen. Tiefere Lagen, gerade in hei- Prozent. Bis 1910 ging sie um weitere 10 Pro- reich an Nadelbäumen (Nadelverlust), spä- mischen Weinbauregionen, sind nicht nur zent zurück. Erich BAUER stellte schon 1974 ter zunehmend auch an Laubbäumen (Blatt- topografisch zu tief liegend, sondern auch in fest, dass aus waldbiologischen, wasserwirt- verlust, Angsttriebe) ausgemacht. Gleich- heißen Sommern viel zu trocken. Diese kli- schaftlichen und jagdlichen Gründen ihr wohl gab es auch schon wesentlich früher in matischen Bedingungen sagen einer Baum- Anteil nicht weiter zurückgehen sollte. Zu- Mitteleuropa Baum- und Waldschäden. In art, die viel Feuchte und auch eine gewisse mindest ein Viertel des Baumbestandes soll- den 1970er-Jahren sprach man von einem Kühle braucht, dauerhaft nicht zu. te für die Rotbuche vorgesehen werden. „Tannensterben“, das zunächst im Freilich darf nicht übersehen werden, dass Weltweit sehen viele Botaniker in Schwarzwald festgestellt wurde. schon im 19. Jahrhundert in der Anlage der Deutschland den Verbreitungsschwerpunkt Auch bei der allgemeinen Klimadiskussi- Fichtenkulturen viele Förster nur eine vorü- des Klimaxbaumes Buche in Europa. [Kli- on der letzten Jahre – erinnert sei nochmals bergehende Notmaßnahme zur Hochwald- maxbäume sind Baumarten, die das Endsta- an das Schlagwort „Erderwärmung“ – ist ein begründung sahen. So sollte – zumindest der dium der natürlichen Vegetationsabfolge Rückblick hilfreich: In der Zeit von 1553 bis Theorie nach – wenn sich die herabgewirt- eines Waldes darstellen. Die so gebildeten 1947 gab es zehn Wärmeepochen mit 169 schafteten Wälder des 18. Jahrhunderts Wälder werden als „Schlusswälder“ be- Jahren und zehn Kühle-Epochen mit 225 durch den Anbau von Nadelholz erholt hät- zeichnet. In Mitteleuropa wären ohne Ein- Jahren. Die kühleren Jahre überwiegen in ten, wieder ein Laubwald als Ideal ange- flüsse des Menschen heute hauptsächlich diesem Zeitraum. Lediglich vom Mittelalter strebt werden. Doch blieb es meist bei diesen Buchenwälder anzutreffen.] Doch sei daran bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts gab es ein idealen Vorstellungen. Die Zeitläufte, In- erinnert, dass zumindest in den westlichen wärmeres Klima mit kontinentaler Tönung. dustrialisierung und Kriege machten diese Nachbarländern große Buchenbestände Das lässt sich daran festmachen, dass die Pläne meistens zunichte. Spätestens seit der vorkommen, etwa in Frankreich, Luxemburg Nordgrenze des mitteleuropäischen Wein- Industrialisierung wuchs der Holzbedarf und Teilen von Belgien. Selbst in Südeng- baues wesentlich nördlicher lag als heute. (Grubenholz!) stark an. Seit 1864 ist land, Südskandinavien, aber auch in Osteu- Zwar ist bei dieser Betrachtung nur bis zum Jahr 1947 untersucht worden. Es gab auch danach noch kalte Winter, etwa 1963 mit zu- gefrorenem Rhein! Eine besonders tiefe Zäsur bildeten in der heimischen Forstwirtschaft die verheeren- den Winterstürme der Orkantiefs „Vivian“ und „Wiebke“ 1989/90, die eine bis dahin noch nicht da gewesene Katastrophe größten Ausmaßes darstellten. Ihnen fielen in den Kammlagen des Soonwaldes und Idarwaldes weitflächig vor allem die Nadelwälder zum Opfer, in geringerem Rahmen jedoch auch tiefer wurzelnde Laubbäume. Nach der Beseitigung der großen Sturm- schäden 1990 waren die Gefahren für die heimischen Wälder noch lange nicht ge- bannt. Seit 1712, wie E. BAUER nachweisen konnte, gab es vergleichbare aufgezeichnete Klimaschäden im Soonwald. Neben 1989/90 sind in jüngerer Zeit noch die Stürme um 1984, 1999 („Lothar“) und das Orkantief „Xynthia“ (2010) bekannt. 1936 und 1951 kam es zu Schneebruchkatastrophen. In den letzten Jahren steht langfristig ein Umbau der bisherigen naturfernen Forsten zu naturnäheren Laub- und Mischwäldern bevor, durchaus eine Konsequenz, die aus den Erfahrungen der Stürme 1989/90 gezo- gen wurde. Dabei ist noch nicht klar, wie sich Der Wald auf dem Sterbebett. die klimatischen Änderungen langfristig auf Fundstelle: Naturschutzjugend im DBV/LBV (Hrsg.), Der Wald ist selber schuld. Berichte aus der Schwarzwaldklinik. Stuttgart 1987, S. 77 4 (Seite 8 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 2/2015

tierter Tourismusregionen. Deren besonde- Arbeiten zur Rheinischen Landeskunde, res Charakteristikum und ihre Attraktivität Heft 17). stellt gerade ihr Waldreichtum dar. Bereits Karl HASEL: Waldwirtschaft und Umwelt. Ende des 19. bzw. anfangs des 20. Jahrhun- Eine Einführung in die forstwirtschaftlichen derts wurden im Kreuznacher Stadtwald Probleme der Industriegesellschaft. Ham- erste Wanderwege angelegt, die beispiels- burg/Berlin 1971 weise an der Gans vornehmlich Touristen die Kurt HUECK: Pflanzengeographie Deutsch- Schönheit heimischer Landschaft nahebrin- lands. Berlin-Lichterfelde 1936 gen sollten. Georg MEISTER, Christian SCHÜTZE u. Jüngst sind in unmittelbarer Nähe der Georg SPERBER: Die Lage des Waldes. Ein Nahe-Hunsrück-Region, vor allem im wald- Atlas der Bundesrepublik. Daten, Analysen armen Rheinhessen, große Windparks ent- und Konsequenzen. Hamburg 1984 standen. Auch im Hunsrück, vornehmlich NATURSCHUTZJUGEND im DBV/LBV um den Kandrich bei Rheinböllen entlang (Hrsg.): Der Wald ist selber schuld: Berichte der A 61, werden in dicht bewaldeten Ge- aus der Schwarzwaldklinik. Kassel 1987 bieten solche Windparks angelegt. Gegner Joachim REISCH: Waldschutz und Umwelt. fürchten die damit verbundenen weitflächi- Heidelberg 1974 gen Rodungen, eine Betonisierung mitten im Arthur RÜHL: Flora und Waldvegetation der Wald und nicht unerhebliche Beeinträchti- deutschen Naturräume. Wiesbaden 1958 gungen des Waldes durch den Bau von Zu- Uwe E. SCHMIDT: Der Wald in Deutschland und Abfahrtswegen zu den Windrädern. im 18. Und 19. Jahrhundert. Saarbrücken Manche befürchten zudem, dass bei den er- 2002 neuerbaren Energien in Rheinland-Pfalz Rainer SEIL: Chronik der Verbandsgemein- einseitig vor allem auf Windkraft gesetzt de Rüdesheim. Idar-Oberstein 1998 wird. Die Diskussion ist hier bei Gegnern und Rainer SEIL: Niederwaldwirtschaft in der Befürwortern noch im vollen Gang. Eine Naheregion. In: Beiträge zur Geschichte des Beitrag zur Diskussion über das Waldsterben in den überparteiliche objektive Beurteilung mit Landkreises Bad Kreuznach. Bad Kreuznach 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. allen daraus resultierenden Konsequenzen 2000. (= Heimatkundliche Schriftenreihe des Fundstelle: Naturschutzjugend im DBV/LBV (Hrsg.), Der Wald ist sel- scheint indes zum gegenwärtigen Zeitpunkt Landkreises Bad Kreuznach, Bd. 31). ber schuld. Berichte aus der Schwarzwaldklinik. Stuttgart 1987, S. 74 verfrüht. Es bleibt zu hoffen, dass es künftig Horst SILBERMANN: Die wirtschaftliche gelingt, möglichst umwelt- und landschafts- Entwicklung des unteren Nahegebietes im verträgliche Konzepte zu finden, die nicht 18. Jahrhundert. Bad Kreuznach 1980. (= nur der Pflanzen- und Tierwelt, sondern Heimatkundliche Schriftenreihe des Land- ropa (Slowakei, Rumänien) gibt es bedeu- auch dem Menschen langfristig Nutzen kreises Bad Kreuznach, Bd. 8). tende Buchenbestände. Alte Buchenwälder bringen. Horst SILBERMANN: Von der Waldnutzung zählen zum Unesco-Weltnaturerbe. In zur Forstwirtschaft. Walddiagnose und Deutschland zählen dazu bisher die Stand- Waldtherapie im Zeitalter des Merkantilis- orte Rügen (Jasmund), Schorfheide-Chorin, Bibliografie (Auswahl) mus am Beispiel des Soonwaldes. In: Studi- Hainich, Müritz und Kellerwald-Edersee. enbuch zur Regionalgeschichte des Land- Letztere sind Nationalparks. In Rheinland- Erich BAUER: Der Soonwald. Auf den Spu- kreises Bad Kreuznach. Bad Kreuznach 1986. Pfalz ist der Hochwald um den Erbeskopf ren des Jägers aus Kurpfalz. Stuttgart 1974 (= Heimatkundliche Schriftenreihe des grenzüberschreitend mit dem benachbarten Alfred BLAUFUSS u. H. REICHERT: Die Landkreises Bad Kreuznach, Bd. 21) Saarland als Nationalpark vorgesehen. Der Flora des Nahegebietes und Rheinhessens. Soonwald hat weiterhin den Status eines Bad Dürkheim 1992 Naturparks. Heinz ELLENBERG u. Christoph LEUSCH- In den letzten Jahren ist das vor allem in NER: Vegetation Mitteleuropas mit den Al- den 1980er-Jahren teilweise äußerst heftig pen. Stuttgart 2006 Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen und kontrovers diskutierte „Waldsterben“ Reinhard GILDEMEISTER: Wald, Bauern- monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein etwas in den Hintergrund der allgemeinen land und Holzindustrie im östlichen und für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach öffentlichen Diskussion getreten. Gleich- mittleren Hunsrück. Wirtschaftsland und e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, wohl werden nach wie vor alljährlich Wald- sozialgeographisches Gefüge. Bonn 1962. (= Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). schadensberichte veröffentlicht. Besonders berücksichtigt werden in diesen Berichten die deutschen Hauptbaumarten Buche, Ei- che, Fichte und Kiefer. Nach dem letzten Waldschadensbericht für Rheinland-Pfalz (2013) hat sich die Situation für die wichtigs- ten heimischen Waldbäume leicht gebessert, doch kann weiterhin nicht von einer allge- meinen Entwarnung gesprochen werden. In letzter Zeit sorgen der allgemein ange- nommene Klimawandel („Erderwärmung“) und der Ausstieg aus der Kernenergie für neuen Diskussionsstoff, insbesondere im Nahe-Hunsrück-Raum. Großräumig setzt man politisch auf umweltfreundliche und erneuerbare Energien und entsprechende Energiegewinnungsmöglichkeiten. Beson- ders favorisiert werden insbesondere Wind- und Sonnenkraft. Nachdem zuletzt vor allem im Hunsrück zahlreiche windhöffige Gebie- te als Windradstandorte („Windatlas“) aus- gewiesen wurden, setzte in jüngster Zeit hierzu eine rege Diskussion ein. Heimische Windradgegner fürchten vor allem einen großen Eingriff in bisher vertraute Land- schaftsbilder, beispielsweise im Soonwald und Soonvorland. Kritiker sprechen von ei- ner „Verspargelung“ beziehungsweise „Verschandelung“ der Landschaft, einer Entwertung von Wohngebieten und Immo- „Hase und Igel“. bilienbesitz und beliebter, stark frequen- Fundstelle: Naturschutzjugend im DBV/LBV (Hrsg.), Der Wald ist selber schuld. Berichte aus der Schwarzwaldklinik. Stuttgart 1987, S. 53 Nummer 3/2015

Beilage BadKreuznacher Bad Kreuznach Heimatblätter

Die Privatisierung der Frei-Laubersheimer Hofgüter des Klosters Tholey um 1800 Ein Wirtschaftskapitel aus der rheinhessischen Franzosenzeit

VON DIPL.-HDL. WOLFGANG ZEILER, Zwei Jahre später starb der regulär von der FREI-LAUBERSHEIM Tholeyer Klostergemeinschaft (Convent) gewählte Abt Maximin Motté. Diese Situa- tion nutzte der französische König Ludwig Vorbemerkungen XV. um auf Fürsprache Herzog Christians IV. von Zweibrücken, mit dem er seit seiner Die Benediktiner-Abtei in Tholey besaß Jugend freundschaftlich verbunden war,5) in Frei-Laubersheim, wie andere Klöster Pierre de Salabert zum Kommendatarabt zu auch, über viele Jahrhunderte hinweg ei- ernennen.6) Kommendatarabt von Tholey zu nen Gutshof mit einer Vielzahl landwirt- sein bedeutete, dass Salabert „Pfründen- schaftlicher Nutzflächen. Der entscheiden- Einnehmer“ wurde, und zwar ohne dafür im de Unterschied zu den übrigen Klöstern be- Gegenzug Aufgaben zu übernehmen! Be- stand jedoch darin, dass die Abtei Tholey züglich der Einnahmen des Klosters Tholey nicht nur einen relativ großen Wirtschafts- ordnete der französische König an, dass die betrieb in Frei-Laubersheim führte, sondern Einkünfte in drei Teile zu teilen seien, wo- dass dem Kloster „von alters her“ der von Salabert zwei Teile und dem Kloster „Zehnte“ gehörte und der Tholeyer Abt als Konvent selbst nur noch ein Teil zufallen Schutzherr der Kirche auch die Seelsorger sollte. Was dies für Frei-Laubersheim be- einsetzte. Über die letzten Jahrzehnte der deutete, enthält ein Schreiben des Notars fast 700-jährigen Verbindung zwischen Dahn an das Oberamt in Kreuznach. Dahn Tholey und Frei-Laubersheim gibt es sehr vertrat die Rechte Salaberts in Frei-Lau- unterschiedliche Darstellungen. Das in einer päpstlichen Urkunde von 1248 zum bersheim.7) Dahn schreibt, dass das Ober- ersten Mal erwähnte ehemalige Hofhaus des Klos- amt aus seinem Bericht ersehen könne, dass ters Tholey in Frei-Laubersheim mit Stallung und er „die 2/3 Zehnten für Herrn de Salabert 1. Widersprüchliche Aussagen Scheune. Foto: Wolfgang Zeiler, Frei-Laubersheim beziehen, 1/3 zur Zahlung der Besoldungen frey gebe und so etwas übrig bleibt, den Mit dem Niedergang des Klosters Tholey Herrn Geistlichen [gemeint waren der kath. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert und der reformierte Pfarrer] … belassen, die und der Aufhebung der Abtei am 7. Juli verwaltung vehement im Jahre 1954 in ei- Hoff früchten in so weith sie zur Pacht ge- 17941) stellt sich auch die Frage, was mit nem Rechtsstreit mit der evangelischen Kir- hören einnehmen, die Zinsen beziehen den Gütern des Klosters und dem Hofhaus chenleitung. Die Gemeinde hätte „weder etc.“ befugt sei. Salabert konnte also 2/3 (!) in Frei-Laubersheim damals geschehen ist. Klostergüter noch Kirchenvermögen in der der bisherigen Einnahmen des Klosters für Die Aussagen dazu sind in der Literatur und Zeit nach 1797 erworben“.4) Im Ort selbst ist seinen privaten Lebenswandel verwenden. den bisher bekannten Dokumenten sehr un- mündlich überliefert, dass das Bankhaus Mit dem Verlust von 2/3 der bisherigen klös- terschiedlich. So schreibt zum Beispiel Lud- Sahler in Kreuznach am Kauf der Kloster- terlichen Einnahmen beschleunigte sich der wig Hellriegel in seinem Buch über diese güter beteiligt gewesen sein soll. Vor allem bereits begonnene Niedergang der Abtei. Zeit: „Am 23. Mai 1773 waren die Tholeyer anhand bisher nicht bekannter Dokumente Und dieser Niedergang war nicht nur wirt- Güter versteigert“.2) Der „Kommendatar- aus dem Nachlass der Familie Sahler sowie schaftlicher Art, sondern war auch begleitet Abt“ von Tholey, Pierre de Salabert, soll aus dem Ortsarchiv Frei-Laubersheim kann von einem sittlichen Verfall, was bei einem dies veranlasst haben. Eine Quelle für diese das Ende dieser Beziehung zwischen Frei- „Vorbild“, wie es der Kommendatarabt Pi- Aussage nennt Hellriegel jedoch nicht. Der Laubersheim und der Abtei Tholey nun re- erre de Salabert war, nicht verwundert! Frei-Laubersheimer Pfarrer Linß behauptet lativ gut nachgezeichnet werden. in seiner von ihm 1856 angelegten Chronik der ev. Gemeinde Frei-Laubersheim, dass 2.2. Pierre de Salabert – der „Sultan von die Ortsgemeinde nach der Säkularisierung 2. Die Entwicklung des Klosters Tholey in Blieskastel“ die Klostergüter erworben hätte und stellt der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fest: „Die [Orts]Gemeinde hat durch Ver- Pierre de Salabert wurde um 1735 in Süd- nichtung aller Zehnten und Zinsen sowie frankreich als Sohn eines Metzgers8) gebo- durch den Verkauf aller Klostergüter, wel- 2.1. Salabert wird „Kommendatarabt“ ren. Nach Abschluss seiner geistlichen Aus- che sie nach und nach erwarb, pekuniär we- bildung wurde er zunächst Vikar in Paris. sentlich gewonnen“.3) Gegen diese Be- Im Jahre 1766 war Lothringen, wozu Tho- Der Pfarrer der dortigen Pfarrei empfahl hauptung wehrte sich die Ortsgemeinde- ley gehörte, wieder an Frankreich gefallen. dem Herzog Christian IV. von Zweibrü- 2 (Seite 10 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 3/2015

Aussage Hellriegels vermuten lässt und in Tholeyer Güter gehörten jedoch zu einer be- einigen heimatkundlichen Schriften zu fin- sonderen Gruppe von Nationalgütern, die den ist,15) hat nach den vorliegenden Doku- als „Kron-Domänen“19) bezeichnet wurden menten nicht stattgefunden. Der Historiker und „der unmittelbaren Verfügung des Kai- Johannes Nauman bestätigt dies, indem er sers unterstellt waren“.20) Die Erträge aus schreibt:“ Salabert durfte nur die Nutzung der Bewirtschaftung dieser Güter flossen auf Zeit an Gütern versteigern, nicht die Gü- Napoleon direkt zu. Ziel der französischen ter selbst. Dies war ihm wegen des Kir- Regierung war jedoch nicht, Pachteinkom- chenrechts verboten.“16) Diese Aussage fin- men zu erwirtschaften, sondern die Natio- det auch ihre Bestätigung in den Frei-Lau- nalgüter zu privatisieren. Mit dem Konsu- bersheimer Grundsteuerbüchern. larbeschluss vom 25. November 1802 wurde dafür die gesetzliche Grundlage geschaf- fen. Napoleon brauchte für die Unterhal- 3. Die Grundsteuerbücher von 1802 tung seiner „Grande armée“ und für die Durchführung seiner Expansionspolitk Im Ortsarchiv von Frei-Laubersheim be- enorme Summen an Geld. Dazu versteiger- finden sich vier Grundsteuerbücher, die te der französische Staat zwischen 1803 und 1802/03 angelegt wurden, zu einer Zeit al- 1813 die enteigneten Güter der vier neuen so, in der Frei-Laubersheim ein französi- linksrheinischen Departements – und auch sches Dorf war. Die gesamte Gemeindeflä- das Tholeyer Hofgut musste dazu seinen che wurde dazu in vier Sektionen eingeteilt Beitrag leisten! und die einzelnen Grundstücke und Ge- bäude nach diesen vier Sektionen in vier Bü- Ein Grenzstein des Klosters Tholey wurde 1872 chern getrennt erfasst. Eine Zuordnung 4.2. Die Vorbereitung der Versteigerung beim Bau eines Hauses am Frei-Laubersheimer nach „Fluren“, wie dies in den früheren Röhrenbrunnen als Baumaterial verwendet. Frei-Laubersheimer Morgenbüchern üblich Foto: Wolfgang Zeiler, Frei-Laubersheim war, sahen die vorstrukturierten Seiten der 4.2.1. Der Schätzpreis der Güter Bücher nicht vor, erfolgte aber zusätzlich vom Gemeindeschreiber am Rand – wahr- Für die Versteigerung wurde von der scheinlich zur besseren Orientierung. französischen Verwaltung ein Mindestge- cken, Salabert als Erzieher seiner beiden Die vier Bücher enthalten insgesamt bot ermittelt. Dazu wurden Gutachter ein- Söhne zu berufen.9) Damit begann sein un- mehrere Tausend einzelne Einträge. Bei 78 gesetzt, die sich bei ihrer Schätzung am Ver- gewöhnlicher sozialer Aufstieg, der bis zur Parzellen und Gebäuden wurde als Eigen- waltungsbeschluss vom 5. Mai 1802 bezie- Erhebung in den Adelsstand führte. tümer „Republik Tholey“ oder vor allem hungsweise vom 25. Februar 1804 zu ori- Salabert war eine äußerst schillernde Per- „Tholeyisches Nationalgut“ dokumen- entieren hatten. Nach diesem Ertragswert- sönlichkeit. Er besaß zwar den Titel eines tiert.17) Aus einer Bestandsaufnahme der verfahren waren die Grundstücke mit dem Geistlichen, war aber auch dem „frivolen Hofgüter aus dem Jahre 1626 ist bekannt, zwanzigfachen der Summe aus dem Ertrag höfischen Treiben durchaus zugewandt“.10) welche Gesamtgröße die Tholeyer Hofgüter des Jahres 1790 zuzüglich der Zehntabga- Er sei „französisch gebildet, gewandt und in Frei-Laubersheim in diesem Jahre hat- ben anzusetzen. Bei Wohn- und landwirt- listig“ gewesen und habe sich, als er in ten. Eine Summierung aller Flächen, die im schaftlich genutzten Gebäuden galt der Blieskastel (heute Saarland) lebte „wie hier Grundsteuerbuch mit Tholeyer Nationalgut zwölffache Betrag der Einnahmen aus dem zu Lande üblich, einen Harem gehalten, beziehungsweise Republik Tholey bezeich- Bezugsjahr 1790 zuzüglich der Zehntabga- weshalb er auch hämisch ‚Sultan von Blies- net sind, ergab nun, dass der Bestand fast be als Schätzwert. Bei fehlenden Unterla- kastel’ genannt wurde“.11) „Seine geistliche exakt dem Bestand von 1626 entsprach: gen aus dem Jahr 1790 konnte auch der ak- Würde hinderte ihn nicht daran, auf der tuelle Pachtvertrag die Grundlage für die Zweibrücker Gesellschaftsbühne Theater Jahr Gesamtfläche Zahl der Schätzung bilden.21) Die Gutachter kamen zu spielen und sich von der illustren Ge- der Hofgüter einzelnen bei ihrer Schätzung für die Tholeyer Güter sellschaft feiern zu lassen.“12) Für seinen lu- Parzellen auf einen Betrag von 3000 Francs. An Pacht xuriösen Lebenswandel brauchte er Geld, 1626 ca. 110 Morgen 75 wurde nach Angaben der französischen viel Geld. Die Streitigkeiten Salaberts mit 1802 ca. 108 Morgen 78 Verwaltung aktuell – gemeint war das Jahr dem Pfarrer beziehungsweise Probst Martin 1811 – ein Betrag von jährlich 92 Francs ge- Sieher von Frei-Laubersheim um die Tho- Zwischen beiden Erhebungen liegen fast zahlt. Dieser Betrag kann allerdings nicht leyer Güter wurden vor allem dadurch ver- 200 Jahre. Unter Einbeziehung von Mess- die Grundlage für die Schätzung gewesen ursacht. Martin Sieher fasste dies in dem und Umrechnungsungenauigkeiten bestä- sein, denn unabhängig davon, wie man nun Satz zusammen:“ Inter nos [unter uns] der tigen diese Eintragungen, dass bei Anlage die Aufteilung des Pachtbetrages zwischen Bursche Salabert braucht dringend Geld“.13) der Grundsteuerbücher noch keine Hofgü- Hofhaus und landwirtschaftlicher Fläche ter verkauft waren. vornimmt, ist der Schätzbetrag von 3000 Francs so nicht erreichbar. Man muss also 2.3. Salabert und seine Frei-Laubersheimer annehmen, dass die Gutachter den Pacht- Einnahmequellen 4. Die Privatisierung der Tholeyer Güter betrag aus dem Bezugsjahr 1790 bei ihrer durch Versteigerung Berechnung verwendeten . Der Pachtbetrag Salaberts Ziel war es, die ihm zur Nut- von 1790 müsste dann jedoch um mehr als zung überlassenen Einnahmequellen ma- 2/3 über dem gennannten Betrag von 1811 ximal auszuschöpfen. Neben der exakten 4.1 Tholeyer Gut – eine Krondomäne gelegen haben. Wolfgang Schieder weist in Überwachung der Abgaben hatte Salabert diesem Zusammenhang darauf hin, dass die die alten Pachtverträge gekündigt und die Wie aus den Frei-Laubersheimer Grund- Gutachter keine eigenen Abmessungen der Güter in den Jahren 1773 und 1774 an neue büchern zu erkennen ist, wurden die Tho- Güter vornahmen, sondern dass sie dabei Pächter versteigert, aber nicht im Sinne von leyer Güter durch die Säkularisierung fran- auf alte Unterlagen oder die Mithilfe der Be- „verkauft“, sondern derjenige, der das zösisches Staatseigentum (Nationalgüter) troffenen (!) angewiesen waren. Auch die höchste Pachtgebot abgab, wurde als neuer und mit dem Aufhebungsbeschluss der Umrechnung von Morgen in Hektar stellt Pächter eingesetzt. Auch dem Hofmann Jo- Konsuln vom 9. Juni 1802 wurde dies auch für Schieder eine weitere Fehlerquelle dar.22) hannes Dopp war gekündigt worden, dieser besiegelt.18) Die ehedem ebenfalls tholeyi- Es ist daher nicht verwunderlich, dass die war aber nicht bereit einem neuen Pächter schen Pfarr- und Schulgüter in Frei-Lau- französische Verwaltung weder für die er- zu weichen und führte Klage bei Gericht ge- bersheim waren zwar zunächst ebenfalls mittelte Größe noch für den Ertrag der Gü- gen die Aufhebung seines Pachtvertrages. enteignet worden, wurden aber an die Pfar- ter garantierte. In einem Schreiben an das Oberamt in reien zurückgegeben, da sie ihre Aufgaben Kreuznach vom 20. Mai 1774 wurde festge- ohne diese wirtschaftliche Basis nicht er- stellt, dass die neuen Pächter der Hoffelder füllen konnten. 4.2.2. Die Bekanntmachung der Versteige- die Pacht nicht antreten wollten, so lange Jo- Der Großteil der 25 000 säkularisierten rung hannes Dopp noch Hofmann und seine Kla- beziehungsweise mediatisierten Güter auf ge nicht entschieden sei.14) Ein Verkauf tho- dem linken Rheinufer war dem französi- Zur Ankündigung der Versteigerungen leyischer Güter im Jahre 1773, wie dies die schen Finanzministerium unterstellt. Die verteilte die Verwaltung gedruckte Plakate, Bad Kreuznacher Heimatblätter - 3/2015 (Seite 11 des Jahrgangs) 3

die sogenannten „affiches“, die in französi- steigerung des Hofgutes entzündet werden scher und deutscher Sprache abgefasst wa- mussten, ist nicht bekannt. Das Protokoll ren. Die Bekanntgabe der Versteigerung der Versteigerung weist nur darauf hin, des Tholyer Gutes erfolgte am 10. Januar dass „plus de trois feux“, also mehr als drei 1811.23) Außer dem Frei-Laubersheimer Kerzen entzündet und in dieser Zeit meh- Hofgut sollten an diesem Tag elf weitere rere Gebote abgegeben worden waren. Den Güter versteigert werden, zum Beispiel das Zuschlag erhielt „frédéric freyburger de- Gut des Kurfürsten von der Pfalz in Spons- meurant à Spire“ – Friedrich Freyburger, heim und der Hegenheimer Hof des Fürsten wohnhaft in Speyer. Er hatte 40 700 Francs von Salm in Eckelsheim. Als Bieter waren geboten, eine im Vergleich zum Schätzwert nur solche Personen zugelassen, die einen von 3000 Francs unglaublich hohe Summe. Wohnsitz nachweisen konnten und Grund- Für das Departement Rhein-Mosel konnte steuern zahlten. Personen, „die offenbar in Schieder ermitteln, dass die Kaufpreise dort einem Zustande von Trunkenheit sind, wer- im Durchschnitt 57 Prozent über den Schätz- den von der Versteigerung ausgeschlos- werten lagen. Man wird sicherlich die Ver- sen“,24) hieß es im „affiche“. Das Tholeyer hältnisse in den Departements nicht gleich- Gut wurde von der französischen Verwal- setzen können, aber eine Abweichung von tung nur als Ganzes angeboten. Die bishe- weit mehr als 1000 Prozent ist unerklärlich. rigen Pächter kleiner Parzellen, die gehofft Es kann sich auch nicht um einen Schreib- hatten, diese Parzellen als Eigentum er- fehler gehandelt haben, denn die Quittun- werben zu können, hatten dazu keine Mög- gen über die geleisteten Zahlungen sind lichkeit. Dazu bedurfte es kapitalkräftiger vorhanden. Entweder war der Schätzwert Bieter. Als Termin für die Versteigerung viel zu niedrig angesetzt und die Bieter wurde der 5. Februar 1811 festgelegt. Um wussten dies oder die Bieter hatten, wobei 10 Uhr sollte an diesem Tag im „Hotel der die Gründe allerdings nicht bestimmbar Das ehemalige Kreuznacher Bankhaus Sahler in der Präfektur“ in in Gegenwart des Prä- sind, ein sehr großes Interesse daran ge- Hochstraße 25. fekten zur „endlichen Versteigerung […] habt, gerade dieses Gut zu ersteigern. Viel- Fundstelle: Adreßbuch von Stadt und Keis Bad Kreuznach 1910 geschritten werden“25) leicht trifft in diesem Fall beides zu. Gemäß den Versteigerungsbedingungen konnte die Zahlung des Kaufpreises in fünf 4.2.3. Der Ablauf der Versteigerung Teilbeträgen erfolgen, wobei die erste Zah- war als das Tholeyer Gut, für 23 500 Francs lung zinslos in den ersten drei Monaten ersteigert. Den Zuschlag für dieses Gut hat- Nach dem Aufruf des Versteigerungsob- nach der Steigerung geleistet werden muss- te zwar zunächst der aus Kreuznach stam- jektes „Ehemaliges Tholeyisches Hofgut“ te. Die verbleibenden Zahlungen mussten mende Jude Isaak Heymann erhalten. Es wurde vom Versteigerer die erste Kerze ent- jährlich mit jeweils fünf Prozent auf den wurde auch der Kaufvertrag auf dessen Na- zündet. Bis zum Erlöschen der Kerze konn- Restwert verzinst werden. men ausgestellt. Dieser Vertrag wurde je- ten Gebote abgegeben werden. Danach doch nachträglich annulliert und Christoph wurde die zweite Kerze entzündet und es Sahler als Käufer eingesetzt. Die Gründe konnten bis zum Erlöschen der Kerze wie- 4.2.4. Die Mitwirkung des Bankhauses Sahler hierfür sind nicht bekannt. der Gebote abgegeben werden. Der Zu- in Kreuznach schlag erfolgte nicht eher, „als bis ein letz- teres Licht angezündet worden, und erlo- Freyburger wird in den Dokumenten als 4.2.5. Die Zahlung des Kaufpreises schen ist, ohne daß während dessen ein Ge- „aubergiste“( Gastwirt bzw. Hotelier) be- bot gethan worden, jedoch dürfen in kei- zeichnet. In einer Auflistung der 13 häu- Gemäß dem notariellen Vertrag zwischen nem Fall weniger als drei Lichter angezün- figsten Berufe der Steigerer für das Depar- Friedrich Freyburger und Christoph Sahler det werden, wenn gleich das zweite erlo- tement Rhein-Mosel stehen die „aubergis- konnte Sahler über die Güter frei verfügen, schen wäre, ohne daß dabei ein Gebot ge- ten“ an sechster Stelle.26) Es ist also keines- hatte aber auch die Aufgabe, die fälligen than worden“. Wie viele Kerzen bei der Ver- wegs ungewöhnlich, dass ein „aubergiste“ Gelder zu beschaffen. Sahler zahlte die ers- an dieser Versteigerung teilnahm. Überra- te der fünf Raten in Höhe von 8140,28 schend ist jedoch, dass Freyburger bereits Francs (einschließlich Quittungsmarke von innerhalb der Dreimonatsfrist, in der die ers- 28 Centimes) an den „receveur des domai- te Rate zu zahlen war, mit Christoph Sahler nes“ (Domäneneinnehmer) in Bingen am 4. vom Kreuznacher Bankhaus Sahler einen Mai 1811 selbst, und zwar genau einen Tag notariellen Vertrag schloss, in dem er Sah- vor Ablauf der Drei-Monats-Frist für das ers- ler eine umfangreiche Vollmacht übertrug. te Ziel. Auch die zweite Rate in Höhe von Sahler konnte danach im Namen Frey- 9788,28 Francs (einschl. Zinsen) zahlte Sah- burgers das erworbene tholeyische Gut zu ler am 4. Mai 1812 selbst ein. Die dritte Rate Preisen und Konditionen verkaufen, wie er bezahlte ein Herr Nicolas Turkheim „im es für angemessen erachtete ( qu'il jugera Auftrag und für Rechnung“ Sahlers recht- convenable).27) zeitig am 1. Mai 1813. Die vierte Zahlung Johann Christoph Sahler hatte im Jahre Sahlers erfolgte mit erheblicher Verspätung 1805 in dem schon früher von ihm erbauten erst am 19. August 1814. Wegen dieser ver- Haus Hochstraße 25 seinen Handelsbetrieb späteten Zahlung hatte Sahler zusätzlich unter dem Namen „Sahler und Co.“ eröff- Verzugszinsen in Höhe von fünf Prozent auf net. Aus dem Handelsbetrieb für Landes- den ausstehenden Betrag zu leisten. Man produkte und Wein entwickelte sich all- muss annehmen, dass diese verspätete Zah- mählich das Bankhaus Sahler.28) Familiäre lung kein Versehen Sahlers war, denn er Bindungen bestanden zum Beispiel zu den hielt auch die Zahlung für das in Familien Puricelli und Karcher. gelegene Ruppertsberger Gut zurück und Ob sich Sahler und Freyburger schon vor zahlte ebenfalls erst im August, nachdem er der Versteigerung kannten oder ob Sahler durch Mahnung dazu aufgefordert worden sogar selbst an der Versteigerung des tho- war. Vielleicht wollte Sahler die weitere po- leyischen Hofgutes aktiv teilgenommen litische Entwicklung abwarten und keine hatte, ist nicht bekannt. Sahler hatte bereits Zahlungen an den „falschen“ Adressaten vorher im Departement Rhein-Mosel zehn leisten. Die letzte Rate zahlte Johann Mi- Objekte im Wert von 156 392 Francs er- chael Brandt vorzeitig bereits im April 1815 worben und gehörte damit zu den „Groß- im Namen Sahlers und zwar nicht in bar, käufern mit Kapitaleinsatz von mehr als sondern, wie bereits im Vorjahr, „an Zah- Mit einem zweisprachigen Plakat („affiche“) wurde 100 000 Francs“.29) Christoph Sahler hatte lungs statt“30) mit einem Ablieferungsschein die Versteigerung der ehemaligen Klostergüter be- auch am 1. März 1811 das in Volxheim ge- für Fourage-Lieferungen. Johann Michael kannt gemacht. legene Ruppertsberger Gut des Convents Brandt war der Schwager Johann Christoph Kopiervorlage: Landesarchiv Speyer Eibingen, das flächenmäßig noch größer Sahlers. Brandt hatte dessen Schwester An- 4 (Seite 12 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 3/2015

na Helene Jakobine 1803 in Kreuznach ge- 4.2.7. Der Weiterverkauf Anmerkungen: heiratet. Brandt arbeitete als Handelsherr in der Firma Sahler und Co. 31) Vermutlich war Der Verkauf der Tholeyischen Güter 1) http://www.abtei-tholey.de/geschichte_ er Teilhaber dieser Firma. durch das Bankhaus Sahler begann laut wiederbesiedlung.html eingesehen am den Eintragungen in den Grundsteuerbü- 29.10.2013 chern im Jahr 1820. Eine Parzellierung 2) Hellriegel,Ludwig: Benediktiner als Seel- 4.2.6. Die Kapitalaufbringung zum Kauf der der Hofgüter war nicht erforderlich, da sorger im linksrheinischen Gebiet des ehe- Güter das Gut schon vor der Säkularisierung in maligen Erzbistums Mainz; Münster in 78 Parzellen aufgeteilt war, die von ver- Westfalen 1980, Seite 144 Christoph Sahler hatte, wie bereits er- schiedenen Pächtern bewirtschaftet wur- 3) Zitiert nach dem Schreiben des Pfarrers wähnt, schon früher Nationalgüter für den. Von den 78 Parzellen verkaufte das Rohrbach vom 18. Juli 1954 an die Ortsge- 156 392 Francs im Departement Rhein-Mo- Bankhaus Sahler 37 Parzellen an Frei-Lau- meinde Frei-Laubersheim Seite 4; Ortsar- sel ersteigert. Zusammen mit dem Rup- bersheimer Bürger. Einige der Käufer er- chiv Frei-Laubersheim, Kirchenangelegen- pertsberger Hof in Volxheim und dem Tho- warben mehrere Parzellen. Ob die Käufer heiten leyer Gut in Frei-Laubersheim ergibt sich auch die bisherigen Pächter waren, ist an- 4) Ortsarchiv Frei-Laubersheim; Kirchen- ein Schuldbetrag von über 220 000 Francs. hand der Grundsteuerbücher nicht fest- angelegenheiten, Stellungnahme der Ge- Da die Kaufverträge der Nationalgüter des stellbar. meinde zu Frei-Laubersheim. Betr. Baulast Arrondissements Mainz im Donnersberg- Am 4. Juli 1827 wurde das am Röhren- an Kirche und ev. Pfarrhaus zu Frei-Lau- Departement bei einem Brand des Hessi- brunnen gelegene zweistöckige Hofhaus bersheim 1954 schen Staatsarchivs während des Zweiten mit Hofreithe und Garten „im Namen Frey- 5) http://www.saarland-lese.de/index. Weltkrieges vernichtet wurden, können burgers“ durch Sahler an Wilhelm Waller php?article_id=409 eingesehen am 23. Ok- weitere Erwerbungen durch Sahler in un- versteigert und diese Eigentumsänderung tober .2013 serer Region nicht mehr nachgewiesen wer- 1828 im Grundsteuerbuch erfasst. Die 6) Stadtarchiv Bad Kreuznach 763 Nummer den, sind aber durchaus vorstellbar. Es ist Nachfahren Wallers besitzen dieses Anwe- 14: Die Beziehung zwischen dem Herzog nicht anzunehmen, dass Sahler die not- sen noch heute. von Zweibrücken und dem französischen wendigen Kapitalbeträge für die erworbe- 1830 wurden die restlichen 40 Parzellen König ging offenbar über eine freund- nen Güter allein aufbrachte. zwischen Johann Michael Brandt & Co. schaftliche Beziehung hinaus, denn Ludwig Einen Hinweis gibt Armknecht, der über und Friedrich Alexander Sahler, dem jüngs- XV. bezeichnet in einem Schreiben den Christoph Sahler schreibt: „In Gemein- ten Sohn Johann Christoph Sahlers, aufge- „duc des deux ponts“, also den Herzog von schaft mit seinem Schwiegervater Wieder- teilt. Jeder erhielt exakt die Hälfte der Rest- Zweibrücken als „notre très cher et aimé hold und den Besitzern der Rheinböllerhüt- fläche von 7453 Ruthen als Eigentum. cousin“ (unseren sehr teuren und geliebten te, Utsch beziehungsweise Puricelli, sowie Die Gesellschaft Brandt & Co. verkaufte Cousin“). dem Herrn von Recum erwarb er zur alle ihre Parzellen 1832 an Frei-Laubers- 7) Stadtarchiv Bad Kreuznach 763 Nummer Zeit der Säkularisierung des kirchlichen heimer Bürger weiter. Sahler dagegen ver- 14 Besitzes durch die Franzosen ausgedehnte kaufte in den Folgejahren nur einige Par- 8) und 9) Lager, Dr., Domkapitular: Die ehe- Güter und Waldungen“.32) Sicher ist, dass zellen, den Großteil behielt er noch über län- malige Benediktiner-Abtei Tholey; in: Stu- auch sein Schwager J.M. Brandt an der Ka- gere Zeit als Eigentum. Wie hoch die Ge- dien und Mitteilungen zur Geschichte des pitalaufbringung zumindest für das Tho- winne der beteiligten Kapitalgeber aus dem Benediktinerordens und seiner Zweige, 1900 leyer Gut beteiligt war, da später Güter auf Verkauf der Güter waren, ist wegen XXI 2–3; Seite 268 seinen Namen im Grundsteuerbuch von fehlender Kaufverträge leider nicht mehr 10) bis 12) Siehe Anmerkung 5. Frei-Laubersheim eingetragen wurden. Es nachweisbar. 13) Hellriegel, Ludwig, a.a.O. Seite 143 bleibt festzuhalten, dass Frei-Laubers- Fest steht jedoch, dass die Behauptung 14) Stadtarchiv Bad Kreuznach 763 Num- heimer Bürger bei der Versteigerung der des Pfarrers Linß, die von mehreren mer 14 Tholeyer Güter nicht zum Zuge kamen. heimatkundlichen Autoren übernommen 15) Zum Beispiel bei Springer: Festschrift Nach außen trat das Bankhaus Sahler als wurde, nämlich dass die Ortsgemeinde zum 200jährigen Bestehen der Pfarrkirche Käufer in Erscheinung. Tatsächlich aber Frei-Laubersheim am Verkauf „pekuniär“ St. Mauritius und Gefährten in Frei-Lau- standen hinter Sahler wohlhabende Bürger gewonnen habe, nicht zutrifft. Die Gewin- bersheim, 1996, Seite 42. als Kapitalgeber, die sich durch spätere Par- ner waren, sofern Gewinne angefallen wa- 16) E-Mail des Historikers Johannes Nau- zellierung der großen Güter hohe Gewinne ren, kapitalkräftige Bürger aus Kreuznach mann Kloster Tholey vom 08. Oktober 2013 erhofften. und seiner Umgebung. an den Verfasser 17) Anmerkung von Johannes Naumann, Tholey, durch E-Mail vom 24. Dezember 2013: Die Tholeyer Republik muss gelesen werden „Tholey, Republik“. Es gab keine Re- publik Tholey, aber das Nationalgut gehörte der Republik Frankreich, also dem Fiskus. 18) Schieder, Wolfgang und Alfred Kube: Säkularisierung und Mediatisierung, Band IV, Boppard 1987, Seite 15 19) Stadtarchiv Bad Kreuznach, Nachlass Sahler, Quittung vom 14. August 1814 20) bis 22) Schieder, a.a.O.: S. 18, 19 und 20 23) bis 25) Landesarchiv Speyer; Signatur G 11 Nr. 113 Abt. VI Nummer 8 26) Schieder, a.a.O. Seite 99 27) Stadtarchiv Bad Kreuznach: Nachlass Sahler 28) Armknecht, K.H.: Die Kurpfälzer Fami- lie Sahler, Berlin-Schöneberg 1937, Seite 23 29) Schieder, a.a.O. Seite 90 30) Stadtarchiv Bad Kreuznach Nachlass Sahler; Quittung vom 19.August 1815 31) und 32) Armknecht, a.a.O., Seite 23

Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach Alex Sahler und J.M. Brandt teilten sich im Jahre 1830 die Parzelle 532 (Auszug aus dem 1802/03 angeleg- e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, ten Frei-Laubersheimer Grundsteuerbuch). Foto: Wolfgang Zeiler, Frei-Laubersheim Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 4/2015

Beilage BadKreuznacher Bad Kreuznach Heimatblätter

Die Kreuznacher Museen unter der Leitung von Dr. Angela Nestler-Zapp

Rückblick auf ein Vierteljahrhundert verdienstvollen Wirkens

VON DR. MICHAEL VESPER, BAD KREUZNACH in der Hüffelsheimer Straße durch und do- kumentierte die Lage von Nebengebäuden der dann in den 1970er Jahren ergrabenen Am 5. Dezember 1933 begann mit der Er- großen römischen Palstvilla. Er erlebte 1966 öffnung des Heimatmuseums in der Kreuz- noch den „Zufallsfund“ des Oceanusmo- straße 69 (heute Stadtbibliothek) die Muse- saiks durch Paul Czepluch in einem Bau- umsgeschichte der Stadt Bad Kreuznach. graben an der Hüffelsheimer Straße. Guth- Gerade einmal vier Personen waren es, die mann ließ den Mosaikboden frei legen und in den vergangenen 81 Jahren Verantwor- ausgraben, allerdings wurde das Kunstwerk tung für die Leitung des Museums bzw. der erst einmal nach Trier verbracht. Er band Museen trugen: Dr. h.c. Karl Geib zudem das schon 1893 aufgefundene Gla- (1933–1951), Otto Guthmann (1951–1966, diatorenmosaik endlich in die Museums- kommissarisch bis 1971), Dr. Hermann Bul- konzeption ein, verlagerte es von der Hüf- linger, M.A. (1971–1988) und Dr. Angela felsheimer in die Kreuzstraße und präsen- Nestler-Zapp (1989–2015), die damit auf die tierte es in einem Anbau des Heimatmuse- längste Amtszeit zurückblickt. ums. Wenn die Stadt nun die Neubesetzung Ein großer Richtungswechsel in der Mu- der Stelle vorbereitet, ist das der richtige seumsentwicklung vollzog sich in der Amts- Zeitpunkt, um die Entwicklung des Muse- zeit von Hermann Bullinger – unter dessen ums unter ihrer Ägide Revue passieren zu tatkräftiger Mitwirkung. Die Museen wur- Dr. Angela Nestler-Zapp, Direktorin der Bad Kreuz- lassen und in den Zusammenhang der Ge- den in den Schloßpark verlagert. Mit der im nacher Museen von 1989 bis 2015, mit der Gruppe schichte seit seinen Anfängen zu stellen. April 1985 eröffneten Römerhalle schuf die „Unbekannte Frau mit zwei Kindern“ von Robert Nicht zuletzt gibt dazu auch das Jubiläum Stadt die Voraussetzungen dafür, dass sie Cauer dem Älteren (1831–1893). Anlass, das die Römerhalle feiert: Vor 30 ihre Funde aus der Römerzeit – vor allem Foto: Matthias Luhn, Bad Kreuznach Jahren öffnete die Ausstellung ihre Türen. das Gladiatorenmosaik – nicht an eines der Landesmuseen abgeben musste. An der großen Grabung auf dem Gelände der rö- Kurz zurück zu den Anfängen: mischen Palastvilla (1975–1980) unter Lei- Diese Fächerkombination, die sowohl ei- tung von Dr. Gerd Rupprecht wirkte Bul- ne wissenschaftliche Betreuung der prähis- Karl Geib sah in dem Aufbau des Muse- linger tatkräftig mit. Er war auf dem besten torischen und archäologischen Bestände als ums seine Lebensaufgabe. Er verfolgte da- Weg, seinen großen Plan einer neuen, sehr auch der kunsthistorischen und stadtge- bei ausdrücklich den Aufbau einer Bil- viel umfassenderen Museumslandschaft zu schichtlichen Sammlungen garantierte, ver- dungseinrichtung, in der „Heimatkunde im verwirklichen, da starb er 1988, im 56. Le- bunden mit einer mehrjährigen Berufser- umfassendsten Sinne“ (Heimatblätter, 5. bensjahr, mitten in der Arbeit. fahrung überzeugte die Gremien. Januar 1933) geboten werden sollte. Eine Ein Jahr nach dem Tod von Hermann Bul- starke Betonung lag auf Natur- und Erdge- linger berief die Stadt Bad Kreuznach im schichte sowie der Vor- und Frühgeschichte Sommer 1989 Dr. Angela Nestler als neue Museumskonzept und Nutzungskonzept bis zur römisch-keltischen Zeit. Karl Geib Museumsdirektorin. für das Rittergut Bangert war es damit gelungen, die Sammlungen des Vereines für Heimatkunde für Stadt Da Dr. Bullinger kurz nach der Über- und Kreis Bad Kreuznach (bis 1918 Anti- Wissenschaftlicher Werdegang siedlung des ehemaligen Heimatmuseums quarisch-Historischer Verein) in ein Muse- in der Kreuzstrasse in das Rittergut Bangert um einzubringen – und damit letztlich zu be- Dr. Angela Nestler-Zapp studierte wie 1985 in der Aufbauphase aus seiner Arbeit wahren. Sein Nachfolger Otto Guthmann, ihr Vorgänger Vor- und Frühgeschichte, zu- gerissen worden war, warteten vielfältige von Beruf Gewerbelehrer, führte das Mu- dem Klassische Archäologie, Ethnologie und Aufgaben auf die neue Museumsleitung. seum ab 1951 zunächst nebenamtlich, ab Kunstgeschichte an der Universität Ham- Vorrangige Aufgabe war die Entwicklung 1960 hauptberuflich und nach seiner Pen- burg. Nach der Promotion 1980 absolvierte eines Museumskonzepts unter Berücksich- sionierung wieder ehrenamtlich. Geib und sie ein Volontariat im Rheinischen Landes- tigung der Besonderheiten und der Schwer- Guthmann kamen aus den Reihen des Ver- museum Bonn. Im Anschluss daran war sie punkte der Kreuznacher Museumsbestände. eins für Heimatkunde und waren der ur- als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rhei- Damit verbunden war die Entwicklung sprünglichen Konzeption des Museums ver- nischen Landesmuseum Trier und als wis- eines Nutzungskonzepts für das ehemalige pflichtet. senschaftliche Mitarbeiterin und schließlich Rittergut Bangert, welches die Umgestal- Guthmann führte als Vertrauensmann stellvertretende Museumsdirektorin im tung und Erweiterung der Museumsanla- der Denkmalpflege erste Probegrabungen Stadtmuseum Simeonstift Trier tätig. gen umfassen sollte. 2 (Seite 14 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 4/2015

konnte. Am Umzug hatte die damalige Ar- chivarin Dr. Andrea Fink großen Anteil, sie übernahm in der Folgezeit auch eine erste Systematisierung der Archivbestände. Un- ter ihrer Nachfolgerin Franziska Blum-Ga- belmann M. A. erfolgte die Herauslösung des Archivs aus dem Museumsverbund, mit dem Ziel diese Pflichtaufgabe der Stadt auf eine neue Grundlage zu stellen.

Umgestaltung der Dauerausstellungen im Schloßparkmuseum

Ein weiteres Ziel war, die Dauerausstel- lungen in Schloßparkmuseum und Römer- halle neu zu strukturieren und ein Konzept für die Sonderausstellungen zu entwickeln. Dabei hatte zunächst das Schloßparkmuse- um Vorrang, dessen Schausammlungen Römerhalle Bad Kreuznach: Hypothetische Rekonstruktion von Wandmalereien aus der römischen Palast- 1989 eine heterogene Präsentation aufwie- villa (Dr. Rüdiger Gogräfe und Irene Bell, Universität Mainz). Bildgeber: Schloßparkmuseum Bad Kreuznach sen. Durch den Umzug des alten Heimat- museums in das denkmalgeschützte Ritter- gut Bangert, die Schaffung zweier getrenn- ter Museumsbauten mit der dazugehörigen Ein wichtiger Punkt war die Verlagerung leer stehende ehemalige Max-Planck-Insti- römischen Palstvilla hatte sich auch der der naturwissenschaftlichen Sammlungen tut einer sinnvollen kulturellen Nutzung zu- Charakter des Museums geändert. Es galt in zusätzliche neu zu schaffende Räume, zuführen. Im Rahmen der Förderung von daher, ein eigenes Profil für das Museum zu denn das Schlösschen mit seiner vom His- Künstlern und Künstlergruppen aus Stadt erarbeiten und die Dauerausstellungen zu- torismus geprägten Innenausstattung schien und Region wurde von der damaligen Kul- gunsten einer zeitgemäßen, stadt- und weniger für naturwissenschaftliche Präsen- turdezernentin Renate Weirich die Einrich- kunstgeschichtlich ausgerichteten Konzep- tationen als vielmehr für Präsentation von tung des Install als Ausstellungsraum der tion neu zu strukturieren. Kunst und Kultur geeignet. So wurde denn Stadt Bad Kreuznach initiiert und vorange- Im Untergeschoss wurde die weitgehend auch in dem Nutzungskonzept formuliert: trieben. Die Einrichtung eines dritten Mu- ungeordnete Sammlung zur Vor- und Früh- „Die Nutzung des Schlösschens als reines seums, des Museums für Puppentheater- geschichte aus Stadt und Kreis im Rahmen Kunstmuseum für die Sammlung Cauer, die Kultur, dessen Realisierung auf das Enga- von AB-Maßnahmen bis 1993 neu gestaltet grafische Sammlung und den Gemäldebe- gement von Kulturdezernentin Helga Bau- und didaktisch aufbereitet. stand wäre langfristig wünschenswert und mann zurückgeht, stellte eine wichtige Er- Im Erdgeschoss trat sukzessive an die würde dem Charakter der Räumlichkeiten weiterung der Museumslandschaft dar. Hier Stelle einer geologisch/paläontologischen wesentlich besser Rechnung tragen. Zwei war Dr. Nestler-Zapp in die Planungen ein- Dauerausstellung eine stadt- und kunstge- Kabinette im Erdgeschoss sollten dem Be- bezogen, wobei sie mit den museologischen schichtliche Präsentation zur Geschichte sucher Aufschluss über die Geschichte des Aspekten der Neugründung betraut war. des Rittergutes Bangert, zur Geschichte des Schlösschens und seiner wechselnden Ei- 2005 konnte das Museum für Puppenthea- Kurbetriebes (inklusive Dr. Prieger und Dr. gentümer geben.“ terKultur eröffnet werden. Aschoff) und mit Ansichten von Kreuznach Zusätzliche Räumlichkeiten für die Er- Die unzureichende Unterbringung des und Region sowie Kreuznacher Künstler. weiterung der Schausammlungen sollten in Stadtarchivs, das in Räumen der Grund- Im Obergeschoss erfolgte eine Neuge- den Nebengebäuden auf dem Wirtschafts- schule Planiger Strasse und verstreut in an- staltung der Sammlung. Nach umfangrei- hof des Rittergutes geschaffen werden. Dort deren Gebäuden lagerte, war bereits von chen Restaurierungsmaßnahmen der Cau- sollten Dauerausstellungen zu Themen der den Vorgängern Dr. Nestler-Zapps moniert er-Bestände wurde 2000 eine Sonderaus- Stadtgeschichte wie Weinbau und Weinge- worden. Daher war der Umzug des Stadt- stellung zur Geschichte dieser Familie er- nuss, Industrialisierung (zum Beispiel Glas- archivs eine erste wichtige Maßnahme zu öffnet, die später zum Teil in die Daueraus- hütte) und die Geschichte der Kurstadt prä- einer angemesseneren Unterbringung der stellung einfloss. Heute ist das gesamte sentiert werden. Archivalien, für die sich auch Kulturdezer- Obergeschoss der Bildhauerfamilie Cauer Ein Desiderat war die Schaffung ad- nentin Renate Weirich einsetzte. Das Pfört- gewidmet, hinzu kommen Arbeiten der in äquater Magazinräume für eine konserva- nerhäuschen wurde ertüchtigt und umge- den 50er Jahren in Bad Münster am Stein le- torisch unbedenkliche Lagerung nicht aus- rüstet, so dass das Archiv hier einziehen benden Glaskünstlerin Ida Paulin. gestellter Bestände. Zusätzliche Räumlichkeiten für das da- mals zum Museumsbereich gehörende Ar- chiv waren ebenso vorgesehen wie Werk- räume für museumspädagogische Angebo- te und Räume für größere Veranstaltungen, Kunst und Künstlerförderung, eine Vino- thek sowie ein Café. Frau Dr. Nestler legte dieses Konzept zur Stellungnahme dem Landesamt für Denk- malpflege in Mainz vor. Dr. Rupprecht ant- wortete am 16. Juli 1991: „Mit Freuden ha- ben wir Ihre ausführlichen Darlegungen ge- lesen und können sie von unserer Seite nur noch unterstreichen. Ihnen ist es gelungen, zum ersten Mal in der Kreuznacher Muse- umsgeschichte ein klares und überzeugen- des Konzept vorzulegen.“ Wesentliche Punkte des Konzepts flossen zwar in den Bebauungsplan ein, in den da- rauf folgenden Jahren unterlag das Konzept jedoch zahlreichen Modifikationen und Ein- schränkungen, die politisch beziehungs- weise finanziell begründet waren. Dessen Ein instruktives Element der Umgestaltung der Römerhalle bildet auch diese Visualisierung des spätantiken ungeachtet wurden Teile des Konzepts um- Bad Kreuznacher Römerkastells von Diplom-Designerin Irene Bell (Universität Mainz). gesetzt. Dabei ging es vor allem darum, das Bildgeber: Schloßparkmuseum Bad Kreuznach Bad Kreuznacher Heimatblätter - 4/2015 (Seite 15 des Jahrgangs) 3

zung des Gladiatorenmosaiks standen, ih- ren Anfang. Mit Unterstützung von Dr. Gerd Rup- precht, Landesarchäologe in der General- direktion Kulturelles Erbe, Direktion Ar- chäologie, Mainz, der eine erhebliche An- stoßfinanzierung für diese Arbeiten ermög- lichte und mit Hilfe der Dr. Hermann Bul- linger und Inge Bullinger-Pittler-Stiftung konnte Dr. Nestler-Zapp diese Arbeiten in Angriff nehmen. In einer aufwendigen Ak- tion wurden die zentnerschweren Grab- denkmäler durch den Bildhauer- und Stein- metzbetrieb Andreas Graffé, Mainz, aus dem Kellergeschoss in die ebenerdige Aus- stellungshalle verbracht, wo die Neuauf- stellung erfolgte. Die Grabsteine, die zwischen 1859 und 1860 auf dem Gräberfeld von Bingerbrück ge- Die neugestaltete Dauer–Ausstellung im Obergeschoss des Schloßparkmuseums Bad Kreuznach zeigt borgen wurden, gehören neben den Mosaik- Werke mehrerer Generationen der Bildhauerfamilie Cauer. Bildgeber: Schloßparkmuseum Bad Kreuznach böden zu den bedeutendsten Funden in der Römerhalle, denn sie geben wichtige Infor- mationen zur römischen Militärgeschichte. Ein von Dr. Nestler-Zapp 2007 an das Sonderausstellungen im Schloßparkmuseum Archäologie und Ethnologie des Nahelan- Land gestellter Antrag für eine Förderung des, zu übergreifenden kulturhistorischen der Modernisierung der Römerhalle war er- Die Wechselausstellungsräume im Themen (zum Beispiel Weihnachtsbräuche, folgreich. Rheinland-Pfalz bezuschusste das Schloßparkmuseum, die 1989 mit den fra- Spielzeug), zu Künstlern des 19. und frühen Projekt „Ausbau und Modernisierung der gilen Pflanzen des Herbar Geisenheyner 20. Jahrhunderts aus Stadt und Region so- Römerhalle Bad Kreuznach“ im Rahmen belegt waren, wurden für Wechselausstel- wie Rheinland-Pfalz (zum Beispiel Maler der Förderung des „Kulturerbe der Regi- lungen aktiviert. Das lichtempfindliche Her- Müller, Louis Kauffmann, Karl Kastenholz, on“. Von den gesamten Projektkosten in bar wurde in Mappen verpackt und einge- Heijo Hangen, Kubach-Wilmsen, Nelli Höhe von 184 000 Euro, übernahm das lagert, da es sich nicht für eine ständige Prä- Schmithals, Hans Schmithals) sowie zu be- Land 75 Prozent. Die Arbeiten erstreckten sentation eignete. deutenden Kunstschaffenden anderer Pro- sich auf insgesamt vier Jahre. Dr. Nestler-Zapp kann auf eine umfang- venienz. Zunächst galt es, die römische Palastvilla reiche Ausstellungstätigkeit zurückblicken, Die Förderung von Künstlern aus Stadt von Bad Kreuznach ihrer archäologischen denn, so ihr Konzept, „Erfahrung in allen und Land war ein Schwerpunkt der Arbeit Bedeutung gemäß zu präsentieren, wobei Museen zeigt, dass es nicht die Daueraus- von Dr. Nestler-Zapp, die sich nicht nur in Schwerpunkte die Baugeschichte der Villa stellungen sind, welche die Besucher ins der Ausstellungstätigkeit, sondern auch in und das Leben der Villenbewohner bilde- Museum ziehen, sondern die Sonderaus- zahlreichen Katalogbeiträgen niederschlug. ten. stellungen.“ In der öffentlichen Diskussion tauchte ge- Ein neuer Gedanke war, den Fokus nicht Durch diese Ausstellungen wurden seit legentlich das Argument auf, das Schloß- nur auf die Mosaikböden zu richten, son- 1989 auch die Bestände sowie Neuerwer- parkmuseum sei „zu wenig“ stadtge- dern den Besuchern auch die qualitätvollen bungen und Schenkungen des Schloßpark- schichtliches Museum. Hiergegen ist ein- Wandmalereien der Villa zu veranschauli- museums zum großen Teil erstmals wis- zuwenden, dass weder das Raumprogramm chen. Der Mainzer Archäologe Dr. Rüdiger senschaftlich bearbeitet und der Öffent- noch die kunstgeschichtlichen Sammlungs- Gogräfe, ein Spezialist für römische Wand- lichkeit präsentiert. schwerpunkte eine solche Konzeption rea- malerei, entwickelte in Zusammenarbeit Neben der Bildhauerfamile Cauer, deren lisierbar machen. Die Materialien zur Kur mit Irene Bell, Grafikerin am Institut für Schaffen u. a. im Jahr 2000 mit einer großen etwa können nur eine Andeutung sein und Vor- und Frühgeschichte der Universität Ausstellung zu allen Generationen gewür- eine große kurgeschichtliche Ausstellung Mainz, digitale Rekonstruktionen von digt wurde, waren es vor allem Künstler nicht ersetzen. Auch das Geib-Museum war Wanddekorationen aus der Villa. Drei Wän- und Künstlerinnen des 19. und frühen 20. kein stadtgeschichtliches Museum in die- de im Maßstab 1:1 sollten eine Vorstellung Jahrhunderts, deren Werke und Leben ge- sem Sinne. Zum anderen trägt die Schwer- vom Musterrepertoir der Prachtvilla ver- zeigt und in ihren Zeithintergrund einge- punktsetzung auf die Kulturgeschichte des mitteln. Die differenzierte Oberflächen- ordnet wurden – oft mit stadt- und regio- 18. bis 20. Jahrhunderts dem Charakter der struktur der Wandmalereien wurde mit den nalgeschichtlichem Kontext. Sammlungen Rechnung. Eine statische hei- Mitteln moderner Grafikprogramme erfasst Für die gesamte Öffentlichkeitsarbeit, matgeschichtliche Sammlung hätte zudem und nachgeahmt, ebenso die unterschiedli- einschließlich Veranstaltungen und Aus- nur geringe Aussichten auf einen nachhal- chen Spuren handwerklicher Oberflächen- stellungen, standen dem Schloßparkmuse- tigen Publikumszuspruch. behandlung. um in den vergangenen Jahrzehnten zwi- Die Museen richten sich nicht nur an Das Alltagsleben der Bewohner im Vicus schen 5000 und 7000 Euro pro Jahr zur Ver- Kreuznacher Bürger (Einzelbesucher, Fa- sowie das spätantike Kastell bildeten wei- fügung. Trotz dieser vergleichsweise ge- milien, Senioren, Kindergärten und Schu- ringen Summe wurden in 25 Jahren 147 len), sondern auch an Besucher überregio- Ausstellungen realisiert. „Ohne die Unter- naler Herkunft wie Jugendherbergsgäste, stützung von Sponsoren wären viele Auf- Touristen, Gruppenreisende, Kulturinteres- gaben nicht zu stemmen gewesen“, so Dr. sierte, Wanderer und Wellnessbesucher. Nestler-Zapp. Vieles wäre nicht möglich ge- Somit bilden die Museen auch wichtige wesen, wenn die Museumsleitung nicht hät- Faktoren bei der Vermarktung der Stadt te auf die Unterstützung der Dr. Hermann Bad Kreuznach. Bullinger und Inge Bullinger-Pittler-Stif- tung hätte zurückgreifen können. Auch die gute Kontaktpflege zu privaten Leihgebern, Umgestaltung der Römerhalle sowie Kooperationen mit anderen Museen, Universitäten und Galerien machten Aus- Da die Umgestaltung des Schloßpark- stellungen mit „kleinem oder keinem Bud- museums die 90er-Jahre in Anspruch nahm, get“ möglich. blieb es bei der Römerhalle zunächst im we- Veranstaltet wurden Ausstellungen zur sentlichen bei der von Bullinger entwickel- Bad Kreuznacher Stadtgeschichte (zum Bei- ten Konzeption. spiel: Die Kreuznacher Glashütte, Die Fa- Die Umgestaltung der Römerhalle nahm milie Puricelli, Die Familie von Recum, 700 2006 mit der Translozierung der Binger- Glaskunst von Ida Paulin (1880-1955): Fensterdetail Jahre jüdische Geschichte, 100 Jahre brücker Grabsteine, die weitgehend unbe- im Schloßparkmuseum Bad Kreuznach. Schneider-Kreuznach), zu Erdgeschichte, achtet im Umgang um die Hypokausthei- Bildgeber: Schloßparkmuseum Bad Kreuznach 4 (Seite 16 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 4/2015

tere Schwerpunkte. Zahlreiche Exponate Während für die Bestände des Schloß- belegen direkt und indirekt Handel und parkmuseums zusätzliche Magazinräume Handwerk im römischen Kreuznach und die geschaffen wurden, unterblieben die not- Integration der einheimischen Bevölkerung wendigen Erweiterungen der Magazinräu- durch Übernahme römischer Kulturerzeug- me für die römischen Bestände, da die Ne- nisse und römischer Lebensart. bengebäude einer neuen Nutzung zuge- Eine großformatige digitale Idealrekonst- führt worden waren. Aus konservatorischer ruktion des römischen Vicus von Bad Kreuz- Verantwortung für das Kulturgut der Stadt nach vermittelt eine Vorstellung vom Aus- Bad Kreuznach wurde in Absprache mit sehen und der Ausdehnung der römischen dem damaligen Leiter der Denkmalpflege, Siedlung, eine zweite digitale Rekonstruk- Dr. Gerd Rupprecht, der die Kreuznacher tion zeigt das spätantike Kastell. Als Feri- Verhältnisse kannte, das Gros der nicht in enprojekt des Gymnasiums an der Stadt- der Römerhalle gezeigten Funde in die Ma- mauer entstand im Sommer 2014 gemein- gazine der Archäologischen Denkmalpflege sam mit einer Schüler-Arbeitsgruppe ein Mainz verbracht. Es handelt sich um die Modell des Kastells im Maßstab 1:200. Ba- Funde aus Bingerbrück, dem Vicus, dem sierend auf den jüngsten Forschungen zu Kastell und der Palastvilla. „Für dieses Ent- spätantiken Kastellen von Arno Braun MA, gegenkommen bin ich den dortigen Kolle- Universität Mainz, erstellte Bodo Zapp ei- gen sehr dankbar“, so Museumsdirektorin nen Entwurf, dessen Umsetzung gemein- Dr. Angela Nestler-Zapp, „auch wenn es sam mit der Arbeitsgruppe begonnen und Undatiertes Selbstporträt der Bad Kreuznacher schmerzlich ist, dass der Zugriff auf die für später für die Dauerausstellung in der Rö- Malerin Helene Voigtländer (1857-1934). die archäologische Vergangenheit unserer merhalle professionell überarbeitet wurde. Bildgeber: Schloßparkmuseum Bad Kreuznach Stadt bedeutenden Funde nicht mehr un- Mit der Einbeziehung zeitgemäßer Me- mittelbar möglich ist.“ dien und spielerischer Elemente schließt die neu gestaltete Römerhalle nun didaktisch an das 21. Jahrhundert an. Die Ausstellung tionalen Museumstag, spezifisch „römi- Publikationen (Auswahl) mit ihrem erweiterten Themenspektrum sche“ Angebote am seit nunmehr acht Jah- lädt dazu ein, das römische Kreuznach neu ren stattfindenden „Römertag“, die Muse- Begleitbücher zu Ausstellungen zu entdecken. Speziell für die jungen Be- umskoffer „Steinzeit“ und „Römerzeit“ für im Schloßparkmuseum: sucher gedacht sind Juniortafeln und Mit- den Einsatz in Schulen, sowie Kostümfüh- machstationen, die den Rundgang durch rungen tragen den neuen Anforderungen Klaus Freckmann und Angela Nestler-Zapp die Römerhalle zu einem Erlebnis werden an die Museumsarbeit Rechnung, zu denen (Hrsg.): „Die Bildhauerfamilie Cauer“, lassen. Künftig können auch Lehrer den Be- auch die Vermarktung von Räumlichkeiten 2000 such in der Römerhalle besser in den Un- des Schloßparkmuseums und der Römer- terricht integrieren. Ein Quiz für Grund- halle gehören. Karl-Heinz Mader: „Heinrich Wilhelm schulkinder und ein Quiz für die Sekun- Storck im 'Sir John Falstaff' und anders- darstufe II vermitteln Inhalte und fordern wo“, Redaktion und Vorwort von Angela zum Hinschauen und Kombinieren auf. Konservierung und Restaurierung von Mu- Nestler-Zapp, Bad Kreuznach 2004 seumsgut aus Schloßparkmuseum und Rö- merhalle Angela Nestler-Zapp: „Abstrakt bis mär- Museumspädagogische Angebote chenhaft: Die bemalten Gläser der Künst- und Programme Ausstellungen und öffentlichkeitswirk- lerin Ida Paulin“, Bad Kreuznach und Bad same Veranstaltungen stellen den Teil der Münster am Stein-Ebernburg 2006 Die Öffentlichkeitsarbeit und die Ver- Museumsarbeit dar, welcher von der Öf- mittlung der Sammlungen waren ein wei- fentlichkeit wahrgenommen wird. Die Be- Angela Nestler-Zapp und Bodo Zapp: „Bad terer wichtiger Bestandteil der Museums- wältigung anderer Notwendigkeiten der Kreuznach mit feiner Feder- Zeichnungen arbeit der vergangenen 25 Jahre. Regel- musealen Arbeit geschieht meistens von von Bodo Zapp“, Bad Kreuznach 2007 mäßig erscheinende Programme informier- der Öffentlichkeit unbemerkt, so die Pflege ten über Vorträge, Führungen, Workshops der Sammlungen. Hier erfolgten in den ver- H. Heidermann, M. Kramp, A. Nestler- und Ferienaktionen, deren Gestaltung und gangenen Jahrzehnten umfangreiche kon- Zapp, F. Schellack, B. Schulte: „Von inne- Durchführung freiberuflichen Mitarbeitern servatorische sowie Restaurierungsmaß- rer Überzeugung beseelt ...“, Bad Kreuz- und Mitarbeiterinnen übertragen wurden. nahmen der Grafikbestände, der Gemälde, nach 2008 Museumsfeste mit Reenactment-Grup- der Cauer-Skulpturen sowie der archäolo- pen, die Teilnahme am jährlichen interna- gischen und geologischen Sammlungen. Angela Nestler-Zapp: „Paul Nobis: Maler, Grafiker, Designer“, Bad Kreuznach 2012

Andrea Richter: „Hans Schmithals – Zwi- schen Jugendstil und Moderne“, heraus- gegeben von Angela Nestler-Zapp, Bad Kreuznach 2014

Publikationen zur provinzialrömischen Geschichte:

Angela Nestler-Zapp: „Die Soldatengräber von Bingerbrück“, Bad Kreuznach 2007

Sabine Hornung: „Luxus auf dem Lande – Die römische Palastvilla von Bad Kreuz- nach“, herausgegeben von Angela Nestler- Zapp, 2. erweiterte Auflage, Bad Kreuznach 2011

Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein Museumsdirektorin Dr. Angela Nestler-Zapp, Ministerpräsidentin Malu Dreyer und Dr. Josef Staub, Ge- für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach schäftsführer der Schneider-Gruppe, bei der Eröfffnung der Ausstellung „Die Welt im Fokus – 100 Jahre e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Schneider Optische Werke Bad Kreuznach“ im Februar 2013. Bildgeber: Schloßparkmuseum Bad Kreuznach Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 5/2015

Beilage BadKreuznacher Bad Kreuznach Heimatblätter

Was verbindet die Ebernburg mit der Stanford University? Das nachhaltige Wirken eines Ritters auf der Ebernburg

VON DR. FRIEDRICH ULBRICHT, KOBLENZ

Vorbemerkung

Im Mittelpunkt der Suche nach dem Bin- deglied zwischen beiden Institutionen ste- hen die Wirren der Zeit zu Beginn des 16. Jahrhunderts, das hierdurch ausgelöste Wirken Ulrich von Huttens und - mehr ge- streift - das Martin Luthers und Franz von Si- ckingens. Es folgt die Darstellung einiger charakteristischer Merkmale der kaliforni- schen Universität und schließlich die über- raschende Klärung der gestellten Frage. Durch die gewollt knappe Darstellung des Stoffes lässt sich mitunter eine plakative, vereinfachte und zugespitzte Form nicht vermeiden; näheres ist der umfangreichen Literatur zu entnehmen.

