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EUROPARECHT EUROPARECHT

Heft 4 • Juli – August 2004 4 Nomos Verlagsgesellschaft Heft • Baden-Baden 2004 Inhaltsverzeichnis

Aufsätze

Prof. Dr. Martin Nettesheim, Tübingen Die Kompetenzordnung im Vertrag über eine Verfassung für Europa ...... 511

Dr. Dr. Wolfgang Durner, München Die Unabhängigkeit nationaler Richter im Binnenmarkt – Zu den Loyalitätspflichten nationaler Gerichte gegenüber der EG-Kommission, insbesondere auf dem Gebiet des Kartellrechts...... 547

Dr. Jörg Gundel, Berlin Europarechtliche Probleme der Bürgerversicherung...... 575

Rechtsprechung

Verpflichtung zur Rücknahme bestandskräftiger Bescheide Urteil des Gerichtshofs vom 13.01.2003 (Vorabentscheidungsersuchen des College van Beroep voor het bedrijfsleven (Niederlande)), Kühne & Heitz NV/Productschap voor Pluimvee en Eieren, Rs. C-453/00 ...... 590

Bestandskraft staatlicher Verwaltungsakte oder Effektivität des Gemeinschaftsrechts? – Anmerkung zu dem Urteil des EuGH vom 13.01.2003, Rs. C-453/00 Von Prof. Michael Potacs, Klagenfurt...... 595

Eintragung ausländischer Handwerksbetriebe in die Handwerksrolle Urteil des Gerichtshofs vom 11.12.2003 (Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Augsburg), Bruno Schnitzer, Rs. C-215/01 ...... 603

Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat Urteil des Gerichtshofs vom 11.03.2004 (Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d‘État), Hughes de Lasteyrie du Saillant/Ministère de l‘Économie, des Finances et de l‘Industrie, Rs. C-9/02 ...... 608

Fortsetzung Inhaltsverzeichnis hintere Umschlagseite

Inhalt_Heft 4.indd 2 23.08.2004, 11:16:38 Fortsetzung Inhaltsverzeichnis

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

„Bestandskraft“ von EG-Rechtsakten und Anwendungsbereich des Art. 241 EGV Von Matthias Vogt, Heidelberg...... 618

Rechtsfragen der Osterweiterung der EU unter besonderer Berücksichtigung des Beitritts der Republik Zypern Von Dr. Constantin Iliopoulos, Athen...... 637

Rezensionen

Gert Nicolaysen, Europarecht I (Prof. Dr. Armin Hatje, Bielefeld) ...... 649

Axel Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht (Prof. Dr. Christian Waldhoff, Bonn) ...... 651

Martin Selmayr, Das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion (Prof. Dr. Ulrich Häde, Frankfurt/Oder) ...... 654

Bibliographie

Bücher und Zeitschriften ...... 657

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EUROPARECHT

In Verbindung mit der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht

herausgegeben von

Claus-Dieter Ehlermann, Ulrich Everling, Hans-J. Glaesner, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen †, Joseph H. Kaiser †, Peter-Christian Müller-Graff, Gert Nicolaysen, Hans-Jürgen Rabe, Jürgen Schwarze

Schriftleiter: Armin Hatje, Ingo Brinker

39. Jahrgang 2004 Heft 4, Juli – August

Die Kompetenzordnung im Vertrag über eine Verfassung für Europa

Von Martin Nettesheim, Tübingen

I. Die fünf Dimensionen der Kompetenzdebatte

Jedes System öffentlicher Herrschaft, in dem mehrere Entscheidungsebenen aufein- ander bezogen sind, wird zunächst und vor allem durch seine Kompetenzverteilung charakterisiert. Die Verteilung der Kompetenzen definiert die wesentlichen Eigen- arten des Systems, seine Aufgabenstellung und seine Finalität. Seine Problembewäl- tigungsfähigkeit und seine Effizienz sind Ausdruck dieser Verteilung. Rechtstech- nisch sind es vor allem fünf Kriterien, durch die sich eine verfassungsrechtliche Kompetenzordnung kennzeichnen lässt: – die inhaltlichen Prinzipien der Kompetenzverteilung, – der Grad der Bestimmtheit und Abgrenzungsschärfe der Kompetenzzuweisung; – der Grad der Normativität der Kompetenzausübungsregeln, – der Grad der materiellen Determiniertheit der Kompetenzen sowie – die Ausgestaltung und der Grad der Juridifizierung der Kompetenzüberwa- chung. Es liegt auf der Hand, dass den damit bezeichneten fünf Dimensionen der Kompe- tenzordnung1 eine zutiefst konstitutionelle Bedeutung zukommt. Kompetenzen de- finieren die materielle Finalität der EU – und sind immer auch Grundentscheidung über den zukünftigen Weg der EU zwischen internationaler Organisation und ver-

1 Eine leicht andere Klassifikation bei F. C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), 577 (578 ff.).

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fasster Staatlichkeit. Europäische Hoheitsgewalt, die nicht ihre Wurzel und ihre Le- gitimation in einer Kompetenz findet,2 hat im Verfassungsdenken Europas keinen Platz.3 Es ist daher nicht verwunderlich, dass in beinahe jedem Beitrag, der sich in den letzten Jahren mit dem Problem der Verfassungsgebung in Europa befasst hat, die Kompetenzfrage angesprochen worden ist.4 Sei es, dass in recht allgemeiner Weise eine „angemessene, föderalen Prinzipien entsprechende“ Kompetenzordnung gefordert wurde, sei es, dass konkretere materielle Vorschläge über die Verlagerung von Zuständigkeiten im Mehrebenensystem vorgelegt wurden, sei es schließlich, dass institutionelle oder prozedurale Vorkehrungen zur Durchsetzung und Überwa- chung von kompetenziellen Beschränkungen gemacht wurden – die kompetenziel- len Überlegungen stellten regelmäßig das Herz eines Diskussionsbeitrags zur Ver- fassungsdebatte dar.5 Auch in dem Auftrag, den der Europäische Rat von Laeken erteilte, stand die Überprüfung, Überarbeitung und Reform der Kompetenzordnung im Mittelpunkt.6 In der Konventsarbeit stand die Behandlung der Kompetenzfrage allerdings eher im Hintergrund. Sie erwies sich als deutlich weniger kontrovers, als es die Diskussio- nen im Vorfeld des Zusammentritts des Konvents7 erwarten ließen. Eine Rolle spiel- te dabei allerdings auch, dass die Überlegungen zur Kompetenzfrage auf immerhin vier Arbeitsgruppen zersplittert waren. So beschäftigte sich Arbeitsgruppe I (Subsi- diarität) mit der Frage nach der Fortentwicklung des Subsidiaritäts- und Verhältnis-

2 EuGH, Rs. 230/81, Luxemburg/Parlament, Slg. 1983, 255, Rn. 39; EuGH, Rs. C-57/95, Frankreich/Kommissi- on (Mitteilung zu Pensionsfonds), Slg. 1997, I-1627. Dies gilt auch für den Einsatz von Haushaltsmitteln: EuGH, Rs. C-106/96, Großbritannien/Kommission, Slg. 1998, I-2729 (hierzu A. Dashwood, The Limits of European Community Powers, ELRev. 1996, 113). 3 Zum Verhältnis von Staatlichkeit und Kompetenz grundlegend Ch. Möllers, Staat als Argument, 2000, 256 ff. 4 Zur Kompetenzstruktur allgemein etwa U. Everling, Kompetenzordnung und Subsidiarität, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Reform der EU, 1995, 166; T. Beyer, Die Ermächtigung der Europäischen Union und ihrer Gemein- schaften, Der Staat 1996, 189; J. Martín y Pérez de Nanclares, El sistema de competencias de la Comunidad Europea, 1997; H.-D. Jarass, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), 173; P.-Ch. Müller-Graff, Kompetenzen in der Europäischen Union, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Europahandbuch, 1999, 779; T. Fischer/N. Schley, Europa föderal organisieren, 1999, 145 ff., I. Boeck, Die Abgrenzung der Rechtsetzungskompetenzen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in der EU, 2000; G. de Búrca/B. de Witte, The Post-Nice Delimitation of Powers (Konzeptpapier v. 3. Mai 2001); Chr. Vedder, Das System der Kompetenzen der EU unter dem Blickwinkel einer Reform, in: V. Götz/J. Martínez Soria (Hrsg.), Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, 2002, 9; M. Nettesheim, Kom- petenzen, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, 415. 5 Überblick bei P. Häberle, Die Herausforderung des europäischen Juristen vor den Aufgaben unserer Verfas- sungs-Zukunft: 16 Entwürfe auf dem Prüfstand, DÖV 2003, 429. 6 Fundstelle: http://european-convention.eu.int/pdf/LKNDE.pdf. Hierzu R. Wägenbaur, Die Erklärung von Lae- ken zur Zukunft der EU, EuZW 2002, 65. 7 Vgl. etwa J. Schwarze, Kompetenzverteilung in der Europäischen Union und föderales Gleichgewicht, DVBl. 1995, 1265; P. Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 1998, 965; I. Pernice, Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, 866; Th. Fischer/N. Schley, Organizing a Federal Structure for Europe: An EU Catalogue of Competencies, 2000; A. von Bogdandy/J. Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, 441; R. Bieber, Abwegige und zielführende Vorschläge: Zur Kompetenzabgrenzung der Europäischen Union, integration 2001, 308; I. Per- nice, Eine neue Kompetenzordnung für die Europäische Union, WHI-Paper 15/02 (www.whi-berlin.de); Euro- pean Public Law Group, Proposal on the Debate on the European Constitution, European Papers Nr. 2, 2003; E. Teufel, Leitlinien für die Ordnung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Unin und den Mitgliedstaa- ten im künftigen Verfassungsvertrag (Fundstelle: http://register.consilium.eu.int); J. Shaw, Flexibility in a „Reorganized“ and „Simplified“ Treaty, CMLRev. 2003, 279.

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mäßigkeitsprinzips; dabei spielte eine erhebliche Rolle, wie die Überwachung der Beachtung der Vorgaben des Subsidiaritätsprinzips besser gelingen kann.8 Thema- tisch ergaben sich hier Überschneidungen zur Arbeitsgruppe IV (Rolle der einzel- staatlichen Parlamente), die sich mit der Frage der Stärkung der institutionellen Stellung der mitgliedstaatlichen Parlamente im Entscheidungsprozess der EU be- fasste; insbesondere der „Frühwarnmechanismus“ zur Durchsetzung des Subsidia- ritätsprinzips spielte hier eine erhebliche Bedeutung.9 In der Arbeitsgruppe V (Ergänzende Zuständigkeiten) wurde zunächst über die Rolle und den Platz der „er- gänzenden“ bzw. „unterstützenden Zuständigkeiten“ diskutiert; in großzügiger Aus- legung des Arbeitsauftrags befasste man sich aber auch mit der Frage, wie sich die Transparenz der Gesamtkompetenzordnung steigern ließe.10 Kompetenzielle Di- mension wies schließlich auch die Arbeit der Arbeitsgruppe IX („Vereinfachung“) auf, die sich vor allem mit Fragen der Rechtsetzung, der Handlungsinstrumente und der Normenhierarchie befasste, dabei aber den Bezug zur Kompetenzproblematik immer im Auge behielt.11 Im Plenum standen kompetenzielle Fragen drei Mal im Zentrum: am 15. und 16. April 2002 haben die Konventsmitglieder darüber disku- tiert, wie sich die Kompetenzsystematik verbessern und die Aufgabenverteilung optimieren lässt,12 am 23. und 24. Mai 2002 behandelte man die Probleme der Kom- petenzausübung,13 am 12. und 13. September 2002 schließlich ging es um die Ver- einfachung der Instrumente und Verfahren.14 Der von den Staats- und Regierungschefs am 18. Juni 2004 angenommene und, gegenüber dem vom Europäischen Konvent15 am 18. Juli 2003 verabschiede- ten Entwurf eines Verfassungsvertrags, fortgeschriebene Vertrag über eine Ver- fassung für Europa (VVE ) (CIG 86/04) bringt nicht nur gegenüber dem gelten- den Recht einen wesentlichen Fortschritt, sondern bewegt sich ungeachtet gewisser inhaltlicher Spannungen, Brüche und Redundanzen auf hohem Niveau – auch wenn es sich im verfassungstheoretisch gehaltvollen Sinne noch nicht um eine vollendete Verfassung handelt.16 Die grundlegende Verbundstruktur bleibt erhal-

8 Schlussbericht der Arbeitsgruppe I vom 23. September 2002, CONV 286/02. 9 Schlussbericht der Gruppe IV vom 22. Oktober 2002, CONV 353/02. 10 Schlussbericht der Arbeitsgruppe V vom 4. November 2002, CONV 375/1/02. 11 Schlussbericht der Gruppe IX vom 29. November 2002, CONV 424/02. 12 Synthesebericht der Plenartagung, CONV 40/02. 13 Synthesebericht der Plenartagung, CONV 60/02. 14 Synthesebericht der Plenartagung, CONV 284/02. 15 Bewertungen der Konventsmethode und –arbeit bei: T. Oppermann, Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäi- schen Verfassungskonvent 2002/2003, Deutsches Verwaltungsblatt 2003, 1; S. Magiera, Die Arbeit des euro- päischen Verfassungskonvents und der Parlamentarismus, DÖV 2003, 578; D. Blumenwitz u.a., Der Europäi- sche Verfassungskonvent, Pol. Studien, Sonderheft 1/2003; R. Knöll/M. W. Bauer, Der Konvent zur Zukunft der EU – eine Zwischenbilanz aus Sicht der deutschen Länder, NVwZ 2003, 446; J. Schwarze, Auftakt für Europas Reform, Financial Times Deutschland vom 8.7.2003; E. Teufel, Konturen der europäischen Verfas- sung, Forum Constitutionis Europae 3/2003; M. ter Steeg, Eine neue Kompetenzordnung für die EU, EuZW 2003, 325; F. C. Mayer, Macht und Gegenmacht in der Europäischen Verfassung, ZaöRV 63 (2003), 59. 16 Erste Bewertungen bei Th. Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, DVBl. 2003, 1165 und 1234; J. Schwarze, Ein pragmatischer Vertrag über eine Verfassung für Europa, EuR 2003, 535; P. M. Huber, Das institutionelle Gleichgewicht zwischen Rat und Europäischem Parlament in der künftigen Verfassung für Europa, EuR 2003, 574.

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ten,17 der qualitative Sprung, ein Wandel der Identität der EU18 ist unterblieben.19 In ihren sanft fortschreibenden und konsolidierenden Gehalten stellt sich die Verfas- sung als bedeutender Schritt nach vorne dar.20 Insbesondere muss der Gewinn an Transparenz und die Entschlackung der geltenden Verträge als große Errungen- schaft angesehen werden. Auch werden in institutioneller Hinsicht wichtige Fehlent- wicklungen des Vertrags von Nizza21 korrigiert – so etwa im Hinblick auf die Größe der Kommission oder die Beschlussfassung im Rat.22 Mustert man den Vertrag über eine Verfassung für Europa im Hinblick auf seine kompetenzordnungsrechtlichen Gehalte, so ergibt sich allerdings ein differenziertes Urteil. Dies wird deutlich, wenn man die Konventsergebnisse im Lichte der kritischen Erwartungen liest, die im Vor- feld der Konventsarbeit formuliert wurden.

II. Inhaltliche Kompetenzverteilung

1. Sachkompetenzen

In Kreisen der Politik, aber auch unter Wissenschaftlern wird schon seit mehreren Jahren beklagt, dass der EU die einstmals klare Aufgabenstellung abhanden gekom- men ist. Nach dem erfolgreichem Aufbau von Zollunion, Binnenmarkt und Agrar- marktpolitik in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren haben sich die Zustän- digkeiten der EU entgrenzt. In immer neuen Runden wurden die Kompetenzen der EU erweitert, ohne dass dabei allerdings die anleitende Kraft verbindlicher Prinzi- pien oder ein klares Konzept der Zuständigkeitsverteilung zwischen EU und Mit-

17 Hierzu etwa I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Constitution- Making Revisited?, CMLRev. 36 (1999), 703; Th. Öhlinger, Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Euro- päischen Union, 1999; J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, 2000; J. Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, EuR Beih. 1/2000, 7; G. F. Schuppert, Anforderungen an eine Europäische Verfassung, in: H.-D. Klingemann/F. Neidhardt (Hrsg.), Zur Zukunft der Demokratie. Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung, 2000, 237; H. Bauer, Europäisierung des Verfassungsrechts, JBl. 2000, 749; P. Kirchhof, Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU, Liber Amicorum Oppermann, 2001, 201; I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, Bericht, VVDStRL 60 (2001), 147; P. M. Hu- ber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), 196; A. Peters, Elemente einer The- orie der Verfassung, 2001; T. Schmitz, Integration in der supranationalen Union, 2001; A. Hatje, Entwicklungen zu einer europäischen Verfassung, in: G. Hohloch (Hrsg.), Wege zum europäischen Recht, 2002, 73; M. Nettes- heim, Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: B. Heß (Hrsg.), Wandel der Rechtsordnung, 2003, 3; Chr. Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: von Bogdandy (Hrsg.) (oben Fn. 4), 1; H. H. Rupp, Anmerkungen zu einer Europäischen Verfassung, JZ 2003, 18. 18 Hierzu etwa W. Graf Vitzthum, Die Identität Europas, EuR 2002, 1; Th. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, 333 ff.; W. Loth (Hrsg.), Das europäische Projekt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2001; A. Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität“ im Unionsvertrag, JZ 1997, 265. 19 Zur verfassungstheoretischen Diskussion z.B. Chr. Dorau, Die Verfassungsfrage der Europälischen Union, 2001. 20 Zu Forderung nach plebiszitärer Zustimmung F. Mayer, Ein Referendum über die Europäische Verfassung? EuZW 2003, 321. 21 Bewertung etwa bei G. Pleuger, Der Vertrag von Nizza: Gesamtbewertung und Ergebnisse, Integration 2001, 1; K. H. Fischer, Der Vertrag von Nizza, 2001. 22 A. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union – der Vertrag von Nizza auf dem Prüfstand, EuR 2001, 143.

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gliedstaaten erkennbar wäre. In den achtziger und frühen neunziger Jahren gab diese Entwicklung Anlass für eher undifferenzierte Diskussionen zwischen jenen, die jedweden Kompetenzzuwachs auf europäischer Ebene als „Gewinn für die Eu- ropäische Integration“ betrachteten, und jenen, die hierin einen beklagenswerten und abzuwehrenden „Souveränitätsverlust“ für die Mitgliedstaaten erblickten.23 Teilweise finden sich derartige Frontlinien bis heute – so etwa im Hinblick auf die pauschale Forderung, bestimmte mitgliedstaatliche Politikbereiche (etwa den Be- reich der Daseinsvorsorge) durch sog. „Sicherstellungsklauseln“24 den Rechtswir- kungen europäischer Marktdisziplin zu entziehen.25 Inzwischen hat man diesen Diskussionstand26 allerdings weitgehend überwunden und sich auf die Suche nach inhaltlichen Prinzipien begeben, mit denen die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten normativ angeleitet werden kann. Häufig werden diese Fragen auch unter dem Stichwort „Finalität der europäischen Integration“ disku- tiert.27 Inzwischen haben sich in der wissenschaftlichen Diskussion – jenseits der positivis- tischen, etwa auf Art. 2 EUV gestützten Verteidigung des geltenden Integrati- onstands – vor allem zwei Lager formiert. Wer sich der Kompetenzfrage unter Effi- zienzgesichtspunkten nähert, wird nicht nur die Bedeutung des Systemwettbewerbs in der Europäischen Union betonen, sondern auch zum Schluss kommen, dass in vielen Bereichen– etwa der Sozial-, Industrie- oder gar Agrarpolitik – eine Rückver- lagerung von Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten geboten ist. Eine Gegenüberstel- lung von wirtschaftsliberalisierender EU und sozialverantwortlichen Mitgliedstaaten wird hier als zukunftsträchtiges Modell einer modernen, in sich wettbewerbsorien- tierten und effizienten Mehrebenenordnung angesehen.28 Aus dieser Perspektive liegt es auch nahe, die Abschaffung der Kompetenz nach Art. 308 EGV – der sog.

23 Ein guter Überblick bei: J. H. Kaiser, Grenzen der EG-Zuständigkeiten, EuR 1980, 97; E. Steindorff, Grenzen der EG-Kompetenzen, 1990. 24 Vgl. z.B. Ziff. II.4.b. der Stellungnahme der Ministerpräsidentenkonferenz zur Regierungskonferenz 2000, Fassung v. 24./25. 3. 2000, 10 ff., 12: „Ziel ist es, wesentliche Bereiche der Daseinsvorsorge, wie das System der Landesbanken und Sparkassen, den öffentlichen Personennahverkehr, die öffentlich-rechtlichen Rund- funkanstalten und die sozialen Sicherungsstrukturen über Wahlfahrtsverbände, in der alleinigen Kompetenz der Länder zu halten“. Enger der bayerische Ministerpräsident E. Stoiber, Perspektive für Europa, Rede in Brüssel vom 10. 5. 2000 (www.bayern.de/Politik/Reden/2000/05-10.html), 10: „Respekt von gewachsenen Strukturen der Daseinsvorsorge in den Mitgliedstaaten“, soweit dadurch der „grenzüberschreitende Wettbe- werb nicht beeinträchtigt wird“. 25 Vgl. z.B. Entschließung des Bundesrates „Forderungen der Länder zur Regierungskonferenz 1996“, BR-Drs. 667/95, Anlage; hierzu etwa D. Reich, Zum Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Kompe- tenzen der deutschen Bundesländer, EuGRZ 2001, 1. 26 Dem geltenden EU-Recht sind pauschale Bereichsausnahmen fremd: EuGH, Rs. 9/74, Casagrande, Slg. 1974, 773, Rn. 6; EuGH, Rs. 281, 283–285, 287/85, Deutschland u.a/Kommission, Rn. 25; EuGH, Rs. C-285/98, Kreil, Slg. 2000, I-69, Rn. 15. 27 Hierzu etwa Chr. Tomuschat, Das Endziel der Europäischen Integration, in: M. Nettesheim/P. Schiera (Hrsg.), Der Integrierte Staat, 1999, 155. Mit Finalitätsanspruch auch: J. Fischer, Vom zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, Integration 23, Nr. 3, 2000, 149. 28 Dazu etwa L. Gerken, Vertikale Kompetenzverteilung in Wirtschaftsgemeinschaften, in: ders. (Hrsg.), Europa zwischen Ordnungswettbewerb und Harmonisierung, 1995, S.3; T. Apolte, Vertikale Kompetenzverteilung in der Union, in: M. E. Streit/Voigt (Hrsg.), Europa reformieren, 1996, 13. Jüngst: European Constitutional Group, Kritik am Entwurf für eine europäische Verfassung, 11. Nov. 2003.

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Flexibilitätsklausel – zu fordern und so ein gefährliches (weil undifferenziertes) Einfallstor für unionale Regelungsansprüche zu beseitigen. Eine Erweiterung der Kompetenzen der EU dürfte danach nur in den Bereichen in Betracht kommen, in denen die Idee des Systemwettbewerbs strukturell keine Anwendung finden kann – insbesondere im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Wer sich der Kompe- tenzfrage demgegenüber auf dem Hintergrund der Idee der Einheit des Politischen nähert, wird ein Auseinanderfallen von Wettbewerbszuständigkeit und Verantwort- lichkeit für das soziale Wohlergehen der Menschen nicht hinnehmen wollen. Befür- worter dieser Sichtweise sehen das Ziel der Gemeinwohlverwirklichung schweren Gefährdungen ausgesetzt, wenn die Zuständigkeit für das Wirtschaftlich-Soziale nicht in eine Hand gelegt, sondern zerrissen wird: Nur eine Wirtschafts- und Sozial- politik „aus einer Hand“, die zur ausgewogenen Balance der Effekte und Auswir- kungen fähig ist, soll danach der Gemeinwohlverantwortung der öffentlichen Ge- walt gerecht werden können.29 Die Aufhebelung mitgliedstaatlicher Strukturen, die durch die Grundfreiheiten und das Binnenmarktprogramm in den letzten Jahrzehn- ten bewirkt wurde, wird als Beleg für die Unverantwortlichkeit eines zweistufig- konkurrierenden Systems angeführt, in dem aufgrund unterschiedlicher verfas- sungstheoretischer und verfassungsrechtlicher Vorgaben eine Spannung eingebaut ist. Anhänger dieser Position beklagen insbesondere den Wettbewerbsdruck, der auf den mitgliedstaatlichen Sozialsystemen ruht, und plädieren häufig (jedenfalls indi- rekt) für die Schaffung eines europäischen Sozialstaats. Es liegt auf der Hand, dass in einem föderalen Verbund die Frage, wer für welche Sachaufgaben zuständig ist, immer neu zu stellen und in Zeiten stürmisch voranei- lender gesellschaftlicher und globaler Entwicklungen auch immer neu zu beantwor- ten ist. So hätte man auch erwartet, dass sich ein Gremium, das sich der Zukunfts- fähigkeit der Europäischen Union annimmt, zunächst der Neuordnung der grundle- genden Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten annimmt. 30 Diese Erwartung wird auch in der Deklaration von Laeken explizit geäußert.31 Und doch gelangen dem Konvent gerade in dieser Frage keine zukunftsweisenden Lösungen. Inhaltlich wird der Vertrag über eine Verfassung für Europa keine wesentlichen Kompetenzverschiebungen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bewirken. Rückverlagerungen von Kompetenzen, die bislang von der EU wahrgenommen wer- den, inzwischen aber aufgrund des Integrationsfortschritts oder geänderter gesell- schaftlicher Bedingungen wieder in die Hände der Mitgliedstaaten zurückgegeben werden könnten, finden sich so gut wie überhaupt nicht. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Die zu erwartenden mitgliedstaatlichen Widerstände wären so groß

29 Etwa E.-W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa? 1997. 30 Skeptisch allerdings P.-Ch. Müller-Graff, Der Post-Nizza-Prozess: Auf dem Weg zu einer neuen europäischen Verfassung?, integration 2/01, 208, 210. 31 „Dies kann sowohl dazu führen, dass bestimmte Aufgaben wieder an die Mitgliedstaaten zurückgegeben wer- den, als auch dazu, dass der Union neue Aufgaben zugewiesen oder die bisherigen Zuständigkeiten erweitert werden, wobei stets die Gleichheit der Mitgliedstaaten und ihre gegenseitige Solidarität berücksichtigt werden müssen.“ (Fundstelle: http://european-convention.eu.int/pdf/LKNDE.pdf)

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gewesen, dass dadurch jedenfalls die politische Akzeptanz der Ergebnisse des Kon- vents, vielleicht sogar schon die Arbeit im Konvent selbst auf das Schwerste gefähr- det worden wären. Dies gilt namentlich für jene Politikbereiche, in denen sich die EU-Politik auf die (offene oder versteckte) finanzielle Umverteilung konzentriert. Diese sind für die Nettoempfänger politisch sakrosankt. Aber auch in Bereichen, deren Finanzdimension eher gering ist, fand sich der Wille zu Einschnitten nicht – hier vor allem deshalb, weil jede Rückverlagerung aus integrationspolitischer Sicht als Rückschritt, vielleicht sogar als Schritt auf eine schiefe Ebene betrachtet wurde, der den gesamten Integrationsfortschritt zu gefährden geeignet ist. Das alte Bild von der Integration als Fahrradfahrer, der weder anhalten noch rückwärts fahren kann, mag hier nachgewirkt haben. So bringt der Entwurf des Verfassungsvertrages insbesondere im Hinblick auf die Binnenmarktkompetenz der EU keine wesentlichen Einschränkungen mit sich. Be- kanntermaßen wurden in den letzten Jahren immer wieder kritische Einwände dage- gen geäußert, dass die EU über ihre Binnenmarktzuständigkeiten die umfassende Zuständigkeit besitzt, den Gesamtraum wirtschaftlicher Betätigung in den Mitglied- staaten mit Liberalisierungsdruck zu überziehen.32 Nicht nur kann die Europäische Union auf der Grundlage des Art. 95 EGV die Mitgliedstaaten überall dort sekundär- rechtlich zur Öffnung ihrer Rechtsordnungen zwingen und so Wettbewerbsdruck erzeugen, wo Marktstrukturen bestehen oder hergestellt werden sollen: Es ist das Kennzeichen von Art. 95 EGV, dass enorme sachliche Kompetenzbreite und liberale Kompetenzfinalität33 zusammenkommen.34 Ebenfalls ist es ihr mit den Mitteln des europäischen Wettbewerbsrechts möglich, marktfremde Interventionen der Mitglied- staaten in marktwirtschaftlicher Betätigung zu verhindern. Insbesondere hat bekann- termaßen die Anwendung des europäischen Beihilferechtes auf die mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge in den letzten Jahren erhebliche Irritationen ausgelöst. Die im Vor- feld der Konventsarbeit35 und im Konvent selbst unternommenen Vorstöße, die sach-

32 Für eine Streichung dieser Bestimmung beispielsweise: V. Götz, Die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwi- schen der EU und den Mitgliedstaaten nach dem Europäischen Rat von Laeken, in: V. Götz/J. Martínez Soria (Hrsg.), Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, 2002, 83 (93 ff.); Chr. Calliess, Kon- trolle zentraler Kompetenzausübung in Deutschland und Europa: Ein Lehrstück für die Europäische Verfas- sung, EuGRZ 2003, 181 (182). 33 Hierzu nunmehr deutlich EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 (Tabaketi- kettierungsrichtlinie). 34 Es ist eine alte Fehlvorstellung, dass sich die Kompetenzen der EU in solche sachbezogener und solche finaler Art unterscheiden ließen. Alle Kompetenzen der EU bezeichnen einen bestimmten Sachgegenstand – dieser allerdings ist von sehr unterschiedlicher Breite. Zudem ist der Grad der finalen Aufladung unterschiedlich (hierzu M. Zuleeg, in: H. v.d. Groeben/J. Thiesing/C.-D. Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Ver- trag, 1997, Art. 3 b EGV, Rn. 4; P.-Ch. Müller-Graff, Kompetenzen in der Europäischen Union, in: W. Weiden- feld (Hrsg.), Europahandbuch, 1999, 779 ff.). 35 Vgl. z.B. Art. 32 Abs. 1 des Freiburger Vertrages über eine Verfassung für Europa, der vorsieht, dass eine Har- monisierung im Binnenmarkt künftig nur noch bei jenen mitgliedstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvor- schriften zulässig ist, die „einen spezifischen und unmittelbaren Bezug zum Binnenmarkt“ haben. Während dieser Vorschlag in der Tat zur Grundlage eines Ausgleichs zwischen dem Ziel eines freien grenzüberschrei- tenden Wirtschaftsverkehrs und dem Anliegen des Schutzes mitgliedstaatlicher Gestaltungsbefugnisse dienen kann, bleibt die Art des Ausgleichs aufgrund der Unbestimmtheit der Formulierung allerdings dem Spiel der politischen Kräfte überlassen.

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lich enorm breite Zuständigkeit des Art. 95 EGV einzugrenzen, blieben allerdings erfolglos.36 Die bewährten Strukturen des Binnenmarktes bleiben insofern erhalten. Art. III-6 VVE betont immerhin (wie bisher bereits Art. 16 EGV) die Bedeutung und den Stellenwert der Dienste von allgemeinen wirtschaftlichen Interessen, insbesonde- re ihre Relevanz bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhaltes. Wichtig ist, dass nunmehr aber die Freiheiten und Verantwortlichkeiten der Mitglied- staaten bei der Ausgestaltung und Finanzierung dieser Dienste stärker hervorgehoben werden. Die Suche nach einem Ausgleich zwischen dem Europäischen Interesse an der Herstellung und am Schutz effizienter und offener Märkte und dem mitglied- staatlichen Interesse am Schutz ihrer gemeinwohldienlichen Daseinsvorsorgeleistun- gen wird auch unter der neuen Verfassung fortgesetzt werden müssen.37 Nicht nur ist die Forderung, Kompetenzen von der EU auf die Mitgliedstaaten zu- rückzuverlagern, nicht eingelöst worden; vielmehr kommt es zu einem weiteren Kompetenzausbau der EU – allerdings nicht in dem Umfang, wie dies beispielswei- se der Maastricht- oder Amsterdam-Vertrag bewirkten. Im internen Bereich sieht der Vertrag über eine Verfassung für Europa neue Zuständigkeiten im Bereich der Energiepolitik, des Schutzes geistigen Eigentums, im Bereich der öffentlichen Ge- sundheit, im Katastrophenschutz, in der Raumfahrt und im Sport vor. Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist die Einführung einer eigenständigen Zuständigkeit zur wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Koordinierung, die sich um die be- reits geltende sozialpolitische Zuständigkeit legt. Entgegen allen politischen Bekun- dungen im Vorfeld der Konventsberatungen ist es den Kritikern einer sozialpoliti- schen Rolle der EU nicht gelungen, deren schleichender Landnahme im Bereich des Sozialen klare Grenzen zu ziehen – und schon gar nicht ist es gelungen, sie zurück- zudrängen. Vielmehr sieht der Verfassungsvertrag ein weiteres Vordringen vor – ei- nerseits, indem er in Art. I-3 Abs. 3 VVE als grundlegende Ziele der Union die Er- richtung einer (wettbewerbsfähigen) sozialen Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt definiert, andererseits, indem in Art. I-14 Abs. 3 VVE die Pflicht zur Formulierung von Maßnahmen zur Koordinierung der Beschäftigungs- politik und in Abs. 4 immerhin die Befugnis zur Ergreifung von Initiativen zur Ko- ordinierung der Sozialpolitik gewährt wird. Der Streit darüber, ob die EU im Be- reich des Wirtschaftlich-Sozialen ihre Rolle als liberaler Kontrapunkt zu den mit- gliedstaatlichen Ordnungen bewahren oder ob sie die Verantwortlichkeit für das Soziale in Europa übernehmen soll,38 wird vom Vertrag über eine Verfassung für Europa zugunsten der letztgenannten Option entschieden. Diese birgt das Potential für einen tiefgreifenden Wandel der Wirtschaftsverfassung der EU.39

36 Für eine Streichung des Art. 95 EGV etwa: W. Clement, Europa gestalten – nicht verwalten, 12. Februar 2001 (www.whi-berlin.de/clement.htm), Rn. 23. 37 Hierzu ausführlich R. Hrbek/M. Nettesheim (Hrsg.), Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsor- ge, 2002. 38 Zum Diskussionsstand etwa E. J. Mestmäcker, Europäisches Wettbewerbsrecht im Zeichen der Globalisierung, in: J. Schwarze (Hrsg.), Europäisches Wettbewerbsrecht im Zeichen der Globalisierung, 2002, 11; A. Hatje (Hrsg.), Das Binnenmarktrecht als Daueraufgabe, Beiheft Europarecht 1/2002. 39 Überblick bei A. Hatje, Wirtschaftsverfassung, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, 683.

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Kompetenziell enthält der Vertrag über eine Verfassung für Europa ein abgestuftes System wirtschaftlich-sozialer Zuständigkeiten. Nach Art. I-12 Abs. 1 VVE hat die EU eine ausschließliche Zuständigkeit für die Währungspolitik in den Mitgliedstaa- ten, die den Euro eingeführt haben. Geteilte Zuständigkeiten bestehen in jenen Be- reichen der Sozialpolitik, die in Teil III der Verfassung der EU zugewiesen werden (Art. I-13 Abs. 2 VVE). In den Artikeln III-103 bis III-115 VVE finden sich teilweise echte Harmonisierungs- und Rechtsetzungskompetenzen, so etwa nach Art. III-104 Abs. 1 iVm. Abs. 2 b) VVE in den Bereichen soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags, die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Interessen von Arbeitnehmer und Ar- beitgebern sowie die Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Län- der, die sich rechtmäßig im Gebiet der Union aufhalten. In anderen Bereichen, wie z.B. der beruflichen Eingliederung von Personen in den Arbeitsmarkt oder die Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt, besteht die Kompetenz zum Erlass von Unterstützungs- und Fördermaßnahmen (Art. III-104 Abs. 1 iVm. Abs. 2 a) VVE). Diese Kompetenzen werden wiederum von Aus- schluss- und Schutzklauseln beschränkt – so verhindert Art. III-104 Abs. 5 VVE Beeinträchtigungen der Grundprinzipien der mitgliedstaatlichen Systeme der sozia- len Sicherheiten oder erhebliche Beeinträchtigungen des finanziellen Gleichgewichts der Systeme. Die Regelung des Arbeitsentgelts, des Koalitionsrechts sowie des Streik- und Aussperrungsrechts bleiben den Mitgliedstaaten vorbehalten. Ungeachtet dieser Vorbehalte bleibt die vertragliche Kompetenzordnung gerade hier sehr vage und öff- net der EU weite Einfallstore in die mitgliedstaatlichen Sozialsysteme. Im Übrigen hat die EU im Hinblick auf die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik eine bloße Koordinierungszuständigkeit (Art. I-14 VVE). Die genauen Inhalte werden in Art. III-97 bis III-102 VVE ausgeführt. Finanzielle Stützungsmaßnahmen ermöglicht – auf allerdings niedrigem Niveau – der Europäische Sozialfonds (Art. III-113 VVE). Eine Vertiefung der substantiellen EU-Kompetenzen sieht der Vertrag über eine Verfassung für Europa darüber hinaus im Bereich der Innen- und Justizpolitik vor – und dort primär im Hinblick auf Europol. Diese Behörde darf künftig alle Delikte verfolgen, „die ein gemeinsames Interesse verletzen, das Gegenstand einer Politik der Union ist.“ Sie ist zu operativen Maßnahmen befugt, dabei aber auf Zusammen- arbeit und Absprache mit den mitgliedstaatlichen Behörden angewiesen. In der Au- ßen- und Sicherheitspolitik findet sich (neben den bedeutsamen Beistandsklauseln nach Art. I-40 Abs. 7 VVE (gegenseitige Verteidigung) und Art. I-42 VVE (Terror und Katastrophen)) die Befugnis zur Einrichtung eines Europäischen Amts für Rüs- tung, Forschung und militärische Fähigkeiten, dessen Aufgabe es ist, den operativen Bedarf an europäischen Militärkapazitäten zu ermitteln und dabei mitzuwirken, diesen Bedarf zu decken. Die praktische Tragweite der neuen außen- und sicher- heitspolitischen Kompetenzen wird dadurch erheblich geschmälert, dass dort weiter- hin das Einstimmigkeitsprinzip gilt. In einer EU der 25 oder mehr Mitgliedstaaten kann dies einer Kompetenznorm jegliche praktische Bedeutung nehmen. Nach Art. I-24 Abs. 4 VVE ist der Übergang zum Mehrheitsprinzip möglich („Passerelle“);

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noch lässt sich allerdings nicht abschätzen, ob sich je die Mitgliedstaaten einstimmig zu einem derartigen Schritt entschließen werden.

2. Flexibilität

Zu den Streitpunkten, denen im Vorfeld der Konventsarbeit besondere Aufmerk- samkeit geschenkt wurde, gehört sicherlich die Frage nach der Zukunft von Art. 308 EGV.40 Diese Bestimmung ermöglicht es der EU bekanntlich, auch dort Sekundär- recht zu setzen, wo ihr das Primärrecht keine ausdrücklich formulierte Sachkompe- tenz zuweist – wenn nur ein Handeln im Lichte der (häufig vagen) Ziele des Ver- trags geboten ist. Die Befugnis, unter Berufung auf die Ziele der EU die Grenzen der Sachkompetenzordnung zu überwinden, erregte vor allem die Kritik der Reprä- sentanten deutscher Bundesländer: Sie erblickten in dieser Abrundungskompetenz ein gefährliches und politisch nicht erforderliches Instrument zur Verschiebung der vertraglich festgelegten Kompetenzgrenzen.41 Die Kritik orientierte sich dabei vor allem an dem freizügigen Gebrauch, der von dieser Bestimmung in den siebziger und achtziger Jahren gemacht wurde – etwa zur Erschließung von Umweltkompe- tenzen. In der Tat bot der damalige Art. 235 EWGV der Gemeinschaft ein Sprung- brett, mit dem sie sich in Bereiche vorwagen konnte, in denen ein gemeinsames su- pranationales Auftreten sinnvoll erschien, zugleich aber die notwendigen vertragli- chen Änderungen noch nicht vorgenommen wurden.42 Es darf allerdings als Bestätigung der damaligen Politiken verstanden werden, dass beinahe alle Bereiche, die zunächst über Art. 235 EWGV erschlossen wurden, später zum Gegenstand ex- pliziter Kompetenzen gemacht wurden. Hinzu kommt: Nicht immer wird von Seiten der Kritiker von Art. 308 EGV hinreichend erkannt, dass die Bedeutung dieser Vor- schrift in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist; große Ausgriffe in den mit- gliedstaatlichen Zuständigkeitsbereich hat sich die EU in den letzten Jahren auf der Grundlage dieser Vorschrift nicht mehr erlaubt.43 Gleichwohl blieb das mitglied- staatliche Misstrauen gegenüber dieser Vorschrift erhalten. Im Konvent wurde über den Fortbestand der Flexibilitätsklausel äußerst kontrovers beraten. Es ist den Gegnern der Bestimmung letztlich aber nicht gelungen, ihre Ab- schaffung durchzusetzen. Sie haben sich noch nicht einmal damit durchsetzen kön- nen, den Anwendungsbereich der Flexibilitätsklausel – Art. I-17 des Vertrags über eine Verfassung für Europa – inhaltlich zu beschränken. Während die bisherige Be- stimmung des Art. 308 EGV eine Auffangzuständigkeit nur dann begründet, wenn „ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich [ist], um im Rahmen des Gemein-

40 Vgl. etwa M. Bungenberg, Dynamische Integration, Art. 308 und die Forderung nach dem Kompetenzkatalog, EuR 2000, 879. 41 Hierzu D. Reich, Zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die Kompetenzen der deutschen Bundesländer, EuGRZ 2001, 1. 42 Zur diesbezüglichen Reaktion des EuGH: A. Tizzano, Lo sviluppo delle competenze materiali delle Communi- tà europee, Riv.Dir.Eur. 1981, 139; R. Dehousse, La Cour de justice des Communautés européennes, 1994, 53. 43 T. Lorenz/W. Pühs, Eine Generalermächtigung im Wandel der Zeit: Art. 235 EG-Vertrag, ZG 1998, 142, 150; de Búrca/de Witte (oben Fn. 4), 12–14.

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samen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen“, sieht der Entwurf nunmehr vor, dass Auffangzuständigkeiten überall dort bestehen, wo dies „im Rahmen der in Teil III festgelegten Politikbereiche“ zur Verwirklichung eines Zieles der EU erforderlich ist. Damit wird der bislang beschränkte Anwendungsbereich der Klausel geöffnet und über die gesamte Tätigkeitsbreite der EU erstreckt. Immerhin ist es nach Art. I-17 Abs. 3 des Entwurfs der EU zukünftig versagt, auf der Grundlage der Flexibili- tätsklausel Vorschriften zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschrif- ten zu erlassen, wenn eine Harmonisierung nach der Verfassung ausgeschlossen ist. Art. I-17 Abs. 1 VVE lässt sich damit nicht dazu verwenden, um die Harmonisie- rungsschranken des Vertrags zu überspielen – im Lichte des Grundsatzes systema- tischer Interpretation eigentlich eine Selbstverständlichkeit, deren Betonung aber doch politisch wichtig ist. Zudem sind die verfahrenstechnischen Hürden für den Gebrauch der Flexibilitätsklausel höher denn je: Von der Klausel kann weiterhin im Ministerrat nur einstimmig Gebrauch gemacht werden. Die Mitgliedstaaten haben ihre Vetostellung bewahrt; mit dem Anwachsen der Mitgliederzahl wird dies die politische Bedeutung der Vorschrift weiter schwächen. Durch das Erfordernis der Zustimmung des Europäischen Parlaments44 wird eine Verwendung der Bestim- mung noch erschwert. Das politische „Frühwarnsystem“, über das die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten bei der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritäts- prinzips 45 beteiligt werden, findet nach Art. I-17 Abs. 2 VVE auch bei der Überwa- chung der Handhabung der Flexibilitätsklausel Anwendung. Vor diesem Hinter- grund wird man in der Regelung des Art. I-17 VVE einen gelungenen Kompromiss zwischen dem Flexibilitätsinteresse der EU und der mitgliedstaatlichen Sorge um ein unkontrolliertes Ausgreifen der EU in ihre Zuständigkeitssphären erblicken müssen. Zu Bedauern ist, dass in Art. I-17 VVE keine Verfallsklausel enthalten ist, die Flexibilitätsregeln nach einer bestimmten Zeitdauer außer Kraft treten lässt.46

3. Vertikale Funktionenordnung

Zu den kompetenziellen Fragestellungen, die den Konvent beschäftigten, gehörte auch das Problem der vertikalen und horizontalen Funktionenverteilung.47 Das gegenwärtige System ist insbesondere durch die ausgeprägte vertikale Gewalten- teilung in den Funktionen gekennzeichnet – im Gesetzgebungsbereich durch das Zusammenspiel von Richtlinien und nationaler Umsetzungsgesetzgebung, im Voll- zugsbereich durch das Prinzip des Vollzugsföderalismus48. Anders als im

44 Müller-Graff (oben Fn. 30), 211. 45 Grundlegend: C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl. 1999; R. v. Borries, Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union, EuR 1994, 263; S. Pieper, Subsidia- rität, 1994; G. Bermann, Taking Seriously:Federalism in the European Community and the United States, 94 Colum.L.Rev. 1994, 332. 46 Hierzu Th. Oppermann (oben Fn. 16), 1173. 47 Gute Darstellungen der geltenden Rechtslage: K. Lenaerts, Some reflections on the separation of powers in the European Community, CMLRev. 1991, 11, 19 ff.; K. Lenaerts/P. van Nuffel, Constitutional Law of the , 1999, 458 ff.; zum Fehlen allgemeiner Lehren D. Simon, Le système juridique communautaire, 1997, 74. 48 B.-O. Bryde, Auf welcher politischen Ebene sind welche Probleme vorrangig anzugehen?, in: B. Sitter-Liver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung. Die Schweiz im globalen Kontext, 1999, 223 (235 f.).

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amerikanischen „Trennungsföderalismus“ haben die Mitgliedstaaten die Befugnis und Pflicht zur Durchführung des EU-Rechts auch dort behalten, wo die EU Recht setzt. Dieses Prinzip gilt gewiß nicht ausnahmslos; so liegt die Durchführung des europäischen Wettbewerbsrechts in der Hand der Kommission. Prägend wirkt aber weiterhin die Idee einer Trennung von Rechtsetzung und Vollzug. Sie wurde von der Regierungskonferenz von Amsterdam (1997) in einer Erklärung zum Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit noch- mals bekräftigt: Danach soll „die administrative Durchführung des Gemeinschafts- rechts grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften“ bleiben. Verfassungspositiv schlägt sich dieses Prinzip beispielsweise in Art. 175 Abs. 4 EGV nieder, wonach „die Mitgliedstaaten für die Finanzierung und Durchführung der Umweltpolitik Sorge“ tragen. In jüngerer Zeit allerdings ist das Prinzip der vertikalen Gewaltenteilung in den Funktionen allerdings in doppel- ter Hinsicht einem Anpassungsdruck ausgesetzt. Die mitgliedstaatlichen Vollzugsspielräume werden zum einen dadurch untermi- niert, dass der unionale Gesetzgeber in immer detaillierterer Weise inhaltliche Vor- gaben macht. Vor allem ist die ursprüngliche Idee, dass Richtlinien nur Grundsätzli- ches regeln dürfen, im Übrigen aber den Mitgliedstaaten einen Freiraum der Umset- zung lassen müssten, längst vergessen. Inzwischen hat sich der Typ einer Richtlinie, die den Mitgliedstaaten äußerst detaillierte Vorgaben macht, als Regeltyp durchge- setzt. Dem Vertragsgeber ist diese Tendenz wohl bewusst. Nach Ziff. 6 des in Ams- terdam (1997) angenommenen Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gilt, dass Maßnahmen der Union auch in der Regelungsdichte nicht über das für die Erreichung des Ziels erforderliche Maß hinausgehen dürfen. Spürbare Auswirkungen hatte diese Regelung bislang aller- dings nicht.49 Auch der Vertrag über eine Verfassung für Europa bemüht sich hier nicht um weitere Eingrenzung, wohl im Wissen darum, dass verfassungsrechtliche Regelungen darin überfordert sind, die Dichte sekundärrechtlicher Rechtsetzung wirksam zu begrenzen. Art. I-32 VVE übernimmt für die Beschreibung der Rechts- wirkungen des „Europäischen Rahmengesetzes“ die Formulierungen, die nach Art. 249 EGV für die Richtlinie gelten; den Versuch, mitgliedstaatliche Freiräume zu si- chern, unternimmt der Vertrag über eine Verfassung für Europa nicht. Die Forde- rung nach Einführung des Kompetenztypus der „Grundsatzkompetenz“, mit der sich das Maß der Dichte europäischer Rechtsetzung hätte steuern lassen,50 fand kei- ne Berücksichtigung. Eine wirkliche Lücke weist der Vertrag über eine Verfassung für Europa insofern auf, als er sich der Frage der Verteilung der Verwaltungszuständigkeiten nicht an- nimmt. Das bisherige System der grundsätzlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist in jüngerer Zeit zum anderen auch dadurch stark unter Druck geraten, dass sich

49 Zuleeg (oben Fn. 34), Rn. 6 zu Art. 3b EGV; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 21/29. 50 Vgl. z.B. W. Clement, Europa gestalten – nicht verwalten, 12. Februar 2001, www.whi-berlin.de/clement.htm, Rn. 18–21 (Clement setzt allerdings Dichte und Reichweite (unmittelbare Anwendbarkeit) in eins).

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die EU in zunehmendem Umfang unionseigener unabhängiger Einrichtungen und Agenturen bedient, um unionale Verwaltungsaufgaben auf europäischer Ebene wahrzunehmen. Während sich die meisten dieser Einrichtungen bislang auf die Be- schaffung und die Diffusion von Informationen beschränken, sind in den letzten Jahren auch Einrichtungen ins Leben getreten, deren Entscheidungen unmittelbare Rechtswirkung für die europäischen Bürger haben. Das vielleicht bekannteste Bei- spiel bildet das europäische Markenamt. Hier stellen sich nicht nur verfassungstheo- retisch und -praktisch kaum bewältigte Fragen der demokratischen Kontrolle. Auch unter Rechtsschutzgesichtspunkten wirft diese Entwicklung viele bislang unbewäl- tigte Fragen auf. Sicher ist jedenfalls, dass die Entwicklung der Ausgliederung von Einrichtungen (der mittelbaren Unionsverwaltung) noch längst nicht am Ende ange- kommen ist. Vielmehr hat die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch über das „Regieren in Europa“51 zu erkennen gegeben, dass sie willens ist, den Ausbau der mittelbaren Unionsverwaltung voranzutreiben. Die verfassungstheoretische und politische Dimension dieser Entwicklung ist unmittelbar einsichtig. Umso mehr muss es bedauert werden, dass sich der Vertrag über eine Verfassung für Europa einer rechtlichen Strukturierung dieses Problembereiches enthält. Vielleicht äußert sich gerade in einem solchen Bereich die begrenzte politische Gestaltungsmacht des Konvents besonders deutlich; das Konventsverfahren ist auf Konsolidierung und Verdeutlichung, nicht aber auf zukunftsgerichtete mutige politische Gestaltung an- gelegt. Der zunehmenden Aushöhlung der Umsetzungs- und Ausgestaltungskom- petenz der Mitgliedstaaten wird durch den Vertrag über eine Verfassung für Europa nicht Einhalt geboten. So wird auch hier der allgemeine Gesamteindruck bestätigt, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa jedenfalls in kompetenziell-ord- nungspolitischer Hinsicht mehr auf Konsolidierung als auf Veränderung angelegt ist.

III. Bestimmtheit, Abgrenzungsschärfe und Klarheit der Kompetenz- zuweisungen

1. Der Vorwurf der Kompetenzüberschreitung

Es ist noch gut in Erinnerung, wie Ende der achtziger Jahre, verstärkt dann aber in den neunziger Jahren, der Vorwurf aufkam, die EU-Organe würden die Kompetenz- bestimmungen des Europarechts jedenfalls expansiv-ausdehnend, vielleicht sogar anmaßend-rechtswidrig in Anspruch nehmen.52 Dabei ging es zum einen um die – behördliche, vor allem aber richterliche – Interpretation der primärrechtlichen Ver-

51 Europäische Kommission, Weißbuch Europäisches Regieren, KOM (2001) 428 endg. 52 Zur damaligen Diskussion vor allem: H. Laufer, Kriterien der Kompetenzabgrenzung, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, 201; H. Laufer/T. Fischer, Zur Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, 214. Zum Stand der Diskussion in den siebziger Jahren: V. Constantinesco, Compétences et pouvoirs dans les Commu- nautés européennes, 1974.

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fassungsbestimmungen (Grundfreiheiten, allgemeines Diskriminierungsverbot, Loyalitätspflichten), mit denen breite und tiefe Breschen in weite Bereiche der nati- onalen Rechtsordnung geschlagen werden konnten.53 Über das Wirtschaftsverwal- tungsrecht hinaus dirigieren diese Bestimmungen inzwischen auch bedeutende Teile des mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechts54 und des Gerichtsverfahrens- rechts.55 Vorwürfe richteten sich darüber hinaus aber auch gegen die Handhabung der Kompetenzen, die die EU-Organe zur Setzung von Sekundärrecht ermächtig- ten: Manche meinten beobachten zu können, dass die EU-Organe Zielbestimmun- gen und Kompetenznormen in eins setzten.56 Selbstverständlichkeiten wie etwa die Tatsache, dass Art. 6 IV EGV keine kompetenzbegründende Norm ist,57 schienen ins Wanken zu geraten.58 Die Stichworte von der Kompetenzüberschreitung59 und vom „ausbrechenden Rechtsakt“ tauchten auf;60 und das BVerfG machte in seiner Maastricht-Entscheidung (über)deutlich, dass jedenfalls in Deutschland derartige Rechtsakte keine Geltung beanspruchen sollten.61 Manche Beobachter konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die vermeintlich festen Kompetenzgrenzen in der Hand der EU-Organe zerflössen und einer schrankenlosen Befugnis Raum machten, die zu immer neuen und weitergehenden Übergriffen genützt wurden. Gänzlich unberechtigt waren diese Befürchtungen nicht: Auch in europafreundli- chen Kreisen ist heute anerkannt, dass die Kompetenzfrage in Zeiten, in denen ein- stimmig entschieden wurde, von den immer vetobefugten Mitgliedstaaten als politi- sches Problem behandelt wurde. Ihre rechtliche Dimension gewann erst dadurch Bedeutung, dass im Rat der Übergang zum Mehrheitsprinzip erfolgte; zudem rück- ten mit den Ausgriffen der EU in die Zuständigkeiten der Länder politisch nicht mitspracheberechtigte Akteure ins Bild. Es nützte wenig, dass ein Mitglied der eu-

53 Zur Rolle des EuGH: U. Everling, Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 217; Th. Oppermann, Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union, Deutsches Verwaltungsblatt 1994, 901; F. Schock- weiler, Die richterliche Kontrollfunktion:Umfang und Grenzen in Bezug auf den Europäischen Gerichtshof, EuR 1995, 191; I. Pernice; Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, 27; O. Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire, 2001; T. Öhlinger, Gesetz und Richter unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, FS für Thomas Fleiner, 2003, 719. 54 St. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, 296 ff.; G. C. Rodríguez Iglesias, Zu den Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 1997, 289. 55 F. Schoch, Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, 109; E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999; H.-J. Blanke, Vertrauens- schutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2000; J. Bergmann (Hrsg.), Deutsches Verwaltungs- recht unter europäischem Einfluss: Handbuch für Justiz, Anwaltschaft und Verwaltung, 2002. 56 Unsicherheiten etwa bei: EuGH, Rs. 281, 283–285, 287/85, Deutschland u.a./Kommission (Wanderungspoli- tik), Slg. 1987, 3203, Rn. 28. Hiergegen schon früh: M. Zuleeg, Der Verfassungsgrundsatz der Demokratie und die Europäischen Gemeinschaften, Der Staat 17 (1978), 27. 57 D. Simon, in: V. Constantinesco/R. Kovar/D. Simon (Hrsg.), Traité sur l‘Union européenne, 1995, Art. F, Rn. 17 f.; A. Puttler, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EU-Vertrag und EG-Vertrag, 1999, Art. 6 EU, Rn. 199 ff 58 Das BVerfG beschäftigte sich im Maastricht-Urteil mit dieser Frage über viele Seiten (BVerfGE 89, 155). 59 Ausführlich insbesondere F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000. 60 Hier W. Schroeder, Zu eingebildeten und realen Gefahren durch kompetenzüberschreitende Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1999, 452. 61 BVerfGE 89, 155, 210.

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ropäischen Judikative hierauf einmal mit beinahe triumphierendem Unterton formu- lierte: „There simply is no nucleus of sovereinty that the Member States can invoke, as such, against the Community.“62 Erste Reaktionen auf den Vorwurf, die europäische Union nehme die ihr durch den Grundsatz der begrenzten Ermächtigung auferlegten Einschränkungen nicht ernst, wurden bekanntermaßen bereits in den frühen neunziger Jahren ergriffen. Nicht nur wurden die neu aufgenommenen Kompetenzbestimmungen inhaltlich wesentlich präziser gefasst als zuvor. Auch machte man – in bemerkenswerter Umkehrung der Idee der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU63 – zunehmend von der Mög- lichkeit Gebrauch, der EU die Betätigung auf bestimmten Gebieten zu verbieten: So schließt Art. 18 Abs. 3 EGV eine Zuständigkeit der EU im Hinblick auf Pässe, Per- sonalausweise, Aufenthaltsdokumente, die soziale Sicherheit und den Sozialschutz im Recht des Aufenthalts aus. Art. 137 Abs. 2 lit. a), Abs. 4 EGV begrenzen die Reichweite von EU-Maßnahmen, soweit es um die Grundprinzipien der mitglied- staatlichen Systeme der sozialen Sicherheit geht. Schließlich nimmt Art. 157 EGV der Union die Befugnis, industriepolitische Maßnahmen zu erlassen, die die steuer- lichen Befugnisse der Mitgliedstaaten berühren oder die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer – namentlich die Unternehmensmitbestimmung – betreffen. Die gegenwärtige EU-Kompetenzordnung zieht auch deswegen Kritik auf sich, weil sie für den europäischen Bürger – und in mancherlei Hinsicht auch für den rechts- wissenschaftlichen Experten – wenig durchschaubar war: Es ist so gut wie unmög- lich, sich ohne vertiefte Einarbeitung einen Überblick über das Kompetenzprofil der EU zu verschaffen. Nicht nur lassen sich die Befugnisse der EU nur dadurch er- schließen, dass eine Gesamtsicht des Primärrechts vorgenommen und die – teilweise durchaus versteckt niedergelegten – Kompetenznormen unter einer dreistelligen Zahl von Vertragsartikeln gesucht werden. Bestimmte Typen von Kompetenznor- men, insbesondere implizite Kompetenzen,64 finden sich im Vertrag gar positiv nur in Ansätzen geregelt. Man muss insofern schon ein Experte des Europarechts sein, der die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den impliziten Kompe- tenzen erkennt, um die Befugnisse der Europäischen Union adäquat beschreiben zu können. Andere Kompetenzen bleiben in ihrem konkreten Gehalt und ihrer Trag- weite undeutlich. Insbesondere aber lässt sich dem Primärrecht der Wandel des Inte- grationsverbandes von einem wirtschaftsliberalisierenden Zweckverband zu einem genuin politisch handelnden Träger öffentlicher Gewalt kaum entnehmen. Und für den Bürger, der sich fragt, wofür eigentlich Europa steht und in welche Richtung Europa geht, bieten die Verträge keine wirkliche Auskunft.

62 Lenaerts, Constitutionalism and the Many Faces of Federalism, 38 AJIL 205 (1990), 220. 63 Grundlegend hierzu: D. König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrati- onsprozesses – Anwendungsbereich und Schranken des Art. 23 des Grundgesetzes, 2000. 64 EuGH, Rs. 22/70, Kommission/Rat (AETR), Slg. 1971, 263, Rn. 15/19.; Gutachten 1/94, WTO, Slg. 1994, I-5267, Rn. 76 f.; aus dem Schrifttum: G. Nicolaysen, Zur Theorie von den Implied Powers in den Europäischen Gemeinschaften, EuR 1966, 129; O. Dörr, Die Entwicklung der ungeschriebenen Außenkompetenzen der EG, EuZW 1996, 39; M. Hilf, Ungeschriebene EG-Kompetenzen im Außenwirtschaftsrecht, ZfV 1997, 295.

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2. Verdeutlichung durch Auflistung und Typenbildung

In der Erklärung von Laeken ist nicht nur davon die Rede, dass die Kompetenzauftei- lung „im Lichte der neuen Herausforderungen, denen sich die Union gegenübersieht, angepasst werden” muss. Ebenso wird in dieser Erklärung betont, dass „die Auftei- lung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten verdeutlicht [und] vereinfacht” werden muss. Es ging den Verfassern dieser Erklärung vor allem darum, die in die Verträge eingeschriebene Kompetenzstruktur so zu verdeutlichen, dass für den Bürger erkennbar wird, welche Aufgaben die EU zu erfüllen und welche Befugnisse sie hierfür hat. Dem Konventsentwurf gelingt diese Verdeutlichung – und damit eine erhebliche Verbesserung der Klarheit und Transparenz der Kompetenz- ordnung – indem er im Teil I die Grundprinzipien der Kompetenzverteilung formu- liert. Ohne dass darin eine rechtliche Änderung läge, wird zunächst in Art. I-9 Abs. 1 und Abs. 2 VVE hervorgehoben, dass die EU nur dort Kompetenzen hat, wo sie ihr durch das Primärrecht zugewiesen wurden (Grundsatz der begrenzten Ermächti- gung).65 Bei der Ausübung ihrer Kompetenzen hat sie die Grundsätze der Subsidia- rität und Verhältnismäßigkeit zu beachten (Art. I-9 Abs. 1 iVm. Abs. 3 und Abs. 4 VVE). In Anlehnung an die Kompetenzordnungstechnik des Grundgesetzes 66 wer- den dann in den Art. I-11 bis 16 VVE die verschiedenen Kompetenztypen definiert; die der EU überantworteten Sachbereiche werden sodann einem Kompetenztyp zu- geordnet. Darin liegt in mehrfacher Hinsicht ein echter Qualitätsgewinn.

3. Katalogartige Listung der Materien

Von Bedeutung ist zunächst, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa die Sachmaterien, die der EU übertragen worden sind, in übersichtlicher Weise auflis- tet.67 Die Ordnungstechnik des Vertrages über eine Verfassung für Europa nähert sich damit der in der politischen Diskussion68 häufig geforderten Formulierung ei- nes Kompetenzkatalogs an.69 Auch für Nichtexperten wird so erschließbar, in wel-

65 Hierzu z.B. H.-P. Kraußer, Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung im Gemeinschaftsrecht, 1991. 66 Zur deutschen Dogmatik etwa R. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, 42 ff.; ders., in: R. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 70, Rn. 17 ff. 67 Zur Intransparenz allgemein: C. Schmid, Konsolidierung und Vereinfachung des europäischen Primärrechts, EuR Beiheft 2/1998, 17. 68 Bekanntlich gehörte die Forderung nach Einführung eines Kompetenzkatalogs, in dem die der EU überwiese- nen Befugnisse aufgelistet und so festgestellt werden, zu den Standardforderungen, die im Vorfeld der Ver- handlungen von Nizza – und nun wieder im Kontext der Verhandlungen des Verfassungskonvents – erhoben wurden. Viele Anhänger dieser Forderung schienen von dem Glauben motiviert zu sein, dass ein Kompetenz- katalog ein wirksames Instrument zur Abwehr von kompetenziellen Ausgriffen und Machtverschiebungen darstellen könnte – man war wohl der Auffassung, dass sich die differenzierte, zugleich aber in ihrer inhaltli- chen Tragweite schwer zu erschließende Kompetenzbegründungstechnik nicht bewährt und daher durch ein anderes Modell ersetzt werden müsste. 69 So etwa H.-P. Folz, Demokratie und Integration,1999, S.383; I. Boeck (oben Fn. 4); G. Hirsch, EG: Kein Staat, aber eine Verfassung, NJW 2000, 46. In den Beratungen des Konvents wurde gegen einen abschließenden Kompetenzkatalog einerseits geltend gemacht, dies laufe notwendig auf unnötige und schädliche Rigidität hi- naus. Andererseits wurde darauf hingewiesen, dass ein Kompetenzkatalog nicht die notwendige Präzision aufweise, um eine klare Kompetenzbegrenzung zu bewirken – wenn man nicht zu untunlichen, die Klarheit und Transparenz des Katalogs aufhebenden Präzisierungen bereit sei.

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chen Bereichen die EU handlungsbefugt ist.70 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Vertrag damit zum ersten Mal der EU selbst – und nicht nur den jeweils handlungsbefugten Organen – Kompetenzen zuweist; die Notwendigkeit, Verbands- kompetenzen über die Organkompetenzen erschließen zu müssen, entfällt. Die Kompetenzlisten im ersten Teil des Vertrages über eine Verfassung für Europa ha- ben Rechtsqualität, sind aber – im Unterschied zu anderen Verfassungsdokumenten mit Kompetenzkatalog – nicht selbst befugnisbegründender Natur: Sie sind be- schreibender, nicht aber rechtskonstitutiver Natur. Dies macht Dopplungen notwen- dig: Die kompetenzbegründenden Regelungen finden sich im dritten Teil des Ver- trages über eine Verfassung für Europa. Hier lässt der Vertrag über eine Verfassung für Europa – wie bereits das geltende EG-Recht – sehr viel mehr inhaltliche Präzisi- on walten, als es ein schlichter Kompetenzkatalog je könnte. Insbesondere die in den neunziger Jahren eingefügten Kompetenzbestimmungen weisen einschneidende Bestimmtheit auf und schützen die Mitgliedstaaten insbesondere im Rechtsetzungs- bereich vor Übergriffen. Gleichwohl sind die Formulierungen des ersten Teils des Vertrages über eine Verfassung für Europa nicht rechtlich unbeachtlich: Sie sind als Interpretationshilfe bei der Auslegung und Anwendung der Kompetenznormen des dritten Teils heranzuziehen, ohne allerdings die vom Wortlaut der Bestimmungen des dritten Teils gezogenen Grenzen sprengen zu können. Gleiches gilt für die Be- stimmungen der Grundrechtecharta: Zwar legt der Vertrag über eine Verfassung für Europa großen Wert darauf, dass die Bestimmungen der Grundrechtecharta nicht als kompetenzbegründend angesehen werden.71 Schon zum Schutze der Einheit des Verfassungsvertrags sind die Bestimmungen des dritten Teils aber im Lichte der hinter den Grundrechtsnormen stehenden Aspirationen zu lesen.72 Die Zugänglichkeit der Kompetenzordnung leidet allerdings daran, dass sich für die Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. I-39 VVE), der Si- cherheits- und Verteidigungspolitik (Art. I-40 VVE) sowie der „Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ in der Innen- und Justizpolitik (Art. I-41 VVE) in Titel V des ersten Teils besondere, das typisierende Grundsche- ma sprengende Ausübungsbestimmungen finden. So wenig sich in Frage stellen lässt, dass derartige Reminiszenzen an die bisherige Drei-Säulen-Struktur des EU- Vertrags sachlich geboten sind, so sehr leidet durch diese Regelungstechnik doch die Erfassbarkeit der Zuständigkeiten der EU: Je nach Sachmaterie sind bis zu drei ver- schiedene Abschnitte des Vertrags einschlägig. Problematisch ist ferner, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa darauf verzichtet, die Materien, die der Kategorie der geteilten Zuständigkeiten zuzuordnen sind, abschließend aufzulisten. Diese Regelungstechnik birgt nicht nur das Problem, dass darunter die Transparenz

70 Der Vorschlag, eine Kompetenzcharta als eigenständiges Dokument zu verabschieden (F. C. Mayer (oben Fn. 1), 611), wurde damit nicht aufgenommen. 71 Art. II-51 Abs. 2 VVE. 72 Zum Grundrechtsbestand allgemein: Th. Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, 3.

