Was ist Zeit? Synergien im Omnibusfilm Ten Minutes Older

Michael Lommel

Die Frage nach einer Ästhetik der Kollaboration scheint eine räumliche und eine zeitliche Perspektive zu erfordern. Kollaboration wäre, so verstanden, ei- nerseits die Problematik der räumlichen Anordnung und Verteilung: Wie sind die Entitäten im Raum situiert und aufeinander bezogen? Wie verhalten sich die Teile zum Ganzen (vgl. Ghanbari et al. 2013)? Andererseits stellt sich die Fra- ge in zeitlicher Hinsicht: Wie gestaltet sich das „gemeinsame in-der-Zeit-Sein“ (vgl. den Beitrag von Isabell Otto in diesem Band) der Entitäten als Prozess und im Prozess der Kollaboration? Auf den zweiten Blick jedoch sind diese für den analytischen Zugriff getrennten Fragen nicht so trennscharf, wie es scheint: Beobachtet man etwa das Verhältnis der Teile zum Ganzen, so kann nie allein die räumliche Anordnung, sondern erst der zeitliche Verlauf Aufschluss über mögliche Synergieeffekte geben. Der vorliegende Aufsatz möchte, indem er filmästhetische Kollaborations- formen untersucht, solche Synergien aufspüren. Er will somit einen Beitrag zur Heterotopie und Heterochronie filmischer Kollaboration leisten, dargelegt am Beispiel des Omnibusfilms. Besonders aufschlussreich ist hierbei der Film Ten Minutes Older (2002), weil er die Zeitdimension des Verhältnisses von ­Teilen und Ganzem – gleichsam als re-entry – autoreflexiv zur eigenen Leitfrage ­erklärt: Was ist Zeit?

Zum Begriff „Omnibusfilm“

So wie in einem Omnibus die Fahrgäste hintereinander sitzen, bestehen Om- nibusfilme aus Teilfilmen (Episoden), die wie Kurzfilme zu einem Gesamtfilm aneinandergereiht werden. Im Online-Lexikon der Filmbegriffe der Universität Kiel heißt es, ein Omnibusfilm könne auch von einem einzelnen Regisseur stammen (Horak/Wulff 2012). Ich schlage eine etwas andere Terminologie vor und bezeichne, ähnlich wie Jürgen Kühnel, alle Filme, die ihre Episoden aneinanderreihen, ob diese nun von mehreren Regisseuren oder von einem einzigen Regisseur gedreht wurden, als additive Episodenfilme (vgl. Kühnel 2004: ­117–122; Lommel 2011: 102f.). Der Omnibusfilm ist nach dieser Taxono- mie ­somit a) immer ein Kollektivprodukt, bei dem in der Regel jeder Regisseur eine Episode beisteuert, und b) eine Unterart, d.h. ein Spezialfall des additiven

© Wilhelm Fink Verlag, 2018 | doi 10.30965/9783770558407_005

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­Episodenfilms. Der alternierende Episodenfilm (vgl. Kühnel: ebd.) à la ist die andere Basisform des Episodenfilms (alternierende Omnibusfil- me sind hier allerdings äußerst selten). Im Omnibusfilm sind alle Episoden durch eine vorher verabredete gemeinsame Zielvorstellung verbunden – ein Thema im weitesten Sinne –, wodurch sie sich wiederum von Kurzfilm-Reihen1 oder -Revuen im Rahmen eines Filmfestivals unterscheiden. In der Filmwissenschaft ist der Episodenfilm2 erst in Ansätzen erforscht, wobei die wenigen Beiträge, die über eine Inhalts-, Bild- und Figurenanalyse hinausgehen (wie Treber 2005), das episodische Erzähl- und Vernetzungsprin- zip eher beschreiben als theoretisch perspektivieren. Ein wichtiger Anknüp- fungspunkt ist für mich der narratologische Ansatz von Michaela Krützen, die ausdrücklich auch wissen will, wie und nicht nur was Filme erzählen (Krützen 2010; Krützen 2015). Da sie den Omnibusfilm allerdings nur streift, ist festzu- halten, dass seit der Studie von Andreas Schreitmüller (Schreitmüller 1983) keine eigenständige Untersuchung mehr erschienen ist, obwohl natürlich seit- dem, besonders seit den 1990er Jahren, der Blütezeit des neuen Episodenfilms, wie ich dessen Boom in den letzten 25 Jahren nennen möchte, auf der ganzen Welt auch Omnibusfilme gedreht wurden.

1 In der Frühzeit des Stummfilms verkörperte der sog. Filmerklärer in persona die Rahmung von (meist kurzen) Filmen. 2 Von Begriffsklarheit kann hier allerdings keine Rede sein: Während man sich z.B. relativ schnell darüber einigen kann, was ein oder ein ist, kursieren beim Epi- sodenfilm nach wie vor heterogene Begriffe und Definitionen: Karsten Treber unterscheidet zwischen dem „episodischen Erzählen“ und dem „Episodenfilm“; letzterer bestehe „aus in sich abgeschlossenen narrativen Segmenten, die auf der Handlungsebene keinen gegensei- tigen Einfluss aufeinander nehmen können […].“ Treber meint hier also das, was ich mit Jür- gen Kühnel additive Episodenfilme nenne, die Treber mit einem „Themenabend“ oder einer „Varietéaufführung“ vergleicht, deren Einzelfilme auch „für sich aufgeführt werden könnten“ (Treber 2005: 18f.). Dieser These widerspricht der vorliegende Aufsatz ausdrücklich. Michae- la Krützen wiederum spricht vom „mehrsträngigen Erzählen“ oder schlicht von „Mehrsträn- gigkeit“ bei Filmen wie Traffic, Short Cuts, The Hours etc. Nach meiner Terminologie sind das alternierende (man könnte auch sagen: skandierende) Episodenfilme. Krützen reserviert ähnlich wie Treber den „Episodenfilm“ (einschließlich des Omnibusfilms) für „klare Abgren- zungen“ zwischen den Episoden (Krützen 2010: 233ff.). Nur ein Beispiel, um diese Definition zu problematisieren: In Jim Jarmuschs Mystery Train (1989) werden drei Teilfilme, die alle in einem Hotel spielen, strikt nacheinander erzählt; sie berühren sich aber allein schon auf der Handlungsebene. Noch disparater wird das Begriffsfeld, wenn man die englischen und fran- zösischen Termini einbezieht und sich zurechtfinden muss zwischen multi-plot film, multi draft narratives, , episode film, , network narratives, polyphonic plots, hyperlink cinema, portmanteau film, film à sketches, omnibus film etc. Strittig ist daher auch, wie man den Episodenfilm als genus proximum überhaupt rubriziert: Ist er ein ? Oder eher ein Querschnittsgenre? Oder doch „nur“ eine Erzählform? Eine Stilrichtung, eine Gattung…?