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Im Mündungswinkel von Alsenz und Na- he im Bad Kreuznacher Stadtteil Bad Müns- ter am Stein- Ebernburg liegt auf einem Felsvorsprung die Ebernburg. Was für eine Verbindung kann diese Burg zu einer der bedeutendsten Universitäten der Welt ha- ben? Viele Bewohner des unteren Nahetals kennen die Sage, die der Ebernburg ihren Namen gab. In ihrem Mittelpunkt steht be- kanntlich eine List ihrer Bewohner: sie wol- len trotz einer langen Belagerung ihre Frei- heit nicht verlieren. Im Morgengrauen eines jeden Tages packen sie den einzig verblie- benen Eber an den Beinen, werfen ihn auf den Rücken, als ob sie ihn schlachten woll- ten; das arme Tier erhebt darauf ein schreckliches Geschrei und wird bald wie- Die Ebernburg im Jahr ihrer Zerstörung (1523). Holzstich von Jobst Denecker. der frei gelassen. Durch dieses Spiel wird Fundstelle: Wolfgang Reiniger, Stadt- und Ortsansichten des Kreises Bad Kreuznach, Bad Kreuznach 1990, Seite 68 der Feind so lange getäuscht, bis auch ihm die Nahrung ausgeht und er „unverrichte- ter Dinge“ abziehen muss. Diese Sage führt noch nicht zu dem ge- Was symbolisiert dieses Denkmal? Was - Es ist die Zeit einer sich erstmals bil- suchten Bindeglied. Aber ein Wort daraus ist macht beide Personen zu Vorkämpfern der denden kleinen Bürgerschicht, gefördert der „rote Faden“, der zu ihm hinführen Einheit? Werden beide Fragen weiterfüh- durch den wachsenden Handel, aber auch wird. So ist denn weiter zu fragen, ob das un- rende Hinweise zum Auffinden des ge- mit der Folge erster sozialer Spannungen. terhalb der Burg stehende, 1889 enthüllte suchten Bindegliedes geben? Zunächst ist - Es ist die Zeit des weiterhin währenden Denkmal mit den beiden Reichsrittern Ul- die Zeit aufzusuchen, in der Hutten und Si- Kampfes um die Macht zwischen Kaiser rich von Hutten und Franz von Sickingen be- ckingen gewirkt haben. Es ist die Zeit zu An- und Papst, zurückgehend auf Konstantin ziehungsweise die Inschrift auf seinem So- fang des 16. Jahrhunderts, der langsame den Großen, römischer Kaiser von 306 bis ckel, „Den Vorkämpfern der deutschen Ein- Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit. 337. Er schenkte um 315 Rom, Italien und heit“, zur Lösung des Rätsels führen könnte. Eine turbulente, unruhige Zeit: die Westhälfte des römischen Reiches Papst 2 (Seite 18 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 5/2015

ten an jedermann verteilen. Wer ist dieser hafter bleibt Luther – mit seinen von Gott Mann, der sich erlaubt, solch Ungeheuerli- her kommenden Worten. Die Reformbe- ches (auch wenn es zutrifft) zu verbreiten, strebungen erfassen immer mehr Men- gar an den Grundfesten der römischen Kir- schen. Von Papst Leo X. wird ihm der Bann che zu rütteln? angedroht. Ulrich von Hutten (1488 bis 1523), ent- Für Hutten soll es bald richtig gefährlich stammte einem fränkischen Reichsritterge- werden. Steht er wegen seiner vom Frei- schlecht (Reichsritter sind nur dem Kaiser heitsgedanken her kommenden Kampf- gegenüber zur Treue verpflichtet). Durch schriften schon unter strenger Beobach- diese Herkunft fühlte er sich dem Ideal der tung, wird er nun in Rom als Bekenner Lu- Freiheit verpflichtet. Das gab ihm die Kraft thers verraten. Jetzt, so sagen ihm seine für sein späteres schriftstellerisches und po- Freunde, ist sein Leben in Gefahr. So bleibt litisches Wirken: er kämpfte gegen jedwede ihm nur noch die Flucht auf einen sicheren Ungerechtigkeit – besonders wenn Macht- Ort, die Ebernburg, zu seinem Freund Franz missbrauch, wie zum Beispiel Fürstenwill- von Sickingen (1481 bis 1523). Dort trifft er kür, im Spiel war – und er setzte sich für das im September 1520 ein. Ansehen seines Kaisers Maximilian I. (er Diese Burg, urkundlich erstmals 1209 er- starb Anfang 1519) und die Unabhängigkeit wähnt, hatte zu jener Zeit eine Art Resi- und Erneuerung des Reiches ein. Nach Klos- denzcharakter. Der Burgherr stand mit sei- terschule, verschiedenen Universitäten (mit ner Macht – er befehligte zeitweise bis zu besonderem Interesse für die antike Kunst 15 000 Mann und beherrschte damit große der Rede und der Feder), drängte es ihn Teile des Rheintales – und Bedeutung kaum bald in das öffentliche Dasein. Fand er Un- der eines Fürsten nach. Bei seiner Ankunft recht, griff er zur Feder, manchmal den war Hutten nicht in bester Verfassung: sei- Blick für das rechte Maß verlierend. Nach ne Brautschau vergebens, seine finanzielle Wanderjahren in Deutschland und zwei Ita- Lage nicht zum Besten stehend, seinem lienaufenthalten, dazwischen beim mächti- Ziel, die römische Fremdherrschaft über Der Reichsritter Ulrich von Hutten (1488–1523). gen Erzbischof in Mainz eine Stelle antre- Deutschland zurück zu drängen, keinen Zeitgenössischer Stich. tend, störte ihn zunehmend, Schritt näher gekommen, jetzt auch noch Bildgeber: Heimatwissenschaftliche Zentralbibliothek des Landkrei- - dass die gebildeten Römer seine Deut- den Häschern Roms ausgeliefert. „Wer bin ses Bad Kreuznach schen als „Barbaren“ bezeichneten und ich denn? Bin ich nicht ein Reichsritter und - dass die römische Geistlichkeit die von kann daher nur vom Kaiser vor ein Gericht Gott gesetzten Grenzen missachtete: durch gestellt werden“? Aber die Sache hatte ei- ihr prunkvolles, lasterhaftes Leben. nen Haken, einen großen Haken: der neue, Silvester I. und all seinen Nachfolgern und Immer an seine deutsche Herkunft den- 21 jährige Kaiser Karl V. wollte sich wegen räumte damit dem Kirchenoberhaupt den kend, die Schwäche seines Kaisers, den all- seiner Italienpolitik nicht mit dem Papst an- Vorrang vor dem Kaiser ein („Konstantini- mählichen Verfall des Reiches und die Aus- legen. sche Schenkung“). Aber auch die Kaiser sa- beutung des Volkes vor Augen, verfasste er So blieb Hutten nichts anderes übrig, als hen ihre Macht von Gott gegeben (sie wur- immer mehr Kampfschriften gegen Rom, zu- zu einem Feldzug gegen die Kirchenge- de ihnen jedoch Mitte des 14. Jahrhunderts nächst in lateinischer – und als er sah, dass walten aufzurufen. Und zwar mussten seine zusätzlich beschnitten: die Fürsten erstritten diese bewusst falsch übersetzt wurden – in Schriften so kräftig formuliert sein, dass die, sich quasi-königliche Rechte). deutscher Sprache. die sie lasen – nur drei bis vier Prozent des - Es ist aber vor allem die Zeit, in der das Schließlich überspannte Rom den Bogen: Volkes konnten lesen – so betroffen waren, Papsttum versuchte, größeren, viel größe- Der Dominikaner-Mönch Johann Tetzel zog ihren Inhalt weitergeben zu müssen. Auch ren Einfluss auf die Reichspolitik zu gewin- marktschreierisch mit seinen Ablassbriefen konnte Hutten in der Abgeschiedenheit der nen. Dazu war ihm jedes Mittel Recht. So sä- durch die Lande. Für ihren Verkauf war er Burg während der langen Winterabende Si- te es Zwietracht, in dem es die Partikular- von Rom zum Apostolischen Kommissar er- ckingen für die Sache Luthers gewinnen. interessen der Fürsten förderte, es nutzte nannt worden. Und so wusste er: wenn eine Und so wurden sie sich einig: Koste es, was die „niedrigen Volksschichten“ zur Füllung legitimierte Kirchen-Autorität spricht, wer- seiner Kassen aus und Denken und Tun den die Menschen das, was sie verkündet, mussten sich dem kirchlichen Lehramt – al- nicht anzweifeln. Und so verkündete er, les ist von Gott her zu denken – unterord- was sich Rom ausgedacht hatte: Will der nen. Wer sich dem widersetzte, war ein Ket- sündige Mensch nach seinem Tode nicht zer und setzte sich der Gefahr der Inquisiti- auf ewig im Fegefeuer schmoren, muss er ei- on aus: Folterung, gar Hinrichtung oder nen Ablassbrief kaufen. Je größer seine Verbrennung bei lebendigem Leibe. Sünden, je höher der Betrag. Das Volk lei- - Gleichzeitig nahm der sittliche Verfall det, ihm wird buchstäblich die Luft zum At- vieler Kirchenangehöriger immer weiter zu. men abgeschnitten: statt selbständig zu Aus den Reihen derjenigen, die dies alles denken, „wird es gedacht“: „Kann ich mei- anprangerten, ragte – anfangs – ein Mann ne Vorfahren auch noch freikaufen? Wie besonders heraus: Ulrich von Hutten. Bald viel muss ich für sie in den Kasten werfen? publizierte er, was vor ihm schon andere, Woher soll ich das Geld nehmen“? – Der darunter der Kirchenrechtler und spätere reichliche Erlös fließt in die Kassen Roms, Kardinal Nikolaus von Kues, herausgefun- der Bischöfe und des Bankhauses Fugger, den hatten, aber nicht wagten, zu veröf- das unter anderem den Kauf der Stimmen fentlichen: die „Konstantinische Schen- bei der Wahl der Bischöfe vorfinanzierte. kung“ ist eine Fälschung! Damit nicht ge- Dies alles zwingt einen Augustiner- nug: wollte er seine Ziele erreichen, musste Mönch auf den Plan: Martin Luther. Er er mit „spitzer“ Feder gegen die Sünden muss das Unrecht, das seinen gläubigen Roms angehen. So zum Beispiel in seiner Mitmenschen widerfährt, herausschreien: Trinität: „Drei Dinge werden verkauft in am 31. Oktober des Jahres 1517 schlägt er Rom: Christus, Priestertum, Frauen. Drei an der Schlosskirche zu Wittenberg 95 The- Dinge sind verhasst in Rom: ein allgemeines sen an und wettert darin gegen die Ablass- Konzil, eine Reform der Kirche und dass briefe. Mit Hilfe der Buchdruckerkunst sind den Deutschen die Augen geöffnet wer- die Thesen innerhalb von 14 Tagen im ge- den“. samten deutschsprachigen Raum bekannt. Rom (damit meinte Hutten alle geistli- Dieses, sein weiteres Wirken und eine der chen Glieder der römischen Kirche) ist ent- sich daraus ergebenden Folgen wird zum Einweihung des 1889 von Carl Cauer und seinen setzt. Ist da doch plötzlich ein Störenfried, Anlass für das gesuchte Bindeglied. Denn Söhnen geschaffenen Denkmals für Ulrich von der nicht nur eben mal aufmuckt, nein er für den armen Mönch brechen nun unruhi- Hutten (links) und Franz von Sickingen.Im Vorder- nutzt auch die neue Buchdruckerkunst und ge, schlimme Zeiten an. Rom wird hellhörig, grund links ist der Bildhauer zu sehen. lässt so vor allem in den Städten seine Schrif- zornig. Je zorniger Rom wird, desto stand- Bildgeber: Kreismedienzentrum Bad Kreuznach Bad Kreuznacher Heimatblätter - 5/2015 (Seite 19 des Jahrgangs) 3

deutsche Massenuniversitäten haben etwa dreimal soviel. Es gibt fast 2000 Professoren – viermal so viel wie in Köln. Das Betreu- ungsverhältnis ist zwölfmal besser. Hinzu kommen 13 000 Mitarbeiter. Ein Schwerpunkt-Fach der Universität ist - nicht ganz unumstritten – Unternehmens- gründung: Unternehmer werden, statt sich anstellen zu lassen, lautet das Ziel. 'Ange- hende' oder 'fertige' Ingenieure und Na- turwissenschaftler haben das Sagen mit dem Ergebnis (so eine Studie der Universi- tät): 8000 universitätseigene Erfindungen und rund 40 000 aus der Universität her- vorgegangene Unternehmen mit 5,4 Milli- onen Arbeitsplätzen. Auch im Sport liegt Stanford vorn. Bei den Olympischen Som- merspielen in London 2012 errangen seine Sportler zwölf Goldmedaillen, eine mehr als Deutschland. Jedes vierte Gold der USA ging nach Stanford.“ Auf die Frage des Journalisten Keese an den vorletzten Präsidenten der Universität, Haupteingang der Stanford University in Kalifornien. Bildquelle: Google den gebürtigen Hamburger Gerhard Ca- sper, was der Grund sei für dies alles, ant- wortete dieser (gekürzt wiedergegeben): „phänomenale akademische Leistung, im- es wolle, Luther wird, wenn nicht anders gleich zwei Mal – durch das Wort „Frei- mer Weltspitze in Wissenschaft sein, alles möglich, auf der Burg „Asyl“ gewährt. War heit“. Beim ersten Mal stellt Hutten durch andere folge daraus.“ – Wenn das mal so doch 1415 der Prediger Jan Hus auf den das Hinzufügen eines Hauptwortes in Ver- einfach wäre! Doch das ist bekanntlich ein Scheiterhaufen geworfen worden, weil er bindung mit einem anschaulichen Tätig- anderes Thema. die Kirche reformieren wollte, und war 1498 keitswort einen nicht mehr aufzuhaltenden Aber da ist noch etwas, etwas ganz Wich- der Dominikaner Girolamo Savonarola hin- Prozess fest: tiges. Ohne das gäbe es möglicherweise gerichtet worden, weil er den Lebenswan- nicht die Ausnahmestellung der Universität. del des Klerus kritisiert hatte. Die Luft der Freiheit weht David Starr Jordan, ihr Gründungspräsi- Und während die Turbulenzen um Luther dent, Botaniker, Mediziner und mit einem immer mehr zunehmen – mal wird er vom „urwüchsigen Unternehmertalent“, fühlte Kaiser auf den Reichstag zu Worms gela- *** sich besonders der Tradition der deutschen den, dann auf Betreiben Roms ausgeladen, Universitäten – Lehrfreiheit und Lernfrei- dann verhängt Leo X. im Januar 1521 end- Wer sich mit den Folgen des digitalen heit – verpflichtet; sie wurde sein Leitbild. gütig den Bann über ihn, schließlich wird er Zeitalters auseinander setzen will, kommt Auch wusste sein Unternehmergeist um die wieder nach Worms geladen – ist auf der nicht umhin, den darin „tonangebenden Gefahr der langsamen geistigen Erstarrung, Ebernburg der ehemalige Dominikaner Ort“ aufzusuchen: das kalifornische Tal Si- der jeder einzelne, besonders jedes Gebil- Martin Bucer eingetroffen. Er ist für Briefe licon Valley. „Keimzelle und Brutreaktor“ de, in dem Menschen zusammenwirken, und Nachrichten von und nach Worms – der für die Gründung so erfolgreicher Firmen ausgesetzt ist. Als er das Amt des Präsiden- Reichstag begann Ende Januar – der richti- wie zum Beispiel Hewlett-Packard, Yahoo, ten übernahm, wollte er in seiner Universi- ge Mann und so wissen Hutten und Sickin- Google, und eBay ist die in Palo Alto an- tät die zuvor erwähnte Tradition – Unab- gen, mit welchem Eifer die Anhänger und sässige Universität: die 1891 von dem Ei- hängigkeit aber auch Toleranz – und dazu Vertreter Roms kämpfen, um Luthers hab- senbahnbaron Leland Stanford zur Erinne- eine dauerhaft kreative und tatkräftige At- haft zu werden. rung an seinen früh verstorbenen Sohn ge- mosphäre sichergestellt wissen. Bei der Fra- Damit dies verhindert wird, schreibt Hut- gründete Stanford University. Die Frage, ge, wie er dieses Ziel erreichen könnte, fiel ten in lateinischer Sprache drei Invektiven warum das so ist, stellte sich 2013 der deut- ihm als Bewunderer von David Friedrich (invectiva = verbaler Angriff): je eine an die sche Journalist Christoph Keese. Er fand Strauß dessen Werk über Ulrich von Hutten beiden päpstlichen Nuntien und eine – im dort untere anderem folgendes heraus (der ein und daraus ein Satz, genauer ein Aus- März – an die Geistlichkeit (Bischöfe), alle flüssigeren Lesbarkeit halber sind einige zug aus einem Satz Huttens. Dieser Satz bereits vor dem Eintreffen Luthers in Worms Aufzählungen leicht modifiziert): „Die Stan- muss ihn sehr bewegt haben: weilend. Er schreibt gleichermaßen pau- ford University belegt je nach Fakultät Platz schal verurteilend wie kraftvoll und uner- eins oder zwei der meisten Rankings in den Die Luft der Freiheit weht schrocken und so heißt es in der dritten In- USA. Sie verfügt über ein Jahresbudget von vektive (der von David Friedrich Strauß fast fünf Milliarden Dollar, fast zehnmal so- Damit sein „Herzenswunsch“ auch im- übersetzte Text ist in der heutigen Schreib- viel wie die Universität Köln, mer beachtet und erfüllt wird, wur- weise wiedergegeben): „Was habt ihr mit Deutschlands größte Hoch- de dieser Satz nicht in lateini- dem Almosen unserer Väter zu schaffen, schule. Pro Jahr gehen et- scher (wie von Hutten ge- das diese für Armen- und Kirchenzwecke wa eine Milliarde Dollar schrieben), auch nicht in gestiftet, und darum uns, ihren Kindern, ent- Spenden ein, das englischer sondern in zogen haben? Wie kommt ihr dazu, das zu Tausendfache des in deutscher Sprache – frommen Zwecken Gespendete zu Völlerei, Europa üblichen Senator Stanford Unzucht, Pracht und Prunk zu missbrau- Niveaus. Gönner fand das ganze chen, während viele rechtschaffene und wetteifern um die „impressed“ (be- fromme Menschen Hunger leiden? Sehet Ehre, größter eindruckend) – ihr nicht, dass die Luft der Freiheit weht, Einzelspender zu Bestandteil des dass die Menschen des Gegenwärtigen sein. Schecks Universitätswap- überdrüssig, einen neuen Zustand herbei zu über 100 Millio- pens. führen suchen? Ich werde stacheln, spor- nen Dollar sind nen, reizen und drängen zur Freiheit. Die keine Seltenheit. mich sogleich befallen, werde ich durch un- Zu den Laureaten ablässige Ermahnung besiegen, durch not- zählen 21 Nobel- Wappen der Stanford wendige Beharrlichkeit zwingen. Dabei ha- preisträger, Stanford University mit dem 1521 be ich keine Sorge noch Furcht vor Missge- allein bringt es auf ein auf der Ebernburg entstan- schick, sondern bin auf Beides gefasst.“ Fünftel der Nobelpreise denen Freiheitsmotto Ulrichs Hutten mit Leib und Seele! Auch ist er Deutschlands. 15 000 Stu- von Hutten. wieder da, der „rote Faden“, verkörpert – denten sind eingeschrieben; Bildgeberin: Linda A. Cicero, Stanford News Service 4 (Seite 20 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 5/2015

Epilog Auch nach dem Reichstag fanden sich lu- Geschichte lehrt: therische Theologen wie Kaspar Aquila Hutten schien im Frühjahr 1521 sein Ziel oder Johannes Oekolampad auf der Ebern- „Auch die Freiheit muss ihren Herrn erreicht zu haben: Aus Worms gab es Hin- burg ein. Hutten, vom Kaiser enttäuscht, haben“ (Friedrich Schiller, Die Räuber). weise, dass Luther Gehör bekommen solle, verließ dagegen Ende Mai 1521 die Ebern- jedoch nur, um seine Ansichten zu wider- burg, um seinen – nunmehr erfolglosen – rufen Auch der Kaiser reagierte auf den En- Kampf gegen Rom fortzuführen. Quellen de April an ihn verfassten Brief Huttens, in Sickingen starb 1523 auf seiner Feste dem dieser die Anhörung Luthers forderte. Nanstein über Landstuhl: Im Kampf gegen Böcher, Otto: Die Ebernburg, in: Ebernburg- Doch war die kaiserliche Reaktion eher un- den Trierer Kurfürsten war er von einer Ku- Hefte, 1988, Seite 7 bis 35 erwartet. Was wird mit einem widerspens- gel lebensgefährlich getroffen worden. Die tigen Ritter gemacht? Es wird, was (fast) im- Ebernburg wurde einen Monat nach seinem Böcher, Otto: Das Hutten-Sickingen-Denkmal mer zu Erfolg führt, versucht, ihn zu beste- Tod zerstört und um 1550 von einem seiner bei der Ebernburg, in: Ebernburg-Hefte, 1989, chen. Und so geschah es: Anfang April trifft Söhne wieder aufgebaut; seit 1914 ist sie im Seiten 199 bis 211 auf der Ebernburg der Beichtvater des Kai- Besitz der Ebernburgstiftung. sers, der Franziskaner Glapion ein, verse- Hutten, keine dauerhafte Bleibe mehr fin- Casper, Gerhard: „Die Luft der Freiheit weht - hen mit einer kaiserlichen Urkunde über dend, starb 1523 am Zürichsee an den Fol- On and Off“; On the Origins and History of the ein hohes Jahresgehalt. gen einer Krankheit; drei Monate nach Si- Stanford Motto, October 5. 1995, Es ist nicht mit letzter Sicherheit nachzu- ckingens Tod. Er wurde „der begabteste web.stanford.edu/dept/press..../ vollziehen, wie Hutten dieses Angebot auf- und sprachmächtigste Wortführer“ ge- 951005di.luft.html genommen hat. Feststeht, er schwieg für ei- nannt. Sein Einsatz für Luther wie auch der nige Zeit, sah sich dann aber durch die Ver- von Sickingen hatten die Reformierung der Keese, Christoph: Silicon Valley, München 2014 hängung der Acht über Luther vom Kaiser Papstkirche und damit eine Zeitenwende enttäuscht und gab die Urkunde zurück. mit gefördert. Seine Ideen für Freiheit und Kornfeld, Heike: Urich von Huttens Stellung Wie immer es auch gewesen sein mag: Die Einheit des deutschen Volkes waren weg- zu Martin Luther, in: Ebernburg-Hefte, 1988, Ebernburg war für kurze Zeit der Ort, von weisend, aber – aus damaliger Sicht – zu ra- Seiten 59 bis 81 dem aus sichergestellt war, dass für Luther dikal und zu früh. Was er schrieb, ruht in im Falle eines Falles sofort Maßnahmen zu den Archiven und ist weitgehend aufgear- Kreutz, Wilhelm: Die Deutschen und Ulrich seinem Schutz ergriffen werden konnten. beitet. Nur noch gelegentlich dient seine von Hutten, München 1984 Luther, nunmehr Mitte April in Worms Publizistik wissenschaftlichen Untersu- eintreffend und auf dem Reichstag Rede- chungen. Sichtbar geblieben ist ein Satz da- Meisner, Michael: Martin Luther, Lübeck 1981 recht bekommend, widerrief bekanntlich raus – Huttens Leitmotiv schlechthin –, ge- nicht seine Lehren von der Notwendigkeit schrieben in großer Sorge auf der Ebern- Röhr, Helmut: Ulrich von Hutten, Hamburg der Reform der Kirche. Ab jetzt war er – vom burg, gefunden und als Leitmotiv über- 1936 Kaiser verlassen – der Kurie ausgeliefert. nommen von dem Präsidenten einer ameri- Aber er konnte Worms Ende April verlas- kanischen Universität. Dieses Leitmotiv wird Rößler, Hellmuth: Deutsche Geschichte, Gü- sen: die Kirchenoberen waren verunsichert, lebendig bleiben und für alle Zeiten gültig tersloh 1961 Landsknechte, vermutlich viele Sickinger, sein. Die Frage, was Freiheit im alltäglichen überall zugegen, endgültige Sicherheit fand Leben und in Lehre und Forschung ist, kann Strauß, David Friedrich: Ulrich von Hutten, er schließlich auf der Wartburg. nur philosophisch betrachtet werden. Die Brockhaus Zweiter Teil, Leipzig 1858

Zum 95. Geburtstag von Dr. Friedrich Schmitt Er setzte Maßstäbe in der naheländischen Heimatwissenschaft

VON DR. HORST SILBERMANN, BAD KREUZNACH während seiner Betzdorfer Zeit langjähriges Vorstandsmitglied auch eine Unterbrechung, so Dr. Friedrich Schmitt am 24. No- nahm er mit Beginn des Ruhe- vember 2001 zum Ehrenmit- Am 16. April dieses Jahres vollendete Dr. standes, der ihn an die Nahe zu- glied. Der solchermaßen Ge- Friedrich Schmitt, Ehrenmitglied des Ver- rückführte, seine heimatwissen- ehrte zählt zweifelsohne zu den eins für Heimatkunde für Stadt und Kreis schaftliche Forschung erneut auf ganz Großen der naheländi- Bad Kreuznach e.V., sein 95. Lebensjahr. und entfaltete für fast drei Jahr- schen Heimatforschung, für die Geboren und aufgewachsen in Langen- zehnte ein überaus reiches er nicht nur inhaltliche Meilen- lonsheim, war er nach Schule und Studium Schaffen auf diesem Feld, wobei steine sondern auch wissen- von 1951 bis 1982 zunächst als Lehrer und nicht nur die thematische Viel- schaftliche Maßstäbe gesetzt später als Schulleiter im gymnasialen Schul- falt seiner Arbeiten, sondern hat, die auch in Zukunft Geltung dienst des Landes Rheinland-Pfalz tätig. Am auch deren wissenschaftliches behalten werden. Bad Kreuznacher Gymnasium an der Stadt- Niveau, methodische Gedie- Verbunden mit dem tiefen mauer, wo er 1965 zum Oberstudienrat be- genheit und schriftstellerische Oberstudiendirektor i.R. Dank für sein immenses hei- fördert wurde, unterrichtete er dreizehn Qualität zu beeindrucken ver- Dr. Friedrich Schmitt, matwissenschaftliches Lebens- Jahre lang die Fächer Geschichte, Deutsch mögen. Alsbach-Hähnlein (vor- werk wünschen alle Heimat- und Französisch und von 1969 bis 1982 lei- Dr. Schmitts heimatwissen- mals ). freunde in Stadt und Kreis Bad tete er als Oberstudiendirektor das Freiherr- schaftliches Wirken ist wieder- Kreuznach dem Jubilar zu sei- vom-Stein-Gymnasium in Betzdorf-Kirchen. holt ausführlich gewürdigt wor- nem 95. Geburtstag nachträglich Anschließend nahm er seinen Wohnsitz den (vgl. Bad Kreuznacher Hei- Gesundheit, Glück, Gottes Se- wieder in Langenlonsheim. Von dort ist er matblätter 1995/Heft 4 und 2000/Heft 4); ei- gen und weiterhin eine gute Zeit an der Sei- vor wenigen Jahren in das südlich von ne Auflistung seiner zahlreichen Veröffent- te seiner verehrten Gattin. Darmstadt gelegene Alsbach-Hähnlein ver- lichungen und Vorträge findet sich in der zogen, um näher bei seiner Tochter sein zu 2006 erschienenen Festschrift „150 Jahre können. Verein für Heimatkunde“ (Seite 154 ff.). Da- Bereits in den 60er-Jahren des vorigen nach folgten in den Bad Kreuznacher Hei- Jahrhunderts machte er sich mit seiner Dis- matblättern der Jahre 2007, 2008 und 2010 Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen sertation zur Verwaltungsgeschichte und noch weitere fünf Aufsätze zur Franzosen- monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein einem fundierten Beitrag zur Wirtschafts- zeit um 1800 und zur Langenlonsheimer für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach geschichte unseres Raumes (1962 und 1966) Ortgeschichte, das heißt zu zweien seiner e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Dienheimer Berg 11, einen Namen als anerkannter Heimatwis- Schwerpunktthemen. Nicht von ungefähr 55545 Bad Kreuznach, Telefon 0671/349 57, senschaftler. Erfuhr dieses Engagement machte der Verein für Heimatkunde sein E-Mail [email protected]). Nummer 6/2015

Beilage BadKreuznacher Bad Kreuznach Heimatblätter

Das Haus Dexheimer und die Naheufermauer Eine Kreuznacher Provinz-Posse aus der Nachkriegszeit

VON ROLF SCHALLER, BAD KREUZNACH

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte re kamen die beiden nach Kreuznach. Am die Stadt neustädterseits auf der flussab- Montag, dem 20. April 1885, heirateten sie wärts gelegenen Seite der großen Brücke auf dem Kreuznacher Standesamt am Eier- (der Alten Nahebrücke) einen Saalbau als markt. Bereits einige Wochen zuvor, am 7. Gesellschaftshaus für die Bürger errichten Februar 1885, hatte Johann Michael Dex- lassen. Der „Neue Bau“, wie er genannt wur- heimer in dem Haus an der Brücke, der de, sollte ihnen die Abhaltung von größeren Mannheimer Straße Nr. 67, ein „Manufac- Festlichkeiten wie Hochzeiten u.a. ermögli- turwaaren & Ausstattungsgeschäft“ eröff- chen. Im Erdgeschoss des Gebäudes gab es net. Nach seinem Tod im Jahre 1933 über- Läden, die – besonders zur Jahrmarktszeit – nahm Sohn Hermann Karl Dexheimer das an auswärtige Kaufleute vermietet wurden. Geschäft. 5) Den Namen „Haus Dexheimer“ In Ausnahmefällen sollen die Ratsherren hat das Gebäude, obwohl es schon lange den Saal auch für ihre Sitzungen genutzt ha- nicht mehr steht, bis heute behalten. Das Haus Dexheimer im 19. Jahrhundert. Aus- ben. Mitte Juli 1635, im 30-jährigen Krieg, Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schnitt aus einem 1838 entstandenen Stahlstich saßen auf der Kauzenburg deutsche Trup- wurden am 16. März 1945 – neben den an- von Theodor Verhas. pen aus dem protestantischen Lager unter deren Fahrbrücken in Bad Kreuznach – Fundstelle: Wolfgang Reiniger, Stadt- und Ortsansichten des Kreises einem Kapitän Engel. Einer kaiserlichen Ein- auch zwei Bögen der Alten Nahebrücke Kreuznach 1523-1899, Bad Kreuznach 1990, S. 188 heit der katholischen Seite gelang es, in die von deutschen Soldaten gesprengt. Die Stadt einzudringen und sie zu plündern, oh- Amerikaner standen zu diesem Zeitpunkt ne dass dies von der Burg aus verhindert bereits an der Hargesheimer Kreuzung. Die werden konnte. Engel ließ, wohl um dem Soldaten gruben zur Aufnahme der Spreng- ger, die ihm auch den Haushalt besorgte, in Feind den Weg über die Brücke abzu- sätze Löcher in die Fahrbahn des zweiten deren Haus in der Schulgasse Nr. 4. schneiden, den Neuen Bau in Brand ste- und dritten Brückenbogens. Die Sprengla- Ende August 1953 ließ die Stadt die bau- cken. Das Feuer griff auf die Nachbarge- dungen waren wohl überdimensioniert oder fälligen Fachwerkobergeschosse des Dex- bäude über und vernichtete neben dem wegen des Zeitdrucks nur unzureichend ge- heimerschen Gebäudes abgetragen. Der Neuen Bau einen großen Teil der Neustadt dämmt. Die beiden Brückenbögen stürzten Schutt blieb zwischen den Mauern des Erd- von der Nahe bis zur heutigen Jahngasse. natürlich ein, die Auswirkungen auf die an geschosses liegen. In der Allgemeinen Zei- Vom Neuen Bau blieb nur eine Ruine. Nach der Brücke gelegenen Gebäude waren je- tung war am 2. September zu lesen: „Auf dem Orléanschen Krieg 1688-1697 veräu- doch verheerend. Die Druckwelle der diese Weise wurde der Blick in das alte Häu- ßerte die Stadt das Grundstück neben der Sprengung beschädigte das Bootshaus, das sergewirr der Neustadt um manches schöne Brücke und der neue Eigentümer baute das Haus Bruns, die Schwanenapotheke und Bild bereichert“. Am 16. März 1955 – auf ausgebrannte Gemäuer wieder aus. 1) 2) In die Pauluskirche schwer, die Häuserfront den Tag zehn Jahre nach der Sprengung – den 1840er Jahren ließen Kaufleute dort ei- am Beginn der Klappergasse wurde voll- hatte die Baufirma Ernst Gerharz mit dem nen vielfenstrigen Neubau errichten. Der ständig zerstört. Beim „Haus Dexheimer“ Abbruch der Alten Nahebrücke begonnen. dreigeschossige Fachwerkbau mit gemau- fehlten alle Fenster, der Dachstuhl war halb Im Mai 1955 wandte sich die Bauverwal- ertem Erdgeschoss und einem Balkon zur zusammengebrochen und das gesamte Ge- tung der Stadt Bad Kreuznach mit einem Naheseite hin sollte das Stadtbild an der Al- bäude einsturzgefährdet. Der 58-jährige Schreiben an das „Landratsamt“ (die heu- ten Nahebrücke bis 1945 prägen. Ein Stahl- Junggeselle Hermann Karl Dexheimer hatte tige Kreisverwaltung). Darin forderte die stich von P. Borniger aus dem Jahr 1846 alles verloren. Er lebte von einer Unter- Stadt das Landratsamt als zuständige Be- zeigt erstmals diesen Neubau, allerdings haltshilfe in Höhe von 93 DM im Monat. hörde für die „Flussläufe II. und III. Ord- fälschlicherweise mit gradliniger Hausfront. Aus der Vermietung eines stehen geblie- nung und den Hochwasserschutz“ auf, Her- 3) Tatsächlich verlief diese nach der Nahe- benen, kleinen Hintergebäudes erzielte er mann Karl Dexheimer zur Beseitigung der seite zu entsprechend dem Verlauf der alten zwar weitere 77 DM monatlich, von denen Trümmer auf seinem Grundstück zu veran- Stadtmauer in einem stumpfen Winkel. Dies er jedoch für Steuer und Abgaben monat- lassen. „Es ist festgestellt worden, daß die sollte in der späteren Geschichte der Ufer- lich 50 DM an die Stadtkasse abführen Ufermauer mit ihrem oberen Teil, es han- mauer noch interessant werden. Den Zei- musste. Die verbleibenden 27 DM wurden delt sich um stark abgewittertes Bruch- chenfehler korrigiert C. Gapp erst vier Jahre ihm auf die Unterhaltsrente angerechnet. steinmauerwerk mit Ziegelflickwerk, durch später. 4) Das Dexheimersche Grundstück war mit den Druck der Trümmermassen nach der über 30 000 DM belastet. Nach der Zerstö- Wasserseite hin einen Überhang bis zu 40 Der in Münsterappel geborene Kauf- rung seines Hauses kam Dexheimer in der cm besitzt. Außerdem sind Risse im Mauer- mann Johann Michael Dexheimer lernte in Schulgasse Nr. 9, der ehemaligen „Herber- werk aufgetreten. Der untere Teil, der aus Mainz seine spätere Frau Elisabeth Katha- ge zur Heimat“, unter. Später wohnte er Quadermauerwerk besteht, zeigt keine auf- rina Frenz kennen. Anfang der 1880er Jah- schräg gegenüber bei Frau Elisabeth An- fällige Vorwärtsneigung. Es ist zu befürch- 2 (Seite 22 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 6/2015

dem Abbruch der Pfeilerreste begonnen. Die Ufermauer verläuft spitzwinklig zur Brü- ckenachse und ist gegen den ersten Brü- ckenpfeiler mit Balken abgestützt. Wir bit- ten um Erlaß einer Verfügung durch die Wasserpolizeibehörde des Landratsamtes“. Am 4. November erließ das Landratsamt tat- sächlich eine „Polizeiliche Verfügung“ und legte eine Ausführungsfrist von zehn Tagen fest. Falls die Abbruchmaßnahmen nicht bis zum 15. November erledigt seien, würden die Arbeiten auf Dexheimers Kosten durch Dritte ausgeführt. Dexheimer legte Wider- spruch beim Kreisrechtsausschuss ein und erklärte, dass ihm die erforderlichen finan- ziellen Mittel nicht zur Verfügung stünden. Bei einem Erörterungstermin am 7. Dezem- ber 1955 versprach Frau Elisabeth Anger, die als Bevollmächtige Dexheimers auftrat, in Kürze werde der Bauunternehmer Metz- ger die Baustelle ausmessen. Und Herr Dex- heimer werde noch 14 Tage brauchen, um das Geld zu beschaffen. Die Wochen gin- gen ins Land, doch es geschah – nichts. Am 21. Januar sprach Hermann Karl Dex- heimer beim Landratsamt Kreuznach vor und erklärte, er wolle der polizeilichen Auf- forderung nachkommen, „sobald er eine für Das Haus Dexheimer um 1905 (Ansichtskarte). Bildgeber: Rolf Schaller, Bad Kreuznach 1957 in Aussicht gestellte Entschädigung vom Lastenausgleichsamt in Höhe von 5200 DM“ erhalten habe. Bis dahin bitte er das Amt, ihm einen „Vorschuß von 6000 DM so- ten, daß der Oberteil der Mauer demnächst Zeitgleich berichtete Ministerialrat Dup- fort zur Verfügung zu stellen“. Das Land- einstürzt und somit die öffentliche Sicher- pré von der Mainzer Staatskanzlei an den ratsamt lehnte das Ansinnen ab. Landrat heit und Ordnung gefährdet. Herr Dex- Landrat, ein Herr Dexheimer sei im Minis- Gräf kündigte an, mit Bürgermeister Jun- heimer ist durch polizeiliche Verfügung auf- terium erschienen und habe den Minister- germann persönlich verhandeln zu wollen. zufordern, Schutt und Erdreich bis zu 3 Me- präsidenten sprechen wollen. Anfang Au- Offensichtlich ergebnislos, denn im Februar tern Tiefe zu entfernen“. Dies ist das erste gust antwortete Landrat Gräf der Stadt: 1956 schaltete das Landratsamt das Was- Schriftstück einer umfangreichen Akte aus „Ich persönlich hielte es für ratsam, daß die serwirtschaftsamt Koblenz ein. Doch außer dem Archiv der Kreisverwaltung, die sich Stadt auf ihre Kosten die Maßnahme vor- einer Schadensbeschreibung – dazu hatte über den Verlauf von sechs Jahren von nimmt, denn das Grundstück ist stark be- auch noch das Wasserwirtschaftsamt eine 1955 bis 1960 mit dem Dexheimerschen lastet. Herr Dexheimer müsste dies jedoch Ortsbesichtigung vorgenommen – kam nur Grundstück beziehungsweise der Ufer- dulden“. Ende Oktober 1955 wurde die Sa- heraus, dass das Wasserwirtschaftsamt Ko- mauer beschäftigt. 6) che dringlicher. Der Neubau der Brücke blenz das Kreisbauamt mit der regelmäßi- Ein beigefügtes Gutachten des Prüfinge- über den Hauptarm der Nahe war fertigge- gen Beobachtung des Zustands der Ufer- nieurs für Statik Georg Weber aus Argen- stellt und die Firma Gerharz sollte die Pfei- mauer beauftragte. Weiterhin lehnten es so- thal bestätigte, dass die Dexheimersche ler, die als Stützen für das Lehrgerüst ge- wohl die Stadt Bad Kreuznach als auch das Ufermauer nicht mehr standsicher sei. Am dient hatten, endgültig beseitigen. Die Stadt Landratsamt ab, für die „Ersatzvornahme“ 3. Juni nahm das Landratsamt eine Ortsbe- schrieb: „In etwa zwei Wochen wird mit in Vorlage zu gehen. Die Stadt sah die Zu- sichtigung vor. Für Stadt-Oberinspektor Kuhr war die Sache klar: Zur Beseitigung des Gefahrenzustandes sei eine wasserpo- lizeiliche Verfügung erforderlich. Bereits damals machten Vertreter der Kreisbehörde auf die Rechtslage aufmerksam. Nach den Vorschriften des Polizeigesetzes könnten Maßnahmen gegen Dexheimer nur getrof- fen werden, wenn diese „kein unmögliches Verlangen darstellten“. Es sei allgemein be- kannt, dass Hermann Karl Dexheimer fi- nanziell überhaupt nicht in der Lage sei, die von der Stadt geforderten Maßnahmen zu erfüllen. Außerdem würde es für ihn eine unzumutbare Härte bedeuten, wenn ihm nach dem Schaden durch die Brücken- sprengung und der Vernichtung seiner Existenz nun auch noch die Auslagen für die Beseitigung der Trümmer auferlegt wür- den. Außerdem empfahl man der Stadtver- waltung, erst einmal die Eigentumsverhält- nisse an der Ufermauer zu klären. In einem weiteren Schreiben vom 25. Juli bestritt die Stadt vorsorglich einen eventuellen Zu- sammenhang mit dem begonnenen Brü- ckenbau. Ein Erwerb des Dexheimerschen Grundstücks sei seit längerer Zeit in Erwä- gung gezogen, aber bisher an „den maßlo- sen Forderungen des Herrn Dexheimer ge- scheitert“. Der gefahrbringende Zustand sei durch das Landratsamt auf dem Wege der Ersatzvornahme zu beseitigen, man könne sich ja mit dem Grundstück absichern. Das zerstörte Dexheimersche Haus 1946. Foto: Sammlung Rolf Schaller, Bad Kreuznach Bad Kreuznacher Heimatblätter - 6/2015 (Seite 23 des Jahrgangs) 3