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des Entwurfs erheblich leidet: Wer sich darüber informieren will, in welchen Berei- chen die EU (geteilt) zuständig ist, muss weiterhin die 342 Artikel des Teils III durchgehen. Verfassungstheoretisch ist vor allem von Bedeutung, dass der Vertrag über eine Ver- fassung für Europa zugleich die im bisherigen Art. 3 EGV aufgelisteten Ziel- und Aufgabenformulierungen entfallen lässt. In dieser Streichung liegt ein weiterer und verfassungstechnisch nicht unbedeutsamer Schritt auf dem Weg der Transformation der EU von einer klassischen internationalen Organisation zu einem staatlichen Ver- band: Während es erstere kennzeichnet, dass sie von den Mitgliedstaaten zur Verfol- gung klar definierter – und damit ausflaggbarer – Zielsetzungen gegründet werden, lässt sich der Gemeinwohlauftrag einer staatlichen Hoheitsgewalt nicht in einzelne Zielsetzungen auflösen – und wenn, dann nur unter Rückgriff auf Werte wie Ge- rechtigkeit, Frieden, Freiheit etc. Derartige Wertbekundungen finden sich denn auch in den Art. I-2 und Art. I-3 VVE in beinahe überreichem Maße. Während man sich darüber streiten kann, wie groß der Integrationseffekt derartiger Verfassungsbe- stimmungen ist (in Kreisen der Wissenschaft zeichnen sich bereits Versuche der Idealisierung ab), steht jedenfalls außer Frage, dass sich hier ein qualitativer Um- schwung ausdrückt. Noch ist man allerdings kompetenziell nicht so weit gegangen, den Mitgliedstaaten Residualbereiche einzuräumen, in denen sie vor unionaler Ein- flussnahme geschützt sind: Ein derartiger Schritt wäre geeignet gewesen, das Selbstverständnis der Mitgliedstaaten als souveräne Verbände zu brechen.73

4. Bildung einer Kompetenztypik

Dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa die Kompetenztypen des Unions- rechts abschließend bezeichnet, ist als großer Gewinn zu verbuchen.74 Grundsätzlich stellt der Vertrag über eine Verfassung für Europa für die Typenbildung darauf ab, welche Befugnisse der Union und den Mitgliedstaaten im Bereich der Rechtsetzung relativ zueinander zukommen: Typologisch werden ausschließliche Zuständigkeiten, parallele (geteilte) Zuständigkeiten und Koordinierungs- bzw. Unterstützungszu- ständigkeiten unterschieden. Art. I-13 Abs. 1 VVE bezeichnet die Kategorie der geteilten Kompetenz als Residualkategorie, die immer dann gegeben ist, wenn eine Zuständigkeit nicht als ausschließliche oder Unterstützungsbefugnis ausgewiesen wird. Dies impliziert insbesondere, dass die in Teil III aufgeführten Materien, die nicht ausdrücklich einer der Kategorien in Teil I zugeordnet werden, als geteilte Kompetenzen anzusehen sind. Teilweise wird die Abgrenzung der verschiedenen Bereiche interpretative Schwierigkeiten bereiten – so etwa, wenn Art. I-13 VVE „gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich des Gesundheitswesens“ als geteilte Zuständigkeit definiert und zugleich der „Schutz und die Verbesserung der mensch- lichen Gesundheit“ als Unterstützungskompetenz angesehen wird (Art. I-16 VVE).

73 So wohl J. Schwarze, Das schwierige Geschäft mit Europa und seinem Recht, JZ 1998, 1077, 1085 f. 74 So schon die Forderungen von Pernice (oben Fn. 7), 875; Müller-Graff (oben Fn. 30), 209.

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Ungeachtet der Mühe, die sich der Vertrag über eine Verfassung für Europa bei der Definition der Kompetenztypen gibt, werden sich bei ihrer Handhabung eine Reihe von Fragen stellen. So legt der Vertrag über eine Verfassung für Europa beispiels- weise fest, dass im Bereich der ausschließlichen Kompetenzen allein die Organe der EU zum Erlass rechtlich bindender (insbesondere gesetzgeberischer) Maßnahmen befugt sind. Offen lässt der Vertrag über eine Verfassung für Europa, inwieweit die Mitgliedstaaten hier mit den Mitteln der nichtrechtlichen Steuerung operieren dür- fen. Im Lichte der Regelungstechnik des Art. I-11 VVE und vor dem Hintergrund der insofern eindeutigen Definition in Art. I-11 Abs. 1 VVE ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten in den Bereichen der „ausschließlichen Kompetenz“ – ent- gegen der scheinbaren Wortbedeutung – nicht gänzlich zur Untätigkeit verdammt sind; ihnen steht es frei, politische Ziele mit Mitteln anzustreben, die sich unterhalb der Schwelle rechtlicher Bindung bewegen. Nicht unproblematisch ist auch das Verfassungsverständnis, das der Definition der „geteilten Zuständigkeit“ zugrunde liegt. Nach Art. I-11 Abs. 2 Satz 1 VVE steht jenen Bereichen, in denen die Verfassung geteilte Zuständigkeiten begründet, das Recht zur Rechtsetzung sowohl der Union als auch den Mitgliedstaaten zu. Wäh- rend der Begriff der „geteilten Zuständigkeiten“ den Eindruck erweckt, dass die europäische Union und die Mitgliedstaaten dauerhaft Seite an Seite wirken können, macht Art. I-11 Abs. 2 Satz 2 des VVE deutlich, dass es sich der Natur nach um kon- kurrierende Kompetenzen handelt:75 Dort wird festgestellt, dass die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit nur dann wahrnehmen dürfen, wenn die Union ihre Zuständig- keit nicht ausgeübt hat oder entschieden hat, diese nicht mehr auszuüben. Diese For- mulierung gibt deutlich zu erkennen, dass dem Verfassungsgeber eine echte Sperr- wirkung in dem Sinne vor Augen schwebt, wie sie auch von Art. 72 des deutschen Grundgesetzes ausgelöst wird. Nicht der Vorrang des gesetzten Sekundärrechts,76 sondern die Verfassungsbestimmung selbst nimmt den Mitgliedstaaten das Recht zu handeln. Nicht ganz klar ist der Vertrag über eine Verfassung für Europa allerdings im Hinblick darauf, wann die Sperrwirkung eintreten soll. Unmittelbar leuchtet es ein, dass das Unionsrecht Sperrwirkung immer dann entfalten soll, wenn die Union von ihrer Befugnis Gebrauch gemacht hat. Demgegenüber bleibt die sachliche Be- deutung der zweiten Alternative eher unklar. Nimmt man die Bestimmung beim Wort, so können die Mitgliedstaaten auch dann handeln, wenn die Union ihre Zu- ständigkeit zwar ausgeübt hat, zugleich aber die Entscheidung getroffen hat, in Zu- kunft von ihrer Kompetenz keinen Gebrauch mehr zu machen. Es stellt sich aber nicht nur die Frage, ob einer Entscheidung der Europäischen Organe eine derartige Entsperrungswirkung wirklich zukommen kann. Fraglich wäre in diesem Fall auch, in welcher Form und mit welcher Eindeutigkeit eine derartige Entscheidung ergehen müsste.

75 Dies entspricht geltender Rechtslage, bedurfte aber angesichts gewisser Unklarheiten im akademischen Schrifttum der Hervorhebung. 76 So die Rechtslage unter dem geltenden Recht A. Dashwood (oben Fn. 2), 126; A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 2001, Art. 3 b EGV, Rn. 13.

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Rechtsprobleme stellen sich auch insofern, als der Vertrag über eine Verfassung für Europa in den Bereichen „Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt“ bzw. „Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe“ (Art. I-13 Abs. 3 und Art. I-13 Abs. 4 VVE) geteilte Kompetenzen begründet, diese aber festlegt, dass die Ausübung dieser Zuständigkeit die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, ihre Zustän- digkeit auszuüben. Dies lässt sich entweder so verstehen, dass der EU bindende Rechtsetzung in den genannten Bereichen untersagt ist – dann aber handelte es sich nicht um geteilte, sondern um Unterstützungskompetenzen und die Einordnung in Art. I-13 VVE wäre widersprüchlich. Der Wortlaut der genannten Bestimmungen ließe auch die Schlussfolgerung zu, dass die EU zur Rechtsetzung befugt ist, dieses Recht aber für die Mitgliedstaaten keine Bindungswirkung entfaltet. Schon zum Schutze der Wirkmächtigkeit des Sekundärrechts dürfte eine derartige Interpretati- on allerdings nicht wirklich überzeugen. Hier besteht noch Überarbeitungsbedarf. Wo der EU Koordinierungs- und Unterstützungskompetenzen zugewiesen sind, darf sie bindende Rechtsetzung mit dem Ziel der Harmonisierung mitgliedstaatli- cher Rechts- und Verwaltungsvorschriften nicht betreiben (Art. I-11 Abs. 5 VVE). Regelungstechnisch unglücklich ist es, dass sich derartige Koordinierungskompe- tenzen sowohl in Art. I-14 als auch in Art. I-16 des VVE finden. Substantiell liegen auch dort, wo der Verfassungsvertrag der EU Koordinierungs- bzw. Unterstützungs- zuständigkeiten zuweist, geteilte Zuständigkeiten vor. Insofern lassen sich die Koor- dinierung- und Unterstützungszuständigkeiten als Unterfall einer geteilten Zustän- digkeit begreifen. Für die Entwicklung des europäischen Verwaltungsrechts weg- weisend wird der Umstand sein, dass der VVE der EU nunmehr ausdrücklich die Befugnis zur Durchführung von Unterstützungs-, Koordinierungs- oder Ergän- zungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Verwaltungszusammenarbeit zuweist. Dem Vertrag über eine Verfassung für Europa gelingt es bedauerlicherweise nicht, den auf die Rechtsetzungskompetenz bezogenen Typisierungsansatz für alle Mate- rien durchzuhalten. Außerhalb der in Art. I-11 VVE entworfenen Typologie stehen die Befugnisse der EU im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa ordnet diese Kompetenz nicht im Hinblick auf die Rechtsetzungsbefugnisse zu, sondern zieht sie quasi hinter die Klammer: Ohne wei- tere Differenzierung spricht Art. I-15 VVE davon, dass sich „die Zuständigkeit der Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ... auf alle Berei- che der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicher- heit der Union“ erstreckt. Eine Einordnung in die Typologie des Art. I-11 VVE wird nicht versucht. Substantiell muss man im Bereich von Außen- und Sicherheitspolitik von einer geteilten Zuständigkeit sprechen. Man wird davon ausgehen müssen, dass diese im Hinblick auf den Abschluss internationaler Abkommen selbst dann nicht in eine ausschließliche Zuständigkeit umschlägt, wenn einer der Fälle des Art. I-12 Abs. 2 VVE vorliegt: Art. I-15 VVE ist als eine abschließende Sonderregelung an- zusehen, die die Anwendung von Art. I-12 Abs. 2 VVE ausschließt. Die Sonderstel- lung von Art. I-15 VVE ist auf den Umstand zurückzuführen, dass es gegenwärtig für die Mitgliedstaaten politisch schlechterdings ausgeschlossen ist, hinzunehmen,

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dass der EU im Außen- und Sicherheitsbereich ausschließliche Kompetenzen er- wachsen und sie ihren Handlungsbefugnisse verlieren. Die Pflicht zur Beachtung der von der EU erlassenen Maßnahmen bleibt davon natürlich unberührt. Im Übri- gen werden unionales und mitgliedstaatliches Handeln im Bereich des Äußeren über die gegenseitige Loyalitätspflicht (Art. I-5 VE) miteinander abgestimmt. Kritisch ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass im ersten Teil des Vertrages über eine Verfassung für Europa die sog. „Methode der offenen Koordinierung“77 keine Erwähnung findet. Man mag sich hier auf die Position stellen, dass es sich hierbei lediglich um eine besondere Form und Technik der Koordinierung handelt und diese in den allgemeinen Kompetenztypen (geteilte Zuständigkeit und Koordinierungsbe- fugnis) enthalten ist. Gleichwohl hätte es gerade der Transparenz des Vertrages über eine Verfassung für Europas und der Zugänglichkeit des Unionsrechts gedient, wenn diese zunehmend wichtige Form der Zusammenarbeit von Union und Mitgliedstaa- ten eine Erwähnung im Vertrag über eine Verfassung für Europa gefunden hätte. In der Zurückhaltung des Verfassungsvertrags drücken sich politische Auffassungsun- terschiede über den Stellenwert und die Leistungsfähigkeit dieser Koordinierungs- methode aus: Während man teilweise hohe politische und inhaltliche Erwartungen in diese Methode setzt, sehen andere in ihr einen schleichenden Versuch der Union, sich neue Zuständigkeitssphären zu erschließen. Für die Kritiker ist es dabei ohne großes Gewicht, dass diese Koordinationsmethode der EU keine Rechtsetzungsbe- fugnisse verleiht; sie weisen zu Recht darauf hin, dass der faktische Handlungs- druck, der durch die Instrumente der offenen Koordinierung ausgeübt wird, hoch sein kann.

5. Festlegung der Reichweite ausschließlicher Kompetenzen

Von Bedeutung ist ferner, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa die im- mer wieder aufkommenden Streitigkeiten über die Reichweite der ausschließlichen Kompetenzen der EU beenden wird. In der Vergangenheit hatte es insbesondere über die Frage, inwieweit die Kompetenz zur Herstellung des Binnenmarktes eine ausschließliche Kompetenz ist, immer wieder Streit gegeben. Während die Kom- mission beispielsweise mehrfach die Auffassung äußerte, dass es sich bei der Aufga- be, den Binnenmarkt zu verwirklichen, naturgemäß um eine Aufgabe handele, die nur die EU verwirklichen könne (mit der Folge, dass es sich um eine ausschließliche Kompetenz handeln müsse78), machten die Mitgliedstaaten immer deutlich, dass ihnen die Möglichkeit eigener Gestaltung im Bereich des Binnenmarkts so lange erhalten bleibe, wie sie nicht gegen Europarecht verstoßen. Deutlich äußern sich in

77 Hierzu M.W. Bauer/R. Knöll, Die Methode der offenen Koordinierung: Zukunft europäischer Politikgestaltung oder schleichende Zentralisierung?, Aus Politik und Zeitgeschichte 2003, 33; B. Schulte, Die „Methode der offenen Koordinierung“ – Eine neue politische Strategie in der europäischen Sozialpolitik auch für den Bereich des sozialen Schutzes, ZSR 2002, 1. 78 Zur Auffassung der Kommission insb. Agence Europe v. 30.10.1992, Nr. 1804/05. So auch GA Fennelly, Schlussanträge in Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 135–142.

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diesem Streit unterschiedliche Verständnisse des Konzepts der ausschließlichen Kompetenz. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa schließt sich – wie inzwi- schen auch der Europäische Gerichtshof79 – einem Verständnis an, demzufolge es für den Begriff der ausschließlichen Kompetenz nicht darauf ankommt, wer eine bestimmte Aufgabe erledigen kann, sondern darauf, ob eine der EU übertragene Aufgabe nur dann hinreichend erfüllt werden kann, wenn die Mitgliedstaaten unbe- dingt und dauerhaft am Handeln gehindert werden.80 Eine derartige unbedingte Sperrwirkung beansprucht der Vertrag über eine Verfassung für Europa nur in we- nigen Sachbereichen: Die Festlegung „der für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Wettbewerbsregeln“, die Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, die den Euro eingeführt haben, die gemeinsame Handelspolitik, die Zollunion sowie die Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischerei- politik (Art. I-12 Abs. 1 VVE). Sieht man einmal von der – eher überflüssigen – Unionisierung von Teilen der Wettbewerbspolitik ab (hier wären sekundärrechtliche Konkurrenzregeln ebenso wirksam)81, entspricht der Vertrag über eine Verfassung für Europa im Wesentlichen dem bereits geltenden Verständnis des Primärrechts.82 Keine verfassungsunmittelbare Regelung findet die vom EuGH anerkannte unge- schriebene Handlungskompetenz der Mitgliedstaaten als „Sachwalter des gemeinsa- men Interesses“83 – eine allerdings hinnehmbare Lücke. Erstmalig werden in Art. I-12 Abs. 2 VVE dann jene Annexkompetenzen der EU im Außenbereich definiert, die der Europäische Gerichtshof in seiner inzwischen über dreißig Jahre zurückreichenden und durchaus wechselvollen „AETR“-Rechtspre- chung rechtsfortbildend postuliert hat. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa kodifiziert hier allerdings im Wesentlichen die geltende Rechtslage. Um eine Kodi- fizierung handelt es sich insbesondere insoweit, als der EU eine ausschließliche Au- ßenkompetenz dort zugewiesen wird, wo dies notwendig ist, um die interne Zustän- digkeit ausüben zu können. Ebenfalls geht es über das geltende Recht nicht hinaus, wenn Art. 12 Abs. 2 VVE bestimmt: Eine ausschließliche Kompetenz soll der EU dann zustehen, wenn der Abschluss eines mitgliedstaatlichen Abkommens „einen internen Rechtsakt der Union beeinträchtigt“. Diese Formulierung ist allerdings eng auszulegen: Die Mitgliedstaaten sind nur dann und nur insoweit am Handeln gehin- dert, wie das von ihnen in Aussicht genommene internationale Abkommen die Re- gelungswirkungen eines EU-Aktes hinreichend greifbar konterkariert. Inhaltlich

79 EuGH, Rs. C-491/01, British American Tobacco, EuR 2003, 80, Rdnr. 177 ff. 80 So auch – im Hinblick auf Art. 95 EGV: Ph. Manin, Les Communautés européennes l‘Union européenne, 5. Aufl. 1999, Rn. 143; W. Kahl, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 95 EG, Rn. 20 ff. 81 Zu jüngeren sekundärrechtlichen Entwicklung: C.-D. Ehlermann, The modernization of EC antitrust policy: A legal and cultural revolution, CMLRev. 37 (2000), 537. 82 Entgegen der Auffassung der Kommission (Agence Europe v. 30.10.1992, Nr. 1804/05) wird insbesondere die Agrarpolitik nicht als ausschließliche Zuständigkeit der EU behandelt (hierzu J.-C. Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht sie eine?, EuR 2000, 311, 332). 83 Vgl. M. Pechstein, Die Mitgliedstaaten als „Sachwalter des gemeinsamen Interesses“, 1987, 75 ff.; R. Streinz, Europarecht, 5. Auflage 2001, Rn. 131.

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unklar und rechtspolitisch fragwürdig ist schließlich die dritte Teilklausel des Art. I-12 Abs. 2 VVE: Danach soll der EU eine ausschließliche Zuständigkeit auch dann zuwachsen, „wenn der Abschluss eines solchen Übereinkommens in einem Rechts- akt der Union vorgesehen ist“. Diese „Selbstermächtigungsklausel“ nimmt nicht hinreichend in den Blick, dass keinesfalls in allen Fällen, in denen sekundärrechtlich der Abschluss eines internationalen Abkommens vorgesehen wird, ein sofortiger Ausschluss mitgliedstaatlichen Handelns geboten ist. Es ist zudem nicht recht ein- sichtig, warum sekundärrechtliche Programmatik (kompetenzbegründend kann ein Sekundärrechtsakt nicht sein) zu einer Sperre mitgliedstaatlichen Handelns führen soll. Hier wird die Wirkweise von Sekundärrecht im Verhältnis von EU und Mit- gliedstaaten wenig überzeugend überdehnt. Mitgliedstaatliche Schritte, die zu einer Beeinträchtigung des unionalen Vertragsschlussverfahrens führen könnten, lassen sich im Übrigen bereits mit der Loyalitätsklausel (Art. I-5 VVE) unterbinden. Es ist allerdings zuzugestehen, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa sich auch in dieser Formulierung an das Kompetenzverständnis des EuGH anlehnt.84

IV. Normativität der Kompetenzausübungsregeln

Es lässt sich gegenwärtig keine föderal aufgebaute Herrschaftsordnung85 nachwei- sen, in dem die Kompetenzordnung nur ausschließliche Kompetenzen enthält – also eine vollständige und randscharfe Trennung der Befugnisse vorgenommen würde. Konkurrierende oder geteilte Kompetenzen sind der vorherrschende Kompetenzty- pus: Nicht nur deshalb, weil eine diskursive Verständigung der Ebenen über sachan- gemessene Lösungen von keinem Kompetenztypus so sehr begünstigt, ja erzwun- gen wird wie von diesem, sondern auch deshalb, weil er in außergewöhnlicher Weise eine flexible Bewältigung neuartiger Problemlagen ermöglicht.86 Dieser Kompe- tenztypus birgt allerdings auch Herausforderungen und Gefahren – namentlich, dass die Festlegung, wann die obere und wann die untere Ebene zur Regelung berufen sein soll, normativ unbestimmt bleiben und dem politischen Prozess überantwortet werden muss. Im Lichte des Umstandes, dass die übergeordnete Ebene im Bereich geteilter Kompetenzen notwendig den Vorrang hat, sind Landnahmen und Aneig- nungen nur schwer vermeidbar.

1. Der Streit um die Kompetenzausübungsregeln

Es ist für einen Kenner des Verfassungslebens eine Selbstverständlichkeit, dass auch die ausgefeilteste Kompetenzordnung das Walten politischer Kräfte, das Zerren an

84 Dazu die Entscheidungen des EuGH zu den Luftverkehrskompetenzen (z.B. EuGH, Urt. vom 5. Nov. 2002, Rs. C-475/98, Kommission/Österreich, EWS 2002, 591). 85 Zur Vielfalt der Föderalismusformen etwa D. Elazar, Exploring Federalism, 1987; J. H. H. Weiler, Federalism and Constitutionalism. Europe‘s Sonderweg, Harvard Jean Monnet Working Paper 10/00. 86 Die politische Forderung nach Abschichtung exklusiver Kompetenzen (vgl. z.B. J. Fischer (oben Fn. 27), 149) scheint die Kosten der damit einhergehenden Rigidität nicht immer zu berücksichtigen.

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den Kompetenzgrenzen und – gegebenenfalls auch – politisch gewollte Verschie- bungen nicht verhindern kann. Nirgendwo sonst ist die Verfassungsordnung „politi- scher“ – in dem Sinne, dass sie den einverständlich handelnden politischen Kräften Widerstand entgegensetzen konnte. Auch ein Verfassungsgericht wird den politi- schen Kräften in Kompetenzfragen keinen Einhalt gebieten wollen, schon gar nicht, wenn diese Ausdruck einverständlichen Handelns sind. So kann es auch nicht ver- wundern, dass der EuGH der politisch gewollten, von Kommission und Rat voran- getriebenen Ausschöpfung, ja Überdehnung der gemeinschaftlichen Kompetenzord- nung so lange keinen Widerstand entgegensetzte, wie die Mitgliedstaaten aufgrund der Anwendung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat eine Vetostellung hatten. In Kompetenzstreitigkeiten griff der EuGH in diesen Zeiten nur dann ein, wenn es um den Schutz der Grundstrukturen des Integrationsverbunds oder die Wahrung der Kräfteverteilung zwischen den EG-Organen (etwa den Schutz der Beteiligungsrech- te des Parlaments) ging. Dass in dieser Situation die Aufnahme des Subsidiaritäts- prinzips dem Walten der politischen Kräfte Grenzen zu ziehen, es jedenfalls in be- stimmte Richtungen zu lenken vermochte, musste sich schnell als trügerische Hoff- nung herausstellen. Gewiss lässt sich nicht in Zweifel ziehen, dass das Subsidiaritätsprinzip ein begrenzendes Korrektiv ist, mit dem die Kompetenzaus- übung rationalisiert werden kann.87 Unzweifelhaft kann das Prinzip – jedenfalls in der Fassung, die ihm Art. 5 EGV verliehen hat88 – ohne Verständigung auf die ihm zugrundeliegenden Zielvorstellungen im Spannungsverhältnis von europäischer Rechtseinheit und Wettbewerb der Systeme und Rechtsordnungen keine substantiel- len Grenzen ziehen.89 Eine derartige Verständigung gelingt aber nicht, ja wird noch nicht einmal politisch versucht. Schon gar nicht sind die entsprechenden Prinzipien heute bereits in eine gemeineuropäische Verfassungstheorie eingeschrieben.90 Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass der europäische Gerichtshof in der Anwendung dieses Prinzips erhebliche Zurückhaltung zeigt.91 Ebensowenig überrascht es, dass es den Kritikern des unzweifelhaft weiterhin existierienden „Kompetenzdrangs nach oben“ schwer fällt, eine Verletzung des Subsidiaritätsprin- zips nachzuweisen.92 Dies als Ausdruck einer erfolgreichen Innovation des Europa- rechts zu bezeichnen,93 fällt allerdings schwer. Der Kommission eine jährliche Re-

87 Hierzu R. von Borries, Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union, EuR 1994, 268; H. Leche- ler, Das Subsidiaritätsprinzip, 1993. 88 Versuche, eine schärfere Fassung zu entwickeln, beispielsweise bei Fischer/Schley (oben Fn. 4), 18 ff. 89 Formulierungsvorschläge für eine abgrenzungsschärfere Fassung bei I. Boeck (oben Fn. 4), 174–176. 90 Zur Idee gemeineuropäischer Rechtsgehalte vor allem: P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, 261; ders., Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), L‘espace constitutionnel européen. Der europäische Verfassungsraum. The European constitutional area, 1995, 361; M. Heintzen, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht in der Europäischen Union, EuR 1997, 1. 91 Siehe EuGH, Rs. C-84/94, Großbritannien/Rat, Slg. 1996, I-5755; Rs. C-233/94, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 1997, I-2405; Rs. C-36 u. 37/97, Kellingusen, Slg. 1998, I-6337. 92 Anschaulich der Subsidiaritätsbericht der Bundesregierung vom 18. 8. 2000, BT-Drs. 14/4017; zur Problematik auch R. v. Borries, Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft: Der Jahresbericht 2000 der Europäischen Kommission, Zeitschrift für Gesetzgebung (ZG) 2001, 79 ff. 93 So von Bogdandy/Bast (oben Fn. 7), 456.

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chenschaftspflicht aufzuerlegen,94 bringt in dieser Situation wenig. Nur wenige Jahre nach Einführung des Prinzips setzte eine Diskussion darum ein, wie ihm nun- mehr Schärfe und Biss verliehen werden könnten. Die wohl überwiegende Zahl der Diskutanten sah eine Lösung in institutionellen Vorkehrungen.95 Mangel gab es an derartigen Vorschlägen nicht; die Zahl der Änderungsvorschläge, die in den letzten Jahren gemacht wurden, ist kaum zu überschauen.96 Sie reichen von der Schaffung von Kompetenz- oder Subsidiaritätsgerichten über die Einrich- tung politischer Kompetenzüberwachungsgremien (insbesondere Subsidiaritätsaus- schüsse97 unter Einbeziehung der nationalen Parlamentsabgeordneten98) und die Einsetzung eines Ombudsmanns oder eines europäischen Kompetenzbeauftragten99 bis hin zur Aufwertung des Ausschusses der Regionen zu einer in Kompetenzfragen mitentscheidungsberechtigten dritten Kammer.100 Nachdenklichere Beobachter wie- sen allerdings schon immer darauf hin, dass viele Lösungsvorschläge einen hohen Preis mit sich brächten – sei es, weil die zur Diskussion gestellten institutionellen Weiterungen zu erheblichen Beeinträchtigungen der Effizienz und Entscheidungsfä- higkeit der EU führen würden, sei es, weil die Zuordnung von Entscheidungsverant- wortung und die Einforderung von politischer Verantwortlichkeit weiter erschwert würde, sei es, dass die vorgeschlagenen Lösungen in einseitiger Weise die Entschei- dungszuständigkeit in Kompetenzkonflikten in die Hände mitgliedstaatlicher Orga- ne legten. Nicht immer wurde hinreichend berücksichtigt, dass sich auch in mit- gliedstaatlich besetzten Kontrollgremien eine „Europäisierung“ der Sichtweise der Mitglieder einstellen kann. Und manche Kritiker übersahen, dass europäische und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit aufgrund je unterschiedlicher Prüfungsmaß- stäbe und Verfassungsverantwortlichkeiten in einer Situation des latenten Antago- nismus stehen, der gerade auch in Kompetenzfragen einen erheblichen Rationalisie- rungseffekt hat.

2. Substantielle Abgrenzung und diskursive Rationalität

Die politische Wahrscheinlichkeit, dass der Konvent die im Vorfeld formulierten institutionellen Änderungsvorschläge aufnehmen und das institutionelle Gefüge der EU einer in ihrer Tragweite schwer abschätzbaren Herausforderung aussetzen wür- de, war gering. Dies lag nicht zuletzt daran, dass sich die Machtverschiebungen, die durch Kompetenzaneignungen der EU auftreten, weniger zu Lasten der mitglied- staatlichen Gubernativen, hauptsächlich aber zu Lasten der mitgliedstaatlichen Par-

94 Nr. 9 letzter Spiegelstrich des Subsidaritätsprotokolls. 95 Guter Überblick bei: Chr. Koenig/R. A. Lorz, Stärkung des Subsidiaritätsprinzips, JZ 2003, 167. 96 F. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 330 ff.; F. Mayer (oben Fn. 1), 592 ff. 97 Hierzu ausführlich Chr. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl. 1999, 287 ff.; Pernice (oben Fn. 7), 876. 98 Pernice (oben Fn. 7), 876; L. Siedentop, Democracy in Europe, 2000, 147; J. Schwarze (oben Fn. 7), 1268 f. 99 So F. C. Mayer (oben Fn. 1), 601 ff. 100 Hierzu I. Boeck (oben Fn. 4), 188.

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lamente und – soweit es sich um einen föderal strukturierten Mitgliedstaat handelt – eingegliederten Verbände auswirkt. Die Konventsberatungen belegten die alte These, dass es diesen Institutionen nicht gelingen würde, ihre Interessen auch gegen den Willen der nationalen Regierungen durchzusetzen. Es ist denn auch wie erwar- tet gekommen. Die Normativität der Kompetenzabgrenzung konnte auch in substan- tieller Hinsicht nicht gesteigert werden. Zwar versucht der Konvent teilweise, die rechtliche Verantwortlichkeit der EU gegenüber den Mitgliedstaaten bei der Kompe- tenzausübung stärker zu akzentuieren. So findet sich in Art. I-5 Abs. 1 VVE inso- fern eine Verschärfung, als es nunmehr heißt: „Die Union achtet die nationale Iden- tität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegender politischer und verfassungs- rechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbe- sondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.“ Damit nimmt der Ver- trag über eine Verfassung für Europa einen Vorschlag Ingolf Pernices, Art. 6 Abs. 3 EUV zur Garantie „föderaler Grundrechte“ fortzuentwickeln, auf.101 In der Sache liegt darin eine wichtige Konkretisierung des allgemeinen Prinzips der Unions- treue.102 Sieht man von der Betonung dieser letzten Grenzziehungen ab (sie macht deutlich, wie tiefgreifend sich inzwischen die Rollen von EU und Mitgliedstaat in kompetentieller Hinsicht geändert haben), verzichtet der Konventsentwurf darauf, sich um eine substantielle Schärfung der Kompetenzausübungsregeln zu bemühen: Auf dem mit der Einführung des Subsidiaritätsprinzips eingeschlagenen Weg scheint die EU an einem natürlichen Endpunkt maximaler normativer Schärfe ange- kommen zu sein. Es steht außer Zweifel, dass die Bemühungen um Schärfung und Präzisierung der Kompetenzbestimmungen des Unionsrechts schnell auf natürliche, in den Eigenar- ten der Sprache und in der Natur der Sache liegenden Grenzen stoßen. Jenseits der gesicherten Grenzen des Verfassungsrechts muss Kompetenzabgrenzung deshalb in erster Linie und vor allem als diskursiver Prozess verstanden werden, in dem es um die Vermittlung und den Ausgleich der supranationalen mit den nationalen, vor al- lem aber den Interessen unterstaatlicher Einheiten geht. Kompetenzabgrenzung be- deutet insofern Rationalisierung des Diskurses über derartige Interessen. Es überrascht nicht, dass sich der Konventsentwurf dieses Ziels zunächst dadurch annimmt, dass er die betroffenen Akteuren zur Darlegung ihrer Gründe anhält und so zur Selbstkontrolle verpflichtet. Gewiss, schon nach geltendem Unionsrecht ha- ben die rechtsetzenden Organe der EU die Pflicht zur Begründung der erlassenen Rechtsakte. Jedem Kenner des Europarechts ist allerdings wohlbekannt, dass sich die Unionsorgane dieser Pflicht meist eher lustlos annehmen und die Begründung der Rechtsakte häufig zwischen einer bloßen Paraphrasierung der substantiellen Be-

101 Pernice (oben Fn. 7), 875. Zur Erwähnung der Regionen schon Clement (oben Fn. 50), Rn. 23. Vgl. auch T. Würtenberger, Auf dem Weg zu lokaler und regionaler Autonomie in Europa, Festschrift H. Maurer, 2001, 1053. 102 P. Unruh, Die Unionstreue – Anmerkungen zu einem Rechtsgrundsatz der Europäischen Union EuR 2002, 41.

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stimmungen und der Feststellung wenig weiterführender Trivialitäten besteht.103 Manches spricht für die Annahme, dass dies unumgänglich und unvermeidlich ist – der Gesetzgeber spricht durch sein Gesetz, muss es aber nicht erklären. Ungeachtet dieser Zweifel an der rationalisierenden und begrenzenden Wirkung von Begrün- dungserfordernissen geht der Vertrag über eine Verfassung für Europa den einmal eingeschlagenen Weg weiter und verschärft die Begründungsanforderungen: Das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismä- ßigkeit verpflichtet die Kommission nunmehr ausdrücklich, ihre Vorschläge im Hinblick auf diese Grundsätze zu begründen. Die Kommission wird angehalten, ein besonderes Formular zu verwenden, auf dem sie „detaillierte Angaben“ über die Wirkungen der Maßnahme – insbesondere auch in finanzieller Hinsicht und im Hinblick auf die Wirkungen für die von den Mitgliedstaaten und ihren regionalen Untergliederungen – macht. Dass eine Maßnahme der Union ein Ziel besser als Maßnahmen der Mitgliedstaaten erreichen kann, muss unter Bezug auf qualitative – und soweit möglich, auch quantitative – Kriterien begründet werden.104 Es bleibt eine gewisse Skepsis, ob diese Begründungsanforderungen die Unionsorgane in ei- nen Prozess diskursiver Selbstverständigung zwingen, der in eine Änderung der politischen Praxis münden wird. Immerhin wird insofern nichts verlangt, was nicht eh schon Selbstverpflichtung eines vernünftigen Gesetzgebers wäre.

3. Der Frühwarnmechanismus

Die echte Neuerung des „Frühwarnmechanismus“ liegt darin, dass den nationalen Parlamenten bzw. deren Kammern das Recht gegeben wird, im Prozess der europä- ischen Gesetzgebung unter Subsidiaritätsgesichtspunkten begründete Gegenvorstel- lungen äußern zu können. Dem Grundprinzip zufolge (Nr. 5 des Subsidiaritätspro- tokolls) können nationale Parlamente eines Mitgliedsstaats bzw. Kammern eines nationalen Parlaments binnen sechs Wochen nach dem Zeitpunkt der Übermittlung eines Gesetzgebungsvorschlags der Kommission in einer begründeten Stellungnah- me darlegen, dass der Vorschlag mit dem Subsidiaritätsprinzip nicht vereinbar ist. Bei der Formulierung ihrer Stellungnahme haben die nationalen Organe ggf. die regionalen Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnis zu konsultieren – sie agieren in- soweit als Anwälte der Belange der Gesetzgebungsorgane mitgliedstaatlicher Glie- der. Ein europarechtlicher Anspruch darauf, dass das nationale Parlament in seiner Gegenvorstellung eine bestimmte Position vertritt, können die Parlamente der Glie- der Nr. 5 des Subsidiaritätsprotokolls allerdings nicht entnehmen. Die Stellung iso- liert auftretender nationaler Parlamente bzw. deren Kammern ist allerdings schwach: Das Subsidiaritätsprotokoll sieht lediglich vor, dass die Gesetzgebungsorgane der

103 Der Grad richterlicher Kontrolle ist gering: EuGH, Rs. C-233/94, Deutschland/Rat und Parlament (Einlagensi- cherungssysteme), Slg. 1997, I-2405, Rn. 22–28. 104 Die Kommission berücksichtigt dabei, dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der Union, der Regierungen der Mitgliedstaaten, der regionalen und lokalen Behörden, der Wirtschaft und der Bürgerin- nen und Bürger so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem ange- strebten Ziel stehen müssen.

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EU verpflichtet werden, die begründeten Gegenvorstellungen der nationalen Parla- mente bzw. deren Kammern „zu berücksichtigen“. Das Bild ändert sich, wenn der Subsidiaritätsvorstoß von einer hinreichend großen Gruppe nationaler Parlamenten vorgetragen wird. Das Subsidiaritätsprotokoll definiert die Schwelle bei einem Drit- tel der mitgliedstaatlichen Parlamente. Um den Unterschied zwischen Mitgliedstaa- ten mit Einkammersystem und solchen mit Zweikammersystem nicht durchschlagen zu lassen, teilt das Protokoll jedem Mitgliedstaat zwei Stimmen zu, die bei einem Zweikammersystem aufgeteilt werden. Legt eine Gruppe mitgliedstaatlicher parla- mentarischer Organe, die mindestens ein Drittel der Gesamtzahl der – gegenwärtig 30 – Stimmen repräsentiert, eine begründete Subsidiaritätsgegenvorstellung vor, ist die Kommission zu einer Überprüfung ihres Vorschlags verpflichtet – mit der Fol- ge, dass sie über ihn erneut beschließen muss. Sie ist dabei verpflichtet, ihre Position zu begründen. Nationale Parlamente und Kommission werden so in einen diskursi- ven Prozess der Verständigung über die Zuordnung von Aufgaben in Europa einge- spannt, dessen rationalisierende Wirkung im Prozess der Machtverlagerung „nach oben“ durchaus bremsende Wirkung haben kann. Bewähren wird sich dieser Me- chanismus allerdings nur, wenn die mitgliedstaatlichen Parlamente (bzw. Kammern) auch wirklich willens sind, die Arbeit der EU-Organe kritisch zu verfolgen und ge- gebenenfalls einzuschreiten. Effektiv wird dies nur dann möglich sein, wenn sich die nationalen Parlamente dieser Herausforderung organisatorisch anpassen – insbe- sondere sind Querverbindungen auf Arbeitsebene zu etablieren – und über allge- meingültige materielle Maßstäbe verständigen. Die bislang eher wahllos vorgetrage- ne, einen inneren normativen Zusammenhang nicht zu erkennen gebende Subsidia- ritätskritik wird ein Umdenken der EU-Organe nicht bewirken können.

V. Grad der Materialisierung der Kompetenzbestimmungen

Bislang findet in der verfassungstheoretischen Diskussion eine vierte Dimension jeder Kompetenzordnung wenig Aufmerksamkeit: der Grad der materiellen Deter- miniertheit der Kompetenzen. Hier scheint die EU – so die Beschreibung – eine auffällige Wende zu vollziehen. Nachdem sie sich in den neunziger Jahren zum po- litisch handelnden Verband entwickelt hat, der nicht nur eine vorgeschriebene Tele- ologie in Recht und Praxis umsetzt, sondern genuin politisch agiert, scheint sie sich nunmehr zu einem Verband zu entwickeln, der die das Handeln anleitende Moral in weiten Teilen bereits verfassungsrechtlich vorgibt. Insbesondere mit Blick auf die einleitenden Bestimmungen des Teils III fällt auf, dass die der EU überantworteten Kompetenzen in einem sich verstärkenden Prozess materiell so stark eingebunden werden, wie dies in staatlichen Verfassungen jedenfalls bislang selten zu beobachten ist. So verpflichtet beispielsweise Art. III-2a VVE die Organe der EU dazu, „den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungs- niveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämp- fung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung“ zu tragen; Diskrimi-

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nierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung hat die EU ebenfalls zu bekämpfen (Art. III-3 VVE). In Art. III-2 VVE wird als Ziel die Beseitigung von Ungleichheiten zwischen Mann und Frau verfolgt. Weitere Beispiele ließen sich nennen. Einen Schritt weiter gehen ausdrückliche Rechtsetzungskompetenzen zur Durchsetzung von Diskriminierungsverboten: Das in Artikel I-4 Absatz 2 VVE verankerte Verbot von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit kann durch Europäische Gesetze oder Rahmengesetze gere- gelt werden (Art. III-7 VVE), und Art. III-8 VVE sieht – in Übereinstimmung mit Art. 13 EG-Vertrag – Rechtsetzungskompetenzen zur Bekämpfung sonstiger Dis- kriminierungen vor. Will man die derartigen Bestimmungen nicht nur als „Vertragskosmetik“ abtun, mit denen die Vertragsgeber um Anerkennung und Zustimmung seitens der Unionsbür- ger werben, so erscheinen sie kompetenztheoretisch nicht gänzlich unproblematisch: Immerhin wird durch die damit einhergehende Moralisierung der Kompetenzord- nung die Freiheit politisch-verantwortlicher Entscheidung beeinträchtigt. Gewichti- ger ist noch, dass sie geradezu als Einladung zu Kompetenzausgriffen gelesen wer- den können. Nicht ohne Bedeutung dürften diese Bestimmungen auch für das Ver- hältnis von politischem Gesetzgeber und kontrollierendem EuGH bleiben. Eine vertiefte Diskussion um die Chancen und Risiken, die sich mit dieser Moralisierung der EU-Verfassung verbinden, steht allerdings noch aus. Mehr als ein Merkposten kann auch hier nicht eingeschlagen werden.

VI. Grad der Judifizierung der Überprüfung und Kontrolle der Kompetenzausübung

1. Der Vorwurf mangelnder richterlicher Kontrolle

Für die Charakterisierung und das Verständnis einer Kompetenzordnung kommt es schließlich auch darauf an, wie Politik und Recht im Falle eines Streits über die Rechtmäßigkeit der Wahrnehmung von Kompetenzen zusammenspielen. Das EU- Recht lässt zwar dem politischen Prozess in der Kontrolle der Kompetenzausübung den Vortritt – es sind die im Rat auftretenden Vertreter der Mitgliedstaaten, die eine Kontrolle der Kompetenzmäßigkeit von EU-Akten vorzunehmen haben. Dies gehört zu ihren Amtspflichten. Als quasi zweite Verteidigungslinie sieht das EU-Recht ei- ne umfassende Kontrollbefugnis des EuGH vor, die nach Maßgabe des Art. 230 EGV eingefordert werden kann. Theoretisch ist damit die Juridifizierung der Kom- petenzkontrolle hoch – praktisch allerdings nimmt der EuGH seine Kontrollaufgabe nur zurückhaltend wahr: Jedenfalls bis in die jüngste Zeit galt seine Aufmerksam- keit mehr dem Schutz der horizontalen Funktionsordnung in der EU105 und der Si-

105 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 281, 283–285, 287/85, Deutschland u.a./Kommission (Wanderungspolitik), Slg. 1987, 3203.

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cherung des institutionellen Gesamtsystems106 als der Abgrenzung der Zuständig- keiten im vertikalen Verhältnis. Gewiss lassen sich eine Vielzahl von Entscheidun- gen des EuGH aufzählen, in denen der EuGH Maßnahmen der EU aus Kompetenzgründen für nichtig erklärt hat – vor allem, weil nicht die richtige Rechtsgrundlage gewählt wurde.107 Die Zahl der Fälle, in denen der EuGH eine Ent- scheidung mangels Verbandskompetenz aufgehoben hat,108 ist aber klein.109 So kann es nicht verwundern, dass der Eindruck entstehen konnte, dass die europäische Ge- richtsbarkeit nicht willens sei, die die Einhaltung der Kompetenzordnung bei der Überprüfung von Sekundärrechtsakten hinreichend wirksam zu überwachen110 – ein Vorwurf, der deshalb unberechtigt ist, weil es in einem föderalen System wie jenem der EU nicht Aufgabe einer Gerichtsbarkeit sein kann, in den politischen Ent- scheidungsprozess konsensual handelnder Mitgliedstaaten unter kompetenziellen Gesichtspunkten111 einzugreifen.112 Erst mit dem Übergang zum Mehrheitsprinzip rückte der EuGH in die Funktion eines echten Schiedsrichters zwischen politischen Kräften ein. Es kann aber verwundern, dass er diese Rolle schon mangels hinrei- chend verrechtlichtem Maßstab nur mühsam spielen konnte.113 In der Entscheidung des EuGH in Sachen Tabaketikettierungsrichtlinie114 spiegelt sich heute aber wieder, dass sich die verfassungstheoretische Rolle des EuGH mit dem Übergang zum Mehrheitsprinzip erheblich wandelt: Der EuGH muss sich auch als föderales Ver- fassungsgericht begreifen.115 Dies setzt die Juridifizierung politischer Machtkon- flikte116 voraus.117

106 EuGH, Gutachten 2/94, EMRK, Slg. 1996, I-1763, Rn. 10 ff. 107 Vgl. etwa EuGH, Rs.294/83, Les Verts/EP, Slg.1986, 1339; EuGH, verb.Rs.281, 283 bis 285 und 187/85, Deutschland/Kommission, Slg.1987, 3203; EuGH, Gutachten 2/94, EMRK, Slg.1996, I-1759. Siehe ausführlich N. Colneric, Der Gerichtshof der EG als Kompetenzgericht, EuZW 2002, 709. 108 Hierzu etwa Colneric (oben Fn. 107), 711 f. 109 K. Boskovits, Le juge communautaire et l’articulation des compétences normatives entre la Communauté euro- péenne et ses Etats membres, 1999. 110 Deutliche Kritik etwa bei: R. Scholz, Europäisches Gemeinschaftsrecht und innerstaatlicher Verfassungsrecht sschutz,in: K. H. Friauf/R. Scholz (Hrsg.), Europarecht und Grundgesetz, 1990, 97; P. M. Huber, Bundesverfas- sungsgericht und Europäischer Gerichtshof als Hüter der Gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung, AöR 116 (1991), 211 (213); T. v. Danwitz, Zur Entwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, JZ 1994, 335 (340). 111 Etwas anderes gilt natürlich für grundrechtliche Eingriffe zum Schutz der Einzelnen. 112 Hierzu M. Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt, 1998; H. G. Fischer, Die Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft im Lichte der Rechtsprechung des Europäi- schen Gerichtshofs, ZG 2000, 165. 113 Die Bewertung der Rolle des EuGH fällt im rechtswissenschaftlichen Diskurs sehr unterschiedlich aus: Teil- weise ist man (unter Hinweis auf die Entscheidung zum Tabakwerbeverbot) der Auffassung, der EuGH habe sich als unabhängiges Kompetenzgericht so gut bewährt, dass institutionelle Reformen untunlich seien (von Bogdandy/Bast (oben Fn. 4), 454); andere halten den EuGH aus strukturellen oder politischen Gründen für ungeeignet, die Rolle des letztentscheidenden Organs in vertikalen Kompetenzkonflikten unabhängig zu spie- len (z.B. J. Weiler, The European Union Belongs to its Citizens: Three Immodest Proposals, ELRev. 22 (1987), 150 (155)). 114 EuGH, Rs. C-376/98, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419; vgl. auch EuGH, Gutachten 1/94, WTO, Slg. 1994, I-5267, Rn. 9. 115 Rodríguez Iglesias (oben Fn. 54), 126 f. 116 Zur Natur von Kompetenzkonflikten: M. Nettesheim, Horizontale Kompetenzkonflikte im Gemeinschafts- recht, EuR 1993, 246. 117 Die Chancen skeptisch beurteilend: J. H. H. Weiler (oben Fn. 113), 155.

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Noch hat der EuGH allerdings kaum Gelegenheit gehabt, sich in der neuen Funktion zu bewähren.118 Schon gar nicht sind jene metatheoretischen Maßstäbe und Stan- dards, mit denen sich das Spannungsverhältnis von Einheit und Vielheit juridisch rational und allgemein auflösen ließe, erkennbar.119 Eine Bewährungsprobe in ei- nem politisch einschneidenden existenziellen Konflikt120 steht noch aus. Im Kon- vent bestand allerdings weitgehende Einigkeit, dass hier kein Misstrauen gegenüber dem EuGH angezeigt ist. Zu Recht wurde dann auch darauf verzichtet, institutionel- le Änderungen vorzunehmen, mit denen die Kompetenzausübung (vermeintlich oder tatsächlich) besser überwacht werden könnte.121 Ihr Preis wäre zu hoch, die Erfolgsaussichten zu gering gewesen.122

2. Die Subsidiaritätsbeschwerde des Vertrag über eine Verfassung für Europa

Wenn auch der Konventsentwurf keine institutionellen Änderungen vorsieht, zielt er doch auf eine Akzentuierung der Rolle des EuGH als föderales Verfassungsgericht ab. In ersten Reaktionen wird dem Umstand, dass das Subsidiaritätsprotokoll nun- mehr auch eine nachlaufende richterliche Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips vor- sieht, zu Recht besondere Bedeutung beigemessen. Lediglich deklaratorische Be- deutung hat es allerdings, wenn Nr. 7 des Protokolls einem Mitgliedstaat „nach den Modalitäten des Artikels III-270 VVE“ das Klagerecht gegen einen Gesetzgebungs- akt verleiht – dieses Recht hat ein Mitgliedstaat als privilegierter Kläger schon bis- her. Über die bisherige Klagebefugnis hinaus geht das Protokoll insofern, als es nunmehr nationale Parlamente bzw. die Kammern nationaler Parlamente die An- tragsberechtigung im Verfahren nach Art. III-270 VVE (bislang Art. 230 EGV) verleiht.123 Dies ist deshalb bemerkenswert, weil damit erstmals mitgliedstaatliche Verfassungsorgane Rechtsschutz verlangen können. Gewiss, schon immer konnten rechtsfähige Glieder eines Mitgliedstaats (als nicht-privilegierte Kläger) dann Rechtsschutz verlangen, wenn sie Adressat von Maßnahmen der EU oder von diesen

118 Vgl. jüngst EuGH, Rs.C-377/98 (Niederlande/Parlament u. Rat, Slg. 2001, I-7079. Zur neueren Rechtsprechung des BVerfG: Chr. Calliess, Kontrolle zentraler Kompetenzausübung in Deutschland und Europa, EuGRZ 2003, 181. 119 Zur Verfassungslage unter der „necessary and proper-clause“ in den U.S.A.: L. Tribe, American Constitutional Law. Volume One, 3. Aufl. 2000, S.798. 120 Dies gilt insbesondere für den Fall, dass das BVerfG in Anwendung des Art. 23 EGV die Unanwendbarkeit eines EU-Aktes feststellt. Zur Rolle des BVerfG zuletzt etwa J. Limbach, Die Kooperation der Gerichte in der zukünftigen europäischen Grundrechtsarchitektur, EuGRZ 2000, 417; R. Nickel, Zur Zukunft des Bundesver- fassungsgerichts im Zeitalter der Europäisierung, JZ 2001, 625. 121 Derartige Forderungen etwa bei Broß, Bundesverfassungsgericht – Europäischer Gerichtshof – Europäischer Gerichtshof für Kompetenzkonflikte, VerwaltungsArchiv 2001, 425 ff.; Clement (oben Fn. 50), Rn. 29; U. Goll/M. Kenntner, Brauchen wir ein Europäisches Kompetenzgericht?, EuZW 2002, 101. 122 So auch N. Colneric (oben Fn. 107), 709; U. Everling, Quis custodiet costodes ipsos?, EuZW 2002, 357. Zur Problematik schon früh: F. Schockweiler, Zur Kontrolle der Zuständigkeitsgrenzen der Gemeinschaft, EuR 1996, 123. 123 Allgemein etwa: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, 2. Aufl. 2003.

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unmittelbar und individuell betroffen waren. Der Organstreit zwischen einem mit- gliedstaatlichen Organ und Organen der EU war allerdings nicht vorgesehen. Das Subsidiaritätsprotokoll orientiert sich nunmehr an jener Situation, die im Streit zwi- schen EU-Organen schon immer besteht: So war der Kommission eine Klage gegen den Rat immer schon möglich. Aus verfassungstheoretischer Perspektive macht der Regelungsansatz des Subsidiaritätsprotokolls vor allem deutlich, wie weit die Föde- ralisierung des Integrationsverbunds vorangeschritten ist: Die ehedem weitgehend impermeable Grenzziehung zwischen dem innerstaatlichen politischen Prozess und dem transnationalen Auftreten (durch die hierzu berufenen gubernativen Organe) wird ein weiteres Mal überwunden. Reminiszenzen an die überkommene Sichtweise finden sich im Subsidiaritätsprotokoll allerdings noch insofern, als es ein Mitglied- staat sein muss, der die Klage „im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments“ übermittelt. Die Prozessführungsbefugnis liegt damit weiterhin in den Händen der nationalen Regierungen. In der Folge dieser Regelung zeichnen sich eine Reihe von Rechtsproblemen ab. Zwei seien hier herausgegriffen. Zunächst: Das Subsidiaritätsprotokoll konkretisiert die Begriffe „nationales Parlament“ bzw. „Kammer des nationalen Parlaments“ nicht. Dem Systemkontext lässt sich allerdings entnehmen, dass es sich um nationa- le Verfassungsorgane handeln muss, die im Gesetzgebungsverfahren entscheidend mitwirken: Immerhin thematisiert das Subsidiaritätsprotokoll das Macht- und Kräf- teverhältnis im Gesetzgebungsbereich. Nicht jedes in den Gesetzgebungsprozess eingeschaltete Organ lässt sich allerdings unter diesen Begriff fassen: Es muss sich, wie schon der Wortlaut nahegelegt, um deliberativ beratende Gremien handeln. Ein Organ wie der deutsche Bundespräsident wird durch Nr. 7 des Subsidiaritätsproto- kolls nicht berechtigt, selbst wenn er nach Art. 81 GG am Gesetzgebungsprozess beteiligt und ein beschränktes materielles Prüfungsrecht hat. Nicht in Zweifel ziehen lässt sich, dass der Bundesrat als „Kammer“ eines nationalen Parlaments im Sinne des Subsidiaritätsprotokolls anzusehen ist: Wenngleich der Bundesrat sich nicht aus direkt vom Volk gewählten Mitgliedern zusammensetzt, handelt es sich um ein ge- setzgebendes Deliberativorgan und Teil der vom Grundgesetz eingesetzten Legis- lative. Neben dem Bundestag kann damit auch der Bundesrat ein Verfahren nach Nr. 7 des Protokolls anstrengen. Klärungsbedarf besteht zudem im Hinblick auf die Rechtsbeziehungen zwischen dem durch das Subsidiaritätsprotokoll begünstigten nationalen Parlament und der nationalen Regierungen. Hierbei handelt es sich um Rechtsbeziehungen, die inhalt- lich durch nationales Recht ausgekleidet werden. Hat das nationale Parlament – bzw. eine seiner Kammern – einen Rechtsanspruch darauf, dass „der Mitgliedstaat“ – d.h. konkret die Regierung des Gesamtverbands – eine Klage „übermittelt“? In der Ord- nung des Grundgesetzes wird man diese Frage bejahen und einen derartigen An- spruch der gegenseitigen Loyalitätspflicht (Bundestreue) entnehmen können. Es ist Ausdruck dieser Pflicht, dass sich die Bundesregierung selbst dann, wenn sie selbst einen Gesetzgebungsakt der EU für kompetenzgemäß erachtet, der Subsidiaritäts- zweifel der gesetzgebenden Organe annimmt und die Geltendmachung unterstützt.

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Dieses Rechtsverständnis lässt sich insofern durch eine unionsrechtskonforme Inter- pretation untermauern, als Nr. 7 des Subsidiaritätsprotokolls ausdrücklich von einer bloßen „Übermittlerrolle“ der außenvertretenden Organe des Mitgliedstaats spricht. Auch wenn das Protokoll die Ausgestaltung der Übermittlung der Klage grundsätz- lich der „innerstaatlichen Rechtsordnung“ überlässt, darf das nationale Recht nicht so interpretiert werden, dass es den kompetenziellen Schutz leerlaufen lässt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang schließlich auch darauf, dass das Subsi- diaritätsprotokoll die Antragsbefugnis eines Parlaments oder einer Kammer nicht dahingehend beschränkt, dass nur ein unionaler Über- oder Eingriff in eigene Kom- petenzen geltend gemacht werden darf. Bundestag und Bundesrat dürfen eine Ver- letzung des Subsidiaritätsprinzips auch dann geltend machen, wenn diese sich auf- grund der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung zu Lasten der Länder auswirkt. Die Subsidiaritätsklage darf nicht dahingehend verstanden werden, dass nur die Möglichkeit der Beeinträchtigung eigener Kompetenzen gerügt werden dürfte. Welche praktische Bedeutung die Subsidiaritätsklage einmal haben wird, lässt sich gegenwärtig nur schwer abschätzen. Die Erfahrungen im nationalen Kontext stim- men skeptisch: So hat die seit 1994 geltende Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG, noch dazu abgesichert durch eine besondere verfassungsgerichtliche Beschwerde- möglichkeit, in der bundesdeutschen Ordnung bislang nicht wirklich eine Rich- tungsänderung bewirkt. Dies gilt es ungeachtet des Umstandes festzuhalten, dass das BVerfG jüngst zu erkennen gegeben hat, dass es zukünftig einen schärferen Blick auf die Erforderlichkeit bundeseinheitlicher Regelung werfen werde.124 Auch wenn das BVerfG nunmehr in der Altenpflegeentscheidung zu erkennen gegeben hat, dass es diese Verfassungsbestimmung als vollständig justiziabel ansieht, bleibt doch unklar, welche substantiellen Maßstäbe das BVerfG anlegen wird. Im Lichte des überkommenen und tief verwurzelten Selbstverständnis der europäischen Ge- richtsbarkeit besteht für die Erwartung, dass das Subsidiaritätsprinzip nunmehr nach Einführung einer besonderen Klagebefugnis zur Grundlage einer aktivisti- schen oder auch nur deutlich bremsenden Rechtsprechung gemacht würde, kein An- lass. Vielmehr steht zu erwarten, dass der EuGH sich primär auf die Überwachung der prozeduralen Richtigkeit sowie auf die Erfüllung des Begründungsanfordernis- ses konzentrieren wird. Dies spricht dafür, dass das Klageverfahren seine Bedeu- tung eher als latente Mahnung im Hintergrund des diskursiv angelegten Frühwarn- systems denn als Mittel zur Nichtigerklärung von einmal ergangenen Rechtsakten gewinnen wird. Für die mitgliedstaatlichen Parlamente bedeutet dies, dass sie die Entwicklung im Vertrauen auf ihre Klagemöglichkeit nicht treiben lassen dürfen.

124 BVerfG, Urt. vom 24.10.2002, EuGRZ 2002, 631; hierzu H. Jochum, Richtungsweisende Entscheidung des BVerfG zur legislativen Kompetenzordnung des Grundgesetzes, NJW 2003, 28; K. Faßbender, Eine Absichts- erklärung aus Karlsruhe zur legislativen Kompetenzverteilung im Bundesstaat, JZ 2003, 332; Chr. Calliess (oben Fn. 32), 181.

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VII. Kompetenz, Legitimität und staatstheoretische Qualität der EU

In der Kompetenzordnung eines Herrschaftsverbands spiegelt sich immer auch seine staatstheoretische Qualität: So sehr sich in der Kompetenzordnung eines Staats die grundsätzlich allumfassende Zuständigkeit („Kompetenz-Kompetenz“), seine Ver- antwortlichkeit für das Wohl der seiner Herrschaftsgewalt unterworfenen Menschen (Gemeinwohl) und sein Letztentscheidungsanspruch im Konfliktfall ausdrückt, so sehr kommt in der Kompetenzordnung herkömmlicher internationaler Organisatio- nen ihr funktionaler Charakter als bloßes Instrument mitgliedstaatlicher Kooperati- on zum Ausdruck.125 Nach Art. III-1 VVE findet der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (so die verwendete Formulierung) weiterhin Geltung. Wird der Vertrag über eine Verfassung für Europa vor diesem Hintergrund eine Neu- oder Umorientierung der EU bewirken?126 Immerhin zielt der Entwurf auf Umwandlung der EU in einen formell verfaßten Hoheitsträger ab. Gleichwohl wird man die Frage verneinen müssen. Wieder einmal zeigt sich hier, dass der Entwurf in semantischer Hinsicht größere Wandlungen bringt als in sachlicher. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa schreibt die ambivalente Stellung der EU zwischen koordinierender internationaler Organisation und verantwortlichem Staat fort, ak- zentuiert allerdings noch stärker als bisher die staatsähnliche Qualität der EU. Auf der einen Seite wird in Art. I-1 Abs. 1 VVE das Wesen der Union als Union der Bür- gerinnen und Bürger Europas beschrieben: Der Verfassungsvertrag erhebt damit den Anspruch, die legimatorische Basis der EU zu verschieben und deutlicher als bisher auf zwei Säulen zu stellen. Es bleibt abzuwarten, ob diese Sichtweise von den Europäern auch angenommen wird. Die bisherige Säulenstruktur mit einer tiefen Spaltung im Rechtsgehalt der Kompetenzen der EU127 wird aufgehoben. Die Frage, ob sich etwa die Bindungswirkung der Kompetenzen unter Titel V und VI EUV von jener der EGV-Kompetenzen unterscheidet,128 wird damit irrelevant.129 Auf der an- deren Seite macht der Verfassungsvertrag deutlich, dass die Union ihre Kompeten- zen ausschließlich von dem vertragsgebenden Akt der Mitgliedstaaten ableitet: Noch immer ruhen die der EU zustehenden Kompetenzen – anders als bei einem staatli- chen Verband – rechtlich nicht im Verband selbst,130 sondern begründen sich auf

125 Hierzu M. Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, JZ 2002, 569. 126 Zum verfassungstheoretischen Veränderungsdruck: G. Biaggini, Die Idee der Verfassung – Neuausrichtung im Zeitalter der Globalisierung, ZSR 119 (2000), 445; dies aufnehmend I. Pernice/F. Mayer, De la constitution composée de l‘Europe, RTDeur. 36 (2000), 623. 127 D. Curtin, The Constitutional Structure of the Union: A Europe of Bits and Pieces, 30 CMLRev. 1993, 17. 128 Verneinend M. Pechstein/Ch. Koenig, Die Europäische Union, 3. Aufl. 2000, Rn. 193; anders aber Ph. Manin, Les Communautés européennes l‘Union européenne, 5. Aufl. 1999, Rn. 128. 129 Zu den Problemen etwa auch M. Pechstein, Die Justiziabilität des Unionsrechts, EuR 1999, 1. 130 Je nach Sichtweise leiten sich die Kompetenzen aus der Verfassung des Verbands oder direkt aus seiner Staats- qualität ab.

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einen Ableitungszusammenhang: Ohne dass eine dingliche Übertragung stattfinden würde,131 erfolgt die Begründung weiterhin durch einen Akt der genossenschaftlich verbundenen Mitgliedstaaten.132 Deutlich ist die Ambivalenz des Vertrages über eine Verfassung für Europa schließ- lich auch im Bereich des Wirtschaftlich-Sozialen zu erkennen. Einerseits sind die programmatisch-finalen Bestimmungen des Verfassungsvertrags darauf angelegt, die EU in diesem Bereich quasi gleichberechtigt an die Seite der Mitgliedstaaten treten zu lassen. Es ist bereits oben geschildert worden, dass auch die kompetenziel- len Befugnisse der EU im Sozialbereich weiter ausgebaut werden. Andererseits sieht der Verfassungsvertrag nicht vor, der EU jene genuine Verantwortlichkeit für das soziale Wohlergehen der ihrer Hoheitsgewalt unterworfenen Menschen aufzuerle- gen, die heute zu den grundlegenden Merkmalen der Staatlichkeit gehört: Den Uni- onsbürgern werden auf Einlösung einer derartigen Verantwortlichkeit zielende Leis- tungs- und Schutzansprüche nicht gewährt. Schon mangels entsprechender Finanz- kraft wäre die EU im Übrigen völlig überfordert, die Rolle der Mitgliedstaaten zu übernehmen. Dies führt dazu, dass Handlungsbefugnisse und Verantwortlichkeit in bedenklicher Weise auseinanderfallen. Politisch spürbar könnte dieses Auseinander- fallen werden, wenn die EU über ihre Harmonisierungs- und Koordinierungsmaß- nahmen den inzwischen aufkeimenden Wettbewerb zwischen den Sozialsystemen über eine Angleichung der Sozialleistungen unterbindet und dabei ein Niveau wählt, das die wirtschaftlich schwächeren Staaten überfordert. Eine Einstandspflicht für die Folgen dieser Politik träfe die EU nicht. So wenig sich in Zweifel ziehen lässt, dass die EU ein „Gemeinwohlverband“ ist (öffentliche Herrschaft kann heute nur in Verpflichtung auf das Gemeinwohl gedacht werden),133 so sicher ist auch, dass die EU in aufgrund der Kompetenzfülle immer auffälligerer Weise merkwürdig verant- wortungslos ist. Vor diesem Hintergrund ist die Schlussfolgerung zwingend, dass sich auch auf dem Hintergrund des neuen Art. I-10 VVE das grundsätzliche Verhältnis von EU-Recht und nationalem Recht nicht ändert. Erstmalig in der Geschichte der europäischen Integration wird in dieser Vorschrift der Vorranganspruch des EU-Rechts vertrags- positiv verankert. In der Vorschrift spiegelt sich die Sichtweise des EuGH wider, wonach der Vorranganspruch unbedingt – und damit auch im Falle eines Konflikts mit nationalem Verfassungsrecht – gilt. Im Lichte der Gemeinwohlverantwortung, die die Mitgliedstaaten weiterhin tragen, muss der Vorranganspruch aber aus mit- gliedstaatlicher Sicht dort seine Grenzen finden, wo es um die Gewährleistung und

131 So Th. Flint, Die Übertragung von Hoheitsrechten, 1998, 85 ff. 132 BVerfGE 37, 271, 280; E. Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966, 41 ff.; G. C. Rodríguez Iglesias, Zur „Verfassung“ der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 1996, 125, 127. 133 Hierzu etwa Chr. Calliess, Gemeinwohl in der EU – über den Staaten- und Verfassungsverbund zum Gemein- wohlverbund, in: M. Anderheiden/W. Brugger/S. Kirste (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, 2002, 173.