Kosten entstanden, die zunächst aus öffent- lichen Mitteln bestritten werden müssen. Der Grundstückseigentümer Dexheimer ist zur endgültigen Tragung der Kosten ver- pflichtet. Da diese aus dem beweglichen Vermögen des Obengenannten nicht bei- zutreiben sind, muß auf das Grundvermö- gen des Dexheimer bzw. die Zwangsver- steigerung zurückgegriffen werden“. Der Versteigerungstermin wurde auf Donners- tag, den 19. Dezember 1957, festgelegt. Am Tag darauf stand in der Allgemeinen Zei- tung zu lesen: „Große Augen machten am Donnerstag Morgen mehrere Interessenten, die zu einem Termin zur Verkündung der Entscheidung über den Zuschlag in einem Zwangsversteigerungsverfahren beim Kreuznacher Amtsgericht erschienen wa- ren, als der bisherige Schuldner 30.000 Mark – schön gebündelt – auf den Tisch des Amtsgerichts legte“. Damit war die Ver- steigerung geplatzt. Meistbietender war mit 21 000 DM die o.g. Hamburger Heimbau Grundstücksgesellschaft gewesen. Die Stadt Das geräumte Dexheimersche Grundstück 1953. Im Hintergrund (von links) das Musikhaus Eckhardt, die selbst hatte sich an der Versteigerung nicht Häuser der Schulgasse und Dexheimers kleines Hinterhaus. Foto: Sammlung Rolf Schaller, Bad Kreuznach beteiligt. Die Zeitung führte weiter aus: „Das Dexheimersche Grundstück ist weit und breit als historischer Boden bekannt. Nach 1945 spielten verschiedene Kommu- ständigkeit eindeutig beim Landratsamt, Maßnahmen beim Dexheimerschen Grund- nalpolitiker und Stadträte mit dem Gedan- dieses hingegen in erster Linie städtische In- stück umgehend durchführen zu lassen. ken, hier ein neues Stadthaus zu bauen und teressen berührt. Diese können jedenfalls nicht deshalb un- damit die Neustadt zu beleben. Die allge- Inzwischen hatte sich die „Heimbau terbleiben, weil eine endgültige Entschei- meine Entwicklung hat diese Absicht nicht Grundstücksgesellschaft m.b.H.“ Hamburg- dung über die Frage der Kostenübernahme gefördert, ganz abgesehen von den rund Niendorf nach dem Stand der Dinge er- noch nicht vorliegt“. Im kommenden Haus- zehn Millionen DM, die dafür erforderlich kundigt und ihr Interesse an dem (geräum- haltsjahr werde ein besonderer Titel für der- gewesen wären. Der eben zu Ende gegan- ten) Grundstück bekundet. Auch das Jahr artige Kosten im Landeshaushalt bereitge- gene Prozeß ist ein tragisches Blatt in der 1956 verging, ohne dass sich an der „ein- stellt. Die erforderlichen Baumaßnahmen Geschichte des Dexheimerschen Hauses. sturzgefährdeten“ Ufermauer etwas tat. Am seien sofort in Auftrag zu geben. Am 10. Au- Hoffen wir, daß ihm einmal wieder sonni- 13. Februar 1957 stellte Regierungsrat Bo- gust 1957 schrieb das Landratsamt die Ab- gere Tage beschieden werden“. In der Ver- den von der Bezirksregierung dem Land- brucharbeiten aus, vierzehn Tage später er- waltung spekulierte man, wer denn wohl ratsamt telefonisch einen Betrag von 3000 hielt die Firma Wilhelm Förster den Zu- die Summe von 30 000 DM hinterlegt haben DM in Aussicht. Es gehe nicht an, sagte er, schlag. Im September musste die Verwal- könnte und vermutete einen der Steigerer dass die polizeiliche Verfügung bis heute tung zur Kenntnis nehmen, dass Hermann dahinter. Im Oktober 1958 schlug die FDP- nicht durchgeführt worden sei, weil kein Karl Dexheimer der Baufirma den Zutritt zu Fraktion im Stadtrat vor, das Dexheimer- Kostenträger ermittelt werden konnte. seinem Grundstück verweigerte. Am 7. De- sche Grundstück schnellstens für den Bau Am Morgen des 21. Februar 1957 ver- zember 1957 ordnete das Landratsamt per der geplanten „Volksbücherei“ zu erwer- nahmen die Anlieger der Alten Nahebrücke baupolizeilicher Verfügung den Baubeginn ben. Dieser Standort sei viel geeigneter und einen dumpfen Knall. Die Naheufermauer für den 10. Dezember an. Einen Tag vorher zentraler gelegen als der vorgesehene – war „auf einer Länge von 25 Metern mit traf beim Landratsamt das folgende, hand- und später auch verwirklichte – Standort in ziemlichem Getöse“ eingestürzt. Allerdings schriftlich verfasste Schreiben ein: „Auf Ihr nicht die Mauer von Hermann Karl Dex- Schreiben vom 07.12.57 möchte ich Sie da- heimer, sondern die flussaufwärts gelegene rauf aufmerksam machen, daß der Besitz an der Klappergasse. Und die dortigen von Herrn Hermann Karl Dexheimer an den Grundstücke gehörten schon seit vielen Amerikaner Harold Thomas Springer über- Jahren der Stadt. In ihrem Eifer hatte die gegangen ist. Ich mache Sie darauf auf- Verwaltung übersehen, dass die Mauer dort merksam, daß jegliche Einmischung und weit baufälliger war als die Dexheimersche. Abänderung zu unterbleiben ist, da Sie Der Oeffentliche Anzeiger berichtete am sonst mit dem amerikanischen Staat in Kon- nächsten Tag, dass sich der Schaden schon flikt geraten. Weitere Informationen werden ein paar Tage vorher durch schnell breiter Sie demnächst von meinem Notar erfahren. werdende Risse in der Mauer angekündigt Unterrichten Sie bitte das Bauamt von die- hatte. Die Bauverwaltung musste allerdings ser Änderung. machtlos zuschauen. Schon eine Woche Hochachtungsvoll später, in der Sitzung vom 27. Februar 1957, Harold Thomas Springer, Texas, USA“. beriet der Stadtrat die Vorlage, „zur Errich- Wie kam nun dieser Harold Thomas tung einer Spundwand an der Klappergasse Springer ins Spiel? Wie sich herausstellte, einen Betrag von 40 000 DM außerplanmä- war Springer als Soldat in Bad Kreuznach ßig“ bereitzustellen. Der Rat stimmte ein- stationiert gewesen – und der Schwieger- stimmig zu. Doch die Verwaltung wartete sohn von Hermann Karl Dexheimers Haus- erst einmal ab und hoffte auf eine Kosten- wirtin Elisabeth Anger. Doch die Abbruch- übernahme durch das Wasserwirtschafts- arbeiten konnte dieser Brief nicht mehr auf- amt Koblenz. Nach sechs Monaten kam der halten. Zwischen dem 10. und 14. Dezem- ablehnende Bescheid und die Stadt musste ber entfernte die Firma Bauförster den Bau- den Bau der Spundwand selbst in die Hand schutt und trug auch die Mauer der Dex- nehmen. Mitte November, kurz vor Win- heimerschen Ruine zur Nahe hin drei bis tereinbruch, wurde dann mit dem Einram- vier Meter ab. Die Rechnung erhielt das men der Stahlbleche begonnen. Landratsamt. Umgehend leitete die Behör- Und plötzlich griff auch die Landesre- de die Zwangsversteigerung des Dexhei- gierung ein. Die Koblenzer Bezirksregie- merschen Grundstücks ein. Im Schreiben rung erhielt vom Mainzer Innenministerium an das Amtsgericht heißt es: „Durch die Ent- Die Dexheimersche Ufermauer am 12. Mai 1955. die Weisung, die „zwingend erforderlichen trümmerungsmaßnahmen sind 2341,43 DM Bildgeber: Archiv der Kreisverwaltung Bad Kreuznach 4 (Seite 24 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 6/2015

der Kaiser-Wilhelm-Straße auf dem Grund- stück der gerade abgebrochenen Villa Schneider. Das Jahr 1958 verging ohne weitere Ak- tivitäten. Im Februar 1959 ließ das Land- ratsamt die bei der Räumung entstandenen Kosten in Höhe von 2341,43 DM als Siche- rungshypothek im Grundbuch eintragen und leitete eine erneute Zwangsversteige- rung ein. Der Verkehrswert wurde diesmal auf 50 000 DM festgesetzt, Termin war der 13. Mai 1959. Doch auch das zweite Ver- fahren wurde eingestellt, diesmal auf Be- treiben der Gläubiger, und die waren der Kaufmann Bernhard Ermann mit 15.000 DM – und die Stadt Bad Kreuznach mit circa 3000 DM. Im Juli 1959 schickte das Amts- gericht der Kreisverwaltung einen neuen Grundbuchauszug. Danach war das Dex- Planskizze des 1967 auf dem Dexheimerschen Grundstück vorgesehenen, aber nicht realisierten fünfge- heimersche Grundstück am 2. Juli „auf den schossigen Neubaus. Fundstelle: Oeffentlicher Anzeiger, Silvester 1967 Kaufmann Harold Thomas Springer, geb. 11. Mai 1936 in Fort Hood, Texas, USA über- tragen worden“. Nun war auch das Ge- heimnis gelüftet, wer am 19. Dezember später stand der Verkauf an die „Heimbau zenburg und Pauluskirche soll der Zuschlag 1957 bei der ersten Versteigerung Dex- Grundstücksgesellschaft“ aus Hamburg, die erst erfolgen, nachdem die Bewerber ihre heimer die erforderlichen 30 000 DM ge- sich schon 1956 für das Grundstück inte- Pläne dem Bauausschuß vorgelegt haben“. borgt hatte. Es verging ein weiteres Jahr, ressiert hatte, fast vor dem Abschluss, schei- Kaufmann Reinhold Stenger erhielt den Zu- bis das Landratsamt am 8. September 1960 terte jedoch an der Finanzierung. An Sil- schlag und ließ dann dort im Jahr 2004 von zum dritten Mal die Zwangsversteigerung vester 1967 veröffentlichte der Oeffentliche dem Bauunternehmen Isselborn ein Wohn- beantragte. Der Termin war auf den 7. De- Anzeiger eine Planskizze des Neubaus, die haus errichten. Zur Sicherheit wurde die al- zember, 15.30 Uhr, festgesetzt. Diesmal war auch das ehemalige Musikhaus Eckardt mit te, stählerne Spundwand aus dem Jahr 1957 der Versuch erfolgreich. Meistbietender mit einschloss. Nachdem die Stadt auf ihre Kos- durch eine davorgesetzte Betonmauer ver- 80 000 DM war die Stadt Bad Kreuznach. ten die Ufermauer unterhalb der Alten Na- stärkt. Und das Landratsamt verzichtete, wie es hebrücke um ca. vier Meter zurückversetzt hieß, aufgrund der Rechtslage auf die im und erhöht hatte, begann am 7. Mai 1969 Grundbuch eingetragenen Räumungskos- die Firma Rheba mit dem Neubau des vier- Anmerkungen: ten. Denn die Forderung war, so das Amts- stöckigen Hauses mit der eigentümlichen gericht, wegen „des wirtschaftlichen Un- Dachkonstruktion, wie es bis heute steht. 1) Reiniger 1990, S. 188: Theodor Verhas, vermögens des Beklagten“ zu Unrecht er- Im Juni 1970 hatte Rheba den Rohbau fer- Kreuznach 1838 (Stahlstich).Auch Jahr- hoben worden. Hermann Karl Dexheimer tiggestellt. Der Stadt blieb noch die Aufga- zehnte später wird die Alte Nahebrücke in kehrte seiner Vaterstadt, die ihn sechs Jah- be, auch die restliche Ufermauer bis zum Stichen noch mit dem längst nicht mehr re lang drangsaliert hatte, enttäuscht den Pfeffermühlchen, dessen Dach einst der VfL existierenden Gebäude dargestellt. Rücken. 1963 verstarb er in Heidesheim am hatte restaurieren lassen, zu erneuern. Das 2) Velten 1956, S.69 f. Rhein. 7) historische Pfeffermühlchen wurde an- 3) Reiniger 1990, S. 214: P. Borniger, Pano- „Der Neustadt muß geholfen werden“, schließend auf der aufgestockten Ufermau- rama von Kreuznach 1846 (Stahlstich). forderte Heinz Kiefer, FDP, am 6. Dezember er wieder aufgebaut. 4) Reiniger 1990, S. 235: C. Gapp, Die Na- 1965 im Oeffentlichen Anzeiger. Das nun in 1993 beschloss der Stadtrat, auch die Na- he-Brücke zu Kreuznach 1850 (Stahlstich). städtischem Besitz befindliche Dexheimer- heseite der Klappergasse wieder zur Be- 5) Senner 2014, S. 118. sche Grundstück lag noch immer brach. bauung freizugeben. Im Oktober schrieb 6) Archiv der Kreisverwaltung, Ersatzvor- Aber es gab mittlerweile „einen Interes- der Oeffentliche Anzeiger: „Drei Bewerber nahme Dexheimer Bad Kreuznach, 1955- senten, der an dieser Stelle einen fünfge- haben ihr Interesse bekundet. Wegen der 1960 (noch nicht archiviert). Ersatzvornah- schossigen Bau errichten“ wolle. Ein Jahr exponierten Lage der ‚Fotoecke‘ vor Kau- me bedeutet: Übernahme der Verkehrssi- cherungspflicht durch die Verwaltung, wenn der Eigentümer dazu nicht willens oder in der Lage ist. 7) Senner 2014, S. 122.

Quellen:

Allgemeine Zeitung. Oeffentlicher Anzeiger. Archiv der Kreisverwaltung Bad Kreuznach. Stadtarchiv Bad Kreuznach. Wolfgang Reiniger: Stadt- und Ortsansich- ten des Kreises Bad Kreuznach 1523-1899, Bad Kreuznach 1990. Martin Senner: Kreuznacher Brückenhäu- ser, Geschichte(n) eines Wahrzeichens, Bad Kreuznach 2014. Carl Velten: Die alte Nahebrücke in Kreuz- nach, Bad Kreuznach 1956.

Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Dienheimer Berg 11, Heutige Ansicht des 1969/70 durch die Firma Rheba errichteten Neubaus. 55545 Bad Kreuznach, Telefon 0671/349 57, Foto (April 2015): Rolf Schaller, Bad Kreuznach E-Mail [email protected]). Nummer 7/2015

Beilage BadKreuznacher Bad Kreuznach Heimatblätter

Joseph Christoph Otto Leo

Ein Agrarreformer des 18. Jahrhunderts als Gutsbesitzer in Winzenheim

VON DR. HORST SILBERMANN, WINZENHEIM Hofgut, das heute als „Hofgut Zweifel“ 3) be- zeichnet wird, erwarb und für einige Jahre bewirtschaftete. Auch theoretisch setzte er Das 18. Jahrhundert brachte in weiten sich in mehreren Veröffentlichungen mit Teilen Europas tiefgreifende landwirt- den zu seiner Zeit aktuellen Landwirt- schaftliche Neuerungen, welche die ver- schaftsfragen auseinander. krusteten, großenteils noch ins Mittelalter Zu Beginn seiner Winzenheimer Zeit war zurückreichenden Agrarstrukturen der da- Leo Amtmann (Verwaltungschef und Fi- maligen Zeit aufbrachen, die Ernährungs- nanzverwalter) in Diensten des Freiherrn lage verbesserten und so neben einigen an- Leopold von Roll zu Bernau, der damals die deren Faktoren die Grundlage schufen für Herrschaft , zu der auch Win- das starke Bevölkerungswachstum im 19. zenheim gehörte, von Kurköln zu Lehen Jahrhundert. hatte. Wegen Veruntreuung angeklagt ver- Angestoßen wurde diese Entwicklung lor Leo jedoch schon 1768 sein Amt, behielt Ansicht der Hofanlage, die Joseph Christoph Otto durch französische Wirtschaftswissen- aber zunächst sein Hofgut bei. Erst als er – Leo in Winzenheim besaß und bewirtschaftete. schaftler, die den Grund und Boden als ein- 1770 rehabilitiert – 1773 durch Kurfürst-Erz- Fundstelle: Leo,Landwirthschaftliche Briefe, Leipzig 1787, S. 461 zige Quelle des privaten, des gesellschaft- bischof Clemens Wenzeslaus von Trier (Eb. lichen und damit des staatlichen Reichtums 1768 – 1801) zum Hofkammerrat und Amts- ansahen und die deshalb als „Physiokra- kellner (Leiter des Abgabenwesens) im kur- ten“ (Anhänger der Naturherrschaft) be- trierischen Oberamt Limburg berufen wur- Nützlichkeit und Möglichkeit zu Abschaf- zeichnet wurden. Ihr Ziel war es, durch die de, wohl auch um seinen beiden Kindern 4) fung der Brache“ ( am Main 1777). Erfindung effizienter Vorgehensweisen die bessere Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, Im vierten Hauptstück (S. 49 – 51) der sel- Leistungsfähigkeit von Landwirtschaft, als sie auf dem Land gegeben waren, ver- ben Untersuchung erweist er sich klar als Forstwirtschaft und Bergbau zum Nutzen legte er seinen Wohnsitz in die Stadt an der Anhänger des physiokratischen Denkens: der jeweiligen Volkswirtschaften zu opti- Lahn. Im Jahre 1776 schrieb er rückbli- „Jedem Staat soll vorzüglich angelegen mieren. ckend (Grammatikalische Eigentümlichkei- seyn, daß sein Erdreich denjenigen Arten Auch in der Kurpfalz fielen die physio- ten, Orthographie und Interpunktion des von Früchten gewiedmet werde, zu den es kratischen Ideen auf fruchtbaren Boden, so Originaltextes sind wie bei allen weiteren sich am tüchtigsten befindet [am besten ge- beispielsweise in der 1784 gegründeten ka- Zitaten beibehalten): eignet ist]; Diese sind jene Erträgnisse der meralwissenschaftlichen Fakultät der Uni- „Der Verfolgungsgeist empörte sich ge- Erde, welche nach Abzug der Unkosten, auf versität Heidelberg oder in der bereits 1770 gen mich in meiner Beamtung. [...] Aus dem die Bearbeitung für den Menschen die nütz- ins Leben gerufenen „kurpfälzischen phy- Grunde des Christenthums sezte ich mir lichste(n) erfunden werden. – Der Land- sikalisch-ökonomischen Gesellschaft“, de- den göttlichen Befehl zur Richtschnur mei- mann mus der Kraft des Himmelsstrichs, un- ren Präsidentschaft Kurfürst Karl Theodor nes Betragens: Vergebet euch unter einan- ter dem er wohnet, und der Lage des Bo- (reg. 1742 – 1799) höchstselbst übernahm der; und durch die Gelassenheit wurde ich dens, den er baut, seine besondere Auf- und deren bis 1784 periodisch erscheinende über den Eigensinn des feindseeligen merksamkeit wiedmen, unter der Lage des „Bemerkungen“ erheblich zur Verbreitung Schicksals hinausgesezt. Die Gerechtigkeit Boden verstehe ich aber nicht die Art des Bo- des physiokratischen Gedankengutes bei- hörte mich endlich und stellte mich vor fer- dens, ob nemlich dieselbe thonigt, sandigt, trugen. Kernpunkte dabei waren die Auf- neren Bedrängnißen sicher. Aus diesem ab- oder dergleichen sey, weil jede Erdart zur teilung der Allmende (gemeinschaftlich ge- wechselnden Spiele des Glücks überzeugt, Fruchtbarkeit befördert werden kann: Ich nutzte Weidefläche), die Abschaffung aller daß das stille Landleben allen Ehrenstellen meine hier den Unterschied, ob der Acker die landwirtschaftlichen Betriebe einen- und Ergözlichkeiten der blendenden Welt hoch oder niedrig, am Berg oder sumpfigt genden Frondienste, die sommerliche Nut- vorzuziehen sey, lebte ich als ein Privat- liege, gegen Norden oder beßre Weltge- zung („Besömmerung“) der Brache durch mann einige Jahre auf meinem in dem Dorf genden abhange? Die Früchte, welche die den Anbau von Futterkräutern (vor allem di- Winzenheim nächst der Stadt Creuznach hießige warme Gegend und trockne Lage verser Kleesorten) und die dadurch mögli- besitzenden kleinen Hofgut; und niemal herzugeben vorzüglich geneigt ist, und die che Stallfütterung des Viehs. Letztere zielte lebte ich vergnügter als zu selber Zeit! Hier ohne große Kosten das mehreste Geld ein- zum einen auf eine Ausweitung der Vieh- hatte ich die angenehme Gelegenheit, die bringen, sind Reps (Kohl) und Weizen. Man haltung und zum anderen auf die Gewin- aus landwirthschaftlichen Büchern mir er- wundre sich daher nicht, wenn man in mei- nung einer höheren Dungmenge ab, mittels worbene Theorie, die einträglichste Wis- nem gleich folgenden Plan keine andre als deren die landwirtschaftlichen Erträge, bei- senschaft, in der Ausübung zu begründen. nur diese zwey Gattungen von Früchten an- spielsweise im Getreideanbau, insgesamt Die in folgenden Blättern enthaltene Erfah- trift. Eine andre Gegend wird vielleicht eine gesteigert werden sollten. 1) rungen, sind die ländliche Früchten, welche größere Einträglichkeit in Korn [Roggen], Auch einzelne Gutsbesitzer machten sich mein Beobachtungsgeist alldort gesammelt Spelz oder Gerste zeigen. Die Natur schei- die neuen Vorstellungen und Praktiken für hat. Limburg, den 26ten December 1776“. net die verschiedenen Früchte, die der den Landbau zu eigen. Zu diesen zählte Jo- Diese Sätze entstammen der Vorrede zu Mensch geniesen kann, in die so ungleiche seph Christoph Otto Leo 2 , der 1765 das im Leos erster größerer landwirtschaftlicher Klimate vertheilet zu haben, um eben da- 17. Jahrhundert entstandene Winzenheimer Abhandlung: „Reizendes Beyspiel der durch die Handlung [den Handel] zwischen 2 (Seite 26 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 7/2015

schaftung, die im Folgenden leicht gekürzt und St. Johann, etwas seitwärts aber das wiedergegeben ist: Dorf Wolfsheim, welches vier Stunden von „Unter der Berathschlagung mit meiner hier entfernt liegt, den Berg. Näher erbli- Ehegattin über die nützliche Anwendung cket man die Dörfer Dromersheim, Planig der Baarschaft ihres Erbtheils wurde uns und Bretzenheim, überall die Anhöhen mit das Hofgut, so ich jetzt besitze, zum Kaufe Weinstöcken besetzt, und die Flächen mit angetragen. Das Jahr 1765 versprach eine reichen Saamen bedeckt; gerade vor sich, kaum mittelmäßige Güte des Weines. Unser zwischen Ost und Süd, sieht man das Dorf Rathschluß fiele also dahin aus, daß wir die Bosenheim und dessen kostbaren Wein- Erkaufung des Guts jener des neuen Weins berg, dann sanfte Anhöhen, über sie hinaus vorziehen, und uns in einer Gegend ansäs- höhere Hügel, nach denen verliert sich das sig machen wollten, welche, wie diese zwi- Auge in den unabsehlichen Flächen der ge- schen Kreutznach und Bingen ist, uns alle segneten Pfalz. Dieser Prospekt [Ausblick] unserm damaligen Bedürfniß angemessene ist so bewunderungswürdig groß, daß es der Bequemlichkeiten anbot. Sprache an Ausdrücken fehlet, die Majestät Auf mein Verlangen wurde mir das Ver- und Schönheit desselben der Natur gemäß zeichniß aller Grundstücke zugestellt, und zu beschreiben. – Zur rechten Hand auf ei- solche von Stück zu Stück samt den Ge- nem Hügel erhebt sich die weisse Kirche bäuden von mir beaugenscheiniget; über des Dorfes , zwischen diesem den Werth jedes Stückes insonderheit habe Hügel und dem Dorfe Winzenheim liegt ei- ich zween [zwei] hierin erfahrne Männer in ne große Ebene, durch welche die Nohe der Stille vernommen [insgeheim befragt]. – strömet; hier geben im Frühling die ab- Ich kaufte das Gut von zween entfernt woh- wechslenden Farben auf den fruchttragen- nenden Beamten, die es von mehr als 20 den Fluren die lieblichste Augenweide; der- Jahren her gegen die Hälfte des Ertrags ver- selben mannichfaltiges Grün ist mit den blu- pachtet hatten. Gemeinschaft [gemein- menreichen Blüten des Kohlsaamens und schaftlich genutzte landwirtschaftliche Flä- der verschiedenen Kleearten gelb, roth und chen], Abwesenheit [entferntes Wohnen der blau vermischt, und sticht sehr angenehm Eigentümer], Verpachtung sind Feinde der gegen einander ab. [landwirtschaftlichen] Verbesserung. Die Gegen Süden ergötzt sich das Auge an ei- daraus gewöhnlich entstehende Folge traf ner wildnißartigen Landschaft, sie besteht Titelblatt von Leos Hauptwerk. hier richtig ein. Die Gebäude waren überall aus Felsen mit kleinen Wäldern, zwischen der Ausbesserung bedürftig, der Garten welchen der Nohestrom an den dortigen verwildert, die Aecker ausgesogen, die vortreflichen Salinen vorbeystreicht. Zur Weinberge abgängig, deren 12½ Morgen linken dieser herrlichen Scenen hängt an den Völkern in einen Kreislauf zu bringen, bey dem Gute waren, dieses hingegen nicht dem Berge ein junges Fichtenwäldchen, und das ganze menschliche Geschlecht ge- mit einer eine Hand breiten Wiese versehen über dessen Höhe sich das Hofgebäude zu gen [mit] einander zu verbinden. Je mehr war. Die Kosten des Weinbaues beliefen Rheingrafenstein erhebt. Näher nach dem die freye Wahl in der Bestimmung des Erd- sich hoch, und in dem Jahre 1767 machte Strohme steigen schiefe Felsen empor, de- reichs zu demjenigen Anbau, der für seine ich keine halbe Ohme [1 Ohm fasste 134 l] ren Gipfel mit überhängendem Buschwerke Lage und Himmelsstrich der schicklichste Wein im Ganzen. Ein benachbarter Beamter und Bäumen gekrönet sind. Zwo senkrech- ist, wird ausgebreitet werden, desto reicher mißrieth mir den Kauf dieses Guts, weil die te, hohe Felsenwände halten einerseits den wird auch ohne Erweiterung des gebauten vielen dabey seyenden Weinberge den Ae- Strohm in seinem Ufer, und machen mit je- Landes die ganze Summe aller Landeser- ckern den Dung entzogen. – Der Pachter ner Scene einen nicht unangenehmen Kont- trägnisse seyn. hielte mehr Arbeits- als Nutzvieh, und alles rast. – Alle Abende kündigte mir die an die- Auch bey dem Kleebau muß sich der Be- sah schlecht gehalten aus. sen Felsen hell oder trüb niedersinkende sitzer nach der Lage seiner Aecker richten, Gebäude und Grundstücke dieses Guts Sonne auf den folgenden Tag schönes oder und jedem die ihm ersprießlichre Gattung liegen in dem Dorfe Winzenheim und des- regnerisches Wetter an. Diese Felsenwände von Klee mitzutheilen wissen. Berge, hitzi- sen Gemarkung. Das Dorf hänget an einem dienten mir zum sichersten Barometer für ge Kießböden, magre und weitentfernte Ae- nicht steil ansteigenden Hügel, dessen vor- die Einrichtung meiner Feldgeschäfte. – Zur cker können mit der Esparcette, näher oder dere Seite ein Weinberg von der besten La- rechten sieht man Gruppen von gebroche- im ebenen oder auch im Thal gelegene ge ist. Die Sonne schenket ihm am Morgen nen Felsen, durch Bäume, Hecken, Moos Grundstücke aber mit Luzerne und dem rot- und Mittag ihre heissen Stralen, und er- und Gras verschiedentlich schattirt. Hier- hen Klee am besten benutzet werden. Die weichet den festen Rißling, der dem Klein- zwischen in dem engen Thale an dem Stroh- Vereinbarung dieser drey Gattungen Klees berger hier keinen Platz gönnet. Die Folge me steht das schöne auf neun Gradirhäuser auf einem Gut halte ich für den sichersten ist natürlich, daß hier ein guter Wein sich erstreckende kurpfälzische Salzwerk, Weg, um demselben die Vermehrung des wächst. In einer wenig abhängenden Flä- Theodorshalle genannt, besser südwärts Futters, des Viehes und des Dunges behend che zwischen dem Fuß des Hügels und dem steigt man wieder bergan auf Fruchtfelder, verschaffen, und dadurch es in die beßte Nohestrohm liegen die fruchtbarsten Ae- und weiter hin verliert sich die Aussicht in Umstände erheben zu können. Dieses hat cker, sie gleichen den Gartenfeldern. Kei- Buschwerk und Bäume, die das Auge reit- mich auf den Entschluß gebracht, die ab- nes der herrlichsten Schauspiele, in wel- gängige und ausgehauene Weinberge mit chem der Zauber der Kunst alle Sinnen ent- Esparcette und einige sandigte Grundstü- zücket, kann so viel reitzendes haben, als cke mit Luzerne, die übrigen aber mit rot- der Anblick des vervielfältigten Segens, mit hem Klee anzublümen.“ welchem die Erde jene arbeitsamen Hände Als Leos Hauptwerk anzusehen ist das lohnet, die in der Anlage dieser lieblichen 1787 in Leipzig erschienene, Kurfürst Karl Landschaft nichts haben ermangeln lassen. Theodor gewidmete und fast 500 Seiten um- Es fehlet nicht an Ortschaften, welche das fassende Buch „Landwirthschaftliche Briefe ganze lebhaft machen, denn in jeder halben zur Aufnahme der besten und neuesten Stunde trift man auf einen Ort. Nie hat die Feldbauart“. In einer Rezension von 1788 Kunst eine Bühne eröfnet, in welcher die heißt es dazu: Herr „Leo [...] verdient unter Auftritte mannichfaltiger, und die Verzie- den jetztlebenden Reformatoren der Land- rungen herrlicher gewesen wären, als in wirthschaft, die wirklich eine Art von Epo- diesen segenreichen – aus meinem Garten che machen, redlich seine Stelle.“ 5) Etliche zu übersehenden Gefilden, die das Auge Jahre später folgte „Das glückliche Dorf in sehr ergötzen, und die Vergnügungen der sittlich-politisch und landwirthschaftlicher Städte so leicht vergessen machen. Hinsicht betrachtet“ (Leipzig 1804). Gegen Osten sieht man über einen auf Im 99. und 100. seiner „landwirthschaft- der Höhe ebenen Berg ein zierliches Fich- Grund- und Aufriss einer von Leo entworfenen, lichen Briefe“ (S. 462 – 467) gibt Leo eine tenwäldchen seinen Schatten ausbreiten, aber wohl nirgendwo verwirklichten Musterstallung ausführliche Beschreibng seines Hofgutes besser herunter umgeben die Weinberge zur Haltung von Hornvieh. in Winzenheim und der Art seiner Bewirt- und die Gegend von den Dörfern Horweiler Fundstelle: Leo, Landwirthschaftliche Briefe, Leipzig 1787, S. 354 Bad Kreuznacher Heimatblätter - 7/2015 (Seite 27 des Jahrgangs) 3

mittagen unter dem kühlen Schatten eines hohen Birnbaums in der Mitte des Gartens auf dem trockenen Rasen gesessen, den Ar- beitsleuten zugesehen, und mit bestem Ge- schmacke eine mitgebrachte geräucherte Zunge, samt einer Flasche Wein genossen habe. Oft entzückte mich da die vorliegen- de herrliche Gegend, und die Regungen der innigsten Zufriedenheit wiegten meine Sin- ne ein. – Allein! [Aber!] ein von dem Neid entsponnenes Ungewitter störte mein stilles Vergnügen; und die vorhabende Ausfüh- rung zu besserer Benutzung meines Guts wurde durch eine von 1767 bis 1770 sich ge- zogene Kette von Verfolgungen gehemmet: einzig wachte noch die unzuergründende Vorsehung für mich, und setzte mich in glücklichere Umstände als worin ich zuvor war. Unendlicher Dank sey der ewigen Weisheit! [...] Im Jahr 1771, da ich mein Gut selbst be- wohnte, und durch Gesinde bauete, führte ich dort eine ganz neue Bauart und Ein- Titelblattgraphik zu Leos Abhandlung über die Abschaffung der Brache (1777). theilung auf meinem Gute ein: 5 Morgen stocklose und rückgängige Weinberge, wel- che mir von den verkauften 7½ Morgen noch übrig geblieben waren, ließ ich ganz zen. Näher herwärts befindet sich in der Tie- ckig, jedoch ganz bequem und geräumig, ausrotten, und theils mit Esparcette, theils fe die kurpfälzische Stadt Kreutznach, von um das nothwendige zu haben. Die Bau- mit rothem Klee ansäen. Solches konnte der man aber in dem Garten nichts als die stätte ist von den engen Gassen des Dorfes ganz bequem geschehen, weil diese nur in Spitzen der Kirchthürme sieht, ob sie schon zu nahe eingeschränkt, daß die Gebäude in drey Stücken bestandenen Weinberge alle nur eine halbe Stunde von Winzenheim ent- kein regelmäßiges Viereck gebracht wer- an den Fuhrwegen liegen. Im ersten Jahre legen ist. den können. An das Wohnhaus soll zwi- stellte ich ein Drittheil, im zweyten Jahre Nach Südwest sind das Dorf und die schen diesem und dem Garten noch ein die Hälfte und im dritten zwey Drittheile Weinberge von dem Hügel beschützt, auf zweystöckiger kleiner Pavillon gesetzt wer- meines Gutes in Klee. Weil ich aber alsdann dessen Höhe einerseits ein der kurpfälzi- den, wodurch die Gebäude in der Aussicht für zwey paar [d.h. vier] Ochsen (denn hier schen geistlichen Administration gehöriges nach dem Garten in eine gerade Linie kom- ist es nützlicher mit Ochsen als mit Pferden Hofgut, der Neuhof genannt, sich mit sei- men; aus jenem kann man von der einen Sei- den Feldbau zu bestreiten) zu wenig und nem Gebäude ohnweit der schönen Chaus- te die Straße des Dorfes der Länge nach, auf für ein paar [d.h. zwei] Ochsen zu viel Feld see befindet, andernseits aber eine Fläche der andern den Garten und auf der dritten unter dem Pfluge hatte, auch ein entfernt von 130 Morgen anzutreffen ist, die ehe- den ganzen Zwischenraum der Hofgebäude auf der Höhe des Hügels liegender Acker mals Heide war, jetzt aber mit Weinstöcken, übersehen. von 17 Morgen mir wegen des beschwerli- Fruchtfeldern, Bäumen und einem Gebäude Den Garten ließ ich anders anlegen. Das chen Düngens und Ackerns nach Abrech- pranget. Hier erstreckt sich der Prospekt bis Drittheil linker Hand wurde zum Gemüß- nung der Kosten und Versäumniß [Zeitver- zehn Stunden weit. Man kann bei heiterm garten zugerichtet, und zwey Beete mit lust?] wenigen Gewinn übrig ließ, so ver- Himmel die Domkirche und das Schloß von Spargel versehen, der im dritten Jahre Spar- kaufte ich 1773 hievon 15 Morgen in eben Worms sehen. Hinter diesem Hügel findet gel herfürbrachte, wovon acht Stück ein so vielen Stücken, und ließ die Bezahlung man eine sehenswürdige Einsiedeley, die Pfund wogen. Die übrigen zwey Drittheile auf sechs Jahreszieler [Jahresraten] hi- von drey Einsiedlern bewohnt wird, und un- rechter Hand blieben Baumgarten, worin al- nausstellen, für welche 15 Mogen ich um ter die Reichsherrschaft Bretzenheim gehö- le zwey die Bäume sich unter der Last der die Hälfte mehr lösete, als sie mich im An- ret. Kirche, Kanzel, Beichtstuhl, Saal, Stube, Früchte beugten, von diesen höckerigten kaufe zu stehen kamen; über das behielte Küche und die Schlafstätte der Einsiedler, zwey Drittheilen ließ ich den Rasen in klei- alles ist in einen Felsen von rothem Sand- nen Stücken abstechen, sodann das ganze stein eingehauen, und nur mit einer Vor- Baumstück etwas abhangend einebnen, und dermauer geschlossen. [...] wieder mit dem abgestochenen Rasen be- Gegen Norden liegt in einer sanft ab- decken. Diese Arbeit geschahe im Merz- hangenden großen Fläche das einträglichs- monat, daher einige vermutheten, daß in te Fruchtfeld. Durch die ährenvollen Früch- dem nemlichen Jahre dieses Stück wenig te gehet man den Weg nach Bretzenheim Gras herfürbringen würde. Allein im Brach- gleichsam in einer dichten und geschlän- monat hatte das Gras eine solche Größe er- gelten Allee. Einen edlern Anblick von rei- reicht, daß ein in dieses Gras sich verlaufe- chen Fluren kann man sich nicht denken. nes 2½jähriges Kind nicht so gleich gefun- [...] den werden konnte. Das Aeußere zu dem Ich ließ nun mein erstes Geschäft seyn Garten angetauschte Stück muß zuvor noch [Meine erste Maßnahme war nun], 7½ Mor- mit einer Mauer umfangen werden, ehe es gen der schlechtesten Weinberge und 8 zum Garten angelegt werden kann. Es ist Morgen übel gelegener Aecker an die vier Schuh tiefer als der jetzige Garten, wel- Meistbietenden zu verkaufen, und zur Be- cher also den Theaterboden gegen das äus- förderung des Verkaufs die Bezahlung auf sere Stück oder das unten liegende Parterre drey Jahre gegen Zinßen hinaus zu setzen. vorstellt, und von allen auf der Straße von Sodann traf ich mit dem Wein- und Feldbau Kreuznach kommenden ganz übersehen nur vorläufig eine andere Einrichtung. Ver- werden kann. Einen schöner gelegenen schiedene Stücke tauschte ich so zusam- Garten wird man nicht leicht bey einem men, daß ich Aecker zu 9½ Morgen, 6 Mor- Landgute antreffen. Die nothwendigsten gen, 4 Morgen, und zu dem Garten ein Erfordernisse zum Angenehmen, die Aus- Stück von beynahe einem Morgen erhielte. wahl der Lage und die Anmuth der Ge- Auf dem Luftbildausschnitt (um 1980) sind die bei- Die Gebäude ließ ich überall ausbessern, gend, findet sich hier vereinbaret. den spitzwinklig zueinander angeordneten Flügel auch in den Platz eines unbrauchbaren Diese Ausbesserungen und Einrichtun- des Zweifelschen Hofgutes im Ortskern von Schuppen ein großes Zimmer neu herstel- gen nöthigten mich auch manchen Gang Winzenheim zu erkennen. Rechts davon, wo heute len, aus dem man mit gleichem Fuße [eben- von Bretzenheim nach Winzenheim zu thun. die Doppelhalle eines Lebensmittelmarktes steht, erdig] in den Garten gehen konnte. Das aus Noch erinnere ich mich mit süßem Vergnü- befand sich früher der Garten. Steinen gebaute Wohnhaus ist nur einstö- gen, wie vielmal ich an des Sommers Nach- Bildvorlage: Dr. Horst Silbermann, Winzenheim 4 (Seite 28 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 7/2015

bezaubernde Gesang verschiedener ande- rer Vöge hören, und erhoben die Schönheit dieser romantischen Gegend aufs lebhaf- teste. Winkte dann der einsame Abend, so hörte man überall die lieblichen Töne der versammelten Vögel. Der Gesang des Stieg- litzes, der Graßmücke, der Amsel, der lieb- liche Duft der Blumen und die sanft läch- lende Abendröthe erquickten mich mit ei- ner innern Beruhigung, die nur das un- schuldige und stille Leben verschaffen kann. So vergnügten Empfindungen überließ ich mich in dem Garten auf- und niedergehend, hier erkannte ich zur Pracht mich zwar zu arm, zur Glückseligkeit aber reich genug zu seyn. – Der Mond ist oft schon aufgegan- gen, und ich durchwandere noch meinen Garten. Dies vermehret mein Vergnügen. Das weite Murmeln des über die Mühlen- wehre fallenden Nohestrohms, das Ge- räusch des vom Zephyr bewegten Laubes, die Schönheit des gesternten Himmels er- füllen mich mit einer süßen Schwermuth. Die ganze Natur redet zu meiner Seele, in- dem ich aber auf sie höre, ruft mich von ei- Heutige Toransicht des Hofgutes Zweifel in Winzenheim. Bildquelle: Google Bilder ner andern Seite die Vaterpflicht von hier ab. – Lebe wohl, mein geliebter Garten! Spa- re mir deine Freuden auf, um, wenn meine Kinder ihre zeitliche Versorgung werden er- ich die zween besten Morgen davon. berg mehr besäße, weil ich einige verkauft, reicht haben, den der Welt entrissenen Rest Diese Einrichtung verschafte mir im Jah- und die noch übrig behaltenen in künstli- meiner Tage allda Gott einzig zu widmen.“ re 1773 so viel Futter, daß ich dreymal mehr che Wiesen umgeschaffen hätte, denn zwey Nutzvieh als der letzte Pachter meiner Vor- Drittheile des ganzen Guts trügen jetzt Fut- fahren [Vorgänger als Besitzer des Gutes] terkräuter. Er sahe meine Felder, und wun- Anmerkungen mit sattem Futter das ganze Jahr hindurch derte sich um so mehr über diese nützliche im Stalle unterhalten konnte, und nebst Veränderung, wie er sagte, da ihm bekannt 1) Zu den landwirtschaftlichen Neuerun- dem ärndete [erntete] ich dreymal so viel war, daß gar kein Wiesenstück bey dem Gu- gen des 18. Jahrhunderts an der Nahe vgl. Winter- und Sommerfrüchte [Früchte = Ge- te gewesen, als ich solches gekauft hatte. Horst Silbermann: Die wirtschaftliche Ent- treide] ein, als jener, ungeachtet ich 30½ Die Beschäftigung auf dem Lande war wicklung des unteren Nahegebiets im 18. Morgen von dem Gute verkauft, mithin we- mir die angenehmste in meinem Leben. Der Jahrhundert. Bad Kreuznach 1980 (Hei- niger als jener im Genusse [Nutznießung], Heranwuchs meiner Kinder aber, die hier matkundliche Schriftenreihe des Landkrei- und nur ein Drittheil zu Ackerfeld zuberei- den nöthigen Unterricht in den Wissen- ses Bad Kreuznach, Band 8), S. 67ff. und S. tet hatte. Den stärksten Ertrag aber lieferte schaften nicht erlangen konnten, zwangen 116 – 170. mir nach Maaß des Aufwandes der Kleesa- mich das süße Landleben zu verlassen. [...] 2) Auf Leos Wirken als Besitzer des Win- men, indem ich im nehmlichen Jahre nur In der Besorgung meiner Landwirthschaft zenheimer Hofgutes und auf seine Schriften von 1½ Morgen, obschon ich solche zuvor wählte ich den Mittelweg [...]. Ich wagte zur Landwirtschft wurde ich aufmerksam einmal abmähen ließ, für 127 fl. [Gulden] mich nicht in das Große und Mannichfache, gemacht durch Herrn Jörg Julius Reisek, Kleesamen zog [erwirtschaftete]. ich that nicht selbst die Arbeit des Bauers, je- den Leiter der Heimatwissenschaftlichen Meine Kleeäcker stellten eine sehr an- doch ordnete ich jedes Feldgeschäfte an, Zentralbibliothek des Landkreises Bad genehme Abwechselung [Kontrast] mit den und sahe fleissig nach, ob Knecht und Mäg- Kreuznach, der auch die Materialrecher- Fruchtäckern [Getreidefeldern] meiner de die Arbeit so verrichteten, wie ich sie an- chen tatkräftig unterstützte. Ihm gebührt Nachbarn dar, man sahe hierzwischen Klee- gewiesen hatte. Die lange Winterweile ver- dafür herzlicher Dank. stücke von 4, 6, und 9½ Morgen liegen. Die trieb ich mit Bücherlesen von landwirth- 3) Die wechselvolle Geschichte des Gutes Bauern wunderten sich, in einer Gemar- schaftlichem Inhalt. Von meinen daraus ge- ist nachzulesen bei Michael Speier: Das kung, die nicht mit ¼ Morgen natürlicher zogenen Bemerkungen machte ich im Früh- Hofgut Zweifel in Winzenheim. Bad Kreuz- Wiesen begabt war, auf einmal so viel Heu jahre und Herbst Versuche im Kleinen.Hier- nach o.J. Vgl. auch Hans-Christian Bran- (dürren Klee) zur Scheune fahren zu sehen: auf faßte ich Beobachtungen, die das Nütz- denburg: Bretzenheimer Hefte, Heft VI, sie machten verschiedene Glossen [Bemer- liche von dem Nachtheiligen in der Land- Bretzenheim 1995, S. 20. kungen] über meinen neuen Feldbau, ich wirthschaft unterschieden, indem ich auf 4) Leo war vermählt mit der Winzenhei- ließ mich aber dadurch nicht stören. Einige die Ursachen sowohl des einen als des an- merin Josepha Johannetta Mühlberger. Der Liebhaber der Landwirthschaft besuchten dern genau nachforschte. Die Erfahrung Ehe entstammten die Kinder Josepha Leo- mich, theils aus Neugierde, theils um von führte mich endlich auf richtige Grundsät- poldina Elisabeth (25.01.1766) und Carl Phi- meiner Feldbauart Unterricht einzuziehen. ze, die ich der Welt in meinem Buche von lipp Maria Joseph (10.09.1767). Vgl. Hans Vorzüglich bleibt mir aber in ehrfurcht- Abschaffung der Brache vor Augen gelegt Schneider: Die Einwohner von Bretzenheim samstem Angedenken, daß die damals zu habe. a.d. Nahe. 2. Aufl. O.O. 2004, S.167. Kreutznach wohnende Durchlauchtigste Im Garten waren das Setzen, Schneiden 5) Allgemeine Literatur-Zeitung vom 27. Fürstin von Anhalt-Dessau, 6) nunmehrige und Ausputzen der Bäume, das Abzeichnen Februar 1788, Spalte 537 f. Fürstin Koadjutorin [stellvertretende Äbtis- [die Abgrenzung] der Beete, das Abtreten 6) Prinzessin Henriette Amalie von An- sin im weltlichen Damenstift] zu Herford, der Wege u. d. [und dergleichen] meine ei- halt-Dessau (1720 – 1793), seit 1771 Besit- mit sechs Pferden zu mir gefahren kam, um genen Geschäfte. An den Sommermorgen zerin des Kreuznacher Schlösschens, in dem meine Wirthschaft Höchstselbst einzuse- war ich allemal der erste im Garten, zuwei- heute das Schlossparkmuseum unterge- hen. – Der Beamte, welcher mir den Ankauf len kam ich der Morgenröthe zuvor, und be- bracht ist. Sie lebte dort nur zeitweise. des Guts vor acht Jahren mißrathen hatte, trachtete von der Anhöhe die Perlen und Ru- machte mir nun auch einen Besuch, er sagte binen, womit sie die Wege der Sonne be- gehört zu haben, daß ich das Gut wohl ein- säete. Keiner angenehmern Morgen und gerichtet und merklich verbessert hätte. Ich Abende des Frühlings erinnere ich mich in stellte ihm aber die Frage entgegen, ob er meinem Leben, als jener, die ich in diesem Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen sich noch zu erinnern wüßte, daß er mir den Garten zugebracht habe. Da und in der monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein Ankauf dieses Guts wegen der vielen dabey baumreichen Umgrenzung ließen sich mit für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach seyenden Weinberge mißrathen hätte? Nun anbrechendem Tage die hellen Kehlen der e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Dienheimer Berg 11, wollte ich ihm, fuhr ich fort, freundschaft- Nachtigallen, der tiefere Ruf des Kuckuks, 55545 Bad Kreuznach, Telefon 0671/349 57, lich eröffnen, daß ich jetzt gar keinen Wein- die laute Stimme der Baumläufer und der E-Mail [email protected]). Nummer 8/2015

Beilage BadKreuznacher Bad Kreuznach Heimatblätter

10 Jahre Museum für PuppentheaterKultur Der lange Weg der Sammlung Rother nach Bad Kreuznach

VON DR. MICHAEL VESPER, BAD KREUZNACH

Das Bad Kreuznacher Museum für Pup- pentheaterKultur (PuK) feierte am 26. und 27. Juni dieses Jahres mit einer hochkarätig besetzten Marionetten-Gala sein zehnjähri- ges Bestehen (Bericht im ÖA vom 29. Juni 2015). Puppenspielerinnen und –spieler aus Prag, Salzburg, Nürnberg und Bad Kreuz- nach gestalteten das anspruchsvolle Pro- gramm und Oberbürgermeisterin Dr. Heike Kaster-Meurer konnte für den großen Ein- satz der Stadt Bad Kreuznach in der Pflege der Puppentheaterkultur „Die spielende Hand“, den Ehrenpreis des Verbandes Deutscher Puppenspieler, entgegen neh- men. Grund genug, einmal auf die Entste- hungsgeschichte es PuK zurück zu blicken: Vor 30 Jahren konnte das Museum der Römerhalle eröffnet werden. Das war des- Museumsleiter Markus Dorner (rechts) mit Partner Bernd Lang bei einem Auftritt im Rahmen der Jubilä- halb möglich, weil das Land Rheinland-Pfalz umsfeier des PuK Ende Juni 2015. Foto: Rainer Gräff, Öffentlicher Anzeiger Bad Kreuznach der Stadt das großartige Oceanus-Mosaik als Leihgabe zur Verfügung stellte, das zu- sammen mit dem Gladiatorenmosaik (in städtischem Eigentum) den Kern der Aus- Kreuznach – und ein guter Tag für Rhein- Die der Besucherinnen und Besucher näm- stellung bildet. 20 Jahre danach, Ostern land-Pfalz. Ein guter Tag, weil eine gute lich, die alte Bekannte wieder treffen und für 2005, war es wiederum eine Leihgabe des Idee Wirklichkeit geworden ist: ein neues sich den Zauber des Puppentheaters neu Landes Rheinland-Pfalz, die eine Muse- altes Haus für die traditionsreiche Kunst des entdecken.“ umseröffnung ermöglichte. Die große Figu- Puppentheaters, das Museum für Puppen- Und die Besucher kamen in Scharen, ren-Theater-Sammlung von Karl-Heinz Ro- theaterKultur im Rittergut Bangert wird er- jung, alt, Familien, Kindergärten, Schulen ther bildet die Substanz des neuen Museums öffnet. Wir haben viele Museen in unserem aus einem Umkreis von bis zu 200 Kilome- für PuppentheaterKultur (PuK), dessen Ver- Land – darunter auch gewiss viele sehr schö- tern. Bereits in den ersten drei Wochen woll- wirklichung der Sammler selbst rückbli- ne – aber das PuK ist doch ein ganz beson- ten 5000 Personen die Ausstellung sehen. ckend als sein „Lebenswerk“ bezeichnete. deres – und ein ganz besonders schönes“. Vor allem aber gelang es dem neuen Muse- Anders als in Schloßparkmuseum und Rö- An Rother gewandt versicherte Zöllner: umsleiter, Markus Dorner, diesen für Muse- merhalle sind im Sammlungsbestand des „Wir und die Stadt Bad Kreuznach werden en durchaus üblichen Anfangserfolg nicht PuK keine lokalen Elemente enthalten. Das gut auf diesen Schatz aufpassen und sie sol- verpuffen zu lassen, sondern das Publi- PuK lebt von den Kunstwerken des Pup- len es nicht bereuen, dass Sie ihn Rheinland- kumsinteresse zu erhalten, zu steigern bzw. pentheaters die – neben Karl-Heinz Rother - Pfalz überlassen haben.“ immer wieder neu anzufachen. verschiedene Sammler, Theater, Figuren- Von Träumen, die wahr werden, war 220 000 Besucherinnen und Besucher bauer und Puppentheaterspieler einge- dann oft die Rede bei den Feierlichkeiten. zählte das PuK bis Ende des Jahres 2014. Die bracht haben – und noch immer neu ein- Die Kulturbeigeordnete Helga Baumann Besucherzahl pendelte stabil zwischen bringen. hatte sechs Jahre lang unermüdlich für die 19 000 und 22 000 pro Jahr. Einen Ausreißer Die Euphorie war groß, als nach sechs Realisierung des Projektes Überzeugungs- nach oben bildete das Jahr 2009, als die Aus- Jahren Vorbereitungszeit von der Idee bis arbeit geleistet und betonte das Zusam- stellung der Augsburger Puppenkiste im zur Verwirklichung das neue Museum im menspiel der Interessen der Stadt, des PuK zu sehen war und man erstmals nahezu Rittergut Bangert eröffnet wurde, wobei Sammlers und der Kulturinteressierten in 40 000 Gäste zählen konnte. Diese Zahl war Oberbürgermeister Andreas Ludwig, stets ihrem Grußwort: übrigens in der „Werbephase“ für das PuK ein treuer Freund und Förderer des PuK, mit „Heute werden Träume wahr. Wahr wird als Mindestmarke des jährlich zu erwarten- seinem launigen Faust-Prolog zumindest et- der Traum des Sammlers vom Museum für den Publikumszuspruchs genannt worden was Lokalkolorit aus der Kreuznacher His- seine Sammlung [...], wahr wird auch der (AZ, 27. September 2000). Wenig später er- torie einbrachte. Traum oder die Vision der Stadt Bad Kreuz- folgte dann eine Korrektur auf nur noch In seiner Festrede sagte der für Kultur zu- nach von der Vollendung der musealen Ein- 30 000 Besucher (Rheinpfalz, 22. Februar ständige Staatsminister Prof. Dr. E. Jürgen heit im Rittergut Bangert [...]. Wahr werden 2001). Das war auch noch zu hoch gegriffen, Zöllner: „Heute ist ein guter Tag für Bad hier aber auch unzählige Kinderträume. aber derartige Zahlenspiele sind sicher im 2 (Seite 30 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 8/2015

und damit einen Zugang zur faszinierenden Welt des Puppentheaters zu eröffnen. Rother wollte nicht nur Ausstellungsobjekte zeigen. Er wollte das Bildungsangebot mit einem Theatererlebnis und einem umfangreichen didaktischen Angebot kombiniert wissen. Rother verfolgte damit sehr frühzeitig be- reits eine ganzheitliche museale Konzepti- on. Sehr ausführlich hat Gerd J. Pohl in sei- ner Broschüre „Auf zweiter Bühne“ dies aufgrund eines Interviews mit Rother dar- gestellt. Die Schrift ist natürlich im PuK zu haben. (Vgl. auch Brigitte Tietze: Im PuK lebt ein Traum weiter. AZ, 5. Januar 2010, Seite 10). Rother verfolgte dieses Ziel mit großer Ausdauer. Er schaute sich Museen in Euro- pa, den USA und Kanada an und versuchte ein eigenes Konzept zu verwirklichen. Er initiierte und organisierte Sonderausstel- Puppengestalter Till de Kock, Kulturdezernentin Helga Baumann und Puppensammler Karl-Heinz Rother bei lungen für Teile seiner Sammlung, um diese einem Werkstattbesuch im PuK. Foto: Jürgen Köck, Städtisches Bauamt Bad Kreuznach bekannt zu machen. Aber: Rother wusste, dass er das Museum nicht als Privatmann würde realisieren und betreiben können. Er brauchte einen Partner: einen öffentlichen politischen Kontext des Jahres 2000 anzu- von zehn Jahren hielt der 1928 in Herne Träger. Und an dieser Frage drohte er nach siedeln, als es darum ging, um Zustimmung geborene Junge seine erste Puppe in der vielen vergeblichen Anläufen, unter ande- für das Projekt zu werben. Hand, und seitdem ließ ihn die Faszination rem auch in Bad Münster am Stein, zu schei- Dank dem PuK liegen immerhin die Be- für das Puppentheater nicht mehr los. tern. Schon stellte sich die Frage eines Ver- sucherzahlen der drei Museen im Rittergut Beruflich führte ihn der Weg vom kriegsbe- kaufes der Kunstwerke an private Interes- Bangert insgesamt nun stabil Jahr um Jahr dingten Ausbildungsberuf des Waffenme- senten, denn Rother hatte in über 40 Jahren über der 40 000er-Marke (inklusive der chanikers über das Ingenieurstudium und Sammlungstätigkeit nach eigenen Angaben Mehrfacheintritte, Theaterbesucher, Hoch- die anschließende Tätigkeit als leitender über eine Million DM in seine Sammlung zeiten und Veranstaltungsbesucher in an- Ingenieur für Haustechnik in Großbetrieben gesteckt und ihm schien nun mit Blick auf gemieteten Räumen). Das zeigt die Bedeu- zum eigenen erfolgreichen Unternehmen, die Vollendung seines siebten Lebensjahr- tung des PuK für die Attraktivität der Muse- das er 25 Jahre lang von 1970 bis 1995 zehntes die Zeit davon zu laufen. en im Rittergut Bangert. Da es für eine reine leitete. Dauerausstellung sehr schwer, ja geradezu Parallel zur beruflichen Laufbahn lebte unmöglich ist, permanent das Publikumsin- Rother für seine Familie und sein Hobby, ja Das Land Rheinland-Pfalz erwirbt die teresse wach zu halten, wie etwa das Bei- seine Leidenschaft, als Figurensammler und Sammlung Rother und sucht einen Partner spiel der Römerhalle zeigt, versuchte man Figurenschnitzer. Gerade die Tatsache, dass im Konzept des PuK dieser Tatsache gezielt er selbst nicht Puppenspieler war, dass ihn Es musste eine weitere Person ins Spiel entgegen zu wirken: Von Anfang an war die reine Liebe zum Figurentheater ohne je- kommen, um den Knoten aufzulösen. Und vorgesehen, die Ausstellungen zu 100 Jah- den eigenen Geltungsanspruch antrieb, öff- diese fand sich in dem Referenten des Lan- ren Puppentheater mit dem Erlebnis des nete ihm die Türen von herausragenden Fi- des Rheinland-Pfalz für freies Theater und Puppentheaters zu kombinieren und eine gurengestaltern wie Till de Kock oder auch Manager des Kultursommers Rheinland- Einheit von Museum und Theater zu schaf- Theo Eggink. Pfalz: Dr. Jürgen Hardeck. Er warb bei der fen, wobei die Dauerausstellung immer wie- Das Besondere an Rothers Sammlung war Kulturministerin Rose Götte für einen An- der neu variiert und durch Sonderausstell- ihr Prinzip: Nur authentische, tatsächlich kauf der einzigartigen Sammlung. Die Mi- lungen bereichert werden sollte. gespielte Figurensätze von Theaterbühnen nisterin erwies sich dann in den folgenden So ein Konzept muss aber auch umgesetzt erwarb er nach und nach. Dazu bemühte er Jahren als gelassene und zielorientierte Ge- und gelebt werden. Das geschah. Und diese sich um Bühnenbilder, Textbücher, Plakate, sprächspartnerin, war aber leider bei der Er- Leistung muss sicher ganz persönlich dem Programmhefte, Fotos, Filme und alle ande- öffnung des PuK nicht mehr im Amt. Museumsleiter Markus Dorner zugeschrie- ren sonst irgendwie mit dem Theaterbetrieb Hardeck überzeugte in den Verhandlun- ben werden. Der Pfälzer aus Neustadt an der zusammenhängenden Materialien. Rother gen mit Rother über einen Ankauf der Weinstraße, der seinen Dienst am 1.4. 2004 sammelte also eigentlich die Figurentheater Kunstwerke durch das Land den Sammler antrat und ein Jahr Zeit hatte, die Sammlung als Ganzes. Da diese Ensembles meist als davon, dass nur so der Weg für eine Ver- sachgerecht zu erfassen, den Museumbe- Wanderbühnen arbeiteten und noch heute wirklichung des Lebenswerkes geebnet trieb zu organisieren und die Ausstellungs- arbeiten, bewahrte er damit diese Kultur- würde. Rother erklärte sich zu einem Ver- eröffnung vorzubereiten, erwies sich als ein güter für die Nachwelt, nachdem sie aus kauf der Sammlung mit erheblichen finan- guter Griff des Auswahlgremiums, dem 70 dem Bühnenbetrieb aussortiert worden wa- ziellen Verlusten für 600 000 DM bereit. Die Bewerbungen auf die Ausschreibung einer ren. Dieses Sammlungsprinzip hat Rother Sammlung wurde auf der Feste Ehrenbreit- halben Stelle als wissenschaftlicher Mitar- weitgehend durchgehalten. stein erst einmal eingelagert und dort in ei- beiter vorlagen: der Pädagoge, an einer In der von Eitelkeiten und Eifersüchtelei- ner großen Ausstellung im Jahr 2000 prä- Hochschule ausgebildeter Puppenspieler en keineswegs freien Puppentheaterszene sentiert. Zwischenzeitlich hatte Hardeck und Theater- und Festivalmacher entpuppte erwarb sich Rother das damals noch wich- sich auch als versierter Museumsorganisa- tigste Kapital des Kaufmanns: Vertrauen. tor. Mit seiner weitgespannten Netzwerk- Wenn Puppentheater ihre Schätze nach vie- arbeit und Kontaktpflege in der Figuren- len Jahrzehnten ihm anvertrauten, wussten theaterszene baute er einerseits die Samm- sie sie in guten Händen. lung weiter aus, inszenierte andererseits im- Immer weiter wuchs die Sammlung an. In mer wieder neue Ausstellungsprojekte und Bad Kreuznach sollten es dann 2300 Einzel- machte nicht zuletzt Bad Kreuznach zu einer figuren sein, die in das PuK einzogen – und der ersten Adressen in Sachen Puppenthea- dazu die genannten Zusatzmaterialien. ter im Land. Sammeln ist für viele Sammler Selbstzweck. Doch zurück zum Anfang! Nicht so für Karl-Heinz Rother. Ihm ging es um den Wert des Figurentheaters als kultu- reller Faktor und um das Puppenspiel als Die Sammlung Rother nach seiner Auffassung unvergleichlich wirksames pädagogisches Instrument. Ihm Ohne die Sammelleidenschaft des Karl- ging es auch darum, seine gewaltige Samm- Frontansicht des PuK Heinz Rother gäbe es das PuK nicht. Im Alter lung dauerhaft der Öffentlichkeit zu zeigen Foto: Dr. Michael Vesper, Bad Kreuznach Bad Kreuznacher Heimatblätter - 8/2015 (Seite 31 des Jahrgangs) 3

neuen Museums auftreten würde. So dankte verein und Sponsoren Jahr für Jahr derarti- sie zunächst für das anregende Gespräch ge Mittel aufbringen könnten, war keine re- und bat sich Bedenkzeit aus. alistische Annahme. Tatsächlich liegt der In ihrer Rede zur Eröffnung des PuK fasste Zuschussbedarf laut dem vom Stadtrat be- die ehrenamtliche Beigeordnete ihren Ent- schlossenen Haushaltsplan aktuell (Plan scheidungsweg und ihre Gründe zusam- 2015) bei 285.000 €, also ziemlich nahe bei men, die sie veranlassten, das Projekt Pup- den 600.000 DM Defizit, die Stadtrat Peter pentheater-Museum zu ihrem zentralen An- Anheuser bereits am 19. Dezember 2000 be- liegen zu machen: „Stück für Stück be- fürchtete: („Wir können uns nicht leisten, je- schäftigte ich mich mit dem Thema. Wäh- des Jahr 600 000 Mark draufzubuttern“, AZ, rend viele unserer Besucher ihre Begeiste- 20. Dezember 2000, „Puppen müssen be- rung aus der Quelle der Jugenderinnerun- zahlbar sein“). Foyer des PuK Foto: Dr. Michael Vesper, Bad Kreuznach gen speisen können, musste ich mich mehr Wer nun meinte, damit sei alles erledigt rational dem Puppentheater nähern. Das gewesen, der kennt Kreuznach nicht. Bei habe ich getan. Letztlich entscheidend war den Beratungen zum Haushalt 2001 tat sich für mich der Besuch der Ausstellung der erstmals ein Loch von sechs bis zwölf sich auf die Suche nach einem Träger für das Sammlung Rother auf der Festung Ehren- Millionen Mark auf – der Beginn der Schief- neu zu schaffende Museum begeben und in breitstein. Wenn man nicht mehr nur über lage der städtischen Finanzen, die bis heute Bad Kreuznach angeklopft. die Sammlung redet oder Papiere liest, son- anhält. Hier bereitete den Kulturdezernenten seit dern die Puppen sieht, sie kunstvoll ausge- Die CDU-Fraktion plädierte nun aus die- Karl Georg Schindowski (1975–1990) die stellt oder im professionellen Spiel erlebt – sem Grund für eine neue Prioritätensetzung Weiterentwicklung des Rittergutes Bangert erübrigen sich viele Fragen. Ohne Umwege bei der Budgetplanung, sah andere Projekte Kopfzerbrechen. Schon seit 1975 verfolgte über Räsonieren und Diskutieren lassen sich wie den Erwerb der amerikanischen Grund- Schindowski ein neues museales Konzept: Jung und Alt begeistern und faszinieren. Ich schule als vorrangig an und stellte das Pup- das alte, im Dezember 1933 eröffnete Hei- war gefesselt von der Vielfalt, von der pentheater in Frage. Es gelang Ebbeke und matmuseum in der Kreuzstraße (heute Schönheit der zauberhaften Details, von den der Kulturdezernentin eine von der damals Stadtbibliothek) sollte nicht einfach in den nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten der noch agierenden Großen Koalition unab- Schloßpark verlegt werden. Im Hinblick auf Sammlung von Karl-Heinz Rother. Hier hängige Mehrheit im Rat zu zimmern. Am die Ausgrabungen der Römervilla durch das wollte ich dran bleiben.“ Zudem erinnerte Grundsatzbeschluss vom März ließ er nicht Landesamt für Denkmalpflege, die dem Baumann daran, dass die Stadt die Ent- mehr rütteln, die Mittel wurden im Novem- Fund des Oceanusmosaik folgten, sollte scheidung, die Räumlichkeiten kulturell zu ber tatsächlich in die Haushaltsplanung ein- vielmehr mit den römischen Funden zu- nutzen, vor etlichen Jahren bereits getroffen gestellt. Am 26. November 2001 unter- sammen eine große museale Einheit entste- hatte. Nun galt es, meinte Baumann, diese zeichneten Staatsminister Zöllner und hen, deren räumlicher Rahmen das alte Rit- Chance zu ergreifen. Oberbürgermeister Ebbeke den Leihvertrag tergut Bangert vor der Stadtmauer der Neu- für die Sammlung Rother. Die Stadt ver- stadt bilden sollte, in dem verschiedene mu- pflichtete sich, bis 2004 den Museumsbau seale Einheiten mit jeweils eigenem Profil Die Politik hat das Wort fertig zu stellen. Zuschüsse des Landes wur- sich etablieren würden. Für diesen Zweck den in Aussicht gestellt. erwarb die Stadt 1980 einen Großteil des al- Im Mai 2000 stellte Baumann das Vorha- Doch damit war die Zitterpartie für die ten Rittergutes Bangert mit dem Schloßpark. ben erstmals informell im Kulturausschuss Puppen noch immer nicht zu Ende. Ein Jahr Mit der Eröffnung der Römerhalle (1985) vor. Tatsächlich war es dann der Besuch des später, am 12. Oktober 2002 verhängte und des Schloßparkmuseums (1986) durch Stadtvorstandes, des Kulturausschusses und Oberbürgermeister und Kämmerer Rolf Eb- den Museumsleiter Hermann Bullinger wa- weiterer Stadtratsmitglieder in der Ausstel- beke einen generellen Baustopp für Neu- ren angesichts des gewaltigen Areals aller- lung auf der Festung Ehrenbreitstein in Ko- bauten – das galt zunächst auch für das PuK. dings nur erste Schritte zur Verwirklichung blenz Ende September, der das Eis brechen Grund: Ebbeke, der es gewohnt war, fi- dieses Konzeptes bewältigt. Als sehr ließ. Mit dabei waren auch Oberbürger- nanzpolitisch mit vielen Bällen in der Luft zu schwierig erwies es sich insbesondere, ein meister Rolf Ebbeke und Kämmerer Karl- jonglieren, war auf dem falschen Fuß er- Nutzungskonzept für die Gebäude des gro- Heinz Gilsdorf, der dem PuK während seiner wischt worden, als das Land mitteilte, die ßen Landwirtschaftsbetriebes zu entwi- ganzen Amtszeit gewogen blieb. Auch sie bereits eingeplanten Zuschüsse für den drit- ckeln, den die Familie Puricelli von 1899 bis waren nach dem Besuch bereit, das Thema ten Bauabschnitt der Nord-Süd-Verbindung 1903 errichtet hatte. Puppentheater auf die politische Agenda zu (von der Pfingstwiese zum Fleischhauer- Im Jahr 1999 erinnerte sich Dr. Jürgen setzen. Kreisel), nur gestückelt in sechs Jahresraten Hardeck daran, dass ihn Renate Weirich, die Die Diskussion war eröffnet. Natürlich zahlen zu können. Die Stadt musste einen Nachfolgerin Schindowskis als ehrenamtli- gab es angesichts der Haushaltslage der zweistelligen Millionenbetrag vorfinanzie- che Beigeordnete für Kultur, einmal auf die- Stadt nur zu berechtigte Bedenken wegen ren. Das raubte die Luft für andere Investiti- ses Potenzial hingewiesen und beim Land der zu erwartenden Folgekosten. Nicht zu- onsvorhaben. angefragt hatte, ob es denn nicht eine Nut- letzt die Tatsache, dass an anderer Stelle Es zeigte sich nun aber, dass das Museum zungsidee für ein Museum gäbe. Hardeck drastische Sparmaßnahmen drohten (so da- für PuppentheaterKultur längst angekom- präsentierte 1999 seinen Vorschlag der neu- mals schon die angedrohte Schließung des men war: in der öffentlichen Meinung. Viele en Kulturdezernentin, Helga Baumann, in Freibades Bosenheim), ließ manchem zwei- Stimmen wurden laut, die sich dagegen aus- deren gemütlichem Büro in der Viktoria- felhaft erscheinen, warum hier eine neue sprachen, ein neues Kulturgut finanziellen straße, das mit der Beigeordneten, dem Kostenstelle eröffnet werden sollte. „Du Bedenken zu opfern. Zudem drohte eine Schreibtisch und dem Besucher gut gefüllt brauchst ja nicht die Puppen tanzen zu las- Blamage dem Land gegenüber. Schließlich war: In den leer stehenden Räum im alten sen“ (AZ, 20. Dezember 2000 „Puppen müs- war ein Vertrag unterschrieben worden. Dr. Max-Planck-Institut solle, so schlug Har- sen bezahlbar sein“), musste sich Ebbeke Hardeck dachte bereits öffentlich über die deck vor, die Landessammlung Rother prä- vom Bosenheimer Urgestein Werner Lorenz sentiert werden. Das Land würde die ange- beim Streit um das Bad in Bosenheim anhö- kaufte Figuren-Theater-Sammlung per ren. Die Befürworter betonten hingegen die Leihvertrag kostenfrei zur Verfügung stel- einzigartige Chance für die Stadt. Bis zum len, die Stadt müsste im Gegenzug die März 2001 fielen die Entscheidungen der Räumlichkeiten für die neue Nutzung um- Fachausschüsse für das neue Puppentheater bauen und das Museum auf eigene Kosten – allerdings mit Vorgaben im Hinblick auf betreiben. die Folgekosten, die rückblickend als politi- Helga Baumann erinnert sich noch heute sche Kosmetik interpretiert werden müssen. gut an das Gespräch. Sie habe höflich zuge- Denn zwar ging man von Folgekosten in Hö- hört und sich am Ende eher ein wenig ratlos he von 427 000 DM aus, allerdings sollten gefunden. Mit dem Thema Puppentheater fast die Hälfte davon durch Einnahmen si- habe sie auf den ersten Blick nicht viel an- chergestellt werden, so dass der Haushalt fangen können, erzählte sie auch bei der Er- nur mit 200 000 DM jährlich belastet werden öffnung. Als erfahrene Kommunalpolitikerin würde. Eine Kostendeckelung, die bald wusste sie zudem um den Hürdenlauf, der nach Eröffnung des Museums vom Finanz- Blick in den Ausstellungsraum des PuK ihr bevorstand, wenn sie mit der Idee eines ausschuss kassiert wurde. Dass ein Förder- Foto: Dr. Michel Vesper, Bad Kreuznach 4 (Seite 32 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 8/2015

Projekt meiner Amtszeit und wir genossen Ausstellungsstücke nicht starken Tempera- viel Freiheit und Vertrauen seitens der turschwankungen auszusetzen. Bis heute Amtsleitung“ erinnert sich Unholtz noch sind die Binder der Dachkonstruktion ein heute. Der für die Baumaßnahme seitens der wesentliches gestalterisches Element des Kulturverwaltung zuständige Amtsleiter war PuK. Auch bei der Ausstellungskonzeption Michael Fries. sollte das Prinzip der Offenheit erhalten Das neue Museum sollte im ehemaligen bleiben. Die Figuren sollten nicht hinter Vit- Getreidelager des Puricelli-Landgutes sei- rinen und Scheiben eingesperrt werden. nen Platz finden. Von 1950 bis 1976 hatte der Stattdessen wurden von beiden Seiten offe- Gebäudekomplex dem Max-Planck-Institut ne Holzkonstruktionen über Stahlrohre in gehört. Für die anspruchsvolle Umgestal- die Binder eingespannt. Das Holzdesign tung und die Entwicklung des musealen passt sich gleichfalls der Binderkonstruktion Konzeptes berief Kulturdezernentin Helga an. Baumann einen Fachbeirat. Diesem Gremi- Auch einige Überraschungen gab es. So Baudirektor Bernhard Unholtz, der ehemalige Leiter um gehörten (ganz oder zeitweise) Amtslei- fand man bei den Rohbauarbeiten hinter ei- des Städtischen Hochbauamtes. Er und sein Team ter Michael Fries, Jürgen Köck und Bern- ner Zwischenwand den Tresor des Rittergu- waren verantwortlich für die bauliche Gestaltung hard Unholtz (Bauamt), Archivarin Franzis- tes, knackte ihn mit Hilfe einer Spezialfirma des PuK. ka Blum-Gabelmann, Klaus-Jürgen Rother, und fand ihn leer. Spannend war auch das Foto: : Isabel Mittler, Allgemeine Zeitung Bad Kreuznach die Beigeordnete Helga Baumann, Brigitte Thema „Uhrentechnik“. Lange stand die al- Schmutzler (Landesmuseum Koblenz), Ing- te Uhr des Türmchens, welches das Gebäu- rid Hofer, Albrecht Roser, Jürgen Maaßen de ziert, still. Noch heute lagert vor Ort die (alle drei Puppenspieler), Dr. Jürgen Har- alte Originaltechnik, allerdings wurde die Suche nach anderen Standorten nach und deck und die Museumsdirektorin Dr. Angela Uhr auf Elektrobetrieb umgestellt und läuft ließ das Stichwort „Bad Ems“ vernehmen. Nestler-Zapp an. Dieses Gremium fand heute wieder. Auch das Museum auf der Festung Ehren- letztlich für das Kind auch einen Namen: der Zeitgleich mit den Arbeiten wurde die breitstein sollte angeblich nach dem großen Vorschlag „PuK“ für PuppentheaterKultur Einlagerung der Puppen erst einmal provi- Publikumserfolg der Ausstellung an der kam von Albrecht Roser. Für den Innenaus- sorisch im Install vorgenommen. Die Inven- Sammlung nun dauerhaft interessiert sein. bau sicherte man sich die Kompetenz des tarisierung erfolgte mit Unterstützung des Zwischenzeitlich war ein Förderverein Diplom-Designers Peter Kneip, der bereits Landesmuseums Koblenz und vor allem gegründet worden, dessen erster Vorsitzen- an den Planungen des Guternbergpavillons durch eine ehrenamtliche Vollzeitmitarbei- der, der Autor des vorliegenden Artikels, in Mainz mitgewirkt hatte. terin: Sunhild Eigemann, die bald zur guten damals noch Pressesprecher der Stadt war. Beim Umbau war es dem Team um Un- Seele des sich entwickelnden Museumbe- Auch der Verein für Heimatkunde trat sofort holtz wichtig, den Charakter des denkmal- triebes wurde. Andrea Manz leistete gleich- diesem Förderverein bei und begrüßte die geschützten Gebäudes zu bewahren und so- falls ehrenamtlich die Öffentlichkeitsarbeit Erweiterung der Museumsfamilie, mit der gar manche Eingriffe des vergangenen im Vorfeld der Eröffnung. Der Förderverein der Verein eng verbunden ist. Der damalige Jahrhunderts zu korrigieren. So wurde die baute die Originalwerkstatt des mit Karl- Vereinsvorsitzende Dr. Horst Silbermann Fassade von der hässlichen Glasbaustein- Heinz Rother befreundeten Figurenbauers appellierte in einem Leserbrief (AZ, 13. De- optik befreit und um eine transparente Glas- von Till de Kock in Bad Lauterberg ab und zember 2002) an die Stadt: „In Schillers front ergänzt. Im Foyer habe man die alte schaffte sie in das PuK. ‚Wallenstein’ war es ‚das Los des Schönen Decke offen gelassen, und so einen großzü- Und dann war es soweit. An Ostern 2005 auf der Erde‘, unter dem Hufschlag kriege- gigen Raumeindruck gewonnen, erläutert öffnete das PuK seine Türen und Minister rischer Kavallerie zu enden, heute gerät es Unholtz. Überhaupt zielte die Bauphiloso- Dr. Jürgen Zöllner sagte zum Ende seiner wohl eher unter die Räder der Straßenfi- phie darauf ab, Durchsichtigkeit zu ermög- Ansprache: „Diese neue wunderschöne Er- nanzierung. Als Vorsitzender des Vereins lichen, wo immer dies möglich war, und lebniswelt für Kinder und Erwachsene steht für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad kleinräumige Parzellierungen zu vermei- ab heute allen interessierten Besucherinnen Kreuznach e.V., der sich von Anfang an für den. und Besuchern offen. Ich bin sicher: Das die Einrichtung des Figurentheater-Muse- Über ein Treppenhaus verfügte das alte PuK wird ein Ort der Freude und Phantasie ums [...] stark gemacht und darin einen Speichergebäude nicht. Dieses wurde von werden. Und darüber können wir uns alle nachhaltigen kulturellen Wertzuwachs für Unholtz ebenso mit transparenten Stufen freuen.“ Bad Kreuznach gesehen hat, bin ich wie vie- neu eingebaut wie die raffiniert nach meh- le unserer Vereinsmitglieder zutiefst ent- reren Seiten begehbare Aufzugsanlage. Mit täuscht darüber, dass das schöne Vorhaben den Bauarbeiten wurde die Firma Gemün- Postskript: nun ein Straßenverkehrsopfer ganz beson- den beauftragt. Viele individuelle Lösungen Rolf Ebbeke, Sunhild Eigemann, Michael derer Art werden soll. Ich appelliere daher waren für den Theaterraum, die Bibliothek, Fries, Jürgen Köck, Till de Kock, Albrecht an alle kommunalpolitischen Kräfte, zuvör- die Werkstatt, die kleinen Künstlerapparte- Roser und Karl-Heinz Rother konnten das derst an Herrn Oberbürgermeister Rolf Eb- ments und natürlich den 600 qm großen 10-jährige Jubiläum, zu dem der Förderver- beke, alle Möglichkeiten zur Rettung des Fi- Ausstellungsraum zu finden. Und natürlich ein einlud und bei dem die Oberbürger- gurentheater-Museums intensiv zu prüfen.“ war das mit Kompromissen verbunden. meisterin Dr. Heike Kaster-Meurer die Fest- Das geschah. Der Eröffnungstermin wur- Letztlich hätte der Sammler Rother wohl rede hielt, nicht mitfeiern. Sie sind in den de zwar auf Ostern 2005, also um ein halbes gerne alles zur Ausstellungsfläche gemacht, vergangenen zehn Jahren verstorben. Auf Jahr verschoben, aber Ebbeke unterschrieb um möglichst viele Exponate zeigen zu kön- ganz unterschiedliche Weise haben sie Vo- die nötigen Aufträge, ohne dass nun die nen, doch wäre dann ein „multifunktionales raussetzungen geschaffen und zur Realisie- Schub- und Zugkräfte, die zuvor wirksam Konzept“ nicht realisierbar gewesen. Das rung des „Traumes“ beigetragen. Dieser wurden, hier im Detail darzustellen wären. von Unholtz und seinen Kollegen ausge- Artikel erinnert auch an ihren jeweiligen wählte „Stäbchen-Parkett“, das in seiner persönlichen Beitrag. Großflächigkeit die Optik des PuK prägt, Der Umbau habe der Kulturdezernentin erst einmal eine Schrecksekunde bereitet, erinnert sich Un- Literatur Endlich konnte die Arbeit im Dezember holtz. Im Theatersaal konnten sich die Bau- (ausführliche Vorstellung der Sammlung): 2002 losgehen. Von den Baukosten, die bei leute über die Spende von Kinosesseln des Markus Dorner: Die Welt des Puppenthea- 2 350 000 Euro lagen, trug die Stadt letztlich Kinobetriebes Sawatzki freuen, die beim ters im Museum. Ein Begleitbuch. Bad 940 000 Euro, wobei Zuschüsse in Höhe von Bau des Cineplex-Kinos frei geworden wa- Kreuznach 2012. 75 000 Euro aus privaten Mitteln die Stadt- ren. kasse entlasteten. Die Bauleitung lag beim Für eine den Bedürfnissen der Exponate städtischen Hochbauamt mit seinem Leiter entsprechende Raumluft sorgt eine Tempe- Baudirektor Bernhard Unholtz. In seinem rierungsanlage. Ihre Rohre liegen auf den Team, das Kosten- und Zeitplan perfekt ma- Steinen auf, mit denen die dünnen Wände Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen nagte, arbeiteten nun Bärbel Marx, Sabine des ehemaligen Speichergebäudes verstärkt monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein Woikowski und Jürgen Köck 30 Monate wurden. Die Bausubstanz des Backstein- für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach lang intensiv an dem Umbau der Wirt- baus erwies sich als hervorragend. Aller- e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Dienheimer Berg 11, schaftsgebäude in ein modernes Museum dings war natürlich an Wänden und Decken 55545 Bad Kreuznach, Telefon 0671/349 57, mit Theater. „Es war das interessanteste eine neue Dämmung anzubringen, um die E-Mail [email protected]). Nummer 9/2015

Beilage BadKreuznacher Bad Kreuznach Heimatblätter

„Hurra, wir leben noch!“ Das Kirner Heimatfest 1949 – eine regionale Großveranstaltung im Spiegel des vierten Jahres nach dem Zweiten Weltkrieg

VON DR. ULRICH HAUTH, KIRN Umland kam, verwundert kaum. Schlimmer waren jedoch die in den Quellen mehrfach beklagten Felddiebstähle, wobei sogar Vorbemerkung: junge Saatkartoffeln aus der Erde gerissen wurden. Aber für viele Zeitgenossen Ein Heimatfest, selbst wenn es in größerem, galt damals die Devise: Not kennt kein sprich regionalem Rahmen gefeiert wird, ist Gebot! an sich nicht unbedingt eine historisch zu Erst nach der Währungsreform vom Juni nennende Angelegenheit. Weil aber das 1948 (dazu später mehr!) trat eine langsame Kirner Trachten- und Heimatfest 1949 als Verbesserung der Lebensverhältnisse in erste derartige Großveranstaltung hier nach den drei Westzonen ein. Der Nachkriegs- dem Zweiten Weltkrieg stattfand, so ist es, alltag begann sich allmählich wieder zu nor- nicht nur regional gesehen, durchaus eine malisieren. Auch das Vereinsleben kam Besonderheit. Das gilt vor allem dann, wenn jetzt wieder richtig in Gang. Von daher ist man die damaligen Zeitumstände mit be- es zu verstehen, dass im Spätherbst 1948 rücksichtigt, unter denen ein immerhin drei- ein kleiner Kreis Kirner MoHoHu-Freunde tägiges Fest im vierten Jahr nach Kriegsen- mit der Planung und Vorbereitung eines de durchgeführt werden konnte. Heimatfestes begann.