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Sicherung dieser Verantwortung geht. Es ist daher verfassungstheoretisch weiterhin konsequent, wenn jene Mitgliedstaaten, die in ihrer Verfassungsordnung Struktursi- cherungsklauseln haben, diesen Vorrang vor dem Unionsrecht zuschreiben. Art. I-10 VVE kann diesen Anspruch schon deshalb nicht brechen, weil der EU die hierfür erforderliche verfassungstheoretische Wertigkeit (noch) fehlt.

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Die Unabhängigkeit nationaler Richter im Binnenmarkt – Zu den Loyalitätspflichten nationaler Gerichte gegenüber der EG-Kommission, insbesondere auf dem Gebiet des Kartellrechts*

Von Wolfgang Durner, München

I. Die Gerichte der Mitgliedstaaten im neuen EG-Kartellrecht

1. Die Kartellrechtsreform in der Europäischen Gemeinschaft

Zum 1. Mai 2004 erfuhr das Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft eine um- fassende Neugestaltung. Die bis dahin geltende Wettbewerbsverordnung aus dem Jahr 1962 (Verordnung Nr. 17)1 wurde durch die am 16. Dezember 2002 im Rat ein- stimmig beschlossene neue Durchführungsverordnung Nr. 1/2003 ersetzt2, die auf einem neuen Verständnis des Art. 81 EGV3 beruht. Das bisherige Recht interpretier- te Art. 81 EGV als gesetzliches Kartellverbot mit Erlaubnisvorbehalt: Solange eine in den Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1 fallende Wettbewerbsbeschränkung nicht nach Art. 81 Abs. 3 EGV durch die Kommission genehmigt war – ggf. auch durch sog. Gruppenfreistellungsverordnungen –, blieb sie verboten. Die neue Kar- tellverordnung ersetzt dieses Prinzip der Administrativfreistellung durch ein System der Legalausnahmen: Art. 81 Abs. 3 EGV transformiert dabei zu einer unmittelbar anwendbaren Vorschrift. Ein Kartell ist nach geltendem Recht nur mehr dann verbo- ten, wenn nicht die Freistellungsvoraussetzungen nach Art. 81 Abs. 3 EGV vorlie- gen. Die unmittelbare Anwendbarkeit der Legalausnahmen und die damit intendier- te Durchsetzung des gesamten Kartellrechts durch nationale Behörden und Gerichte führen zu einer seit langem geforderten weit reichenden Dezentralisierung des ge- meinschaftlichen Wettbewerbssystems.4 Diese erstmals 1999 durch ein Weißbuch der Kommission angeregte5, in der Folge

* Der Beitrag ist die ausgearbeitete Fassung des Habilitationsvortrags, den der Verfasser am 12. Februar 2004 vor der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München gehalten hat. Für kritische An- merkung zu dem Manuskript danke ich Herrn Prof. Claus Dieter Classen. 1 Verordnung (EWG) Nr. 17/62 des Rates, Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages v. 6.2.1962, ABl.EWG Nr. 13 v. 21.2.1962, 204/62. 2 Verordnung Nr. 1/2003 des Rates v. 16.12.2002 zur Durchführung der in den Art. 81 und 82 des Vertrags nie- dergelegten Wettbewerbsregeln, ABl.EG Nr. L 001 v. 4.1.2003, 1 ff. 3 Verweise auf den EG-Vertrag erfolgen – auch in Zitaten – durchweg unter Bezug auf die neue Zählung. 4 Vgl. Peter Behrens, Probleme der zentralen und dezentralen Anwendung der Wettbewerbsregeln der EG, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), FS für Everling, 1995, S. 83 ff.; Sibylle Gierschmann, Dezentralisierungsmög- lichkeiten im EG-Kar tellrecht, 1999, bes. S. 124 ff.; Benedikt Gillessen, Lockerung des Freistellungsmonopols zugunsten der EU-Staaten, 1998, S. 87 ff.; John Temple-Lang, Decentralised Application of EC Competition Law, in: Rivas/Horspool (Hrsg.), Modernisation and Decentralisation of EC Competition Law, 2000, S. 13 ff.; Guiseppe Tesauro, Modernisation and Decentralisation of EC Competition Law, ebenda, S. 1 ff. 5 Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 83 und 86 EGV, 1999; dazu Claus Dieter Ehlermann, The modernization of EC antitrust policy, CMLR 37 (2000), 537 ff.; Andreas Geiger, Das Weißbuch der EG-Kommission zu Art. 81, 82 EG, EuZW 2000, 165 ff.; Joachim Mestmäcker, Versuch einer kartellpolitischen Wende, EuZW 1999, 524 ff.; Alexander Schaub, in: Schwarze (Hrsg.), Europäisches Wettbewerbsrecht im Wandel, 2001, S. 13 ff.; zur Stellung der staatlichen Gerichte besonders Wolfgang Jaeger, Auswirkungen einer Reform des EG-Wettbewerbsrechts für die nationalen Gerichte, WuW 2000, 1062 ff.

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durch den Verordnungsvorschlag vom September 20006 und die Verordnung vom Dezember 2002 ungewöhnlich zügig verwirklichte Reform stieß namentlich in der Bundesrepublik auf scharfe Kritik. Die Monopolkommission und Teile des Schrift- tums sehen in der Reform einen Verstoß gegen Art. 81 Abs. 3 EGV, der seinem Wortlaut nach zwingend eine administrative Ausnahmeentscheidung voraussetze. Der Wechsel zu einem System der Legalausnahmen sei daher ohne Änderung des EG-Ver trages unwirksam.7 Über diese Fragen wird letztlich der Europäische Ge- richtshof zu befinden haben, obwohl eine Verwerfung der neuen Verordnung ange- sichts der wachsenden Unterstützung für die eingeschlagene Linie8 und der integrationsfreundlichen Grundhaltung des Gerichts9 kaum wahrscheinlich er- scheint.

2. Die Zusammenarbeit zwischen Kommission und nationalen Gerichten

Die kontroverse Bewertung dieser Ausgangsparameter mag ein wesentlicher Grund dafür sein, dass eine – zumindest für Nicht-Wettbewerbs rechtler – auf den ersten Blick geradezu verstörende Vorschrift in den Stellungnahmen kaum mehr auf ihre Rechtmäßigkeit hin hinterfragt wird. Art. 16 Abs. 1 der neuen Verordnung enthält unter dem Titel „Einheitliche Anwendung des gemeinschaftlichen Wettbewerbs- rechts“ eine grundlegende Regelung zum Verhältnis von Entscheidungen der Ge- richte der Mitgliedstaaten zu solchen der Kommission: Wenn Gerichte der Mitglied- staaten Verhaltensweisen am Maßstab der Art. 81 oder 82 EGV überprüfen, die be- reits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission waren, dürfen sie keine Entscheidung erlassen, die der Kommissionsentscheidung zuwider läuft. Zudem müssen sie Widersprüche zu Entscheidungen vermeiden, welche die Kommission in

6 Vorschlag v. 27.9.2000, KOM(2000) 582 endg.; dazu Andreas Bartosch, Von der Freistellung zur Legal aus- nahme, EuZW 2001, 101 ff.; Rainer Bechtold, Modernisierung des EG-Wettbewerbsrechts, BB 2000, 2425 ff.; Armin von Bogdandy/Frank Buchhold, Der Verordnungsvorschlag zur dezentralen Anwendung von Art. 81 III EG, GRUR 2001, 798 ff.; Petros C. Mavroidis/Damien J. Neven, From the White Paper to the Proposal for a Council Regulation, LIEI 28 (2001), 151 ff. 7 Kartellpolitische Wende in der EU? Sondergutachten der Monopolkommission v. 16.9.1999; vgl. auch das nachfolgende Sondergutachten v. 30.10.2001: Folgeproble me der europäischen Kartellverfahrensreform; Vol- ker Emmerich, Kartellrecht, 9. Aufl. 2001, S. 381; Wernhard Möschel, Systemwechsel im Europäischen Wett- bewerbsrecht?, JZ 2000, 61 ff.; ders., Change of Policy in European Competition Law, CMLR 37 (2000), 495, 499; Fritz Rittner, Kartellpolitik und Gewaltenteilung in der EG, EuZW 2000, 129, wonach „fast alle Stimmen aus der Wissenschaft“ die Reform für primärrechtswidrig hielten; vgl. zur Kritik auch White paper on reform of Regulation 17 – Summary of the observations. Competition DG Document v. 29.2.2000, insb. S. 6 f. 8 Vgl. mittlerweile Jochen F. Appeldoorn, Are the Proposed Changes Compatible with Article 81 (3) E.C.?, ECLR 22 (2001), 400 ff.; Ehlermann (Fn. 5), 553 ff., 557 ff.; Giuliano Marenco, Does a Legal Exception Sys- tem Require an Amendment of the Treaty?, in: Ehlermann/Atanasiu (Hrsg.), European Competition Law An- nual 2000, 2001, S. 145 ff.; Helmuth Schröter, in: ders./Jacob/Mederer (Hrsg.), Kommentar zum Europäischen Wettbewerbsrecht, 2003, Art. 81 Rn. 34, 61 ff. und 275; Andreas Weitbrecht, Das neue EG-Kar tellverfahrens- recht, EuZW 2003, 69, 70; Karl von Wogau, Reform des Wettbewerbsrechts aus der Sicht des Europäischen Parlaments, in: Schwarze (Fn. 5), S. 27, 33 f.; vgl. auch Bechtold (Fn. 6), 2425; Armin von Bogdandy, Zur un- mittelbaren Anwendbarkeit von Art. 81 III EG und des WTO-Rechts, EuZW 2001, 357, 358 ff. 9 Dazu Trevor C. Hartley, The Foundations of European Community Law, 4. Aufl. 1998, S. 78 ff.; Thomas Op- permann, Die Dritte Gewalt in der EU, DVBl. 1994, 901, 904 f.; Friedrich Schoch, Die Europäi sierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, 109, 113.

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einem von ihr eingeleiteten Verfahren zu erlassen beabsichtigt. Zu diesem Zweck soll das einzelstaatliche Gericht prüfen, ob es notwendig ist, das Verfahren auszu- setzen. Flankiert wird diese materiell-rechtliche Bindung der nationalen Gerichte durch die Regelung in Art. 15 der Verordnung über die verfahrensrechtliche „Zu- sammenarbeit“: Den Gerichten wird die Befugnis eingeräumt, in Verfahren zu Art. 81 oder 82 EGV die Kommission um Informationen zu bitten. Im Gegenzug über- mitteln die Mitgliedstaaten der Kommission unverzüglich eine Kopie jedes ein- schlägigen Urteils. Wie bereits nach geltendem deutschen Recht10 können staatliche Wettbewerbsbehörden dem Gericht schriftliche Stellungnahmen unterbreiten. So- fern es die kohärente Anwendung der Art. 81 oder 82 EGV erfordert, kann nunmehr allerdings nach Art. 15 Abs. 3 S. 3 der Verordnung auch die Kommission aus eige- ner Initiative gegenüber nationalen Gerichten schriftlich oder ggf. mündlich Stellung nehmen und das Gericht ersuchen, ihr alle zur Beurteilung des Falls notwendigen Schriftstücke zu übermitteln. Die Vertreter der Kommission fassen die Ratio dieser Vorschriften als Versuch zu- sammen, den nationalen Gerichten auf einem durch besondere ökonomische Beur- teilungsprobleme geprägten Gebiet als „amicus curiae“ wertvolle Hilfestellung zu leisten.11 Das damit vorgesehene Maß an Einfluss der Kommission könnte ange- sichts ihrer weit reichenden Interventionsmöglichkeiten jedoch – um im Lateini- schen zu bleiben – auch mit „cave canem“ überschrieben werden: Hat die Kommis- sion einen Sachverhalt zum Gegenstand einer Entscheidung – also beispielsweise einer Untersagung – gemacht, darf ein nationales Gericht hiervon nicht abweichen. Im Ergebnis ist das Gericht damit sowohl an die Sachverhaltsermittlung als auch an die rechtliche Bewertung der Kommission gebunden.12 Dies gilt unabhängig davon, ob nach dem anwendbaren Prozessrecht – erwähnt seien hier nur der in vielen euro- päischen Staaten geltende Beibringungsgrundsatz, die Versäumnisregeln oder das Beweisrecht – eine Berücksichtigung der durch die Kommission ermittelten Fakten möglich ist oder nicht.13

10 Vgl. § 90 GWB und dazu Andreas Zuber, Die EG-Kommission als amicus curiae, 2001, S. 99 ff. 11 Weißbuch (Fn. 5), S. 41; Alexander Schaub, The Reform of Regulation 17/62, in: Ehlermann/Atanasiu (Fn. 8), S. 241, 256, der allerdings offen erklärt, der Sache nach wolle die Kommission „intervene more actively in court proceedings, allowing it to defend the common competition policy before national courts“; Céline Gauer/Doro the Dalheimer/Lars Kjølbye/Eddy de Smijter, Competition Policy Newsletter 1/2003, 3, 7; von Wogau (Fn. 8), S. 32; vgl. zu dieser Rolle besonders die Arbeit von Zuber (Fn. 10); zu den regelungstechni- schen Vorbildern Peter Hilpold, Aktuelle Rechtsfragen zum WTO-Streitbeilegungsverfahren, IStR 2002, 31, 32 m.w.N. 12 So ausdrücklich die Schlussanträge von GA Cosmas Rs. C-344/98 (Masterfoods Ltd./HB Ice Cream Ltd.) Slg. 2000, I-1137 Rn. 16. Ein relevanter Widerspruch stellt sich demnach bei einer „Identität des rechtlichen und tatsächlichen Rahmens der Streitigkeit”, soweit die Entscheidung des nationalen Gerichts „den Gründen oder dem verfügenden Teil der Entscheidung der Kommission widerspricht”. Anders, aber unstimmig Thomas Eilmansberger , in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, 2003, Art. 81 EGV Rn. 85 f. (keine Bindung an tatsächliche Feststellungen, wohl aber an aus diesen gezogene Schlussfolgerungen). 13 Zum Problem der Unvereinbarkeit mit nationalem Prozessrecht Behrens (Fn. 4), S. 87; Möschel, Systemwech- sel (Fn. 7), 65; ders., Effizienter Wettbewerbsschutz, WuW 2001, 147, 148 (Deutschland); Brian McCracken, Towards the Application of article 81 (3) by National Courts, ERA-Forum 1/2001, 15 ff.; Siún O’Keefe, First among equals: the Commission and the national courts as enforcers of E.C. competition law, ELRev 26 (2001), 301, 307 (Irland); Kirsten Thorup, Coherent application of article 81 (3), ERA-Forum 1/2001, 6, 7 (Dänemark); vgl. auch Ursula Rörig, Einfluss des Rechts der EG auf das nationale Zivilprozessrecht, EuZW 2004, 18, 19.

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Auch bei Sachverhalten, die noch nicht Gegenstand einer Kommissionsentscheidung waren, muss das Gericht den Bewertungen der Kommission folgen. Zwar ist die Stellungnahme der Kommission, wie diese hervorhebt14, als solche nicht bindend. Dennoch vermag die Kommission jedes nationale Gericht an ihre Bewertung des Sachverhaltes zu binden, wenn sie während des Prozesses ein Kartellverfahren eröffnet und dem Gericht ihre Absicht mitteilt, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Streiten etwa ein Gastwirt und eine Brauerei über die Wirksamkeit eines Bierlieferungsvertrags und kündigt die Kommission an, der Brauerei in einem Kar- tellverfahren den Abschluss solcher Verträge zu untersagen, so steht die Kartellwid- rigkeit des Vertrags für ein nationales Gericht bindend fest. Vor diesem Hintergrund wird bereits die unverbindliche Stellungnahme erhebliche disziplinierende Überzeu- gungskraft entfalten. Das Recht der Kommission zur Intervention aus eigener Initi- ative und ihr unbeschränktes Akteneinsichtsrecht sichern ihren Zugriff auf den Ge- richtsprozess auch verfahrensrechtlich.15 Allerdings – und dies ist bei der rechtlichen Bewertung zu berücksichtigen – gelten diese Pflichten nach Art. 16 Abs. 1 S. 4 der Verordnung unbeschadet des Art. 234 EGV. Das nationale Gericht bleibt also stets befugt, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Trotz der komplizierteren Einkleidung begründen diese Vorschriften für das Ver- hältnis der Kommission zu nationalen Gerichten – ähnlich wie nach Art. 11 Abs. 6 der Verordnung gegenüber nationalen Wettbewerbsbehörden – eine Entscheidungs- hierarchie: Die Kommission kann einen Kartellrechtsprozess im Wesentlichen nach freiem Ermessen16 der Sache nach an sich ziehen und eine Entscheidung treffen, die nach Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens das nachfolgende Urteil weitgehend deter miniert. Damit erhält sich die Kommission ihre bisherige Rolle als letztent- scheidende Instanz in Wettbewerbsangelegenheiten.17

3. Die Funktion des Art. 16 VO im Gesamtkonzept der Kartellrechtsreform

Die in der neuen Verordnung vorgesehene Bindung der nationalen Gerichte an die tatsächlichen und rechtlichen Vorgaben der Kommission entspricht der inneren Lo- gik der Kartellrechtsreform: Die Transformation von Art. 81 Abs. 3 EGV zu einer unmittelbar anwendbaren Legalausnahme überantwortet den Gerichten die Haupt- verantwortung für die Verwirklichung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts.18

14 Mario Monti, The application of Community competition law by the national courts in a directly applicable exception system, ERA-Forum 1/2001, 3, 5; vgl. auch Behrens (Fn. 4), S. 99. 15 Den Schlussstein dieses Ansatzes bildet der Vorschlag von Francis Ferris, Towards the Application of Article 81(3) by National Courts (an English perspective), ERA-Forum 1/2001, 12, 14, ergänzend im nationalen Recht vorzusehen, dass jede Einleitung kartellrechtlicher Gerichtsverfahren umgehend der Kommission zu melden sei. 16 Vgl. Mavroidis/Neven (Fn. 6), 158, 166; demgegenüber entwickelt Zuber (Fn. 10), S. 40 ff. Kriterien, um das ausfüllungsbedürftige Interventionskriterium des Gemeinschaftsinteresses zu konkretisieren. 17 So die Einschätzung bei Peter Goldschmidt/Jakob Thomsen, Le règlement n° 1/2003 permet-il une application cohérente et uniforme des règles de concurrence prévues aux articles 81 et 82 du traité CE?, Eipascope 2003, 24, 26 ; James S. Venit, The modernization and decentralization of enforcement under Articles 81 and 82 of the EC, CMLR 40 (2003), 545, 546, 560; kritisch etwa Heike Jochum, Das Bundeskartellamt auf dem Weg nach Europa, VerwArch 94 (2003), 512, 517 ff. 18 Monti (Fn. 14), 3; Temple-Lang (Fn. 4), S. 17 f.; vgl. auch von Bogdandy/Buchhold (Fn. 6), 801.

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In anderen Politikbereichen wird die einheitliche Anwendung des Gemeinschafts- rechts durch das Vorabentscheidungsverfah ren nach Art. 234 EGV gewährleistet. Mit weit reichenden Aussagen zur Vorlagepflicht hat der Gerichtshof die nationalen Gerichte dabei eng an seine Judikatur gebunden.19 Im Bereich des Kartellrechts je- doch überprüft der Gerichtshof traditionell – insbesondere im Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 3 EGV – die maßgeblichen Kriterien als „komplexe Bewertungen wirtschaftlicher Art“ nur grobmaschig und überlässt ihre Entwicklung weithin der Kommission.20 Die Verlagerung des Vollzugs dieser Norm auf die nationalen Be- hörden und Gerichte, so wurde prophezeit, könne der Kommission daher „ein Re- servat an gerichtlich nicht voll überprüfbarem Beurteilungsspielraum“ entziehen.21 Zudem verbindet sich mit der Dezentralisierung eine erhebliche Gefahr der Zersplit- terung des Rechts22, aber auch die Furcht vor einer Überlastung des Gerichtshofs durch zu viele Vorlagen23. Schließlich stellen die durch die Kommission entwickel- ten Kriterien vielfach auf diffizile ökonomische Gesichtspunkte ab, die manche Ge- richte an die Grenzen ihres Sachverstandes führen mögen.24 Gegenüber der schwerfälligeren Alternative einer Ausweitung der europäischen Ge- richtsbarkeit im Bereich des Kartellrechts25 erscheint die Anbin dung der nationalen Gerichte an die koordinierenden Vorgaben der Kommission als regelungstechni- scher Königsweg, um dieser ihr faktisches kartellpolitisches Primat zu erhalten und gleichwohl die Um- und Durchsetzung des gemeinschaftlichen Kartellrechts zu de- zentralisieren. Die Kommission kann sich auf die wichtigsten Fälle konzen trie ren und den nationalen Behörden und Gerichten das Alltagsgeschäft überlassen26. Im Ergebnis tritt damit neben den seit längerem praktizierten steuernden Zugriff der

19 Vgl. Albert Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 915 ff.; Hartley (Fn. 9), S. 258 ff.; Andreas Middeke, Das Vorabentscheidungsverfahren, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rn. 5 ff., 52 ff.; Jürgen Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 234 EGV Rn. 1 ff.; Takis Tridimas, Fragmentation, Efficiency and Defiance in the Preliminary Reference Pro- cedure, CMLR 40 (2003), 9 ff. 20 Vgl. etwa EuGH Rs. C-234/89 (Delimitis) Slg. 1991, I-935 Rn. 44 m.w.N.; Schröter (Fn. 8), Art. 81 Rn. 276 jeweils m.w.N.; kritisch Volker Emmerich, Kartellrecht, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschafts- rechts, H.1 § 1 Rn. 190, Stand: EL 9/Aug. 2000; Ulrich Everling, Zur Funktion des EuGH als Verwaltungsge- richt, in: Bender/Breuer/Ossenbühl/Sendler (Hrsg.), FS für Redeker, 1993, S 293, 306 ff. 21 Weitbrecht (Fn. 8), 70. 22 Vgl. Summary of the observations (Fn. 7), S. 18; Gillessen (Fn. 4), S. 101 ff.; Goldschmidt/Thomsen (Fn. 17), 24 ff.; Schröter (Fn. 8), S. 49 f. Rn. 43, der das Vorlageverfahren als nicht ausreichend ansieht, sowie die Bei- träge bei Ehlermann/Atanasiu (Fn. 8), S. 271 ff.; Venit (Fn. 17), 560, hält solche Ängste für überzeichnet. 23 David Edward, Recent Case Law of the European Court of Justice, in: Schwarze (Fn. 5), S. 47 ff.; Gillessen (Fn. 4), S. 163 ff.; Carl-Otto Lenz, Die Reform der Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaften und der Rechtsschutz in Wettbewerbssachen, in: Schwarze (Hrsg.), Europäisches Wettbewerbsrecht im Zeichen der Globalisierung, 2002, S. 127, 137 ff.; vgl. dazu auch die Vorschläge bei Temple-Lang (Fn. 4), 26 ff. 24 Vgl. Behrens (Fn. 4), S. 87 f.; Guy Canivet, Le rôle de l’analyse économique dans l’application de l’article 81 du traité, ERA-Forum 1/2001, 22 ff.; Jaeger (Fn. 5), 1072 f.; K.P.E. Lasok, Assessing the Economic Consequences of Restrictive Agreements, ECLR 5 (1991), 194, 200; Monti (Fn. 14), 3 ff. 25 Dazu besonders Günter Hirsch, Die Kooperation von nationalen und europäischen Gerichten, in: Schwarze (Hrsg.), Instrumente zur Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts, 2002, S. 135 ff. 26 Von Bogdandy (Fn. 8), 358; Schaub (Fn. 5), S. 17 f.; Rittner (Fn. 7), 129 formuliert kritisch, die Beamten der Generaldirektion hätten sich mit der Kartellrechtsform „wohl einen Traum erfüllt“; ähnlich Möschel, Change of Policy (Fn. 7), 497 („.. describes what administrative agencies dream of“) und Mestmäcker (Fn. 5), 528.

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Gemeinschaft auf den mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzug, der aus Sicht des Grundgesetzes eher weiten Grenzen unterliegt27, eine ähnlich intensive Einfluss- nahme der Kommission auf die mitgliedstaatliche Rechtsprechung. Diesem vermut- lich bereits länger bestehenden Fernziel hat die Kommission sich in vorsichtigen Schritten angenähert.

II. Der Weg zur Bindung nationaler Gerichte an Kommissions- entscheidungen

Der Weg zu Art. 16 der Verordnung Nr. 1/2003 ist beispielhaft für das informell ab- gestimmte schrittweise Vorgehen von Kommission und Gerichtshof bei der – aus Sicht der Mitgliedstaaten oft schwer verdaulichen – Ausweitung des Geltungsan- spruchs der Gemeinschaftsrechtsordnung. Die entscheidenden Weichen wurden be- reits unter Bezug auf Art. 81 Abs. 1 und Art. 82 EGV gestellt, für die bereits seit der Anerkennung ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit28 eine parallele Zuständigkeit von Kommission und Mitgliedstaaten bestand.

1. Gesetzgeberische Vorstöße der Kommission

Erstmals behandelte die Kommission das Problem inkongruenter Kommissions- und Gerichtsentscheidungen in einer Bekanntmachung über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten bei der Anwen- dung der Art. 81 und 82 EGV aus dem Jahr 1993. Darin führte sie aus, der nationale Richter solle stets prüfen, ob ein Sachverhalt bereits Gegenstand einer amtlichen Äußerung der Kommission sei. Deren Aussagen könnten dem Richter „Anhalts- punkte für die Urteilsfindung liefern, selbst wenn sie ihn nicht rechtlich binden“. Gegebenenfalls könne sich der Richter „innerhalb der Grenzen seines innerstaatli- chen Verfahrensrechts“ mit der Bitte um Informationen an die Generaldirektion für Wettbewerb wenden29, was aufgrund des Beibringungsgrundsatzes nur in seltenen Fällen geschah.30 Eine Bindung an Kommissionsentscheidungen wurde somit expli- zit verneint. Die ersten Vorschläge zu einer grundlegenden Neuregelung des Verhältnisses von Kommissions- und nationalen Gerichtsentscheidungen finden sich in dem Weißbuch

27 Grundlegend Armin Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998, S. 93 ff., 353 ff.; vgl. auch Peter M. Huber, Das Kooperationsverhältnis von Kommission und nationalen Verwaltungen beim Vollzug des Unionsrechts, in: Eberle/Ibler/Lorenz (Hrsg.), FS für Brohm, 2002, S. 127, 128 ff.; Rudolf Streinz, Probleme des Zusammenwirkens von EG und Mitgliedstaaten, WiVerw 1996, 129, 132, 143 ff. 28 EuGH Rs. 127/73 (BRT/SABAM) Slg. 1974, 51 Rn. 15/17; vgl. dazu Eilmansberger (Fn. 12), Vor Art. 81 EGV Rn. 7 f.; Ingo Brinker, in: Schwarze (Fn. 19), Art. 81 EGV Rn. 1; umfassend zu diesen „geteilten Kompeten- zen“ Pierre Mercier u.a., Grands principes du droit de la concurrence, 1999, S. 488 f. 29 Bekanntmachung über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Gerichten der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Art. 85 und 86 des EWG-Vertrags, GRURInt 1993, 471, 473 f., Rn. 20, 37, 39; vgl. dazu Schröter (Fn. 8), S. 46 f. Rn. 36 ff. Die Verwertbarkeit von Meinungsäußerungen der Kommission in nationa- len Gerichtsverfahren bejahte bereits EuGH Rs. 99/79 (Lancôme/Etos) Slg. 1980, I-2511, 2518 ff. 30 Näher Hartmut Weyer, Belieferungsansprüche bei Verstoß gegen Art. 81 EGV?, GRUR 2000, 848, 849.

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aus dem Jahr 1999. Die Kommission betonte die Stärkung der Rolle der staatlichen Gerichte bei der dezentralen Anwendung der Wettbewerbsregeln, forderte aber auch, diese dürfe der Einheitlichkeit der Wettbewerbsbedingungen nicht zuwider laufen. Daher schlug die Kommission eine Reihe von „präventiven und korrektiven Mechanismen“ vor, die im Kern bereits der 2002 verabschiedeten Verordnung ent- sprachen.31 Gegen diese Vorschläge erhoben die meisten Mitgliedstaaten und z. T. auch das Schrifttum Bedenken und beriefen sich dabei auf die Prinzipien der Ge- waltenteilung und der Unabhängigkeit der Gerichte.32 Arved Deringer stellte fest, auch in der Rolle eines „amicus curiae“ könne die Kommission „wohl kaum einem nationalen Gericht ein laufendes Verfahren entziehen“.33 Wernhard Möschel be- zeichnete jeden Versuch, den Zivilgerichten „dreinzureden“, als Verstoß gegen die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Gerichte.34 Im Rahmen der Europä- ischen Rechtsakademie forderten zumindest deutsche Richter, sie müssten bei der Anwendung des EG-Kartellrechts „so unabhängig sein wie bei der Anwendung des nationalen Rechts“.35 Dass solche Einwände bei der Verabschiedung der Verordnung Nr. 1/2003 nicht mehr zu vernehmen waren, ist auf flankierende Stellungnahmen des Europäischen Gerichtshofes zurückzuführen.

2. Die flankierende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs

Unmittelbar im Anschluss an die Veröffentlichung des Weißbuchs erkannte der Ge- richtshof in einer Reihe von Urteilen bereits auf der Grundlage des geltenden Rechts Kompetenzen und Pflichten der Mitgliedstaaten an, die in vieler Hinsicht die Vor- schläge des Weißbuchs aufgriffen und zum Teil über diese hinaus gingen. Allge- mein wurden diese Aussagen als Unterstützung der Vorschläge der Kommission angesehen.36 So „ermutigte“ der Gerichtshof in dem Courage-Urteil die nationalen

31 Weißbuch (Fn. 5), S. 6, 33, 38 ff. 32 Summary of the observations (Fn. 7), S. 15: „A majority of Member States has reservation about the proposal to grant the Commission a right to intervene as amicus curiae generally on grounds that it may be difficult to reconcile this intervention with the independence of national courts.”; Eingabe zum Weißbuch, GRUR 2000, 217, 218; Nicholas Green, Practical Implications of the Reform, in: Rivas/Horspool (Fn. 4), S. 31, 37; Jaeger (Fn. 5), 1066 f.; Julia Topel, Dezentralisierte Anwendung des europäischen Kartellrechts, in: Schwarze (Fn. 23), S. 155, 157 f.; Tim Wißmann, Decentralised Enforcement of EC Competition Law, World Competition 23 (2000), 123, 145; entsprechende Kritik am Delimitis-Urteil bereits bei Lasok (Fn. 24), 201. Noch der 2003 ver- öffentlichte Beitrag von Schröter (Fn. 8), Art. 81 Rn. 58, prophezeit angesichts dieser Reaktionen, die entsprechen den Vorschläge des Weißbuchs hätten „keine Aussicht auf Annahme im Rat“. 33 Arved Deringer, Stellungnahme zum Weißbuch der Kommission über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 85 und 86 EG-Vertrag (Art. 81 und 82 EG), EuZW 2000, 5, 9. 34 Möschel (Fn. 13), 148; ähnlich auch Rittner (Fn. 7), 129. 35 Wilhelm Berneke, Die Anwendung des EG-Kartellrechts durch nationale Gerichte in Deutschland, in: Pérez van Kappel (Hrsg.), Die dezentrale Anwendung des EG-Kartellrechts, 2001, S. 69, 74; kritische Beiklänge auch bei Marina Tavassi, Towards the Application of article 81 (3) by national courts in Italy, ERA-Forum 1/2001, 17, 21 f. Richter aus anderen Mitgliedstaaten begrüßten die Zuarbeit der Kommission hingegen als willkomme- ne Orientierungshilfe, vgl. Guy Canivet, Examen de la proposition de règlement du Conseil. Vers l‘application de l‘article 81, § 3 CE par les juridictions nationales, ERA-Forum 1/2001, 8 ff.; Ferris (Fn. 15), 12 ff. 36 Vgl. Assimakis P. Komninos, New prospects for private enforcement of EC Competition Law, CMLR 39 (2002), 447, 448 f., der das Masterfoods-Urteil in den Kontext einer „post-White Paper Trilogy» stellt; Jean Claude Forgoux, Anm. zum Masterfoods-Urteil, Recueil Le Dalloz 2001, 1864, 1866 f.; Andreas Geiger, Anm. zum Masterfoods-Urteil, EuZW 2001, 116, 117.

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Gerichte, verstärkt und großzügig die Möglichkeit zur Gewähr von Schadensersatz in Wettbewerbssachen zu prüfen37, ein implizites Schlüsselelement der dezentralen Anwendungsphilosophie des Weißbuchs. Die Bindung nationaler Gerichte an Kommissionsentscheidungen behandelt vor al- lem das Masterfoods-Urteil aus dem Jahr 2000, dessen weit reichende Aussagen der Gerichtshof bewusst auf Institute zurückführte, die in seiner bisherigen Judikatur bereits anerkannt waren: So ist der Grundsatz der Rechtssicherheit ein zentrales Ele- ment des Gemeinschaftsrechts.38 Ebenso ist eine Pflicht der Mitgliedstaaten und auch ihrer Gerichte zu loyaler Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft anerkannt, der komplementäre Pflichten der Kommission gegenüber den nationalen Gerichten entsprechen.39 Unter dem Eindruck dieses Urteils sieht das Schrifttum jene Aufga- benverteilung, die es noch 1999 am Weißbuch rechtsstaatlich kritisierte, nunmehr als unproblematische deklaratorische Wiedergabe geltenden Rechts an.

a) Das Delimitis-Urteil

Erstmals hatte der Europäische Gerichtshof das Problem widersprechender kartell- rechtlicher Entscheidungen ohne erkennbaren Bezug zu den vorgelegten Fragen des OLG Frankfurt am Main40 in dem Urteil Delimitis aus dem Jahr 1990 thematisiert.41 Das Urteil führt aus, allein die Kommission sei für die Durchführung und Ausrich- tung der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik verantwortlich. Dagegen teile sie ihre Befugnis zur Anwendung der unmittelbar geltenden Art. 81 Abs. 1 und 82 EGV mit den nationalen Gerichten, so dass insoweit die Gefahr widersprechender Ent- scheidungen bestehe. Solche Widersprüche seien jedoch nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit zu vermeiden.42 Hierfür stellt der Gerichtshof eine Reihe von Leit- linien auf: Das nationale Gericht könne in eindeutigen Fällen über den betreffenden Sachverhalt entscheiden, wenn entweder Art. 81 Abs. 1 EGV offensichtlich nicht anwendbar sei oder unter Berücksichtigung der bisherigen Entscheidungs praxis der Kommission keine Freistellungsentscheidung in Betracht komme. Bei Gefahr wider- sprechender Entscheidungen hingegen könne das Gericht das Verfahren aussetzen. Zudem könne sich das Gericht „nach Maßgabe des einschlägigen nationalen Verfah- rensrechts“ bei der Kommission nach dem Stand eines Verfahrens erkundigen oder

37 EuGH Rs. C-453/99 (Courage), EuZW 2001, 715 ff.; vgl. dazu Eilmansberger (Fn. 12), Art. 81 EGV Rn. 105 ff. m.w.N.; Komninos (Fn. 36), 448, 460 ff.; Gerald Mäsch, „Courage“ und die Folgen, EuR 2003, 825 ff.; zum Kontext Ingo Brinker, Schadensersatz als Sanktion für Wettbewerbsverstöße, in: Schwarze (Fn. 25), S. 107 ff. 38 Vgl. nur EuG Rs. T-73/95 (Oliveira SA/Kommission), NVwZ 1998, 491 f. Rn. 29 ff.; Bleckmann (Fn. 19), Rn. 586; Georg Haibach, Die Rechtsprechung des EuGH zu den Grundsätzen des Verwaltungsverfahrens, NVwZ 1998, 456, 459; Jan-Peter Hix, in: Schwarze (Fn. 19), Art. 34 EGV Rn. 81 ff. m.w.N. 39 Vgl. EuGH Rs. C-14/83 (Von Colson und Kamann/Land NRW) Slg. 1984, I-1891 Rn. 26; Rs. 80/86 (Kol- pinghuis Nijmegen) Slg. 1987, I-3969 Rn. 12; Rs. C-2/88 (Zwartveld) Slg. 1990, I-3365 Rn. 18; Rs. C-94/00 (Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence) Slg. 2002, I-9011 Rn. 30 ff.; dazu zunächst nur Mi- chael Lück, Die Gemeinschaftstreue als allgemeines Rechtsprinzip im Recht der EG, 1992, S. 42 ff. 40 Vgl. die Urteilsanmerkung von Michael v. Braunmühl, WuW 1991, 888, 891. 41 EuGH (Fn. 20), Rn. 43 ff. 42 EuGH (Fn. 20), Rn. 47.

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Auskünfte einholen, da die Kommission nach Art. 10 EGV zu loyaler Zusammenar- beit mit den nationalen Gerichten verpflichtet sei.43 Obwohl die Obiter-dicta des Delimitis-Urteils bereits die wesentlichen Elemente des späteren Art. 16 der Verordnung 1/2003 enthalten44, tritt die Schärfe der Bindung nationaler Gerichte an Kommissions entscheidungen noch nicht in ihrer vollen Trag- weite zu Tage. Die Pflicht zur Abstimmung erscheint als eine im Bereich gerichtli- cher Ermessensspielräume angesiedelte wechselseitige Aufgabe der Kommission und der nationalen Gerichte. Zudem bleibt zweideutig, ob sich die Bindung der Ge- richte nicht lediglich auf rechtsgestaltende Freistellungsentscheidungen nach Art. 81 Abs. 3 EGV beschränkt.45 Was allerdings im Delimitis-Urteil noch wie ein Vor- schlag formuliert ist, wird zehn Jahre später im Masterfoods-Urteil in die Form ein- deutiger Pflichten gegossen.46

b) Das Masterfoods-Urteil

Das Masterfoods-Urteil vom Dezember 200047 bezieht sich erneut auf die gemein- same Befugnis der Kommission und der nationalen Gerichte zur Anwendung der Art. 81 Abs. 1 und 82 EGV. Ungeachtet dieser gemeinsamen Zuständigkeit, so stellt der Gerichtshof apodiktisch fest, sei die Kommission „bei der Erfüllung der ihr durch den Vertrag zugewiesenen Aufgabe“ nicht an die nationale Rechtsprechung gebunden und könne jeder zeit auch in Abweichung von Feststellungen eines natio- nalen Gerichts Entscheidungen treffen.48 Demgegenüber erinnert der Gerichtshof die Gerichte der Mitgliedstaaten an ihre Pflicht aus Art. 10 EGV, alle zur Erfüllung der gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen geeigneten Maßnahmen zu treffen. Bereits das Delimitis-Urteil habe geklärt, dass Gerichte Entscheidungen vermeiden müssten, die künftigen Kommissionsentscheidungen zuwider liefen. Erst recht dürfe sich kein Gericht in Widerspruch zu bestehenden Kommissionsentscheidungen set- zen.49 Zwar könne und müsse ein Gericht bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Ge- meinschaftsrechtsakts gem. Art. 234 EGV dem Gerichtshof eine entsprechende Vorlagefrage stellen. Habe jedoch der Adressat einer Kommissionsentscheidung be- reits Nichtigkeitsklage erhoben, solle das staatliche Gericht das Verfahren ausset- zen.50

43 EuGH (Fn. 20), Rn. 50 ff. 44 Die Bedeutung des Urteils für die Kommissionsvorschläge verdeutlicht Emil Paulis, Coherent Application of EC Competition Law in a System of Parallel Competences, in: Ehlermann/Atanasiu (Fn. 8), S. 399, 419 ff. 45 In diesem Sinne u.a. Jochem Gröning, National Judges in a Modernised Community Law System, in: Ehlermann/Atanasiu (Fn. 8), S. 579, 586; Jaeger (Fn. 5), 1067; Hans Krück /Herbert Sauter, Verwaltungsver- fahren in Kartellsachen, in: Dauses (Fn. 20), H.1 § 3 Rn. 4 mit Fn. 20, Stand: EL 10/Mai 2001; Mäsch (Fn. 37), 831 f.; Peter Niggemann, in: Streinz (Fn. 12), KartVO nach Art. 83 EGV Rn. 12; Weyer (Fn. 30), 849; vgl. auch Behrens (Fn. 4), S. 97 f. 46 Zu diesen Akzentverschiebungen O’Keefe (Fn. 13), 306; zur Taktik des EuGH, neue Rechtssätze schrittweise zu entwickeln und die Konsequenzen erst nachfolgend zu verdeutlichen, Hartley (Fn. 9), S. 79 f. 47 EuGH Rs. C-344/98 (Masterfoods Ltd./HB Ice Cream Ltd.), EuZW 2001, 113 ff. 48 EuGH (Fn. 47), Rn. 48. Kritisch zu den entsprechenden Vorschlägen im Weißbuch John Cooke, Commission White Paper on Decentralization of Competition Rules, in: Ehlermann/Atanasiu (Fn. 8), S. 551, 558. 49 EuGH (Fn. 47), Rn. 49-52. 50 EuGH (Fn. 47), Rn. 55-57.

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III. Grundlagen einer Bindung der Gerichte an Kommissions- entscheidungen

1. Art. 16 als Ausprägung eines Instituts des allgemeinen Gemeinschaftsrechts

Diese Aussagen gehen über Regelungsgehalt und Anwendungsbereich des Art. 16 der Verordnung 1/2003 wesentlich hinaus: Die Grundlage für die Pflicht zur Beach- tung vorliegender oder künftiger Kommissionsentscheidungen ist nach der Begrün- dung des Delimitis-Urteils der Grundsatz der Rechtssicherheit, im Masterfoods-Ur- teil der in Art. 10 EGV verankerte Grundsatz der Gemeinschaftstreue.51 Damit ist die Bindung nationaler Gerichte an Kommissionsentscheidungen in keiner Weise auf kartellrechtliche Zusammenhänge beschränkt52, sondern bildet ein Institut des allgemeinen Gemeinschaftsrechts, das in allen Politikbereichen Geltung beanspru- chen kann, in denen die Kommission über Kompetenzen zum Erlass von Entschei- dungen verfügt. Freilich erweist sich das europäische Wettbewerbsrecht einmal mehr als Experimentier- und Referenzgebiet für die Herausbildung gemeinschafts- rechtlicher Grund strukturen.53 Art. 16 der Verordnung 1/2003 ist dabei Ausdruck eines allgemeinen Trends hin zu einer „kooperativen Gewaltenteilung“ zwischen Mitgliedstaaten und Union54, in der die Kom mission als „Hüterin der Verträge“55 ihre Kontrolle der nationalen Rechtsprechung nicht mehr auf das repressive Instru- ment des Vertragsverletzungsverfahrens beschränken56, sondern verstärkt auch prä- ventiv auf eine Koordination hinwirken will. Die in der Masterfoods-Entscheidung entwickelte Bindung nationaler Gerichte an bestehende und künf tige Kommissionsentscheidungen setzt lediglich das Bestehen einer entsprechenden sekundärrechtlichen Kompetenz zum Erlass von Entscheidun- gen voraus. Entgegen der beiläufigen Feststellung des Europäischen Gerichtshofs werden der Kommission nämlich auch ihre kartellrechtlichen Befugnisse keines- wegs unmittelbar durch den EG-Vertrag, sondern erst durch die geltenden Durch- führungsverordnungen überantwortet.57 Die Zahl der Verwaltungsverfahren nimmt jedoch stetig zu, in denen die Kommission in den Vollzug des Gemeinschaftsrechts

51 Die Begründungsansätze analysieren Wolfgang Bartels, Kooperation zwischen EU-Kommission und nationa- len Gerichten im europäischen Wettbewerbsverfahren, ZfRV 2002, 83, 88, und Zuber (Fn. 10), S. 63 ff., 104 ff. Den Grundsatz der Rechts sicherheit hatte der EuGH bereits in seiner älteren Rechtsprechung herangezogen, um bis zur Operabilität des Art. 81 EGV eine übergangsweise Bindung nationaler Gerichte an die Entscheidun- gen sämtlicher Kartellbehörden zu begründen. Vgl. dazu Schröter (Fn. 8), Art. 84 Rn. 6 f. m.w.N. 52 So auch Lars Kjølbye, Anm. zum Masterfoods-Urteil, CMLR 39 (2002), 175, 181. 53 Vgl. Jürgen Schwarze, Europäische Rahmenbedingungen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 2000, 241, 245; David J. Gerber, Modernising EC Law, ECLR 122 (2001), 122, 126. 54 Hans-Detlef Horn, Die horizontale Kompetenzverteilung in der EU, RuP 2002, 211, 212 m.w.N. 55 Zu dieser Rolle Peter Michael Huber, Recht der europäischen Integration, 2. Aufl. 2002, § 13 Rn. 21 ff. 56 Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV können von jeher auch wegen des Handelns nationaler Ge- richte eingeleitet werden, vgl. statt vieler Schwarze (Fn. 19), Art. 226 EGV Rn. 7. 57 Reimer von Borries, Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, in: Due/Lutter/Schwarze (Fn. 4), S. 127, 138; Klaus Ferdinand Gärditz, Die Novel Food-Verordnung, ZUR 1998, 169, 170 f.; Gillessen (Fn. 4), S. 189 ff.; Christian Jung, in: Callies/Ruf fert (Hrsg.), Kommentar zu EUV und EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 83 EGV Rn. 8; Krück/Sauter (Fn. 45), H.1 § 3 Rn. 3, Stand: EL 10/Mai 2001; a.A. Kjølbye (Fn. 52), 177 f.

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eingebunden wird und dabei wesentliche Entscheidungsbefugnisse bei sich konzen- triert.58 Zudem scheint sich dieser Praxis entsprechend die Auffassung durchzuset- zen, auch ohne Vorliegen einer primärrechtlichen Verwaltungskompetenz könnten auf Grund der Rechtssetzungstitel des EG-Ver trages im Sekundärrecht Verwal- tungskompetenzen der Gemeinschaft begründet werden.59 Vor diesem Hintergrund besteht für die neue Koordinierungsfunktion ein denkbar weiter Anwendungs - bereich: Im Naturschutzrecht der Gemeinschaft etwa sieht Art. 6 Abs. 4 der Flora- Fau na-Habitat-Richtlinie für Eingriffe in europäische Naturschutzgebiete die Einho- lung einer Stellungnahme der Kommission vor, die bislang allgemein als nicht bin- dend angesehen wird.60 Kann jedoch ein Projekt, zu dem die Kommission eine negative Stellungnahme abgibt, nach den Grundsätzen des Masterfoods-Urteils durch einen Mitgliedstaat noch genehmigt oder eine solche Genehmigung durch ein staatliches Gericht aufrecht erhalten werden? Wie beurteilt sich die Genehmigungs- fähigkeit von Vorhaben, zu denen die Kom mission eine Beihilfe aus dem Struktur- fonds mit der Begründung verweigert, das Vorhaben verstoße gegen gemeinschaft- liches Umweltrecht? Muss selbst ein Strafrichter, der einen Sachverhalt unter dem Gesichtspunkt einer wettbewerbsbeschrän kenden Absprache nach § 298 Abs. 1 StGB zu beurteilen hat, seinem Urteil die durch Kommissionsentscheidung festge- stellte Kartellrechtswidrigkeit ungeprüft und unabhängig von eventuellen strafpro- zessualen Hindernissen zugrunde legen?61 Wie immer der Gerichtshof solche Fra- gen derzeit beantworten mag, die potentielle Bedeutung der neuen Figur ist jeden- falls erheblich.

2. Rechtliche Begründungsansätze

Angesichts dieser weit reichenden Konsequenzen der neuen Figur kommt ihrer rechtsdogmatischen Begründung eine erhöhte Bedeutung zu. Die beiden skizzierten Urteile lassen dabei drei verschiedene, durchaus disparate Erklärungsansätze erken- nen, die jedoch durchweg zu demselben Ergebnis führen.

58 Dazu Hatje (Fn. 27), S. 128 ff.; Huber (Fn. 27), 130 f.; ders., in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. 1, 2. Aufl. 2003, § 19 Rn. 24 f.; Eberhard Schmidt-Aß mann, Verwaltungskooperation und Verwaltungskooperationsrecht in der EG, EuR 1996, 270 ff.; Rainer Wahl/Detlef Groß, Die Europäisierung des Genehmigungsrechts, DVBl. 1998, 2, 10 ff.; von Bogdandy/Buchhold (Fn. 6), 804, bezeichnen dies als künftigen „unionalen Normalfall“. 59 Näher und überwiegend kritisch von Borries (Fn. 57), 132 ff.; Gärditz (Fn. 57), 170 ff.; Jürgen Schwarze, Euro- päisches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 1988, S. 46 ff.; Streinz (Fn. 27), 131; Wahl/Groß (Fn. 58), 12; vgl. auch An- ton Klösters, Kompetenzen der EG-Kommission im innerstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht, 1994, S. 8 f., 86 ff., der an die Aufsichtsbefugnisse anknüpft. Explizite Ermächtigungen im Primärrecht fordert Ru- pert Stettner, Verwaltungs vollzug, in: Dauses (Fn. 20), B.III Rn. 6, 19 f., Stand: GW. 60 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildle- benden Tiere und Pflanzen, ABl.EG Nr. L 206 v. 22.7.1992, 7 ff.; zur fehlenden Bindungswirkung der Kom mis- sionsstellungnahme vgl. Europäische Kommission, Natura 2000 – Gebietsmanagement. Die Vorgaben des Art. 6 der Habitat-Richtli nie 92/43/EWG, 2000 S. 55; im Schrifttum Gunhild Berg, Die Stellungnahme der Europä- ischen Kommission nach Art. 6 Abs. 4 UAbs. 2 FFH-RL, NuR 2003, 197, 198 m.w.N.; Wolfgang Durner, in: Ziekow (Hrsg.), Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rn. 809. 61 Zur Bedeutung des Kartellrechts für die „Rechtswidrigkeit“ einer Absprache in § 298 Abs. 1 vgl. BGH, NStZ 2001, 540, 541; Karl Lackner/Kristian Kühl, StGB, 23. Aufl. 1999, § 298 Rn. 3; Herbert Tröndle/Thomas Fi- scher, StGB, 51. Aufl. 2003, § 298 Rn. 10 und 18 m.w.N.

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a) Die Tatbestandswirkung von Verwaltungsentscheidungen im Gemeinschafts- recht

Das Masterfoods-Urteil stützt seine Aussagen nicht allein auf die Treuepflichten aus Art. 10 EGV, sondern verweist auch darauf, dass eine Kommissionsentscheidung gem. Art. 249 Abs. 4 EGV verbindlich ist und ein nationales Gericht, das entschei- dungserhebliche Zweifel an der Gültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsaktes hat, diese Frage dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen kann oder muss.62 Damit knüpft der Gerichtshof an die Grundsätze der unmittelbaren Anwendbarkeit und des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts sowie an seine gefestigte Rechtsprechung an, der zufolge nationale Gerichte Gemeinschaftsrechtsakte nicht verwerfen können.63 Teile des Schrifttums führen dementsprechend die im Masterfoods-Urteil entwickelten Bindungen unmittelbar auf diesen allgemeinen Geltungsanspruch des EG-Rechts zurück.64 Die Pflicht nationaler Gerichte zur Beachtung von Kommissionsentschei- dungen erscheint insofern als selbstverständliche Konsequenz ihrer allgemeinen Gesetzesbindung. Entscheidungen der Kommission sind – anders als Freistellungsverordnungen – kei- ne Rechtsnormen, sondern Akte der Rechtsanwendung im Einzelfall. Dennoch ist eine Bindung von Gerichten an Verwaltungsentscheidungen sowohl der europä- ischen als auch der deutschen Rechtsordnung bekannt. Der Strafrichter etwa, der über eine Anklage wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis gem. § 21 StVG zu urteilen hat, ist an die wirksame Erteilung eines Führerscheins durch die Straßenverkehrsbe- hörde gebunden. Im deutschen Verwaltungsrecht spricht man hier von einer „Tatbe- standswirkung“ als Kurzformel für die Pflicht, die Existenz des Verwaltungsakts und seiner Regelung anzuerkennen und in Entscheidungen zugrunde zu legen.65 Die weiter gehende „Feststellungswirkung“ verpflichtet nicht nur, die Existenz, sondern darüber hinaus auch bestimmte Elemente anzuerkennen, auf denen der Bescheid beruht. Dabei geht es letztlich um die Frage der Reichweite der getroffenen Rege- lung.66 Vergleichbare Institute finden sich auch in anderen Rechtsordnungen der Union. Soweit die spezifische Tatbestandswirkung einer Kommissionsentscheidung reicht, folgen Bindungen des nationalen Gerichts daher in der Tat aus der unmittel- baren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts.

62 EuGH (Fn. 47), Rn. 50, 54, 57. 63 Näher zu diesen gesicherten Grundsätzen etwa die Nachweise bei Bleckmann (Fn. 19), Rn. 1086 ff., 1152 ff., oder Hans D. Jarass/Saša Beljin, Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts, NVwZ 2004, 1 ff.; ferner EuGH Rs. 314/85 (Foto-Frost), NJW 1988, 1451 ff. 64 So etwa Bartosch (Fn. 6), 106; Eilmansberger (Fn. 12), Vor Art. 81 EGV Rn. 6 und Art. 81 EGV Rn. 84 ff.; Kjølbye (Fn. 52), 181. 65 Vgl. etwa BVerwG, NVwZ 1987, 496, allerdings mit der missverständlichen Feststellung, Tatbestandswirkung komme nur dem „Tenor“ des Verwaltungsaktes zu; Hans-Günter Hennecke, in: Knack, VwVfG, 7. Aufl. 2000, Vor § 35 Rn. 30 ff.; Ferdinand O. Kopp/Ulrich Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl. 2003, § 43 Rn. 18; Hubert Meyer, in: Knack, VwVfG, 7. Aufl. 2000, § 43 Rn. 17 ff.; umfassend und erhellend zu dem ganzen Komplex Max-Jür- gen Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, 1989, S. 69 ff. 66 Besonders deutlich BVerwG, NVwZ 1990, 559, 560 (es gehe „darum, wie weit ihre Regelung inhaltlich reicht“); vgl. auch BVerwG, NVwZ 1987, 496, 497; Kopp/Ramsauer (Fn. 65), § 43 Rn. 26 f. m.w.N.; Meyer (Fn. 65), § 43 Rn. 22; kritisch Seibert (Fn. 65), S. 127 ff.; vgl. auch Art. 103 der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates über die Gemeinschaftsmarke v. 20.12.1993, ABl.EG Nr. L 011 v. 14.1.1994, 1 ff.

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Die Unschärfe und begriffliche Mehrdeutigkeit der Tatbestandswirkung werden al- lerdings bereits im deutschen Recht zu Recht kritisiert.67 Auf der Ebene des Gemein- schaftsrechts sind die Maßstäbe nochmals unschärfer. Der Umfang der Bindung an eine konkrete Kommissionsentscheidung ist jedenfalls nicht pauschal vorgegeben, sondern abhängig von ihrer individuellen und sachlichen Tragweite sowie ihrem rechtlichen Aussagegehalt.68 In persönlicher Hinsicht entfalten nach Art. 249 Abs. 4 EGV auch Entscheidungen für ihren Adressaten unmittelbare Wirkung, beanspru- chen allerdings – anders als gemeinschaftliche Verordnungen – im Regelfall69 keine allgemeine Verbindlichkeit.70 Die sachliche Reichweite richtet sich nach dem jewei- ligen Regelungsgehalt und Verbindlichkeitsanspruch der Kommissionsentscheidung sowie nach Sinn und Zweck der zugrunde liegenden Norm. Im Bereich des Kartellrechts ergibt sich damit ein differenzierter Befund: Eine kon- stitutive kartellrechtliche Individualfreistellung alten Typs band jedenfalls nach ihrem Sinn und Zweck auch nationale Behörden und Gerichte. Demgegenüber be- handeln Untersagungsverfügungen die Frage der Zulässigkeit einer Vereinbarung lediglich im Rahmen ihrer Begründung; eine Bindung der Gerichte wird daher ver- neint.71 Auch Negativatteste und „comfort-letters“ sind nach herrschender Lehre Feststellungen ohne Regelungsgehalt und entfalten gegenüber Gerichten keine Bin- dungswirkung.72 Dieser beschränkte Regelungscharakter der Kommissionsentschei- dungen wurde durch die Kartellreform nochmals reduziert: Transformiert Art. 81 Abs. 3 EGV zur unmittelbar anwendbaren Norm, so sind die Einzelentscheidungen der Kommission auch insoweit grundsätzlich nur mehr deklaratorische Bestätigun- gen der Rechtslage 73 ohne Bindungswirkung gegenüber einem nationalen Gericht. Bei einzelnen Typen von Entscheidungen auf Grundlage der Verordnung 1/2003, vor allem bei der „Feststellung der Nichtanwendbarkeit“ nach dem neuen Artikel 10 der VO, mag sich über eine Feststellungswirkung gegenüber Dritten debattieren las-

67 Seibert (Fn. 65), S. 71 ff.; ähnlich Roman Herzog, in: Maunz/Dürig u.a., GG, Art. 97 Rn. 30, Stand: Mai 1977. 68 Astrid Epiney, Neuere Rechtsprechung des EuGH, NVwZ 2001, 524, 527; vgl. auch Jan de Weerth, Rückwir- kende Absenkung von steuerrechtlichen Beihilfen?, IStR 2001, 158, 159. 69 Ausnahmsweise können sich auf Entscheidungen, die an Mitgliedstaaten gerichtet sind, auch Private berufen. Vgl. dazu Armin Hatje, in: Schwarze (Fn. 19), Art. 10 EGV Rn. 19 m.w.N. 70 Bernd Biervert, in: Schwarze (Fn. 19), Art. 249 EGV Rn. 33; Werner Schroeder, in: Streinz (Fn. 12), Art. 249 EGV Rn. 133 f.; Schwarze (Fn. 59), Bd. 2, S. 935 ff.; vgl. auch die insoweit entwickelte Kritik an den Vorschlä- gen des Weißbuchs bei Jaeger (Fn. 5), 1067. 71 So Deringer (Fn. 33), 7, unter Berufung auf das „allgemeine Verhältnis von Gerichten und Behörden“; Zuber (Fn. 10), S. 53 ff. 72 Hans-Georg Kamann/Christian Horstkotte, Kommission versus nationale Gerichte, WuW 2001, 458, 460 f.; Mäsch (Fn. 37), 829 f.; Schröter (Fn. 8), Art. 81 Rn. 237 m.w.N.; Ernst Steindorff, Aufgaben und Zuständigkei- ten im europäischen Kartellverfahren, ZHR 162 (1998), 290, 315; Wolfgang Weiß, in: Callies/Ruffert (Fn. 57), Art. 81 EGV Rn. 24, 26 ff., 29; Zuber (Fn. 10), S. 48 ff. m.w.N.; wohl auch Behrens (Fn. 4), S. 88, 97 f.; a.A. Schroeder (Fn. 70), Art. 249 EGV Rn. 134 in Fn. 436 m.w.N. Nach der bis zu dem Masterfoods-Urteil ganz vorherrschenden Sichtweise waren daher Dritte und staatliche Gerichte an kartellrechtliche Entscheidungen der Kommission nur im Falle einer konstitutiven Freistellung nach Art. 81 Abs. 3 EGV gebunden, vgl. Krück/ Sauter (Fn. 45), H.1 § 3 Rn. 4, Stand: EL 10/Mai 2001; Steindorff (diese Fn.), 316. Implizit findet sich diese Vorstellung auch in EuGH Rs. 31/80 (L‘Oréal/PVBA) Slg. 1980, I-3775 Rn. 8, sowie in den Schlussanträgen von GA Jacobs, Rs. C-91/95 P (Tremblay/Kommission) Slg. 1996, I-5547 Rn. 38. 73 So auch Paulis (Fn. 44), 423, der eine Bindung der nationalen Gerichte indes gleichwohl bejaht.

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sen. Die in dem Masterfoods-Urteil und in Art. 16 VO intendierte Bindung an den gesamten Inhalt74 aller kartellrechtlichen Kommissionsentscheidungen geht über solche punktuellen Verbindlichkeitsansprüche jedoch weit hinaus. Das Institut der Tatbestandswirkung von Verwaltungsentscheidungen kann für eine derart weit rei- chende Bindung keine Grundlage bieten. Zwar wurde im Schrifttum vereinzelt für eine Ausweitung der spezifischen Bindungen kartellrechtlicher Entscheidungen der Kom mission hin zu einer erweiterten Feststellungswirkung plädiert.75 Mit der An- knüpfung an die Rechtssicherheit und die Gemeinschaftstreue hat der Europäische Gerichtshof indes auf eine spezifisch kartellrechtliche Begründung verzichtet. Ins- gesamt ist damit festzuhalten: Der „Vorrang“ der Kommissionsentscheidung gegen- über Urteilen nationaler Gerichte ist nicht mit der unmittelbaren Anwendbarkeit und dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts identisch76, denn auch eine unmittelbar an- wendbare und vorrangige Kommissionsentscheidung beansprucht von vornherein keine rechtsnormartige umfassende Bindung an alle ihre Teile.

b) Der Grundsatz der Rechtssicherheit

Der Europäische Gerichtshof selbst hat den Grundsatz der Rechtssicherheit, den er in dem Delimitis-Urteil noch als Grundlage eines Verbots widersprechender Ent- scheidungen der Kommission und der nationalen Gerichte interpretierte, in der an- schließenden Masterfoods-Entscheidung nicht mehr herangezogen. Die stillschwei- gende Abkehr von diesem Begründungsansatz mag als ebenso stillschweigendes Anerkenntnis seiner mangelnden Tragfähigkeit gewertet werden: Als allgemeiner Rechtsgrundsatz findet das Prinzip der Rechtssicherheit seinen Geltungsgrund in erster Linie in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und in deren gemeinsamen Rechts- und Verfassungstraditionen.77 Ein Verbot widersprechender Entscheidungen in der Weise, dass Verwaltungsentscheidungen und Gerichtsurteile nicht nur in ihrem Tenor, sondern auch in ihren Sachverhaltsfeststellungen und rechtlichen Ausführungen durchweg in Kongruenz stehen müssten, lässt sich in den Mitgliedstaaten jedoch schwerlich nachweisen. In der deutschen Rechtsordnung fin- det sich eine gewisse Parallele in dem durch den Zweiten Senat des Bundesverfas- sungsgerichts entwickelten rechtsstaatlichen Postulat der „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“.78 Diese durch den Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung

74 Vgl. zum Umfang der Bindung bereits die Nachweise oben in Fn. 12. 75 So besonders Ehlermann (Fn. 5), 566 ff., der eine Kompetenz zum Erlass von allgemeinverbindlichen Ent- scheidungen in Art. 83 Abs. 1 EGV verortet; ähnlich Steindorff (Fn. 72), 316. Diesem Vorschlag entspricht das weite Verständnis der „Tatbestandswirkung“ von Beihilfeentscheidungen der Kommission bei Joachim Suer- baum, Die Europäisierung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts, VerwArch 91 (2000), 169, 184. 76 So zu Recht Luigi Malferrari, Neues zur Kompetenzverteilung zwischen Kommission und nationaler Gerichts- barkeit auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts, IuR 2001, 605, 610. 77 Vgl. nur Bleckmann (Fn. 19), Rn. 572 ff. m.w.N.; für den Kontext des Wettbewerbsrechts Wolfgang Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kar tell verfahren, 1996, S. 23 ff. 78 BVerfGE 98, 106, 118 f., 123 ff. („rechtsstaatliche Grenze der Kompetenzausübung); BVerfGE 98, 83, 97 f.; BVerwGE 110, 248 ff.

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inspirierte Figur stieß zu Recht auf die ganz überwiegende Kritik des Schrifttums79 und scheint sich nicht umsonst auf eine ähnlich diskrete Weise aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes verabschiedet zu haben wie der auf den Grundsatz der Rechtssicherheit bezogene Ansatz des Delimitis-Urteils.

c) Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit

Mit der in Art. 10 EGV verankerten Pflicht zur Gemeinschaftstreue und der weiter gehenden Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit zwischen Kommission und nationa- len Gerichten hat der Gerichtshof zuletzt einen dritten Begründungsansatz gewählt, der sich auf Grund seiner relativen Unbestimmtheit als sehr viel resistenter gegenü- ber dogmatischen Einwänden darstellt. Als „zentrales Verfassungsprinzip der Euro- päischen Union“ mit der Funktion, „das europäische Mehrebenensystem so zu koor- dinieren, dass die Union ihre Ziele erreichen kann“80, ist diese Vorschrift thematisch zweifellos einschlägig. Da der Loyalitätsgrundsatz zudem der Konkretisierung durch den Gerichtshof bedarf, stellen sich die entsprechenden Folgerungen von vornherein notwendigerweise als stark voluntativ geprägte Rechtsfortbildungen dar81, die einer dogmatischen Kritik nur bedingt zugänglich sind. Dennoch fällt die Vorstellung nicht leicht, ein nationales Gericht könne dadurch seine Rechtspflichten gegenüber der Gemeinschaft treuwidrig verletzen, dass es deren Vorschriften unab- hängig und gewissenhaft interpretiert und anwendet. Damit ist ein grundsätzlicher Einwand gegen die Masterfoods-Entscheidung angesprochen: Auch wenn der relativ unbestimmte Grundsatz der gemeinschaftsrechtlichen Loyalität dem Gerichtshof ein weites Maß an Konkretisierungsspielraum eröffnen mag, können aus Art. 10 EGV – ebenso aus Grundsätzen wie der Rechtssicherheit oder aus dem Institut der Tatbe- standswirkung – keine Rechtsfolgen abgeleitet werden, die grundlegende Ziele oder Strukturprinzipien der Verfassungen der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Union selbst untergraben.82 Ein Grundsatz, den die Aussagen des Masterfoods-Ur- teils in Frage stellen, ist jedoch die Unabhängigkeit des nationalen Richters.

79 Vgl. etwa Christoph Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, NVwZ 2002, 33 ff.; Hans D. Jarass, Bemerkenswertes aus Karlsruhe, UPR 2001, 5 ff.; Horst Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, 2875 ff.; im Grundsatz zustimmend jedoch Udo Di Fabio, Das Kooperationsprin- zip, NVwZ 1999, 1153, 1156 f. 80 So Armin Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, 2001, S. 105; vgl. zur Gemeinschafts- treue als konkretisierungsbedürftige Grundsatznorm ferner Bleckmann (Fn. 19), Rn. 697 ff.; Armin von Bog- dandy , Rechtsfortbildung mit Art. 5 EGV, in: Randelzhofer (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Grabitz, 1995, S. 17, 19 ff.; ders./Jürgen Bast, The European Union‘s Vertical Order of Competences, CMLR 39 (2002), 227, 263; Wolf gang Kahl, in: Callies/Ruffert (Fn. 57), Art. 10 EGV Rn. 3 ff.; Lück (Fn. 39), S. 107 ff.; Manfred Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der EU, NJW 2000, 2846 f. 81 Vgl. besonders von Bogdandy (Fn. 80), S. 20 f. 82 Vgl. Carsten Jennert, Die zukünftige Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, NVwZ 2003, 937, 939 m.w.N.

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IV. Loyale Zusammenarbeit und richterliche Unabhängigkeit

1. Das Meinungsbild im Schrifttum

Im Schrifttum sind solche Bedenken allerdings mittlerweile verebbt. Zwar fanden die Vorschläge des Weißbuchs zunächst durchaus Widerspruch, der sich meist auf den Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte bezog.83 Das Masterfoods-Urteil stieß hingegen nur noch vereinzelt auf Kritik, bemerkenswerterweise vor allem aus der Anwaltschaft: Der Brüsseler Rechtsanwalt Andreas Geiger beklagte, der Ge- richtshof degradiere die staatlichen Gerichte zu „Erfüllungsgehilfen“ der Kommis- sion84, der Pariser Advokat Jean Claude Forgoux kritisierte, der Gerichtshof nähere die Stellung der Gerichte der einer Verwaltungsbehörde an und beschneide die rich- terliche Unabhängigkeit in einer Weise, die „offensichtlich“ gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK und gegen Art. 47 der Grundrechtscharta der Europäischen Union versto- ße.85 Insgesamt wich jedoch unter dem Eindruck des Masterfoods-Urteils der kritische Grundton gegenüber den neuen Vorschlägen einer breiten Zustimmung, so dass die Kommission ihre Rolle nochmals ausbaute86. Deutsche Gerichte haben sich den Masterfoods-Grund sätzen auch außerhalb des Kartellrechts angeschlossen87, und die meisten Darstellungen weisen eher beiläufig darauf hin, Art. 16 VO kodifiziere, was bereits durch die Rechtsprechung geklärt sei.88 Soweit die neue Rollenvertei- lung überhaupt als rechtfertigungsbedürftig angesehen wird, finden sich ergänzend zu den Ausführungen des Gerichtshofs89 unterschiedliche Begründungsansätze. Verbreitet ist die Sichtweise, die in Art. 16 VO angeordnete Bindung folge bereits aus der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts.90 Gegen Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung haben Kommissionsvertreter zudem die beifällig aufgenommene These entwickelt, dieser Grundsatz beanspruche im Ver- hältnis von Organen der Gemeinschaft zu solchen der Mitgliedstaaten von vorn-

83 Vgl. dazu bereits die Nachweise oben in Fn. 32 ff. 84 Geiger (Fn. 36), 117. 85 Forgoux (Fn. 36), 1866 f. („Cette altération de l’indépendance du juge, évidement contraire à l’art. 6, paragr. 1, Conv. EDH et même à l’art. 47 de la Charte des droits del’Union européenne ...“) ; ähnliche Kritik im Ansatz auch bei O’Keefe (Fn. 13), 307 ff.; Yves Mot tard u.a., Chronique semestrielle du droit communautaire, Journal des tribunaux 120 (2001), 809, 810. 86 Der Verordnungsentwurf (Fn. 6) gab auf S. 26 den staatlichen Gerichten auf, „alles zu unternehmen“, um Wi- dersprüche zu Kommissionsentscheidungen zu vermeiden. Diese wohl unter dem Vorbehalt des prozessual Mög li chen stehende Pflicht transformiert in Art. 16 zu einer uneingeschränkten Bindung. 87 So besonders OVG Münster, NVwZ 2002, 612, 613. 88 So etwa Goldschmidt/Thomsen (Fn. 17), 26, 30 in Fn. 15; Hans-Georg Kamann/Ellen Bergmann, Die neue EG-Kartellverfahrensverordnung, BB 2003, 1743, 1744 f.; Mavroidis/Neven (Fn. 6), 165 f. („settled case law“); vgl. auch die Kommentierung durch Niggemann (Fn. 45), KartVO nach Art. 83 EGV Rn. 14 ff., der die Koor- dination der nationalen Gerichte in keiner Weise problematisiert. 89 Diesen folgen etwa Mario Nicolella, Anm. zum Masterfoods-Urteil, Gazette du Palais 2001, 893 f., oder Steven Preece, Analysis Masterfoods Ltd v. HB Ice Cream Ltd, ECLR 22 (2001), 281, 284 f. 90 Vgl. zu diesem Begründungsansatz bereits die Ausführungen und Nachweise oben bei Fn. 62 ff.

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herein keine Geltung.91 Vorherrschend ist jedoch vor allem im Schrifttum die Auf- fassung, die Anbindung der nationalen Gerichte an die Vorgaben der Kommission sei unabdingbar, um die Einheitlichkeit des EG-Wettbe werbsrechts zu gewährleis- ten.92 Offen formuliert eine Anmerkung zur Masterfoods-Ent scheidung: „Das Interesse der EG ... an einer einheitlichen Tragweite des gemeinschaftli- chen Kartellrechts überwiegt daher letztlich das Interesse der einzelnen Mit- gliedstaaten bzw. ihrer nationalen Gerichte an einer uneingeschränkten Unab- hängigkeit der Richter ... Im Ergebnis scheint daher der Eingriff in die richterli- che Unabhängigkeit der nationalen Gerichte angemessen und durch das vorrangige Gebot der europaweiten Einheitlichkeit von Gerichts- und Kommis- sionsentscheidungen gerechtfertigt“.93 Eine solche Argumentation setzt implizit voraus, dass die Vorgaben zur Unabhän- gigkeit der Gerichte im Falle ihrer Einschlägigkeit als bloße Rechtsprinzipien94 ei- ner Abwägung mit anderen Rechtssätzen zugänglich sind. Welche Maßstäbe gelten also für die Unabhängigkeit der nationalen Richter in der Union?

2. Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit in der Europäischen Union

a) Vorgaben des nationalen Verfassungsrechts

Die Kritik an den Vorschlägen des Weißbuchs bezog sich, soweit sie die richterliche Unabhängigkeit als berührt ansah, durchweg auf Bestimmungen des nationalen Ver- fassungsrechts.95 In der Bundesrepublik garantiert insoweit Art. 97 Abs. 1 GG die sachliche Unabhängigkeit und Art. 97 Abs. 2 GG die persönliche Unabhängigkeit des Richters. Diese Normen stehen in engem Zusammenhang mit der in Art. 20 Abs. 3 GG hervorgehobenen Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht so- wie dem in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG verankerten und in Art. 92 GG konkretisierten Grundsatz der Gewaltenteilung.96 Die Garantie richterlicher Unabhängigkeit setzt dem Anliegen einer einheitlichen Rechtsprechung enge Grenzen.97 Die so umrisse-

91 So der Angehörige der Generaldirektion IV Paulis (Fn. 44), 420 f.; dem folgend – und ebenfalls DG IV ange- hörend – Kjølbye (Fn. 52), 180 f. mit der These, auch das Masterfoods-Urteil beruhe auf dieser Konstruktion. 92 So etwa von Bogdandy/Buchhold (Fn. 6), 803 f.; Kamann/Horstkotte (Fn. 72), 465; Kjølbye (Fn. 52), 175, 178 f., 184; Malferrari (Fn. 76), 608. 93 Bartels (Fn. 51), 87. 94 Als Rechtsprinzipien bezeichnet die Rechtstheorie bloße Sollvorschriften, deren Ausnahmen im Gegensatz zu Rechtsnormen nicht abschließend aufgezählt sind und die daher im Einzelfall mit anderen Prinzipien kollidie- ren können. Näher dazu Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 22 ff.; für die deutsche Rezeption statt vieler Robert Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 177, 182 ff. m.w.N. 95 So verweist die Anmerkung von O’Keefe (Fn. 13), 307, auf Art. 34 Abs. 1 der irischen Verfassung: „Justice shall be administered in courts established by law, by judges“. 96 Vgl. Günther Barbey, Der Status des Richters, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. III, 1988, § 74 Rn. 27 ff.; Hans-Jürgen Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, NJW 2001, 1089 ff. m.w.N.; Jörg Zätsch, Richterliche Unabhängigkeit und Richterauswahl in den USA und Deutschland, 2000, S. 62 ff.; Michael Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, bes. S. 103 ff., 166 ff. allerdings im Kontext der Hauptthe- se, es bestehe eine verfassungsrechtliche Pflicht der Gerichte zur Befolgung einschlägiger Präjudizien. 97 Näher etwa Claus Dieter Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 3, 4. Aufl. 2001, Art. 97 Rn. 19 ff. m.w.N.; grundsätzlich anders jedoch die Arbeit von Reinhardt (Fn. 96).

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ne Unabhängigkeit bezeichnet das Bundesverfassungsgericht als ein „tragendes Or- ganisationsprinzip“ des Grundgesetzes.98 Nach herrschender Lehre ist sie als Kon- kretisierung des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 79 Abs. 3 GG jeder Verfassungsän- derung entzogen.99 Da nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auch für die Änderung der Grundlagen der Europäischen Union die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG zur An- wendung kommen, gilt insoweit auch gegenüber den Auswirkungen der gemein- schaftlichen Integration eine absolute Verfassungsschranke.100 Sollten Art. 16 der neuen Verordnung 1/2003 sowie die dahinter stehende Judikatur des Europäischen Gerichtshofs dieses Organisationsprinzip beeinträchtigen, so wäre damit die Grenze einer zulässigen Gemeinschaftsintegration erreicht.101 Ähnliche Vorgaben zur richterlichen Unabhängigkeit finden sich in verschiedenen völkerrechtlichen Übereinkommen sowie in nahezu allen europäischen Verfassun- gen.102 Im Schrifttum findet sich die These, die Verletzung solch grundlegender Verfassungsbestimmungen hätte praktisch immer auch einen Verstoß gegen Primär- recht zur Folge. Das „Kooperationsverhältnis“ zwischen Europäischem Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht fordere, dass in einem solchen Fall das Bundesver- fassungsgericht eine entsprechende Vorlagefrage stelle.103 Es mag offen bleiben, ob diese Maßstäbe auch in jenen Fällen Sinn stiften, in denen sich der entsprechende Verstoß gerade in einem Urteil des Gerichtshofs selbst findet.104 Hilfreich ist jedoch der Hinweis auf die Vorgaben des Primärrechts. Aussagen zur richterlichen Unab- hängigkeit lassen sich insoweit sowohl aus dem EG- als auch dem EU-Vertrag ablei- ten, vor allem jedoch der Europäischen Menschenrechtskonvention entnehmen.

98 BVerfGE 2, 307, 320; 3, 225, 247; vgl. auch BVerfGE 60, 253, 296 f.; Steffen Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 97 Rn. 1. 99 Norbert Bernsdorff, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Bd. II, 2002, Art. 79 Rn. 11; Wolfgang Meyer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 3. 5. Aufl. 2003, Art. 97 Rn. 6; ; Rudolf Wassermann, in: AK-GG, 3. Aufl. Art. 97 Rn. 14, Stand: GW 2001 m.w.N.; wohl auch Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2000, Art. 97 Rn. 14; für Art. 97 Abs. 1 ebenso Herzog (Fn. 67), Art. 97 Rn. 2 f., Stand: Mai 1977; mit Kritik am Umfang der Garantie auch Reinhardt (Fn. 96), S. 81 f. 100 Zu dieser recht unterschiedlich interpretierten Norm Wolfgang Heyde, in: Umbach/Clemens (Fn. 99), Art. 23 Rn. 61 ff., der allerdings den Inhalt des Art. 79 Abs. 3 GG durch integrationsfreundliche Konkordanz mit kol- lidierendem Gemeinschaftsrecht relativiert; Huber (Fn. 55), § 4 Rn. 14 ff.; Ingolf Pernice, in: Dreier (Fn. 99), Bd. II, 1998, Art. 23 Rn. 93 ff.; Rupert Scholz, in: Maunz/Dürig u.a. (Fn. 67), Art. 23 Rn. 87 ff., Stand: Okt. 1996; Rudolf Streinz, in: Sachs (Fn. 98), Art. 23 Rn. 83; vgl. auch Claus Dieter Classen, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck (Fn. 97), Bd. 2, 4. Aufl. 2000, Art. 23 Rn. 61, der Art. 23 Abs. 1 S. 3 neben Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG keine eigen ständige Bedeutung zuspricht. 101 Art. 23 Abs. 1 GG tritt damit an die Stelle der vorher für Art. 24 a.F. GG geltenden Integrationsschranken; vgl. aus dieser Perspektive noch Rupert Scholz, Wie lange bis „Solange III“?, NJW 1990, 941 ff. 102 Vgl. zum europäischen Rechtskreis Schulze-Fielitz (Fn. 99), Art. 97 Rn. 9 ff. m.w.N.; zu völkerrechtlichen Vorgaben Ben Olbourne, Independence and Impartiality, International Standards, Law and Practice of Interna- tional Courts and Tribunals 2 (2003), 97 ff.; Dinah Shelton, Legal Norms to Promote the Independence and Accountability of International Tribunals, ebenda, 27, 30 ff., sowie die weiteren Beiträge in diesem Heft. 103 Monika Ende, Die Bedeutung des Art. 6 Abs. 1 EMRK für den gemeineuropäischen Grundrechtsschutz, KritV 79 (1996), 371, 373 f. 104 Zu der formalen Frage, ob die Gültigkeit von Urteilen des Gerichtshofs Gegenstand einer Vorlage sein kann, ablehnend Middeke (Fn. 19), § 10 Rn. 34; Schwarze (Fn. 19), Art. 234 EGV Rn. 9 und 18, jeweils m.w.N. Prak- tisch könnte eine Frage zur Auslegung des Urteils oder eine abstrakte Rechtsfrage vorgelegt werden.

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b) Vorgaben des EG-Vertrags

Die Verfassungsordnung der Europäischen Gemeinschaft beruht auf keiner Gewal- tenteilung im klassischen Sinn, sondern verteilt Legislativ- und Exekutivbefugnisse auf verschiedene Gemeinschaftsorgane. Zwischen diesen ist nach der Rechtspre- chung lediglich ein durch die spezifischen Einzelbestimmungen vorgegebenes insti- tutionelles Gleichgewicht zu wahren.105 Dennoch trennt auch das Gemeinschafts- recht die rechtsprechende Gewalt klar von den übrigen Gemeinschaftsfunktionen ab.106 Obwohl der EG-Vertrag keine ausdrückliche Verankerung der richterlichen Unabhängigkeit enthält107, betont der Gerichtshof die Notwendigkeit der Unabhän- gigkeit der Richter der Gemeinschaft.108 Art. 223 Abs. 1 S. 1 EGV hebt dementspre- chend unter den Anforderungen an die Richter und Generalanwälte „jede Gewähr für Unabhängigkeit“ hervor.109 Damit handelt es sich bei der Unabhängigkeit der europäischen Richter um einen zentralen Rechtsgrundsatz der Gemeinschafts- rechtsordnung. Bereits das Masterfoods-Urteil legt indes nahe, dass der Gerichtshof bei den Gerich- ten der Mitgliedstaaten dem Erfordernis ihrer Unabhängigkeit einen geringeren Stellenwert zuzuweisen scheint. In der Tat hat der Gerichtshof einen spanischen Spruchkörper, der aus abberufbaren Steuerbeamten zusammengesetzt war, ohne weiteres als hinreichend „unabhängiges“ Gericht im Sinne des Art. 234 EGV ange- sehen, da zumindest ein sachliches Weisungsrecht der Steuerverwaltung nicht be- stand.110 Als weiteres Indiz mag die Übertragung der Grundsätze über die Staats- haftung für Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht auf Entscheidungen eines mit- gliedstaatlichen Gerichts im September 2003 angesehen werden.111 Solchen relativierenden Signalen ist die Forderung entgegen zu halten, dass dieselben Anfor- derungen an die Unabhängigkeit, die für europäische Richter gelten, kraft Gemein-

105 EuGH Rs. 138/79 (Roquette Frères/Rat) Slg. 1980, I-3333 Rn. 33; Rs. C-70/88 (Parlament/Rat) Slg. 1990, I- 2041 Rn. 21 f.; im Schrifttum Peter Michael Huber, Das institutionelle Gleichgewicht zwischen Rat und Euro- päischem Parlament in der künftigen Verfassung für Europa, EuR 2003, 574, 576 f.; Jean-Paul Jacqué, The Principle of Institutional Balance, CMLR 41 (2004), 383 ff., Manfred Zuleeg, Die EG als Rechtsgemeinschaft, NJW 1994, 545, 548. Kritisch zu der Figur Michael Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, 1996, S. 172 ff., 177 ff. („Leerformel“); Rittner (Fn. 7), 129, sowie Horn (Fn. 54), 213 ff., der eine unausweichliche „konstitutionelle Grundsatzfrage“ der Union diagnostiziert. 106 So bereits Klaus Heising, Die Gewaltenteilung nach dem Grundgesetz und nach dem Vertrag zur Gründung der EWR, 1969, S. 110 f., 135 f., 144 f., 146; Hatje (Fn. 27), S. 411 ff.; Zuleeg (Fn. 105), 545 ff. 107 Vgl. Manfred Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Ver- fassungsrecht, 2003, S. 931, 952 f. 108 EuGH Rs. 1/91 (EWR-Gutachten) Slg. 1991, I-6079 Rn. 47 ff. 109 Näher zu dieser Vorgabe Schwarze (Fn. 19), Art. 223 EGV Rn. 2. 110 EuGH Rs. C-110 bis 147/98 (Gabalfrisa u.a./AEAT) Slg. 2000, I-1577 Rn. 33 ff., 39; Tridimas (Fn. 19), 30, wirft dem EuGH daher vor, er verwende „a lax criterion of judicial independence.“ 111 EuGH Rs. C-224/01 (Köbler), EuZW 2003, 718 ff. Rn. 17, 20, 42. Allerdings kommt der EuGH diesem Ein- wand in Rn. 54 ff. zumindest im Grundsatz entgegen und stellt fest, die Frage der hinreichenden Qualifikation eines Verstoßes müsse wegen der „Besonderheit der richterlichen Funktion“ auf erhebliche und offensichtliche Verletzungen des Gemeinschaftsrechts beschränkt werden. Vgl. dazu einerseits die zustimmende Anm. von Jörg Gundel, EWS 2004, 8, 11 ff., andererseits die kritischen Anm. von Walter Obwexer, EuZW 2003, 726 ff., und Peter J. Wattel, 41 CMLR (2004), 177 ff.

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schaftsrechts auch für nationale Richter zur Anwendung kommen müssen, wenn und soweit diese Europarecht anwenden. Auch die Gerichte der Mitgliedstaaten sind – wie gerade Mitglieder des Europäischen Gerichtshofs betont haben – rechtspre- chende Organe im Sinne des Gemeinschaftsrechts.112 Sie müssen daher in gleicher Weise wie die europäischen Richter sachliche und persönliche Unabhängigkeit ge- währleisten. Wo immer die Kommission in dem europäischen Modell der Gewalten- trennung stehen mag, sie nimmt jedenfalls keine richterlichen Funktionen wahr.113 Ihre Einflüsse müssen sich daher an dem Grundsatz der richterlichen Unabhängig- keit messen lassen. Unabhängig von der Frage eines abstrakten Modells der Gewal- tenteilung verwirklicht sich daher auch im Verhältnis der Kommission zu staatlichen Gerichten die freiheitssichernde Funktion einer Trennung verschiedener Hoheits- funktionen.114

c) Vorgaben des EU-Vertrags

Die soeben entwickelte These entspricht auch den Vorgaben des Vertrags über die europäische Union: Gem. Art. 6 Abs. 1 EUV beruht die Union u.a. auf den Grund- sätzen der Freiheit, der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit. Sie achtet nach Art. 6 Abs. 2 EUV die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Menschen- rechtskonvention gewährleistet sind und sich aus den gemeinsamen Verfassungs- überlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschafts- rechts ergeben. Da der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in allen Rechts- ordnungen der Europäischen Union anerkannt ist und durch die Gemeinschaft stets als Teil des ‚‘ behandelt wurde, muss er als einer der in Art. 6 Abs. 1 EUV verankerten Grundpfeiler anerkannt werden.115

112 Vgl. Hirsch (Fn. 25), S. 136; Carlos Rodríguez-Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten – Komponenten der richterlichen Gewalt in der EU, NJW 2000, 1889 ff. 113 So plastisch die dänische Richterin Thorup (Fn. 13), 8 („We should not wipe out that fact or try to pretend that we are on the same side, so to speak.”). 114 Zum klassischen Gewaltentrennungsgrundsatz als Ausprägung eines weiteren freiheitssichernden Prinzips der Gewaltenteilung Andreas von Arnauld, Gewaltenteilung jenseits der Gewaltentrennung, ZParl 2001, 678 ff. Paul Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee (Hrsg.), Gewal tenteilung heute, 2000, S. 99 ff. verdeutlicht, dass aus dieser Perspektive auch im Verhältnis der Ge- meinschaft zu den Mit gliedstaaten eine angemessene freiheitssichernde Gewaltenbalance gefunden werden muss. 115 Die Kommentierungen zu Art. 6 EUV – zuletzt etwa durch Bengt Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zu EUV und EGV, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, Art. 6 EU Rn. 35 ff. –, führen diesen Gesichts- punkt nicht als eigenständiges Element der Rechtsstaatlichkeit auf. Anerkannt ist jedoch der Rang der richter- lichen Unabhängigkeit als gemeineuropäisches Verfassungsrecht. Vgl. dazu neben dem Nachweis oben in Fn. 102 Ralph-Alexander Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzipien zur Begründung von Hoheitsgewalt, in: Müller-Graf/Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der europäischen Union, 1998, S. 99, 105 f., sowie Lorenza Violini, Der gemeineuropäische Bestand von Gegenständen mit Verfassungs- rang, ebenda, S. 33, 47 f. Ähnlich auch Michael Brenner, Determinanten verwaltungsgerichtlicher Rechts- schutzgewährleistung in Europa, LKV 2002, 304, 306. Dem entspricht die Praxis der Union, gegenüber Bei- trittskandidaten auf die Unabhängigkeit ihrer Gerichte besonderes Augenmerk zu richten. Illustrativ hierfür: Monitoring the EU Accession Process – Judicial independence. Country reports, 2001.

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d) Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention

Was sich im EG-Vertrag und im EU-Vertrag lediglich aus allgemeineren Bestim- mungen ableiten lässt, findet sich in konkreteren Formulierungen in der – in Art. 6 Abs. 2 EUV besonders hervorgehobenen – Europäischen Menschenrechtskonventi- on. Gem. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK hat jede Person ein Recht, dass über Streitigkei- ten in bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen „von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht“ verhandelt wird. Da die nationalen Gerichte im Anwendungsbereich der Verordnung 1/2003 über zi- vilrechtliche Ansprüche urteilen, findet Art. 6 EMRK auf diese Verfahren Anwen- dung.116 Die Bindungen der Mitgliedstaaten werden dabei nicht durch den Umstand relati- viert, dass die Gemeinschaft selbst der Menschenrechtskonvention nicht beigetreten und diese daher nicht Bestandteil des Gemeinschaftsrechts ist117: Die Mitgliedstaa- ten bleiben nämlich selbst insoweit an die Menschenrechtskonvention gebunden, als sie zwingende Vorgaben des Gemeinschaftsrechts umsetzen.118 Die Gemeinschafts- rechtsordnung und sogar die durch den Europäischen Gerichtshof entwickelten Vor- gaben wie jene im Masterfoods-Urteil unterliegen damit dem, was der Gerichtshof in seinen Gutachten zu den Außenkompetenzen der Gemeinschaft stets als einen verfassungsrechtlichen Sündenfall angesehen hat119, nämlich einer inhalt lichen Kon- trolle durch ein außenstehendes Gericht. Der verständliche Wunsch, eine Feststel- lung solcher indirekten Konventionsverletzungen zu vermeiden, dürfte auch den Hauptgrund dafür darstellen, dass die Menschenrechtskonvention zur wichtigsten Rezeptionsquelle für die Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs avancierte.120

116 Zum sachlichen Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK Ende (Fn. 103), 374; Anne Peters, Einführung in die EMRK, 2003, S. 103 ff.; Wolfgang Peukert, in: Frowein/Peu kert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 6 Rn. 5 ff. m.w.N. zur Anwendbarkeit auf Wettbewerbssachen in Rn. 51. Art. 47 Abs. 2 S. 1 der Grundrechtscharta der EU – dazu sogleich unter e) – verzichtet auf diese sachlichen Beschränkungen. 117 So für die Anwendung des Art. 6 Abs. 1 EMRK in gemeinschaftlichen Kartellverfahren zuletzt EuG Rs. T-112/98, EuZW 2001, 345 Rn. 59 f.; vgl. auch Weiß (Fn. 77), S. 77 ff.; Sebastian Winkler, Der Beitritt der Eu- ropäischen Gemeinschaften zur EMRK, 2000, S. 36 ff., 115 ff. 118 EGMR, Urt. v. 15.11.1996 (Cantoni/Frankreich), 1996-V Ziff. 30; dazu Christian Busse, Die Geltung der EMRK für Rechtsakte der EU, NJW 2000, 1074 ff.; Dirk Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, § 2 Rn. 24; Peters (Fn. 116), S. 27 ff.; Ulrich Ress, Die EMRK und das europäische Gemeinschaftsrecht, ZEuS 1999, 471, 474 ff.; Weiß (Fn. 77), S. 117 ff.; Winkler (Fn. 117), S. 153 ff. 119 Vgl. EuGH (Fn. 108), Rn. 47 ff., und dazu Hartley (Fn. 9), S. 163 ff. 120 Näher Christian Walter, in: Ehlers (Fn. 118), § 1 Rn. 21 ff.; Winkler (Fn. 117), S. 32 ff.; zu Reibungsflächen zwischen dem gemeinschaftlichen Grundrechtsstandard und dem der EMRK Rick Lawson, Diverging Inter- pretations of the ECHR in Strasbourg and Luxembourg, in: ders./de Blois (Hrsg.), Essays in Honour of Henry G. Schermers, Bd. III, 1994, S. 219 ff.; Peters (Fn. 116), S. 30 f.; Nina Philippi, Divergenzen im Grundrechts- schutz zwischen EuGH und EGMR, ZEuS 2000, 97 ff., bes. 111 ff. (zu Art. 6 EMRK) und 121 ff.; zur „Dis- tanz“ des EuGH gegenüber der Rechtsprechung des EGMR Georg Ress, Menschenrechte, europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Verfassungsrecht, in: Haller u.a. (Hrsg.), FS für Winkler, 1997, S. 897, 917 ff.

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e) Vorgaben der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Über diese indirekten Bindungen hinaus wird die Konvention auf Grundlage der – derzeit noch unverbindlichen, in den Verfassungsentwurf der Union integrierten – Grundrechtscharta der Union und deren Homogenitätsklausel in Art. 2 Abs. 3 S. 1 künftig auch unmittelbare Verbindlichkeit für die Gemeinschaft erlangen.121 Nach Art. 47 Abs. 2 S. 1 der Charta hat jede Person ein Recht, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht verhan- delt wird. Bereits jetzt erhebt die Verordnung Nr. 1/2003 in Nr. 37 ihrer Erwägungs- gründe den Anspruch, die Grundrechte zu wahren und im Einklang mit der Grund- rechtscharta zu stehen. Demzufolge sei die Verordnung „in Übereinstimmung mit diesen Rechten und Prinzipien auszulegen und anzuwenden.“

3. Die Befugnisse der Kommission als De-facto-Weisungsrecht

Diese Vorschriften garantieren – erneut unabhängig von der Frage eines abstrakten Modells der Gewaltenteilung – die sachliche und persönliche Unabhängigkeit eines jeden Gerichts von Einwirkungen der Exekutive, insbesondere seine Weisungsunab- hängigkeit.122 Verbürgt ist die Unabhängigkeit schlechthin, unabhängig davon, ob die Einflussnahme aus der gleichen Rechtsordnung wie der des Gerichts oder einer übergeordneten erfolgt: Für den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK kann es also nicht darauf ankommen, ob beispielsweise eine nationale oder eine internatio- nale Staatsanwaltschaft auf einen Strafprozess einwirkt.123 Eingriffsvorbehalte kennt weder Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK noch Art. 47 der Grundrechtscharta, so dass eine Abwägung der richterlichen Unabhängigkeit mit dem Anliegen der effektiven Anwendung des Kartellrechts von vornherein ausscheidet. Bindungen an die Ent- scheidungen anderer Gerichte stehen der Unabhängigkeit des Spruchkörpers nicht

121 Vgl. etwa Martin Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Uni- on, 2003, Art. 52 Rn. 8 ff., 30 ff.; Christian Callies, in: Ehlers (Fn. 118), § 19 Rn. 16; für eine bereits bestehen- de unmittelbare Verbindlichkeit der Charta über Art. 6 EUV Beutler (Fn. 115), Art. 6 EU Rn. 104; zur Integra- tion in den Verfassungsentwurf Jörg Pietsch, Die Grundrechtecharta im Verfassungskonvent, ZRP 2003, 1 ff. 122 Vgl. im Hinblick auf Art. 6 EMRK: EGMR, Urt. v. 16.7.1971 (Ringeisen/Österreich), A 13 Ziff. 95; Urt. v. 22.10.1984 (Sramek/Österreich), A 84 Ziff. 38; Urt. v. 28.9.1995 (Procola/Luxemburg), A 326, Ziff. 44 ff.; Jo- nathan Gérard Cohen, La Convention Européenne des Droits de l‘Homme, 1989, S. 416 f.; Christoph Graben- warter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, § 24 Rn. 24 m.w.N.; ders., in: Ehlers (Fn. 118), § 6 Rn. 35; Regina Kiener, Richterliche Unabhängigkeit, 2001, S. 38 ff.; Rainer Lippold, Der Richter auf Probe im Lichte der EMRK, NJW 1991, 2383, 2385 f.; Franz Matscher, Die Verfahrensgarantien der EMRK in Zivilsa- chen, ÖZöRV 1980, 1, 14; Jens Meyer-Ladewig, EMRK, 2003, Art. 6 Rn. 29; Herbert Miehsler/Theo Vogler, in: Internationaler Kommentar zur EMRK, Art. 6 Rn. 295 ff., 298, Stand: Sept. 1986; Olbourne (Fn. 102), 110; Eckhard Pache, Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozess, NVwZ 2001, 1342, 1343 f. (auch zu Art. 47 der Grundrechtscharta); Peters (Fn. 116), S. 113; Peukert (Fn. 116), Art. 6 Rn. 124 m.w.N.; Schwarze (Fn. 53), 242 f.; Kurt Zwingenberger, Die EMRK und ihre Auswirkungen auf die BRD, 1958/1997, S. 201; für Art. 47 der Charta: Albin Eser, in: Meyer (Fn. 121), Art. 47 Rn. 32 f. 123 Nach EGMR, Urt. v. 18.2.1999 (Matthews/Vereinigtes Königreich), NJW 1999, 3107, 3108 Rn. 32 ff. mit Anm. Sebastian Winkler, EuGRZ 2001, 18 sind die Gewährleistungen der EMRK auch im Falle einer Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf internationale Organisationen weiterhin „zugesichert“ und die Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten besteht weiter fort.

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entgegen.124 Da die Kommission jedoch kein Gericht ist, würde ihr Weisungsrecht gegenüber einem nationalen Gericht eine Verletzung der Vorschriften über die rich- terliche Unabhängigkeit darstellen. Die Kommission hat ihre neue Rolle als amicus curiae gleichwohl ausdrück lich für mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar erklärt.125 Sie betont die Unverbind- lichkeit ihrer Stellungnahmen gegenüber den nationalen Gerichten126 und betrachtet deren Bindung an ihre Entscheidungen in Kartellverfahren demgegenüber offenbar als insoweit irrelevantes aliud. Handelt es sich also bei den in der Verordnung 1/ 2003 normierten Bindungen staatlicher Gerichte an vorliegende und künftige Kom- missionsentscheidungen um „Weisungen“ oder vergleichbare unzulässige Einwir- kungen auf die richterliche Entscheidung? Verfehlt wäre hier die isolierte Orientie- rung an einem formalen Weisungsbegriff127: Ob ein Strafrichter materiell-rechtlich an eine behördlich festgestellte Tatfrage gebunden wird oder ob die Verwaltungsbe- hörde dem Gericht insoweit im Verfahren eine förmliche Weisung erteilt, ändert im Ergebnis nichts an der tatsächlichen Einschränkung seiner Entscheidungsmöglich- keiten. Ausgehend von dem maßgeblichen Begriff der „richterlichen Unabhängig- keit“ ist vielmehr zu untersuchen, ob und in welchem Umfang sich eine Bindung an Verwaltungsentscheidungen auf genuin richterliche Entscheidungsspielräume aus- wirkt.128 Die von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfasste Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen Privater, auf welche die Kommissionsentscheidung einwirkt, wird unabhängig von den jeweils anwendbaren Abgrenzungstheorien dem Kernbereich richterlicher Tätigkeit zuzurechnen sein.129 Allerdings verdeutlicht das Institut der Tatbestandswirkung, dass auch in originär richterlichen Entscheidungsbereichen eine Bindung an Vorgaben der Verwaltung nicht von vornherein eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit darstellen muss. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dementsprechend die Möglichkeit der Bindung eines Gerichts an eine behördlich entschiedene Vorfrage als mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar angesehen, soweit auch hinsicht- lich dieser Entscheidung ein Art. 6 EMRK genügendes Rechtsmittel gegeben sei.130

124 Vgl. die Nachweise bei Peukert (Fn. 116), Art. 6 Rn. 124 m.w.N., sowie zu den entsprechenden Maßstäben in- nerhalb der Gemeinschaft Dirk Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, 1999, S. 139 f. 125 So Wettbewerbskommissar Monti (Fn. 14), 5: „I fully realise that these issues are sensitive ones due to the in- dependence of the courts ... I firmly believe, however, that our proposal fully respects that principle.” Zugleich unterstreicht freilich auch Monti den Letztentscheidungsanspruch der Kommission gegenüber den Gerichten. 126 Vgl. bereits die Nachweise oben Fn. 14; ähnlich auch Kamann/Horstkotte (Fn. 72), 468, die eine „formale Ge- fährdung“ der richterlichen Unabhängigkeit daher verneinen, sowie Carl Baudenbacher, Die Rolle der natio- nalen Gerichte im modernisierten EU-Wettbewerbsrecht, WuW 2000, 1171. 127 So aber Matscher (Fn. 122), 16, der auf die „charakteristischen Elemente einer Weisung“ abstellt. 128 Dieser Ansatz knüpft an die Einsicht an, dass richterliche Unabhängigkeit nicht nur vor förmlichen Weisungen, sondern auch vor subtileren „subkutanen Einwirkungsmöglichkeiten“ der Exekutive – so Andreas von Ar- nauld, Justizministerium und Organisationsgewalt, AöR 124 (1999), 658, 673 – gesichert werden muss. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II 1980, S. 909 und 912, spricht insoweit von der miss billigten „Fremdeinwirkung“, Zätsch (Fn. 96), S. 62, von „unzulässigen Einflüssen“, Wassermann (Fn. 99), Art. 97 Rn. 23, bezeichnet als unzulässig „jede Anleitung der Rechtsprechung“. 129 So für das deutsche Verfassungsrecht BVerfGE 22, 49, 73 ff., 77 f.; weitere Nachweise bei Classen (Fn. 97), Art. 92 Rn. 7 m.w.N.; vgl. auch bereits Art. 10 der UNO-Menschen rechts erklärung. 130 EGMR, Urt. v. 28.06.1990 (Obermeier/Österreich), A 179, Ziff. 70; im Schrifttum ebenso Grabenwarter, EMRK (Fn. 122), § 24 Rn. 26; Matscher (Fn. 122), 16 f.; Peukert (Fn. 116), Art. 6 Rn. 124.

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Auch das Bundesverfassungsgericht verwehrt es dem Gesetzgeber nicht generell, Verwaltungsakten Tatbestandswirkung beizulegen, verweist jedoch auf das Beste- hen rechtsstaatlicher Grenzen.131 Diese Aussagen bestätigen freilich die thematische Einschlägigkeit der richterlichen Unabhängigkeit: Die Bindung eines Gerichts an eine Verwaltungsentscheidung kann einen weisungsähnlichen Übergriff in die rich- terliche Unabhängigkeit darstellen, auch wenn eine trennscharfe Formel nur schwer zu finden ist, nach der sich eine zulässige Bindung an Verwaltungsentscheidungen von Übergriffen in die richterliche Unabhängigkeit abgrenzen ließe. Maßgeblich ankommen wird es – neben der Verfügbarkeit von Rechtsschutz gegen die vorgela- gerte Verwaltungsentscheidung – auf die Reichweite der Bindung und das Maß an Entscheidungsbefugnissen, die dem Gericht verbleiben.132 Auch wenn sich bei einigen Kommissionsentscheidungen – vor allem bei solchen über die Unabwendbarkeit gem. Art. 10 der Verordnung 1/2003 – nach Wortlaut und Funktion eine Feststellungswirkung des Tenors bejahen ließe, geht nach diesen Maßstäben die Bindung eines nationalen Gerichts an den gesamten Inhalt sämtlicher einen Sachverhalt betreffenden Kommissionsentscheidungen über das mit der rich- terlichen Unabhängigkeit vereinbare Maß hinaus. Im Kartellrecht soll die neue Ar- beitsteilung regelmäßig darauf hinauslaufen, dass die staatlichen Gerichte an den tatbestandlich festgestellten Verstoß gegen Art. 81 EGV lediglich Rechtsfolgen knüpfen, „welche die Kommission nicht anzuordnen befugt ist“133. Dem Gericht bleibt damit bei Vorliegen einer präjudiziellen Kommissionsentscheidung nur noch die Festlegung zusätzlicher Sanktionen, insbesondere des Schadensersatzes. Eine solches Maß an Einflussnahme bezieht sich nicht mehr auf eine bloße Vorfrage, son- dern substituiert die wesentlichen Inhalte der gerichtlichen Entscheidung über die „Ansprüche und Verpflichtungen“ der Kläger. Angesichts der massiven Beschrän- kung seiner Entscheidungsbefugnisse handelt ein derart gebundener Spruchkörper nicht mehr in richterlicher Unabhängigkeit. Selbst wenn man jedoch die vorgesehene Bindung als zulässige Weiterentwicklung des Instituts der Tatbestandswirkung ansehen und eine Verletzung der Unabhängig- keit des staatlichen Gerichts verneinen wollte, könnte dies jedenfalls die Bindung an künftige Kommissionsentscheidungen nicht mehr rechtfertigen: Im Zusammenspiel

131 BVerfGE 83, 182, 196 ff., allerdings unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes; bestätigend BVerfG, VIZ 2000, 209 ff.; vgl. auch BVerfGE 63, 343, 376. Im Schrifttum bejahen die Vereinbarkeit einer Tatbestandswirkung mit der richterlichen Unabhängigkeit mit unterschiedlichen Begründungen Karl August Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: Isensee/Kirch hof (Fn. 96), § 73 Rn. 14, der differenziert, ob eine Norm die Gültigkeit oder die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes voraussetzt; Herzog (Fn. 67), Art. 97 Rn. 30 f., der die Tatbestandswirkung als Ausdruck der Gewaltenteilung begreift; Schulze-Fielitz (Fn. 99), Art. 97 Rn. 26, wonach die Tatbestandswirkung nur das maßgebliche Recht, nicht aber das Urteil beeinflusse. 132 Dies entspricht der Formel in EGMR, Urt. v. 21.9.1993 (Zumtobel/Österreich), ein i.S.v. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK „unabhängiges“ Gericht müsse rechtserhebliche Tatsachen grund sätzlich selbst ermitteln und über hinreichende Entscheidungsbefugnisse verfügen. Ähnlich Brenner (Fn. 115), 306; Oliver Dörr, Der europä- isierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, S. 52; Christoph Grabenwarter, in: Ehlers (Fn. 118), § 6 Rn. 35; ders., Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997, S. 416 ff.; Eberhard Schmidt-Aß- mann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 189 Rn. 61 (dort mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG). 133 Steindorff (Fn. 72), 316.

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mit ihren Verfahrensrechten ermöglicht dieses Institut der Kommission, in jedem nationalen Gerichtsverfahren als „amicus curiae“ zu intervenieren und durch Einlei- tung eines Kartellverfahrens sowie die Absichtserklärung, eine bestimmte Entschei- dung zu erlassen, auch für ein bislang noch nicht von ihr beurteiltes Wettbewerbsver- halten die Entscheidung des Gerichts zu determinieren. Ein solches De-Facto-Wei- sungsrecht gegenüber einem staatlichen Gericht im Zuge eines laufenden Verfahrens kann mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nicht vereinbar sein.

4. Die Bedeutung der Möglichkeit einer Vorlage an den Gerichtshof

Gegenüber Einwänden gegen die in Art. 16 Abs. 1 der Verordnung 1/2003 vorgesehe- ne Bindungswirkung findet sich im Schrifttum vielfach der Hinweis, das nationale Gericht könne das Verfahren gem. S. 4 der Bestimmung stets aussetzen und die Fra- ge der Gültigkeit der präjudiziellen Kommissionsentscheidung dem Gerichtshof nach Art. 234 EGV zur Vorabentscheidung vorlegen; der Sache nach bestehe daher keine Bindung an diese Entscheidung, sondern lediglich eine Pflicht, im Fall einer Abwei- chung den Gerichtshof anzurufen.134 Aus dieser Sicht grenzt Art. 16 VO letztlich al- lein die Zuständigkeiten der nationalen Gerichte von denen des Gerichtshofes ab. Unabhängig von dem verbreiteten Gegeneinwand, die Vorlage führe zu einer unange- messen langen Dauer des nationalen Gerichtsverfahrens135, ist nicht ersichtlich, wie die Möglichkeit einer Vorlage an den Gerichtshof an der Unvereinbarkeit der vorge- sehenen Bindung mit der richterlichen Unabhängigkeit etwas ändern könnte: Rege- lungstechnisch begründet Art. 16 Abs. 1 der Verordnung 1/2003 keine Vorlagepflicht im Instanzenzug, sondern eine Bindung gegenüber der Entscheidung der Kommissi- on, die lediglich durch die Mög lichkeit des staatlichen Gerichts abgemildert wird, gegen diese Beschränkung der eigenen Entscheidungsmacht nach eigenem Ermessen die höhere Instanz anzurufen. Die Vorschrift soll also gerade der Kommission und nicht etwa dem Gerichtshof einen maßgeblichen koordinierenden Einfluss auf die nationale Rechtsprechung eröffnen. Art. 6 EUV, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK sowie Art. 47 der Grundrechtscharta garantieren jedoch nicht nur die Unabhängigkeit einer fa- kultativen letzten Gerichtsinstanz, sondern die Unabhängigkeit jeder richterlichen Entscheidung schlechthin. Die Vorlagemöglichkeit führt damit zu keiner Heilung ei- nes Eingriffes in die richterliche Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte. Darüber hinaus könnte das in Art. 234 EGV vorgesehene Vorlageverfahren jeden- falls im Kartellrecht kaum zu einer umfassenden Prüfung all jener Aspekte führen, hinsichtlich derer die nationalen Gerichte an die Entscheidungen der Kommission gebunden werden. Im Hinblick auf die Bindung der nationalen Gerichte an künftige

134 So O’Keefe (Fn. 13), 304; Preece (Fn. 89), 284 f.; wohl ebenso Jérémie Vialens, Anm. zum Masterfoods-Urteil, Gazette du Palais 2002, 179, 180; ähnlich Kamann/Horstkotte (Fn. 72), 468, und Zuber (Fn. 10), S. 119 f., 138 f.; vgl. auch Jaeger (Fn. 5), 1068. 135 Kritik insoweit bereits am Delimtitis-Urteil bei Carsten Thomas Ebenroth/Angela Rapp, Alleinbezugsverträge und EG-Kartellrecht, JZ 1991, 962, 966; vgl. auch Forgoux (Fn. 36), 1866 f.; Robert Lane, Anm. zum Master- foods-Urteil, ICLQ 50 (2001), 701, 712 f.

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Kommissionsentscheidungen gem. Art. 16 Abs. 1 S. 2 der Verordnung 1/2003 ist unklar, ob die bloße Absicht der Kommission, eine Entscheidung zu erlassen, einen zulässigen Vorlagegegenstand darstellt.136 Zudem hat der Gerichtshof im Rahmen des Vorlageverfahrens, das eine abstrakte Rechtsfrage zum Gegenstand hat, wohl noch kein einziges Mal Beweis erhoben oder die der Kommissionsentscheidung zu- grunde liegenden Tatsachenfeststellungen überprüft.137 Damit scheidet in Vorlage- verfahren ein adäquates Beweisan trags recht der Betroffenen aus. Bei der Anwen- dung des Kartellrechts liegen jedoch die Schwierig keiten vor allem in den Sachver- halten.138 Berücksichtigt man schließlich die weiten Spielräume, die der Gerichtshof der Kommission im Kartellrecht zugesteht139, so muss die grob maschige Kontrolle der Kommissionsentscheidung im Rahmen einer Vorlage weit hinter dem Umfang der in der Masterfoods-Entschei dung bejahten Bindungen zurückbleiben.140 Ein kompensatorischer Rechtsschutz als Ausgleich des Eingriffs in die richterliche Un- abhängigkeit ist auch daher aus dieser Perspektive kaum zu erwarten, würde jedoch ohnehin nichts an dem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK ändern.

V. Ausbl ick

Horst Dreier diagnostizierte vor kurzem, deutsche Gerichte würden zunehmend zur effektiven Durchsetzung der Gemeinschaftsrechtsordnung instrumentalisiert. Aus Sicht des Bürgers verschöben sich die Akzente dabei vom individuellen Rechts- schutz hin zu einer Mobilisierung für die Durchsetzung des objektiven Rechts; der Ausdehnung seiner Klagerechte korrespondierten daher eine Reduktion der gericht- lichen Kontrolldichte sowie ein „Terraingewinn“ der gemeinschaftlichen Verwal- tung.141 Art. 16 der neuen Kartellverordnung bildet ein Musterbeispiel für diese These: Die Kartellrechtsreform vermittelt dem Bürger neue weit reichende Klage- möglichkeiten vor den nationalen Gerichten. Hinsichtlich der beizubringenden Fak- ten wird den Parteien freilich mit Klageerhebung die Disposition über ihren Rechts- streit entzogen.142 Der „quantitative“ Gewinn an Rechtsschutzoptionen wird zudem durch den Umstand getrübt, dass die Rechtsprechung an die Leine der Gemein-

136 Entsprechende Bedenken finden sich bereits in den Masterfoods-Schlussanträgen (Fn. 12), Rn. 24. Allerdings kommen als Vorlagegegenstand Gemeinschaftsrechtsakte aller Art in Betracht, vgl. etwa Middeke (Fn. 19), § 10 Rn. 32; Bernhard Wegener, in: Callies/Ruffert (Fn. 57), Art. 234 EGV Rn. 6. 137 Nach wohl h.L. könnte jedoch bei der Beurteilung der Gültigkeit der Handlungen von Gemeinschaftsorganen auch in Vorlageverfahren eine Beweiserhebung geboten sein. Vgl. dazu die Schlussanträge von GA Warner Rs. 51/75 (EMI Records/CBS) Slg. 1976, 853, 855 f.; Sabine Hackspiel, Beweisrecht, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann (Fn. 19), § 24 Rn. 2 und 13 m.w.N. 138 Baudenbacher (Fn. 126), 1171; Möschel (Fn. 13), 148. 139 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 20 und den begleitenden Text. 140 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt bereits die Masterfoods-Schlussanträge (Fn. 12), Rn. 50 ff.: GA Cosmas hält es dort für unzulässig, bei der Überprüfung einer Kommissionsentscheidung im Rahmen einer Vorab- entscheidung selbständig Tatsachen zu ermitteln. Anders demgegenüber die Stimmen in Fn. 137. 141 Horst Dreier, Die drei Staatsgewalten im Zeichen von Europäisierung und Privatisierung, DÖV 2002, 537, 545 f. Der Akzent auf die Durchsetzung des objektiven Rechts entspricht freilich dem Rechtsschutzauftrag des EuGH in Art. 220 EGV, vgl. Schwarze (Fn. 19), Art. 220 EGV Rn. 2. 142 So ausdrücklich und befürwortend auch Kjølbye (Fn. 52), 179.

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schaftsbürokratie genommen wird und der Kläger von vornherein damit rechnen muss, dass faktisch nicht das angerufene Gericht, sondern die Kommission nach den Maßstäben einer von ihr selbst definierten Wettbe werbspolitik über den Ausgang des Rechtsstreits entscheidet. Die Reform weitet damit die Macht der Kommission zu Lasten der nationalen Gerichte aus und stellt den grundrechtlichen Gehalt der Wettbewerbs ordnung143 zu Lasten ihrer Vollzugseffizienz zurück. Dass diese Aspekte in den bisherigen Darstellungen der Kartellrechtsreform und der ein schlä gigen Urteile meist unerwähnt bleiben, ist auch auf die werbekräftige Dikti- on der Kommission und des Gerichtshofs zurück zu führen: Mit Schlüsselbegriffen wie dem „Recht“ der nationalen Gerichte zur Einholung von Infor mationen bei der Kommission, deren Rolle als „amicus curiae“, den „Kooperationspflichten“ und der „gegenseitigen Loyalität“ stellen die europäischen Institutionen einen geradezu rechtsseelsorgerischen Fürsorgeaspekt in den Vordergrund, obwohl doch der offen- kundige Zweck der neuen Loyalitätspflichten keineswegs in dem Hilfebedürfnis der nationalen Gerichte zu sehen ist, sondern in dem Gemeinschaftsinteresse an einer einheitlichen Rechtsanwendung144. Leider ist daher die beiläufige Spitze nicht völlig von der Hand zu weisen, der Gerichtshof untergrabe in „verlogener Weise“ die Un- abhängigkeit der nationalen Gerichte.145 Dieser im kartellrechtlichen Schrifttum isolierte kritische Klang fügt sich in den Gesamtchor einer breiteren Ideologiekritik ein, die den Gerichtshof seit Jahrzehnten begleitet: Die Gemeinschaftsrechtspre- chung, so lassen sich diese Vorwürfe zusammenfassen, habe sich der Aufgabe des Grundrechtsschutzes von vornherein nur halbherzig und mit dem Ziel angenommen, den konstitutionellen Vorbehalten des Bundesverfassungsgerichts zu begegnen, je- doch stets vorrangig das Ziel verfolgt, unter Zurückstellung grundrechtlicher Belan- ge das Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten.146 Diese überzeichnete Kritik hat zweifellos mit den inhärenten Beschränkungen einer europäischen Rechtsordnung zu tun, die explizit als Grundlage einer Wirtschaftsge- meinschaft geschaf fen wurde und sich – vorangetrieben durch die bahnbrechende Judikatur des Gerichtshofs – erst schrittweise zu der einer Bürgerrechtsgemein- schaft entwickelt. Dem polemischen Befund Ernst Forsthoffs, die Einigung Europas sei „eine Frage der Administration, nicht der Konstitution“147, setzt die Union indes seit Jahrzehnten einen anspruchsvollen konstitutionellen Ansatz entgegen. Der Schlusspunkt dieser Entwicklung, die europäische Verfassungsgebung, soll der Uni- on eine breitere Legitimationsgrundlage vermitteln, verpflichtet sie jedoch auch zur Bewahrung der Verfassungstraditionen ihrer Mitgliedstaaten und fordert damit Re-

143 Dazu Josef Drexl, Wettbewerbsverfassung, in: von Bogdandy (Fn. 107), S. 747, 781 f. 144 So pointiert Steindorff (Fn. 72), 315; ähnlich auch Kjølbye (Fn. 52), 179 f. 145 Forgoux (Fn. 36), 1867 („façon hypocrite»). 146 So besonders Jason Coppel/Aidan O’Neill, The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, 29 CMLR (1992), 669 ff.; vgl. auch Hartley (Fn. 9), S. 132 f.; Walter Leisner, Eigentum, 1996, S. 1005 ff.; Julian- ne Ko kott, Der Grundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, AöR 121 (1996), 599, 637 f. Gegen- kritik bei Joseph H. Weiler/Nic kolas Lockhart , „Taking Rights Seriously» Seriously: The ECJ and its Funda- mental Rights Jurisprudence, 32 CMLR (1995), 51 ff. und 529 ff. 147 Ernst Forsthoff, Der Staat in der Industriegesellschaft, 1971, S. 72.

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spekt und Vertrauen gegenüber der Unabhängigkeit der nationalen Rechtsprechung. Die dirigistische Koordination der mitgliedstaatlichen Gerichte durch die politischen Organe der Gemeinschaft kann nach diesem Maßstab kein angemessenes Mittel darstellen, um die Konvergenz der nationalen Rechtsanwendung zu erzwingen. Ge- gen jedes letztinstanzliche Urteil eines Mitgliedstaats ist Klage zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte statthaft. Vor dem Hintergrund ihrer rechtsstaatli- chen und konstitutionellen Ansprüche an sich selbst sollte die Gemeinschaft jedoch aus eigener Einsicht in der Lage sein, den im Kartellrecht eingeschlagenen Weg zu korrigieren.

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Europarechtliche Probleme der Bürgerversicherung*

Von Jörg Gundel, Berlin

I. Die europarechtlichen Prüfungsmaßstäbe für die Bürgerversicherung

Eines der (konkurrierenden) Zwischenergebnisse der Diskussion um die zukünftige Organisation und Finanzierung der Gesundheitsversorgung in Deutschland ist das Konzept der sogenannten „Bürgerversicherung“1. Auch wenn die Einzelheiten die- ses Vorhabens noch der Fixierung in konkreten Gesetzentwürfen harren2, lassen sich als Kernelemente des Modells die Beseitigung der Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung und die Einbeziehung der bisher nicht er- fassten Bevölkerungsgruppen (Selbständige, Beamte) in deren System identifizie- ren3. Die bisherige „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Kranken- versicherung4 wäre damit aufgehoben, das Betätigungsfeld der privaten Versicherer voraussichtlich auf das Angebot von Zusatzversicherungen reduziert5. Die Frage nach der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit dieses Vorhabens ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil das nationale Verfassungsrecht in seiner Inter- pretation durch das BVerfG dem Gestaltungswillen des Gesetzgebers bei der Ord- nung des Gesundheitswesens kaum wirksame Grenzen zu setzen scheint6. Für eine europarechtliche Bewertung ist das Vorhaben unter zwei Gesichtspunkten fassbar: Zum einen unter dem Aspekt des europäischen Wettbewerbsrechts, also der Art. 81 ff. EGV, die durch die gesetzliche Installierung eines Monopols betroffen sein kön- nen; zum anderen unter dem Aspekt der Grundfreiheiten, also der Position konkur- rierender privater Versicherer aus anderen Mitgliedstaaten, die von der Dienstleis- tungsfreiheit oder der Niederlassungsfreiheit des EG-Vertrages Gebrauch machen wollen, um Versicherungsleistungen anzubieten, und damit korrespondierend der Versicherungsnehmer, die diese Angebote nutzen wollen.

* Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser im Rahmen der 43. Bitburger Gespräche (Gene- ralthema: „Bürgerversicherung: Modell für die Zukunft?“) im April 2004 gehalten hat. 1 S. die Dokumentation der verschiedenen Diskussionsmodelle in Soziale Sicherheit 2003, 402 ff.: Neben der „Bürgerversicherung“ steht das von der Mehrheit der Rürup-Kommission favorisierte Modell der „Kopfpau- schalen“, das rechtlich insofern geringere Probleme aufwirft, als es auf eine Ausweitung des Kreises der ge- setzlich Versicherten verzichtet. Zur rechtlichen Bewertung s. Bieback, Soz. Sicherheit 2003, 416 ff.; s. auch noch Erdmann, ZSR 2003, 673 (677 ff.); Wallrabenstein, SGb 2004, 24 ff. 2 Sie sollen nun bereits in der laufenden Legislaturperiode vorgelegt werden, s. FAZ Nr. 120 v. 25.5.2004, S. 1; FAZ Nr. 117 v. 21.5.2004, S. 11. 3 Ein breiterer Ansatz unter Einbeziehung der Rentenversicherung wird z.B. bei F. Kirchhof, NZS 2004, 1 ff. zugrunde gelegt. 4 Dazu z.B. Schnapp/Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, 2001; Uleer, in: FS v. Maydell, 2002, S. 767 ff. 5 Dazu noch unten bei Fn. 95 f. 6 Kritisch zur singulären Reichweite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums in diesem Sektor zuletzt Hufen, NJW 2004, 14 ff.; ähnlich jetzt auch Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 ff.; s. auch noch (zur verfas- sungsgerichtlichen Bewertung der Position der privaten Versicherer) unten bei Fn. 84.

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II. Bürgerversicherung und europäisches Wettbewerbsrecht

1. Europäisches und nationales Wettbewerbsrecht

Das europäische Wettbewerbsrecht ist als Prüfungsmaßstab vor allem deshalb inte- ressant, weil es anders als das deutsche Wettbewerbsrecht dem Zugriff des Reform- gesetzgebers entzogen ist: Dass Hindernisse aus der Sphäre des deutschen Wettbe- werbsrechts im Gesetzgebungsverfahren en passant mit beseitigt werden könnten, hat das Vorgehen des Gesetzgebers beim Gesundheitsreformgesetz 20007 gezeigt, mit dem durch die Neufassung von § 69 SGB V die gesetzlichen Krankenkassen aus dem Anwendungsbereich des deutschen Wettbewerbsrechts befreit wurden8: Wäh- rend der Gesetzestext selbst nur nüchtern davon spricht, dass die Beziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern öffentlich-rechtlicher Natur seien, macht die Gesetzesbegründung den Zweck dieser Qualifikation deutlich9: Dort heißt es, die Krankenkassen „handeln deshalb nicht als Unternehmen im Sinne des Privatrechts, einschließlich des Wettbewerbs- und Kartellrechts“10. Gegen diese De- finitionshoheit des Gesetzgebers für den Anwendungsbereich des deutschen Wettbe- werbsrechts lässt sich auch verfassungsrechtlich nur wenig anführen11. Das EG- Wettbewerbsrecht lässt sich dagegen nicht auf diese Weise „hinwegdefinieren“, es bestimmt seinen Anwendungsbereich nach seinen eigenen, für den Mitgliedstaat nicht disponiblen Kriterien12.

2. Die Krankenkassen als Unternehmen mit wirtschaftlicher Betätigung?

Allerdings ist auch die Antwort nach diesen gemeinschaftsrechtlichen Kriterien nicht eindeutig: Über die Frage, ob die Sozialsysteme überhaupt den Art. 81 ff. EGV unterfallen, also als wirtschaftliche Unternehmen im Sinne dieser Bestimmung und damit als Adressaten der Pflichten aus Art. 81 ff. EGV anzusehen sind, besteht seit langem Streit. Der EuGH legt hierbei grundsätzlich einen funktionalen Unterneh-

7 GKV-GesundheitsreformG 2000 v. 2.12.1999, BGBl. 1999 I S. 2626. 8 S. dazu u.a. Diekmann/Wildberger, NZS 2004, 15 ff.; Pietzcker, in: FS v. Maydell, 2002, S. 531 ff.; Peikert/ Kroel, MedR 2001, 14 ff.; Gassner, VSSR 2000, 121 (127 ff.). 9 Das BSG legt die im Wortlaut nicht ganz eindeutige Regelung im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers als Ausschluss des Wettbewerbsrechts als Maßstab für das Handeln der Kassen aus, s. BSG, Urt. 25.9.2001 – B 3 KR 3/01, BSGE 89, 24 (30 ff.) = SGb 2002, 688 (691 f.) m. Anm. Noftz zum Ausschluss der Geltung des UWG; BSG, Urt. 31.8.2000 – B 3 KR 11/98 R, BSGE 87, 95 (99) = SGb 2001, 450 (452) m. Anm. Bieback zum GWB; für ein Verständnis als bloße Rechtswegregelung dagegen Engelmann, NZS 2000, 213 ff.; Koenig/En- gelmann, WRP 2002, 1244 (1245 f.); KG Berlin, Beschl. 29.6.2001 – 5 W 24/01, NJW 2002, 1504 (1505; obi- ter); OLG Dresden, Urt. 23.8.2001 – U 2403/00 Kart, NZS 2002, 33 (aufgehoben durch BGH, Urt. 24.6.2003 – KZR 18/01, WRP 2003, 1125 = NZS 2004, 33, der die Frage offen gelassen hat); wohl auch Eichenhofer, NZS 2001, 1 (4). 10 BT-DrS. 14/1245 v. 23.6.1999, S. 67 f. 11 So zu Recht Gassner, VSSR 2000, 121 (129 f.); anders aber Schwerdtfeger, Pharma Ind. 2000, 106 (109 f., 187) vor allem unter Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG; ähnlich Neumann, WuW 1999, 961 (965); ihnen folgend OLG Dresden, Urt. 23.8.2001 – U 2403/00 Kart, NZS 2002, 33. 12 Zu diesem Verlust der mitgliedstaatlichen Definitionsmacht über die Grenze zwischen Verwaltung und wirt- schaftlicher Betätigung s. nachdrücklich Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, 1999, S. 290 Rn 466.

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mensbegriff zugrunde13; Unternehmen ist danach „jede eine wirtschaftliche Tätig- keit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und ihrer Finanzierung“14. Entscheidend ist allein, ob eine Tätigkeit ausgeübt wird, die in ihrer Funktion grund- sätzlich auch Private im Wettbewerb ausfüllen könnten – die also „zumindest grundsätzlich von einem privaten Unternehmen in der Absicht der Gewinnerzielung ausgeübt werden könnte“15. Ausgeschlossen wird mit dieser Abgrenzung zunächst nur die Ausübung von originär hoheitlichen Aufgaben16. Auf der Grundlage dieser funktionalen Betrachtung konnte z.B. in der berühmten Höfner und Elser-Entscheidung von 199117 das nationale Monopol der Arbeitsver- mittlung als unternehmerische Tätigkeit eingeordnet werden; in späteren Entschei- dungen wurde diese Argumentation dann z.B. auch auf Monopole im Bereich des Rettungswesens18 angewandt. Das hatte zur Konsequenz, dass die Schaffung und Aufrechterhaltung dieser Monopole unter zusätzlichen Voraussetzungen19 als Ver- stoß gegen das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung – Art. 82 EGV – eingeordnet werden konnte. Neben diesen Grundlinien hat sich in der EuGH-Rechtsprechung allerdings ein Son- derstrang20 herausgebildet, der bei der Bestimmung des Unternehmensbegriffs die besonderen Bedingungen der sozialen Sicherungssysteme berücksichtigt. Diese Rechtsprechung hat ihren Ausgang in der Poucet und Pistre-Entscheidung von 199321 genommen: Diese Entscheidung ist auch speziell für das Thema Bürgerversicherung von Bedeutung, weil es auch dort schon um die Weigerung von gesetzlich Versicher- ten ging, Beiträge zu der in Frankreich bestehenden gesetzlichen Kranken- und Ren- tenversicherung für Selbständige zu zahlen; sie machten das Recht geltend, stattdessen eine Versicherung mit einem von ihnen frei gewählten Anbieter abzuschließen.

13 S. zum Unternehmensbegriff des Gemeinschaftsrechts und der Einordnung staatlicher Aktivitäten Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 276 ff.; Lange, WuW 2002, 953 ff.; Schwarze, EuZW 2000, 614 ff.; González- Orús, 5 EPL (1999), 388 ff.; Benicke, EWS 1997, 373 ff.; Slot, in: FS Everling, Bd. II, 1995, S. 1413 ff. 14 EuGH, 23.4.1991 - Rs. C-41/90 - Höfner und Elser/Macrotron, Slg. 1991, I-1979, Tz. 21 = EuZW 1991, 349; EuGH, 17.2.1993 – Rs. C-159 u. 160/91 – Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, Tz. 17 = EuZW 1993, 355; EuGH, 19.1.1994 – Rs. C-364/92 – Eurocontrol, Slg. 1994, I-43, Tz. 18 = EuZW 1994, 248 = EWS 1994, 130 m. Anm. Seidl-Hohenveldern; EuGH, 11.12.1997 - Rs. C-55/96 - Job Centre, Slg. 1997, I-7119, Tz. 21 = EuZW 1998, 274. 15 So Tz. 27 der Schlussanträge von GA Jacobs zu EuGH, 16.3.2004 – verb. Rs. C-264 u.a. – AOK-Bundesver- band. 16 Eine unternehmerische Tätigkeit wurde aus diesem Grund verneint für die Luftraumüberwachung durch Eu- rocontrol, s. EuGH, 19.1.1994 – Rs. C-364/92 – Eurocontrol, Slg. 1994, I-43, Tz. 31 = EuZW 1994, 248 (dazu Drijber, 32 CMLRev [1995], 1039 ff.), sowie für die Überwachung der Einhaltung von Umweltbestimmungen durch ein von der Hafenbehörde mit dieser Aufgabe betrautes Unternehmen, EuGH, 18.3.1997 - Rs. C-343/95 – Diego Cali, Slg. 1997, I-1549, Tz. 22 = EuZW 1997, 312; s. auch den Überblick bei Schwarze, EuZW 2000, 614 (615 f.). 17 EuGH, 23.4.1991 - Rs. C-41/90 - Höfner und Elser/Macrotron, Slg. 1991, I-1979 = EuZW 1991, 349; bestätigt durch EuGH, 11.12.1997 - Rs. C-55/96 - Job Centre, Slg. 1997, I-7119 = EuZW 1998, 274; EuGH, 8.6.2000 - Rs. C-258/98 – Carra, Slg. 2000, I-4217 = EWS 2000, 368; dazu z.B. Eichenhofer, NJW 1991, 2857 ff.; zuletzt Rousseau, Droit Social 2002, 974 ff. 18 EuGH, 25.10.2001 - Rs. C-475/99 - Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089 = EuZW 2002, 25 = ZESAR 2003, 230 m. Anm. Abig; dazu auch Stadler/Bock, BayVBl 2003, 40 ff. 19 Dazu näher Möller, VSSR 2001, 25 (46 ff.). 20 Ähnlich z.B. Winterstein, 20 ECLR (1999), 324 (327). 21 EuGH, 17.2.1993 – Rs. C-159 u. 160/91 – Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, Tz. 10, 13 = EuZW 1993, 355 = NJW 1993, 2597 m. Anm. Eichenhofer; kritisch dazu Schwintowski, ZEuP 1994, 296 (299 ff.); s. auch Laigre, Droit Social 1993, 488 ff.

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Der EuGH hat in dieser Entscheidung nicht darauf abgestellt, dass dieselbe Leistung auch von privaten Anbietern im Wettbewerb erbracht werden kann; er hat stattdes- sen hervorgehoben, dass die Krankenkassen „eine Aufgabe mit ausschließlich sozi- alem Charakter“ erfüllen22. In der Analyse des nationalen Systems hebt der Ge- richtshof hervor, dass die Tätigkeit der Kassen gesetzlich determiniert sei und be- hördlicher Aufsicht unterliege23. Vor allem aber hält er fest, dass das System für alle Versicherten trotz unterschiedlicher Beitragshöhe die gleichen Leistungen vorsieht und damit auf einer Einkommensumverteilung beruht24, zu deren Realisierung wie- derum die Versicherungspflicht unerlässlich sei25. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass die gesetzlichen Versicherungssysteme gegenüber einem normalen Wettbewerbsversicherer gravierende Unterschiede aufweisen – tat- sächlich ist die Abkoppelung der Beitragsbemessung vom Risiko des Versicherten und der damit verbundene Solidarausgleich in einem wettbewerblichen System nicht vorstellbar. Fraglich und umstritten ist nur, ob diese Abweichungen so gravierend und so prägend sind, dass schon eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Art. 81 ff. EGV verneint werden muss. Eine solche Bewertung schlägt dann übrigens auch auf das EG-Beihilferecht durch, denn auch dieses betrifft Beihilfen, die an Unter- nehmen gewährt werden26; es ist damit unanwendbar, wenn eine unternehmerische Tätigkeit des Empfängers verneint wird.