I. Zum historischen Kontext II. Wer war der MoHoHu? Titelblatt der Festschrift zum Kirner Heimatfest 1949. Bildgeber: Dr. Ulrich Hauth, Kirn Was war in den letzten zehn Jahren nicht „Aus den Tiefen der Vergangenheit (also alles Unheilvolle passiert? Zwar war Kirn im Kriegs- und Nachkriegszeit / Ulrich Hauth) Zweiten Weltkrieg zunächst wenig vom di- wollen wir hinausführen zur freien Sicht rekten Kriegsgeschehen betroffen. Das än- und zur freudigen Bejahung des Lebens.“ Aus dem MoHoHu ist dann im Jahr 1951 derte sich jedoch fast schlagartig ab Herbst So steht es in der Einladung, abgedruckt in durch Namensänderung der heutige Huns- 1944. Vor allem die militärstrategisch wich- der Festschrift zum „Trachten- und Hei- rückverein hervorgegangen, dessen Ge- tige Rhein-Nahe-Bahn wurde jetzt immer matfest“, das vom 30. Juli bis zum 1. August schäftsstelle sich zurzeit in Herrstein befin- wieder Ziel alliierter Luftangriffe. 1949 in Kirn stattfand. Eingeladen hatten det. Immerhin: Der Verein konnte im Jahr Dadurch wurde auch Kirn mit seinem da- der Hauptverein des MoHoHu, dessen 2015 sein 125. Jubiläum begehen. Das ge- mals bedeutenden Reichsbahn-Betriebs- Kirner Ortsgruppe, sowie für die gastge- schah zu Pfingsten, in einem Festakt auf der werk (Bw) wiederholt stark in Mitleiden- bende Stadt Kirn deren damaliger Bürger- Wildenburg bei Kempfeld. Der Hunsrück- schaft gezogen. Insgesamt fanden hier 55 meister Karl Reidenbach. verein ist einer der etwa 50 regionalen Wan- Zivilisten durch Luftangriffe den Tod. Zu- Die Abkürzung MoHoHu stand für den dervereine, die es in Deutschland gibt. Da- dem waren nahezu 40 Häuser entweder to- „Verein für Mosel, Hochwald und Huns- zu gehören auch der Pfälzerwald-Verein, tal zerstört oder jedenfalls unbewohnbar ge- rück“. Dieser regionale Wander- und Hei- der Harzclub, der Eifelverein, der Taunus- worden. matverein war schon im Jahr 1890 in Mor- Klub, der Fichtelgebirgsverein oder der Zum Glück erfolgte der Einmarsch der bach gegründet worden und hatte immer- Thüringerwald-Verein, um nur einige zu Amerikaner am 18. März 1945 hier kampf- hin beide Weltkriege überlebt. In seinem nennen. los, so dass wenigstens dabei weitere Opfer Gründungsaufruf wurden vier Hauptziele Hauptziel dieser Vereine ist naturgemäß vermieden wurden. Doch schon im Juli des des Vereins genannt, die im Prinzip bis heu- das gemeinschaftliche Wandern. Hinzu gleichen Jahres löste die französische Be- te gelten: kommen Erhaltung und Beschilderung re- satzung die „reichen“ Amerikaner ab. Und 1. Erschließung des Vereinsgebietes (Mo- gionaler Wanderwege. Daneben pflegen sie nun begann auch für viele Kirner durchaus seltal und der südlich der Mosel gelegene aber auch oft heimatliches Brauchtum, etwa ein Überlebenskampf. Vor allem in den Teil der Rheinprovinz, einschließlich Bir- durch Volkstanz und Trachtengruppen, so- strengen Nachkriegswintern 1945/46 und kenfeld) in touristischer, wirtschaftlicher, wie das Interesse an heimatkundlichen The- 1946/47 machten Hunger und Kälte (es fehl- geschichtlicher und naturwissenschaftlicher men in eigenen Veröffentlichungen. Letz- te auch an Brennstoff!) den Menschen zu Hinsicht. teres trifft auch für den heutigen Huns- schaffen. Hinzu kam eine gravierende Woh- 2. Förderung des Fußwanderns bei jung und rückverein zu, der schon seit Jahrzehnten nungsnot, weil durch die erwähnten Bom- alt. ein durchaus interessantes Jahrbuch he- benangriffe zahlreiche Familien ihr Dach 3. Erweiterung der Kenntnis der Heimat rausgibt. über dem Kopf verloren hatten. und dadurch Förderung von Heimat- und All diese Vereine sind Mitglieder des Dass es unter solch dramatischen Vaterlandsliebe. „Deutschen Wanderverbandes“, der jähr- Umständen auch von Kirn aus zu den be- 4. Erhaltung und Pflege von Naturdenkmä- lich in einer anderen Stadt beziehungswei- rühmt-berüchtigten Hamsterfahrten ins lern und Naturschönheiten. se Region seinen „Deutschen Wandertag“ 2 (Seite 34 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 9/2015

wurde dabei (natürlich!) auch das einst weithin bekannte „Nahelandlied“ des Kreuznacher Studienprofessors Oskar Linn- Linsenbarth, vertont von Hermann George. Weil es heute (leider) weitgehend in Ver- gessenheit geraten ist, wollen wir an dieser Stelle noch einmal seine erste Strophe in Er- innerung rufen:

„Du liebliches Tal dort beim grünen Rhein, durchwoben von Blüten und sonnigem Schein von Wäldern und Bergen mit Reben um- kränzt, von rauschenden Wellen der Nahe durch- glänzt: Du bist meine Lust, frei fühlt sich die Brust von Sorgen und Qual im Nahetal.“

Nach einem Grußwort von Pfarrer Ihme hielt Bürgermeister Karl Reidenbach eine ausführliche Begrüßungsrede. Dabei hieß er zuerst ausdrücklich die Vertreter der fran- zösischen Kreiskommandantur unter Capi- taine Serret und von der Kirner Ortskom- mandantur Major Charrier und Adjudant- chef Chrisment willkommen. Erst danach erfolgte die Begrüßung der anwesenden deutschen Amtsträger, an der Spitze der Koblenzer Regierungspräsident Dr. Wilhelm Sommer und der Kreuznacher Landrat Philipp Gräf. Diese Reihenfolge war natürlich nicht zu- fällig gewählt, sondern entsprach protokol- larisch genau den damaligen Machtver- hältnissen. Noch hatte im Juli 1949 die fran- Mit einem Motivwagen war auch der Bauernverein Kirn im Festzug anlässlich des Kirner Heimatfestes 1949 zösische Militärregierung in Rheinland-Pfalz vertreten. Bildgeber: Stadtarchiv Kirn das Sagen. Konkret: Ohne das Permit, also die Genehmigung der französischen Be- hörden, hätte das Heimatfest damals über- haupt nicht stattfinden können. ausrichtet. Bei dieser Gelegenheit: Der erste Höhepunkt war jedoch ein riesiger Festzug, In seiner Ansprache ging Reidenbach Deutsche Wandertag fand schon im Jahr an dem über 600 Personen mitwirkten. 37 auch darauf ein, dass es im Vorfeld des Fes- 1885 in Fulda statt, der letzte vor dem Zwei- Fußgruppen, 36 Fahrzeuge und Festwagen tes durchaus auch kritische Stimmen in der ten Weltkrieg 1939 im schlesischen Hirsch- sowie 110 Pferde zogen durch die festlich Kirner Bevölkerung gegeben habe: berg, damals offiziell „Großdeutscher Wan- geschmückten Straßen von Kirn. Mehrere „Es sind Leute an mich herangetreten dertag“ genannt. Wie bei vielen überregio- tausend Besucher fanden damals den Weg und haben mir gesagt, es sei noch zu früh, nalen Wandertagen nahmen auch an die- nach Kirn. um Feste zu feiern, man hätte also noch sem Fest Kirner Wanderfreunde, damals mit zwei bis drei Jahre warten sollen. Wenn ich ihrer Trachtengruppe, teil. Im Jahr 2015 ist nun an all das Elend und die Not denke, die übrigens Paderborn, und damit die Region IV. Das Trachten- und Heimatfest 1949 wir durchleben mussten und bedenke, wel- Ostwestfalen, Austragungsort des Deut- che Schwierigkeiten noch zu überwinden schen Wandertages. Zufall oder Absicht: Dieses Fest des Mo- sind, dann müsste ich diesen Leuten schon HoHu fand fast auf den Tag genau zwanzig Recht geben. Jahre später wieder in Kirn statt. Ganz ab- Aber, meine Damen und Herren, trotz al- III. Zur Vorgeschichte: gesehen davon, kam unserem Trachten- ler Not und allen Schwierigkeiten schreitet Das erste Kirner Heimatfest 1929 und Heimatfest ein besonderer Stellenwert die Entwicklung fort, und das Leben geht zu. War es doch die erste Großveranstal- weiter. Sollen wir nun also die Köpfe hän- Zurück zu unserem Thema und damit zu tung des MoHoHu, die nach zehnjähriger gen lassen und den Rest unseres Lebens so der Frage: Wie kam es überhaupt zu den re- Pause überhaupt ausgerichtet werden gionalen Heimatfesten? konnte beziehungsweise durfte. „Durfte“ Dazu folgendes: Der Hauptverein des nur deswegen, weil dazu eine besondere MoHoHu richtete in der Regel jedes Jahr in Genehmigung der französischen Besat- verschiedenen Orten an Mosel, Hunsrück zungsbehörde notwendig war. Dazu später und Nahe seine Jahreshauptversammlun- mehr! gen aus. Diese waren jeweils mit einem Hei- Natürlich fiel dieses Fest in Anbetracht matfest verbunden, das von der entspre- der noch nicht überstandenen Nachkriegs- chenden Ortsgruppe, also dem ortsansässi- nöte sozusagen eine Nummer kleiner aus gen Wanderverein, ausgerichtet wurde. So als die Großveranstaltung von 1929. Im- konnte schon Ende Juli 1929 die Ortsgrup- merhin können wir der 86 Seiten umfas- pe des Kirner MoHoHu ein solches Fest ver- senden Festschrift ein überraschend um- anstalten. Über dieses Großereignis habe fangreiches Programm entnehmen. ich bereits an anderer Stelle ausführlich be- So fand zur Eröffnung am 30. Juli, einem richtet (siehe Literaturverzeichnis am Samstag, ein großer „Heimatabend“ statt. Schluss dieses Beitrages.) Deshalb sei hier In einem eigens dafür errichteten Festzelt nur übersichtsartig darauf eingegangen. auf der Kyrau führte Hans Ihme, pensio- Neben der obligatorischen Jahreshaupt- nierter Pfarrer und Vorstandsmitglied des versammlung gab es auch damals noch an- Kirner MoHoHu, durch die Veranstaltung. dere Veranstaltungen. Wegen der großen Musikalisch begleitet wurde der Abend Zahl von Teilnehmern und Besuchern fan- durch musikalische Darbietungen des Kirner So etwa sah die aus Holz gefertigte Festplakette den diese in zwei großen, miteinander ver- Musikvereins und der Männergesangver- aus, die für 1 DM an die Besucher des Festes bundenen Festzelten auf der Kyrau statt. eine „Edelweiß“ und „Olympia“. Gesungen verkauft wurde. Bildquelle: Sammlung Günter Weber, Kirn Bad Kreuznacher Heimatblätter - 9/2015 (Seite 35 des Jahrgangs) 3

hen, wie es in der Festschrift hieß. Schließ- lich stand die letzte Abteilung unter dem Motto „Unsere Jugend“, wobei sich dort vor allem die heimischen Turn- und Sportver- eine vorstellten. Der Festzug begann west- lich von Kirn in der Obersteiner Straße, zog dann durch die (damalige) Stadt und endete auf dem Festplatz auf der Kyrau, also im nördlich gelegenen Hahnenbachtal.

Ein Zeitzeuge erinnert sich:

In der Obersteiner Straße wohnte damals die Familie von Manfred Schlarb. Der spä- tere Lehrer und Schulleiter hat als Kind den Festzug miterlebt. Auch in Erinnerung an Erzählungen seiner Eltern hat er Jahrzehnte später den Umzug erstaunlich lebensnah geschildert. Hier – leicht redigiert – die wichtigsten Passagen: „Der Festzug wurde angeführt von einer Kapelle mit Pauken, Trompeten und einem Glockenspiel. So eine Musikkapelle nennt man Spielmannszug. Hinter der Kapelle er- schienen dann die Festwagen. Einer nach dem anderen. Aus den verschiedensten Ecken unserer Heimat kamen die und hol- perten jetzt die gepflasterte Straße hinun- ter. Mit ihren Metallreifen. Mal Pferde da- vor, mal Kühe sowie Erntewagen, dem An- lass entsprechend rundherum mit Garben und Blumen geschmückt. Dann Zugma- schinen mit gummibereiften Anhängern dran. Bunt gedrängt saßen Männer und Frauen auf den Anhängern, winkend. Tanzgruppe mit Bänderbaum beim Festzug. Dazwischen hin und wieder eine Musik- Fundstelle: Manfred Schlarb, Erinnerungen an Kirn, unveröffentlichtes Manuskript ( 2014) gruppe mit Trompeten und Posaunen: Täää- terä-täää! Die Pferde trugen farbige Ohren- mützchen. Mit einem Stoffband um den Hals herum befestigt. Dann konnten die ganz freudlos dahinleben? Nein! Dann wäre nachmittag durch die Straßen unserer Stadt. Mützchen nicht herunterfallen. Eigenarti- doch unser Leben nicht mehr wert gelebt zu Unter dem Motto „Kirn das Herz unserer gerweise behielten die Pferde die Ruhe. Wa- werden.“ Heimat“ wirkten in vier so genannten „Ab- ren da vielleicht Ohrenstopfen in ihren Kopf- In diesem Sinn schloss Reidenbach seine teilungen“ immerhin fast achtzig Gruppie- bedeckungen? Rede mit guten Wünschen für den Festver- rungen beziehungsweise Motivwagen mit. Auf den Anhängern mit den Gummirei- lauf und dem bemerkenswerten Aufruf an Die erste Zugabteilung stand unter dem fen saßen vielleicht die wichtigsten Leute die Besucher: „Nun freut euch wieder!“ Leitmotiv: „Volkstum, Trachten und Bräu- drauf. Die wurden da oben nicht so durch- Den Festvortrag hielt (wie übrigens schon che“, Abteilung zwei trug den Titel „Das geschüttelt. Da ein Lkw! War auf der ge- 1929!) Gustav Zimmermann, seines Zei- Gesicht unserer Land(wirt)schaft“. Der drit- schmückten Ladepritsche nicht eine Wein- chens ehemaliger Erster Staatsanwalt und te Abschnitt hatte den Leitgedanken: „Die königin zu sehen? Oder eine Erntekönigin? Ministerialrat, ein engagierter Kirner Hei- treibenden Kräfte: Industrie und Gewerbe“. Große Firmen aus Kirn und Umgebung matfreund. Zimmermann, der auch zu den Hier waren laut Festschrift auch „15 origi- ließen ihre Fahrzeuge mit im Festzug fah- Initiatoren dieses Festes gehört hatte, ließ nelle, künstlerisch gestaltete Festwagen der ren. Das machten die nicht ungern, denn da dabei in einem großen Bogen die Ge- Kirner Industrie und des Gewerbes“, zu se- standen ihre Namen drauf.“ schichte der Nahe-Hunsrück-Region und von Kirn Revue passieren. Er schloss mit pa- thetischen Worten: „Drum empor die Her- zen und heran an das gigantische Schicksal, das immer noch den Menschen erhebt, auch wenn es den Menschen zermalmt hat.“ Dem Pathos solcher Worte stand aller- dings just an diesem Abend die rauhe Wirk- lichkeit des Nachkriegsalltags gegenüber. Denn während des gesamten Abends war die Lautsprecheranlage ausgefallen! So be- kamen die allermeisten Besucher weder von den Grußworten noch von der Festan- sprache etwas mit, was naturgemäß zu ei- niger Unruhe im Festzelt führte. Deshalb wurden alle Redebeiträge später in schrift- licher Form veröffentlicht. Am Sonntagvormittag fanden zunächst ein katholischer und ein evangelischer Fest- gottesdienst statt. (Von Ökumene war also damals noch keine Rede!) Danach erfolgte im Ratskeller die Jahreshauptversammlung des MoHoHu-Hauptvereins, die erste nach dem Krieg überhaupt! Unbestrittener Höhepunkt war jedoch Amtsbürgermeister Wilhelm Dröscher (rechts auf dem Motorrad) hatte die „Zugaufsicht“. Links im Hinter- wieder ein großer Festzug am Sonntag- grund Bombenruinen aus dem Zweiten Weltkrieg. Fundstelle: Manuskript Schlarb 4 (Seite 36 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 9/2015

1948 zahllose Menschen ihr Geldvermögen eingebüßt. Aber nach Jahren der Inflation, des Mangels an fast allen lebensnotwendi- gen Gütern, verbunden mit dem berühmt – berüchtigten Schwarzmarkt, gab es jetzt endlich wieder eine harte Währung: die D- Mark! Zugleich war die staatliche Zwangs- bewirtschaftung größtenteils aufgehoben worden und bald konnte man (zumindest theoretisch!) fast alles wieder kaufen. Die- ser Wandel spiegelte sich übrigens auch in dem breiten Anzeigenteil der Festschrift wi- der. So finden wir hier schon erstaunlich vie- le Annoncen etwa von Lebensmittelge- schäften, Bäcker- und Metzgereien, Schuh- geschäften, Textilhäusern und einer Mö- belschreinerei. Selbst Autohandlungen, ein Baugeschäft und eine Bausparkasse waren dort vertreten. Aber wir lesen hier auch den damals für die meisten Menschen sehr wich- tigen Hinweis in der Anzeige einer Koh- lenhandlung: „Der nächste Winter kommt bestimmt!“ Auch das Angebot eines Kirner Postkutsche und Biedermeier-Szene beim Festumzug. Bildgeber: Stadtarchiv Kirn Beerdigungsinstituts, „Ausgrabung und Heimholung gefallener Soldaten“ macht deutlich, dass im Sommer 1949 bei weitem nicht alle Nachkriegsprobleme überwun- Natürlich wirkten bei diesem Festzug abertausende Besucher nach Kirn gebracht. den waren. auch Trachtengruppen mit. Wieder Man- Sie alle kamen bei dem Vorbeimarsch des Allerdings stellt sich angesichts all dieser fred Schlarb: Festzuges aus dem Staunen und Bewun- Angebote dem Historiker eine Frage: Wer „Umeinander herumtanzend legte eine dern nicht heraus. Nicht anders erging es sollte das damals alles kaufen bzw.: Wer Trachtengruppe Stoffbänder um einen lan- auch den Ehrengästen auf ihrem ‚Hochsitz´ konnte das überhaupt bezahlen? Denn das gen Stock herum. Das ergab ein buntes Mus- (also Podest / U. H.). An ihrer Spitze stan- Geld war bekanntlich für die allermeisten ter. Mal ein einfaches, mal ein komplizier- den der Herr Regierungspräsident Dr. Som- Deutschen noch sehr knapp! tes. Dann lief das Ganze wie in einem Film mer sowie von der Militärregierung Capi- Konkret: Bei der erwähnten Währungs- rückwärts. Da hieß es für die Tänzer: auf- taine Serret in Vertretung von Herrn Oberst reform wurden die Sparvermögen von Mil- passen! Wenn die Bänder wieder entwirrt Vallat.“ lionen Deutscher im Verhältnis 10 zu 1 ent- waren, konnte der Reigen von neuem be- Nach dem Umzug fand im Zelt auf der Ky- wertet. Ein Beispiel: Von einem damaligen ginnen.“ rau eine „Festfeier“ statt, in deren Mittel- Sparguthaben, von 5000 alter Reichsmark Die Leitung des Festzuges hatten zwei punkt Tanzdarbietungen verschiedener waren jetzt gerade mal 500 neue D-Mark bekannte Kirner inne: Künstlerischer Leiter Trachtengruppen standen. Nach einem übrig geblieben. Die „restlichen“ 4500 Mark war der Akademische Maler Fritz Becker, Frühschoppen klang am Montagnachmit- waren also für immer verloren! die organisatorische Leitung oblag Wilhelm tag das Fest in „zwangloser Runde“ aus. Die (noch sehr niedrigen) Löhne und Ren- Dröscher, damals mit 28 Jahren schon Wie aber konnte ein solch umfangreiches ten wurden jedoch weiterhin im Verhältnis Amtsbürgermeister von Kirn-Land! Über Fest unter den damaligen Umständen über- eins zu eins ausbezahlt. Auch Sachwerte ihn und seine Rolle bei dem Festzug schreibt haupt finanziert werden? Unterstützt wurde wie Immobilien und Grundbesitz waren Schlarb: die Veranstaltung einmal durch „Sponso- ebenso wie Betriebsvermögen, also Fabri- „Dröscher hatte die Dörfer rings um Kirn ren“, wie man heute sagen würde, also ken, von der Abwertung nicht betroffen, zu verwalten. Da war ja viel zu tun, Straßen durch die sehr zahlreichen Anzeigen meist was deren Besitzern jetzt einen beträchtli- und Wasserleitungen in Ordnung bringen Kirner Geschäfte und Firmen in der Fest- chen Startvorteil verschaffte. Trotzdem: usw. Und sich mit den ehrenamtlichen Orts- schrift. Eine weitere Finanzquelle ergab Selbst mit einem „Startgeld“ von 40 bezie- bürgermeistern einig werden, wenn Geld in sich durch den Verkauf von Festplaketten hungsweise 60 D-Mark, das jeder Deutsche Kindergärten und Landschulen investiert zu einer D-Mark (das war damals durchaus in den Westsektoren 1948 auf die Hand be- werden musste. Vier Jahre nach dem Krieg ein Betrag!) an die vielen Besucher. Hinzu kam, ließen sich auch damals keine großen fehlte es ja noch an Vielem. Wilhelm Drö- kam die Unterstützung vieler ehrenamtli- Sprünge machen. scher, ein Mann mit Einsatzwillen. Das wur- cher Kräfte und natürlich das unentgeltliche Mit anderen Worten: Stand vor der Wäh- de weithin anerkannt und brachte ihn spä- Mitwirken der Festzugteilnehmer. rungsreform einer durch Inflation aufge- ter politisch weit voran (bis hin zum Lan- blähten Geldmenge ein sehr knappes Wa- desvorsitzenden und Bundesschatzmeister renangebot gegenüber, so war es jetzt ge- der SPD / U. H.). V. Das Heimatfest im Spiegel des vierten radezu umgekehrt. Denn nun stand einer Beim Heimatfest 1949 kurvte er mit sei- Nachkriegsjahres breiten Palette von (oft „vorsorglich“ ge- nem Motorrad herum, von vorn nach hin- horteten) Waren und Dienstleistungen eine ten, von hinten nach vorn. Wie ein Schäfer- „Hurra wir leben noch!“ und „Es geht wie- noch sehr geringe Kaufkraft jedenfalls der hund um die Herde! Damit alles in Ordnung der bergauf!“ So könnte man die Grund- Durchschnittsbevölkerung gegenüber. ging. Wahrscheinlich musste vorher alles stimmung beschreiben, die zweifellos über Nicht umsonst wurde damals der weit ver- mit den Franzosen abgestimmt werden. diesem Heimatfest gelegen hat. Nach den breitete Kölner Karnevalsschlager gesun- Übrigens: Erstaunlich offenen Unmut über Schrecken des Krieges und der Not der ers- gen: die noch bestehende Besatzung zeigten da- ten Nachkriegsjahre zeigte sich auch und „Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt? gegen die Winzer mit einem besonderen gerade rund um dieses Heimatfest wieder Wer hat so viel Pinke, Pinke, wer hat so viel „Motto“-Wagen. Da stand nämlich drauf, Lebensfreude und Zuversicht. Dazu noch Geld?“ dass 92 Prozent der Weinernte an die Fran- einmal die erwähnte Festschrift: zosen abgegeben werden mussten. Und den „Wir wollen und dürfen die zurücklie- (Schluss folgt). Winzern selbst nur acht Prozent zum Ver- genden Zeiten nicht vergessen, Aber wir ha- kauf verblieben. Das war kein Zustand! Ein ben alle Veranlassung, trotzdem unbe- Jahr nach der Währungsreform, wo soviel schwert in die Zukunft zu schauen, wenn Geld verloren worden war.“ auch noch Sorgen und Nöte uns bedrü- Ein Wort noch zu den vielen Zuschauern! cken!“ Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen In einer Nachbetrachtung zu dem Fest, ver- Diese beiden Sätze spiegelten sicher monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein öffentlicht im Mitteilungsblatt der Kirner auch das Lebensgefühl wider, das die meis- für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach Ortsgruppe des MoHoHu, hieß es dazu: „Di- ten (West-) Deutschen in diesem vierten e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Dienheimer Berg 11, verse Plan- und Sonderzüge sowie sonstige Nachkriegsjahr trug. Zwar hatten durch die 55545 Bad Kreuznach, Telefon 0671/349 57, Fahrgelegenheiten hatten tausende und erwähnte Währungsreform vom 20. Juni E-Mail [email protected]). Nummer 10/2015

Beilage BadKreuznacher Bad Kreuznach Heimatblätter

„Hurra, wir leben noch!“ Das Kirner Heimatfest 1949 – eine regionale Großveranstaltung im Spiegel des vierten Jahres nach dem Zweiten Weltkrieg

VON DR. ULRICH HAUTH, KIRN

(Schluss) Bei dem Kirner Heimatfest von 1949 zeig- te sich: Die nach dem Zweiten Weltkrieg weithin pessimistische Grundstimmung der westdeutschen Bevölkerung wandelte sich immer deutlicher hin zu mehr Zuversicht und Optimismus. Diese Tendenz wurde übrigens auch in einer Sonderausgabe der „Kirner Zeitung“ ersichtlich, die zur Kirmes im August 1949, also unmittelbar nach dem Heimatfest, er- scheinen konnte. „Konnte“ deshalb, weil die Zeitung, wie alle Publikationen in der bald danach fran- zösisch besetzten Zone bei Kriegsende zu- nächst eingestellt wurde. Danach aber er- hielt die Verlegerin unserer Zeitung Liese- lotte Simon-Föhlinger von der Besatzungs- behörde zunächst keine Drucklizenz. Die Pressepolitik der Franzosen lief nämlich da- rauf hinaus, nur wenige Regionalzeitungen Reich geschmückter Festwagen. Fundstelle: Manuskript Schlarb zu lizenzieren. Dazu gehörten die „Rhein- Zeitung“ in Koblenz, der „Trierische Volks- freund“, die „Rheinpfalz“ aus Ludwigsha- fen und die „Allgemeine Zeitung“ in Mainz. mer beseitigt, Hausfronten ausgebessert, den neu gegründeten Staat und seine Be- Diese wenigen Regionalzeitungen ließen vervollständigt oder gar neu gestaltet, so- hörden ab. Die Westdeutschen waren jetzt sich natürlich leichter kontrollieren bzw. weit es eben die Verhältnisse gestatte- also Bundesbürger und nicht mehr „die Ein- zensieren als eine Vielzahl lokaler Blätter. ten[...]. Und am Vorabend des großen Ge- geborenen von Trizonesien“ (also der drei Zurück zur Kirner Zeitung: Ab 1948 konn- schehens (also des Festes) war unsere Stadt Westzonen), wie es noch 1948 in einem an- te sie immerhin als zweiwöchentliches An- bereits ein Schmuckkästchen geworden.“ deren Karnevalsschlager ironisch-humor- zeigenblatt erscheinen. Jedoch erst ab dem Gerade der letzte Satz war angesichts der voll besungen wurde. 11. Oktober 1949, als nach Gründung der damals auch hier noch lange nicht überall In unserem Fall bedeutete das, dass jetzt Bundesrepublik die allgemeine Pressefrei- beseitigten Kriegsschäden (verbunden mit nicht mehr jede größere Veranstaltung von heit wieder hergestellt worden war, er- akuter Wohnungsnot!) mit Sicherheit über- der französischen Ortskommandantur ge- schien auch die Kirner Zeitung wieder täg- trieben. Dennoch strahlt der ganze Artikel nehmigt werden musste, zumal sich diese lich. (Sie existierte übrigens noch bis zum eine durchgängig optimistische Grund- bald auch aus Kirn ganz zurückzog. Solche Dezember 2012, also insgesamt 150 Jahre. stimmung aus. Bezeichnenderweise konnte Gesuche waren vor allen Dingen in der An- Danach wurde sie in den „Oeffentlichen An- schon kurz nach dem Heimatfest auch die fangszeit eine oft schwierige Prozedur, wie zeiger“ Bad Kreuznach integriert.) erste Kirner Kirmes nach dem Krieg gefeiert sich alte Kirner Zeitzeugen später erinner- Jedenfalls wurde in jener Sonderausgabe werden. Und schon im Februar 1949 hatte ten. vom August 1948 ein umfangreicher Artikel Bürgermeister Reidenbach festgestellt: „Je- Ein weiterer Aspekt, der gerade auch bei mit der schon richtungsweisenden Über- der Verein glaubt, unbedingt seine eigene diesem Fest zutage trat, war die enge Ver- schrift „Das neue Gesicht unserer Stadt“ Fastnachtsfeier abhalten zu müssen.“ bundenheit zur Heimat, die damals die veröffentlicht. Darin ging es besonders um Hinzu kam jetzt noch eine andere Ent- Menschen gerade im ländlichen Raum den Wiederaufbau der teilweise zerstörten wicklung: Nach Gründung der Bundesre- pflegten. Gustav Zimmermann hat diese Kirner Innenstadt sowie das Aufblühen von publik durch die Annahme des Grundge- Grundhaltung in seiner erwähnten Festrede Handel und Gewerbe: setzes und der Wahl der ersten Bundesre- wie folgt fokussiert: „Heimat ist Glaube und „So entfaltete sich vor dem im Eiltempo gierung unter Konrad Adenauer traten die Liebe, ist Morgenrot und Abendgold, ist nahenden Termin (des Heimatfestes / U. H.) drei westlichen Besatzungsmächte einen Schicksal und Geschichte, ist Singen und auf allen Gebieten hier eine rege Tätigkeit. Großteil ihrer bis dahin fast uneinge- Klingen [...] (Das) möchten wir hinausjubeln Fast überall wurden noch verbliebene Trüm- schränkten Rechte und Machtbefugnisse an in die Gotteswelt!“ 2 (Seite 38 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 10/2015

4. Noch einmal: Natürlich waren die da- „Vereins für Mosel, Hochwald und Huns- mals noch vorherrschenden Lebensverhält- rück“, Kirn 1949. nisse sehr bescheiden! Sie sind also nicht „Erinnerungen an das Trachten- und mit der Wohlstandsgesellschaft zu verglei- Heimatfest in Kirn.“ In: Mitteilungsblatt chen, die heutzutage den meisten Deut- des Hunsrückvereins, Ortsgruppe Kirn, Nr. schen (aber nicht allen!) einen Lebensstan- 4 / September 1949. dard ermöglicht, von dem im Sommer 1949 „Kirner Zeitung“ Einmalige Sonderaus- allenfalls zu träumen war. gabe vom 12. August 1949 (u. a. mit dem Ab- 5. Umso erstaunlicher ist es dann, wie un- druck des Festvortrages von Gustav Zim- ter solch bescheidenen Umständen ein so mermann auf dem Heimatfest). großes Fest in einer kleinen Stadt über- Manfred Schlarb: „Erinnerungen an Kirn/ haupt realisiert werden konnte! Und nicht Als wir in der Obersteiner Straße wohnten“ zuletzt: Ebenso bemerkenswert sind die vor- 1949–1954. Unveröffentlichtes Buchmanu- herrschende Lebensfreude und der Le- skript (Stromberg 2014), hier Seiten 63 –72. bensmut, welche bei den meisten Teilneh- Ulrich Hauth: „Fernweh ist ein Weh wie mern des Kirner Heimatfestes (wieder!) zu viele – Heimweh schmerzt wie keines“ – beobachten waren. Das große Kirner Heimatfest des MoHoHu Auch daran sollte man vielleicht heutzu- 1929. In: 125 Jahre Hunsrückverein – Jahr- tage ab und zu denken. Gerade in Deutsch- buch 2015, Seiten 87–93. land, wo bekanntlich oft genug zwar „auf „100 Jahre Hunsrückverein 1890 – 1990“. hohem Niveau“, aber in pessimistischem In: Hunsrückverein – Jahrbuch 2015. Hier Grundton über die Zustände hier und in der sind auf den Seiten 2 bis 36 zahlreiche Do- Welt gejammert und geklagt wird („Ger- kumente aus der Geschichte des Haupt- man Angst“). vereins veröffentlicht. Ehrenausschuss des Kirner Heimatfestes von 1949. Aber das ist wieder eine ganz andere Ge- Ulrich Hauth: „Die Stadt Kirn und ihr Um- Fundstelle: Festschrift zum Kirner Heimatfest 1949 schichte! land“, Bad Kreuznach 2005.

Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Literaturverzeichnis Herrn Günter Weber, ehemals langjähriger Heutigen Ohren werden diese Sätze wohl Zweiter Vorsitzender des Hunsrückvereins zu pathetisch klingen. Aber sie entsprachen „Trachten- und Heimatfest in Kirn a. d. (Hauptverein) und Erster Vorsitzender der dem damals (noch) weit verbreiteten Zeit- Nahe / 30. Juli bis 1. August 1949“, Fest- Ortsgruppe Kirn. Neben wertvollen Hin- geist, gerade im deutschen Bürgertum. schrift, bearbeitet von Karl Fahr und Hans weisen stellte er mir verschiedene Unterla- Noch stärker als heute wurde damals Ihme. Hrsg. von der Ortsgruppe Kirn des gen des Vereins zur Verfügung. auch die Geselligkeit gepflegt. Das wird in der Beteiligung so vieler Vereine an dem Heimatfest beziehungsweise dem Umzug deutlich. In einer Zeit ohne stets neue „Events“, von Fernsehen oder gar Internet und Smartphone ganz zu schweigen, war das für viele Menschen eine wichtige Ab- wechslung in ihrem Nachkriegsalltag. Eine Zeitzeugin, in diesem Fall die Mut- ter des Verfassers, hat das später einmal so ausgedrückt: „Die Leute hatten einfach Nachholbedarf. Sie wollten endlich mal wie- der richtig feiern!“ Schließlich fallen dem Betrachter die vie- len jungen Menschen auf, die sich in Grup- pen oder Vereinen gerade an dem Festzug beteiligten. Dieser Aspekt ist insofern inte- ressant, als heutzutage viele Vereine (nicht nur in Kirn) von Mitgliederschwund und so- gar vom Aussterben bedroht sind, einfach weil der Nachwuchs fehlt!

Schlussbemerkung

Um jetzt aber nicht allzu sehr in nostalgi- sche Verklärung zu verfallen, (nach dem Motto: “Früher war alles besser!“) seien mir fünf abschließende Bemerkungen erlaubt: 1. Natürlich gibt es auch heute (nicht nur in unserer Region) eine Verbundenheit vie- ler Menschen zu ihrer Heimat. Und natür- lich werden auch heute noch Feste mit mehr oder weniger großen Umzügen gefei- ert, wie etwa der Meisenheimer Festzug zum 700. Stadtjubiläum im Juli 2015 be- weist. 2. Zudem hat der Mythos „Heimat“ in- zwischen wieder eine allgemeine Renais- sance erfahren. Dazu haben nicht zuletzt auch die bekannten Filme des gebürtigen Hunsrückers Edgar Reitz beigetragen. 3. Dass ein regionaler Wanderverein wie der MoHoHu, also der heutige Hunsrück- verein, mit immerhin (noch) etwa 2500 Mit- gliedern in 19 Ortsgruppen heuer sein Ju- biläum zum 125-jährigen Bestehen feiern Auch ein Gambrinus auf dem Motivwagen der Kirner Brauerei durfte im Festzug nicht fehlen. kann, spricht allein schon für sich! Bildgeber: Stadtarchiv Kirn Bad Kreuznacher Heimatblätter - 10/2015 (Seite 39 des Jahrgangs) 3 Neu auf dem Büchermarkt der Heimat

VON DR. HORST SILBERMANN, BAD KREUZNACH

Im laufenden Jahr sind zum Nahe-Huns- rück-Raum zwei überaus (ge)wichtige Ver- öffentlichungen erschienen, die nachfol- gend vorgestellt werden.