3. Konsequenzen der unterschiedlichen Auffassungen

Die alternative Konstruktion, nach der eine unternehmerische Betätigung zu bejahen wäre, hätte allerdings zunächst nur begrenzte Konsequenzen; sie würde vor allem ebenfalls keine vollständige Unterwerfung unter das Wettbewerbsrecht bedeuten: Es besteht die Möglichkeit, Abweichungen von seinen Regeln wie die Verleihung von Ausschließlichkeitsrechten mit Art. 86 Abs. 2 EGV zu rechtfertigen, wenn sie erfor- derlich sind, um die Erbringung von Diensten im allgemeinen wirtschaftlichen Inter- esse zu ermöglichen; auf diese Weise sind unter Zugrundelegung der bekannten „Rosinentheorie“ mitgliedstaatliche Monopole in Bereichen gerechtfertigt worden, die ohne Zweifel eine wirtschaftliche Tätigkeit betreffen und damit Art. 81 ff. EGV unterfallen, wie etwa in den Bereichen von Post27 und Telekommunikation28.

22 EuGH, 17.2.1993 – Rs. C-159 u. 160/91 – Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, Tz. 18. 23 EuGH, 17.2.1993 – Rs. C-159 u. 160/91 – Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, Tz. 14, 15; zur fehlenden Gewich- tung der einzelnen Gesichtspunkte Möller, VSSR 2001, 25 (31 f.). 24 EuGH, 17.2.1993 – Rs. C-159 u. 160/91 – Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, Tz. 10. 25 EuGH, 17.2.1993 – Rs. C-159 u. 160/91 – Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, Tz. 13. 26 EuGH, 22.5.2003 – Rs. C-355/00 - Freskot AE/Elleniko Dimosio, Slg. 2003, I-5263, Tz. 79; s. auch BSG, 24.1.2003 – B 12 KR 19/01 R, BSGE 90, 231, (269) = NZS 2003, 537 (545) zur Bewertung der Ausgleichsleis- tungen zwischen den Krankenkassen nach dem Risikostrukturausgleich (dazu noch unten Fn. 48 f.). 27 EuGH, 19.5.1993 - Rs. C-320/91 - Corbeau, Slg. 1993, I-2533, Tz. 8 = EuZW 1993, 422; EuGH, 10.2.2000 – verb. Rs. C-147/97 u. 148/97 – Deutsche Post/GZS, Slg. 2000, I-825, Tz. 37 = NJW 2000, 2261 m. Anm. Bar- tosch S. 2251 ff. = EuZW 2000, 281 m. Anm. Neu. 28 EuGH, 20.3.1985 – Rs. 41/83 – Italien/Kommission (British Telecom), Slg. 1985, 873, Tz. 16 ff.; s. auch z.B. EuGH, 13.12.1991 – Rs. C-18/88 – RTT/GB-Inno-BM, Slg. 1991, I-5941, Tz. 14 ff.

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Entscheidender Unterschied zur Verneinung bereits einer wirtschaftlichen Tätigkeit ist die Tatsache, dass die Abweichungen nur insoweit zugelassen sind, als sie zur Sicherung der übertragenen Aufgabe erforderlich sind. Die Rechtfertigung über Art. 86 Abs. 2 EGV eröffnet damit den Zugang zu einer Prüfung der Verhältnismäßig- keit von gesetzlichen Monopolen; diese Prüfung hat zumindest dazu beigetragen, dass diese Monopole in den letzten Jahren in verschiedenen Sektoren auf Kernberei- che zurückgeführt worden sind und zum Teil auch noch weiter abgebaut werden sollen, während sich für den Bereich der Sozialversicherungssysteme die entgegen- gesetzte Entwicklung andeutet. Dazu muss man allerdings ergänzen, dass der EuGH bei dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung den Mitgliedstaaten einen erheblichen Spielraum in der Beurteilung der Notwendigkeit von Monopolen zugesteht29. Eine Deregulierung oder Liberalisierung unmittelbar durch die Rechtsprechung hat es nur in seltenen Fällen gegeben, in denen das Monopol eindeutig nicht zu rechtferti- gen war30. Im Übrigen – z.B. in den prominenten Bereichen von Post, Telekommu- nikation und Energieversorgung – beruht die Liberalisierung auf der Intervention des Gemeinschaftsgesetzgebers, also auf dem politischen Gestaltungswillen der EG31. Immerhin könnten die Maßstäbe bei der Schaffung neuer Monopole aber strenger sein; hier fehlt es bisher an Rechtsprechung.

4. Unternehmerische Tätigkeit gegenüber den Versicherten?

Die Weichenstellung in der Poucet und Pistre-Entscheidung ist in der Literatur auf nicht unerhebliche Kritik gestoßen. So wird zu Recht vorgebracht, dass allein die soziale Funktion des gesetzlichen Versicherungssystems nicht zum Ausschluss der Unternehmens-Eigenschaft führen kann, denn dann wäre Art. 86 Abs. 2 EGV als Rechtfertigungsgrund überflüssig32: Die Bestimmung setzt voraus, dass eine wirt- schaftliche Betätigung vorliegt, die zugleich Zwecke des Allgemeininteresses erfüllt – und eben zur Erfüllung dieser Aufgaben auch abweichenden Regeln unterworfen werden kann, soweit das zur Zweckerreichung erforderlich ist. Diese Kritik schien auch Wirkung zu zeigen, weil der EuGH in den folgenden Jah- ren auch Sozialversicherungen als Unternehmen behandelt und konsequent die Rechtfertigung nach Art. 86 Abs. 2 EGV geprüft hat33. Es ist inzwischen aber deut-

29 Besonders deutlich wird diese Zurückhaltung in den „Energie-Urteilen“ von 1997 zur Zulässigkeit der mit- gliedstaatlichen Ein- und Ausfuhrmonopole für Strom und Gas, s. stellvertretend EuGH, 23.10.1997 – Rs. C- 159/94 - Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-5815, Tz. 90 ff. = EuZW 1998, 76 m. Anm. Lecheler; dazu auch Lecheler/Gundel, RdE 1998, 92 ff.; Möller, VSSR 2001, 25 (39). 30 Etwa bei ineffizienten Monopolen (Fall des Arbeitsvermittlungs-Monopols für Führungskräfte, s.o. Fn. 17 - Höfner) oder bei der Erstreckung von Monopolen auf Nachbarsektoren (Fall der Telekommunikations-Endge- räte, s. EuGH, 13.12.1991 – Rs. C-18/88 – RTT/GB-Inno-BM, Slg. 1991, I-5941). 31 Das wird nicht hinreichend berücksichtigt bei Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, 1999, S. 287 ff., die die Entwicklung in diesen Sektoren als Vorbild für den Sozialsektor einordnen. 32 So zu Recht Boecken, NZS 2000, 269 (272); ähnlich Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, 1999, S. 304 f.; Giesen, Sozialversicherungsmonopol und EG-Vertrag, 1995, S. 120 ff.; ders., VSSR 1996, 311 (322 ff.), der die Argumentation des EuGH als faktische Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen von Art. 86 Abs. 2 EGV einordnet. 33 S. die Nachweise in Fn. 34 und 36.

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lich geworden, dass zwischen diesen Entscheidungen kein Widerspruch besteht. Die Rechtsprechung des EuGH differenziert vielmehr danach, wie stark der Solidarge- danke das System prägt: Wenn er vorhanden ist, aber keine zentrale Rolle spielt, so handelt es sich um eine unternehmerische Betätigung, die Art. 81 EGV grundsätz- lich unterworfen ist. Das ist so bereits entschieden worden zur Pflicht zum Beitritt zu Pensionsfonds34, deren Leistungen im Wesentlichen von Dauer und Höhe der Einzahlungen abhängig waren35. Auch die Einrichtung einer freiwilligen Zusatzver- sicherung, die in geringerem Umfang vom Solidargedanken geprägt war, ist als wirtschaftliche Betätigung eingeordnet worden36. Daneben stehen weiterhin Entscheidungen zu Sachverhalten, für die der Gerichtshof eine Einordnung der Zwangsversicherung als wirtschaftliches Unternehmen ablehnt. Ein Beispiel dafür ist INAIL-Entscheidung von 200237 zur italienischen Berufsun- fallversicherung. In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof wieder darauf abge- stellt, dass die Einrichtung zu stark vom Solidarprinzip geprägt sei, um einem priva- ten Unternehmen vergleichbar zu sein; die Zwangsmitgliedschaft war damit nicht am EG-Wettbewerbsrecht zu messen. Kritisch kann man dazu anmerken, dass der EuGH einen nur graduellen Unter- schied38 – denn Umverteilungsmechanismen wurden in allen entschiedenen Fällen eingesetzt – als Anknüpfungspunkt für eine ganz grundsätzlich unterschiedliche Behandlung verwendet39. Die Rechtsprechung hat auch eine weitere – nicht auf den ersten Blick einleuchtende – Konsequenz: Je stärker ein Mitgliedstaat sein Sozial- system wettbewerblichen Mechanismen annähert, desto stärker geraten die verblei- benden nicht-wettbewerblichen Strukturelemente unter Rechtfertigungszwang, müs- sen also im Zweifel unter Rückgriff auf Art. 86 Abs. 2 EGV legitimiert werden40.

34 EuGH, 21.9.1999 - Rs. C-67/96 – Albany International BV, Slg. 1999, I-5863 = ZIP 2000, 34 m. Anm. Büden- bender; EuGH, 21.9.1999 – Maatschappij Drijvende Bokken BV, Slg. 1999, I-6121; EuGH, 21.9.1999 - Rs. C- 115/97 bis C-117/97 – Brentjens’ Handelsonderneming, Slg. 1999, I-6029 = EuZW 2000, 174; EuGH, 12.9.2000 – verb. Rs. C-180/98 bis C-184/98 – Pavlov u.a., Slg. 2000, I-6451; dazu z.B. Idot, Europe 11/1999, S. 4 ff.; Berg, EuZW 2000, 170 ff.; Gyselen, 37 CMLRev (2000), 425 ff.; ders., in: Mélanges Waelbroeck, Vol. II, Brüs- sel 1999, S. 1071 ff.; Gadbin, Droit Social 2001, 178 ff. 35 Die Rechtfertigung der Beitrittspflicht erfolgte dann über Art. 86 Abs. 2 EGV und die „Rosinentheorie“, s. stellvertretend EuGH, 21.9.1999 - Rs. C-67/96 – Albany International BV, Slg. 1999, I-5751, Tz. 108 f. 36 EuGH, 16.11.1995 – Rs. C-244/94 – Fédération française des sociétés d’assurance, Slg. 1995, I-4013, Tz. 15-21 = EuZW 1996, 277 = Rec. Dalloz 1996 jur. S. 317 m. Anm. Bergerès; dazu Idot, Europe 1/1996, S. 1 ff.; Laigre, Droit Social 1996, 82 ff.; Kessler, JCP 1997 I No 3999, S. 65 ff.; Heinze, ZVersWiss 1996, 281 (296 ff.); Beni- cke, EWS 1997, 373 ff.; Möller, VSSR 2001, 25 (32 ff.). 37 EuGH, 22.1.2002 – Rs. C-218/00 - INAIL, Slg. 2002, I-691 = EuZW 2002, 146 m. Anm. Lübbig; dazu auch Penner, NZS 2003, 234 ff.; Giubboni, 7 European Law Journal (2001), 69 ff. 38 Die Qualifizierung sei „notwendig eine graduelle Frage“, so zu Recht Tz. 35 der Schlussanträge von GA Jacobs zu EuGH, 16.3.2004 – verb. Rs. C-264 u.a. – AOK-Bundesverband; ähnlich Ebsen, in: v.Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und Europäische Integration, 2002, S. 21 (28 f.). 39 Als „innere Inkonsequenz“ der Rechtsprechung bewertet dies Haverkate, in: ders. u.a. (Hrsg), Casebook zum Arbeits- und Sozialrecht der EU, 1999, S. 267 (285 f.); kritisch auch Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im eu- ropäischen Verfassungsverbund, 2003, S. 327 f. 40 Dazu u.a. Benicke, EWS 1997, 373 (379); Eichenhofer, VSSR 1997, 71 (78); Ebsen, in: v.Bogdandy/Kadelbach (Fn. 38), S. 21 (39 f.). Konsequenzen hat dieser Effekt für das mit der „Bürgerversicherung“ konkurrierende Modell der „Kopfpauschalen“, das auf die einkommensbezogene Beitragsbemessung und damit auf ein Ele- ment sozialen Ausgleichs verzichtet: Dadurch könnte es in den Anwendungsbereich der Art. 81 ff. EGV gera- ten und ggf. von einer Rechtfertigung gem. Art. 86 Abs. 2 EGV abhängig werden, s. dazu auch Kingreen, MedR 2004, 188 (190 f.).

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5. Exkurs: Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts im Verhältnis zu den Leistungserbringern?

Vervollständigt wird dieses Bild durch die Entwicklung der Rechtsprechung zu ei- nem Bereich, in dem die Anwendung des EG-Wettbewerbsrechts zuletzt besonders umstritten war: dem Verhältnis zu den Leistungserbringern. Hier hat die deutsche Literatur – auch soweit sie das deutsche System im Verhältnis zu den Versicherten als sozial geprägt und damit als nicht-wirtschaftliche Tätigkeit eingeordnet hat – die Geltung des Wettbewerbsrechts mehrheitlich angenommen41; es wurde insoweit un- terschieden zwischen der Beziehung zu den Versicherten und dem Verhältnis zu den Leistungserbringern, in dem das Wettbewerbsrecht Anwendung finden sollte. Die Anwendung des EG-Wettbewerbsrechts war damit auch die letzte Hoffnung für die Leistungserbringer, nachdem das deutsche Wettbewerbsrecht durch den Gesetzge- ber außer Anwendung gestellt worden war42. Allerdings hatte bereits das Europäische Gericht erster Instanz in einer Entschei- dung aus dem Frühjahr 2003 die Argumentation zur Unanwendbarkeit des Wettbe- werbrechts auch auf das Verhältnis zu den Leistungserbringern ausgedehnt43: Der Bereich der Beschaffung sei danach nicht abtrennbar von der nicht als unternehme- rische Betätigung einzustufenden Versorgungsleistung im Verhältnis zu den Versi- cherten; sofern die zu beschaffenden Güter für eine nicht-wirtschaftliche Verwen- dung bestimmt seien, sei auch ihr „Einkauf“ keine an Art. 81 EGV zu messende wirtschaftliche Betätigung. Nun hat sich der EuGH in der mit Spannung erwarteten Entscheidung in Sachen AOK-Bundesverband und andere auf Vorlagen des BGH44 und des OLG Düsseldorf zur Vereinbarkeit der Festbetragsregelung für Arzneimittel mit dem EG-Wettbe- werbsrecht dieser Position angeschlossen und auch die Beziehung zwischen Leis- tungserbringern und Krankenkassen außerhalb des Art. 81 EGV gestellt45 – gegen die Schlussanträge des Generalanwalts, der eine Rechtfertigung nach Art. 86 Abs. 2 EGV angenommen und diese unter den Vorbehalt der Unverhältnismäßigkeit der Regelung gestellt hatte46.

41 Deutlich für eine solche gespaltene Einordnung Bieback, EWS 1999, 361 (362, 364 ff.); gegen eine Ausweitung der Herauslösung aus dem Wettbewerbsrecht in die „Nachfragekonstellation“ z.B. auch Kingreen, ZESAR 2003, 199 (200 ff.); ders., Sozialstaatsprinzip (Fn. 39), S. 555 ff.; Helios, EuZW 2003, 288; Storr, ZESAR 2003, 249 (253); Axer, NZS 2002, 57 (61 f.); Eichenhofer, NZS 2001, 1 (5); Gassner, VSSR 2000, 121 (138 ff.); Boecken, NZS 2000, 269 (273); Hänlein/Kruse, NZS 2000, 165 (167 ff.); R. Pitschas, VSSR 1999, 221 (235f.); Münder/v. Boetticher, ZESAR 2004, 15 (20); a.A. z.B. Knispel, NZS 2000, 379 ff. 42 S.o. Fn. 9. 43 EuG, 4.3.2003 – Rs. T-319/99 – FENIN/Kommission, Slg. 2003, II-357 = EuZW 2003, 283 m. Anm. Helios; Anm. Petit, RDUE 2003, 515 ff.; das Rechtsmittel gegen die Entscheidung ist unter Rs. C-205/03 P anhängig (ABl. EG 2003 C 184/19), hat jedoch nach der AOK-Entscheidung (s.u. Fn. 45) kaum Aussicht auf Erfolg. 44 Vorlagebeschluss v. 3.7.2001 – KZR 31/99, WRP 2001, 1331 = GRUR 2002, 554; dazu z.B. Axer, NZS 2002, 57 ff.; Slot, 24 ECLR (2003), 580 ff. 45 EuGH, 16.3.2004 – verb. Rs. C-264 u.a. - AOK-Bundesverband, EuZW 2004, 241 m. Anm. Riedel = EWS 2004, 268 m. Anm. Krajewski S. 256 ff.; dazu auch van de Gronden, 25 ECLR (2004), 87 ff. 46 In den Schlussanträgen von GA Jacobs vom 22.5.2003 wird eine wirtschaftliche Tätigkeit und damit die An- wendbarkeit des Wettbewerbsrechts bejaht (Tz. 43 ff.), im Anschluss eine Rechtfertigung durch Art. 86 Abs. 2 EGV angenommen (Tz. 93 ff.); im Ergebnis ebenso Storr, ZESAR 2003, 249 (252 ff.); zu den Voraussetzungen einer solchen Rechtfertigung auch Reich, EuZW 2000, 653 (656 ff.); Möller, VSSR 2001, 25 (36 ff.).

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Der EuGH hat diese Gelegenheit auch genutzt, um die Konsequenzen des begrenz- ten Wettbewerbs zu würdigen, den das deutsche System inzwischen mit der Schaf- fung des Wahlrechts der Versicherten zwischen den verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen zugelassen hat47. Nach seiner Einschätzung haben diese Wettbe- werbselemente die Prägung des Systems durch den Solidargedanken nicht soweit abgeschwächt, dass eine Unternehmenstätigkeit nun zu bejahen wäre. Der Gerichts- hof stellt hierfür auf die Existenz des Risikostrukturausgleichs48 ab, der die Konse- quenzen des Kassenwettbewerbs begrenzt und damit im Ergebnis wieder zum Über- wiegen des Solidargedankens führt49. Diese Bewertung stimmt im Übrigen überein mit der Position des BSG, das den Begriff „Wettbewerb“ unter den gesetzlichen Krankenkassen nur in Anführungszeichen verwendet50. Diese Einordnung des deut- schen Kassensystems fügt sich konsequent in die bisherige Rechtsprechung ein, auch wenn es sich – wie erwähnt – immer um die Bewertung gradueller Unterschiede in der Ausgestaltung handelt: Das machen die Schlussanträge von GA Jacobs deutlich, denn er hatte für die Einordnung der deutschen Krankenkassen als Unternehmen plädiert und für dieses Ergebnis auf den begrenzt möglichen Preiswettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen, wettbewerbliche Spielräume bei der Leistungser- bringung sowie auf den unbestreitbar bestehenden Wettbewerb mit den privaten Versicherern um die nicht versicherungspflichtigen Arbeitnehmer verwiesen51. Zweifelhaft bleibt die Entscheidung allerdings insoweit, als der Unternehmenscha- rakter auch im Verhältnis zu den Leistungserbringern ausgeschlossen wird: Denn hier bestehen im Ausgangspunkt marktförmige Austauschvorgänge, für die die An- wendung des Wettbewerbsrechts angemessen erscheint52. Dementsprechend war auch die deutsche Literatur insoweit fast einhellig von der Anwendbarkeit des EG- Wettbewerbsrechts ausgegangen53. Für die Praxis dürfte mit der Entscheidung des EuGH allerdings trotzdem geklärt sein, dass das Wettbewerbsrecht für die gesetzli- che Krankenversicherung solange keine Rolle spielen wird, wie die Strukturmerk- male erhalten bleiben, die den Gerichtshof zur Verneinung der Unternehmenseigen- schaft der gesetzlichen Krankenversicherung geführt haben54.

47 Mit der Neufassung der §§ 173 ff. SGB V durch das Gesundheitsstrukturgesetz v. 21.12.1992, BGBl. I S. 2266, insoweit in Kraft getreten zum 1.1.1996. 48 Seine Vereinbarkeit mit Verfassungs- und Europarecht wird bejaht von BSG, 24.1.2003 – B 12 KR 19/01 R, BSGE 90, 231 = NZS 2003, 537; dazu Axer, SGb 2003, 485 ff.; s. auch noch dens., in: SDSRV 51 (2004), 111 (130 f.) 49 EuGH, 16.3.2004 – verb. Rs. C-264 u.a. – AOK-Bundesverband, EuZW 2004, 241, Tz. 53, 56; zur Rolle des RSA für die Einordnung s. auch Ebsen, in: v.Bogdandy/Kadelbach (Fn. 38), S. 21 (34 ff.). 50 S. BSG, 24.1.2003 – B 12 KR 19/01 R, BSGE 90, 231 (265) = NZS 2003, 537 (543 f.); s. auch Hänlein, NZS 2003, 617 (619), der plastisch von einem „inszenierten Markt“ spricht. 51 Tz. 38 ff. der Schlussanträge; ähnlich Slot, 24 ECLR (2003), 580 (582 f.); Sodan, in: GedSchr. Blomeyer, 2004, S. 691 (696 ff.); Isensee, VSSR 1996, 169 (175). 52 Zur Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts auf Einkaufsgemeinschaften der öffentlichen Hand s. z.B. BGH, 12.11.2002 – KZR 11/01, BGHZ 152, 347 = ZIP 2003, 1813 m. Anm. Lotze; K. Westermann, ZweR 2003, 481 ff.; Bunte, WuW 1998, 1036 ff. 53 S.o. Fn. 41; inwieweit das Vergaberecht die entstehende Lücke füllen und den Schutz der Leistungserbringer gewährleisten kann, ist noch nicht geklärt, s. zu den einzelnen Problempunkten Kingreen, MedR 2004, 188 (192 ff.). 54 Zu den Problemen, die sich in dieser Hinsicht für das Modell der „Kopfpauschalen“ ergeben können, s.o. Fn. 40.

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6. Zwischenergebnis

Das Zwischenergebnis für die Frage der Bürgerversicherung bleibt damit, dass die „Zwangsversicherung“ und die Ausgestaltung der Beiträge durch den Gesetzgeber nicht an Art. 81 EGV zu messen sind. Die Position des EuGH erscheint hier auch nachvollziehbar – der Systemansatz der Sozialversicherung unterscheidet sich schon im Grundsatz zu stark vom wettbewerbsbezogenen Bild der Art. 81 ff. EGV, als dass man ihre Träger unter den Tatbestand des Art. 81 EGV subsumieren könnte, nur um die notwendigen Abweichungen dann wieder über Art. 86 Abs. 2 EGV zu rechtfer- tigen55. Das Wettbewerbsrecht dürfte dagegen weiter anwendbar sein, soweit es um freiwil- lige Versicherungen bei den gesetzlichen Kassen geht56. Das würde vor allem rele- vant werden beim Angebot von Zusatzversicherungen57, die eine von der Bürgerver- sicherung gebotene Grundsicherung ergänzen könnten.

III. Bürgerversicherung und Grundfreiheiten

1. Die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten im Sozialsektor

Damit ist das Gemeinschaftsrecht aber noch nicht erschöpft. Es bleiben die Grund- freiheiten, die in der bisher auf das Wettbewerbsrecht konzentrierten Diskussion um die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an die Ausgestaltung der nationalen Sozialversicherung kaum ein Rolle gespielt haben58. Ihr Anknüpfungspunkt ist nicht die Frage, ob die Tätigkeit der Sozialversicherungsträger eine unternehmerische Tä- tigkeit im Sinne des Art. 81 EGV darstellt, sondern ob staatliche Eingriffe den wirt- schaftlichen Austausch unter den Mitgliedstaaten behindern. Insofern erscheinen die Grundfreiheiten ohnehin als der treffendere Ansatz, weil hier unmittelbar das Handeln des Gesetzgebers und nicht die Qualifikation der Versicherertätigkeit zum Gegenstand der Prüfung wird. Die Tatsache, dass die Art. 81 ff. EGV als Prüfungs- maßstab nun ausscheiden – was nach der AOK-Entscheidung wohl endgültig fest- steht – , bedeutet also keine Aussage gegen die Anwendbarkeit der Grundfreihei- ten59.

55 Ähnlich Bieback, EWS 1999, 361 (362). 56 S. Kingreen, Sozialstaatsprinzip (Fn. 39), S. 493 ff. 57 S. EuGH, 16.11.1995 – Rs. C-244/94 – Fédération française des sociétés d’assurance, Slg. 1995, I-4013 = EuZW 1996, 277 und dazu Heinze, ZVersWiss 1996, 281 (300); zu entsprechenden Überlegungen der gesetzlichen Krankenkassen s. Axer, in: SDSRV 51 (2004), 111 (123 f.). Sollte den gesetzlichen Kassen dieses Feld eröffnet werden, entstünde damit allerdings eine problematische Verquickung von „vorbehaltenen“ und wettbewerblich geöffneten Geschäftsfeldern, die bereits aus anderen Bereichen wie dem Postsektor vertraut ist. 58 So zu Recht Möller, VSSR 2001, 25 (49 f.). 59 Anders z.T. die Literatur, die die Unanwendbarkeit des Wettbewerbsrechts auf den Bereich der Grundfreiheiten überträgt (so z.B. Kingreen, Sozialstaatsprinzip (Fn. 39), S. 491 f.; s. auch die Nachw. in Fn. 64) und auf diese Weise eine umfassende Bereichsausnahme des Gemeinschafsrechts für den Sozialsektor konstruiert; zu sol- chen Kongruenzbestrebungen auch Möller, VSSR 2001, 25 (51).

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Der EuGH betont zwar in ständiger Rechtsprechung, dass das Gemeinschaftsrecht die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer sozialen Sicherungssyste- me nicht berührt60, und dieser Befund ist gegenüber Tätigkeiten des Gemeinschafts- gesetzgebers inzwischen im Vertrag sogar doppelt abgesichert: Zum einen sieht Art. 152 Abs. 4 lit. c EGV ein Verbot von Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitspolitik vor61. Darüber hinaus wird die Rechtsprechung in Art. 137 Abs. 4 EGV62 kodifiziert, der durch den Vertrag von Nizza eingefügt wurde. Danach be- rühren die in diesem Artikel vorgesehenen Befugnisse der Gemeinschaft im Bereich der Sozialpolitik „nicht die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grund- prinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen“. Diese Bestimmungen richten sich allerdings nur an den Gemeinschaftsgesetzgeber: Ihm ist es danach untersagt, die Ausgestaltung der Sozialsysteme in Europa an sich zu ziehen – was allerdings ohnehin nicht ernsthaft im Raum steht63. Die Mitglied- staaten, die für diese Ausgestaltung damit weiterhin zuständig sind, sind damit aber nicht von der Beachtung der materiellen Vorgaben des Vertrages – insbesondere der Grundfreiheiten als Teil des Primärrechts – dispensiert. Der Sozialsektor ist auch kein von der Geltung der Grundfreiheiten freigestellter Ausnahmebereich64. Eine Freistellung von den hier berührten Grundfreiheiten sieht Art. 45 EGV nur für Tä- tigkeiten vor, die mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt verbunden sind.65 Nach der restriktiven Auslegung dieser Bestimmung durch den EuGH ist dafür eine „unmit- telbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt“66 erforder- lich, die bei den Sozialversicherungsystemen sicher nicht gegeben ist67. Dass auch die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten die Vorgaben aus den Grundfreiheiten beachten müssen, hat inzwischen auch die lange Kette von EuGH- Entscheidungen zur Kostenerstattung für Behandlungsleistungen im Ausland – beginnend mit den Entscheidungen Decker und Kohll aus dem Jahr 199868 – zur

60 Erstmals EuGH, 7.2.1984 - Rs. 238/82 – Duphar, Slg. 1984, 523, Tz. 16; s. weiterhin EuGH, 17.2.1993 – Rs. C- 159 u. 160/91 – Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, Tz. 6 = EuZW 1993, 355; EuGH, 17.6.1997 – Rs. C-70/95 – Sodemare, Slg. 1997, I-3395, Tz. 27 = EuZW 1998, 124; EuGH, 13.5.2003 – Rs. C-385/99 – Müller-Fauré/van Riet, Slg. 2003, I-4509, Tz. 100 = NJW 2003, 2298 m. Bespr. U. Becker S. 2272 ff.; EuGH, 12.7.2001 – Rs. C- 157/99 - Geraets-Smits, Slg. 2001, I-5473, Tz. 44 = EuZW 2001, 464 m. Anm. M. Novak S. 476 f. 61 Dazu z.B. Hollmann/Schulz-Weidner, ZIAS 1998, 180 (184 ff.). 62 Im Konvents-Verfassungsentwurf findet sich die Bestimmung in Art. III-104 Abs. 5 lit. a wieder. 63 Zu den eingeschränkten Befugnissen der Gemeinschaft s. z.B. Kingreen, Sozialstaatsprinzip (Fn. 39), S. 295 ff.; Fuchs, ZIAS 2003, 379 ff.; als Ersatz sieht Art. III-107 des Verfassungsentwurfs hier nun den Einsatz der „Methode der offenen Koordinierung“ vor; s. zu diesem Konzept de Búrca, 28 ELRev (2003), 814 ff.; Regent, 9 ELJ (2003), 190 ff.; Bodewig/Voß, EuR 2003, 310 ff. 64 So aber Fuchs, ZIAS 1996, 338 (347 ff.); U. Becker, JZ 1997, 534 (540 ff.); wohl auch Bieback, EWS 1999, 361 (364); s. zu dieser Diskussion auch die Nachweise bei Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/ EGV, vor Art. 39 – 55 EGV, Rn 188 ff. 65 Die Bestimmung gilt über den Verweis in Art. 55 EGV auch für die Dienstleistungsfreiheit. 66 So schon EuGH, 21.6.1974 - Rs. 2/74 – Reyners, Slg. 1974, 631, Tz. 45; später z.B. EuGH, 13.7.1993 - Rs. C- 42/92 – Thijsen, Slg. 1993, I-4047, Tz. 8, 22; EuGH, 29.10.1998 - Rs. C-114/97 - Kommission/Spanien, Slg. 1998, I-6717, Tz. 35 = EuZW 1999, 125; EuGH, 9.3.2000 - Rs. C-355/98 – Kommission/Belgien, Slg. 2000, I- 1221, Tz. 25; EuGH, 31.5.2001 - Rs. C-283/99 - Kommission/Italien, Slg. 2001, I-4363, Tz. 20. 67 So zu Recht Giesen, Sozialversicherungsmonopol (Fn. 32), S. 138 ff.; Möller, VSSR 2001, 25 (52 f.); anders für das deutsche System der gesetzlichen Unfallversicherung Heinze, in: FS Gitter, 1995, S. 355 (358 ff.). 68 EuGH, 28.4.1998 – Rs. C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831 = EuZW 1998, 343; EuGH, 28.4.1998 – Rs. C-158/ 96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931 = EuZW 1998, 345.

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Genüge gezeigt69. Zuletzt ist ist dies auch durch die DocMorris-Entscheidung zur Zulässigkeit des grenzüberschreitenden Arzneimittelvertriebs durch Internet-Apo- theken70 bestätigt worden. Die Konsequenzen aus diesen Vorgaben für das nationale Sozialrecht werden in den Mitgliedstaaten zwischenzeitlich auch akzeptiert71, nach- dem sie zunächst auf heftigen Widerstand gestoßen waren. Verglichen mit dem Wettbewerbsrecht findet bei der Grundfreiheiten-Prüfung ein Perspektivwechsel statt: Es wird nicht darauf abgestellt, ob die staatliche Bürgerversi- cherung eine wirtschaftliche Betätigung darstellt72. Stattdessen wird geprüft, ob durch diese staatlichen Regelungen die Erbringung von wirtschaftlichen Leistungen – also das Leistungsangebot privater Anbieter – behindert wird73. Eine Wirkungsgrenze der Grundfreiheiten bleibt allerdings bestehen: Von ihrem Schutz erfasst werden nur grenzüberschreitende Sachverhalte, also die Leistungsangebote aus anderen Mitglied- staaten; ein inländischer privater Versicherer kann sich damit nicht auf sie berufen.

2. Die gesetzliche Pflichtversicherung als Eingriff in die Grundfreiheiten

Als betroffene Grundfreiheiten kommen hier die Dienstleistungsfreiheit und die Niederlassungsfreiheit ausländischer Versicherer in Betracht, deren Marktzugang dadurch behindert wird, dass die Bürgerversicherung die Nachfrage zwangsweise auf sich lenkt und absorbiert. Dass die Dienstleistungsfreiheit durch solche Regelungen berührt wird, ist gesichert, da der EuGH in diesem Bereich jede staatliche Regelung als Eingriff ansieht, die die Leistungserbringung behindert oder beeinträchtigt74 – unabhängig davon, dass sie für in- wie ausländische Anbieter in gleicher Weise gilt, also keine Diskriminierung zu Lasten ausländischer Unternehmen beinhaltet75. Auch für die Niederlassungsfreiheit ist inzwischen in der Rechtsprechung geklärt, dass sie jedenfalls auch das Recht auf Marktzugang in anderen Mitgliedstaaten ge- währleistet76: Diese Grundfreiheit erfasst damit auch staatliche Monopole, die die

69 Zuletzt EuGH, 13.5.2003 – Rs. C-385/99 – Müller-Fauré/van Riet, Slg. 2003, I-4509 = NJW 2003, 2298 m. Bespr. U. Becker S. 2272 ff.; mit der EuGH-Entscheidung im Fall AOK-Bundesverband (s.o. Fn. 45) ist die Lage im Verhältnis Kasse-Leistungserbringer und Kasse-Versicherter damit im Ergebnis parallel: In beiden Konstellationen ist das EG-Wettbewerbsrecht nicht anwendbar, es gelten aber die Grundfreiheiten. 70 EuGH, 11.12.2003 – Rs. C-322/01 – Deutscher Apothekerverband/DocMorris, NJW 2004, 131 m. Anm. Chr. Lenz S. 332 ff. = ZESAR 2004, 89 m. Anm. Kingreen. 71 S. zur Anpassung des SGB V an diese Vorgaben durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG), BGBl. 2003 I S. 2190; dazu Rixen, ZESAR 2004, 24 ff.; Fuchs, NZS 2004, 225 ff. 72 So aber der Prüfungsansatz in Tz. 46 ff. der Schlussanträge von GA Stix-Hackl vom 14.11.2002 in der Rs. Fres- kot, denen der Gerichtshof nicht gefolgt ist; ähnlich auch U. Becker, JZ 1997, 534 (540). 73 S. dazu Möller, VSSR 2001, 25 (53 f.). 74 S. bereits EuGH, 18.1.1979 - verb. Rs. 110 u. 111/78 – van Wesemael, Slg. 1979, 35; EuGH, 17.12.1981 – Rs. 279/80 – Webb, Slg. 1981, 3305 (beide zur staatlichen Regulierung der Arbeitsvermittlung); später z.B. EuGH, 25.7.1991 – Rs. C-76/90 - Säger/Dennemeyer, Slg. 1991, I-4221 = EuZW 1991, 542; EuGH, 12.12.1996 – Rs. C-3/95 – Reisebüro Broede, Slg. 1996, I-6511 = EuZW 1997, 53; EuGH, 3.10.2000 – Rs. C-58/98 – Josef Cors- ten, Slg. 2000, I-7919 = EuZW 2000, 763 m. Anm. Früh. 75 S. speziell zu den Sozialversicherungsmonopolen Giesen, Sozialversicherungsmonopol (Fn. 32), S. 44 ff. 76 S. z.B. EuGH, 17.10.2002 – Rs. C-79/01 - Data Payroll Services, Slg. 2002, I-8923, Tz. 27 = EWS 2002, 574; EuGH, 1.2.2001 – Rs. C-108/96 – MacQuen, Slg. 2001, I-837, Tz. 26 f. = EuZW 2001, 282.

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betroffene Tätigkeit für eigene Staatsangehörige ebenso wie für ausländische Unter- nehmen versperren77. Der EuGH hat diese Prüfung in Bezug auf gesetzliche Versicherungen bereits in der Freskot-Entscheidung aus dem Jahr 200378 durchgeführt. Betroffen war hier eine griechische Zwangsversicherung gegen Ernteschäden, die in Form einer Abgabe auf die Ernte finanziert wurde. Auch in dieser Entscheidung hat der Gerichtshof in einem ersten Schritt das Vorlie- gen einer wirtschaftlichen Betätigung der landwirtschaftlichen Versicherungskam- mer aufgrund der einheitlichen Festlegung von Beiträgen und Leistungen durch den Gesetzgeber verneint79. Jedoch können diese Leistungen – auch wenn sie nicht nach privatwirtschaftlich-wettbewerblichen Kriterien erfolgen und deshalb selbst erstens nicht als unternehmerische Tätigkeit im Sinne des Wettbewerbsrechts und zweitens auch nicht als Dienstleistung im Sinne des Art. 49 EGV angesehen werden können80 – eine solche private Leistungserbringung durch private Versicherer faktisch beein- trächtigen81. Ihre gesetzliche Anordnung stellt damit einen Eingriff in die jeweils betroffene Grundfreiheit dar82. Im Fall des EuGH war dabei noch nicht einmal ge- klärt, ob ein privates Konkurrenzangebot für dieses Versicherungsprodukt über- haupt existierte83 – es reichte aus, dass ein solches Angebot vorstellbar war. Die Bewertung durch den EuGH steht damit in deutlichem Kontrast zur Beurteilung durch das Bundesverfassungsgericht, das diese Verkürzung des Kreises der potenti- ellen Versicherungsnehmer nur als „mittelbar faktische Folgen“ einer Ausdehnung der Pflichtversicherung einordnet und deshalb regelmäßig nicht als Eingriff in die Berufsfreiheit der privaten Versicherer werten will – so zuletzt die Kammerent- scheidung vom Februar 2004 zur Anhebung der Pflichtversicherungsgrenze84; Der EuGH kommt dagegen zu dem Ergebnis, dass ein Eingriff in die Dienstleistungs- freiheit ausländischer Anbieter vorliegt.

77 So z.B. EuG, 8.7.1999 – Rs. T-266/97 – VTM, Slg. 1999, II-2329, Tz. 113 ff. = ZUM 2000, 1077; dazu Gundel, ZUM 2000, 1046 (1053 f.); anders z.B. noch Möller, VSSR 2001, 25 (58). 78 EuGH, 22.5.2003 – Rs. C-355/00 - Freskot AE/Elleniko Dimosio, Slg. 2003, I-5263. 79 Tz. 76 ff. der Freskot-Entscheidung. 80 EuGH, 22.5.2003 – Rs. C-355/00 - Freskot, Slg. 2003, I-5263, Tz. 58; s. auch Möller, VSSR 2001, 25 (51). 81 EuGH, 22.5.2003 – Rs. C-355/00 - Freskot, Slg. 2003, I-5263, Tz. 63; anders Möller, VSSR 2001, 25 (54 f.), der eine solche faktische Beeinträchtigung durch die staatliche „Bedarfsdeckung“ nicht genügen lassen will. 82 Die Möglichkeit, dass es sich hier um die Regelung einer Absatzmodalität im Sinne der Keck-Rechtsprechung zu Art. 28 EGV (EuGH, 24.11.1993 – Rs. C-267, 268/91 - Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 = EuZW 1993, 770) handeln könnte, wird vom EuGH nicht in Erwägung gezogen; in diesem Fall würde die Dienstleis- tungsfreiheit nur ein Diskriminierungsverbot enthalten. Diese Einordnung ist freilich nicht fernliegend, denn verboten wird der Abschluss einer privaten Versicherung nicht – nur der Bedarf wird gedrosselt; s. zu der Fra- ge Giesen, Sozialversicherungsmonopol (Fn. 32), S. 50 ff., der nationale Monopole generell als produktbezo- gene Regelungen einordnet und im Übrigen auch die Übertragung der Keck-Rechtsprechung auf die Dienst- leistungsfreiheit ablehnt. 83 EuGH, 22.5.2003 – Rs. C-355/00 - Freskot, Slg. 2003, I-5263, Tz. 62. 84 BVerfG (2. Kammer des 1. Senats), Beschl. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Tz. 13 unter Verweis auf BVerfG Urt. 17.12.2002, 1 BvL 28, 29, 30/95, BVerfGE 106, 275 (298 ff.) = DVBl 2003, 325 (327 ff.) – Festbetragsregelung (im Anschluss folgt allerdings noch eine „hilfsgutacherliche“ Prüfung der Rechtfertigung eines etwaigen Ein- griffs); Jaeger, NZS 2003, 225 (232) sieht dagegen die Berufsfreiheit der Versicherer durch eine Ausweitung des öffentlich-rechtlichen Sektors „zweifellos betroffen“.

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3. Zulässige Rechtfertigungsgründe

Auch solche Eingriffe in die Grundfreiheiten können nach dem System des EGV allerdings gerechtfertigt werden85. Dafür stehen zum einen die ausdrücklich im Ver- trag aufgeführten Gründe zur Verfügung, daneben auch die vom Gerichtshof aner- kannten ungeschriebenen „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“. Der Gesundheitsschutz, den Art. 46 EGV ausdrücklich als Rechtfertigungsgrund aufführt, ist dabei zwar grundsätzlich einschlägig; jedoch dürfte der Zusammen- hang zur Pflichtversicherung zu mittelbar sein – unmittelbar geht es ja nur um die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme86. Der EuGH prüft diese Motivation vorrangig unter dem Gesichtspunkt einer Rechtfertigung durch sozialpolitische Mo- tive – wie die Sicherstellung einer einheitlichen und „solidarischen“ Absicherung der Versicherten87. Diese Beweggründe gehören zu den ungeschriebenen „zwingen- den Gründen des Allgemeininteresses“. Diese Gründe kommen nach dem vom EuGH praktizierten Prüfungsschema neben den geschriebenen Gründen zur An- wendung, wenn eine nationale Regelung vorliegt, die ausländische Anbieter nicht diskriminiert88. Die Ausweitung der gesetzlichen Pflichtversicherung wäre tatsäch- lich als eine solche Beschränkung einzuordnen, die keine Diskriminierung auslän- discher Versicherer enthält – auch die inländischen Versicherer sind nachteilig be- troffen. Damit ist die Rechtfertigung durch „zwingende Gründe des Allgemeininte- resses“ grundsätzlich möglich. Als problematisch könnte allerdings erscheinen, dass der Gerichtshof wirtschaftli- che Gründe nicht als zulässige Schranken der Grundfreiheiten anerkennt.89 Diese Gegenausnahme ist hier argumentationswürdig, weil die Bürgerversicherung ja vor allem die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung stärken und damit die Finanzierbarkeit des Systems sicherstellen soll90. Im Ergebnis kann dieser Einwand aber wohl nicht durchschlagen, weil der Gerichtshof nur „rein wirtschaftliche“ Mo- tive ausschließt, während er die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme schon als zulässigen sozialen Gesichtspunkt anerkannt hat91.

85 S. zur Rechtfertigung Giesen, Sozialversicherungsmonopol (Fn. 32), S. 142 ff. 86 So die Rechtsprechung zur Erstattung von Behandlungsleistungen im Ausland, s. EuGH, 13.5.2003 – Rs. C- 385/99 – Müller-Fauré/van Riet, Slg. 2003, I-4509, Tz. 67 ff., 73 = NJW 2003, 2298. 87 EuGH, 22.5.2003 – Rs. C-355/00 - Freskot, Slg. 2003, I-5263, Tz. 66 ff. 88 Zu dieser Voraussetzung Gundel, Jura 2001, 79 ff.; deutlich zur Differenzierung der zulässigen Rechtferti- gungsgründe zuletzt EuGH, 16.1.2003 - Rs. C-388/01 - Kommission/Italien, Slg. 2003, I-721, Tz. 19, 21 = EuZW 2003, 186; s. auch EuGH, 23.3.2004 – Rs. 138/02 – Collins, Tz. 65 f. 89 S. EuGH, 25.7.1991 – Rs. C-288/89 – Collectieve Antennevoorziening Gouda, Slg. 1991, I-4007, Tz. 11 = EuZW 1991, 699; EuGH, 5.6.1997 – Rs. C-398/95 - SETTG/Ypourgos Ergasis, Slg. 1997, I-3091, Tz. 23 = EWS 1997, 277; EuGH, 29.4.1999 – Rs. C-224/97 – Ciola, Slg. 1999, I-2517, Tz. 16 f. = EuZW 1999, 405 m. Anm. Schilling; s. zu der in den Anforderungen nicht ganz einheitlichen Rechtsprechung Gundel, EuR 1999, 781 (785). 90 Dazu Beer/Klahn, SGb 2004, 13 (20 f.). 91 So EuGH, 28.4.1998 – Rs. C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931 = EuZW 1998, 345, Tz. 41.

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4. Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit

Allerdings steht eine Rechtfertigung unter dem zusätzlichen Vorbehalt der Verhält- nismäßigkeit. Es ist also nicht so, dass unter dem Gesichtspunkt der Grundfreiheiten „die Definition des Schutzniveaus und die Ausgestaltung der Organisation [eines sozialen Sicherungssystems] eine domaine réservée der Mitgliedstaaten“ blieben, wie das in der deutschen Literatur behauptet worden ist92. Auch der Umfang der Deckung durch die gesetzliche Pflichtversicherung unterfällt vielmehr der Verhält- nismäßigkeits-Kontrolle; auch das hat der EuGH im Fall der griechischen Ernteaus- fall-Versicherung bereits ausdrücklich festgehalten93. Der EuGH hat in diesem Zu- sammenhang darauf abgestellt, ob die Finanzierung der Versicherung gefährdet wäre, wenn den Betroffenen der Abschluss bei anderen Versicherern unter Befrei- ung von der Abgabe gestattet würde94. Er hat diese Prüfung mangels hinreichender tatsächlicher Angaben an das vorlegende Gericht zurückgegeben. Der Gerichtshof hat in diesem Fall als Anhaltspunkte hervorgehoben, dass das System nur eine Min- destabsicherung vorsieht und dem Abschluss weiterer Verträge zur Deckung des verbleibenden Risikos nicht entgegensteht95. Auch dies sind Gesichtspunkte, die bei einer Bewertung eines Bürgerversicherungs-Modells dann konkret zu prüfen wären. Das BVerfG hat sie bisher nur hilfsweise – nämlich für den Fall, dass doch ein Ein- griff in die Berufsfreiheit anzunehmen wäre – berücksichtigt96. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung findet damit also doch statt – nur nicht zur Rechtfertigung einer Abweichung von wettbewerbsrechtlichen Vorgaben auf der Grundlage von Art. 86 Abs. 2 EGV, sondern von den Grundfreiheiten97. Ihr Ergeb- nis dürfte dann von der konkreten Ausgestaltung der Bürgerversicherung abhän- gen.

92 So die Konsequenz bei U. Becker, JZ 1997, 534 (540), der aus der EuGH-Rechtsprechung eine Bereichsausnah- me für den Sozialsektor auch hinsichtlich der Grundfreiheiten ableitet. 93 EuGH, 22.5.2003 – Rs. C-355/00 - Freskot, Slg. 2003, I-5263, Tz. 71. 94 EuGH, 22.5.2003 – Rs. C-355/00 - Freskot, Slg. 2003, I-5263, Tz. 71. 95 EuGH, 22.5.2003 – Rs. C-355/00 - Freskot, Slg. 2003, I-5263, Tz. 62. Auch bei der verfassungsrechtlichen Prü- fung des Eingriffs in die Berufsfreiheit der Versicherer kommt diesem Gesichtspunkt entscheidende Bedeu- tung zu, so meint etwa Bieback, Soz. Sicherheit, 2003, 416 (422), dass aufgrund der zugleich mit der Einfüh- rung der Bürgerversicherung zu erwartenden starken Einschränkung der Leistungen der GKV die privaten Versicherer auf das Geschäftsfeld dieser Zusatzversicherungen verwiesen werden dürften; ähnlich wohl Storr, SGb 2004, 279 (287); s. auch Beer/Klahn, SGb 2004, 13 (14). 96 BVerfG (2. Kammer des 1. Senats), Beschl. 4.2.2004 – 1 BvR 1103/03, Tz. 19, 21 (es lasse sich „infolge zuneh- mender Ausgrenzung einzelner Risiken und Kostenfaktoren aus dem Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung eher eine wachsende Nachfrage nach privater Zusatzversicherung vermuten“). 97 Die Frage des Verhältnisses zwischen Art. 86 Abs. 2 EGV und den Grundfreiheiten-Rechtfertigungsgründen (dazu Gundel, ZUM 2000, 1046/1050 f. m.w.N.; knapp auch Möller, VSSR 2001, 25/56 f.) stellt sich in der vor- liegenden Konstellation nicht, wenn man dem Ansatz des EuGH zur Qualifikation der Krankenkassen als nicht-wirtschaftlich tätiger Einheiten folgt: Die Bestimmung kann dann zur Rechtfertigung nicht eingreifen, denn Art. 86 Abs. 2 EGV setzt auch wieder die Verleihung von Rechten an ein (wirtschaftlich tätiges) Unter- nehmen voraus.

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IV. Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Wettbewerbsrecht des EG-Vertrags als Prüfungsmaßstab für die Zwangselemente einer künftigen Bürgerversicherung mit Sicherheit keine Rolle spielen wird. Das hat die AOK-Entscheidung nun endgül- tig bestätigt. Es bleiben als Maßstab die Grundfreiheiten, die eine gemeinschaftsrechtliche Kon- trolle der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Tätigkeit der privaten Versicherer ermöglichen. Auch wenn das BVerfG dabei bleiben sollte, dass die Ausweitung des Monopols keinen Eingriff in die Berufsfreiheit begründet, würde sich die Realisie- rung der Bürgerversicherung damit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung aussetzen müssen. Rein dogmatisch würde ein negatives Ergebnis dieser Prüfung dann zwar nur zu- gunsten von Anbietern aus anderen Mitgliedstaaten – und ihren Vertragspartnern als Versicherungsnehmern – wirken; tatsächlich wird der deutsche Gesetzgeber aber kein System installieren können, das Durchbrechungen allein zugunsten ausländi- scher Versicherer ermöglichen müsste. Diese faktischen Zwänge, die über den ei- gentlichen Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts hinaus wirksam werden, hat zuletzt die DocMorris-Entscheidung deutlich gemacht: Auch diese Entscheidung betrifft formal nur die grenzüberschreitende Tätigkeit von Internet-Apotheken, fak- tisch macht sie aber auch die Aufrechterhaltung des Verbots im Inland unmöglich. Der Gesetzgeber wird damit ein Modell finden müssen, das diesen Vorgaben in je- der Hinsicht entspricht. Man wird vom Europarecht allerdings auch nicht zuviel er- warten dürfen: Denn grundsätzlich steht es einer Ausweitung der gesetzlichen Ver- sicherungspflicht ebensowenig entgegen wie schon dem geltenden System.

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RECHTSPRECHUNG

Verpflichtung zur Rücknahme bestandskräftiger Bescheide

Der in Artikel 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet eine Verwaltungsbehörde auf entsprechenden Antrag hin, eine bestandskräftige Verwal- tungsentscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenomme- nen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen, wenn – die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzuneh- men, – die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nati- onalen Gerichts bestandskräftig geworden ist, – das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 234 Absatz 3 EG erfüllt war, und – der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entschei- dung des Gerichtshofes erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.

(Leitsätze der Schriftleitung)

Urteil des Gerichtshofs vom 13.01.2003 (Vorabentscheidungsersuchen des College van Beroep voor het be- drijfsleven (Niederlande)), Kühne & Heitz NV/Productschap voor Pluimvee en Eieren, Rs. C-453/00

URTEIL

1. Das College van Beroep voor het bedrijfsleven hat [...] gemäß Artikel 234 EG eine Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere des Grundsatzes der Zusammenarbeit, der sich aus Artikel 10 ergibt, zur Vorabentscheidung vorgelegt. 2. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Kühne & Heitz NV (im Fol- genden: Klägerin) und der Productschap voor Pluimvee en Eieren (im Folgenden: Pro- ductschap), bei dem es um die Zahlung von Ausfuhrerstattungen geht.

Rechtlicher Rahmen

3. Artikel 10 EG lautet: Die Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen allgemei- ner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgabe. Sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefährden könnten. 4. Im niederländischen Recht bestimmen die Artikel 4:6 und 8:88 der Algemene wet bestu- ursrecht (Allgemeines Verwaltungsrechtsgesetz) vom 4. Juni 1992 (Stbl. 1992, S. 315), zuletzt geändert am 12. Dezember 2001 (Stbl. 2001, S. 66):

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Art. 4:6 1. Wird nach vollständiger oder teilweiser Ablehnung eines Antrags ein neuer Antrag gestellt, so hat der Antragsteller neu eingetretene Tatsachen oder geänderte Umstän- de anzugeben. 2. Wenn keine neu eingetretenen Tatsachen oder geänderten Umstände angegeben wer- den, kann die Verwaltungsbehörde, ohne Artikel 4:5 anzuwenden, den Antrag unter Bezugnahme auf ihre vorherige ablehnende Entscheidung ablehnen. ... Art. 8:88 1. Das Gericht kann auf Antrag einer Partei ein rechtskräftiges Urteil aufgrund von Tatsachen oder Umständen abändern, die a) vor dem Erlass des Urteils eingetreten sind, b) dem Kläger vor Erlass des Urteils nicht bekannt waren und vernünftigerweise nicht bekannt sein konnten und c) zu einer anderen Entscheidung hätten führen können, wenn sie dem Gericht vor- her bekannt gewesen wären. 2. Kapitel 6 sowie die Titel 8.2 und 8.3 finden, soweit erforderlich, entsprechend An- wendung.

Das Ausgangsverfahren

5. Von Dezember 1986 bis Dezember 1987 führte die Klägerin Geflügelteile in Drittländer aus. Bei den niederländischen Zollbehörden meldete sie diese Ware als Schenkel und Teile von anderem Geflügel im Sinne von Tarifposition 02.02 B II e) 3 des Gemeinsa- men Zolltarifs an. Auf der Grundlage dieser Anmeldungen gewährte die Productschap die dieser Tarifposition entsprechenden Ausfuhrerstattungen und zahlte die entsprechen- den Beträge. 6. Nach Überprüfung reihte die Productschap die Ware in Tarifposition 02.02 B II ex g (andere) ein. Auf der Grundlage dieser Neutarifierung verlangte sie die Rückzahlung eines Betrages von 970 950,98 NLG. 7. Der Widerspruch der Klägerin gegen diese Rückzahlungsanordnung wurde zurückge- wiesen. Gegen den entsprechenden Bescheid erhob die Klägerin Klage beim College van Beroep voor het bedrijfsleven. Dieses wies die Klage mit Urteil vom 22. November 1991 (im Folgenden: Urteil vom 22. November 1991) mit der Begründung ab, dass es sich bei der in Rede stehenden Ware nicht um Schenkel im Sinne der Tarifposition 02.02 B II e) 3 handele. In diesem Verfahren beantragte die Klägerin nicht die Vorlage einer Vorab- entscheidungsfrage an den Gerichtshof. 8. Später hat der Gerichtshof mit Urteil vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-151/93 (Voogd Vleesimport en -export, Slg. 1994, I-4915) entschieden: 20. Ein Schenkel, an dem noch ein Teil des Rückens hängt, ist daher als Schenkel im Sinne der Tarifstelle 02.02 B II e) 3 der alten und der Unterposition 0207 41 51 000 der neuen Nomenklatur einzuordnen, wenn dieser Teil des Rückens nicht groß genug ist, um dem Erzeugnis seinen wesentlichen Charakter zu verleihen. 21. Um festzustellen, ob dies der Fall ist, hat das nationale Gericht, da es seinerzeit keine Gemeinschaftsregelung gab, die inländischen Handelsbräuche und die herkömmli- chen Zerlegungsmethoden zu berücksichtigen. 9. Auf das Urteil Voogd Vleesimport en -export hin stellte die Klägerin bei der Pro-

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ductschap einen Antrag auf Zahlung der Erstattungen, deren Rückzahlung die Pro- ductschap ihres Erachtens zu Unrecht verlangt hatte, und auf Zahlung des höheren Be- trages, den sie an Erstattung erhalten hätte, wenn die nach Dezember 1987 ausgeführten Hühnerschenkel diesem Urteil gemäß eingereiht worden wären. 10. Die Productschap lehnte diese Anträge ab und wies den Widerspruch mit Bescheid vom 21. Juli 1997 zurück. Die Klägerin erhob daraufhin gegen diesen Bescheid, den Streitge- genstand des Ausgangsverfahrens, Klage.

Das Vorlageurteil und die Vorlagefrage

11. Das College van Beroep voor het bedrijfsleven weist in seinem Vorlageurteil den zweiten Antrag der Klägerin auf Zahlung des höheren Betrages ab, auf den sie ihres Erachtens in Bezug auf ihre nach Dezember 1987 getätigten Ausfuhren Anspruch gehabt habe. 12. Zum ersten Klageantrag der Klägerin, der die Zahlung der Erstattungen betrifft, deren Rückzahlung von ihr zu Unrecht verlangt worden sei, führt das College van Beroep voor het bedrijfsleven aus, dass eine Verwaltungsbehörde nach niederländischem Recht grundsätzlich stets eine bestandskräftige Entscheidung zurücknehmen könne. Das Be- stehen einer derartigen Befugnis könne unter Umständen die Pflicht implizieren, eine solche Entscheidung zurückzunehmen. 13. Das habe die Productschap nicht berücksichtigt, als sie ausgeführt habe, dass der Kläge- rin nur eine Klage auf Abänderung des Urteils vom 22. November 1991 bei demselben Gericht offenstehe. Die Productschap habe sich daher auf eine unrichtige Rechtsansicht gestützt. 14. Zwar sei es grundsätzlich möglich, den Bescheid vom 21. Juli 1997 deswegen aufzuhe- ben, doch wäre das nur dann sachgerecht, wenn feststehe, dass die Productschap nicht nur befugt sei, ihren früheren Bescheid zurückzunehmen, sondern auch verpflichtet sei, zu überprüfen, ob in Bezug auf jede ausgeführte Ware ein Erstattungsanspruch bestehe, und gegebenenfalls den Betrag dieser Erstattung festzusetzen. 15. Zur Frage dieser Überprüfungspflicht führt das College van Beroep voor het bedrijfsle- ven aus, es sei von dem Grundsatz auszugehen, dass eine gerichtliche Entscheidung, die nach Eintritt der Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung ergehe, als solche diese Verwaltungsentscheidung nicht berühre. Dies gelte auch für die Vorabentscheidungen des Gerichtshofes, die festlegten, wie die ausgelegte Regelung ab ihrem Inkrafttreten hätte angewandt werden müssen, sofern der Gerichtshof nicht ausdrücklich etwas ande- res entscheide. Müssten bestandskräftige Verwaltungsentscheidungen regelmäßig an spätere gerichtliche – im konkreten Fall gemeinschaftsgerichtliche – Entscheidungen angepasst werden, so würde dies zu einem Verwaltungschaos führen und die Rechtssi- cherheit erheblich beeinträchtigen, was nicht hinnehmbar sei. 16. Allerdings gebe es Fälle, in denen nach niederländischem Recht ein später ergangenes Gerichtsurteil Folgen für rechtskräftig entschiedene Rechtssachen habe. Einschlägig sei die Rechtsprechung des Hoge Raad der Nederlanden zu Wirkungen der Urteile des Eu- ropäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Strafsachen. So sei nach einem Urteil des Hoge Raad der Nederlanden vom 1. Februar 1991 (Nederlandse Jurisprudentie – NJ – 1991, S. 413) die nachträgliche Erkenntnis, dass ein in Artikel 6 der Europäischen Kon- vention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistetes Grund- recht verletzt worden sei, ein maßgeblicher Grund dafür, der dem Vollzug einer rechts- kräftigen Entscheidung in Strafsachen entgegenstehen könne.

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17. Dem College van Beroep voor het bedrijfsleven stellt sich die Frage, ob in einem Fall wie dem bei ihm anhängigen eine Ausnahme von der Bestandskraft der Verwaltungsent- scheidungen zu machen sei. Erstens habe die Klägerin die Rechtsbehelfe, die ihr zur Verfügung gestanden hätten, ausgeschöpft, zweitens habe sich seine Auslegung des Ge- meinschaftsrechts als im Widerspruch zu einem späteren Urteil des Gerichtshofes ste- hend erwiesen, und drittens habe sich die Klägerin unverzüglich, nachdem sie Kenntnis von diesem Urteil des Gerichtshofes erlangt habe, an die Behörde gewandt. 18. Die genannte Frage rechtfertige sich insbesondere im Hinblick auf Artikel 234 EG, wo- nach ein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit einem Rechtsmittel angefochten werden könnten, zur Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet sei. 1991 habe das College van Beroep voor het bedrijfsleven sich zu Unrecht gemäß dem Urteil vom 6. Oktober 1982 in der Rechtssache 283/81 (Cilfit u. a., Slg. 1982, 3415) von dieser Verpflichtung befreit erachtet, da es der Ansicht gewesen sei, die Auslegung der betroffenen Tarifstel- len lasse keinen Raum für Zweifel. Daher stelle sich die Frage, ob die wirksame und vollständige Durchführung des Gemeinschaftsrechts es erforderlich mache, in einer Rechtssache wie der beim vorlegenden Gericht anhängigen die Regel der Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung zu lockern. 19. Aufgrund dieser Überlegungen hat das College van Beroep voor het bedrijfsleven das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Verpflichtet das Gemeinschaftsrecht, insbesondere der in Artikel 10 EG aufgestellte Grundsatz der Gemeinschaftstreue, eine Behörde, unter Umständen, wie sie im vorlie- genden Urteil geschildert werden, einen bestandskräftigen Bescheid zurückzunehmen, um die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, so wie es aufgrund der Antwort auf ein späteres Vorabentscheidungsersuchen ausgelegt werden muss, sicherzustellen?

Zur Vorlagefrage

20. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist es Aufgabe aller Stellen der Mitglied- staaten, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten die Einhaltung des Gemeinschafts- rechts zu gewährleisten (Urteil vom 12. Juni 1990 in der Rechtssache C-8/88, Deutschland/Kommission, Slg. 1990, I-2321, Randnr. 13). 21. Durch die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Artikel 234 EG vornimmt, wird erforderlichenfalls er- läutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Bedeutung diese Bestim- mung ab ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre (siehe insbesondere Urteile vom 27. März 1980 in der Rechtssache 61/79, Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205, Randnr. 16, und vom 10. Februar 2000 in der Rechtssache C-50/96, Deutsche Telekom, Slg. 2000, I-743, Randnr. 43). 22. Daher ist eine so ausgelegte Bestimmung des Gemeinschaftsrechts von einer Verwal- tungsbehörde im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch auf Rechtsbeziehungen anzuwenden, die vor dem Erlass der Vorabentscheidung des Gerichtshofes entstanden sind. 23. Im Ausgangsverfahren stellt sich die Frage, ob die Erfüllung dieser Verpflichtung auch geboten ist, wenn die Verwaltungsentscheidung bestandskräftig geworden ist, bevor be- antragt wurde, sie zu revidieren, um einer Vorabentscheidung des Gerichtshofes Rech- nung zu tragen. 24. Die Rechtssicherheit gehört zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen

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Rechtsgrundsätzen. Die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten ist, trägt zur Rechtssicherheit bei. Daher verlangt das Gemeinschaftsrecht nicht, dass eine Verwal- tungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentschei- dung zurückzunehmen. 25. Das vorlegende Gericht hat jedoch dargelegt, dass eine Verwaltungsbehörde nach nieder- ländischem Recht – sofern keine Rechte Dritter verletzt werden – stets die Befugnis hat, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, und dass das Beste- hen einer derartigen Befugnis unter Umständen die Verpflichtung implizieren kann, eine solche Entscheidung zurückzunehmen, selbst wenn die zuständige Behörde nach nieder- ländischem Recht nicht verpflichtet ist, bestandskräftige Verwaltungsentscheidungen durchgängig zurückzunehmen, um einer später ergangenen gerichtlichen Entscheidung nachzukommen. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich unter Umständen wie denjenigen des Ausgangsverfahrens aus dem Gemeinschaftsrecht eine Pflicht zur Rücknahme einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung ergibt. 26. Nach den Akten liegen folgende Umstände vor. Erstens hat die Verwaltungsbehörde nach nationalem Recht die Befugnis, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende be- standskräftige Entscheidung zurückzunehmen. Zweitens erlangte die Verwaltungsent- scheidung ihre Bestandskraft erst infolge eines Urteils eines nationalen Gerichts, dessen Entscheidungen nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar sind. Drittens beruhte dieses Urteil auf einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die, wie ein später ergangenes Urteil des Gerichtshofes zeigt, unrichtig war und die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof angeru- fen wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 234 Absatz 3 EG erfüllt war. Viertens wandte sich die Klägerin, unmittelbar nachdem sie Kenntnis von diesem Urteil des Ge- richtshofes erlangt hatte, an die Verwaltungsbehörde. 27. Unter solchen Umständen ist die Verwaltungsbehörde nach dem in Artikel 10 EG veran- kerten Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet, ihre Entscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Be- stimmung des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen. Diese Behörde muss anhand der Ergebnisse dieser Überprüfung entscheiden, inwieweit sie verpflichtet ist, die in Re- de stehende Entscheidung, ohne die Belange Dritter zu verletzen, zurückzunehmen. 28. Nach allem ist auf die vorgelegte Frage [wie aus dem Leitsatz ersichtlich] zu antworten.

Kosten

29. Die Auslagen der niederländischen und der französischen Regierung sowie der Kommis- sion und der EFTA-Überwachungsbehörde, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abge- geben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem vor dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

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Bestandskraft staatlicher Verwaltungsakte oder Effektivität des Gemeinschaftsrechts?

Anmerkung zum Urteil vom 13. Januar, Kühne & Heitz NV/Productschap voor Pluimvee en Eieren, Rs. C-453/00

Von Michael Potacs, Klagenfurt

I. Einleitung

Es ist noch nicht allzu lange her, da sorgte das EuGH-Urteil Ciola1 für einige Überraschung und Diskussion.2 Erklärte darin doch der EuGH erstmals, dass der Vorrang des Gemein- schaftsrechtes auch gegenüber individuellen staatlichen Rechtsakten zum Tragen kommen kann. Konkret ging es dabei um den Bescheid einer österreichischen Behörde, der eine Be- schränkung von Bootsanlegeplätzen für Benutzer mit Wohnsitz in einem anderen Mitglied- staat zum Inhalt hatte und der einige Jahre vor dem EU-Beitritt Österreichs in Bestandskraft erwachsen ist. Der EuGH stellte fest, dass dieser Bescheid die EG-Dienstleistungsfreiheit verletzt und unanwendbar geworden sei, weshalb auf seiner Grundlage auch keine Sanktion verhängt werden dürfe. Auf Bedenken stieß dieses Urteil weniger im Ergebnis, das etwa mit dem „Gebot der Mindesteffektivität“3 von Gemeinschaftsrecht gerechtfertigt wurde, son- dern vielmehr wegen seiner Begründung. Denn der Gerichtshof meinte darin, dass nach der „Logik“ seiner Rechtsprechung der Vorrang von Gemeinschaftsrecht nicht nur gegenüber generell-abstrakten Normen, sondern auch gegenüber individuell-konkreten Verwaltungs- entscheidungen gelte.4 Daraus konnte der Schluss gezogen werden, dass Gemeinschaftsrecht gegenüber entgegenstehenden individuellen staatlichen Rechtsakten in grundsätzlich glei- cher Weise Vorrang genießt wie gegenüber generellen staatlichen Normen. Bei diesem (sei- nen Formulierungen nach nahe liegenden) Verständnis stand das Urteil Ciola aber nicht nur in einem Spannungsverhältnis zu anderen Aussagen des EuGH wie etwa der Zulässigkeit „angemessener Ausschlussfristen“5 bei der Bekämpfung von individuellen Rechtsakten der Mitgliedstaaten. Es wurden damit – worauf die österreichische Bundesregierung bereits im Verfahren hingewiesen hat – auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauens- schutzes in Frage gestellt, die nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch zu den allgemei-

1 EuGH Rs. C-224/97, Ciola, Slg. 1999, I-2517. 2 Siehe zu diesem Urteil z.B. Gündel, Bootsliegeplatz-Privilegien: Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit und Durchbrechung der nationalen Bestandskraftregeln, EuR 1999, 781 ff; Pelzl, Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber individuellen Verwaltungsakten, ELR 1999, 197 ff; Schilling, Urteilsanmerkung, EuZW 1999, 407 f; Frank, Altes und Neues zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor staatlichem Recht, ZÖR 55 (2000), 1 (53 ff); Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht, 2. Aufl. 2001, 75 f; Niedobitek, Kollisi- onen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, Verwaltungs-Archiv 2001, 58 (77 ff); Scheuing, Europäisie- rung des Verwaltungsrechts. Zum mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzug des EG-Rechts am Beispiel der Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen, Die Verwaltung 2001, 107 (141 ff); Thienel, Verwal- tungsverfahrensrecht, 2. Aufl. 2002, 308 ff; Jarass/Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 1 (6). 3 So Gündel, EuR 1999, 787. 4 EuGH Rs. C-224/97, Ciola, Slg. 1999, I-2517, Rn. 32. 5 Dazu z.B. Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht, 2. Aufl. 2001, 129 f, mwN. 6 Z.B. aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-62/00, Marks & Spencer, Slg. 2002, I-6325, Rn. 44; EuGH Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747, Altmark Trans, Rn. 59.

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nen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehören6 und denen das Institut der Be- standskraft (auch vom EuGH7) anerkannter Maßen vor allem dient. Auch war dieses Urteil im Hinblick auf die jüngere Rechtsprechung des EuGH zum indirekten Vollzug eher nicht zu erwarten gewesen, weil der EuGH darin – wie noch zu zeigen sein wird – durchaus um eine differenzierte Position zwischen der Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht einerseits und der Berücksichtigung der Eigenheiten der jeweiligen staatlichen Rechtsordnungen anderer- seits bemüht war.8 Auf Grund von Ciola konnte aber der Eindruck entstehen, dass von dem so wichtigen Institut der Bestandskraft staatlicher Verwaltungsakte „nicht mehr viel übrig“9 bleibt, weshalb das Urteil insoweit wohl zu Recht als „Rückschritt“10 empfunden wurde. Auch in weiterer Folge hatte es im Urteil Larsy den Anschein, dass nach Meinung des EuGH die Bestandskraft eines staatlichen Verwaltungsaktes durch den Anwendungsvorrang von Gemeinschaftsrecht grundsätzlich zurückgedrängt wird.11 In diesem Sinne hat offenbar auch Generalanwalt Léger den EuGH verstanden, wenn er im hier zu besprechenden Verfah- ren Kühne unter Berufung auf das Urteil Larsy meinte, dass der Grundsatz des Vorranges von Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat verwehre, sich auf eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu berufen, die auf einer durch eine spätere Vorabentscheidung des EuGH verworfenen Auslegung beruht.12 Der EuGH teilt im nunmehr vorliegenden Ur- teil die Auffassung des Generalanwaltes jedoch augenscheinlich nicht, wenn er - ohne den Vorrang von Gemeinschaftsrecht auch nur zu erwähnen - feststellt, dass eine Verwaltungs- behörde nur unter eingeschränkten Voraussetzungen auf Grund des Gemeinschaftsrechts verpflichtet ist, eine bestandskräftige Entscheidung wieder zurückzunehmen. Damit stellt sich freilich die Frage, inwieweit dieses Urteil mit den anderen erwähnten Entscheidungen des EuGH in Einklang zu bringen ist. Lassen die verschiedenen Urteile des EuGH zur Be- standskraft staatlicher Verwaltungsakte ein System erkennen?

II. Verfahrensautonomie

Will man sich einer Antwort auf diese Frage nähern, so sind zunächst einmal die Grundla- gen des indirekten Vollzuges im Lichte der Rechtsprechung des EuGH zu rekapitulieren. Ausgangspunkt ist dabei der Umstand, dass die Mitgliedstaaten beim Vollzug von Gemein- schaftsrecht (in Ermangelung entsprechender gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften) „nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres nationalen Rechts“13 vorgehen. Das be- trifft vor allem auch das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten, wo die Gemeinschaft von ei- ner umfassenden Kodifizierung noch weit entfernt ist. Manches spricht dafür, dass die Ge- meinschaft in die „Verfahrensautonomie“ (ebenso wie in die „Organisationsautonomie“) der

7 Siehe etwa in Bezug auf „den Charakter eines endgültigen Schiedsspruches“, dessen prinzipielle Rechtswir- kungen „durch grundlegende Prinzipien des nationalen Rechtssystems, wie das der Rechtssicherheit und das daraus abgeleitete Prinzip der Beachtung der Rechtskraft, gerechtfertigt sind“; EuGH Rs. C-126/97, Slg. 1999, I-3055, Eco Swiss, Rn. 46. Siehe auch bereits EuGH Rs. 33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, Rn. 6, und dazu unter IV. 8 Siehe etwa Potacs, Entwicklungstendenzen beim indirekten Vollzug von Gemeinschaftsrecht, in: Hummer (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende, 2004, 269 (287). 9 Gündel, EuR 1999, 786. 10 Ebenda. 11 EuGH Rs. C-118/92, Larsy, Slg. 2001, I-5063, Rn. 53 und 54. 12 Schlussanträge des Generalanwaltes Léger in der Rs. C-453/00, Kühne & Heitz/Productschap voor Pluimvee en Eieren, vom 17.6.2003, Rn. 75. 13 ZB EuGH verb. Rs. 205 bis 215/82, Deutsche Milchkontor, Slg. 1983, 2633, Rz. 17.

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Mitgliedstaaten nicht allzu sehr eingreifen darf. Einen plausiblen Ansatz dafür kann man in dem in Art. 5 Abs. 2 EGV verankerten (und durch den Maastrichter Vertrag eingeführten) Subsidiaritätsprinzip sehen. Nach dieser Vorschrift wird die Gemeinschaft in den Bereichen, die (wie der indirekte Vollzug) nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitglied- staaten nicht ausreichend erreicht werden können“. Es ist keineswegs unvertretbar, wenn man aus dieser Regelung in bestimmtem Umfang auch eine den EuGH bindende Verpflich- tung zum Vollzug des Gemeinschaftsrechts im Rahmen des Organisations- und Verfahrens- rechts der Mitgliedstaaten ableitet.14 Auch ist in diesem Zusammenhang auf die Erklärung (Nr. 43) zum Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Ver- hältnismäßigkeit der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam hinzuweisen, wo der Grund- satz bekräftigt wird, dass „die administrative Durchführung des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften bleibt“. Mit einiger Berechtigung wird daraus in der Lehre eine „Kompetenzvermutung“ für die Vollzugsautonomie der Mitgliedstaaten abgeleitet.15 Es gibt also durchaus Anhaltspunk- te, die auf eine gewisse Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf das staatliche Recht beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht hindeuten. Tatsächlich sind auch der Rechtsprechung des EuGH in den vergangenen Jahren Ansätze für eine stärkere Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen nationalen Rechtsordnung beim indirekten Vollzug zu entnehmen. Zwar betont der EuGH stets, dass die staatlichen Regelungen zur Vollziehung gemeinschaftsrechtlicher Ansprüche nicht ungünstiger als in ähnlichen rein innerstaatlichen Angelegenheiten ausgestaltet sein dürfen (Äquivalenzprin- zip) und die Rechtsdurchsetzung „nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschweren“ dürfen (Effektivitätsprinzip).16 Bei der Konkretisierung dieser Prinzipien gab der EuGH dem staatlichen Verfahrensrecht in seiner jüngeren Rechtsprechung aber durchaus Raum für dessen Eigenheiten. So konnte man noch auf Grund des Urteils Simmenthal annehmen, dass ein Anwendungsvorrang von staatlichen Gerichten prinzipiell schrankenlos aufzugreifen sei.17 Meinte doch der EuGH in diesem Urteil, „dass jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt an- zuwenden“. Das Gericht habe vielmehr „alles Erforderliche zu tun, um diejenigen inner- staatlichen Vorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts bilden“18. Mitte der Neunziger Jahre hat der EuGH diese Anforderungen aber wieder maßgeblich eingeschränkt. Nach den Urteilen Van Schijn- del und Kraaijeveld ist ein Aufgreifen von Gemeinschaftsrecht (und damit auch die Wahr- nehmung des Anwendungsvorranges von Gemeinschaftsrecht) durch staatliche Gerichte nur insoweit geboten, als eine „Verpflichtung“ oder zumindest eine „Befugnis“ zur Anwendung

14 A.A. z.B. Langguth, Kommentar zu Art. 5, in: Lenz (Hrsg), EG-Vertrag. Kommentar (1999) 103, Rn. 21, mwN, mit der Begründung, dass der EuGH für seine Rechtsprechung eine „ausschließliche“ Zuständigkeit besitze. Dagegen lässt sich aber einwenden, dass für den EuGH das Subsidiaritätsprinzip insoweit gilt, als er seine Ent- scheidungen in Angelegenheiten (wie etwa dem indirekten Vollzug) trifft, die nicht in die ausschließliche Zu- ständigkeit der Gemeinschaft fallen. Andernfalls hätte Art. 5 Abs. 2 EGV für den EuGH überhaupt keine Be- deutung, was aber nur schwer vorstellbar ist. 15 Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, 113, 149. 16 Z.B. EuGH 20.3.2003, Rs. C-147/01 (Weber´s Wine World), Rn. 103, mwN. 17 Zutreffend Griller, Individueller Rechtsschutz und Gemeinschaftsrecht, in: Aicher/Holoubek/Korinek (Hrsg.), Gemeinschaftsrecht und Wirtschaftsrecht, 2000, 27 (100 ff). 18 EuGH Rs. 106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23.

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„zwingender“ Rechtsvorschriften nach staatlichem Recht besteht.19 Der Gedanke hinter die- ser Rechtsprechung besteht wohl darin, dass dem Effektivitätsprinzip soweit wie möglich im Rahmen des staatlichen Rechts Rechnung getragen werden soll. Dieser Gedanke kommt nun auch wieder im vorliegenden Urteil Kühne zum Ausdruck, und zwar schon deshalb, weil danach ein Kriterium für die Verpflichtung zur Rücknahme von in Bestandskraft erwachse- nen EG-widrigen Bescheiden darin besteht, dass „die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen“ (Rn. 28). Der EuGH hatte allerdings bereits Mitte der Neunziger Jahre ebenfalls klargestellt, dass der Wahrnehmung von Gemeinschaftsrecht im Rahmen des staatlichen Verfahrensrechts durch- aus Grenzen gesetzt sind. Das betrifft nach dem Urteil Peterbroeck etwa Beschränkungen der Prüfungsbefugnis von staatlichen Gerichten, die in manchen Mitgliedstaaten – wie etwa in Österreich der Verwaltungsgerichtshof20 - zumindest teilweise im innerstaatlichen Rechtszug die einzige gemäß Art. 234 EGV beim EuGH vorlageberechtigte Instanz darstel- len. Das Gemeinschaftsrecht steht nach diesem Urteil der Anwendung einer nationalen Ver- fahrensvorschrift entgegen, die es einem solchen Gericht verbietet, „von Amts wegen die Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Rechtsakts mit einer Vorschrift des Gemeinschafts- rechts zu prüfen, wenn sich kein Verfahrensbeteiligter innerhalb einer bestimmten Frist auf die letztgenannte Vorschrift berufen hat“21. Diesem Urteil dürfte die Vorstellung zugrunde liegen, dass gegen staatliche Maßnahmen zumindest ein Gericht im Sinne von Art. 234 EGV mit einer umfassenden von Amts wegen wahrzunehmenden Prüfungsbefugnis anrufbar sein muss.22 In jedem Fall stellte der EuGH damit einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz sicher, der auch nach einer Reihe anderer EuGH-Urteile als allgemeiner Rechtsgrundsatz von den Mitgliedstaaten beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht zu gewährleisten ist.23 Durch das vorliegende Urteil Kühne hat der EuGH seine Rechtsprechung zu diesem Grund- satz aber um eine neue Facette bereichert.

III. Effektivität durch Inanspruchnahme von Rechtsschutz

Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes kann als Spielart des Grundsat- zes der Effektivität von Gemeinschaftsrecht angesehen werden. Denn ist für gemeinschafts- rechtliche Ansprüche kein effektiver Rechtsschutz vorgesehen, so wird deren Durchsetzung wohl zumindest „übermäßig erschwert“. Daraus erwächst für die Mitgliedstaaten eine ge- meinschaftsrechtliche Verpflichtung zur Schaffung entsprechender Rechtsschutzeinrichtun- gen. Im vorliegenden Urteil Kühne wurde vom EuGH allerdings aufgezeigt, dass der Grund- satz eines effektiven Rechtsschutzes auch noch eine andere Seite besitzt. Der EuGH hat seiner Entscheidung offenbar die Überlegung zugrundegelegt, dass eine erfolgreiche Durch- setzung des Gemeinschaftsrechts nur bei ausreichender Inanspruchnahme der staatlichen Rechtsschutzeinrichtungen in Betracht kommt. Diese zunächst einmal praktische Einsicht

19 EuGH verb. Rs. C-430/93 und C-431/93, Van Schijndel, Slg. 1995, I-4705, Rn. 13 f; Rs. C-72/95, Kraaijeveld, Slg. 1996, I-5403, Rn. 57 f. 20 Zu den Konsequenzen dieses Urteils für die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit siehe etwa Öhlinger/ Potacs, Gemeinschaftsrecht, 142, mwN. 21 EuGH Rs. C-312/93, Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Rn. 21. 22 Potacs, Das Verwaltungsverfahrensrecht aus der Sicht des Europäischen Gemeinschaftsrechts, ZUV 2003, 87 (91). 23 Z.B. EuGH verb. Rs. C-87/90 ua, Verholen, Slg. 1991, I-3757, Rn. 24; EuGH Rs. C-228/98, Dounias, Slg. 2000, I-577 Rn. 64 ; EuGH Rs. C-226/99, Siples, Slg. 2001, I-277, Rn. 19 ; EuGH 11.9.2003, Rs. C-13/01, Safalero, Rn. 50.

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hat der EuGH zu einem rechtlich relevanten Gesichtspunkt weiterentwickelt. Um dies zu verdeutlichen, sei die Ausgangslage des Urteils Kühne in Erinnerung gerufen: Auf Grund einer Anmeldung gewährte die Behörde zunächst eine Ausfuhrerstattung, weil sie die Wa- ren (Geflügelteile) einer entsprechenden Tarifposition zuordnete. Nach einer abermaligen Überprüfung nahm sie eine Neutarifierung vor und verlangte die Rückzahlung der erstatte- ten Beträge. Der gegen diese Rückzahlungsanordnung erhobene Widerspruch wurde zu- rückgewiesen und auch die dagegen erhobene Klage war nicht erfolgreich, so dass die Rück- zahlungsanordnung bestandskräftig wurde. Einige Jahre später erließ der EuGH in einem anderen Verfahren eine Vorabentscheidung, in der er die Richtigkeit der ursprünglichen (die Erstattung auslösende) Tarifierung bestätigte. In Anbetracht dieses Urteils stellte die Kläge- rin einen Antrag auf Rückforderung der zurückbezahlten Erstattungen sowie zusätzlicher Beträge. Dieser Antrag wurde von der Behörde abgewiesen, den dagegen erhobenen Wider- spruch wies sie zurück. Daraufhin wurde abermals Klage erhoben. Dem Gericht stellte sich die Frage, ob die Behörde trotz der bestandskräftigen Rückzahlungsanordnung dem nach- träglich erlassenen EuGH-Urteil Rechnung tragen konnte und holte darüber eine Vorab- entscheidung ein. Für den EuGH war nun ein entscheidender Gesichtspunkt, dass die Klägerin in den Aus- gangsverfahren stets aktiv die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts betrieb. Waren es doch die besonderen Umstände im konkreten Fall (Rn. 27), die eine Rücknahme der be- standskräftigen Entscheidung zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts rechtfertigten. Diese bestanden eben zum einen auch darin, dass „die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist“ (Rn. 28). Damit hat die Klägerin unter Beweis gestellt, dass sie die staatlichen Rechtsschutz- möglichkeiten bis zur Bestandskraft voll ausgeschöpft hat. Zum anderen war für den EuGH maßgeblich, dass der „Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofes erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat“ (Rn. 28). Auch dadurch hat die Klägerin ihre Aktivität im Rahmen des staatlichen Rechtsschutz- ssystems hinreichend dokumentiert. Der EuGH hat also sein Ergebnis auf Grund einer Abwägung zwischen den Grundsätzen der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten sowie der Rechtssicherheit auf der einen und dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes auf der anderen Seite erzielt. Den Grundsätzen der Verfahrensautonomie und Rechtssicherheit hat er dadurch entsprochen, dass er die Be- standskraft (auch gemeinschaftsrechtswidriger) Verwaltungsakte prinzipiell anerkannte. Der effektive Rechtsschutz wurde vom EuGH berücksichtigt, indem er bei dessen Inan- spruchnahme eine Verpflichtung zur Rücknahme des bestandskräftigen Verwaltungsaktes bejahte. Bei dieser Abwägung hat er darauf Bedacht genommen, dass ein effektiver Rechts- schutz nur dann greifen kann, wenn er von den Rechtsunterworfenen auch in Anspruch ge- nommen wird. Die Effektivität von Gemeinschaftsrecht ist zweifellos umso größer, je mehr um seine Durchsetzung vor staatlichen Behörden gekämpft wird. So stellt das Vorab- entscheidungsverfahren auf Grund der dadurch bewirkten Zusammenarbeit zwischen staat- lichen Gerichten und EuGH zwar ein wichtiges Instrument zur Wahrung der europäischen Rechtseinheit dar. Es kann seine Wirkung aber ebenfalls nur dann entfalten, wenn die Rechtsunterworfenen die Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht vor staatlichen Gerichten auch wirklich vorantreiben. Aus diesem Grund soll nach Meinung des EuGH das Gemein- schaftsrecht auch nur denjenigen gegenüber weitgehend uneingeschränkt zum Tragen kom- men, die im staatlichen Recht vorgesehene Rechtsmittel zur Durchsetzung des Gemein- schaftsrechtes tatsächlich ergreifen. Das gilt insbesondere dann, wenn sich Gemeinschafts-

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recht gegenüber einem von der Gemeinschaft anerkannten Grundsatz wie der Bestandskraft von Verwaltungsakten durchsetzen soll. Die Abwägung fällt hier erst bei entsprechender Ausschöpfung der staatlichen Rechtsschutzeinrichtungen zugunsten der Durchsetzung ge- meinschaftsrechtlicher Gewährleistungen aus. Damit hat der EuGH einen entscheidenden Schritt bei der Weiterentwicklung des Grundsatzes der Effektivität von Gemeinschaftsrecht gesetzt24, weil die Anrufung staatlicher Rechtsschutzeinrichtungen das Wirksamwerden von Gemeinschaftsrecht erheblich fördert. Nur am Rande sei hinzugefügt, dass der EuGH auch schon in anderem Zusammenhang der Inanspruchnahme des staatlichen Rechtsschutzes rechtliche Bedeutung beigemessen hat.25 Mit dem dargelegten Verständnis lässt sich auch das Urteil Ciola in Einklang bringen, in dem der EuGH einen Vorrang von Gemeinschaftsrecht gegenüber einem bestandskräftigen Bescheid aussprach. Denn hier ging es ja um einen gemeinschaftsrechtswidrigen Bescheid einer österreichischen Behörde, der bereits einige Jahre vor dem EU-Beitritt Österreich be- standskräftig wurde. Damit hatte der Beschwerdeführer keine realistische Möglichkeit den Bescheid im Rahmen des staatlichen Rechtsschutzsystems wegen EG-Widrigkeit erfolgreich anzufechten. In einer solchen Situation muss das Erfordernis einer ausreichenden Inan- spruchnahme staatlicher Rechtsschutzeinrichtungen anders gesehen werden. Die Bekämp- fung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit kann dann nur mehr dadurch erfolgen, dass man dem Bescheid seine Rechtswirkungen aberkennt. Durch die Annahme eines Vorranges von Gemeinschaftsrecht gegenüber dem bestandskräftigen Bescheid wird hier vom EuGH si- chergestellt, dass dieser (EG-widrige) Verwaltungsakt nicht mehr Grundlage für Sanktionen sein kann. Wohl in diesem Sinne meinte der EuGH auch, dass der Rechtsstreit „nicht das rechtliche Schicksal des Verwaltungsaktes“ selbst, „sondern die Frage betrifft, ob ein solcher Verwaltungsakt im Rahmen der Beurteilung der Rechtmässigkeit einer Sanktion, die wegen der Nichtbeachtung einer sich aus ihm ergebenden Verpflichtung verhängt wurde, deshalb unangewendet bleiben muss, weil er mit dem Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs unvereinbar ist“26. Nicht zuletzt auch im Lichte des vorliegenden Urteils Kühne ist daher jenem Teil der Lehre beizupflichten, der die im Urteil Ciola enthaltenen Aussagen über den Vorrang von Gemeinschaftsrecht gegenüber individuellen staatlichen Verwaltungsakten auf jene Fälle beschränkt, in denen eine erfolgversprechende Bekämpfung eines Bescheides un- ter Berufung auf das Gemeinschaftsrecht von vorneherein nicht möglich war.27 Allerdings ist einzuräumen, dass man gewisse Ungereimtheiten zwischen dem vorliegenden Urteil Kühne und dem Urteil Larsy sehen könnte. Denn das zuletzt genannte Urteil kann (wie etwa von Generalanwalt Léger) so verstanden werden, dass der Vorrang des Gemein- schaftsrechts gegenüber einem rechtskräftigen Urteil (und damit wohl auch einem bestands- kräftigen Verwaltungsakt) ganz grundsätzlich gilt. Dies wäre im Hinblick auf die Aussagen

24 Der EuGH begründete seine Entscheidung im Urteil Kühne zwar ausdrücklich mit Art. 10 EGV, doch besteht kein Zweifel, dass (auch) der Grundsatz der einheitlichen und effektiven Anwendung von Gemeinschaftsrecht in Art. 10 EGV verankert ist; z.B. Hatje, Art. 10 EGV, in: Schwarze, EU-Kommentar (2000) 302, Rn. 16; May- er, Art. 10, in: Mayer (Hrsg.), Kommentar zu EU- und EG-Vertrag, 2004, 4, Rn. 4; EuGH Rs. C-212/94, FMC, Slg. 1996, I-389, Rn. 52. 25 So begrenzte der EuGH etwa im Urteil Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 60, die Rückwirkung der Vorabentscheidung außer für diejenigen, die vor Erlass des Urteils „Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt“ haben. Siehe dazu auch bereits EuGH Rs. C-212/ 94, FMC, Slg. 1996, I-389, Rn. 60, mwN. 26 EuGH Rs. C-224/97, Ciola, Slg. 1999, I-2517, Rn. 25. 27 So Griller, Rechtsschutz, 85; Pesendorfer, Der Verwaltungsgerichtshof und die EU, 2000, 57; Thienel, Verwal- tungsverfahrensrecht, 309; im Ergebnis ebenso wohl auch Gündel, EuR 1999, 787.

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im Urteil Kühne aber nur schwer zu verstehen, weil auch bei dem Ausgangsverfahren des Urteils Larsy Rechtsschutzmöglichkeiten vorhanden waren und vom Kläger auch ausrei- chend in Anspruch genommen worden sein dürften. Andererseits ist aber auch festzustellen, dass der EuGH im Urteil Larsy seine Aussagen zum Vorrang von Gemeinschaftsrecht ge- genüber individuellen staatlichen Entscheidungen doch eher vage gehalten hat, weshalb sich auch kein Widerspruch zum Urteil Kühne mit hinreichender Deutlichkeit ausmachen lässt.

IV. Reichweite des Urteils Kühne

Mit dem Erfordernis einer aktiven Inanspruchnahme des staatlichen Rechtsschutzes lässt sich wohl auch das Kriterium des EuGH (für eine Rücknahme des Verwaltungsaktes) im Urteil Kühne begründen, wonach im konkreten Fall der bestandskräftige Verwaltungsakt, „auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 234 Absatz 3 EGV erfüllt war“ (Rn. 28). Dem Rechtsunterworfenen, war kein Vorwurf zu machen, weil er alles in seiner Macht unternommen hatte, um die EG-widrige Entscheidung zu bekämpfen. Vielmehr liegt es im Verantwortungsbereich des Staates, dass ein vorlage- pflichtiges Gericht unter Verletzung von Art. 234 Abs. 3 EGV keine Vorabentscheidung eingeholt hat. In einer solchen Situation kann sich der Staat dann nicht auf die Bestandskraft des Verwaltungsaktes berufen. Allerdings weist der EuGH ausdrücklich darauf hin, dass die Unrichtigkeit der Auslegung, die dem Verwaltungsakt zugrunde lag, „eine nach seinem Er- lass ergangene Entscheidung des Gerichtshofes zeigt“ (Fn. 28). Damit stellt sich die Frage, ob eine solche nachträgliche Vorabentscheidung des EuGH eine zwingende Voraussetzung für die Rücknahme des bestandskräftigen Verwaltungsaktes ist. Man könnte vielleicht argu- mentieren, dass nach dem Urteil CILFIT eine Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte nicht nur dann entfällt, wenn der EuGH in einem gleichgelagerten Fall bereits eine Klärung herbeigeführt hat. Die Vorlagepflicht besteht nach diesem Urteil auch dann nicht, wenn „die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig“ ist, „dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt“28. Davon ausgehend könnte man überlegen, ob auch in Bezug auf die Rücknahme eines bestandskräf- tigen Verwaltungsaktes die Klärung durch den EuGH der „Offenkundigkeit“ der Richtigkeit einer Auslegung gleichzusetzen sei. Die Verpflichtung zur Rücknahme bestände demnach also auch dann, wenn der Bescheid auf einer „offenkundig“ gemeinschaftsrechtswidrigen Auslegung beruht. Eine solche Argumentation mag zwar einiges für sich haben, doch wird sie sich in der Praxis wohl nur schwer durchsetzen lassen. Denn ist ein Bescheid einmal (in Ausschöpfung des nationalen Rechtsschutzes) bestandskräftig geworden, so werden die staatlichen Behörden ohne ein nachträglich anderslautendes Urteil des EuGH in der Regel kaum zu einer Rücknahme dieses Verwaltungsaktes bereit sein. Auch ist festzustellen, dass die Aussagen des Urteils Kühne auf die Geltendmachung ge- meinschaftsrechtlicher Ansprüche durch Einzelne beschränkt sind. Konsequenzen auf von Amts wegen wahrzunehmende Verpflichtungen zur Rücknahme von Bescheiden lassen sich daraus nicht ziehen. Dies ist schon aus der vom EuGH im Urteil Kühne vorgenommenen Verknüpfung zwischen der Inanspruchnahme des staatlichen Rechtsschutzes und der Rück- nahme von Bescheiden zu schließen. Die Rechtsprechung des EuGH zur staatlichen Ver-

28 EuGH Rs. 283/81, CILFIT, Slg. 1982, 3415, Rn. 16.

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pflichtung zur Rücknahme von mit Bescheid gewährten staatlichen Subventionen29 oder EG-Subventionen30 bleibt von diesem Urteil daher unberührt. Für die individuelle Durchset- zung gemeinschaftsrechtlicher Ansprüche dürfte das Urteil Kühne hingegen von grundle- gender Bedeutung sein. Das betrifft etwa auch die Rückforderung von EG-widrigen Abga- ben, die auf Grund von bestandskräftig gewordenen Bescheiden eingehoben wurden. Nach der Rechtsprechung des EuGH besteht ein Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhoben hat.31 Auch eine solche Erstattung hat „nach den in der innerstaatlichen Rechtsordnung des betreffenden Mitglied- staats festgelegten Verfahrensmodalitäten“ zu erfolgen, „sofern diese Modalitäten nicht un- günstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Ausübung der Rechte, die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen“32. In der Rechtssache Rewe stellte der EuGH fest, dass es nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstoße, wenn nach staatlichem Recht eine Rücker- stattung auf Grund eines wegen Fristversäumnis unanfechtbar gewordenen Abgabenbe- scheides ausgeschlossen ist.33 Auf Grund des Urteils Kühne wird man ergänzend hinzufü- gen dürfen, dass eine Erstattung dann doch wieder zu erfolgen hat, wenn der Bescheid zuvor hinreichend bekämpft wurde und die EG-Widrigkeit wegen eines EuGH-Urteiles außer Streit steht.

V. Fazit

Zusammenfassend ist das Urteil Kühne aus mehreren Gründen bemerkenswert. So hat der EuGH darin klargestellt, dass die Bestandskraft von Verwaltungsakten prinzipiell auch im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts gilt. Gleichzeitig wird damit zum Ausdruck gebracht, dass der Vorrang von Gemeinschaftsrecht gegenüber Bescheiden grundsätzlich nicht zum Tragen kommt. Etwas anderes ist nur dann anzunehmen, wenn im staatlichen Recht ein ausreichender Rechtsschutz zur Bekämpfung des Bescheides nicht besteht. Die Einschätzungen, wonach das Urteil Ciola (in dem der EuGH den Vorrang von Gemein- schaftsrecht gegenüber einem Bescheid annahm) einen Ausnahmefall betrifft34, haben sich somit als zutreffend erwiesen. Des weiteren hat der EuGH im Urteil Kühne der Bedeutung einer aktiven Inanspruchnahme der staatlichen Rechtsschutzeinrichtungen für die Durchset- zung von Gemeinschaftsrechts Rechnung getragen: Gegenüber der auch vom Gemein- schaftsrecht prinzipiell anerkannten Bestandskraft von Verwaltungsakten soll der gemein- schaftsrechtlich geforderte effiziente Rechtsschutz nur dann durchdringen, wenn er von den betroffenen Rechtsunterworfenen auch hinreichend in Anspruch genommen wurde. Auf die- se Weise ist dem EuGH ein angemessener Ausgleich zwischen den Grundsätzen der Verfah- rensautonomie der Mitgliedstaaten und der Rechtssicherheit auf der einen sowie der Effekti- vität von Gemeinschaftsrecht auf der anderen Seite gelungen. Insgesamt hat der EuGH mit dem Urteil Kühne wohl einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des Zusammenwir- kens zwischen staatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht geleistet.

29 Z.B. EuGH Rs. C-24/95, Alcan, Slg. 1997, I-1591, Rn. 34 ff. 30 Z.B. EuGH Rs. C-298/96, Oelmuehle Hamburg, Slg. 1998, I-4767, Rn. 23 ff. 31 Z.B. EuGH 20.3.2003, Rs. C-147/01, Weber´s Wine World, Rn. 93. 32 EuGH Rs. C-62/93, Soupergaz, Slg. 1995, I-1883, Rn. 42. 33 EuGH Rs.33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, Rn. 6. 34 Z.B. Gundel, EuZW 1999, 787; Schilling, EuZW 1999, 408.

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Eintragung ausländischer Handwerksbetriebe in die Handwerksrolle

1. Das Gemeinschaftsrecht auf dem Gebiet der Dienstleistungsfreiheit steht der Ver- pflichtung eines Wirtschaftsteilnehmers, sich in die Handwerksrolle eintragen zu lassen, entgegen, die die Erbringung von Dienstleistungen im Aufnahmemitglied- staat verzögert, erschwert oder verteuert, wenn die in der anwendbaren Richtlinie über die Anerkennung der beruflichen Qualifikationen vorgesehenen Vorausset- zungen für die Ausübung dieser Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat erfüllt sind. 2. Allein die Tatsache, dass ein in einem Mitgliedstaat niedergelassener Wirtschafts- teilnehmer gleiche oder ähnliche Dienstleistungen wiederholt oder mehr oder weni- ger regelmäßig in einem anderen Mitgliedstaat erbringt, ohne dass er dort über eine Infrastruktur verfügt, die es ihm erlauben würde, in diesem Mitgliedstaat in stabiler und kontinuierlicher Weise einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, und von der aus er sich u. a. an die Angehörigen dieses Mitgliedstaats wendet, kann nicht ausreichen, um ihn als in diesem Staat niedergelassen anzusehen.

Urteil des Gerichtshofs vom 11.12.2003 (Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Augsburg), Bruno Schnitzer, Rs. C-215/01

URTEIL

1. Das Amtsgericht Augsburg hat [...] eine Frage nach der Auslegung der Artikel 49 EG, 50 EG, 54 EG und 55 EG sowie der Richtlinie 64/427/EWG des Rates vom 7. Juli 1964 über die Einzelheiten der Übergangsmaßnahmen auf dem Gebiet der selbständigen Tätigkei- ten der be- und verarbeitenden Gewerbe der CITI-Hauptgruppen 23 - 40 (Industrie und Handwerk) (ABl. 1964, Nr. 117, S. 1863 zur Vorabentscheidung vorgelegt. 2. Diese Frage stellt sich in einem bei diesem Gericht anhängigen Verfahren gegen Bruno Schnitzer (im Folgenden: Betroffener) wegen Zuwiderhandlung gegen die deutschen Rechtsvorschriften zur Bekämpfung der Schwarzarbeit.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3. Artikel 49 Absatz 1 EG bestimmt: [...] 4. Artikel 50 EG bestimmt: [...] 5. Am 18. Dezember 1961 verabschiedete der Rat auf der Grundlage der Artikel 54 Absatz 1 und 63 Absatz 1 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 44 Absatz 1 EG und 52 Ab- satz 1 EG) zwei Allgemeine Programme zur Aufhebung der Beschränkungen der Nie- derlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs (ABl. 1962, Nr. 2, S. 36 und S. 32). Um die Verwirklichung dieser Programme zu erleichtern, erließ der Rat u. a. am 7. Juli 1964 die Richtlinie 64/427. 6. Diese Richtlinie sieht im Wesentlichen ein System der gegenseitigen Anerkennung der im Herkunftsland erworbenen Berufserfahrung vor und gilt sowohl bei der Niederlas- sung als auch bei der Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat.

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7. Die Richtlinie 64/427, die zu dem im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt galt, wurde durch die Richtlinie 1999/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juni 1999 über ein Verfahren zur Anerkennung der Befähigungsnachweise für die unter die Liberalisierungs- und Übergangsrichtlinien fallenden Berufstätigkeiten in Er- gänzung der allgemeinen Regelung zur Anerkennung der Befähigungsnachweise (ABl. L 201, S. 77) aufgehoben.

Nationales Recht

8. In Deutschland wird das Handwerk durch das Gesetz zur Ordnung des Handwerks (Handwerksordnung, im Folgenden: HandwO) in der im Ausgangsverfahren anwendba- ren Fassung vom 24. September 1998 (BGBl. 1998 I S. 3074) geregelt. Gemäß § 1 Absatz 1 Satz 1 HandwO ist der selbständige Betrieb eines Handwerks nur den in der Hand- werksrolle eingetragenen natürlichen und juristischen Personen und Personengesell- schaften gestattet. Diese Eintragung entspricht der Erteilung einer gewerblichen Erlaub- nis zur Ausübung dieser Tätigkeit. 9. Gemäß § 7 Absatz 1 Satz 1 HandwO wird [i]n die Handwerksrolle ... eingetragen, wer in dem von ihm zu betreibenden Handwerk oder in einem diesem verwandten Handwerk die Meisterprüfung bestanden hat. 10. Nach § 8 Absatz 1 Satz 1 HandwO ist [i]n Ausnahmefällen ... eine Bewilligung zur Ein- tragung in die Handwerksrolle (Ausnahmebewilligung) zu erteilen, wenn die zur selb- ständigen Ausübung des von dem Antragsteller zu betreibenden Handwerks notwendi- gen Kenntnisse und Fertigkeiten nachgewiesen sind. 11. § 9 HandwO ermächtigt den Bundeswirtschaftsminister, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen Staatsangehörigen der anderen Mitglied- staaten eine Ausnahmebewilligung zur Eintragung in die Handwerksrolle außer in den Fällen des § 8 Absatz 1 HandwO zu erteilen ist. Aufgrund dieser Vorschrift erließ der Bundeswirtschaftsminister am 4. August 1966 die Verordnung über die für Staatsange- hörige der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geltenden Voraussetzungen der Eintragung in die Handwerksrolle (BGBl. 1966 I S. 469). Durch diese Rechtsverordnung wurden die Artikel 3 und 4 Absätze 2 und 3 der Richtlinie 64/ 427 in deutsches Recht umgesetzt.

Der Sachverhalt und die Vorlagefrage

12. Mit Bescheid vom 28. August 2000 verhängte die Stadt Augsburg gegen den Betroffenen ein Bußgeld wegen Zuwiderhandlung gegen § 1 Absatz 1 Nr. 3 und § 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit. 13. Nach diesem Bescheid soll die Gesellschaft, deren gesetzlicher Vertreter der Betroffene als Geschäftsführer ist, das Unternehmen Codeigal-Construção, Decoração e Isolamen- tos de Portugal L damit beauftragt haben, in der Zeit von November 1994 bis November 1997 Verputzarbeiten in erheblichem Umfang in Südbayern auszuführen. Da dieses Un- ternehmen seinen Sitz in Portugal habe und nicht in die Handwerksrolle eingetragen gewesen sei, habe es ohne die dazu erforderliche Erlaubnis Leistungen erbracht, die dem deutschen Stuckateur-Handwerk zuzuordnen seien. Der Bescheid betrifft die Zeit von November 1996 bis Oktober 1997, also bis zu dem Monat, in dem das in Portugal ansäs- sige Unternehmen die Eintragung in die Handwerksrolle beantragte; diese Eintragung erfolgte am 27. November 1997.

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14. Gegen diesen Bescheid legte der Betroffene Einspruch ein, über den das Amtsgericht Augsburg zu entscheiden hat. Dieses Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 3. Oktober 2000 in der Rechtssache C-58/98 (Corsten, Slg. 2000, I- 7919) bereits die Frage entschieden habe, ob es mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei, wenn ein Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, das nur gelegentlich oder sogar nur ein einziges Mal in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen erbrin- gen wolle, verpflichtet sei, sich in ein Berufsregister eintragen zu lassen. Das Amtsge- richt Augsburg hält es für möglich, dass der Gerichtshof ein solches Erfordernis der Eintragung in ein Register auch in dem Fall als ungerechtfertigt ansieht, in dem der Dienstleistende seine Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat wiederholt oder mehr oder weniger regelmäßig ausübt. 15. Daher hat das Amtsgericht Augsburg das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof fol- gende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist es mit dem EG-Recht über den freien Dienstleistungsverkehr vereinbar, wenn ein por- tugiesisches Unternehmen, das im Heimatland die Voraussetzungen für eine gewerbliche Tätigkeit erfüllt, weitergehende, wenn auch nur formale Voraussetzungen erfüllen muss (hier: Eintragung in die Handwerksrolle), um diese Tätigkeit in Deutschland nicht nur kurzfristig, sondern auch über einen längeren Zeitraum hinweg auszuüben?

Zur Vorlagefrage

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

16.-25. [...]

Antwort des Gerichtshofes

26. Aus den Akten geht hervor, dass das vom Betroffenen mit der Durchführung von Ver- putzarbeiten beauftragte Unternehmen ein in Portugal niedergelassenes Unternehmen ist, das diese Arbeiten gegen Entgelt in Deutschland erbracht hat. Es handelt sich also um Leistungen, für die die Vorschriften des Vertragskapitels über die Dienstleistungen gel- ten, sofern das Unternehmen nicht als in Deutschland niedergelassen anzusehen ist, so dass die Leistungen gemäß Artikel 50 Absatz 1 EG unter die für das Niederlassungs- recht geltenden Artikel 43 EG bis 48 EG fielen. 27. Nach Artikel 50 Absatz 3 EG kann der Dienstleistende zwecks Erbringung seiner Leis- tung seine Tätigkeit vorübergehend in dem Staat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, die dieser Staat für seine eigenen Angehöri- gen vorschreibt. Soweit die Leistungserbringung in diesem Mitgliedstaat vorübergehend bleibt, fällt ein solcher Leistender weiterhin unter die Vorschriften des Kapitels über die Dienstleistungen. 28. Für die Frage, ob die Tätigkeiten des Leistenden im Aufnahmemitgliedstaat vorüberge- henden Charakter haben, sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht nur die Dauer der Leistung, sondern auch ihre Häufigkeit, regelmäßige Wiederkehr oder Konti- nuität zu berücksichtigen. Der vorübergehende Charakter der Leistung schließt für den Dienstleistenden im Sinne des Vertrages nicht die Möglichkeit aus, sich im Aufnahme- mitgliedstaat mit einer bestimmten Infrastruktur (einschließlich eines Büros, einer Pra- xis oder einer Kanzlei) auszustatten, soweit diese Infrastruktur für die Erbringung der

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fraglichen Leistung erforderlich ist (Urteile vom 30. November 1995 in der Rechtssache C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165, Randnr. 27, und vom 13. Februar 2003 in der Rechtssache C-131/01, Kommission/Italien, Slg. 2003, I-1659, Randnr. 22). 29. Der Gerichtshof hat diese Situation von der eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats unterschieden, der als Angehöriger eines Mitgliedstaats in stabiler und kontinuierlicher Weise eine Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, in dem er sich von einem Berufsdomizil aus u. a. an die Angehörigen dieses Staates wendet. Demgemäß hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein solcher Staatsangehöriger unter die Vorschriften des Kapitels über das Niederlassungsrecht und nicht unter die des Kapitels über die Dienst- leistungen fällt. 30. Der Begriff Dienstleistung im Sinne des Vertrages kann somit Dienstleistungen ganz unterschiedlicher Art umfassen, einschließlich solcher, deren Erbringung sich über einen längeren Zeitraum, bis hin zu mehreren Jahren, erstreckt, z. B. wenn es sich um Dienst- leistungen handelt, die im Rahmen eines Großbauprojekts erbracht werden. Auch Leis- tungen, die ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Wirtschaftsteilnehmer mehr oder we- niger häufig oder regelmäßig, auch über einen längeren Zeitraum, für Personen erbringt, die in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, können Dienst- leistungen im Sinne des Vertrages sein, etwa die entgeltliche Beratung oder Auskunfts- erteilung. 31. Der Vertrag enthält keine Vorschrift, die eine abstrakte Bestimmung der Dauer oder Häufigkeit ermöglicht, ab der die Erbringung einer Dienstleistung oder einer bestimm- ten Art von Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat nicht mehr als eine Dienstleis- tung im Sinne des Vertrages angesehen werden kann. 32. Folglich reicht allein die Tatsache, dass ein in einem Mitgliedstaat niedergelassener Wirtschaftsteilnehmer gleiche oder ähnliche Dienstleistungen mehr oder weniger häufig oder regelmäßig in einem anderen Mitgliedstaat erbringt, ohne dass er dort über eine Infrastruktur verfügt, die es ihm erlauben würde, in diesem Mitgliedstaat in stabiler und kontinuierlicher Weise einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, und von der aus er sich u. a. an die Angehörigen dieses Mitgliedstaats wendet, nicht aus, um ihn als in diesem Mit- gliedstaat niedergelassen anzusehen. 33. Im Ausgangsverfahren hat es nicht den Anschein – allerdings ist es Sache des nationalen Gerichts, das zu überprüfen –, als verfügte das portugiesische Unternehmen in Deutsch- land über eine Infrastruktur, aufgrund deren es als in diesem Mitgliedstaat niedergelas- sen angesehen werden könnte, oder als wollte es sich den in diesem Mitgliedstaat gelten- den gesetzlichen Verpflichtungen missbräuchlich entziehen. 34. In Bezug auf die Eintragung in die Handwerksrolle hat der Gerichtshof entschieden, dass es eine Beschränkung im Sinne von Artikel 49 EG darstellt, wenn einem Unternehmen, das in einem Mitgliedstaat ansässig ist und in einem anderen Mitgliedstaat als Dienst- leistender eine handwerkliche Tätigkeit ausüben möchte, die Verpflichtung, sich in die Handwerksrolle des letztgenannten Mitgliedstaats eintragen zu lassen, auferlegt wird (Urteil Corsten, Randnr. 34). 35. Eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit kann zwar durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, etwa durch das Ziel, die Qualität der durchge- führten handwerklichen Arbeiten zu sichern und deren Abnehmer vor Schäden zu be- wahren, doch muss die Anwendung der nationalen Regelungen eines Mitgliedstaats auf die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Dienstleistenden geeignet sein, die Ver- wirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und darf nicht über das

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hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (Urteil Corsten, Randnr. 39). 36. Folglich darf das durch das Aufnahmeland eingerichtete Verfahren zur Erteilung der Erlaubnis die Ausübung des Rechts einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Per- son, ihre Dienstleistungen im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staates zu erbringen, weder verzögern noch erschweren, nachdem die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Tätigkeiten bereits geprüft worden sind und festgestellt worden ist, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil Corsten, Randnr. 47). 37. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann eine etwa erforderliche Eintragung in die Handwerksrolle des Aufnahmemitgliedstaats nur noch automatisch erfolgen, sie kann weder eine Voraussetzung für die Erbringung der Dienstleistung sein noch Verwaltungs- kosten für den betroffenen Leistenden verursachen, noch die obligatorische Zahlung von Beiträgen an die Handwerkskammern nach sich ziehen. 38. Dies gilt nicht nur für Leistende, die die Absicht haben, nur gelegentlich oder sogar nur ein einziges Mal in einem Aufnahmemitgliedstaat Dienstleistungen zu erbringen, son- dern auch für Leistende, die wiederholt oder mehr oder weniger regelmäßig Dienstleis- tungen erbringen oder erbringen wollen. 39. In dem Zeitpunkt, in dem der Leistende beabsichtigt, Dienstleistungen im Aufnahme- mitgliedstaat zu erbringen, und in dem die Prüfung der Zugangsvoraussetzungen zu den betreffenden Tätigkeiten durchgeführt wird, lässt sich oft schwer sagen, ob der Leistende diese Dienstleistungen nur einmal oder gelegentlich oder aber wiederholt oder mehr oder weniger regelmäßig erbringen wird. 40. Daher ist auf die Vorlagefrage [wie aus dem Tenor ersichtlich] zu antworten.

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Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat

Der in Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) verankerte Grund- satz der Niederlassungsfreiheit ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, zur Vorbeugung gegen die Steuerflucht eine Regelung wie die in Artikel 167bis des französischen Code général des impôts vorgesehene einzuführen, wonach latente Wertsteigerungen besteuert werden, wenn ein Steuerpflichtiger seinen steuerli- chen Wohnsitz ins Ausland verlegt.

Urteil des Gerichtshofs vom 11.03.2004 (Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d‘État), Hughes de Las- teyrie du Saillant/Ministère de l‘Économie, des Finances et de l‘Industrie, Rs. C-9/02

URTEIL

1. Der Conseil d’État hat [...] gemäß Artikel 234 EG eine Frage nach der Auslegung des Artikels 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt. 2. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Hughes de Lasteyrie du Saillant (im Folgenden: Kläger) und dem Ministère de l’Économie, des Finances et de l’Industrie (Ministerium für Wirtschaft, Finanzen und Industrie) wegen der Besteuerung noch nicht realisierter Wertsteigerungen von Wertpapieren, die erfolgt, wenn ein Steuerpflichtiger seinen steuerlichen Wohnsitz ins Ausland verlegt.

Rechtlicher Rahmen

3. Artikel 24 der Loi Nr. 98/1266 portant loi de finances pour 1999 (Finanzgesetz für 1999) vom 30. Dezember 1998 (JORF vom 31. Dezember 1998, S. 20050) bestimmt in seiner zum Zeitpunkt des Erlasses des [...] Dekrets zur Durchführung von Artikel 24 des Fi- nanzgesetzes für 1999 über die Modalitäten der Besteuerung bestimmter Wertsteigerun- gen von Wertpapieren bei der Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes ins Ausland vom 6. Juli 1999 (JORF vom 13. Juli 1999, S. 10407) geltenden Fassung: „I. ... II. Folgender Artikel 167bis wird in den Code général des impôts eingefügt: ‚Artikel 167 bis I.-1. Steuerpflichtige, die ihren steuerlichen Wohnsitz während der letzten zehn Jahre mindestens sechs Jahre in Frankreich hatten, werden zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen, hinsichtlich der Wertsteigerungen besteuert, die für ihre in Artikel 160 genannten Gesellschaftsrechte festgestellt wurden. 2. Die festgestellte Wertsteigerung wird bestimmt aus der Differenz zwischen dem nach den Vorschriften der Artikel 758 und 855 Tbis ermittelten Wert der Gesellschaftsrechte im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland und dem vom Steuerpflichtigen entrichteten Anschaffungspreis oder, bei kostenlosem Erwerb, dem für die Festsetzung der Verkehrssteuer ermittelten Wert. Festgestellte Verluste sind nicht auf die anderweitig tatsächlich realisierten Wertsteige- rungen gleicher Art anrechenbar. 3. Die Erklärung der festgestellten Wertsteigerung erfolgt nach den Voraussetzungen von Artikel 167 Absatz 2.

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II.-1. Die Zahlung der auf die festgestellte Wertsteigerung anfallenden Steuer kann bis zum Zeitpunkt der Übertragung, des Rückkaufs, der Einlösung oder der Kraftloserklä- rung der betreffenden Gesellschaftsrechte aufgeschoben werden. Der Zahlungsaufschub setzt voraus, dass der Steuerpflichtige den Betrag der nach Ab- schnitt I festgestellten Wertsteigerung erklärt, einen Antrag auf Zahlungsaufschub stellt, einen in Frankreich ansässigen Bevollmächtigten benennt, der zum Empfang von Mittei- lungen in Bezug auf Besteuerungsgrundlage, Steuererhebung sowie steuerrechtliche Rechtsstreitigkeiten ermächtigt ist, und vor seinem Wegzug dem für die Steuererhebung zuständigen Finanzbeamten Sicherheiten leistet, die geeignet sind, die Einziehung der Steuerforderung der Finanzverwaltung zu gewährleisten. Der in diesem Artikel vorgesehene Zahlungsaufschub hat zur Folge, dass die Verjährung der Maßnahmen zur Einziehung der Steuerschuld bis zu dem Zeitpunkt des den Zah- lungsaufschub beendenden Ereignisses gehemmt wird. [...] Für die Besteuerung oder Erstattung von Steuergutschriften, Steuerkrediten und Einbe- halten oder Abzügen ohne befreiende Wirkung bleibt die Steuer, für die nach diesem Artikel ein Zahlungsaufschub beantragt wurde, außer Betracht. 2. Die Steuerpflichtigen, denen der Zahlungsaufschub nach diesem Artikel gewährt wird, sind zur Erklärung nach Artikel 170 Absatz 1 verpflichtet. In dieser Erklärung ist der kumulierte Betrag der Steuern anzugeben, für die ein Zahlungsaufschub gewährt wurde. Ihr ist auf einem beim Finanzamt erhältlichen Formular eine Aufstellung beizu- fügen, aus der sich der Betrag der Steuern für die betreffenden Wertpapiere ergibt, für die der Zahlungsaufschub noch nicht abgelaufen ist, sowie gegebenenfalls die Art und der Zeitpunkt der den Zahlungsaufschub beendenden Ereignisse. 3. Wenn dem Steuerpflichtigen ein Zahlungsaufschub gewährt wurde, ist vorbehaltlich Absatz 4 die nach diesem Artikel geschuldete Steuer bis zum 1. März des Jahres zu zah- len, das auf das Jahr folgt, in dem der Zahlungsaufschub endet. Die Steuer, für die die Zahlung aufgeschoben wurde, fällt jedoch nur in Höhe des Be- trages an, der auf der Grundlage der Differenz zwischen dem für die Anwendung von Abschnitt I Absatz 2 ermittelten Anschaffungspreis oder -wert der betreffenden Wertpapiere einerseits und im Fall der Veräußerung oder des Rückkaufs ihrem Preis und in allen anderen Fällen ihrem Wert zu dem Zeitpunkt des den Zahlungsaufschub beendenden Ereignisses andererseits bestimmt wird. Der überschießende Betrag wird von Amts wegen in Abzug gebracht. In diesem Fall bringt der Steuerpflichtige zur Unterstützung der Erklärung nach Absatz 2 die berücksichtigten Berechnungsfakto- ren bei. Die vom Steuerpflichtigen im Ausland auf die dort tatsächlich realisierte Wertsteigerung gezahlte Steuer ist auf die in Frankreich festgesetzte Einkommensteuer anzurechnen, sofern sie mit dieser vergleichbar ist. 4. Werden die Erklärung und die Aufstellung nach Absatz 2 nicht vorgelegt oder die Auskünfte, die in diesen enthalten sein müssen, ganz oder teilweise nicht erteilt, so wird die Steuer, für die Zahlungsaufschub gewährt wurde, sofort fällig. III. Nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren ab dem Zeitpunkt des Wegzugs oder, wenn dieses Ereignis früher eintritt, zu dem Zeitpunkt, zu dem der Steuerpflichtige seinen Wohnsitz wieder nach Frankreich verlegt, wird die gemäß Abschnitt I festgesetzte Steu- er von Amts wegen erlassen, soweit sie sich auf Wertsteigerungen von Gesellschaftsrech- ten bezieht, die sich zu diesem Zeitpunkt weiterhin im Vermögen des Steuerpflichtigen befinden.‘

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III. Ein Dekret des Conseil d‘État legt die Durchführungsbestimmungen zu diesem Ar- tikel und insbesondere die Modalitäten zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung der festgestellten Wertsteigerungen sowie die Erklärungspflichten der Steuerpflichtigen und die Modalitäten des Zahlungsaufschubs fest. IV. Die Vorschriften dieses Artikels gelten für die Steuerpflichtigen, die ihren Wohnsitz ab dem 9. September 1998 ins Ausland verlegen.“ 4. Artikel 160 Abschnitt I des französischen Code général des impôts (Allgemeines Steuer- gesetzbuch, im Folgenden: CGI) in der zum Zeitpunkt des Erlasses des Dekrets Nr. 99- 590 geltenden Fassung hat folgenden Wortlaut: „Veräußert ein Gesellschafter, Aktionär, Kommanditist oder Inhaber von Genussschei- nen während des Bestehens der Gesellschaft alle oder einen Teil seiner Gesellschafts- rechte, wird der den Erwerbspreis - oder, wenn dieser höher ist, den am 1. Januar 1949 geltenden Wert - übersteigende Teil des Veräußerungspreises dieser Gesellschaftsrechte ausschließlich mit einem Einkommensteuersatz von 16 % besteuert. Bei Veräußerung eines oder mehrerer Wertpapiere einer Serie von Wertpapieren gleicher Art, die zu un- terschiedlichen Preisen erworben wurden, ist als Anschaffungspreis der gewogene durchschnittliche Anschaffungswert dieser Wertpapiere zugrunde zu legen. Bei der Ver- äußerung von Wertpapieren nach Beendigung eines Aktiensparplans gemäß Artikel 163quinquies D oder ihrer Einziehung nach mehr als acht Jahren wird angenommen, dass der Anschaffungspreis dem Wert entspricht, den sie zu dem Zeitpunkt hatten, als der Veräußerer für diese Wertpapiere nicht mehr in den Genuss der Vorteile nach Artikel 157 Absätze 5bis und 5ter sowie Artikel 163quinquies D Abschnitt IV kam. Die Besteuerung der so realisierten Wertsteigerung setzt nur voraus, dass die unmittel- baren oder mittelbaren Rechte des Veräußerers oder seines Ehegatten und ihrer Ver- wandten in aufsteigender oder absteigender Linie an den Gesellschaftsgewinnen zu ir- gendeinem Zeitpunkt im Laufe der letzten fünf Jahre zusammen 25 % dieser Gewinne überstiegen. Erfolgt aber die Veräußerung an eine der in diesem Absatz genannten Per- sonen, so ist die Wertsteigerung von der Steuer befreit, wenn diese Gesellschaftsrechte weder insgesamt noch teilweise innerhalb von fünf Jahren an einen Dritten weiter veräu- ßert werden. Andernfalls wird die Wertsteigerung beim ersten Veräußerer für das Jahr der Weiterveräußerung der Rechte an einen Dritten besteuert. ... Die im Laufe eines Jahres erlittenen Wertverluste können nur mit Wertsteigerungen glei- cher Art verrechnet werden, die im Lauf desselben Jahres oder in den folgenden fünf Jahren realisiert worden sind. ... Die nach diesem Artikel steuerpflichtigen Wertsteigerungen sowie die Wertverluste sind nach den Voraussetzungen des Artikels 170 Absatz 1 gemäß den durch Dekret näher be- stimmten Modalitäten zu erklären.“ 5. Artikel 3 Absatz 1 des Dekrets Nr. 99-590 lautet: „Die Steuerpflichtigen, die zwischen dem 9. September 1998 und dem 31. Dezember 1998 ihren steuerlichen Wohnsitz ins Ausland verlegt haben, geben für die nach Artikel 167 Absatz 1bis und Artikel 167bis Abschnitt I des Code général des impôts steuer- pflichtigen Wertsteigerungen bis zum 30. September 1999 die berichtigte Erklärung ge- mäß Artikel 167 Absatz 2 des Code général des impôts sowie das besondere Formblatt nach Artikel 91undecies des Anhangs II des Code général des impôts ab.“ 6. Artikel R. 280-1 des Livre des procédures fiscales (Steuerverfahrensbuch, im Folgenden:

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LPF), der durch Artikel 2 des Dekrets Nr. 99-590 eingefügt wurde, hat folgenden Wort- laut: „Die Steuerpflichtigen, die einen Zahlungsaufschub nach Artikel 167bis Abschnitt II des Code général des impôts erhalten wollen, müssen dem für Steuerausländer zuständigen Finanzbeamten spätestens acht Tage vor dem Tag der Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland in der nach Artikel R. 277-1 vorgeschriebenen Form einen Vorschlag für Sicher- heiten vorlegen. Sie erhalten hierfür eine Empfangsbestätigung. Die Vorschriften des Artikels R. 277-1 Absatz 3, der Artikel R. 277-2 bis R. 277-4 und des Artikels R. 277-6 finden Anwendung.“ 7. Artikel R. 277-1 LPF sieht vor: „Der Steuerpflichtige, der für die Zahlung der Steuern einen Aufschub beantragt hat, wird vom zuständigen Finanzbeamten aufgefordert, die in Artikel L. 277 vorgesehenen Sicherheiten zu leisten. Der Steuerpflichtige hat ab Erhalt dieser Aufforderung zwei Wo- chen Zeit, die Sicherheiten mitzuteilen, zu deren Leistung er sich verpflichtet. Diese Sicherheiten können geleistet werden durch: Barzahlung auf ein Interimskonto der Finanzverwaltung; Schuldverschreibungen auf die Finanzverwaltung; die Begebung ei- ner Bürgschaft; Wertpapiere; in staatlich anerkannten Lagern hinterlegte Waren, über die ein auf die Finanzverwaltung indossierter Lagerpfandschein ausgestellt ist; Bestel- lung einer Hypothek; Verpfändung eines Fonds de commerce. Ist der Finanzbeamte der Auffassung, dass er die vom Steuerpflichtigen angebotenen Sicherheiten nicht akzeptieren kann, weil sie nicht den Anforderungen nach Absatz 2 entsprechen, teilt er ihm seine Entscheidung per Einschreiben mit.“ 8. Artikel R. 277-2 LPF bestimmt: „Stellt sich heraus, dass die geleisteten Sicherheiten an Wert verlieren oder nicht ausrei- chen, kann die Verwaltung den Steuerpflichtigen jederzeit unter den in den Artikeln L. 277 und L. 279 genannten Voraussetzungen per Einschreiben mit Rückschein zur Leistung einer zusätzlichen Sicherheit auffordern, um die Erhebung des streitigen Betra- ges sicherzustellen. Kommt der Steuerpflichtige dieser Aufforderung nicht innerhalb eines Monats nach, wird die Zwangsbeitreibung weiterbetrieben.“ 9. Artikel R. 277-3 LPF lautet: „Werden andere als die in Artikel R. 277-1 vorgesehenen Sicherheiten angeboten, können sie auf Vorschlag des für die Steuererhebung zuständigen Finanzbeamten nur vom Tré- sorier-payeur général oder vom Receveur général des finances, Trésorier-payeur général für die Region Paris, wenn es sich um im Wege der Veranlangung erhobene direkte Steu- ern handelt, und, je nach Fall, vom Directeur des Service fiscaux oder dem Directeur régional des douanes et droits indirects, wenn es sich um andere Steuern, Abgaben oder Gebühren handelt, akzeptiert werden.“ 10. Artikel R. 277-4 LPF sieht vor: „Der für die Steuererhebung zuständige Finanzbeamte kann dem Steuerpflichtigen je- derzeit gestatten, die von ihm geleistete Sicherheit durch eine der anderen in Artikel R. 277-3 vorgesehenen von wenigstens gleichem Wert auszutauschen.“ 11. Artikel R. 277-6 LPF bestimmt: „Der Minister für Finanzen legt durch Verordnung die Voraussetzungen, unter denen Wertpapiere als Sicherheit geleistet werden können, und insbesondere die Art dieser Wertpapiere sowie den Betrag fest, zu dem sie zugelassen werden; dieser Betrag wird anhand der letzten Notierung am Tag der Hinterlegung berechnet.“

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Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

12. Der Kläger verließ Frankreich am 12. September 1998, um seinen Wohnsitz in Belgien zu nehmen. Zu diesem oder irgendeinem in den letzten fünf Jahren vor seinem Wegzug aus Frankreich liegenden Zeitpunkt hielt er mit seinen Familienangehörigen unmittelbar oder mittelbar Wertpapiere, die zum Bezug von mehr als 25% der Gewinne einer Gesell- schaft berechtigten, die gesellschaftssteuerpflichtig war und ihren Sitz in Frankreich hatte. Der Kläger wurde gemäß Artikel 167bis CGI und den Durchführungsbestimmun- gen zu diesem Artikel hinsichtlich der Wertsteigerungen besteuert, da der gemeine Wert dieser Wertpapiere damals über ihrem Anschaffungspreis lag. 13. Der Kläger beantragte beim Conseil d’État, das Dekret Nr. 99-590 wegen Befugnisüber- schreitung für nichtig zu erklären; Artikel 167bis CGI sei rechtswidrig, da er gegen Ge- meinschaftsrecht verstoße. 14. Der Conseil d’État führt aus, dass diese Vorschriften entgegen dem Vorbringen des Klä- gers weder bezweckten noch bewirkten, dass die tatsächliche Ausübung der Freizügig- keit durch die von ihnen erfassten Personen irgendwelchen Beschränkungen oder Bedin- gungen unterworfen werde. Artikel 52 EG-Vertrag (jetzt Art. 43 EG) stehe der Einfüh- rung von Rechtsvorschriften durch einen Mitgliedstaat entgegen, die eine Behinderung der Niederlassung von eigenen Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat zur Folge hätten. 15. Artikel 167bis CGI sehe unter den dort genannten Voraussetzungen die sofortige Entste- hung eines Steueranspruchs gegen Steuerpflichtige vor, die beabsichtigten, ihren steuer- lichen Wohnsitz ins Ausland zu verlegen, wobei die Besteuerung auf der Grundlage noch nicht realisierter Wertsteigerungen (im Folgenden: latente Wertsteigerungen) erfol- ge, die nicht zu versteuern wären, wenn die Steuerpflichtigen ihren Wohnsitz in Frank- reich behielten. 16. Artikel 167bis CGI enthalte jedoch Bestimmungen, nach denen es im Fall eines Zah- lungsaufschubs vermieden werden könne, dass die Steuerpflichtigen endgültig eine Steuerbelastung zu tragen hätten, der sie nicht oder nicht in dieser Höhe unterlegen hät- ten, wenn sie ihren Wohnsitz in Frankreich belassen hätten, und die den Steuerpflichti- gen zudem nach Ablauf von fünf Jahren einen Steuererlass gewährten, soweit sich die Gesellschaftsrechte, bei denen eine Wertsteigerung eingetreten sei, dann noch in ihrem Vermögen befänden; die Betroffenen könnten beantragen, dass die Zahlung der Steuer bis zu diesem Zeitpunkt aufgeschoben werde. 17. Die Gewährung dieses Aufschubs sei davon abhängig, dass die Steuerpflichtigen Sicher- heiten leisteten, die geeignet seien, die Steuererhebung sicherzustellen. Angesichts der Belastungen, die die Leistung solcher Sicherheiten mit sich bringen könne, stelle sich jedoch die Frage, ob eine Regelung wie die hier in Rede stehende gegen Gemeinschafts- recht verstoße. 18. Da der Conseil d’État der Auffassung ist, dass der Rechtsstreit die Frage der Bedeutung der anwendbaren Gemeinschaftsvorschriften aufwirft, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG folgende Frage zur Vorabentscheidung vorge- legt: Verwehrt es der in Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) veran- kerte Grundsatz der Niederlassungsfreiheit einem Mitgliedstaat, zur Vorbeugung gegen die Steuerflucht eine Regelung wie die hier beschriebene einzuführen, wonach Wertstei- gerungen bei Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes besteuert werden?

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Zur Vorlagefrage

Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

19.-37. [...]