Udo Salomon: „Meisenheim. Eine kleine Stadt und ihre Bewohner in den Span- nungsfeldern der europäischen Geschich- te“ herausgegeben von der Stadt Meisen- heim am Glan. Erste Auflage. Meisenheim 2015. Verlag Matthias Ess, Bad Kreuznach. 561 Seiten. ISBN: 978-3-945676-01-1. Preis: 19,80 €. Erhältlich im Buchhandel. Zu Beginn seines Geleitwortes (Seite 5) schrieb der seinerzeitige Meisenheimer Stadtbürgermeister Werner Keym: „Dies ist ein großartiges Buch.“ Dieser Bewertung kann auch der Rezensent fast uneinge- schränkt zustimmen und auch die kleineren kritischen Bemerkungen, die sich im Fol- genden finden, können ihr keinen nen- nenswerten Abbruch tun. Der Autor entstammt keineswegs der Stadt Meisenheim oder der Glan-Region, Meisenheim im 17. Jahrhundert. Ausschnitt aus dem Kupferstich von Matthäus Merian (1645). sondern er ist 1944 in Schlesien geboren Fundstelle: Udo Salomon, Meisenheim, 2015, Seite 88 und lebt seit 1967 in Hamburg, wo er von 1974 bis 2008 Gymnasiallehrer war. Wie er dennoch zu einer intensiven Beschäftigung mit der Meisenheimer Geschichte kam, er- dem Zweiten Weltkrieg (Seiten 413–493) für Ganzen aus einem Guss zusammenzufüh- klärt er auf sympathische Weise in seinem die Stadt Meisenheim erstmals differenziert ren. Herrschafts- beziehungsweise Verwal- Vorwort (Seite 6 ff.). und zusammenhängend dargestellt hat, liegt tungsgeschichte, die politische, wirtschaft- In 17 Kapiteln gibt Salomon nicht nur ei- ein besonderes Verdienst von Salomons Ar- liche und soziale Entwicklung bilden dabei ne chronologische Übersicht über die Ge- beit. Ob ein Besuch im ebenfalls in Koblenz ebenso Schwerpunkte wie die Religions- schichte Meisenheims von der keltisch-rö- ansässigen Bundesarchiv zu den genannten und Kulturgeschichte der Stadt oder der mischen Zeit bis zum Ende des 20. Jahr- Themenbereichen noch mehr Erkenntnisse tiefgreifende Strukturwandel im 20. Jahr- hunderts, sondern ist nach eigener Aussage gebracht hätte, sei dahingestellt. hundert. Auch die Veränderungen des (Seite 7) gleichzeitig darum bemüht, „das Der Verzicht auf Recherchen im Landes- Stadtbildes, bau- und kunstgeschichtliche Spannungsfeld zu beschreiben zwischen archiv Speyer, im Hauptstaatsarchiv Mün- Aspekte finden angemessene Berücksichti- den Haupt- und Staatsaktionen der euro- chen und im Staatsarchiv Darmstadt, wo gung. päischen Geschichte einerseits, deren Aus- umfängliche Quellenmaterialien zur vel- Im Inhaltsverzeichnis sucht man aller- wirkungen in der kleinen Stadt und den Be- denzischen, wittelsbachischen und hessen- dings vergeblich gezielte Hinweise auf zwei mühungen ihrer Einwohnerinnen und Ein- homburgischen Zeit Meisenheims lagern, für Meisenheim einschneidende Vorgänge: wohner, damit fertig zu werden, anderer- ist durchaus vertretbar, da diese Archivali- den Übergang von der Landgrafschaft Hes- seits [...].“ Auch wenn bisweilen der Ein- en hinreichend in die vom Autor benutzte sen-Homburg an das Königreich Preußen druck entsteht, die Darstellung des überre- Sekundarliteratur eingeflossen sind. 1866/67 und die Auflösung des Landkreises gionalen beziehungsweise internationalen Herrn Salomon ist es in souveräner Weise Meisenheim 1932. Ersterer versteckt sich Hintergrundes der lokalen Meisenheimer gelungen, weit verstreute Forschungser- unter der Überschrift „Achtzehnhundert- Ereignisse und Entwicklungen könnte zu- gebnisse zu allen Epochen der Meisen- achtundvierzig“ (S. 242), letztere ist hinter viel Raum einnehmen, gelingt es dem Ver- heimer Geschichte – namentlich auch zu der Überschrift „Weltwirtschaftskrise und fasser doch, den Spagat seiner Fragestel- Meisenheims großer Zeit im späten Mittel- die Folgen“ verborgen (Seite 322). lung zu bewältigen und dabei eine schier alter und in der frühen Neuzeit – zu einem Wissenschaftliche Solidität und schrift- unübersehbare Fülle von Fakten zu verar- stellerische Qualität zeichnen das Buch aus. beiten. Sachliche Fehler sind dem Rezensenten, so- Die Grundlage für Salomons Werk bildet weit er sich in der Materie auskennt, mit ei- in erster Linie die umfangreiche bisher er- ner kleinen Ausnahme nicht aufgefallen. schienene Sekundärliteratur zur Geschichte Die Wittelsbacher stellten nicht schon seit Meisenheims, die er in einem 26seitigen Li- 1080, wie auf Seite 64 angegeben, sondern teraturverzeichnis (Seite 508 ff.) erfasst hat erst ab 1180 die Herzöge von Bayern. Das und in den seinem Text als Fußnoten bei- Nichtvorhandensein von Druckfehlern oder gegebenen Anmerkungen jeweils penibel sonstigen formalen Schwächen verrät eine nachweist. In der Einleitung zu seinem sorgfältige Korrektur, wie sie bei heutigen Buch führt der Autor auf den Seiten 13-19 Veröffentlichungen leider nicht immer zudem in die wichtigste „Meisenheimer Li- selbstverständlich ist. teratur“ ein. Als weitere ergiebige Quellen Das Buch ist mit circa 40 schwarz-weißen wurden die 1894 begründete Schulchronik und ca. 60 farbigen Abbildungen, worunter der evangelischen Volksschule zu Meisen- sich viele ansprechende Stadtansichten be- heim und die von 1864 bis 1980 reichenden finden, zureichend illustriert, doch könnten Zeitungsjahrgänge des Allgemeinen An- die Bilder etwas ausgewogener verteilt sein. zeigers ausgewertet. So etwa findet sich ab Seite 160 eine 45-sei- Eigene Archivrecherchen hat der Autor tige „Bleiwüste“ und Seite 278 ff. eine sol- nur im Landeshauptarchiv in Koblenz be- che von 40 Seiten. Das Abbildungsver- trieben, dies aber zu einem besonders wich- Der Historiker Udo Salomon (links) bei der Überga- zeichnis (Seite 534 ff.) kann im übrigen ei- tigen Teil seines Buches, nämlich zur nati- be seines Buchtextes an den früheren Meisen- nen regulären und aus rechtlichen Gründen onalsozialistischen Zeit. Darin, dass er diese heimer Stadtbürgermeister Werner Keym. eigentlich erforderlichen Bildnachweis nicht (Seiten 334–412) und die Jahrzehnte nach Foto: Klaus Dietrich, Oeffentlicher Anzeiger Kirn ersetzen. Wertvoll sind zehn historische 4 (Seite 40 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 10/2015

Die „Pfingstweide“ an der Nahe bei Kreuznach (1781). Foto: Fundstelle: Peter Brommer, „An der Nahe und auf dem Hunsrück“, Koblenz 2015, Seite 456 (Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 702 Nummer 532)

Karten und eine Reihe von Tabellen, vor- denden Ausklang ganz besonderer Art. Ei- matwissenschaftliche Literatur zum Nahe- nehmlich zu Wahlergebnissen. ne deutsche Nachdichtung hat Richard Al- Hunsrück-Raum, die in einem umfängli- Ein sorgfältig zusammengestelltes Per- bert beigetragen. chen Literaturverzeichnis (Seiten 599–661) sonenregister erschließt das Werk und eine Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt erfasst ist. Zeittafel (Seite 554 ff.) ermöglicht in Ver- Meisenheim und alle an ihrer Geschichte In- Warum dort der vorzügliche Beitrag „Die bindung mit der von Werner Keym und teressierten dürfen sich glücklich schätzen, Wirtschaft des Kreises Kreuznach vor 1815“ Günther Lenhoff erstellten Kurzübersicht dass Udo Salomon ihnen rechtzeitig zum von Hans Forster in der von Brommers frü- über die Jahre 1990 bis 2014 (Seite 495 ff.) 700jährigen Jubiläum der Stadtrechtsver- herem Koblenzer Kollegen Kurt Becker he- einen Schnelldurchgang durch die Meisen- leihung am 22. März 2015 dieses grandiose rausgegebenen „Heimatchronik des Kreises heimer Geschichte für die diejenigen Leser, Buch geschenkt hat. Es verbindet die Lei- Kreuznach“ (Köln 1966, Seiten 209–274) die sich nicht in den gesamten Text des um- denschaft eines norddeutschen Freundes fehlt, bleibt allerdings unerfindlich. Glei- fangreichen Werkes vertiefen wollen. von Meisenheim für seinen Gegenstand mit ches gilt für die Dissertation des Rezensen- Die Bürgermeister der Stadt Meisenheim dem kühlen Kopf des stets um Sachlichkeit ten (Horst Silbermann: Die wirtschaftliche nach 1945 und ihre mit Ehrungen ausge- und Objektivität bemühten Historikers und Entwicklung des unteren Nahegebietes im zeichneten Bürger sind auf den Seiten 502 ganz sicher wird „Der Salomon“ auf lange 18. Jahrhundert, Bad Kreuznach 1980, = und 503 verzeichnet. Die liebevolle „Hom- Zeit für die Geschichte der Stadt Meisen- Heimatkundliche Schriftenreihe des Land- mage à Meisenheim“ (Seite 504 ff.), die der heim das Standardwerk schlechthin sein kreises Bad Kreuznach, Band 8). Beide Ar- frühere französische Austauschschüler Do- und bleiben. beiten beschäftigen sich auch mit der Zeit, minique Peccoud in Form eines Sonetts in zu der die Beschreibung des Oberamtes französischer Sprache an die Glan-Stadt ge- Peter Brommer: „An der Nahe und auf Kreuznach von 1772 wichtige Informatio- richtet hat, verleiht Salomons Werk nach dem Hunsrück. Edition und Kommentie- nen liefert. Für letztere war diese Ober- den darin wiederholt angesprochenen Zei- rung der Beschreibungen des pfälzischen amtsbeschreibung eine der wichtigsten ten der Feindschaft und der kriegerischen Oberamtes Kreuznach (1601 und 1772 / ca. Quellen und sie nimmt auf circa 35 Seiten Auseinandersetzungen zwischen Deutsch- 1775) und des badischen Oberamtes Kirch- darauf Bezug. land und Frankreich einen Völker verbin- berg (1766 und 1772)“, Koblenz 2015 (Ver- Brommers Edition wird durch einen dif- öffentlichungen der Landesarchivverwal- ferenzierten Orts- und Personenindex (Sei- tung Rheinland-Pfalz, Band 120, herausge- ten 662–714) gut erschlossen. Hinzu kom- geben von Elsbeth Andre), 714 Seiten. men zahlreiche interessante, meist bisher ISBN: 978-3-931014-94-0. Preis: 49 Euro. Er- nicht veröffentlichte Abbildungen, die hältlich im Buchhandel und beim Landes- überwiegend dem Kartenbestand des Lan- hauptarchiv Koblenz, Karmeliterstraße 1/3, deshauptarchivs Koblenz entstammen. D-56068 Koblenz. Insgesamt macht Brommers überaus so- Peter Brommer, der frühere Leiter der Ab- lides Werk die darin edierten Quellen zum teilung “Historisches Archiv und Nicht- Nahe-Hunsrück-Raum nicht nur leichter staatliches Archivgut“ des Landeshauptar- zugänglich, sondern es dürfte nicht zuletzt chivs Koblenz ediert in seinem neuesten wegen der sorgfältigen und ergiebigen Buch mit den oben genannten Oberamts- Kommentierung zukünftig vielfältige neue, beschreibungen vier Quellen, die für die vornehmlich territorial-, wirtschafts- und Geschichte des Nahe-Hunsrück-Raumes im ortsgeschichtliche Arbeiten zu diesem Raum 17. und 18. Jahrhundert von herausragen- anregen. der Bedeutung sind. Zu den Texten gibt Bronner einführende Informationen zu Auf- trag, Anlage und Aufbau (entfällt beim vier- ten Text wegen dessen geringen Umfangs) sowie zu Überlieferung und Textgestaltung. Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen Die jeweils darauf folgenden Texteditionen monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein sind in einem umfangreichen Anmer- für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach kungsapparat kommentiert mit Verweisen e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Dienheimer Berg 11, Dr. Peter Brommer, der Bearbeiter der besproche- auf (teils weit verstreut, so beispielsweise in 55545 Bad Kreuznach, Telefon 0671/349 57, nen Quellenedition. Foto: Charlotte Eberwien, Bad Kreuznach Wien aufgefundene) Archivalien und hei- E-Mail [email protected]). Nummer 11/2015

Beilage BadKreuznacher Bad Kreuznach Heimatblätter

„In unserem Haus befinden sich insgesamt sieben Erwachsene und neun beziehungsweise im Herbst zehn Kinder“ Wohnraumbewirtschaftung nach 1945 im Landkreis Bad Kreuznach

VON RAINER SEIL, BAD KREUZNACH den letzten Kriegsmonaten noch schwere Schäden, darunter Eckweiler, , , Volxheim, , Spa- Einleitung brücken und andere mehr. Bei Kriegsende waren in Sobernheim 46 Wohnungen völlig Das Jahr 1945 endete – abgesehen viel- zerstört, 122 beschädigt und damit unbe- leicht vom Dreißigjährigen Krieg – in Euro- wohnbar. In Kirn waren 39 Wohnungen und pa mit einer beispiellosen Katastrophe. In je- Geschäftshäuser zerstört, 75 waren schwer der Hinsicht war ein Neuanfang vonnöten. und 116 leichter beschädigt.6) Das galt für sämtliche Lebensbereiche in ei- nem Land, das nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 7. Von 1945 bis zur Gründung des Landes beziehugsweise am 8. Mai jenes denkwür- Rheinland-Pfalz 1947 Die Bad Kreuznacher Innenstadt 1955 (Kreuzung digen Jahres in vier Besatzungszonen ein- von Mannheimerstraße und Salinenstraße mit Sali- geteilt worden war. So stellte sich in groben Zügen die gera- nenplatz). Bildgeber: Kreismedienzentrum Bad Kreuznach Aufgrund ihrer grenznahen geografi- dezu aussichtslos erscheinende Situation schen Lage weit im Westen des Deutschen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Reiches waren schon ab 1942 die Städte dar. Es fehlte überall an Wohnraum. Gleich- Trier und Mainz von britischen Bombern an- wohl wurde ermittelt, dass zumindest in der 1944 von 11,3 Millionen DPS aus.8) Das Cha- gegriffen worden. Weitere Luftangriffe soll- Französischen Zone noch etwa 75 Prozent os konnte nach 1945 und unmittelbar da- ten noch folgen. In der Zeit vom 7. Oktober der Gebäude den Krieg überstanden hat- nach nicht größer und unüberschaubarer 1944 bis zum 14. März 1945 war Bad Kreuz- ten. In der Amerikanischen Zone waren es sein. Allein im heutigen Rheinland-Pfalz nach acht Bombenangriffen ausgesetzt.1) nur 65 Prozent, in der dicht besiedelten Bri- fehlten am Kriegsende 300 000 Wohnungen Nach W. VOGT kam es schon am 22./23. tischen Zone aufgrund der hohen Besied- für etwa eine knappe Million Einwohner.9) Oktober 1941 zu den ersten Bombenangrif- lungsdichte (Ruhrgebiet, Köln, Düsseldorf, Zudem hatten von den noch intakten Ge- fen auf die Kreisstadt.2) Hamburg und so weiter) nur noch 43 Pro- bäuden amerikanische und später französi- Nach der bedingungslosen Kapitulation zent.7) sche Angehörige der Besatzungstruppen lagen die größeren Städte im späteren Es waren völlig verschiedene, zum Teil Wohnraum zur Unterbringung ihres Perso- Rheinland-Pfalz weitgehend in Trümmern. konkurrierende Personengruppen gleicher- nals beschlagnahmt. Bad Kreuznach wies ebenfalls hohe Zerstö- maßen von der späteren Wohnraumbewirt- Gleichwohl wird bei der Betrachtung die- rungsgrade auf, insgesamt 54 Prozent. Le- schaftung betroffen: Dazu zählten unter an- ser deprimierenden Ausgangslage geflis- diglich noch 47 Prozent des Wohnraums derem „Fliegergeschädigte“ (ausgebombte sentlich übersehen, dass nicht erst nach, und 34 Prozent der gewerblichen Gebäude Einheimische, Evakuierte aus anderen Re- sondern schon vor dem Ende des Zweiten hatten keine Schäden davongetragen.3) Die gionen), deutsche Kriegsgefangene und Weltkriegs Wohnraum knapp war, wovon alliierten Bombenangriffe konzentrierten Spätheimkehrer, Kriegsgefangene anderer auch die überwiegend ländlich geprägte sich vor allem auf Groß- und Mittelstädte. Nationen, Angehörige von Besatzungs- Region um Bad Kreuznach stark betroffen Nach deutschen Quellen waren dort 45 Pro- truppen, Kriegsversehrte, später Heimat- war. Spätestens nach der verlorenen Luft- zent der Gebäude völlig und 45 Prozent teil- vertriebene aus den deutschen Ostgebieten schlacht um England konnte die Royal Air weise vernichtet. Bei Ortschaften unter jenseits von Oder und Neiße sowie Flücht- Force ihre Luftangriffe auf das Deutsche 10 000 Einwohnern waren die Wohnver- linge aus der späteren DDR (damals im Wes- Reich verstärken, wodurch vor allem zu- hältnisse noch zu 90 Prozent intakt.4) Auf ten häufig als „SBZ“ beziehungsweise nächst der Westen des Deutschen Reiches die Situation im Kreis Bad Kreuznach über- „Ostzone“ bezeichnet) sowie sogenannte (Ruhrgebiet, Köln, Duisburg) betroffen war. tragen bedeutete dies: Bad Kreuznach mit „Displaced Persons“. Der Begriff „Dis- Während des Jahres 1943 erreichte der über 50 Prozent Kriegszerstörung lag schon placed Person“ (DP) wurde vom Haupt- Luftkrieg mit dem „Kampf um die Ruhr“ so- über dem statistischen Mittel. Die Kurstadt quartier der alliierten Streitkräfte (Supreme wie mit den Angriffen auf Hamburg und Bad Münster am Stein war mit 80 Prozent Headquarters Allied Expeditionary Forces, Berlin einen ersten Höhepunkt, wenngleich Kriegsschäden bis zur Unkenntlichkeit ent- SHAEF) geprägt und meinte eine „Person, 85 Prozent der übrigen Luftangriffe auf das stellt, in dieser Hinsicht nur noch mit dem die nicht an diesem Ort beheimatet ist“. Es Deutsche Reich auf den Zeitraum von Ja- bis 1969/70 zum Kreisgebiet gehörenden handelte sich dabei vor allem um Zwangs- nuar 1944 bis Kriegsende entfielen. Bingerbrück vergleichbar.5) Doch auch arbeiter und Zwangsverschleppte der NS- Schon am 27. Februar 1943 erließ der manche Dörfer im Kreisgebiet erlitten in Herrschaft. Die alliierten Armeen gingen Reichstag eine Wohnraumlenkungsverord- 2 (Seite 42 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 11/2015

nung (WrLVO, RGBl. I 1943, Seite 127). Am 21. Juni folgte eine Verordnung zur Wohn- raumversorgung der luftkriegsbetroffenen Bevölkerung. Den Ortschaften auf dem Gebiet der heu- tigen Verbandsgemeinde Rüdesheim wur- den nach den schweren Luftangriffen zu- nehmend „Fliegergeschädigte“ aus Köln, Düsseldorf, Duisburg, Essen und so weiter zugewiesen. Aufgrund der ständigen Luft- angriffe auf die Kreisstadt vornehmlich in der Endphase des Zweiten Weltkriegs wur- den Anfang 1945 zahlreiche Einwohner aus Bad Kreuznach evakuiert und in den Dör- fern der nahen Umgebung untergebracht. Teilweise waren sie mit ihren Angehörigen und wenigen Habseligkeiten selbst geflo- hen.10) Einen Sonderfall der Evakuierten stellten Geflohene aus Luxemburg und dem Raum Trier-Saarburg dar. Letztere Region gehörte zur „Roten Zone“. Diese umfasste ein 400 km langes und etwa zehn Kilometer breites Freimachungsgebiet entlang der deutsch-französischen Grenze. Die amerikanischen Truppen hatten in der Zeit vom 16. bis 18. März u.a. den Land- kreis Bad Kreuznach besetzt. Schon im Mai 1945 wurde begonnen, einen Teil der Eva- kuierten wieder in ihre Herkunftsorte zu- rückzuführen.11) Dies mag exemplarisch an drei Dörfern des Amtes Rüdesheim aufgezeigt werden: In Gutenberg (1939: 389 Einwohner)waren Dieses Plakat fand in der französischen Besatzungszone keine Zustimmung und musste auf Anordnung der insgesamt 29 Personen untergekommen, Besatzungsbehörden unverzüglich wieder entfernt werden. davon 16 aus Luxemburg (Düdelingen, Du- Fundstelle: Archiv der VG Rüdesheim, Bestand Rüd. 1 Fach 34 Nr. 15 delange), sechs weitere Evakuierte aus Saarburg, zwei aus Saarlouis („Saarlau- tern“), drei aus Ensdorf und zwei aus Saar- brücken. Das Dorf (1939: 441 „Durch den Tod der Geschwister U. ist in schen Reich in einer eher peripheren Lage Einwohner) nahm 42 Personen auf, davon Rüdesheim im Hause des K. C. ein Zimmer mit vergleichsweise wenigen Großstädten 36 aus Luxemburg, sechs Personen kamen freigeworden.[…] Ich bin Evakuierter aus in einem überwiegend agrarisch struktu- aus Trier, Schweich und Mechernich/Eifel. Bad Kreuznach, Töpferstraße und wohne rierten Raum. Schon vor dem Zweiten Welt- In Hargesheim (1939: 886 Einwohner) fan- zur Zeit in . Da mir der Weg als krieg war dort der Wohnungsbau allgemein den 74 Personen vorübergehend eine Un- Schwerkriegsbeschädigter von Bockenau vernachlässigt worden. In den Kriegsjahren terkunft. Sie kamen aus Saarbrücken (22 zur Reichsbahn nach Bad Kreuznach zu unterblieb er völlig. Auch wurde aus Geld- Personen), Kellerbach bei Saarbrücken (4), weit ist, muß ich meine Wohnung aufgeben. mangel nicht in die vorhandene Bausubs- Hasslingen/Saar (4), Pirmasens (2), Nieder- Ich bitte mir die Zustimmung zu der An- tanz (Wirtschaftskrisen, Inflation) investiert leuken/Saarburg (3), Luxemburg (5), Han- mietung der Wohnung in Rüdesheim zu er- oder erneuert, was schon vorher Verfallser- nover (8), Rheinhausen (3), Aachen (4), Köln teilen.“ scheinungen an der Bausubstanz förderte. (15), Essen (1) und Kaiserslautern (3). Am 3. Juni 1946 schreibt Frau E. S.: Eine Dienstanweisung der Délégation Im Amt Rüdesheim hielten sich Anfang „Am 18.12.1944 wurde ich in Binger- Générale regelte für die Militärregierung Mai 1945 verhältnismäßig viele Luxembur- brück ausgebombt und kam nach Weins- seit dem 22. November 1947, „eindeutig“ ger auf. In Hargesheim waren es 29 Perso- heim. Dort fand ich bei K. W. Unterkunft in die Erteilung der Zuzugs- und Aufenthalts- nen, in Braunweiler 11, in Niederhausen 60, einem Zimmer. Ich war damals allein. In- genehmigungen für das Land Rheinland- in 13, in St. Katharinen 12, in Rü- zwischen sind mein Mann und zwei Kinder Pfalz.13) Demnach mussten alle Personen, desheim 11, in Gutenberg 16, in Hüffels- aus der Gefangenschaft zurückgekommen. die am 1. September 1939, also am Tag des heim 54. Bis auf wenige Ausnahmen kehr- Es ist nun ein unhaltbarer Zustand, daß wir Kriegsausbruches, nicht im späteren Rhein- ten sie wieder in ihre angestammte Heimat vier Personen in dem einen Zimmer weiter land-Pfalz ihren ständigen Wohnsitz hatten, zurück. Zum Rücktransport der Evakuierten hausen können.“ einen Aufnahme-Antrag stellen. Die Ent- nach dem Kreis Saarburg, ins Saargebiet Die Wohnraumsituation blieb ange- scheidung darüber lag allein im Ermessen und nach Luxemburg waren Sammeltrans- spannt. Ab September 1946 bestimmte im der französischen Militärbehörde. porte vorgesehen. Amt Rüdesheim jeder Ortsbürgermeister ei- Neben Ausgebombten und Kriegsheim- Die Freimachung von Wohnraum erfolgte ne aus „drei Köpfen bestehende Woh- kehrern spielten in Rheinland-Pfalz- wenn bei den Hauseigentümern nicht immer frei- nungskommission“. In einem diesbezügli- auch im Vergleich zu den anderen westli- willig. Gelegentlich waren die Schreiben chen Schreiben heißt es:“Die Wohnungs- chen Besatzungszonen mit zeitlicher Ver- der übergeordneten Behörden drastisch for- frage wird jetzt, da das Problem der Ost- zögerung - zunehmend auch die erwähnten muliert, wie das Beispiel aus einer Mittei- flüchtlinge in aller Kürze akut wird, von „Ostflüchtlinge“ eine immer größere Rolle, lung vom 24. September 194512) zeigt: größter Wichtigkeit. Um eine gerechte und eine Entwicklung, von der zunächst die bri- „Auf Anordnung des Herrn Militärkom- auch schnelle Beschlußfassung zu gewähr- tische und amerikanische Besatzungszone mandanten müssen bis heute 12 Uhr in Ih- leisten, bitte ich nur die fähigsten Köpfe in in weitaus größerem Umfang betroffen wa- rem Hause zwei Zimmer für Frau H. frei ge- diese Kommission zu berufen.“ ren. Die französische Besatzungsmacht hat- macht werden. Sollte dieses bis zu diesem te sich anfangs dagegen gewehrt, Flücht- Zeitpunkt nicht geschehen sein, wird der linge aus den deutschen Ostgebieten in ih- hiesige Ortskommandant mit bewaffneten Von 1947 bis 1957 – Die ersten zehn Jahre rer Zone aufzunehmen.14) Die Hauptlast der Soldaten die Wohnung frei machen. Es ist des Landes Rheinland-Pfalz Aufnahme von Heimatvertriebenen, zuvor dann nicht ausgeschlossen, dass der Herr als Flüchtlinge bezeichnet, trugen zunächst Militärkommandant das ganze Haus räumt.“ Das am 18. Mai 1947 neu gegründete Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Der Alliierte Kontrollrat hatte das Woh- Bundesland Rheinland-Pfalz hatte einen Bayern.15) Die Aufnahme der Flüchtlinge ge- nungsgesetz Nr. 18 Artikel IV erlassen, in schwierigen Start, nicht nur alleine auf- staltete sich – so geht es aus den noch vor- dem die Wohnungsbewirtschaftung vorge- grund seiner Lage in der Französischen Zo- handenen Unterlagen hervor – äußerst geben und geregelt worden war. So heißt es ne. Auch schon früher befanden sich die da- schwierig, auch im eher ländlichen Raum. in einem Schreiben vom 8. Januar 1946: rin zusammengefassten Gebiete im Deut- Damit einher gingen häufig Beschwerden Bad Kreuznacher Heimatblätter - 11/2015 (Seite 43 des Jahrgangs) 3

seitens der Einheimischen, die teilweise weisung aufzunehmen, denn meine Tochter zumuten – sofern Sie noch eine fünfköpfige selbst beengt wohnten. Es kam bei den Mie- steht vor ihrer Verheiratung. […] Ein Raum Familie [Bezug auf die Zuweisung einer tern auch zu häufigen Wechseln und Tausch. ehemals war […] das Schlafzimmer meines fünfköpfigen Flüchtlingsfamilie] hätten, ei- Wenn persönliche Antipathie und sonstige Großvaters. In demselben ist seit 1880 ne Wohnung zu beziehen, die 1. über einen Animositäten hinzukamen, folgten nicht nichts mehr gemacht worden, denn wir unverschalten, mit Hohlziegeln bedeckten, selten Prozesse beim Amtsgericht. Davon brauchten ihn nicht, er ist in einem Zustand, unbeleuchteten Speicher wie der unsere künden zahlreiche überlieferte Schreiben in daß er nur mit Vorsicht betreten werden führt? Außerdem erleben wir es jeden Win- den einschlägigen Akten. Das hing nicht kann.“18) ter bei Schneefall, daß der Speicher voller nur mit der qualvollen räumlichen Enge Der Traisener Ortsbürgermeister, der Schnee liegt, teilweise fußhoch. und hoffnungslosen Überbelegung allge- auch gleichzeitig Sachbearbeiter des Woh- 2. Wände und Decken der Räume sind mein zusammen. Vor allem bei der Benut- nungsamtes für den Amtsbezirk Rüdesheim durch den Bombeneinschlag vom 9. Febru- zung von Küche beziehungsweise Kochge- war, schätzte die Situation am 13. April ar 45 und durch die Detonationen bei den legenheiten und sanitären Einrichtungen 1950 folgendermaßen ein: „Ich möchte so- Munitionssprengungen21) derart gerissen ergaben sich – vor allem gegenüber Orts- gar behaupten, daß die unmittelbar bei der und abgefallen, dass es einerseits lebens- und Landfremden – zwangsläufig zahlrei- Stadt Kreuznach gelegenen Gemeinden des gefährlich ist und zum anderen sogar ein of- che Konfliktpotenziale, da die beengte Amtsbezirks in dieser Beziehung mehr in fener Riss in der Wand zu sehen.“ Raumsituation die Privatheit störte. Auf- Anspruch genommen wurden als die übri- Wie prekär die Wohnraumsituation sich grund der Überbelegung zahlreicher zuge- gen Gemeinden im Kreise Kreuznach.“ für die Heimatvertriebenen darstellte, zeigt wiesener Räume entwickelten sich neben In Braunweiler sollten zwei Räume zur das folgende Beispiel vom 13. September persönlichen auch hygienische Probleme. Unterbringung von Flüchtlingen abgege- 1951: Zudem fürchtete man Seuchen und Anste- ben werden, was die Besitzer in einem „Ihnen ist meine Lage gut genug be- ckungen in einer Zeit, in der auch die all- Schreiben vom 22. Juni 1950 wie folgt kom- kannt, und es wäre zu erwarten, dass einer gemeine medizinische Versorgung mehr als mentierten: Familie von vier Personen, welcher ein notdürftig war. Erschwerend kam hinzu, „Die vielen Vorratskammern und Frucht- Raum von 13,5 qm zur Verfügung steht, ge- dass sich noch zahlreiche Familien- und stuben in den Häusern sind nun aber leider holfen werden muss.“ Wehrmachtsangehörige außerhalb von mal nicht mehr auf Dauer aufrechtzuerhal- Es wurde praktisch jeder verfügbare Rheinland-Pfalz befanden und sich bei ihrer ten, obwohl man sagen muss, daß unsere Raum genutzt und zum Wohnraum um- Rückkehr in die angestammte Heimat zu- Bauernhäuser nie für Mietparteien oder funktioniert. Das konnten auch leerstehen- sätzlicher Eigenbedarf ergab. Flüchtlinge eingerichtet waren.“ de Schulen, Rathäuser, selbst Ställe und Seit 1949 wurde mit der ersten Welle der Auszugsweise heißt es in einem auf den Keller sein. Problematisch erwies sich auch Heimatvertriebenen und den damit ver- 3. Juli 1950 datierten Schreiben aus Nor- die Lagermöglichkeit von Brennstoffen (zum bundenen Umsiedlungen nach Rheinland- heim19): Beispiel Holz) für Einheimische und Flücht- Pfalz nach Möglichkeiten gesucht, die gro- „Das Haus […] ist augenblicklich wie lingshaushalte, worauf zahlreiche Beden- ße Wohnungsnot durch Bereitstellung zu- folgt aufgeteilt: ken in den Schreiben Bezug nehmen. sätzlichen Wohnraums zu mindern. Dr. 1. Meine Mutter mit zwei erwachsenen Wie auch in anderen Bundesländern Schroth, Regierungsdirektor im Finanzmi- Töchtern (23 Jahre) hat eine Küche und ein nahm die heimische Bevölkerung zum Teil nisterium in Mainz, regte an, eine Kreis- Schlafzimmer, worin sie mit ihren beiden eine abweisende Haltung gegenüber den siedlungsgesellschaft Kreuznach GmbH ins Töchtern schläft; allerdings können keine Flüchtlingen ein, doch gab es auch Fälle Leben zu rufen. Das Gesellschafterkapital drei Bettstellen aufgestellt werden! von vorbildlicher Hilfe. betrug 50 000 DM. Die Bilanzsumme stieg 2. Meine Ehefrau und ich haben ein von 535 000 DM auf 16 966 000 DM im Jah- Schlafzimmer, ein Zimmer für die vier Kin- re 1964.16) Von Anbeginn lag ein Schwer- der und eine Küche. Fazit und Ausblick punkt der Förderung des Wohnungsbaues Wir haben also mit fünf Erwachsenen und in der Unterstützung kinderreicher Fami- vier Kindern (Junge 13 Jahre, Mädchen 11 Die vorstehenden Ausführungen erfassen lien, die aus eigener Kraft kein Eigenheim fi- Jahre, Junge 6 Jahre und ein Mädchen mit vornehmlich den Zeitraum von 1945 bis nanzieren konnten. 4 Jahren) vier Räume und eine Küche. 1956, d.h. bis in der Bundesrepublik Der intensive Wohnungsbau stellte „ein 3. Die Flüchtlingsfamilie hat mit sieben Deutschland das zweite Wohnungsbauge- Kernstück des Wiederaufbaus“17)dar. Ab Personen (zwei Erwachsene und fünf Kin- setz mit dem Ziel der Linderung der Woh- 1950 lief der Wohnungsbau in Rheinland- der, das sechste wird im September erwar- nungsnot verabschiedet wurde. Der Wie- Pfalz verstärkt an. Bis 1954 investierte das tet) drei Räume mit circa 37 Quadratmetern deraufbau, die Integration von Hundert- Land in dieses ehrgeizige Projekt circa zwei inne. ausenden von Heimatvertriebenen und die Milliarden DM, von denen eine Milliarde In unserem Haus, das nur (ein) 1 ½ Stock- Rückkehr früherer Einwohner beschäftigten auf den sozialen Wohnungsbau entfiel. Haus darstellt, befinden sich also insgesamt noch viele Jahre nach 1945 Alltag und Poli- Wie unzureichend der zur Beschlagnah- sieben Erwachsene und neun beziehungs- tik. mung vorgesehene Raum war, erhellt der weise im Herbst zehn Kinder.“ Es ist heute kaum mehr vorstellbar, wie folgende Auszug aus einem Schreiben vom Bezüglich Rüdesheim geht aus einem problematisch in Rheinland-Pfalz und damit 10. Mai 1950: Schreiben vom 11. November 195020) her- auch im Gebiet des Kreises Kreuznach die „Ich hatte Ihnen am 13. März 1950 mit- vor: Wohnungssituation war. Wer aufgrund der geteilt betreffs der Flüchtlingseinweisung, „Herr Amtsbürgermeister [gemeint: Kriegseinwirkung von der Stadt aufs Land daß ich nicht in der Lage stehe, solche Zu- Friedrich Hunzinger]! Dürfte man es Ihnen geflohen war, teilte den dort knappen Wohnraum mit der Landbevölkerung. Spä- ter wurde ermittelt, dass dort pro Person zehn bis zwölf Quadratmeter zur Verfügung standen, in der Stadt waren es nur fünf bis acht Quadratmeter. Besonders schwer kriegszerstörte Städte verhängten einen Zu- zugsstopp. Dazu gehörten Ludwigshafen, Frankenthal, Mainz, Kaiserslautern und Zweibrücken.22) Im Zeitraum von 1950 bis 1952 stellte das Land Rheinland-Pfalz 250 Millionen DM zur Förderung des sozialen Wohnungsbaues bereit. Mit diesen Mitteln konnten etwa 50 000 Wohnungen errichtet werden.23) Auf das Kreisgebiet übertragen hieß das, dass 1950 insgesamt 675 Wohnungen für etwa 3000 Personen neu errichtet wurden. Im Fol- gejahr wurden im Rahmen des sozialen Wohnungsbauprogrammes 341 Neubau- wohnungen erbaut. In normalen Jahren In der Nachkriegszeit errichtete Einfamilienreihenhäuser in (Bad) Sobernheim. rechnete man in Bad Kreuznach im Schnitt Fundstelle: Kurt Becker (Hrsg.): Heimatchronik des Kreises Kreuznach. Köln 1966, S. 390 mit 150 bis 170 Neubauten. Für die nächs- 4 (Seite 44 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 11/2015

markung lagen Munitionsbestände der Wehrmacht, die im Jahre 1947 von der französischen Besatzungsmacht kontrolliert gesprengt wurden (R. SEIL, 1998, 226). 22) E. WAGNER, 2007, S. 21-22 23) Für diese und die folgenden Angaben vgl: H. UHLIG, 1954, S. 148. 24) Archiv VG Rüd. Best. 1 Fach 43/21 25) M. BEER, 2007, S. 119 26) Institut für staatsbürgerliche Bildung in Rheinland-Pfalz (Hrsg.), 1957, S. 298 27) Staatskanzlei (Hrsg.), 1980, S. 99 28) W. VOGT, 1966, S. 189 29) M. BEER, 2006, S. 111