Antwort des Gerichtshofes

38. Artikel 167bis CGI stellt den Grundsatz auf, dass Wertsteigerungen von Gesellschafts- rechten zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Steuerpflichtiger seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, besteuert werden, wobei die Wertsteigerungen anhand des Unterschieds zwischen dem Wert dieser Rechte im Zeitpunkt der Wohnsitzverlegung und ihrem Anschaffungs- preis bestimmt werden. Diese Besteuerung erfasst nur Steuerpflichtige, die mit ihren Fa- milienangehörigen unmittelbar oder mittelbar Rechte an den Gewinnen einer Gesellschaft besitzen, die zu irgendeinem in den letzten fünf Jahren vor der Wohnsitzverlegung liegen- den Zeitpunkt 25% dieser Gewinne übersteigen. Die Besonderheit dieser Regelung be- steht darin, dass sie die Besteuerung von latenten Wertsteigerungen betrifft. 39. Erstens ist zu prüfen, ob Artikel 167bis CGI, der somit allein deswegen, weil ein Steuer- pflichtiger seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, eine Besteuerung der latenten Wertstei- gerungen vorsieht, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit im Sinne des Artikels 52 EG-Vertrag (jetzt Art. 43 EG) beschränken kann. 40. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 52 EG-Vertrag (jetzt Art. 43 EG) eine der grundlegenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ist und seit dem Ablauf der Über- gangszeit in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar ist. Nach dieser Vorschrift um- fasst die Niederlassungsfreiheit der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheits- gebiet eines anderen Mitgliedstaats die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbs- tätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen nach den Bestimmungen des Niederlassungsstaats für seine eigenen Angehörigen (Urteile vom 28. Januar 1986 in der Rechtssache 270/83, Kommission/Frankreich, Slg.1986, 273, Randnr. 13, vom 29. April 1999 in der Rechtssache C-311/97, Royal Bank of Scotland, Slg. 1999, I-2651, Randnr. 22, und vom 13. April 2000 in der Rechtssache C-251/98, Baars, Slg. 2000, I-2787, Randnr. 27). 41. Gegenüber den von einigen Regierungen geäußerten Zweifeln an der Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ist mangels hinreichender Ausführungen zu diesem Punkt in der dem Gerichtshof vorgelegten Akte daran zu erin- nern, dass in einem Verfahren nach Artikel 234 EG, der auf einer klaren Aufgabentren- nung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, für die Würdi- gung des konkreten Sachverhalts das vorlegende Gericht zuständig ist (u.a. Urteil vom 25. Februar 2003 in der Rechtssache 326/00, IKA, Slg. 2003, I-1703, Randnr. 27 und dort zitierte Rechtssprechung), und festzustellen, dass das vorlegende Gericht offenbar zu dem Schluss gelangt ist, dass Artikel 52 EG-Vertrag auf den von ihm zu entscheidenden Rechtsstreit anwendbar ist. 42. Auch wenn Artikel 52 EG-Vertrag (jetzt Art. 43 EG) ebenso wie die anderen Bestim- mungen über die Niederlassungsfreiheit nach seinem Wortlaut insbesondere die Inlän- derbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern soll, so verbietet er es doch auch, dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindert (Urteil Baars, Randnr. 28 und dort zitierte Rechtsprechung).

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43. Außerdem verbietet Artikel 52 EG-Vertrag (jetzt Art. 43 EG) auch geringfügige oder unbedeutende Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit (in diesem Sinne Urteile vom 28. Januar 1986, Kommission/Frankreich, Randrn. 21, und vom 15. Februar 2000 in der Rechtssache C-34/98, Kommission/Frankreich, Slg. 2000, I-995, Randr. 49). 44. Ferner gilt das Verbot für die Mitgliedstaaten, die Niederlassungsfreiheit zu beschrän- ken, auch in Bezug auf steuerrechtliche Vorschriften. Nach ständiger Rechtsprechung fällt nämlich zwar der Bereich der direkten Steuern als solcher beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft, die Mit- gliedstaaten müssen die ihnen verbliebenen Befugnisse jedoch unter Wahrung des Ge- meinschaftsrechts ausüben (Urteile vom 14. Februar 1995 in der Rechtssache C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Randnr. 21, ICI, Randnr. 19, und vom 21. November 2002 in der Rechtssache C-436/00, X und Y, Slg. 2002, I-10829, Randnr. 32). 45. Im vorliegenden Fall verbietet Artikel 167bis CGI einem französischen Steuerpflichtigen zwar nicht, von seinem Niederlassungsrecht Gebrauch zu machen, er ist jedoch geeignet, die Ausübung dieses Rechts zu beschränken, da er für Steuerpflichtige, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen, zumindest abschreckende Wirkung hat. 46. Der Steuerpflichtige, der im Rahmen der Ausübung des Rechts, das ihm durch Artikel 52 EG-Vertrag (jetzt Art. 43 EG) garantiert wird, seinen Wohnsitz ins Ausland verlegen möchte, wird nämlich gegenüber einer Person, die ihren Wohnsitz in Frankreich beibe- hält, benachteiligt. Dieser Steuerpflichtige wird allein wegen der Verlegung seines Wohnsitzes ins Ausland für ein Einkommen steuerpflichtig, das noch nicht realisiert ist und über das er somit nicht verfügt, während die Wertsteigerungen, wenn er in Frank- reich bliebe, nur steuerpflichtig würden, wenn und soweit sie tatsächlich realisiert wor- den sind. Diese unterschiedliche Behandlung bei der Besteuerung der Wertsteigerungen, die erhebliche Auswirkungen auf das Vermögen des Steuerpflichtigen, der seinen Wohn- sitz ins Ausland verlegen möchte, haben kann, ist geeignet, einen Steuerpflichtigen von einer solchen Wohnsitzverlegung abzuhalten. 47. Die Prüfung der Durchführungsvorschriften zu dieser Maßnahme bestätigt diese Schlussfolgerung. Der zwar mögliche Zahlungsaufschub erfolgt nicht automatisch und ist an strenge Voraussetzungen geknüpft, die der Generalanwalt in den Nummern 36 und 37 seiner Schlussanträge beschrieben hat und zu denen u.a. die Leistung von Sicherhei- ten gehört. Diese Sicherheiten haben als solche eine beschränkende Wirkung, da sie den Steuerpflichtigen an der Nutzung der als Sicherheit geleisteten Vermögenswerte hin- dern. 48. Nach alledem ist die im Ausgangverfahren in Rede stehende Maßnahme geeignet, die Niederlassungsfreiheit zu beschränken. 49. Zweitens ist daran zu erinnern, dass eine Maßnahme, die geeignet ist, die in Artikel 52 EG-Vertrag (jetzt Art. 43 EG) verankerte Niederlassungsfreiheit zu beschränken, nur zulässig sein kann, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem EG-Vertrag zu vereinba- rendes Ziel verfolgt wird und sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses ge- rechtfertigt ist. In einem solchen Fall muss allerdings ihre Anwendung zur Erreichung des damit verfolgten Zieles geeignet sein und darf nicht über das hinausgehen, was hier- zu erforderlich ist (Urteile Futura Participations und Singer, Randnr. 26 und dort zitierte Rechtsprechung, sowie X und Y, Randnr. 49). 50. Zu der vom vorlegenden Gericht in der Vorlagefrage erwähnten Rechtfertigung mit dem Ziel, der Steuerflucht vorzubeugen, ist festzustellen, dass Artikel 167bis CGI nicht spe- ziell darauf zielt, nur zur Umgehung des französischen Steuerrechts geschaffene Sach-

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verhalte von einer Steuervergünstigung auszunehmen, sondern allgemein alle Fälle er- fasst, in denen ein Steuerpflichtiger, der wesentliche Beteiligungen an einer körper- schaftsteuerpflichtigen Gesellschaft hält, seinen Wohnsitz aus welchem Grund auch immer ins Ausland verlegt (in diesem Sinne Urteile ICI, Randnr. 26, sowie X und Y, Randnr. 61). 51. Verlegt eine natürliche Person ihren Wohnsitz aus dem Gebiet eines Mitgliedstaats, so bedeutet dies für sich genommen keine Steuerflucht. Eine allgemeine Vermutung von Steuerflucht oder Steuerhinterziehung kann nicht auf den Umstand gestützt werden, dass eine natürliche Person ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, und kann somit auch keine Steuermaßnahme rechtfertigen, die die Wahrnehmung einer durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheit beeinträchtigt (in diesem Sinne Urteile vom 26. September 2000 in der Rechtssache C-478/98, Kommission/Belgien, Slg. 2000, I-7587, Randnr. 45, sowie X und Y, Randnr. 62). 52. Mit der Unterstellung, dass Steuerpflichtige, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen, die Umgehung des französischen Steuerrechts beabsichtigen, geht Artikel 167bis CGI somit weit über das hinaus, was zur Erreichung des mit ihm verfolgten Zieles erforder- lich ist. 53. So besteht ein Steueranspruch nach Artikel 167bis CGI auch gegen den Steuerpflichti- gen, der seine Wertpapiere vor Ablauf des Zeitraums von fünf Jahren nach dem Wegzug aus Frankreich veräußert, selbst wenn er nicht die Absicht hat, in diesen Mitgliedstaat zurückzukehren, und nach Ablauf dieses Zeitraums weiterhin im Ausland wohnt. 54. Zudem lässt sich das verfolgte Ziel, nämlich zu verhindern, dass ein Steuerpflichtiger vor der Veräußerung der Wertpapiere seinen steuerlichen Wohnsitz allein deshalb vorü- bergehend verlegt, um die Zahlung der in Frankreich auf die Wertsteigerungen zu ent- richtenden Steuer zu umgehen, durch Maßnahmen erreichen, die weniger einschneidend sind oder die Niederlassungsfreiheit weniger beschränken und sich spezifisch auf die Gefahr einer solchen vorübergehenden Wohnsitzverlegung beziehen. Wie der General- anwalt in Nummer 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, könnten die französischen Behörden u.a. die Besteuerung eines Steuerpflichtigen vorsehen, der nach verhältnismä- ßig kurzem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat und nach Realisierung der Wertsteigerungen nach Frankreich zurückkehrt; so würden Auswirkungen auf die Situ- ation von Steuerpflichtigen, die in gutem Glauben von ihrer Freiheit der Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat Gebrauch machen wollen, vermieden. 55. Die Durchführungsbestimmungen zu Artikel 167bis CGI lassen keine andere Schlussfol- gerung zu. 56. Wie bereits in Randnummer 47 dieses Urteils festgestellt worden ist, erfolgt der Zah- lungsaufschub nicht automatisch, sondern ist an strenge Voraussetzungen geknüpft, wie z.B. die Verpflichtung innerhalb der vorgeschriebenen Frist eine Erklärung abzugeben, einen in Frankreich niedergelassenen Bevollmächtigten zu benennen und Sicherheiten zu leisten, die geeignet sind, die Erhebung der Steuern sicherzustellen. 57. Soweit die Anwendung dieser Voraussetzungen die Ausübung des Niederlassungsrechts beschränkt, kann das Ziel, der Steuerflucht vorzubeugen, das nicht geeignet ist, die in Artikel 167bis CGI vorgesehene Besteuerungsregelung zu rechtfertigen, auch nicht er- folgreich zur Rechtfertigung dieser Voraussetzungen, die der Durchführung dieser Re- gelung dienen, angeführt werden. 58. Demnach verwehrt es Artikel 52 EG-Vertrag (jetzt Art. 43 EG) einem Mitgliedstaat, zur Vorbeugung gegen die Steuerflucht eine Regelung wie die in Artikel 167bis CGI vorge-

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sehene einzuführen, wonach latente Wertsteigerungen besteuert werden, wenn ein Steu- erpflichtiger seinen steuerlichen Wohnsitz ins Ausland verlegt. 59. Die dänische Regierung macht jedoch geltend, dass Artikel 167bis CGI die Erosion der Besteuerungsgrundlage des betroffenen Mitgliedstaats verhindern solle, indem er ver- hindere, dass Steuerpflichtige einen Nutzen aus den Unterschieden zwischen den Steu- erregelungen der Mitgliedstaaten zögen. 60. Hierzu genügt der Hinweis, dass Steuermindereinnahmen nach ständiger Rechtspre- chung nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses anzusehen sind, der zur Rechtfertigung einer grundsätzlich gegen eine Grundfreiheit verstoßenden Maßnahme angeführt werden kann (Urteile ICI, Randnr. 28, und vom 8. März 2001 in den Rechtssa- chen C-397/98 und C-410/98, Metallgesellschaft u.a., Slg. 2001, I-1727, Randnr. 59). Somit kann eine Beschränkung des Niederlassungsrechts nicht allein damit gerechtfer- tigt werden, dass einem Mitgliedstaat Einnahmen entgehen, wenn ein Steuerpflichtiger seinen steuerlichen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, in dem eine andere Steuerregelung gilt. 61. Nach Ansicht der niederländischen Regierung ist die kombinierte Wirkung der Besteue- rung im Fall der Auswanderung und die Forderung von Sicherheiten, an die der Auf- schub der tatsächlichen Zahlung der Steuer geknüpft sei, notwendig, um die Kohärenz des französischen Steuersystems zu wahren, da ein unmittelbarer Zusammenhang zwi- schen dem Aufschub der jährlichen Besteuerung des mit den Wertpapieren verbundenen Kapitalzuwachses und der tatsächlichen Erhebung der Steuer bei Verlegung des Wohn- sitzes ins Ausland bestehe. 62. Der Gerichtshof hat zwar zugelassen, dass zur Wahrung des Zusammenhangs zwischen der steuerlichen Abzugsfähigkeit der Versicherungsbeiträge und der Besteuerung der vom Versicherer in Erfüllung der Versicherungsverträge geschuldeten Beträge die Ab- zugsfähigkeit der Beiträge an die Bedingung geknüpft wird, dass diese in diesem Mit- gliedstaat gezahlt werden (Urteile Bachmann, Randnrn. 21 bis 23, und vom 28. Januar 1992 in der Rechtssache C-300/90, Kommission/Belgien, Slg. 1992, I-305, Randnrn. 14 bis 20). 63. Von Artikel 167bis CGI kann jedoch nicht gesagt werden, dass er in dieser Weise durch das Erfordernis gerechtfertigt wäre, die Kohärenz des französischen Steuersystems zu wahren. 64. Hierzu ist daran zu erinnern, dass die in Artikel 167bis CGI vorgesehene Steuerregelung, wie die französische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen dargelegt hat, der al- lein aus steuerlichen Gründen erfolgenden vorübergehenden Wohnsitzverlegung ins Ausland vorbeugen soll. Anlass für den Erlass dieses Artikels sei nämlich das Verhalten bestimmter Steuerpflichtiger gewesen, die vor der Veräußerung von Wertpapieren ihren steuerlichen Wohnsitz allein deshalb vorübergehend verlegt hätten, um die Zahlung der in Frankreich auf die Wertsteigerungen zu entrichtenden Steuer zu umgehen. 65. Mit Artikel 167bis CGI wird somit offenbar nicht das Ziel verfolgt, allgemein in dem Fall, dass ein Steuerpflichtiger seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, die Besteuerung der Wertsteigerungen sicherzustellen, die während seines Aufenthalts in Frankreich einge- treten sind. 66. Für diese Feststellung spricht auch der Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuerregelung die Anrechung der Besteuerung zulässt, der die Wertsteigerun- gen im Fall ihrer Realisierung in dem Staat unterlagen, in den der Steuerpflichtige sei- nen Wohnsitz verlegt hat. Eine solche Besteuerung könnte nämlich zur Folge haben, dass

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die realisierten Wertsteigerungen einschließlich des Teils der Wertsteigerungen, die während des Aufenthalts des Steuerpflichtigen in Frankreich eingetreten sind, vollstän- dig in dem genannten Staat besteuert werden. 67. Unter diesen Umständen entfällt in Anbetracht des Zieles, das mit der in Artikel 167bis CGI vorgesehenen Steuerregelung verfolgt wird, die Prämisse, auf der das von der nie- derländischen Regierung angeführte Argument der steuerrechtlichen Kohärenz basiert. Die auf das Ziel der steuerrechtlichen Kohärenz gestützte Rechtfertigung einer solchen Regelung, die im Übrigen von der französischen Regierung nicht geltend gemacht wor- den ist, ist daher zurückzuweisen. 68. Zum Vorbringen der deutschen Regierung, dass die Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen dem Wegzugsstaat und dem Aufnahmestaat zu berücksichtigen sei, genügt entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in Nummer 82 seiner Schlussanträ- ge der Hinweis darauf, dass es in dem Rechtsstreit weder um die Aufteilung der Besteu- erungsrechte zwischen den Mitgliedstaaten noch um das Recht der französischen Behör- den geht, latente Wertsteigerungen zu besteuern, um auf künstliche Wohnsitzverlegun- gen zu reagieren, sondern um die Frage, ob die hierzu erlassenen Maßnahmen im Einklang mit der Niederlassungsfreiheit stehen. 69. Folglich ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass der in Artikel 52 EG-Vertrag (jetzt Art. 43 EG) verankerte Grundsatz der Niederlassungsfreiheit dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, zur Vorbeugung gegen die Steuerflucht eine Regelung wie die in Artikel 167bis CGI vorgesehene einzuführen, wonach latente Wertsteigerungen besteuert werden, wenn ein Steuerpflichtiger seinen steuerlichen Wohnsitz ins Ausland verlegt.

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KLEINERE BEITRÄGE, BERICHTE UND DOKUMENTE

„Bestandskraft“ von EG-Rechtsakten und Anwendungsbereich des Art. 241 EGV

Von Matthias Vogt, Heidelberg

I. Einleitung Das gemeinschaftliche Rechtsschutzsystem eröffnet in Art. 230 EGV sowohl den EG-Orga- nen und den Mitgliedstaaten einerseits1 als auch individuellen Klägern andererseits2 die Möglichkeit, unter bestimmten Umständen3 Rechtsakte der Gemeinschaft unmittelbar im Wege der Nichtigkeitsklage anzugreifen. Von diesem Recht müssen sie allerdings innerhalb der Frist des Art. 230 Abs. 5 EGV Gebrauch machen, da nach deren Ablauf die betreffenden Rechtsakte unanfechtbar werden und die Klage somit als unzulässig zurückzuweisen ist4. Man könnte insofern mit einiger Berechtigung von einer „formellen Bestandskraft“ der in Frage stehenden Handlungen der EG-Organe sprechen5. Über diese dem Primärrecht unmittelbar zu entnehmende Folge der Unanfechtbarkeit hinaus hat die Rechtsprechung der Europäischen Gerichte mit dem Ablauf der Klagefrist des Art. 230 Abs. 5 EGV gewisse materielle Bindungswirkungen verknüpft. Der Europäische Gerichtshof geht davon aus, jene Bindungswirkung führe nicht nur zu einem Ausschluss der Überprüfbar- keit der betreffenden Rechtsakte im Wege der Nichtigkeitsklage, sondern hindere den Kläger auch im Rahmen anderer Gerichtsverfahren, ihre Gültigkeit in Frage zu stellen6. Demgegenüber eröffnet Art. 241 EGV die Möglichkeit, sich in einem Rechtsstreit ungeach- tet des Ablaufs eventueller Anfechtungsfristen inzident auf die Rechtswidrigkeit einer ge- meinschaftlichen Rechtsnorm zu berufen, die zwar nicht selbst unmittelbarer Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist, auf deren Rechtmäßigkeit es aber zur Beurteilung der in Streit stehenden Maßnahme ankommt7. Die von der Rechtsprechung zu beantwortende Frage ma- terieller Bindungswirkungen von EG-Rechtsakten einerseits und die Bedeutung der in Art. 241 EGV normierten Rechtswidrigkeitseinrede andererseits stehen damit in einem engen Zusammenhang8. Erstere kann nicht sinnvoll beantwortet werden, ohne gleichzeitig den Anwendungsbereich der Inzidentrüge einer näheren Untersuchung zuzuführen. Zu diesem Zweck soll im Folgenden zunächst die Rechtsprechung der Europäischen Gerich- te zur Frage der Bindungswirkung von EG-Rechtsakten in der gebotenen Kürze nachge-

1 D.h. den sog. „privilegierten“ Klägern (Art. 230 Abs. 2 EGV) und den „teil-privilegierten“ Klägern (Art. 230 Abs. 3 EGV). 2 Bei diesen handelt es sich um die nach Art. 230 Abs. 4 EGV „nicht-privilegierten“ Kläger. 3 Während die privilegierten Kläger ohne weiteres alle rechtserheblichen Handlungen der EG-Organe anfechten können, ist das Klagerecht bei den teil-privilegierten durch das Erfordernis der Wahrung eigener Rechte, bei den nicht-privilegierten durch die Bedingung individueller und unmittelbarer Betroffenheit eingeschränkt. 4 Die Folge der Unzulässigkeit ist also zwingend, die Frist des Art. 230 Abs. 5 EGV ist eine Ausschlussfrist und steht nicht zur Disposition der Parteien oder des Gerichts; Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl. (2003), § 7 Rn. 84. 5 Insoweit besteht eine gewisse Parallelität zum Begriff der „formellen Bestandskraft“ des deutschen Verwal- tungs- und Verwaltungsprozessrechts. Auch dieser bedeutet hier nichts weiter als die Unanfechtbarkeit eines Rechtsaktes; Kopp, DVBl. 1983, S. 392 ff. (395); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2002), § 11 Rn. 4. Zu beachten ist allerdings, dass der Begriff der Bestandskraft untrennbar mit der Handlungsform des Verwaltungsakts verbunden ist. 6 Zu den Einzelheiten dieser Rechtsprechung später unter II. 2). 7 Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, 2. Aufl. (2002), Rn. 877. 8 Kamann/Selmayr, NVwZ 1999, S. 1041 ff. (1044).

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zeichnet werden (II.), um sie in einem weiteren Schritt unter Berücksichtigung der ratio und des Anwendungsbereichs des Art. 241 EGV (III.) einer kritischen Würdigung zu unterzie- hen (IV).

II. Die Bindungswirkung von EG-Rechtsakten

1. Unanfechtbarkeit oder „formelle Bestandskraft”

a) Zum Begriff der „formellen Bestandskraft”

Mit der formellen Bestandskraft wird in der Terminologie des deutschen Verwaltungsrechts gemeinhin der Umstand beschrieben, dass ein wirksamer9 Verwaltungsakt nach Ablauf der Rechtsbehelfsfristen oder nach erfolgloser Erschöpfung der im Einzelfall zur Verfügung stehenden ordentlichen Rechtsbehelfe von den Betroffenen nicht mehr angefochten werden kann10. Formelle Bestandskraft bedeutet demnach Unanfechtbarkeit11. Dabei wird im deut- schen Recht das Phänomen formeller Bestandskraft grundsätzlich nur im Hinblick auf durch die Anfechtungsklage angreifbare Verwaltungsakte thematisiert12, so dass die Bestands- kraftfrage insgesamt unmittelbar mit der Handlungsformenlehre verknüpft wird und dieser einen Teil der ihr zugeschriebenen Speicherfunktion verleiht13. Aufgrund dieses besonderen, auf die Rechtsform des Verwaltungsakts konzentrierten Ver- ständnisses der Bestandskraft ist bei einer Übertragung der Begrifflichkeiten auf die supra- nationale Ebene des Gemeinschaftsrechts Zurückhaltung anzuraten14. Das europäische Prozessrecht eröffnet im Rahmen des Art. 230 EGV, wenn auch unter differenzierten Vor- aussetzungen, Direktklagerechte gegenüber allen rechtserheblichen Handlungen der Ge- meinschaftsorgane15 und unterstellt diese der einheitlichen Frist des Art. 230 Abs. 5 EGV.

9 Der Verwaltungsakt darf also nicht nichtig sein, § 43 Abs. 3 VwVfG; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, 6. Aufl. (2000), § 50 Rn. 10. 10 Kopp, DVBl. 1983, S. 392 ff. (395). 11 Maurer (o. Fußn. 5), § 11, Rn. 4. 12 Das BVerfGG sieht weder für die abstrakte noch für die konkrete Normenkontrolle ein Fristhindernis vor. Anderes gilt zwar gem. § 93 Abs. 3 BVerfGG im Falle der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz sowie im Normenkontrollverfahren nach § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO. Wenn demnach direkte Klagerechte gegen Normativ- akte auch im deutschen Recht einer Frist unterliegen können, so wird insofern dennoch nicht von dem Eintritt formeller Bestandskraft gesprochen. Vielmehr folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip, dass ein Gesetz im Falle seiner Unvereinbarkeit mit dem GG – von den Ausnahmen einer möglichen Unvereinbarkeitserklärung einmal abgesehen – ipso iure nichtig und nicht bloß vernichtbar ist; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Komm., 1998, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 77. In dieser Nichtigkeitsfolge zeigt sich auch im Hinblick auf untergesetzliche Normen ein wesentlicher Unterschied zu den für Verwaltungsakte vorgesehenen Fehlerfolgen. Siehe hierzu Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), Komm. z. VwGO, vor § 47, Rn. 6; Stock, in: Ernst/Zinkhahn/ Bielenberg (Hrsg.), Komm. z. BauGB, § 214, Rn. 2 sowie ausführlich Ossenbühl, NJW 1986, S. 2805 ff. 13 Schmidt-Aßmann, DVBl. 1989, S. 533; Schoch, Der Verwaltungsakt zwischen Stabilität und Flexibilität, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 199 ff. (201, 206). Die besondere Bestandskraftwirkung von Verwaltungsakten ist indes kein ursprüngliches Mo- ment der Handlungsform, sondern sie wird ihr erst durch die speziellen Anfechtbarkeitsregeln vermittelt; P. Krause, Rechtsformen des Verwaltungshandelns, 1974, S. 179. 14 Eine gewisse Zurückhaltung ist bei der Verwendung aus dem klassischen Verwaltungsrecht bekannter Begriff- lichkeiten im Rahmen des gemeinschaftlichen Mehrebenen-Systems stets angebracht. Siehe hierzu auch Schmidt-Aßmann, Europäische Verwaltung zwischen Kooperation und Hierarchie, in: FS für Steinberger, 2002, S. 1375 ff (1381 ff.). 15 Zum Umfang der möglichen Klagegegenstände im Rahmen von Organklagen siehe Rengeling/Middeke/Gel- lermann (o. Fußn. 4), § 7 Rn. 30 ff.

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Folglich kommt eine Unanfechtbarkeit und damit der Eintritt „formeller Bestandskraft“ grundsätzlich für alle Rechtsformen des Art. 249 EGV in Betracht16. Dieser spezifische Ausdruck einer im Gemeinschaftsrecht anzutreffenden Formenblindheit und die sich darin widerspiegelnden Eigentümlichkeiten gegenüber dem deutschen Staats- und Verwaltungs- recht legen es nahe, den Begriff der „formellen Bestandskraft“ im Sinne einer Unanfechtbar- keit von Rechtsakten mit der nötigen Distanz zu verwenden.

b) Unanfechtbarkeit durch privilegierte Kläger

Besonders offenkundig trifft die Feststellung einer umfassenden „formellen Bestandskraft- fähigkeit“ auf die nach Art. 230 Abs. 1 EGV privilegierten Kläger zu. Diesen wird ein Di- rektklagerecht gegenüber allen rechtserheblichen Handlungen der EG-Organe zugebilligt17, so dass sie sowohl einzelfallbestimmte Entscheidungen als auch abstrakt-generelle Verord- nungen sowie Richtlinien im Wege der Nichtigkeitsklage vor den Europäischen Gerichten unmittelbar auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen lassen können. Daraus ergibt sich, dass alle verbindlichen Rechtsakte mit Ablauf der Klagefrist diesen Klägern gegenüber in „for- melle Bestandskraft“ erwachsen können.

c) Unanfechtbarkeit durch nicht-privilegierte Kläger

Demgegenüber ist der Kreis der tauglichen Klagegegenstände im Falle nicht-privilegierter Kläger nach Art. 230 Abs. 4 EGV eingeschränkt, so dass in Bezug auf sonstige natürliche oder juristische Personen nur solche Rechtsakte „formell bestandskräftig“ werden können, gegen die sie sich mit einer Nichtigkeitsklage zur Wehr zu setzen vermögen. Unzweifelhaft ist diese Möglichkeit gegeben im Falle der an die Kläger gerichteten Entschei- dungen im Sinne des Art. 249 Abs. 4 EGV18 sowie solcher Entscheidungen, die zwar an Dritte adressiert sind, den Kläger aber dennoch unmittelbar und individuell betreffen19. Dar- über hinaus bestimmt Art. 230 Abs. 4 EGV, dass ein Direktklagerecht auch für diejenigen Entscheidungen besteht, welche als Verordnung ergangen sind, aber den Einzelnen in einer der Entscheidung vergleichbaren Weise individualisieren. Nachdem die frühere Rechtspre- chung zur letztgenannten Alternative den vielfach gezogenen Schluss20 nahe legte, bei sol- chen anfechtbaren Verordnungen handele es sich in Wahrheit um getarnte Entscheidungen

16 Daneben ist nach der Rechtsprechung der Europäischen Gerichte auch solches Handeln der EG anfechtbar, welches sich nicht der Rechtsformen des Art. 249 EGV bedient, aber dennoch den Bürger in rechtlich schüt- zenswerten Positionen zu beeinträchtigen vermag. Siehe insb. EuG Rs. T-3/93 (Air France/Kommission), Slg. 1994, II-121, Rn. 43 zur Anfechtbarkeit einer Presseerklärung des Pressesprechers der Kommission. Auf diese Fälle soll aber hier nicht näher eingegangen werden. 17 Rengeling/Middeke/Gellermann (o. Fußn. 4), § 7 Rn. 30 ff. 18 Beispielhaft seien hier nur unternehmensgerichtete Entscheidungen im Rahmen der gemeinschaftlichen Fusi- onskontrolle oder der Kartellaufsicht genannt. 19 Dies ist stets der Fall bei staatengerichteten Entscheidungen der Kommission über mitgliedstaatliche Einzel- beihilfen. 20 Mit entsprechender Tendenz etwa Allkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EG-Vertrag, 1995, S. 58 ff., wenn er meint, eine „grammatikalische Auslegung des Art. 173 IV EGV [Art. 230 Abs. 4 EGV n.F.] [führe] zu dem Ergebnis, dass Verordnungen, die den Einzelnen unmittelbar und individuell betreffen, als Ent- scheidungen i.S.d. Art. 173 IV, 189 IV EGV [Art. 230 Abs. 4, 249 Abs. 4 EGV n.F.] anzusehen“ seien. Die The- se einer identischen Begriffsverwendung in Art. 230 Abs. 4 EGV und 249 Abs. 4 EGV ist weit verbreitet; Bo- ckey, Die Entscheidung der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 20, Fn. 20; Daig, Nichtigkeits- und Untätig- keitsklagen im Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1985, S. 94; Greaves, E.L.Rev. 21 (1996), S. 3 ff. (5).

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im Sinne des Art. 249 Abs. 4 EGV21, lässt eine Analyse jüngerer Judikate22 eine solche „Umdeutung“ oder „Umqualifizierung“ von Rechtsakten nicht mehr zu23. Es ist damit fest- zustellen, dass neben Entscheidungen auch Verordnungen dem Einzelnen gegenüber in „for- melle Bestandskraft“ erwachsen können24.

2. Materielle Bindungswirkungen

a) Zum Begriff der „materiellen Bestandskraft”

Den Begriff der „materiellen Bestandskraft“, welche die Unanfechtbarkeit und damit den Eintritt formeller Bestandskraft voraussetzt25, in seinen einzelnen Ausprägungen und Vari- anten im Rahmen des nationalen Verwaltungsrechts klar zu erfassen, bereitet angesichts seiner dogmatischen Überladung erhebliche Schwierigkeiten26. Im Wesentlichen soll er die Maßgeblichkeit des Inhaltes der fraglichen Maßnahme über den bloßen Ausschluss des di- rekten Klagerechts hinaus beschreiben27. Er umfasst damit die grundsätzliche Bindung der Behörden und Beteiligten an die im Rechtsakt getroffene Regelung einerseits (Bindungswir- kung28) und die eingeschränkte Möglichkeit seiner Aufhebung oder Änderung andererseits (beschränkte Aufhebbarkeit29)30. Der zweitgenannte Teilaspekt, die Aufhebbarkeit durch die Behörden selbst, hat im deut- schen Verwaltungsrecht in den §§ 48 ff. VwVfG eine positivrechtliche Regelung gefunden und kann damit letztlich nicht viel mehr leisten als die Beschreibung einer bestehenden Ge- setzeslage. Widerruf und Rücknahme von EG-Rechtsakten durch die Rechtsetzungsorgane der Gemeinschaft sollen an dieser Stelle nicht Gegenstand einer näheren Analyse sein31. In dem hier interessierenden Zusammenhang zwischen der Bestandskraftfrage und der Rege-

21 So spricht der EuGH Rs. 26/86 (Deutz und Geldermann/Rat), Slg. 1987, 941 Rn. 6 z.B. davon, die Zulässigkeit einer Klage sei „davon abhängig, dass die angefochtene Maßnahme, obwohl sie als Verordnung ergangen ist, in Wirklichkeit eine Entscheidung darstellt, die den Kläger unmittelbar und individuell betrifft.“. 22 So zuletzt der EuGH in seinem Urteil in der Rs. C-11/00 (Kommission/EZB) Slg. 2003, I-7/47, Rn. 75: Anti- dumping-VO als Handlung mit normativem Charakter, die zugleich Einzelne unmittelbar und individuell be- treffen kann. Zuvor bereits EuGH Rs. C-309/89 (Codorniu/Rat) Slg. 1994, I-1835 Rn 19; Rs. C-239/99 (Nachi Europe) Slg. 2001, I-1197 Rn 21 u. 37; EuG verb. Rs. T-125/96 u. T-152/96 (Boehringer/Kommission) Slg. 1999, II-3427 Rn. 162 f. 23 H.C. Röhl, ZaöRV 2000, S. 331 ff. (353); J. Bast, Handlungsformen, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 479 ff. (519 ff.); Wölker, DÖV 2003, S. 570 ff. (572); Ragolle, E.L.Rev. 28 (2003), S. 90 ff. (94); J. A. Usher, E.L.Rev. 28 (2003), S. 575 ff. (576 f.). Siehe aber auch bereits zutreffend Neuwahl, E.L.Rev. 21 (1996), S. 17 ff. (22 f. und 28). 24 Auf die ebenfalls mögliche Anfechtbarkeit „echter“ Richtlinien soll hier nur kurz hingewiesen werden. Siehe in- sofern bereits die Äußerungen des EuG Rs. T-223/01 (Japan Tobacco/Parlament und Rat) Slg. 2002, II-3259 Rn. 30 und 45 f., dazu Wölker, DÖV 2003, S. 570 ff. (575), und zuletzt in aller Deutlichkeit EuG Rs. T-167/02 (Étab- lissements Toulorge/Parlament) Slg. 2003, II-1111 Rn. 23 ff. Allerdings wird es in Bezug auf Richtlinien stets an dem zum Eintritt der hier vorrangig interessierenden „materiellen Bestandskraft“ erforderlichen offensichtlichen Anfechtungsrecht fehlen; EuGH Rs. C-408/95 (Eurotunnel S.A./Sea France) Slg. 1997, I-6315 Rn. 26 ff. 25 Kopp, DVBl. 1983, 392 (395). 26 Kopp, DVBl. 1983, 392 (397 ff.). 27 Badura, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl. (2002), § 38 Rn. 3. 28 Zu diesem Begriff siehe Maurer (o. Fußn. 5) , § 11 Rn. 6. 29 Maurer (o. Fußn. 5) , § 11 Rn. 7. 30 Kopp/Ramsauer, Komm. z. VwVfG, 8. Aufl. (2003), § 43 Rn. 31. 31 Siehe hierzu ausführlich Haratsch, EuR 1998, S. 387 ff.; Erichsen/Buchwald, Jura 1995, S. 84 ff. sowie bereits Däubler, NJW 1965, S. 1646 ff. Zur möglichen Verpflichtung der Kommission, beim Auftreten wesentlich neuer Tatsachen unter Umständen in eine erneute Prüfung einzutreten, siehe die Schlussanträge des GA Alber v. 8. Mai 2003 in der verb. Rs. C-172/01, C-175/01, C-176/01 und C-180/01 (International Power u.a./ Kommission) Rn. 99 (noch nicht in der amtl. Sammlung).

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lung des Art. 241 EGV soll vielmehr dem Problem der Bindungswirkung nachgegangen werden, welche die verschiedenen Rechtsakte der EG nach Ablauf der Anfechtungsfrist des Art. 230 Abs. 5 EGV für die Betroffenen in späteren gerichtlichen Verfahren entfalten kön- nen. Aufgrund dieses eng umgrenzten Untersuchungsgegenstandes und der ohnehin schwie- rigen Bestimmung des Bestandskraftbegriffes sollte daher im Folgenden von dem neutrale- ren Begriff der „materiellen Bindungswirkung“ ausgegangen werden.

b) Reichweite der materiellen Bindungswirkung

Unter diesem Gesichtspunkt hat der EuGH aus Gründen der Rechtssicherheit zunächst den Mitgliedstaaten das Recht abgesprochen, sich in einem Vertragsverletzungs- oder einem Vorabentscheidungsverfahren auf die Rechtswidrigkeit einer an sie gerichteten und nicht innerhalb der Frist des Art. 230 Abs. 5 EGV angefochtenen Maßnahme zu berufen. Das gilt nach ständiger Rechtsprechung zunächst für den Fall der Nichtumsetzung einer ausschließ- lich an den betreffenden Mitgliedstaat adressierten Entscheidung, etwa im Beihilfenrecht32, darüber hinaus aber auch bei der unterbliebenen oder mangelhaften Umsetzung einer an alle Mitgliedstaaten adressierten Richtlinie33. In neuerer Zeit hat der Gerichtshof diesen Grund- satz materieller Bindungswirkung zudem auf an die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit gerichtete Entscheidungen der Kommission ausgeweitet34. Später verneinte sodann die Rechtsprechung ein Recht des Einzelnen, sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens auf die Rechtswidrigkeit einer an ihn gerichteten35 bzw. ei- ner drittgerichteten, aber durch ihn zweifelsohne anfechtbaren36 Entscheidung zu berufen. Dieses Prinzip materieller Bindungswirkung gilt auch für solche Verordnungen, die für den die Ungültigkeit Rügenden zweifelsohne anfechtbar gewesen wären, wie es beispielsweise im Antidumpingrecht regelmäßig der Fall ist37. Darüber hinaus entfalten die oben genannten Rechtsakte eine gewisse materielle Bindungs- wirkung auch in Schadensersatzprozessen. Zwar sind die Verfahren der Art. 230 EGV und Art. 235, 288 Abs. 2 EGV nach anfänglich anderslautender Rechtsprechung des EuGH38 heute grundsätzlich als selbständige Rechtsbehelfe anzusehen39. Eine Schadensersatzklage wird aber immer dann unzulässig, wenn sie de facto auf die Aufhebung einer bestandskräf- tigen Maßnahme und die Beseitigung ihrer Folgen abzielt40.

32 EuGH Rs. 156/77 (Kommission/Belgien) Slg. 1978, 1881 Rn. 21 ff. Siehe hierzu auch die kritische Bespre- chung von J. Usher, E.L.Rev. 1979, S. 36 ff. Ferner: Rs. C-183/91 (Kommission/Griechenland) Slg. 1993, I-3131 Rn. 10; Rs. C-404/97 (Kommission/Portugal) Slg. 2000, I-4897 Rn. 34; Rs. C-261/99 (Kommission/Frank- reich) Slg. 2001, I-2537 Rn. 18. 33 EuGH Rs. C-74/91 (Kommission/Deutschland) Slg. 1992, I-5437 Rn. 10; Rs. C-52/00 (Kommission/Frank- reich) Slg. 2002, I-3827 Rn. 28; Rs. C-154/00 (Kommission/Griechenland) Slg. 2002, I-3879 Rn. 28. 34 EuGH Rs. C-241/01 (National Farmers‘ Union) Slg. 2002, I-9079 Rn. 36. Indes geht der EuGH an dieser Stelle nicht auf den abstrakt-generellen Charakter der Entscheidung ein, sondern beruft sich ausschließlich auf seine frühere Rechtsprechung zu konkret-individuellen Entscheidungen. 35 EuGH Rs. C-178/95 (Wiljo) Slg. 1997, I-585 Rn. 23 f. 36 EuGH Rs. C-188/92 (TWD Textilwerke Deggendorf) Slg. 1994, I-833 Rn. 17 f. 37 EuGH Rs. C-239/99 (Nachi Europe) Slg. 2001, I-1197 Rn. 37 ff. Andererseits zur mangelnden Offenkundigkeit der Anfechtbarkeit einer Verordnung, mit der die Kriterien für die Verteilung von Zollkontingenten festgelegt wurden, EuGH Rs. C-241/95 (The Queen/Intervention Board for Agricultural Produce, ex parte Accrington Beef u.a.) Slg. 1996, I-6699 Rn. 14 ff. 38 EuGH Rs. 25/62 (Plaumann/Kommission) Slg. 1963, 213 (240). 39 EuGH Rs. 5/71 (Schöppenstedt/Rat) Slg. 1971, 975 Rn. 3; Rengeling/Middeke/Gellermann (o. Fußn. 4), § 9 Rn. 23 f. 40 EuG Rs. T-514/93 (Cobrecaf/Kommission) Slg. 1995, II-621 Rn 58 ff.; verb. Rs. T-44/01, T-119/01 und T-126/01 (Vieira/Kommission) Slg. 2003, II-1209 Rn. 212 ff.

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3. Kritik

Nach der Rechtsprechung der Europäischen Gerichte sind alle anfechtbaren Rechtsakte der EG mit Ablauf der Anfechtungsfrist des Art. 230 Abs. 5 EGV und der damit einhergehenden „formellen Bestandskraft“ grundsätzlich einer darüber hinausgehenden materiellen Bin- dungswirkung zugänglich. Vor allem im Falle adressatenspezifischer Rechtsakte, d.h. im Hinblick auf Richtlinien und Entscheidungen, scheint eine Berufung auf ihre Rechtswidrig- keit jedenfalls durch die jeweiligen Adressaten in einem darauffolgenden Gerichtsverfahren ausgeschlossen. Auch für Dritte, an die der Rechtsakt nicht unmittelbar gerichtet war, kommt eine materielle Bindungswirkung in Betracht. Dies soll ausnahmsweise auch für sol- che Verordnungen im Sinne des Art. 249 Abs. 2 EGV gelten, die Einzelne offensichtlich in- dividuell und unmittelbar betreffen und daher ohne Zweifel einen tauglichen Anfechtungs- gegenstand für Individualnichtigkeitsklagen darstellen. An dieser Stelle ist auf ein Problem hinzuweisen, welches die durch die Rechtsprechung vollzogene Verknüpfung der Anfechtbarkeit normativer und drittgerichteter Rechtsakte mit einer materiellen Bindungswirkung dieser Rechtsakte zwangsläufig mit sich bringt. Die Be- troffenen erhalten zwar einerseits die unter den Gesichtspunkten eines effektiven Individu- alrechtsschutzes41 begrüßenswerte Möglichkeit, sich unmittelbar gegen Gemeinschafts- rechtsakte zu richten. Sie werden aber andererseits im Falle einer unterlassenen Nichtigkeits- klage mit dem Risiko der materiellen Bindungswirkung belastet, so dass sich das Anfechtungsrecht durchaus zu einer Anfechtungslast entwickeln kann42. Ob das durch den EuGH entwickelte Offenkundigkeitskriterium, d.h. das Erfordernis eines zweifelsohne be- stehenden Anfechtungsrechts43, tatsächlich dazu geeignet ist, den erforderlichen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit einerseits und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes andererseits zu schaffen44, erscheint fraglich45. Auch das Problem der Offenkundigkeit einer Klagebe- fugnis individueller Kläger ist nämlich selbst wiederum juristischer Interpretation zugäng- lich und kann in Grenzfällen mitunter zu nicht unerheblichen Unsicherheiten führen46. Es scheint daher die Mahnung angebracht, die Rechtsprechung in künftig zu erwartenden

41 Zum Prinzip wirksamen Rechtsschutzes als Allgemeiner Rechtsgrundsatz siehe EuGH, Rs. 222/84 (Johnston) Slg. 1986, 1651 Rn. 18, sowie den Überblick bei Schilling, EuGRZ 2000, S. 3 ff. (17 ff.). 42 Damit kann man mit H.C. Röhl, ZaöRV 2000, S. 311 ff. (361) hinsichtlich der Anfechtbarkeit von Verordnun- gen insofern tatsächlich von einem „Danaergeschenk“ sprechen. Ähnlich Moloney, CMLR 2002, S. 393 ff. (401), wo von einem „freezing effect“ der Regeln zur Klagebefugnis die Rede ist. 43 Erstmals entwickelt in EuGH Rs. C-188/92 (TWD Textilwerke Deggendorf) Slg. 1994, I-833 Rn. 17 f. 44 So sehr optimistisch Kamann/Selmayr, NVwZ 1999, S. 1041 ff. (1045) und im Anschluss daran Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund (i.E.), 3. Teil, A. II. 2. b) bb) (1), der jedoch gleichzeitig mit Recht unter Hinweis auf das Gebot der Rechtswegklarheit eine enge Handhabung des Evidenz- kriteriums fordert; 3. Teil, A. II. 4. b). 45 Kritisch insofern auch H.C. Röhl, ZaöRV 2000, S. 331 ff. (362). 46 Ähnlich kritisch auch Moloney, CMLR 2002, S. 393 ff. (404 f.) und J. A. Usher, E.L.Rev. 28 (2003), S. 575 ff. (590 f.). Die Berechtigung solcher Kritik zeigt sich z.B. sehr deutlich in den Schlussanträgen des GA Jacobs in der verb. Rs. C-261/01 und C-262/01 (van Calster und Cleeren) v. 10.04.2003 (noch nicht in der amtl. Samm- lung) Rn. 52 ff., in denen sich der Generalanwalt über mehrere Abschnitte hinweg mit der Frage auseinander- setzt, ob an dem Individualklagerecht eines Unternehmens gegen eine beihilferechtliche Entscheidung der Kommission im konkreten Fall Zweifel im Sinne der Deggendorf-Rechtsprechung bestanden hätten. Zu die- sem Problemkreis ausführlich Staebe, Rechtsschutz bei gemeinschaftswidrigen Beihilfen vor europäischen und deutschen Gerichten, 2001, S. 104 ff. Auf spezifische Evidenzprobleme bei interadministrativen Verbin- dungen hinweisend Hofmann (o. Fußn. 44), 3. Teil, A. II. 2. b) bb) (2).

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Grenzfällen auf den Satz „in dubio pro dubio“ festzulegen und die materielle Bindungswir- kung adressatenloser bzw. drittgerichteter Rechtsakte nicht weiter auszudehnen47. Inwieweit schließlich über diese aus allgemeinen Rechtsschutzüberlegungen sich ergebenden Erwägungen hinaus die primärrechtliche Ausgestaltung des EG-Rechtsschutzsystems An- lass zu Kritik an der Rechtsprechung der europäischen Gerichte gibt, wird in den nachfol- genden Abschnitten zu erörtern sein.

III. Zu Regelungsgehalt und Anwendungsbereich des Art. 241 EGV

Einer umfassenden materiellen Bindungswirkung gemeinschaftlicher Rechtsakte scheint vor allem die Bestimmung des Art. 241 EGV gegenüberzustehen, wonach jede Partei ungeachtet der in Art. 230 Abs. 5 EGV genannten Fristen in einem Rechtsstreit vor dem Gerichtshof die Unanwendbarkeit einer Verordnung geltend machen kann, auf deren Geltung es zur Beurtei- lung dieses Rechtsstreits ankommt. Zum Zwecke der Überprüfung der oben erörterten Rechtsprechung an den Maßstäben dieser Norm soll zunächst deren Zweck sowie ihr per- sönlicher und sachlicher Anwendungsbereich skizziert und sodann zu den dargestellten ma- teriellen Bindungswirkungen nicht angefochtener Rechtsakte in Bezug gesetzt werden.

1. Ratio des Art. 241 EGV

Art. 241 EGV eröffnet kein selbständiges Klagerecht vor den Gemeinschaftsgerichten, son- dern ermöglicht es den Parteien eines bereits anhängigen Rechtsstreits, im Rahmen dieses Verfahrens inzident die Rechtswidrigkeit eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes an den um- fassenden Maßstäben des Art. 230 II EGV überprüfen zu lassen48. Nach allgemeiner Auffassung ist Art. 241 EGV gleichzeitig Ausdruck eines auch jenseits die- ser Vertragsbestimmung gültigen Rechtsgedankens, wonach es jeder Partei möglich sein soll, im Rahmen des Rechtsschutzes gegen eine belastende Maßnahme die Gültigkeit desjenigen gemeinschaftlichen Rechtsaktes zu bestreiten, auf dem die angegriffene Maßnahme beruht oder zu deren Ausführung oder Anwendung sie ergangen ist49. Dieser Grundsatz dient damit dem Schutz aller dem Gemeinschaftsrecht Unterworfenen vor der Anwendung rechtswidriger EG-Rechtsakte, ohne dass der Bestand der inzident gerügten Norm selbst berührt wird50. Wenn auch die Bestimmung des Art. 241 EGV ein Verfahren „vor dem Gerichtshof“ voraus- setzt und damit das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV zunächst nicht als taug- liches Ausgangsverfahren für eine Inzidentrüge in Betracht zu kommen scheint51, so gilt dieser allgemeine Rechtsgrundsatz über den Wortlaut des Art. 241 EGV hinaus doch auch in nationalen Gerichtsverfahren und ermöglicht damit die Vorlagefrage nach der Gültigkeit der Gemeinschaftsvorschrift durch das mitgliedstaatliche Gericht52.

47 Zu Recht weist etwa GA Alber in der Rs. C-298/00 (Italien/Kommission) v. 15.05.2003 (noch nicht in der amtl. Sammlung) Rn. 88 darauf hin, dass die Deggendorf-Entscheidung unter dem Aspekt ihrer besonderen Sach- verhaltsgestaltung zu sehen ist, in der die deutschen Behörden der TWD die Kommissionsentscheidung zuge- sandt und ausdrücklich auf das bestehende Anfechtungsrecht hingewiesen hatten. 48 Koenig/Pechstein/Sander (o. Fußn. 7), Rn. 876. 49 EuG verb. Rs. T-6/92 und T-52/92 (Reinarz/Kommission) Slg. 1993, II-1047 Rn. 56. 50 Koenig/Pechstein/Sander (o. Fußn. 7), Rn. 877. 51 Generell gegen die Zulässigkeit einer Inzidentrüge in Verfahren des Art. 234 EGV Sinaniotis, EPL 2001, S. 103 ff. (112). 52 EuGH Rs. 239/99 (Nachi Europe) Slg. 2001, I-1197 Rn. 35; Cremer, in: Callies/Ruffert, Komm. z. EU/EG, 2. Aufl. (2002), Art. 241, Rn. 1; J. T. Lang, E.L.Rev. 28 (2003), S. 102 ff. (103); a.A. Gröpl, EuGRZ 1995, S. 583 ff. (588) und Sinaniotis, a.a.O.

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In diesem Zusammenhang ist es schließlich wichtig darauf hinzuweisen, dass die Formulie- rung des Art. 241 EGV, wonach es auf die Geltung einer Verordnung ankommen muss, nicht nur in einem engen Sinne solche Fälle umfasst, in denen es bei der Beurteilung eines Aus- führungs- oder Anwendungsaktes auf die Gültigkeit des Habilitationsaktes im Sinne einer Rechtsgrundlage ankommt53. Vielmehr interpretiert der EuGH dieses Merkmal als das Er- fordernis einer Entscheidungserheblichkeit und verlangt lediglich, dass die Rechtswidrigkeit des inzident gerügten Rechtsaktes in irgendeiner Art und Weise auf die streitgegenständli- che Maßnahme durchschlagen kann54.

2. Persönlicher Anwendungsbereich: „Jede Partei“

a) Anwendbarkeit des Art. 241 EGV auf privilegierte Kläger

Die Rechtsprechung betont immer wieder, Art. 241 EGV komme eine gewisse „Ersatzfunktion“ zu. Die Rechtswidrigkeitseinrede stelle sich dar als ein Ersatzverteidigungsmittel derjenigen, die kein direktes Klagerecht gegen Verordnungen besitzen55. Daraus ließe sich der Schluss zie- hen, Art. 241 EGV sei auf die privilegierten Kläger, denen die Möglichkeit einer Direktklage gegen alle rechtserheblichen Handlungen der Organe zusteht, von vornherein nicht anwendbar. In frühen Beiträgen zum Anwendungsbereich der Inzidentrüge wurde dieser Lösungsweg eines grundsätzlichen Ausschlusses aller privilegierten Kläger tatsächlich teilweise befürwortet56. Heute wird aber angesichts des insofern eindeutigen Wortlauts der Norm57 weitestgehend die Auffassung geteilt, grundsätzlich könne eine Anwendbarkeit des Art. 241 EGV auch auf privilegierte Kläger nicht ausgeschlossen werden58. Dies entspricht der Erkenntnis, dass jene Norm nicht ausschließlich dazu bestimmt ist, Lücken im Individualrechtsschutz zu schlie- ßen, sondern darüber hinaus das allgemeine Prinzip zum Ausdruck bringt, wonach die Rechtswidrigkeit einer Grundnorm die Rechtswidrigkeit aller daraus abgeleiteten Rechtsak- te zur Folge hat59.

b) Bedeutung des Art. 241 EG für nicht-privilegierte Kläger

Eine besondere Bedeutung wird der inzidenten Normenkontrolle nach Art. 241 EGV für

53 Den Begriff der Rechtsgrundlage verwendete der EuGH etwa in der verb. Rs. 87/77, 130/77, 22/83, 9/84 und 10/84 (Salerno u.a./Kommission) Slg. 1985, 2523 Rn. 36. 54 Rengeling/Middeke/Gellermann (o. Fußn. 4), § 11 Rn. 18; zuletzt Urteil des EuG v. 10.04.03 in der verb. Rs. T-93/00 und T-46/01 (Alessandrini u.a./Kommission) Slg. 2003, II-1635 Rn. 77: Der allgemeine Rechtssatz, dessen Rechtswidrigkeit geltend gemacht wird, müsse „unmittelbar oder mittelbar auf den streitgegenständli- chen Fall anwendbar sein“, und es müsse „ein unmittelbarer rechtlicher Zusammenhang zwischen der ange- griffenen Entscheidung und dem betreffenden allgemeinen Rechtsakt bestehen.“ 55 St. Rspr. seit EuGH Rs. 92/78 (Simmenthal/Kommission) Slg. 1979, 777 Rn. 39 f. Zu dieser Rechtsprechung auch Arzoz, JöR 49 (2001), S. 299 ff. (312). 56 Bebr, CMLR 1966, S. 7 ff. (12 f.). Bebrs Argumente für einen generellen Ausschluss der privilegierten Kläger können heute als widerlegt gelten; Barav, CMLR 1974, S. 366 ff. (371 f.). Ausführlich zu dieser Diskussion auch Sinaniotis, EPL 2001, S. 103 ff. (106 ff.), der das Rügerecht privilegierter Kläger ebenfalls einschränken möchte, dies jedoch mit dem Ablauf der Klagefrist des Art. 230 Abs. 5 EGV begründet; dazu später unter IV. 57 Art. 241 EGV verzichtet durch die denkbar weite Formulierung „jede Partei“ ausdrücklich auf eine Einschrän- kung des Kreises der Rügeberechtigten und gibt damit zu einer verengenden Auslegung keinerlei Anlass. 58 Cremer (o. Fußn. 52), Art. 241, Rn. 6; Ehricke, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 241, Rn. 9; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Komm., 2000, Art. 241, Rn. 5; Krück, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, Komm. z. EWG-Vertrag, 5. Aufl. (1997), Art. 184, Rn. 13; Lauwaars, Lawfulness and Legal Force of Community Decisions, 1973, S. 277 ff. 59 EuGH Rs. 92/78 (Simmenthal/Kommission) Slg. 1979, 777 Rn. 39; EuG verb. Rs. T-6/92 und T-52/92 (Reinarz/Kommission) Slg. 1993, II-1047 Rn. 56. Wie hier Koenig/Pechstein/Sander (o. Fußn. 7), Rn. 883.

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natürliche und juristische Personen zugesprochen60, denen ein Direktklagerecht gegen Ge- meinschaftsrechtsakte nur in den engen Grenzen des Art. 230 Abs. 4 EGV eröffnet ist61. Vor allem in jenen Fällen, in denen sich Einzelne nicht gegen normative, sie nicht individuell und unmittelbar betreffende Handlungen der EG zur Wehr setzen können, entfalte Art. 241 EGV seine eigentliche Funktion als Ersatzverteidigungsmittel62. An dieser Stelle ist indes die Frage aufzuwerfen, ob es sich bei diesen Fallkonstellationen in Anbetracht des Wortlauts des Art. 241 EGV tatsächlich um einen Anwendungsfall der pri- märrechtlich niedergelegten Rechtswidrigkeitseinrede handelt. Es kommt nämlich mangels Klagebefugnis und Ablaufs der damit verbundenen Anfechtungsfrist gar nicht erst zu einem Konflikt zwischen „formeller Bestandskraft“ und möglicher Inzidentrüge, welchen die Norm voraussetzt63 und zugunsten der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung aufzulösen trachtet64. Die Zulässigkeit der Rechtswidrigkeitseinrede ergibt sich also zugunsten der nicht-privilegierten Kläger in solchen Fällen bereits aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz65, der zwar dem Art. 241 EGV zugrundeliegt, über den diese Norm aber durch ihre die Bin- dungswirkung normativer Rechtsakte durchbrechende Wirkung hinausgeht. Damit bleibt hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereichs des Art. 241 EGV festzu- halten, dass sein unmittelbarer Wortlaut grundsätzlich sowohl privilegierte als auch nicht- privilegierte Kläger im Sinne des Art. 230 EGV umfasst. Sedes materiae der Inzidentrüge ist allerdings im Falle nicht unmittelbar klagebefugter Bürger oder Unternehmen nicht Art. 241 EGV selbst, sondern der ihm zugrunde liegende allgemeine Rechtsgedanke.

3. Sachlicher Anwendungsbereich

a) Wortlaut: „Verordnungen“

Der Wortlaut des Art. 241 EGV bezieht in seinen Anwendungsbereich nur Verordnungen ein, d.h. solche Rechtsakte, die nach gängiger Auffassung mit allgemeiner Wirkung ausge- stattet sind und abstrakt-generellen, „gesetzesgleichen“ Charakter aufweisen66. Allerdings ist der Anwendungsbereich des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, der in der Norm seinen pri- märrechtlichen Ausdruck gefunden hat, sehr viel weiter und erfasst insbesondere auch sol- che Handlungen der EG, welche nicht in der Form einer Verordnung nach Art. 249 Abs. 2 EGV ergangen sind, den Rechtsunterworfenen aber dennoch in einer ähnlich allgemeinen und abstrakt-generellen Weise betreffen67.

60 Schwarze (o. Fußn. 58), Art. 214, Rn. 1; Rengeling/Middeke/Gellermann (o. Fußn. 4), § 11 Rn. 3. Schermers/ Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. (2001), § 975; Sinaniotis, EPL 2001, S. 103 ff. (105); Lauwaars (o. Fußn. 58), S. 277; Bebr, CMLR 1966, S. 7 ff. (14). 61 Zur eingeschränkten Anfechtbarkeit von Verordnungen durch individuelle Kläger H.C. Röhl, Jura 2003, S. 830 ff.; Ragolle, E.L.Rev. 28 (2003), S. 90 ff.; J. A. Usher, E.L.Rev. 28 (2003), S. 575 ff. mit einem Ausblick auf die Vor- schläge des Konventsentwurfes (S. 598 f.). Zur jüngsten Bestätigung seiner gegenüber dem GEI restriktiven Recht- sprechung siehe EuGH Rs. C-263/02 P (Jégo Quéré) v. 01.04.2004 (noch nicht in der amtl. Sammlung) Rn. 29 ff. 62 EuGH Rs. 92/78 (Simmenthal/Kommission) Slg. 1979, 777 Rn. 39 f. 63 Dort heißt es ausdrücklich: „Ungeachtet des Ablaufs der in Artikel 230 Absatz 5 genannten Frist...“. (Hervor- hebung hinzugefügt.). 64 Ebenso Busse, EuZW 2002, S. 715 ff. (718 f.). 65 Siehe dazu bereits oben III. 1). 66 Zu diesem überkommenen Verständnis der Handlungsform der Verordnung siehe nur W. Schroeder, in: Streinz (o. Fußn. 58), Art. 249, Rn. 54 ff. 67 EuG verb. Rs. T-6/92 und T-52/92 (Reinarz/Kommission) Slg. 1993, II-1047 Rn. 56. Hier ging es um eine Si- cherstellungsregelung, deren verordnungsgleiche Wirkungsweise das Gericht mit ihrer Anwendbarkeit auf objektiv beschriebene Sachverhalte sowie ihren Rechtswirkungen gegenüber allgemein und abstrakt festgeleg- ten Personengruppen begründete.

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b) Ausweitung auf sonstige Rechtsakte im Sinne des Art. 249 EGV?

Ob neben Verordnungen68 auch sonstige förmliche Rechtsakte des Art. 249 EGV mit in den Anwendungsbereich des Art. 241 EGV einzubeziehen sind, erscheint unklar. Die vereinzelt vertretene erweiterte Interpretation, wonach auch Entscheidungen69 und Richtlinien70 in analoger Anwendung des Art. 241 EGV tauglicher Gegenstand einer Rechtswidrigkeitsein- rede sein sollten, lehnt die ganz überwiegende Auffassung ab71. Während die erstgenannte Ansicht neben dem Wortlaut des Primärrechts auch den Aspekt der gebotenen Rechtssicher- heit gegen sich hat, beachtet die ausnahmslose Ablehnung einer möglichen Ausdehnung der Inzidentrüge die Erfordernisse eines effektiven Rechtsschutzes in nicht angemessener Wei- se. Daher erscheint eine differenzierte Lösung des Problems angebracht, die im Falle von Richtlinien und Entscheidungen darauf abstellt, wer sich auf deren Ungültigkeit beruft. Der Adressat der jeweiligen Maßnahme, gleich ob privilegierter, teil- oder nicht-privilegier- ter Kläger im Sinne des Art. 230 EGV, kann sich der Rechtsprechung zur materiellen Bin- dungswirkung folgend nicht mehr auf Art. 241 EGV berufen, da er in jedem Falle zweifellos klageberechtigt gewesen wäre und damit eine (analoge) Anwendbarkeit des Art. 241 EGV den Erfordernissen der Rechtssicherheit widerspräche72. Das dem entgegenstehende Interes- se des Normadressaten an der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung und an einem effek- tiven Rechtsschutz soll hier zurückstehen, da er diese Interessen im Wege der Nichtigkeits- klage hätte wahren können73. Im Ergebnis kann den bisherigen Entscheidungen der Rechtsprechung zur materiellen Bin- dungswirkung insofern gefolgt werden. Dies jedoch nicht in erster Linie – wie sich später zeigen wird – aufgrund des Ablaufs der Klagefristen des Art. 230 Abs. 5 EGV, sondern auf- grund der Besonderheiten der hier in Frage stehenden Handlungsformen der Richtlinie und der Entscheidung. Individualgerichtete Entscheidungen sind, ebenso wie eine Vielzahl staa- tengerichteter Entscheidungen, stets ein Mittel zur Regelung von Einzelfällen74. Auch Richt- linien erschöpfen sich ihrem Wesen nach in einem den Mitgliedstaat verpflichtenden, ein- maligen Rechtsumsetzungsbefehl und sind insofern aus der Sicht der Adressaten vergleich- bar mit speziellen, weil ausschließlich auf die nationale Normsetzung gerichteten Entscheidungen75. Die zutreffende Begründung für die mangelnde Übertragbarkeit der Inzi- dentrüge auf sonstige Rechtsformen des Art. 249 EGV ist also in aller Regel in dem Um-

68 Und sonstigen nicht-förmlichen Handlungen mit verordnungsgleichem Charakter. 69 Trautwein, ZfRV 36 (1995), S. 70 f. (71). 70 Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), Komm. z. EG-Vertrag, 2. Aufl. (1999), Art. 241, Rn. 8. 71 Grabitz, in: ders./Hilf, Komm. z. EU, Art. 184, Rn. 16; Krück (o. Fußn. 58), Art. 184, Rn. 15; Schwarze (o. Fußn. 58), Art. 241, Rn. 7; Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht, 1998, S. 133 sowie Lauwaars (o. Fußn. 58), S. 276 lehnen die Zulassung einer Inzidentrüge gegen Richtlinien und Ent- scheidungen generell ab. Ebenso im Hinblick auf Entscheidungen Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Union, 6. Aufl. (2001), § 984 f. sowie Ehricke (o. Fußn. 58), Art. 241, Rn. 11. Beide wollen aber eine Anwendbarkeit für unmittelbar geltende Richtlinien nicht ausschließen. 72 Koenig/Pechstein/Sander (o. Fußn. 7), Rn. 887. 73 Insoweit zutreffend Kamann/Selmayr, NVwZ 1999, 1041 ff. (1045); Sinaniotis, EPL 2001, S. 103 ff. (113 ff.): „This interpretation is compatible with the principles of judicial certainty of the Community and protection of the Community legal order“. 74 Die bislang in der Rechtsprechung problematisierten Beihilfeentscheidungen sind ein Paradebeispiel für staa- tengerichtete „Gemeinschaftsverwaltungsakte“. 75 Insofern also zutreffend die These von der „einheitlichen Handlungsform“ bei Scherzberg, Verordnung – Richtlinie – Entscheidung, in: Siedentopf (Hrsg.), Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, 1991, S. 17 ff. (42).

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stand zu sehen, dass diese Handlungen – zumindest aus der Sicht ihrer Adressaten – keine normativen Rechtsakte darstellen und folglich auch nicht von dem Art. 241 EGV zugrunde liegenden Rechtsgedanken erfasst werden. Aus diesen Erwägungen ergibt sich jedoch gleichzeitig, dass etwas anderes auch hinsichtlich der Adressaten für solche Fälle gelten muss, in denen staatengerichtete Entscheidungen sich nicht in einem einmaligen Rechtsumsetzungs- oder Anwendungsbefehl gleichsam verbrau- chen, sondern den Mitgliedstaat zu einem stets wiederkehrenden, nur nach abstrakt-generel- len Kriterien umschriebenen Handeln zwingen. Eine solche Sachverhaltsgestaltung kommt insbesondere bei einer durch Entscheidung erfolgenden Konkretisierung oder Durchführung von Verordnungen in Betracht76. Hier erscheint es möglich, dass sich der normative Gehalt der Entscheidung immer wieder neu aktualisiert und damit auch ein Bedürfnis für die Mit- gliedstaaten besteht, sich in derartigen Fällen – etwa im Rahmen eines gegen sie eingeleite- ten Vertragsverletzungsverfahrens – auch auf die Rechtswidrigkeit einer an sie adressierten Entscheidung zu berufen. Im Zusammenhang mit staatengerichteten Maßnahmen kommt darüber hinaus für mittelbar betroffene Dritte eine Berufung auf Art. 241 EGV (bzw. auf den unabhängig von dieser Pri- märrechtsnorm geltenden allgemeinen Rechtsgrundsatz) auch immer dann in Frage, wenn eine staatengerichtete Richtlinie oder Entscheidung ausnahmsweise als Rechtsgrundlage für konkret-individuelle Maßnahmen dient77. Im Hinblick auf Richtlinien ist nach gängiger Auf- fassung aufgrund der letztgenannten Bedingung ein Anwendungsbereich der Inzidentrüge in der Praxis grundsätzlich ausgeschlossen. Richtlinien seien gleichsam per definitionem darauf gerichtet, einen förmlichen Rechtsumsetzungsbefehl an die Mitgliedstaaten zu ertei- len78. Eine unmittelbare Anwendbarkeit komme hier stets nur zugunsten der EG-Bürger in Betracht79, so dass sich der Mitgliedstaat für belastende Maßnahmen mit individueller Wir- kung, bei deren Überprüfung die Rechtswidrigkeitseinrede eine Rolle spielen könnte, nicht auf eine Richtlinienbestimmung stützen könne80. Nach einem genaueren Blick in die Rechtsprechung scheint aber – entgegen dieser weit ver- breiteten Ansicht – eine Berufung zumindest auf den dem Art. 241 EGV zugrunde liegenden Rechtsgrundsatz in Fällen von Dreiecksbeziehungen zwischen zwei Privaten und einer staat- lichen Stelle denkbar81: Zunächst kann ein Einzelner etwa dadurch durch eine Richtlinie unmittelbar belastet sein, dass in einem nationalen Rechtsstreit eine ihm günstige, aber unter Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften einer Richtlinie erlassene mitgliedstaatliche Norm unangewendet bleiben muss82. Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Gerichtshof keines- wegs davon ausgeht, eine Richtlinienbestimmung könne unter keinerlei Umständen unmit-

76 Siehe beispielhaft die Entscheidung 2001/681/EG, ABl. 2001, Nr. L 247/24 hinsichtlich der Anwendung des Gemeinschaftssystems für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung. 77 In ähnlicher Weise differenzierend Koenig/Pechstein/Sander (o. Fußn. 7), Rn. 889. 78 Koenig/Haratsch, Europarecht, 4. Aufl. (2003), Rn. 280 ff. 79 EuGH Rs. C-91/92 (Faccini Dori) Slg. 1994, I-3325 Rn. 19 ff. 80 Darauf weisen Krück (o. Fußn. 58), Art. 184, Rn. 15 und Grabitz (o. Fußn. 71), Art. 184, Rn. 16 mit Blick auf die Rechtsprechung zur Reichweite der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien hin und ziehen daraus den wohl übereilten Schluss, Richtlinien könnten generell nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 241 EGV fallen. 81 Das Bestehen eines solchen „mehrpoligen Rechtsverhältnisses“ ist von tragender Bedeutung: Die unmittelbare Belastung eines Dritten kann stets nur Ausfluss der Berufung eines anderen Privaten auf ihm günstige Richt- linienbestimmungen sein. A.A. mit dem Ergebnis einer strafbegründenden Auswirkung unmittelbar wirken- der Richtlinieninhalte Schröder, DVBl. 2002, S. 157 ff. 82 Zu einer solchen Konstellation siehe aus jüngerer Zeit EuGH Rs. C-443/98 (Unilever Italia) Slg. 2000, I-7535 Rn. 45 ff. in Fortführung von EuGH Rs. C-194/94 (CIA Security International) Slg. 1996, I-2201 Rn. 40 ff.