Quellen und Literatur

ARCHIV DER VERBANDSGEMEINDE RÜ- Für die Nachkriegszeit typische Siedlungshäuser in Bad Kreuznach am „Krummen Kranz“. DESHEIM Foto: Rainer Seil, Bad Kreuznach BECKER, Kurt (Hrsg.): Heimatchronik des Kreises Kreuznach. Köln 1966 BEER, Matthias: Flüchtlinge und Vertrie- bene in den Westzonen und der Bundesre- ten 15 Jahre war ein Bedarf an 2500 Woh- bis 1989, hatte diese Aussage Gültigkeit. publik Deutschland. In: Haus der Ge- nungen ermittelt worden. Noch 1950 wohn- Künftig ist jedoch im Zeitalter des demo- schichte der Bundesrepublik Deutschland ten im Kreisgebiet 293 heimatvertriebene grafischen Wandels zu bedenken, dass beim (Hrsg.): Flucht Vertreibung Integration. Familien mit 1201 Personen in notdürftigen Wohnraumbedarf nicht nur die allgemein Bonn 2007. S. 109-123 Unterkünften. stark diskutierte abnehmende Bevölke- ENGERT, Jürgen (Hrsg.): Die wirren Jahre Aus den Niederschriften der bereits er- rungszahl, sondern die Anzahl der Haus- Deutschlands 1945-1948. Berlin 1996 wähnten Kreissiedlungsgesellschaft vom 19. halte eine bedeutende Rolle spielen. HAUS DER GESCHICHTE DER BUNDES- Juli 1955 ergibt sich, dass deren finanzielle Der gegenwärtige Zustrom Hunderttau- REPUBLIK DEUTSCHLAND (Hrsg.). Flucht Lage „im Augenblick etwas angespannt“ sender von Flüchtlingen aus dem Nahen Os- Vertreibung Integration. Bonn 2005 war. Grund war die besonders forcierte Fer- ten und aus Südosteuropa in die Europäi- INSTITUT FÜR STAATSBÜRGERLICHE tigstellung zahlreicher „Bauten für Sowjet- sche Union und vornehmlich auch in die BILDUNG IN RHEINLAND-PFALZ (Hrsg.): zonenflüchtlinge“.24) Bundesrepublik Deutschland erinnert nicht Rheinland-Pfalz 1947 – 1957. Dokumente Nach äußerst zähen Verhandlungen ver- nur an die Flüchtlingsströme nach dem der Zeit. Mainz 1957 abschiedete der Bundestag 1952 das Las- Zweiten Weltkrieg, sondern stellt, was ihre KÄHLER, Gert (Hrsg.): Geschichte des tenausgleichsgesetz, das den Vertriebenen Bewältigung betrifft, eine wohl ähnliche Wohnens. 1918-1945. Reform Reaktion Zer- einen Antrag auf gestaffelte Entschädigung Herausforderung der Aufnahmestaaten dar. störung. Stuttgart 1996 für Kriegsverluste in Aussicht stellte. Diese NEUBACH, Helmut: Aufnahme, Einglie- Auszahlungen setzten in den 1950er-Jahren derung und Leistung der Vertriebenen. In: ein und kulminierten in den 1960er-Jah- Anmerkungen Beiträge zu 50 Jahren Geschichte des Lan- ren.25) des Rheinland-Pfalz (= Veröffentlichung der Erst seit dem 9. Januar 1957 beschlag- 1) Sparkasse und Stadtverwaltung Bad Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz nahmten die Besatzungsbehörden keinen Kreuznach, 1991, S. 11 Bd. 73).Koblenz 1997 privaten Wohnraum mehr in Rheinland- 2) W. VOGT, 1966, S. 188 SEIL, Rainer: Chronik der Verbandsge- Pfalz. In jenem Jahr waren nur noch 200 3) E. WAGNER, 2007, S. 19 meinde Rüdesheim. Idar-Oberstein 1998 Wohnungen von den alliierten Streitkräften 4) Sparkasse und Stadtverwaltung Bad SPARKASSE UND STADTVERWALTUNG belegt.26) Kreuznach, 1991, S. 11 BAD KREUZNACH (Hrsg.): Aufbruch aus Nach dem Ende der Umsiedlungsaktion 5) R. SEIL, 2007, S. 31 f. Trümmern. Bad Kreuznach 1991 der Heimatvertriebenen innerhalb des Bun- 6) W. VOGT, 1966, S. 188 STAATSKANZLEI (Hrsg.): Rheinland-Pfalz desgebietes hatten ungefähr 280 000 Hei- 7) J. THIES u. von DAAK, 1979, S. 54. Ar- baut auf. Aus der Arbeit der Landesregie- matvertriebene in Rheinland-Pfalz eine neue chiv VG Rüd. Best. Rüd. 1, Fach 34/15 rung. Mainz o.J. Heimat gefunden.27) Das waren acht Prozent Bd. 1-4; Best. Rüd.1 Fach 43/21 und Best. TREES/WHITING/OMAN- der rheinland-pfälzischen Bevölkerung. Im Rüd. 1 Fach 45/11 Bd. 1-16, SEN/RUHL/THIES/von DAAK (Hrsg.): Landkreis Bad Kreuznach wurden 17 222 8) Vgl. WIKIPEDIA, aufgerufen Stunde Null in Deutschland. Die westlichen Flüchtlinge aufgenommen, davon stammten am12.03.2015. Besatzungszonen 1945-1948. Düsseldorf. 11 399 aus den Gebieten östlich von Oder 9) E. WAGNER, 2007, 21 1978. 1979. 1980. und Neiße, 5823 kamen aus der DDR („Sow- 10) R. SEIL, 1998, S. 220 UHLIG, Harald: Landkreis Kreuznach. jetzone“).28) Letztmals wurde 1961 in einer 11) Archiv VG Rüd. Best Rüd. 1 Fach 35/15 Speyer 1954 Volkszählung nach dem Flüchtlings- und Bd. IV. VOGT, Werner: Die Geschichte des mittle- Vertriebenenstatus gefragt. Im bundes- 12) Dieses und die beiden folgenden Zitate: ren und unteren Naheraumes. In: Heimat- deutschen Durchschnitt lag der Flüchtlings- Archiv VG Rüd. Best Rüd. 1 Fach 45/11 chronik des Kreises Kreuznach. Köln 1966 und Vertriebenenanteil bei 21,5 Prozent der Bd. 1 S. 75 - 194 Gesamtbevölkerung.29) Das änderte aber 13) Archiv VG Rüd. Best. Rüd. 1 Fach 34/45 WAGNER, Edgar: „Packt an! Habt Zuver- wenig an der Tatsache, dass – vom Saarland Bd. 3 sicht! Über die Entstehung des Landes abgesehen – in Rheinland-Pfalz die we- 14) H. UHLIG, 1954, S.123f.; Institut für Rheinland-Pfalz und seinen Beitrag zur nigsten Heimatvertriebenen ein neues Zu- Staatsbürger-Bildung in Rheinland-Pfalz, Gründung der Bundesrepublik Deutschland hause fanden. 1957, S. 85; J. ENGERT (Hrsg.), 1996, S. 98; (= Schriftenreihe des Landtags Rheinland- Abschließend bleibt allgemein festzu- M. BEER, 2007, S. 110 Pfalz Heft 35). Mainz 2007 halten, dass die Wohnungsbauförderung 15) H. NEUBACH, 1997, S. 499 aus zweckbestimmten Mitteln auch in spä- 16) K. BECKER (Hrsg.), 1966, S. 389 ff. teren Jahren mehrfach verändert wurde. 17) Staatskanzlei (Hrsg.), o.J., S. 40 f. Ursprünglich wies der deutsche Woh- 18) Dieses und die beiden folgenden Zitate: nungsmarkt seit der Industrialisierung per- Archiv VG Rüd. Best. Rüd. 1 Fach 45/11 Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen manent ein Wohnungsdefizit auf. Erst in der Bd. VI monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein Bundesrepublik erfolgte ein Ausgleich zwi- 19) Archiv VG Rüd. Best. Rüd. 1 Fach 45/12 für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach schen Angebot und Nachfrage. Diese Ent- 20) Archiv VG Rüd. Best. Rüd. 1 Fach 45/11 e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Dienheimer Berg 11, wicklung geht auf demografische Gründe Bd. VIII 55545 Bad Kreuznach, Telefon 0671/349 57, zurück. Schon in der alten Bundesrepublik, 21) Auf der benachbarten Roxheimer Ge- E-Mail [email protected]). Nummer 12/2015

Beilage BadKreuznacher Bad Kreuznach Heimatblätter

725 Jahre Kreuznacher Stadtrechte Jubiläumsfeier am 3. Oktober 2015

DOKUMENTATION VON DR. HORST SILBERMANN, BAD KREUZNACH

Mit einem abwechslungsreichen Pro- Weinanbau und Weinhandel waren die we- gramm (vgl. Oeffentlicher Anzeiger vom 30. sentlichen Stützen. Auch militärisch wurde September und vom 5. Oktober 2015) feier- Crucenach weiter ausgebaut: Die Grafen te die Stadt Bad Kreuznach am 3. Oktober ließen eine Burg errichten, die spätere Kau- dieses Jahres ihre 725 Jahre zurückliegen- zenburg. Zu deren Füßen wuchs im Laufe de, durch König Rudolf von Habsburg am 9. der folgenden Jahre die Stadt dann konti- Januar 1290 urkundlich verfügte Erhebung nuierlich. Burgmannen und Handwerker zur Stadt. wurden angesiedelt, Rathäuser, Amtshäu- Zu dem aus diesem Anlass in der Pau- ser und Zunftbauten entstanden. [... Am] 9. luskirche begangenen Festakt konnte Frau Januar 1290 verlieh König Rudolf von Habs- Oberbürgermeisterin Dr. Heike Kaster- burg der Stadt und Feste Kreuznach die Im- Meurer zahlreiche Festgäste begrüßen. Frau munität, die Rechte und Freiheiten, wie sie Cindy Rinck, die neue Kantorin der Pau- seit 1226 bereits der Freien Reichsstadt Op- luskirche, die Big Band des Lina-Hilger- penheim zustanden. Gymnasiums mit Bandleader Marco Spohn Die Urkunde erzählt uns von einem lo- und das den gregorianischen Gesang pfle- kalen Ereignis. Die Welt aber wird kaum gende „Chorale Augustiniense“ aus Pfaf- Notiz genommen haben von der kleinen fen-Schwabenheim waren mit Musikbei- Siedlung an der Nahe, deren Alt- und Neu- In mittelalterlichem Gewand begrüßte Oberbürger- trägen beteiligt; eine Theatergruppe bot ei- stadt schon bald durch einen steinerne Brü- meisterin Dr. Heike Kaster-Meurer die Gäste der ne szenische Darstellung zur Verleihung cke verbunden wurden. Jubiliäumsfeier. der Stadtrechte und Schüler der drei Bad Dennoch hat sich Kreuznach, diese klei- Foto: Harald Gebhardt, Oeffentlicher Anzeiger Bad Kreuznach Kreuznacher Gymnasien trugen interes- ne Stadt an der Nahe, die aus einer kelti- sante künstlerische und historische Projekte schen Siedlung hervorgegangen ist, nach zum Stadtjubiläum bei. 725 Jahren zu einem attraktiven Mittel- Im Mittelpunkt der Veranstaltung stan- zentrum am Rand der Metropolregion Rhein- nach ausmacht? Warum hat diese Stadt eine den die Festrede der Historikerin Dr. Heid- Main entwickelt. solche Ausstrahlung? [...]vielleicht gibt es run Ochs (Wissenschaftliche Mitarbeiterin 725 bewegte und ereignisreiche Jahre für alle Dinge, die Bad Kreuznach ausma- am Historischen Seminar der Johannes Gu- haben diese Stadt geformt. chen, doch eine Erklärung: Dieses un- tenberg-Universität Mainz) und ergänzende Kreuznach war Schauplatz von heraus- glaubliche Engagement in und für Kreuz- Ausführungen von Dr. Michael Vesper ragenden Ereignissen der Menschheitsge- nach. Wir erleben es in vielen Bereich des (Vorsitzender des Vereins für Heimatkunde schichte, wie beispielsweise [... dem] ers- täglichen Lebens in unserer Stadt. [...] für Stadt und Kreis Bad Kreuznach), auf die te(n) Treffen des französischen Staatspräsi- Das ehrenamtliche Engagement in unse- später genauer eingegangen werden soll. denten Charles de Gaulles mit dem deut- rer Stadt ist enorm groß und ich bin davon schen Bundeskanzler Konrad Adenauer. überzeugt, dass es die Haltung und das Mit- Architektonische Höchstleistungen wie einander und damit auch die Stimmung in Begrüßungsansprache der die Pauluskirche und die Mühlenteichbrü- unserer Stadt prägt. [...] Oberbürgermeisterin cke mit ihren Brückenhäusern gehören zur Die [...] Urkunde von 1290 hat uns heute 725 jährigen Geschichte dazu, genauso wie hier veranlasst zusammen zu kommen. Aber Auch Frau Oberbürgermeisterin Dr. Kaster- die Bauten der Neuzeit in den Konversi- mehr noch: Voller Hoffnung, Erwartung Meurer ging in ihrer Begrüßungsansprache, onsgebieten. und Freude können wir dem entgegen se- in der sie Persönlichkeiten aus Politik, Ver- Bad Kreuznach ist eine Stadt am Fluss, hen, was in Bad Kreuznach noch geschehen waltung, Wirtschaft und Kultur sowie aus die immer mit dem Fluss lebt, und die Nahe wird.“ der Partnerstadt Bourg-en-Bresse willkom- bringt ja immer zum Jahresende [mit ihren men hieß und allen Mitwirkenden sehr Hochwassern] nachdrücklich in Erinne- herzlich dankte, auf einige zentrale Aspek- rung, dass sie dazu gehört. Festvortrag von Dr. Heidrun Ochs te der Bad Kreuznacher Stadtgeschichte Das noble Mäzenatentum einiger Bürger ein. Die folgenden Zitate mögen dies bele- gehört genauso dazu wie die Originale auf Ausgehend von der Michel-Mort-Sage leg- gen: dem Kornmarktbrunnen. te die Mainzer Historikerin Dr. Heidrun „[...] vor 725 Jahren erstellten die Schrei- Das 725-jährige Jubiläum könnte ein x- Ochs in ihrem Festvortrag „Das Werden ei- ber von König Rudolf von Habsburg die Ur- beliebiges sein – es ist es nicht – es ist ein Ju- ner Stadt“ auf der Grundlage der einschlä- kunde, die wir heute als ersten Beleg für die biläum beider Seiten einer Medaille – Glanz gigen Forschung detailliert dar, wie sich Existenz der Stadt Bad Kreuznach ansehen. und Elend, Aufstieg und Niedergang, Stolz Kreuznach während des 13. Jahrhunderts Zu Beginn des 12. Jahrhunderts bauten und Demütigung. zur Stadt entwickelte und welche Rolle die die Grafen von Sponheim Kreuznach zu ih- All dieses ist ‚Civitas’, Stadt. [...] Grafen von Sponheim als Stadtherren, die rem wirtschaftlichen Mittelpunkt aus. Was ist es aber heute, was Bad Kreuz- Kreuznacher Bürger und König Rudolf von 2 (Seite 46 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 12/2015

te, sondern musste dieser Schwurgemein- der Heeresfolge. Für unseren Zusammen- schaft aktiv beitreten. [...] Eine Siedlung hang ist die Benennung der Empfänger des war also dann eine Stadt, wenn es dort eine Privilegs von Interesse, es sind die iurati, Stadtgemeinde gab und sie fünf Kriterien scabini und universitas, also die Geschwo- im Wesentlichen erfüllte: Es gab eine Mau- renen, Schöffen und die Gemeinde. Bleiben er und einen Markt, die Stadtgemeinde hat- wir erst bei der Gemeinde: Die Bezeich- te vom Stadtherrn Rechte erhalten und nung der Gesamtheit der Bewohner als uni- konnte sich auch selbst Recht setzen, und versitas belegt, dass die Kreuznacher nicht sie war in einem bestimmten Rahmen auto- nur eine lose Gemeinschaft waren, sondern nom und verwaltete sich selbst. Kaum eine spätestens 1248 eine Bürgergemeinde bil- Stadt [...] erfüllte die Kriterien in vollem Um- deten, die sich durch den Schwur des Bür- fang. Meist waren sie unterschiedlich aus- gereides konstituierte. Zudem werden als geprägt und machten somit den spezifi- Empfänger die iurati, die sogenannten Ge- schen Charakter einer Stadt aus. Sie sind je- schworenen genannt. Über sie ist wenig be- denfalls die Punkte, auf die wir auch für kannt, aber dieses Gremium könnte dafür Die Big Band des Lina-Hilger-Gymnasiums unter Kreuznach achten müssen, um die Ent- verantwortlich gewesen sein, die Steuerlast Bandleader Marco Spohn wirkte mit zwei Musik- wicklung zur Stadt nachzeichnen und die auf die Bürger von Kreuznach umzulegen. beiträgen am Festprogramm mit. Bedeutung des Privilegs von 1290 ein- Somit ist nicht nur die Gemeinde zu bele- Foto: Hansjörg Rehbein, Stadtverwaltung Bad Kreuznach schätzen zu können.“ gen, sondern auch ein Gremium, das die Ge- Im Weiteren ging Frau Dr. Ochs der Fra- meinde wohl repräsentiert hat und erste ge nach, welchen Rechtstatus der unter Aufgaben der Selbstverwaltung übernom- sponheimisch-gräflicher Herrschaft stehen- men hat. Dazu gehörte auch, so wurde es im Habsburg dabei spielten. Im Folgenden ist de Ort bereits vor 1290 erreicht hatte. Dazu Privileg bestimmt, ihre Zustimmung, wenn der Vortrag in wörtlichen Auszügen und die folgenden Zitate: jemand in die Gemeinde aufgenommen Textzusammenfassungen verkürzt wieder- „Einen [...] Besitzkomplex am Fuße des werden oder ausscheiden wollte. Kreuz- gegeben. Ein erstes Zitat im Wortlaut: Kauzenbergs hatte Kaiser Heinrich III. im nach bildete also Mitte des 13. Jahrhunderts „Die Sage von Michel Mort führt uns mit- Jahr 1045 den Bischöfen von Speyer ge- eine Bürgergemeinde mit einem Repräsen- ten hinein in jene Zeit, die uns hier interes- schenkt, die ihn den Grafen von Sponheim tativorgan als Vertretung, das zudem Auf- siert, sie führt uns in die zweite Hälfte des als Lehen übertrugen. Die Sponheimer, die gaben der Selbstverwaltung übernahm – al- 13. Jahrhunderts, in der Kreuznach die ent- in Naheraum und Hunsrück eine der wich- les im Rahmen der gräflichen Herrschaft, scheidenden Schritte zur mittelalterlichen tigsten Adelsfamilien waren, bauten dort ei- die sich in der Pflicht zu Heeresfolge und Stadt vollzog, in die Phase der Geschichte ne Siedlung auf. So konnte Graf Meginhard Fronfahrten, also der Verpflichtung, Fahr- der Stadt Kreuznach, in der die Grafen von von Sponheim schon im Jahr 1127 in seiner dienste für die Grafen zu leisten, zeigt und Sponheim und die Einwohner von Kreuz- villa Crucinach urkunden. Diese Siedlung die vor allem in der Einsetzung des Schult- nach den Status des Ortes verhandelten dürfte in dem Bereich, in dem der Ellerbach heißen als dem Vertreter des Grafen in und festlegten. Den Anfang dieser Ent- in die Nahe fließt, gelegen haben und als Kreuznach sehr deutlich wird. Der Schult- wicklung kann man kaum festmachen, in ‚Keimzelle der heutigen Stadt Bad Kreuz- heiß bildete mit den genannten Schöffen, diesem Fall lassen uns die Quellen einfach nach’ gelten. Vor 1205 begann der Graf von den scabini, das Ortsgericht, in dem alle im Stich. Doch ein Markstein dieser Ent- Sponheim mit dem Bau einer Burg auf dem Streitfälle zwischen den Mitgliedern der wicklung kann sehr genau benannt wer- Besitz des Speyerer Hochstifts. [...] Gemeinde verhandelt wurden. Die Nen- den: die Urkunde Rudolfs I. von Habsburg Welchen Status hatte nun Kreuznach in nung der Schöffen erst an zweiter Stelle für Graf Johann von Sponheim die dieser der Mitte des 13. Jahrhunderts? Aus dieser nach den Geschworenen könnte einen in- [...] am 9. Januar 1290 erhielt und deren Zeit datiert die erste überlieferte Regelung teressanten Anknüpfungspunkt liefern, um 725-jähriges Jubiläum wir heute feiern. über das städtische Recht, eine Urkunde Näheres über die Verhältnisse in Kreuz- Werner Vogt, der sich um die Erforschung Graf Simons von Sponheim und seiner Frau nach zu erfahren. Das heißt, es gab in Kreuz- der Geschichte des mittelalterlichen Kreuz- Margarethe für Kreuznach. Auf die Proble- nach wohl zwei Gremien, und die Ge- nachs verdient gemacht hat, urteilt über die- me der Überlieferung und Datierung der Ur- schworenen hatten als Vertreter der Ge- ses Privileg: ‚Die Verleihung der Oppen- kunde möchte ich nicht eingehen, es spricht meinde wohl zumindest zeitweise den Vor- heimer Stadtrechte durch König Rudolf I. jedoch einiges dafür, ihre Ausstellung auf rang vor den stadtherrlichen Schöffen. Hie- von Habsburg schloß die Entwicklung zur das Jahr 1248 zu datieren und in Verbin- ran könnte eine ganze Reihe von Fragen an- Stadt auch von Seiten des Reiches ab.’ [...] dung mit der territorialen Entwicklung der schließen: Wer waren die Geschworenen Die Urkunde wurde am 9. Januar 1290 in Grafschaft Sponheim und dem damit ver- und Schöffen in Kreuznach? Wer wählte die Erfurt ausgestellt. König Rudolf I. von Habs- bundenen Machtzuwachs zu sehen. [...] In Mitglieder der Gremien und wer setzte sie burg bekundet darin, dass er ‚wegen er- der Urkunde selbst heißt es, die Bestim- ein? Wer konnte also Einfluss auf die Zu- wiesener Treue auf Bitten des Grafen Jo- mungen seien mit den Geschworenen, sammensetzung der beiden Gremien neh- hann von Sponheim dessen Feste Kreuz- Schöffen und der Gemeinde von Kreuznach men und somit auf die Geschicke der Stadt? nach gefreit und dem Ort alle Immunitäten gemeinsam vereinbart worden. Wir werden zugestanden [hat], die seine Vorgänger, wohl annehmen können, dass sich in der Kaiser und Könige, neuen Befestigungen ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts be- zuzugestehen pflegen. Die Stadt und ihre stimmte Gewohnheiten entwickelt haben, Bürger sollen sich künftig der Freiheit er- die sich zu geltendem Recht verfestigten. freuen, die die Reichsstadt Oppenheim ge- [...] Wichtig ist aber, dass die Bestimmun- nießt; die Rechte des Reiches bleiben davon gen mit den Bewohnern von Kreuznach ver- unberührt.“ [...] handelt wurden. Das somit schriftlich nie- Um die Bedeutung der zitierten Urkunde dergelegte Recht für Kreuznach wurde den für die Stadtentwicklung Kreuznachs zu- Bewohnern der Stadt als Privileg von Graf treffend beurteilen zu können, fragte die Re- Simon und seiner Frau Margarethe verlie- ferentin zunächst nach den Kriterien, die ei- hen. ne mittelalterliche Stadt ausmachten und Was wurde ihnen bestätigt beziehungs- führte dazu aus: weise. welches Recht erhielten die Kreuz- nacher im Jahr 1248? [...] Ich erinnere [...] „Eine der besten Antworten auf diese an die Kriterien der Stadtdefinition und Frage hat Max Weber Anfang des letzten möchte besonders Stadtgemeinde und Jahrhunderts gegeben: Eine Stadt im Mit- Selbstverwaltung hervorheben. Das Privileg telalter wird ihm zufolge allem voran durch spiegelt vor allem die gräflichen Interessen die Stadtgemeinde gekennzeichnet, also wider. Zentrale Punkte sind die Einsetzung dadurch, dass ein Teil der städtischen Be- des Schultheißen als dem Vertreter des völkerung sich durch einen Eid miteinander Herrn in Kreuznach, die Einnahmen des Die Mainzer Historikerin Dr. Heidrun Ochs behan- verbunden und auf die Einhaltung be- Grafen von Weinabgabe, Feuerstättenzins, delte in ihrem wissenschaftlich fundierten Fest- stimmter Regeln verpflichtet hat. Das heißt, Bannweinverkauf und Gerichtsbußen, die vortrag die Stadtwerdung Kreuznachs im 13. Jahr- man war nicht automatisch Teil der Stadt- Regelung der Niedergerichtsbarkeit, die hundert. gemeinde, weil man in dieser Siedlung leb- Befestigung des Ortes und die Organisation Foto: Harald Gebhardt, Oeffentlicher Anzeiger Bad Kreuznach Bad Kreuznacher Heimatblätter - 12/2015 (Seite 47 des Jahrgangs) 3

hundert und wandte sich anschließend der weiteren stadtgeschichtlichen Entwicklung zu, die er wie folgt skizzierte: „Leider kamen der Stadt 1437 ihre [spon- heimischen] Stadtherren abhanden und man tauschte – großes Unglück – [...] nicht [...] ei- nen, sondern [...] drei Stadtherren ein, die Pfalzgrafen, die Markgrafen von Baden und die Grafen von Veldenz. Die hatten nun alle ein Interesse daran zu kassieren und mit- zuregieren, aber nur ein geringes Eigenin- teresse an der Entwicklung der Stadt – die Beute war ja zu teilen, die Herrschafts- schwerpunkte lagen anderswo. Bad Kreuz- nach und das territorial extrem zerrissene Naheland wurden zum ‚Nebenland’ – alles wurde irgendwie von irgendwo aus mitre- giert, die Kraftzentren lagen anderswo. Ei- ne Situation, die bis heute nachwirkt. In einer szenischen Darstellung nahm die Oberbürgermeisterin als mittelalterliche „Schultheißin“ kostü- Der Zugehörigkeit zur Pfalz verdankten miert die Stadtrechte entgegen. Foto: Harald Gebhardt, Oeffentlicher Anzeiger Bad Kreuznach die Bewohner zwei blutige Intermezzi im Dreißigjährigen Krieg: Spanier eroberten die Stadt, später die Schweden , und ebenso wurde Bad Kreuznach Opfer im pfälzischen Und schließlich: Wie war das Verhältnis Reiches von ihm oder früheren römischen Erbfolgekrieg, als die Franzosen neben der zwischen den beiden Gremien, wie entwi- Kaisern und Königen erhalten. Vielmehr be- Kauzenburg große Teile der Neustadt nie- ckelten sie sich und aus welchem der bei- deute eine derartige Freiheitsverleihung, derbrannten – auch die Pauluskirche. So den entstand schließlich der städtische Rat? dass sie Wochenmärkte einrichten dürften. wie diese Kirche erst nach 100 Jahren wie- Untersuchungen zu anderen sogenannten Außerdem dürften sie bei Unsicherheiten in der aufgebaut werden konnte, brauchte die kleinen Städten zeigen, dass die Antworten der Rechtsprechung um Rat bei der Stadt Bevölkerung insgesamt 100 Jahre, um sich auf diese Fragen interessante Einblicke in nachfragen, deren Freiheit er ihnen gege- von den Katastrophen des 17. Jahrhunderts die Struktur und das Funktionieren der mit- ben habe. [...] Das bedeutet also, Kreuznach zu erholen. telalterlichen Gesellschaft von Kreuznach erhielt mit dem Privileg Rudolfs das Markt- Und dann natürlich immer wieder Hoch- gewähren könnten, aber wir müssen sie recht in der Form, in der es Oppenheim be- wasser – so etwa 1725 mit 34 bis 45 Toten heute leider aufgrund fehlender Vorarbei- saß. Zudem konnte sich das Kreuznacher und über 200 zerstörten Häusern. Aber das ten unbeantwortet lassen. Mit guten Grün- Gericht, sollte kein Urteil gefällt werden Wasser, das soviel Leid bringen konnte, den kann Kreuznach zwar schon 1248 der können, nach Oppenheim wenden, um den ging wieder, die Herren blieben. ‚Status einer kleinen, landesherrlichen Stadt’ Rat des dortigen Gerichtes zu suchen.“ Das 18. Jahrhundert war dann das wit- zugewiesen werden, denn der Ort hatte Mit dem folgenden „Ausblick“ schloss telsbachische – die Pfalzgrafschaft war Al- wichtige Entwicklungsschritte zur Stadt die Referentin ihre Ausführungen ab: leinherrscher der Stadt. Kein bedrückender vollzogen, die mit dieser Urkunde erstmals „Bei allen Überlegungen zur Bedeutung – die Bürgerschaft war eher mit Konflikten deutlich greifbar sind, doch ist die Distanz des Privilegs von 1290 sollten wir nicht ver- mit sich selbst beschäftigt, Ausdruck der zur vollausgebildeten Stadt noch zu erken- gessen, dass wir das Privileg aus der Rück- wirtschaftlichen Not und damals schon de- nen – sehr umfangreich sind noch die Rech- schau beurteilen können und die weitere solaten Finanzen der bitterarmen Land- te in gräflicher Hand, deutlich stecken die Entwicklung kennen. Die Kreuznacher, die stadt. Die Geschichte der Zeit der Wittels- kommunalen Strukturen und Rechte noch im Jahr 1290 lebten, wussten vielleicht bacher muss noch geschrieben, Bilanz muss in den Anfängen.“ nichts von der Existenz des Privilegs. Aber noch gezogen werden. Anschließend legte Frau Dr. Ochs dar, sie kannten sicher die gräflichen Privilegi- Den Wittelsbachern folgten die Franzo- wie der 1248 fixierte Kreuznacher Rechts- en. Diese Privilegien aus den Jahren 1248, sen. Erst wurde die Stadt von Revolutions- status durch zwei weitere gräfliche Urkun- 1270 und 1277 dürften für sie wesentlich ge- truppen erobert und übel mitgenommen, den aus den Jahren 1270 und 1277 erwei- wesen sein, sie wurden im städtischen Ar- dann errichtete Napoleon sein Herrschafts- tert wurde und ging schließlich genauer auf chiv aufbewahrt, sie waren für sie Mittel system, das auf der systematischen Aus- das durch König Rudolf von Habsburg ge- zum Nachweis und zur Durchsetzung ihrer plünderung der eroberten Gebiete basierte währte Stadtrechtsprivileg vom 9. Januar Rechte. Das königliche Privileg von 1290 er- und immer neue Menschopfer forderte. 15 1290 ein, indem sie unter anderem aus- hielt der Graf von Sponheim, und er konnte führte: daran anknüpfend seine Stadt Kreuznach „Die Urkunde enthält zwei Punkte: Zu- weiter ausbauen. Die Bedeutung Kreuz- nächst wird Kreuznach gefreit und Immu- nachs für die Grafen von Sponheim zeigte nität zugesprochen; dann werden ihm die sich auch im Ausbau der Stadt als spon- Freiheiten der Stadt Oppenheim übertra- heimische Residenz, anknüpfend an die gen. Was ist damit gemeint? Zum ersten Burg, die Burgmannenhäuser, die Wohn- Punkt: Indem Rudolf Kreuznach freit, be- sitze der Amtmänner, aber auch die Aus- freit er den Ort von sonst geltendem Recht stattung der Stadt mit dem Karmeliterklos- oder von Rechten Dritter, das heißt, Kreuz- ter und vor allem der Verlegung der Pfarr- nach wurde aus der ländlichen Umgebung kirche in die Altstadt im Jahr 1332, in der mit dem dort geltenden Recht herausgelöst. wir heute das Jubiläum der Stadtrechtspri- Der König bestätigte und bekräftigte mit vileges von 1290 feiern. Mit diesem Privileg dem Privileg von 1290 also die von den Gra- wurden alle Rechte und Privilegien der fen von Sponheim gewährten Privilegien Sponheimer für ihre Feste Kreuznach und Rechtssetzungen für Kreuznach. Zum reichsrechtlich abgesichert und dem Ort zweiten Punkt: Mit der Übertragung des nach dem Vorbild von Oppenheim das Oppenheimer Rechtes wurde Kreuznach Marktrecht und die Möglichkeit des Rechts- weder das gesamte Verfassungs- und zuges verliehen. Es schließt somit den Pro- Rechtssystem der Reichsstadt Oppenheim zess der Stadtwerdung Kreuznachs gleich- noch deren Privilegien übertragen. Bereits sam ab.“ im Mittelalter ist es in dieser Beziehung zu Missverständnissen gekommen. So sah sich Dr. Michael Vesper (Vorsitzender des Vereins für Kaiser Ludwig der Bayer 1332 gezwungen, Redebeitrag von Dr. Michael Vesper Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach) klar zu stellen, dass eine solche Privilegie- schlug in seinem temperamentvollen Redebeitrag rung nicht bedeute, die beliehenen Städte Dr. Michael Vesper beschäftigte sich in anhand ausgewählter Aspekte den Bogen der hätten dadurch alle Freiheit und besondere seinem Redebeitrag zunächst ebenfalls mit Kreuznacher Stadtgeschichte bis zur Gegenwart. Gnade, die die Städte des Königs und des der Kreuznacher Stadtwerdung im 13. Jahr- Foto: Hansjörg Rehbein, Stadtverwaltung Bad Kreuznach 4 (Seite 48 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 12/2015

von Adel, Beamtenschaft und Geistliche, in Beisassen, die bei irgendwem dabei saßen, aber keine eigenen Rechte hatten, und in die Judenschaft, die dem Schutz der fiska- lischen Begehrlichkeit des Landesherrn di- rekt unterstanden. [...] Eine einschließlich der Rechtspflege selbst organisierte Gemeinde. Eigentlich schön. Nur bitterarm und von sozialen Gegensät- zen zerrissen. Das Sagen hatte eine kleine Schicht, eine Oligarchie, die im Stadtrat ab- gebildet war. Alle Ämter, Stadtrat, 28er Rat, wurden auf Lebenszeit ernannt. Handwer- ker-Bauern bildeten die soziale Basis des Ortes – doch ohne politischen Einfluss. Da- neben standen: die Besitzlosen – das heißt Das „Chorale Augustiniense“ aus Pfaffen-Schwabenheim erzeugte mit gregorianischem Gesang mittelal- die Grundbesitzlosen – die Kranken, die au- terliche Atmosphäre. Foto: Hansjörg Rehbein, Stadtverwaltung Bad Kreuznach ßerhalb der Rechtsordnung stehenden Frei- bürger Adlige, Beamte der Kurpfalz – Geist- liche und die Juden. Diese Gegensätze fanden im 18. Jahr- Jahre gehörte Bad Kreuznach zu Frank- zu arbeiten. Chef der Bürgerschaft war der hundert keinen Ausgleich. Und auch in reich, die Rechnung dafür in Form von Schultheiß. Über die Arbeit dieses Gremi- preußischer Zeit änderte sich die soziale Ba- Schuldentilgung zahlte man auch im 19. ums wissen wir gut Bescheid. Unser Archiv sis des Stadtregimentes (zunächst) nicht. Jahrhundert noch, nachdem die Namen der hütet und pflegt als einen seiner Schätze Erst die preußische Gemeindeordnung Toten, die diese Zeit durch Krieg und Epi- die fast vollständigen Protokollbücher der von 1845 vollzog einen entscheidenden demien gefordert hatte, längst vergessen Jahre 1506 bis 1796 – ein tolles Editions- Schritt , indem sie festlegte: zu der Ge- waren. vorhaben übrigens. meinde gehören alle Einwohner, nicht nur Es folgten nach einem Zwischenspiel der Als Gegengewicht bildete sich, wann die Vollbürger wie alle die Jahrhunderte zu- bayerisch-österreichischen Regierung 116 weiß man nicht genau, ein 28er Rat, dem je vor. Aber es sind immer nur die Personen, Jahre preußischer Verwaltung und dann die 14 Bürger aus beiden Stadtteilen angehör- die mit einem Hause ansässig sind. Doch 12 Jahre der Gleichschaltung durch die Na- ten. Er vertrat die Interessen der Menschen die Hauptrolle spielen hier die nach der tionalsozialisten, bis sich die Stadt dann der Bürgerschaft gegen Stadtrat und Stadt- Steuerkraft ermittelten Meistbeerbten. Der 1946 durch Verfügung der Westalliierten im herren und hatte die Macht der 14 Zünfte Name spricht für sich. Diese Meistbegüter- neuen Bundesland Rheinland-Pfalz wie- hinter sich – verfügte aber über keine Ent- ten wählten und bildeten den Gemeinderat. derfand und aus den Bundesländern bildete scheidungskompetenzen. So können wir unschwer feststellen, dass sich ja bekanntlich unsere Bundesrepublik. Das ganze 18. Jahrhundert war diesem in den 725 Jahren die Bürger, die nicht zu In der Verfassung ist der Grundsatz der Dauerkonflikt gewidmet, dem Gegensatz dem Meistbeerbten gehörten, in der Stadt kommunalen Selbstverwaltung festgelegt. von Bürgerschaft und Stadtrat. Letzterem wenig zu entscheiden hatten. Erst das all- Heute untersteht die Stadt bekanntlich der wurde massive Misswirtschaft und die gemeine Wahlrecht brach den Damm, die Kommunalaufsicht des Landes, die durch Schuld für die Finanzkrise vorgeworfen. Ob Wahl von Räten und Ämtern auf Zeit und da- die ADD ausgeübt wird. zurecht müsste man genauer untersuchen. mit auch die Abwählbarkeit. Eine Errun- Das war es dann mit dem Wechsel – Die Vorwürfe waren drastisch. So soll der genschaft, die leider die Bürger immer we- vorläufig … Stadtrat – dies nur eine Anekdote – wert- niger zu schätzen wissen.“ So hatten sich die Menschen, die hier leb- volles Gemeindeland viel zu billig ver- Als Schlussgedanken seiner Ausführun- ten immer wieder mit einer Herrschaft zu or- scherbelt und soll es dann in unserem schö- gen formulierte Dr. Vesper die Vermutung, ganisieren, immer Wege zu finden, um trotz nen Gasthaus zur Krone verzecht haben. dass die Hauptsache für die zu den ver- allem möglichst viel für ihr persönliches Le- Ob es wahr ist, weiß man nicht, aber man schiedensten Zeiten in Kreuznach lebenden ben heraus zu holen.“ sieht, was die Menschen voneinander er- Menschen weniger die Auseinandersetzung In einer langzeitperspektivischen Be- warteten. mit den eher abstrakten kommunalrechtli- trachtung wies Dr. Vesper sodann nach, Endlos die Klageschriften, jahrzehnte- chen Strukturen war, als vielmehr die Wahr- dass die im 13. Jahrhundert entstandene lang die Prozesse, beide Seiten versuchten nehmung der konkreten Möglichkeiten, mit Grundkonstellation der für die Stadt maß- den Pfalzgrafen zu gewinnen. Der holte ein- ihren Familien „hier gut und auskömmlich geblichen Faktoren (Stadtherr, Bürger- mal zum Befreiungsschlag aus, setzte gleich leben (zu) können.“ In diesem Sinne schloss schaft, Verwaltung) für mehr als 500 Jahre alle ab und löste den aufmüpfigen 28er Rat er mit einigen Zeilen aus Goethes „Oster- wirksam blieb und erst in der preußischen auf, wohl um Ruhe zu kriegen. Hat alles spaziergang“ (Faust I): Gemeindeverordnung von 1845 und in der nichts geholfen, und dann kamen die Fran- Einführung des allgemeinen Wahlrechts im zosen und die Sache hatte sich für diesmal „Kehre dich um, von diesen Höhen 20. Jahrhundert entscheidende Verände- sowieso erledigt. Bei allen diesen Konflik- Nach der Stadt zurück zu sehen. rungen erfuhr. Dazu einige Textauszüge: ten blieben aber die Parteien in dem Rol- Aus dem hohen finstren Tor „Die Stadtherren interessierten sich vor lenspiel und der Aufgabenverteilung, die Dringt ein buntes Gewimmel hervor. [...] allem dafür, was aus den Bürgern an Gel- einmal festgelegt worden war und, wie un- Sieh nur sieh! Wie behend sich die dern heraus zu holen war, und welche Ver- ser Vereinsfreund Friedrich Schmitt darge- Menge sorgungsmöglichkeiten (zum Beispiel für ei- legt hat, waren die Privilegien der Bürger- Durch die Gärten und Felder zerschlägt, gene Angehörige) sich boten. Angehörige schaft und jene Bestätigungen und Modifi- Wie der Fluß, in Breit und Länge, der Herrenschicht versuchten sich weitge- zierungen, die über die Jahrhunderte folg- So manchen lustigen Nachen bewegt, hend der Steuerpflicht und der Gerichts- ten, stets der Ordnungsrahmen, in dem sich Und, bis zum Sinken überladen, barkeit zu entziehen. Wichtige Aufgaben die Handelnden bewegten. Im Jahr 1746 Entfernt sich dieser letzte Kahn. der Gemeinschaftspflege [...] wurden der fasste der Landesherr noch einmal alle die- Selbst von des Berges fernen Pfaden Stadt als Aufgabe übertragen oder besser: se Privilegien seit dem 13. Jahrhundert zu- Blinken uns farbige Kleider an. [...] überlassen. sammen, um die Rechtslage zu klären, auf Zufrieden jauchzet groß und klein: Es war der Stadtrat, der diese Aufgaben – deren Grundlage die Konflikte in der Stadt Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ sogar unter Einschluss der Kriminalge- zu beurteilen waren. [...] richtsbarkeit – übernahm. Das hört sich mo- Der Stadtrat war auch Stadtgericht. Er dern an, war aber ein vom Landesherrn ein- war für die gesamtschuldnerische Einzie- gesetztes Gremium, das sich selbst ergänzte hung der Steuern für den Landesherrn zu- – als eine Art Stadtaristokratie und ein recht ständig. Er wachte über die Marktordnung Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen selbstherrliches und eigennütziges Regi- so wie die Zünfte die Berufsordnung orga- monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein ment entfaltete. 7 Bürger aus jeder Stadt- nisierten. Die Bürgerschaft teilte sich in für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach hälfte gehörten dazu. Sie hatten mit den grundbesitzende und zünftisch organisierte e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Dienheimer Berg 11, Amtmännern beziehungsweise später mit Vollbürger, in Freibürger, das waren all die 55545 Bad Kreuznach, Telefon 0671/349 57, dem kurpfälzischen Amtmann zusammen steuer- und lastenbefreiten Angehörigen E-Mail [email protected]).