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telbare Grundlage privatbelastenden behördlichen Handelns im Einzelfall sein. Die limitier- te unmittelbare Wirkung wird vielmehr darauf begrenzt, dem Einzelnen die Berufung auf eine Richtlinie zu versagen, wenn es sich um eine Verpflichtung des Staates handelt, die unmittelbar im Zusammenhang mit einer anderen Verpflichtung steht, die aufgrund dieser Richtlinie einem Dritten obliegt83. Bloße negative, d.h. belastende Auswirkungen auf die Rechte Dritter rechtfertigen einen Ausschluss der unmittelbaren Wirkung dagegen nicht, auch wenn diese wie in einem jüngst ergangenen Urteil dazu führen, dass der Eigentümer eines Steinbruchs seinen Bergbaubetrieb vorübergehend einstellen muss84. Ein solcherma- ßen durch eine Richtlinienbestimmung unmittelbar Belasteter sollte – wenn er auch nicht als im Sinne der Rechtsprechung selbst Verpflichteter anzusehen ist – wie im Falle einer Ver- ordnung die Möglichkeit haben, sich auf die Rechtswidrigkeit der abstrakt-generellen Rege- lung zu berufen, auf der das ihn belastende staatliche Handeln beruht85. Etwas unterschiedlich stellt sich die Situation im Falle staatengerichteter Entscheidungen der EG-Organe dar. Diesen kommt jenseits ihres Anwendungsbereichs als „europäischer Ver- waltungsakt“86 im Zusammenspiel mit Richtlinien und Verordnungen in einem „legislativ- administrativen Verbund“87 eine besondere Rolle zu. Sie können im Einzelfall so gestaltet sein, dass sie einerseits zwar aus der Sicht des Bürgers abstrakt-generell wirken88 und damit für potenziell betroffene Einzelne nicht anfechtbar sind, so dass auch die Frage einer etwai-

83 EuGH Rs. C-201/02 (Delena Wells) v. 07.01.2004 (noch nicht in der amtl. Sammlung) Rn. 56. Dieses Urteil kann als Fortschreibung der Großkrotzenburg-Rechtsprechung in EuGH Rs. C-431/92 (Kommission/Deutsch- land) Slg. 1995, I-2189 in Kombination mit den Grundsätzen der Rs. Unilever (o. Fußn. 82) betrachtet werden. 84 EuGH Rs. C-201/02 (Delena Wells/Secretary of State for Transport, Local Government and the Regions) v. 07.01.2004 (noch nicht in der amtl. Sammlung) Rn. 57 f.; zuvor aber auch bereits EuGH Rs. C-201/94 (Smith & Nephew) Slg. 1996, I-5819 Rn. 35 ff., wo der Gerichtshof es für zulässig hält, dass ein Unternehmen sich zur Anfechtung einer seinem Konkurrenten erteilten Genehmigung unmittelbar auf eine Richtlinienbestimmung beruft. 85 Auch Koenig/Pechstein/Sander (o. Fußn. 7), Rn. 889 gehen von einer möglichen Berufung auf Art. 241 in je- nen Fällen aus, in denen die Richtlinie „im konkreten Verfahren entscheidungserheblich ist“, sagen aber nichts dazu, welche Fälle dies sein sollten. Der hier vertretenen Auffassung wohl zustimmend, wenn auch noch dar- über hinausgehend J. T. Lang, E.L.Rev. 28 (2003), S. 102 ff. (105). 86 Zu diesem zweifelsohne verkürzten Verständnis der Entscheidung als Äquivalent zum deutschen Verwaltungs- akt nach § 35 VwVfG siehe statt vieler Koenig/Haratsch (o. Fußn. 78), Rn. 289. 87 J. Bast, Handlungsformen, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 479 ff. (495) spricht mit Blick auf das Zusammenwirken von Richtlinien und Entscheidungen von einem „legislativen Ver- bund“, was jedoch die Flexibilität der Entscheidung in Bezug auf ihr unmittelbar auf die nationale Administra- tion einwirkendes Potential nicht in angemessenem Maße zum Ausdruck bringt. Siehe hierzu M. Vogt, Die Entscheidung als Handlungsform des Gemeinschaftsrechts (in Vorbereitung). 88 So legt etwa die Entscheidung 2003/43/EG, ABl. EG Nr. 2003 L 13/35 Brandverhaltensklassen für bestimmte Bauprodukte fest und konkretisiert damit die Richtlinie 89/106/EWG, ABl. EG Nr. 1989 L 40/12. In ähnlicher Weise wird die Verordnung (EG) 761/2001, ABl. EG Nr. 2001, L 114/1 durch die Entscheidung 2001/681/EG, ABl. Nr. 2001 L 247/24 hinsichtlich der Anwendung des Gemeinschaftssystems für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung einer genaueren Regelung unterworfen. In diesen Zusammenhang ist auch die zollrechtliche Entscheidung 78/851/EWG einzuordnen, die den EuGH in der Rs. 216/82 (Universität Hamburg/Hauptzollamt Hamburg-Kehrwieder) Slg. 1983, 2771 Rn. 10 zu einem Hinweis auf den in Art. 184 EWG-Vertrag (Art. 241 EGV) niedergelegten Allgemeinen Rechtsgrundsatz und dessen Anwendbarkeit auf Entscheidungen veranlasste. Entgegen Mager, EuR 2001, S. 661 ff. (676 ff.) ist indes darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei ungeachtet ihrer Anfechtbarkeit um eine abstrakt-generelle (zumindest aber eine konkret-generelle) Entscheidung handelte, die zwar aus Anlass eines bestimmten Verwaltungsverfah- rens erging, aber eben keinen Vertreter jener konkret-individuellen „Verwaltungsanweisungen“ darstellte, wie sie etwa im zollrechtlichen Vorlageverfahren der Art. 220 Abs. 2 lit. b), 239 Abs. 2 Anstr. 2 des Zollkodex iVm Art. 871 ff. und 905 ff. der Durchführungsverordnung vorkommen. Mit Blick auf die unterschiedliche Rechts- qualität der betroffenen Entscheidungen kann an dieser Stelle auch von einem „eklatanten Widerspruch zu den in der Rechtssache Deggendorf aufgestellten Prämissen“ keine Rede sein; so aber Nehl, Europäisches Verwal- tungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002, S. 430; in der Tendenz wie hier – wenn auch noch unklar – dagegen bereits Pache, EuZW 1994, S. 615 ff. (618 f.) und Kamann/Selmayr, NVwZ 1999, S. 1041 ff. (1043).

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gen „Bestandskraft“ ihnen gegenüber keine Rolle spielt. Andererseits bedürfen aber staaten- gerichtete Entscheidungen im Gegensatz zu Richtlinien89 nicht unbedingt einer rechtsförm- lichen Umsetzung durch die Mitgliedstaaten. Sie erschöpfen sich vielmehr häufig in einem bloßen Rechtsanwendungsbefehl90 und können – je nach den Erfordernissen, die sich aus dem nationalen Verfassungs- und Verwaltungsrecht ergeben – auch einen für die Mitglied- staaten verbindlichen Auslöser administrativen Handelns darstellen91. Damit kann bezüglich staatengerichteter Entscheidungen durchaus ein Bedürfnis für eine mögliche Inzidentrüge nach Art. 241 EGV durch individuelle Kläger bestehen92.

c) Zur Anwendbarkeit der Inzidentrüge auf sonstige Rechtsakte

Es fragt sich schließlich, ob der in Art. 241 EGV verkörperte Rechtsgedanke sich auch für sonstige, über den Kanon des Art. 249 EGV hinausgehende93 Rechtsakte der EG fruchtbar machen lässt. Eine solche Analogie kommt insbesondere für den Beschluss in Betracht, der allgemein rechtsverbindliche Regelungen trifft94 und sich durch die Unmittelbarkeit der Her- beiführung seiner Wirkungen auszeichnet95. Zwar fehlt es der schwerpunktmäßig im Be- reich der Selbstorganisation eingesetzten Handlungsform des Beschlusses an der Fähigkeit, gleich einer Verordnung unmittelbare Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten oder ihrer Bürger zu begründen96. Wenn aber Beschlüsse etwa ein spezifisches supranationales Ent- scheidungsfindungsverfahren etablieren, welches die EG-Organe in einer unbestimmten Vielzahl von Einzelfällen und in unterschiedlichen Regelungszusammenhängen anzuwen- den haben97, so scheint es zumindest theoretisch nicht ausgeschlossen, dass solche Beschlüs- se Gegenstand einer Inzidentrüge sein können, wenn ein Mitgliedstaat98 oder ein Einzel-

89 Zur mangelnden Richtlinienumsetzung durch normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften siehe von Dan- witz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 221 ff. 90 Im Gegensatz zum Rechtsumsetzungsbefehl im Falle der Richtlinien. 91 So schon Bünten, Staatsgewalt und Gemeinschaftshoheit bei der innerstaatlichen Durchführung des Rechts der Europäischen Gemeinschaften durch die Mitgliedstaaten, 1977, S. 32. Inwieweit sich die nationale Verwaltung bei bürgerbelastenden Maßnahmen unmittelbar und ausschließlich auf Gemeinschaftsentscheidungen stützen kann, scheint unklar; bejahend insofern J. Bast (o. Fußn. 87), S. 532 und A. Scherzberg, Verordnung – Richtli- nie – Entscheidung, in: Siedentopf (Hrsg.), Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung, 1991, S. 17 ff. (37); ablehnend Greaves, E.L.Rev. 21 (1996), S. 3 ff. (12 f.). Ungeachtet dessen steht aber fest, dass eine staatengerichtete Entscheidung die mitgliedstaatliche Verwaltung dazu zwingen kann, von einer im nati- onalen Recht vorhandenen Ermächtigungsgrundlage Gebrauch zu machen. Beispielhaft sei hier nur die Rück- forderung zu Unrecht im Rahmen abstrakt-genereller Programme gewährter Beihilfen genannt; hierzu Koenig/Kühling/Ritter, EG-Beihilfenrecht, 2002, S. 216 ff. 92 Wann bei staatengerichteten Entscheidungen aus Sicht des Bürgers die Grenze vom Einzelakt zur Maßnahme mit normativer Wirkung überschritten wird, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Im Beihilfenrecht z.B. wird entgegen Trautwein, ZfRV 1995, S. 70 f. (71) zu unterscheiden sein zwischen Unvereinbarkeitsent- scheidungen bezüglich Einzelbeihilfen einerseits und abstrakt-generellen Beihilfeprogrammen andererseits. Zur normativen Wirkung der letztgenannten siehe EuG Rs. T-9/98 (MIDER/Kommission) Slg. 2001, II-3367 Rn. 77; zu deren Anfechtbarkeit Triantafyllou, EuR 2003, S. 480 ff. (482). 93 Dass die Aufzählung des Art. 249 EGV nicht abschließend alle möglichen rechtlich relevanten Handlungsformen der EG-Organe nennt, steht außer Zweifel. Siehe statt vieler Biervert, in: Schwarze (o. Fußn. 58), Art. 249, Rn. 5. 94 Von Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 2002, S. 77 ff. (102). 95 J. Bast (o. Fußn. 87), S. 496. 96 Von Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 2002, S. 77 ff. (102 f.); J. Bast (o. Fußn. 87), S. 496. 97 Beispielhaft sei hier nur der Komitologiebeschluss genannt; Beschluss Nr. 1999/468/EG v. 28.06.1999, ABl. 1999, Nr. L 184/23. 98 Staatengerichtete Entscheidungen nach dem Regelungsverfahren des Komitologiebeschlusses finden sich etwa im Streitschlichtungsverfahren nach Art. 18 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2001/18/EG v. 12.03.2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhe- bung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates, ABl. 2001, Nr. L 106/1.

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ner99 sich gegen eine an sie gerichtete Entscheidung mit der Begründung zur Wehr setzen möchte, der verfahrensregelnde Beschluss sei rechtswidrig gewesen und habe auch den spä- teren Einzelakt „infiziert“. Eine vergleichbare Konstellation ist schließlich auch im Falle der Klage eines Gemeinschaftsorgans denkbar, in der dieses die Rechtswidrigkeit eines Rechts- aktes auf die Ungültigkeit eines solchen Beschlusses stützt100.

d) Zwischenergebnis

Die entscheidende Trennlinie für die Frage der Anwendbarkeit des Art. 241 EGV verläuft damit nach der hier vertretenen Lösung nicht stets, wie es der Wortlaut der Norm nahe legt, zwischen Verordnungen und übrigen Rechtsakten im Sinne des Art. 249 EGV. Die Unter- scheidung von Handlungsformen verliert im Rahmen der Bestandskraftfrage – wie so häufig im Gemeinschaftsrecht – einen bedeutenden Teil ihrer aus dem deutschen Verwaltungsrecht bekannten Speicherkraft. Hierin zeigt sich letztlich eine weitere logische Konsequenz aus der weitgehenden Entkopplung der Handlungsformenlehre des EG-Rechts einerseits und des gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystems andererseits101. Zum entscheidenden Kriterium für die Möglichkeit einer Rechtswidrigkeitseinrede sollte vielmehr der normative Charakter der in Frage stehenden Handlung gemacht werden, so dass entgegen weitläufiger Überzeugung auch die Inzidentrüge von Entscheidungen und Richtlinien sowie Beschlüssen in Betracht kommen kann. Nach dem oben Gesagten gilt dies im vollen Umfang für eine Rechtswidrigkeitseinrede natürlicher oder juristischer Personen, während die Mitgliedstaaten sich auf die Ungültigkeit einer an sie adressierten Richtlinie nicht berufen können, da sie ihnen gegenüber niemals normativ und damit nicht „wie eine Verordnung“ wirkt. Orientiert man sich am Wortlaut des Art. 241 EGV, so könnte mit den bislang erfolgten Aus- führungen eine abschließende Beschreibung seines Anwendungsbereichs angenommen wer- den: Ohne Rücksicht („ungeachtet“) auf den eventuellen Ablauf einer Klagefrist könnten sich sowohl privilegierte als auch nicht-privilegierte Kläger auf die Ungültigkeit jedes im obigen Sinne normativen Rechtsaktes berufen. Die Rechtsprechung der Europäischen Gerichte zur materiellen Bindungswirkung von Gemeinschaftsrechtsakten führt aber an diesem Punkt zu einer bedeutenden Friktion und wirft die entscheidende Frage auf, welche Rolle dem Ablauf der in Art. 230 Abs. 5 EGV erwähnten Frist im Rahmen der Inzidentrüge zukommen sollte.

IV. Die Bedeutung der Klagefrist des Art. 230 Abs. 5 EGV im Rahmen der Inzidentrüge

1. Zum Ausschluss individuell anfechtbarer Verordnungen

Nach den obigen Ausführungen zu der durch die Rechtsprechung der Europäischen Gerichte entwickelten materiellen Bindungswirkung sollen zunächst solche Verordnungen, die für Einzelne aufgrund ihrer besonderen, weil unmittelbaren und individuellen Betroffenheit

99 Zur dieser Möglichkeit siehe etwa Art. 7 i.V.m. Art. 35 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 v. 22.09.2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl. 2003, Nr. L268/1. 100 Dass solche Streitigkeiten theoretisch denkbar sind, zeigt EuGH Rs. C-378/00 (Kommission/Parlament und Rat) Slg. 2003, I-937, wo es zwar nicht um einen Gültigkeits-, wohl aber um einen Auslegungsstreit hinsicht- lich des Komitologiebeschlusses zwischen Kommission einerseits und Parlament und Rat andererseits ging. 101 Zu dieser Entkopplung siehe den instruktiven Überblick bei J. Bast (o. Fußn. 87), S. 519 ff.

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zweifellos anfechtbar sind, von dem Anwendungsbereich des Art. 241 EGV ausgenommen werden102. Diese Konsequenz folgt aus der Überlegung, durch Art. 241 EGV dürfe die Frist des Art. 230 Abs. 5 EGV nicht umgangen werden103. Eine solche Judikatur ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der bereits erwähnten allgemei- nen Rechtsschutzerwägungen bedenklich, sondern darüber hinaus auch mit dem Wortlaut des Art. 241 EGV nicht zu vereinbaren104. Ihm wird durch einen solchen Ausschluss an- fechtbarer Verordnungen sein einziger im Hinblick auf individuelle Kläger noch verbleiben- der Anwendungsbereich genommen105. Ausgehend von der Prämisse, das Rügerecht sei in all jenen Fällen ausgeschlossen, in denen der Kläger eine ihm zweifelsohne mögliche Nich- tigkeitsklage nach Art. 230 EGV nicht fristgemäß erhoben hat, ließe sich ein nahezu voll- ständiger Substanzverlust der Bestimmung des Art. 241 EGV feststellen. Indem er das Rü- gerecht „ungeachtet des Ablaufs der in Artikel 230 Absatz 5 EGV genannten Frist“ garan- tiert, setzt Art. 241 EGV seinem Wortlaut nach gerade voraus, dass dem die Rechtswidrigkeit rügenden Kläger zunächst ein Direktklagerecht zustand, dieses aber inzwischen verfristet ist. Geht man nun mit der einschlägigen Rechtsprechung davon aus, das Rügerecht nach Art. 241 EGV sei im Falle einer verfristeten Nichtigkeitsklage stets abzulehnen, so wäre der po- sitive Regelungsgehalt der Norm in sein Gegenteil verkehrt und der Begriff „ungeachtet“ schlichtweg durch das Wort „unbeschadet“ ersetzt worden106. Diese Sichtweise wurde in neuerer Zeit insbesondere durch die Schlussanträge des General- anwalts Mischo in der Rechtssache National Farmers‘ Union107 eindrucksvoll bekräftigt. Der Generalanwalt hatte dort die Zulässigkeit einer Rechtswidrigkeitseinrede gegenüber ei- ner Entscheidung zu beurteilen, die an alle Mitgliedstaaten adressiert war und die teilweise Aufhebung des zuvor aufgrund der BSE-Krise gegen Großbritannien verhängten Rind- fleischembargos betraf. Er ging dabei von der Annahme aus, für die Frage der materiellen Bestandskraft eines gemeinschaftlichen Rechtsaktes komme es alleine darauf an, ob der fragliche Rechtsakt offenkundig im Wege der Nichtigkeitsklage hätte angefochten werden können. Form und Wesen, d.h. sowohl die Rechtsform als auch der normative oder konkret- individuelle Charakter der Handlung, spielten dagegen für die Bestandskraftfrage keine Rolle108. Der EuGH hat sich dieser weitgehenden Argumentation indes nicht angeschlossen, sondern in seinem Urteil lediglich auf seine gefestigte Rechtsprechung zu konkret-indivi-

102 EuGH Rs. C-239/99 (Nachi Europe) Slg. 2001, I-1197 Rn. 37 ff. 103 Beginnend mit EuGH Rs. 92/78 (Simmenthal/Kommission) Slg. 1979, 777 Rn. 39 f. Dem folgt der weitaus überwiegende Teil der einschlägigen Literatur; Sinaniotis, EPL 2001, S. 103 ff. (114); Schwarze (o. Fußn. 58), Art. 241, Rn. 6. 104 Ebenso Lenaerts/Arts, Procedural Law of the European Union, 1999, Rn. 9-008 und 9-015 und Arzoz, JöR 49 (2001), S. 299 ff. (313), der die Rechtswidrigkeitseinrede als „permanentes Verteidigungsmittel” bezeichnet. Einen Wortlautverstoß sieht auch Busse, JöR 50 (2002), S. 541 ff. (552 f.). Darauf weist auch GA Darmon in der Rs. C-258/89 (Kommission/Spanien) Slg. 1991, I-3977 Rn. 25 f., allerdings mit Blick auf privilegierte Klä- ger, hin. 105 Es wurde bereits unter III. 2) b) erörtert, dass im Hinblick auf solche Verordnungen, die nicht Gegenstand in- dividueller Nichtigkeitsklagen sein können, der Wortlaut der Norm erst gar nicht eingreift, sondern insofern der dahinterstehende allgemeine Rechtsgrundsatz zur Anwendung gelangt. 106 Zur Kritik an einer solchen Umkehrung der Wortlautbedeutung ausführlich Busse, EuZW 2002, S. 715 ff. Er geht jedoch in seiner Stellungnahme schwerpunktmäßig auf die Rechtswidrigkeitseinrede privilegierter Klä- ger ein und setzt bei der dazu erforderlichen Unterscheidung abstrakt-genereller und konkret-individueller Rechtsakte eine nach der hier vertretenen Auffassung irrige Prämisse voraus; dazu sogleich. 107 Schlussanträge v. 2. Juli 2002, Rs. C-241/01 (National Farmers‘ Union), Slg. 2002, I-9079, Rn. 24 ff. 108 GA Mischo Rs. C-241/01 (National Farmers‘ Union) Slg. 2002, I-9079 Rn. 65.

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duellen Entscheidungen verwiesen und darauf aufbauend auch die Zulässigkeit einer Inzi- dentrüge im vorliegenden Falle abgelehnt109. Die These von dem absoluten Vorrang der Anfechtungsfrist gegenüber der Inzidentrüge nach Art. 241 EGV stützt sich auf das Gebot der Rechtssicherheit110, welches zweifelsohne ein grundlegendes Prinzip des Gemeinschaftsrechts darstellt111. Es erscheint aber äußerst fraglich, ob dieser allgemeine Grundsatz dazu in der Lage ist, eine insofern eindeutige pri- märrechtliche Bestimmung in einer gegen den Wortlaut verstoßenden Weise einzuschrän- ken112. Art. 241 EGV hat den Widerstreit der Interessen der Rechtssicherheit und der Gesetz- mäßigkeit erkannt und sich im Falle normativer Rechtsakte für ein Zurücktreten der Rechts- sicherheitserwägungen entschieden113. Dass daneben aus dem Gebot der Rechtssicherheit auch gar kein Bedürfnis für eine Verknüpfung „formeller Bestandskraft“ mit einer umfas- senden materiellen Bindungswirkung entspringt, zeigt schließlich ein Vergleich mit dem deutschen Staats- und Verwaltungsrecht. Auch hier ist einerseits die Rechtssicherheit als ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips anerkannt114. Gleichzeitig wird aber im Hinblick auf rechtswidrige Normen aus der Existenz eines zeitlich nur begrenzten direkten Anfechtungsrechts keinesfalls der Schluss gezogen, aus der Verfristung des unmittelbaren Klagerechts müsse auch der Ausschluss einer Inzidentrüge folgen115. Rechtspolitische Erwä- gungen sprechen vielmehr dafür, den Eintritt „formeller Bestandskraft“ eines normativen Rechtsaktes nicht auch mit dahingehenden materiellen Konsequenzen zu verknüpfen, da die gegenteilige Lösung „das nicht unerhebliche Risiko“ einer großen Zahl „vorbeugender di- rekter Klagen“ mit sich brächte116. Auch Sinn und Zweck der Norm vermögen eine solch weitgehende Ausdehnung materieller Bestandskraft nicht zu rechtfertigen. Entgegen der Argumentation des Generalanwalts Ja- cobs in der Rechtssache Nachi Europe117 besteht der Zweck der Rechtswidrigkeitseinrede nicht allein darin, eine komplette „Rechtsverweigerung“ zu verhindern, welche nicht drohe, falls eine Person zur Direktklage befugt gewesen sei und diese lediglich versäumt habe118. Die ratio des Art. 241 EGV verlangt vielmehr die inzidente Überprüfbarkeit aller normati- ven Rechtsakte, auf deren Gültigkeit es im Rahmen eines anderweitigen Rechtsstreits an-

109 EuGH Rs. C-241/01 (National Farmers‘ Union) Slg. 2002, I-9079 Rn. 34-39. 110 Sinaniotis, EPL 2001, S. 103 ff. (113 ff.). Allgemein zur Entwicklung des Grundsatzes der Rechtssicherheit im Gemeinschaftsrecht v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 163 f. sowie ausführlich K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 388 ff. 111 EuGH Rs. C-143/93 (Gebroeders van Es Douane) Slg. 1996, I-431 Rn. 27. 112 Sehr kritisch im Hinblick auf das Argument der Rechtssicherheit auch Dubois, C.D.E. 1978, S. 407 ff. (412) und Moloney, CMLR 2002, S. 393 ff. (401 f.). 113 Davon ging der EuGH noch in der Rs. 185/85 (USINOR/Kommission) Slg. 1986, 2079 Rn. 10 f. selbst aus, als er feststellte, die Verfristung einer Klage gegen eine allgemeine Entscheidung nach Art. 14 EGKS hindere ihn nicht daran, „die zu ihrer Begründung vorgebrachten Angriffsmittel als Rechtswidrigkeitseinrede im Rahmen des auf Aufhebung der Einzelfallentscheidung [...] gerichteten Klagebegehrens zu berücksichtigen.“ 114 Zur Bedeutung des sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Rechtssicherheitserfordernisses im deutschen Staatsrecht siehe Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 154 ff. 115 Kopp/Schenke, Komm. z. VwGO, 12. Aufl. (2000), § 47, Rn. 83. Auch in Frankreich besteht nach einem Déc- ret v. 28.11.1983 die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit eines réglements ungeachtet des Ablaufs der Anfech- tungsfrist geltend zu machen; hierzu Arzoz, JöR 49 (2001), S. 299 ff. (318). 116 So die zutreffende Argumentation des GA Darmon in der Rs. C-258/89 (Kommission/Spanien) Slg. 1991, I- 3977 Rn. 30. 117 Rs. C-239/99 (Nachi Europe) Slg. 2001, I-1197 Rn. 74. 118 Ausführlich zur Argumentation des GA Jacobs siehe Moloney, CMLR 2002, S. 393 ff. (398).

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kommt119. In seiner neueren Rechtsprechung hat der Gerichtshof, wie bereits oben darge- stellt, richtigerweise auf eine Umqualifizierung anfechtbarer Verordnungen in Entscheidun- gen im Sinne des Art. 249 Abs. 4 EGV verzichtet und ausdrücklich festgestellt, dass solche Rechtsakte ihren normativen Charakter auch dann nicht verlieren, wenn sie ausnahmsweise Einzelne unmittelbar und individuell betreffen und damit zum tauglichen Anfechtungsge- genstand für nicht-privilegierte Kläger werden120. Es besteht ein offensichtlicher Wider- spruch darin, einerseits die Rechtswidrigkeitseinrede ausdrücklich bei allen normativen Akten der Gemeinschaft zuzulassen121, andererseits für solche Verordnungen eine Ausnah- me zu machen, deren normativer Charakter nicht geleugnet wird. In dieser Rechtsprechung kommt zudem sehr deutlich eine mangelnde Konsequenz in der Abgrenzung von Verordnung und Entscheidung im Sinne des Art. 249 Abs. 2 und 4 EGV zum Ausdruck, welche nicht geeignet erscheint, zu mehr Klarheit in der Diskussion um eine europäische Handlungsformenlehre122 beizutragen. Insofern ist es wenig hilfreich, sich im Rahmen der einen primärrechtlichen Bestimmung (Art. 230 Abs. 4 EGV) von dem Dogma der „Umqualifizierung“ von Rechtsakten zu verabschieden, um gleichzeitig bei der Frage der Inzidentrüge bestimmte Verordnungen wieder auszuklammern. Damit scheint ein Rück- schritt zu einem erneut retrospektiv-rechtsschutzgeprägten Handlungsformenverständnis123 möglich, welches in neuerer Zeit schon überwunden zu sein schien. Abschließend bleibt damit festzuhalten, dass es keine überzeugenden Gründe gibt, die mate- riellrechtliche Bedeutung des Ablaufs der Anfechtungsfrist des Art. 230 Abs. 5 EGV so weit auszudehnen, dass sie auch zu einem Ausschluss der Inzidentrüge im Hinblick auf solche Verordnungen führt, die von Einzelnen trotz vorhandener Klagebefugnis nicht fristgerecht angefochten wurden. Die Rechtswidrigkeitseinrede sollte individuellen Klägern gegen Nor- mativakte zu jedem Zeitpunkt zur Verfügung stehen124.

119 Sinaniotis, EPL 2001, S. 103 ff. (113 ff.). Diese weite Auslegung bestätigen die Gerichte selbst durch ihre Rechtsprechung zur möglichen Inzidentrüge nicht-förmlicher Gemeinschaftshandlungen; EuG verb. Rs. T-6/ 92 und T-52/92 (Reinarz/Kommission) Slg. 1993, II-1047 Rn. 56; EuGH Rs. 92/78 (Simmenthal/Kommission) Slg. 1979, 777 Rn. 39 f., wo der EuGH allerdings auch zu Unrecht auf die Ausschlusswirkung der Verfristung nach Art. 230 Abs. 5 EGV hinweist. 120 EuGH Rs. C-309/89 (Codorniu/Rat) Slg. 1994, I-1835 Rn 19; Rs. C-239/99 (Nachi Europe) Slg. 2001, I-1197 Rn 21. Besonders deutlich auch EuG, Rs. T-125/96 (Boehringer/Kommission), Slg. 1999, II-3427 Rn. 162 f. Auch GA Jacobs erkennt in der Rs. Nachi Europe, Rn. 81 die normative Fortwirkung einer Antidumping-Ver- ordnung, zieht daraus aber nicht den Schluss einer weiterhin zwingend möglichen Inzidentrüge, sondern ver- weist auf Art. 233 EGV, aus dem sich u.U. die Verpflichtung der Kommission zur späteren Überprüfung ihrer eigenen Maßnahme ergeben könne. 121 So zuletzt sehr deutlich das Urteil des EuGH v. 10.07.2003 in der Rs. C-11/00 (Kommission/EZB) Slg. 2003, I-7147 Rn. 77. 122 Siehe hierzu den grundlegenden Beitrag von J. Bast (o. Fußn. 87), S. 479 ff. 123 D.h. zu einer rein materiellen ex-post Qualifikation der Handlungsformen, welche aus der möglichen Anfech- tung durch individuelle Kläger zugleich die Entscheidungsqualität im Sinne des Art. 249 Abs. 4 EGV folgert. 124 Ebenso Dubois, C.D.E. 1978, S. 407 ff. (436): „l’exception d’illégalité peut être soulevée à tout moment». Dar- über hinausgehend Bebr, CMLR 1966, S. 7 ff. (24), der sich in Fn. 56 sogar fragt, ob eine Inzidentrüge während des Laufs der Anfechtungsfrist überhaupt zulässig sein sollte. Ähnlich auch Barav, ELR 1979, S. 36 ff. (385). Barav will allerdings das zusätzliche Erfordernis einführen, dass ein Kläger plausibel machen muss, warum er nicht fristgerecht klagen konnte.

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2. Zur Bedeutung der Klagefrist für privilegierte Kläger

In der Literatur wird vielfach darauf hingewiesen, für institutionelle Kläger müsse, ihre grundsätzliche Rügeberechtigung einmal vorausgesetzt, hinsichtlich der Zulässigkeit einer Rechtswidrigkeitseinrede die gleiche Einschränkung gelten wie im Falle sonstiger natürli- cher und juristischer Personen, so dass auch ersteren der Rekurs auf Art. 241 EGV verwehrt sei, soweit sie ohne Zweifel unmittelbar gegen den inzident gerügten Rechtsakt hätten kla- gen können125. Da aber Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorgane nach Art. 230 Abs. 1 EGV126 stets über ein Anfechtungsrecht auch gegenüber Verordnungen verfügen, würde damit das Recht zur Inzidentrüge für diese Kläger faktisch zu einer „leeren Hülse“127 und verlöre insofern jeden materiellen Gehalt128. Während der Rechtsprechung im Falle nicht-privilegierter Kläger tatsächlich der Vorwurf zu machen ist, Art. 241 EGV jeden Gehaltes zu berauben und seinen Wortlaut durch den Aus- schluss anfechtbarer Verordnungen in sein Gegenteil zu verkehren, erscheint dies im Hin- blick auf privilegierte Kläger nicht angebracht. Abgesehen von den über das Ziel hinaus- schießenden und durch den EuGH nicht bestätigten Äußerungen des Generalanwalts Mischo in der Rechtssache National Farmers‘ Union gibt es keine Anhaltspunkte in der Rechtspre- chung der Europäischen Gerichte, die den Schluss nahe legen, auch bei der Rüge eines Mit- gliedstaates oder EG-Organs gegen normative Rechtsakte müsse die Anfechtungsfrist des Art. 230 Abs. 5 EGV den Vorrang genießen. Die bisherige Judikatur befasste sich stets mit solchen staatengerichteten Entscheidungen oder Richtlinien, welche nach den obigen Aus- führungen den Mitgliedstaaten gegenüber nicht wie normative Rechtsakte wirkten. Der Vorwurf, der EuGH verkehre durch die Ausweitung materieller Bestandskraft auf sogenann- te „abstrakt-generelle“ Entscheidungen der Kommission den Wortlaut des Art. 241 EGV in sein Gegenteil und leiste dadurch dem „vollständigen Substanzverlust einer Primärrechts- norm“129 Vorschub, basiert somit auf einem verkürzten und zu wenig differenzierten Ver- ständnis der Handlungsformen des EG-Rechts, indem er die Funktion allstaatengerichteter Entscheidungen mit der idealtypisch gesetzesgleichen, abstrakt-generellen Wirkung von Verordnungsbestimmungen gleichsetzt130. Diese Sichtweise beachtet den grundlegenden Unterschied zwischen beiden Handlungsfor- men nur unzureichend, der sich aus der zwingenden personalen Begrenzung der Rechtswir- kungen aller Entscheidungen ergibt. Sie sind, auch wenn sie sich an die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit richten und damit ihr Potenzial territorialer Limitierung nicht ausschöpfen, stets nur für ihre Adressaten verbindlich und unterscheiden sich insofern nicht von Richtli-

125 Cremer (o. Fußn. 52), Art. 241, Rn. 6; Schwarze (o. Fußn. 58), Art. 241, Rn. 6. 126 In durch das Erfordernis der Rüge einer eigenen Rechtsverletzung eingeschränktem Maße gilt das auch für die teil-privilegierten Kläger des Art. 230 Abs. 3 EGV. 127 Busse, JöR 50 (2002), S. 541 ff. (553). 128 Busse, EuZW 2002, S. 715 ff. (720). 129 Busse, EuZW 2002, S. 715 ff. (719 f.). 130 Diese These findet eine bedeutende Stütze in der Entscheidung des EuGH v. 10.07.2003 in der Rs. C-11/00 (Kommission/EZB) Slg. 2003, I-7147 Rn. 72 ff., in der das Gericht ausdrücklich betont, die von ihm entwickel- ten und oben dargestellten Grundsätze zur Bestandskraftwirkung gemeinschaftlicher Rechtsakte beeinträch- tigten in keiner Weise die Regel des Art. 241 EGV, „nach deren Wortlaut jede Partei in einem Rechtsstreit, bei dem es auf die Geltung einer von dieser Bestimmung erfassten Verordnung ankommt, vor dem Gerichtshof die Unanwendbarkeit dieser Verordnung aus den in Artikel 230 Absatz 2 EGV genannten Gründen geltend ma- chen kann.“ Danach konnte sich die EZB als teil-privilegierter Kläger im Rahmen der Anfechtung einer ihrer Beschlüsse durch die Kommission trotz Ablaufs der Frist des Art. 230 Abs. 5 EGV auf die Rechtswidrigkeit einer Verordnung berufen.

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nien. Zwar mag sich aus der Sicht des Unionsbürgers ihr Regelungsgehalt tatsächlich als abstrakt-generell darstellen, wenn er eine unbestimmte Vielzahl objektiv umschriebener Sachverhalte mit Bezug zu einem nicht feststellbaren Personenkreis umfasst. Für die Mit- gliedstaaten statuiert er aber meist einen konkreten Rechtsumsetzungs- bzw. Rechtsanwen- dungsbefehl. Es gibt also gute Gründe, den Anwendungsbereich des Art. 241 EGV, soweit es um die Inzidentrüge privilegierter Kläger geht, nicht auf alle sogenannten „abstrakt-generel- len“ Entscheidungen auszudehnen. Dies sollte vielmehr solchen Maßnahmen vorbehalten bleiben, die sich auch gegenüber den Adressatenstaaten in immer wiederkehrenden Rechts- anwendungs- oder Beachtungsregeln stets neu aktualisieren.

V. Schlussbetrachtung

Abschließend lässt sich somit festhalten, dass den Europäischen Gerichten in ihrer wenig konsequenten und dogmatisch kaum zu begründenden Rechtsprechung zum Anwendungs- bereich der Rechtswidrigkeitseinrede in sachlicher Hinsicht nicht gefolgt werden kann. Ver- ordnungen müssen auch dann tauglicher Rügegegenstand bleiben, wenn sie ausnahmsweise zweifelsohne Gegenstand individueller Nichtigkeitsklagen hätten sein können. Wie gezeigt, ist die durch die Rechtsprechung vollzogene Differenzierung weder mit dem Wortlaut des Art. 241 EGV noch mit dessen Sinn und Zweck zu vereinbaren. Auch der allgemeine Rechts- grundsatz der Rechtssicherheit vermag eine Übertragung der Anfechtungsfristen des Art. 230 Abs. 5 EGV auf die Erhebung der Inzidentrüge nicht zu rechtfertigen. Insofern ist eine Rechtsprechungsänderung dringend anzuraten. Darüber hinaus sollten nicht nur alle Verordnungen im Sinne des Art. 249 Abs. 2 EGV, son- dern auch sonstige Rechtsakte der EG mit normativem Charakter, also vor allem bestimmte staatengerichtete Entscheidungen, in den Anwendungsbereich des Art. 241 EGV bzw. in den dieser Norm zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsgrundsatz einbezogen werden. Nur so kann dem äußerst differenzierten und vielseitigen Anwendungsprofil der Entscheidung als komplexe Handlungsform in einem europäischen administrativ-legislativen Verbund Genü- ge getan werden.

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Rechtsfragen der Osterweiterung der EU unter besonderer Berücksichtigung des Beitritts der Republik Zypern

Von Constantin Iliopoulos, Athen

I. Einführung

Die Unterzeichnung des Beitrittsvertrages am 16. April 2003 in Athen unter der Akropolis bedeutet für Zypern und die übrigen neun Beitrittsstaaten1 das Ende eines langen Weges und gleichzeitig den Anfang einer neuen Epoche, die die wichtigste Herausforderung sowohl für alle diese Staaten als auch für die Europäischen Union an der Schwelle des 21. Jahrhunderts darstellt2. Für Zypern bietet dieses Ereignis darüber hinaus die Chance zur Lösung des in- ternen politischen Problems zwischen den beiden Gemeinden der Insel, der griechisch-zyp- riotischen und der türkisch-zypriotischen. Der Weg Zyperns zur Europäischen Union verlief gemeinsam mit dem der Staaten Mittel- und Osteuropas3 sowie Maltas. Die sog. Osterweiterung wird in die Geschichte als die Er- weiterung eingehen, die mit Zypern und Malta auch die südlichsten Staaten des Kontinents miteinbezogen hat. Wegen der politischen und insbesondere der juristischen Bindung von Zypern an die Osterweiterung wird sich die Darstellung des Beitrittsprozesses zwangsweise nicht allein auf Zypern beziehen. Bei jedem Kapitel werden neben der Regelung für die Re- publik Zypern auch die Regelungen für die übrigen Staaten der Osterweiterung dargestellt. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in vier weitere Abschnitte. Zunächst wird die Vorge- schichte der Beziehungen zwischen der Republik Zypern und der Union (Gemeinschaft), sprich das Assoziierungsabkommen (II.), dann der allgemeine gemeinschaftsrechtliche Rah- men des Beitritts (III.), die Bedingungen des Beitritts und die Beitrittsverhandlungen (IV.) sowie spezifische gemeinschaftsrechtliche Aspekte des Beitritts der Republik Zypern (V.) untersucht.

II. Die Vorgeschichte – Das Assoziierungsabkommen

Dem Mitgliedsantrag Zyperns ist das Assozierungsabkommen vorausgegangen4. Ähnlich verhielt es sich mit den Mitgliedschaftsanträgen der übrigen Bewerberstaaten der Osterwei-

1 Das sind Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen und Malta. 2 Vgl. auch G. Verheugen, in http://europa.eu.int/comm/enlargement/docs/pdf/, S. 1. Verheugen, der das für die Erweiterung zuständige Mitglied der Kommission ist, spricht von einer historischen Gelegenheit. 3 Aus Vereinfachungsgründen wird im Folgenden von Staaten Osteuropas bzw. von Osterweiterung die Rede sein. 4 Es ist im Juni 1973 in Kraft getreten, ABl. 1973, L 133/3, geändert durch das Protokoll zur Festlegung der Be- dingungen und Verfahren für die Durchführung der zweiten Stufe des Abkommens zur Gründung einer Asso- ziation zwischen der EWG und der Republik Zypern und über die Anpassung einiger Bestimmungen des Ab- kommens, ABl. 1987, L 393/1. Zum Assoziierungsabkommen siehe auch das 4. Protokoll über finanzielle und technische Zusammenarbeit, paraphiert am 21.12.1994, Dok. KOM(95) 64 endg. v. 7.4.1995.

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terung5. Das Assoziierungsabkommen mit Zypern sowie die Abkommen mit den übrigen Staaten der Osterweiterung schufen Wirtschaftsbeziehungen zwischen jedem dieser Staaten und der EU (Gemeinschaft)6. Das Assoziierungsabkommen mit Zypern (sowie das mit Malta) war zwar nicht von vorn- herein auf einen künftigen Beitritt ausgerichtet, sah jedoch die Vollendung einer Zollunion vor und schloss einen solchen Beitritt nicht aus. Für die Republik Zypern, die (ebenso wie die maltesische Republik) immer eine Demokratie westlicher Prägung gewesen ist, waren die politischen Bedingungen für einen möglichen Beitritt hinsichtlich Demokratie, Schutz der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit von vornherein gegeben. Speziell für Zypern sollte darüberhinaus das sog. politische Problem, d.h. das Problem der Beziehungen zwischen den zwei Gemeinden der Insel (der griechisch-zypriotischen und der türkisch-zypriotischen) gelöst werden. Der Europäische Rat von Helsinki (Dezember 1999) beschloss, dass die Lösung dieses Problems zwar gewünscht, jedoch keine Bedingung für den Beitritt der Republik Zypern ist7. Rechtsgrundlage für das Assoziierungsabkommen Zyperns (sowie die Abkommen der übri- gen Bewerberstaaten) war Art. 238 EWGV (a.F.)8, aufgrund dessen jeder Staat, nicht nur europäische Staaten, mit der Gemeinschaft assoziiert werden kann9. Das Assoziierungsabkommen mit Zypern (ebenso wie alle andere vorgenannten Assoziie- rungsabkommen) zielt darauf ab, während eines bestimmten Zeitraums schrittweise eine

5 Als Erster unter den beitrittswilligen Staaten bekam Malta ein Assozierungsabkommen im Dezember 1970, das im April 1971 in Kraft trat (ABl. 1971, L 61/2). Es folgten Zypern im Dezember 1972, Ungarn im Dezem- ber 1991, das im Februar 1994 in Kraft trat (ABl. 1993, L 347/1), Polen im Dezember 1991, das im Februar 1994 in Kraft trat (ABl. 1993, L 348/1), Rumänien im Februar 1993, das im Februar 1995 in Kraft trat (ABl. 1994, L 357/1), Bulgarien im März 1993, das im Februar 1995 in Kraft trat (ABl. 1994, L 358/1), die Tschechi- sche Republik im Oktober 1993, das im Februar 1995 in Kraft trat (ABl. 1994, L 360/2), die Slowakische Repu- blik im Oktober 1993, das im Februar 1995 in Kraft trat (ABl. 1994, L 359/1), Estland im Juni 1995, das im Februar 1998 in Kraft trat (ABl. 1998, L 68/1), Lettland im Juni 1995, das im Februar 1998 in Kraft trat (ABl. 1998, L 26/1), Litauen im Juni 1995, das im Februar 1998 in Kraft trat (ABl. 1998, L 51/1) und Slowenien Juni 1996, das ebenfalls im Februar 1998 in Kraft trat (ABl. 1998, L 347/1); vgl. auch Verheugen, a.a.O, S.6. Die Abkommen mit den Oststaaten wurden „Europaabkommen“ genannt, um den politischen Willen der EU sowie der assoziierten Staaten für einen Beitritt letzterer in die Union nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu unterstreichen. 6 Assoziierungsabkommen mit der Gemeinschaft hatte als erster Staat überhaupt Griechenland gehabt (am 9.7.1961 unterzeichnet, am 1.11.1962 in Kraft getreten, ABl. 1963, S. 294). Es folgte die Türkei (am 12.9.1963 unterzeichnet, am 1.12.1964 in Kraft getreten, ABl. 1964, S. 3687). Griechenlands Abkommen ruhte zwischen 1967 und 1974 wegen der Militärdiktatur und ist mit der Wiederherstellung der Demokratie 1974 wiederakti- viert worden. Es war von vornherein auf einen späteren Beitritt Griechenlands nach einer Anpassungsperiode von 22 Jahren angelegt. Als dieser Beitritt infolge eines im Jahre 1975 gestellten (vom Assoziierungsabkom- men unabhängigen) Antrages 1981 erfolgte, wurde das Assoziierungsabkommen obsolet. Vgl. auch C. Iliopou- los, Griechischer Wein und das von der EWG angewandte Einfuhrregime, Révue Hellénique de Droit Interna- tional, 1976, S. 193-211. Das Assoziierungsabkommen mit der Türkei beinhaltet ähnliche Regelungen wie die entsprechenden Abkommen mit Malta und Zypern und soll einen späteren Beitritt vorbereiten. Allerdings ist der Beitritt nicht verbindlich vereinbart worden; vielmehr heißt es, die Entwicklung soll dazu führen, dass die Möglichkeit eines Beitritts geprüft werden könne, Einzelheiten G. Nicolaysen, Europarecht II (1996), S. 526 f. Das Ziel der Zollunion wurde mit Hilfe des Zollunnionsabkommens von 1995 erreicht, G. Verheugen, a.a.O, S. 6. 7 Bull. EG 12-1999, Ziff. 1.3.9., b); Einzelheiten unten, E. 8 Art. 310 EGV. 9 Über den Begriff der Assoziierung nach dem EGV s. G. Nicolaysen, Europarecht II (1996), S. 517 f. Vgl. auch Schmalenbach, Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EU/EG-Vertrag, Art. 310 EGV; Röttinger, Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, Art. 310; Herrnfeld, Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 310 EGV; Vedder, Grabitz/ Hilf (Hrsg.), EGV (Bd. II), Art. 238 (1. EL); Weber, v.d. Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), EU-/EG-Ver- trag (Bd. 5), Art. 238 EGV.

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Freihandelszone zwischen der EU und dem assoziierten Land herzustellen. Im Falle von Zy- pern ist die Zollunion Ende 2002 hergestellt worden10. Die praktische Durchführung der Assoziierungsabkommen der Beitrittskandidaten durch die Union zielt, in Verbindung mit anderen Maßnahmen, auf die Vorbereitung des Beitritts dieser Länder in die EU (dazu näheres unten).

III. Der allgemeine gemeinschaftsrechtliche Rahmen des Beitritts

1. Art. 49 EUV11

Sedes materiae für den Beitritt Zyperns (sowie der übrigen neun Staaten) in die Europäische Union ist Art. 49 EUV. Gemäß Absatz 1 dieser Vorschrift kann jeder europäische Staat, der die in Art. 6 Absatz 1 EUV genannten Grundsätze (der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit) achtet, beantragen, Mitglied der Union zu werden. Er richtet seinen Antrag an den Rat. Dieser beschließt einstim- mig nach Anhörung der Kommission und nach Zustimmung des Parlaments, das mit der ab- soluten Mehrheit seiner Mitglieder beschließt. Ferner bestimmt Absatz 2 derselben Vorschrift, dass die Aufnahmebedingungen und die durch eine Aufnahme erforderlich werdenden An- passungen der Verträge, auf denen die Union beruht, durch ein Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten und dem antragstellenden Staat geregelt werden. Das Abkommen bedarf der Ratifikation durch alle Vertragspartner gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften. Damit regelt Art. 49 EUV den Beitritt eines europäischen Staates zu den zwei Gemeinschaf- ten EG und Euratom sowie zu der EU als einen einheitlichen Vorgang12. Beitreten kann nur ein europäischer Staat. Damit stellt sich die Frage der Definition der Grenzen Europas. Als Kriterien wurden insb. Geographie, Geschichte, Kultur, Religion und Zugehörigkeit zu Sprachfamilien genannt. Auch die Zugehörigkeit zum Europarat kann von Bedeutung sein. Jedoch ist „Europa“ kein Rechtsbegriff, der allein nach juristischen Kriterien zu bestimmen ist. Vielmehr muss der Rahmen, den die verschiedenen Elemente des Begriffs definieren, letzlich politisch ausgefüllt werden13. Die Zugehörigkeit eines Staates zu Europa präjudiziert jedoch nicht seinen Beitritt. Für die Aufnahme dieses Staates in die Union gelten gemäß Art. 49 EUV (weitere) „Aufnahmebe- dingungen“. Art. 49 EUV verweist an erster Stelle auf die Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EUV, die durch den Vertrag von Maastricht (1992/1994) ausdrücklich zur Bedingung für die Auf- nahme in die Union erhoben wurden. Ferner kann die Union weitere Bedingungen stellen, bevor sie den Beitritt akzeptiert. Diese können juristischer, institutioneller, wirtschaftlicher oder politischer Natur sein. So müssen die Beitrittskandidaten z.B. ihre Verfassungen für den

10 Der Zeitraum, inerhalb dessen die Zollunion für die übrigen Bewerberstaaten hergestellt werden sollte, beträgt 10 Jahre für die Tschechische Republik, die Slowakische Republik, Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien, 6 Jahre für Slowenien und Litauen und 4 Jahre für Lettland. Mit Estland wurde die Zollunion bereits am 1.1.1995, mit Malta am 31.12.2002 vollzogen, vgl. G. Verheugen, a.a.O, S. 11. 11 Vgl. Cremer, Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EU/EG-Vertrag, Art. 49 EUV; Vedder, Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV (Bd. I), Art. 49 (15. EL); Herrnfeld, Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 49 EUV; Meng, v.d. Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag (Bd. 5), Art. O EUV. 12 Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die als die dritte Gemeinschaft galt, existiert nicht mehr, nachdem die Geltungsdauer des EGKS-V am 23. Juli 2002 abgelaufen ist (Art. 97 EGKS-V). Das gesamte Vermögen und alle Vebindlichkeiten der EGKS sind am 24. Juli 2002 auf die EG überführt, Art. 1 Abs. 1 des dem Nizza-V beigefügten Protokolls über die finanziellen Folgen des Ablaufs der Geltungsdauer des EGKSV. Ab dem 23.Juli 2002 findet auf die Bereiche der Kohle und des Stahls der EGV Anwendung. 13 S. auch G. Nicolaysen, Europa als Ziel der Union, in: Fs für J. Gündisch, 1999, S. 185.

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Beitritt zu einer supranationalen Organisation aufrüsten, Institutionen gründen, die das Ge- meinschaftsrecht anwenden werden bzw. die existierenden Administrationen auf diese Auf- gabe vorbereiten, den gemeinschaftlichen Besitzstand (acquis communautaire) übernehmen, ihre Wirtschaft in eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb umwandeln, politische Probleme mit Nachbarstaaten lösen usw. Kein Land, das die Voraussetzungen des Art. 49 EUV erfüllt, hat jedoch einen Rechtsanspruch auf den Beitritt in die Union. Es obliegt der Union zu beurteilen, ob eine Erweiterung zu einer bestimmten Zeit politisch opportun ist. Ferner regelt Art. 49 EUV das Verfahren, nach dem die Union die Erweiterung vollzieht. Der Rat beschließt einstimmig über den Antrag, die Kommission wird angehört, das Euro- päische Parlament muss dem Ratsbeschluss mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder zustimmen.

2. Der Nizza-Vertrag

a) Allgemeines

Da die Aufnahme der zehn vorerwähnten Staaten (bis 2004) sowie Bulgariens und Rumäni- ens (bis 2007) – damit steigt die Gesamtzahl der Mitgliedstaaten auf 27 – die Union vor schwierige Probleme stellen würde, die ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigen könnten, hat man die institutionellen Bestimmungen der Verträge bereits im Dezember 2000 durch den Nizza-Vertrag14 an die bevorstehende Erweiterung angepasst und nicht auf den Zeitpunkt der Unterzeichnung der Beitrittsverträge gewartet15. Als die wichtigsten unter den neuen Rege- lungen können Folgende genannt werden: die Ersetzung der Einstimmigkeit in bestimmten Bereichen durch die qualifizierte Mehrheit bei der Beschlussfassung im Rat16, die Festset- zung der Bedingungen für das Zustandekommen eines Beschlusses nach qualifizierter Mehr- heit im Rat17, die Reduzierung der Zahl der Abgeordneten der 15 Mitgliedstaaten im EP18, die

14 Vom Europäischen Rat auf seiner Tagung vom 7. bis 9. Dezember 2000 in Nizza angenommen, von den Staats- und Regierungsschefs am 26.2.2001 ebenfalls in Nizza unterzeichnet, am 1.2.2003 in Kraft getreten, ABl. 2001, C 80/1-87. 15 Bei dieser Reform ist die Türkei zunächst nicht berücksichtigt worden, s. unten b). 16 Das betrifft 28 Bereiche. Sie werden geregelt in Art. 13 Abs. 2, 18 Abs. 2, 63 Abs. 1, 2 UA 2 i.V.m. Art. 67, 65 i.V.m. Art. 67, 100 Abs. 1, 100 Abs. 2, 111 Abs. 4, 123 Abs. 4, 137 Abs. 2 letzten Satz (neu), 157 Abs. 3, 159, Abs. 3, 161, den neuen Art. 181a Abs. 2 UA 1, Art.190 Abs 5, 191 neuen Abs. 2, 207 Abs. 2, 214 Abs. 2, 215, 223 Abs. 6, 224 neuen Abs. 5, 247, 248 Abs. 4 neuen UA 5, 259 Abs. 1, 263, 279 neuen Abs. 1 EGV sowie Art. 23, 24 EUV. Als die wichtigsten Bereiche davon können der Bereich des Asyls, der Flüchtinge und Vertriebene (Art. 63 Abs. 1, 2 UA 2 i.V.m. Art. 67), der Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen mit grenz- überschreitenden Bezügen (Art. 65 i.V.m. Art. 67) gewisse Aspekte der gemeinsamen Außenhandelspolitik (Art. 137 Abs. 2 letzten Satz) sowie der Bereich der (wirtschaftlichen und finaziellen) Beziehungen zu Dritt- staaten (Art. 181a Abs. 2 UA 1) genannt werden. 17 So werden ab dem 1.1.2005 die Stimmen der Mitglieder des Rates in Bezug auf die qualifizierte Mehrheit (im Rahmen der Art. 205 EGV für die EG, 23 Abs. 2 UA 3 EUV für die GASP und Art. 34 Abs. 3 EUV für die PJZ in Strafsachen) neu gewichtet, Art. 3 Protokoll über die Erweiterung der EU. Ferner sind für das Zustandekom- men von Ratsbeschlüssen eine Mindestzahl von 169 Stimmen (bei insgesamt 237 Stimmen, also ein Prozent- satz von 71,3%) und die Mehrheit oder zwei Drittel der Mitgliedstaaten erforderlich, je nachdem, ob die Be- schlussfassung auf Vorschlag der Kommission oder ohne einen solchen Vorschlag erfolgt ist. Jeder Mitglied- staat kann darüber hinaus fordern, dass die befürwortenden Staaten eine Bevölkerung von mindestens 62% hinter sich haben, a.a.O. 18 Ab dem 1.1.2004 sollen (im Rahmen der Art. 190 Abs. 2 UA 1 EGV und 108 Abs. 2 UA 1 EAGV) für die Wahl- periode 2004-2009 neue Abgeordnetenzahlen gelten, Art. 2 Abs. 1 Protokoll über die Erweiterung der EU, so dass, nimmt man die Zahl der Abgeordneten der 12 Beitritskandidatstaaten dazu, wie diese in der 20. Erklä- rung zur Erweiterung der EU festgelegt wurde, man zu einer Gesamtzahl von 732 Abgeordneten kommt, die gem. Art. 189 Abs. 2 EGV N.F. und 107 Abs. 2 EAGV N.F. nicht überschritten werden darf.

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Reduzierung der Zahl der Mitglieder der Kommission19, auf der anderen Seite aber auch die Stärkung der Stellung ihres Präsidenten20, die Ausweitung der verstärkten Zusammenarbeit auf die GASP und eine eher realistische Gestaltung dieser Institution (dazu näheres unten) sowie Änderungen die Gerichtsbarkeiten betreffend21. Ferner muss eine weitere wichtige Vor- schrift im institutionellen Bereich hervorgehoben werden, die auch für die bevorstehende Erweiterung von Bedeutung ist. Gemäß Art. 7 EUV kann der Rat für den Fall, dass eine deut- liche Gefahr der Verletzung fundamentaler Grundsätze der Union (z.B. von Grundrechten) durch einen Mitgliedstaat besteht, nicht nur nachträglich, wie bisher, handeln, sondern auch vorbeugende Maßnahmen treffen22.

b) Spezielle Vorschriften für die Beitrittskandidaten

Die Entscheidung, die Republik Zypern sollte der EU beitreten, fiel im Europäischen Rat von Nizza (Dezember 2000). Neben Zypern sollten allerdings gemäß der (20.) Erklärung zur Erweiterung der EU, die dem Nizza-Vertrag beigefügt ist, die bereits genannten 9 Bei- trittskandidaten sowie Rumänien und Bulgarien beitreten23. Mit dieser Erklärung wurden bereits u.a. die Sitze dieser Staaten im EP sowie ihre Stimmen im Rat, Wirtschafts- und Sozialausschuss und Ausschuss der Regionen festgelegt. Dies wur- de formell als der gemeinsame Standpunkt der 15 Mitgliedstaaten deklariert, den letztere bei den Beitrittsverhandlungen einnehmen sollten. Die entsprechenden Zahlen sind den diesbe- züglichen Tabellen zu entnehmen, die der 20. Erklärung beigefügt sind. Zypern erhält 6 Sit- ze im Parlament und 4 (gewogene) Stimmen in Rat. Dem Wirtschafts- und Sozialausschuss- sowie dem Ausschuss der Regionen sollen jeweils 6 Mitglieder aus Zypern angehören24.

19 Das heute geltende System, wonach bei insgesamt 20 Kommissionsmitgliedern alle (fünfzehn) Mitgliedstaaten jeweils ein Mitglied benennen, das ihre Staatsangehörigkeit besitzt, während die bevölkerungsmäßig großen Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich, Vereinigtes Königreich, Italien und Spanien ein zweites Mitglied benennen (vgl. Art. 213 Abs. 1 EG-V), gilt bis zum 31.12.2004. Ab dem 1.1.2005 wird der Kommission ein Staatsangehöriger pro Mitgliedstaat angehören. Erreicht die Union die Zahl von 27 Mitgliedstaaten, wird die Zahl der Kommissionsmitglieder vom Rat einstimmig derart geändert werden, dass diese kleiner als die Zahl der Mitgliedstaaten ist. Die Kommissionsmitglieder werden dann auf der Basis eines egalitären Rotationssys- tems benannt, dessen Modalitäten durch einstimmigen Beschluss des Rates festgelegt werden, Art. 4 Protokoll über die Erweiterung der EU. 20 Art. 217 EGV (n. F.). 21 Die wichtigsten Änderungen betreffen das Gericht erster Instanz (EuG) und die neu zu gründenden gerichtlichen Kammern; vgl. dazu etwa J. Sack, Zur zukünftigen europäischen Gerichtsbarkeit nach Nizza, in EuZW, 2001, Heft 3, S. 77 f., C.-O. Lenz, Die Gerichtsbarkeit der Europäischen Gemeinschaft nach dem Vertrag von Nizza, EuGRZ 2001, S. 433; U. Everling, Zur Fortbildung der Gerichtsbarkeit der EG durch den Vertrag von Nizza, in: Fs. für H. Steinberger, 2002, S. 1103; Everling, Ulrich/Müller-Graff, Peter-Christian/ Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Die Zu- kunft der Europäischen Gerichtsbarkeit nach Nizza, EuR 2003, Beiheft 1/2003, Baden-Baden (mit Beiträgen von Ulrich Everling, Reimer Voß, Christoph Grabenwarter, Denis Waelbroeck, Josef Azizi, Andreas Weitbrecht). 22 Art. 7 (N.F.) i.V.m. Art 6 Abs 1 EUV; zur Zuständigkeit des EuGH s. Art. 46 Buchst. d), e) EUV (N.F.). 23 Die Türkei wurde in der o.g. Erklärung nicht erwähnt, weil nur die Bewerberstaaten berücksichtigt wurden, mit denen bereits Beitrittsverhandlungen aufgenommen worden waren, Kl. Fischer, Der Vertrag von Nizza, S. 246 f., 249 f. 24 Entsprechend den der 20. Erklärung beigefügten Tabellen entsteht für die neun Beitrittsstaaten folgendes Bild: Im EP sollen folgende Staaten folgende Sitze erhalten: Polen 50, Rumänien 33, die Tschechische Republik 20, Ungarn 20, Bulgarien 17, die Slowakische Republik 13, Littauen 12, Lettland 8, Slowenien 7, Estland 6, Malta 5. Im Rat sollen folgende Staaten folgende Stimmen erhalten: Polen 27, Rumänien 14, die Tschechische Repu- blik 12, Ungarn 12, Bulgarien 10, die Slowakische Republik 7, Littauen 7, Lettland 4, Slowenien 4, Estland 4, Malta 3. Dem Wirtschafts- und Sozialausschuss sollen aus folgenden Staaten folgende Mitglieder angehören: Polen 21, Rumänien 15, Tschechische Republik 12, Ungarn 12, Bulgarien 12, Slowakische Republik 9, Littauen 9, Lettland 7, Slowenien 7, Estland 7, Malta 5. Dem Ausschuss der Regionen sollen aus folgenden Staaten fol- gende Mitglieder angehören: Polen 21, Rumänien 15, Tschechische Republik 12, Ungarn 12, Bulgarien 12, Slowakische Republik 9, Littauen 9, Lettland 7, Slowenien 7, Estland 7, Malta 5.

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Ein verbindliches Datum für die Unterzeichnung der Beitrittsverträge sowie für das Inkraft- treten der unterzeichneten Verträge wurde zunächst trotz Wunsches der Beitrittskandidaten nicht eingeräumt25. Allerdings äußerte der Europäische Rat die Ansicht, die Union könnte unter bestimmten Voraussetzungen bereits ab Ende 2002 neue Mitglieder aufnehmen, wobei von einem etappenweise zu erfolgenden Beitritt ausgegangen wurde26. Die Sachen haben sich jedoch zum Teil anders entwickelt. Aufgrund von besonders intensiven Bemühungen durch die Beitrittsstaaten sowie vielseitiger Hilfe durch die Union ist der Beitritt aller Kan- didatenstaaten mit Ausnahme von Bulgarien und Rumänien in einer Etappe möglich gewe- sen. Der am 16. April 2003 in Athen unterzeichnete Beitrittsvertrag ist, nach Ratifikation durch alle Vertragsstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften, am 1.5.2004 in Kraft getreten. In Bezug auf Bulgarien und Rumänien wird geschätzt, dass diese Staaten ab 1. Januar 2007 Mitglieder der Union sein werden. Die Beitrittsverhandlungen sollen 2004 vollendet, der Beitrittsvertrag soll 2005 unterzeichnet sein27.

c) Die verstärkte Zusammenarbeit

In Verbindung mit der Erweiterung stehen auch die Vorschriften des Nizza-Vertrages über die verstärkte Zusammenarbeit. Mit diesen Vorschriften ändert der Nizza-Vertrag den Ver- trag von Amsterdam (1997/1999) in Bezug auf dieses durch letzteren Vertrag zum ersten Mal eingeführte Instrument in zweierlei Hinsicht: Zum einen erstreckt er es auf die GASP (2. Säule), zum anderen rationalisiert er es und erleichtert seine Anwendung in den beiden Bereichen – EG-Bereich (1. Säule) und Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusam- menarbeit (PJZ) in Strafsachen (3. Säule) –, auf die die verstärkte Zusammenarbeit kraft Amsterdamer Vertrag beschränkt war. Der Entwurf einer Europäischen Verfassung, der vom Konvent dem Europäischen Rat von Thessaloniki (April 2003) vorgelegt wurde, regelt ebenfalls die verstärkte Zusammenarbeit und bestätigt die neue Entwicklung. Bereits der Amsterdamer Vertrag sah vor, dass der Rat nach Antrag der Mehrheit der Mit- gliedstaaten und durch qualifizierte Mehrheit diese Staaten ermächtigen kann, die im EU- und EGV vorgesehenen Organe, Verfahren und Mechanismen in Anspruch zu nehmen, um – unter bestimmten Voraussetzungen – in diesen beiden Bereichen tätig zu werden. Die ver- stärkte Zusammenarbeit sollte als letztes Mittel herangezogen werden und außerdem allen Mitgliedstaaten offen bleiben (Art. 43 f. EUV a.F., 40 EUV a.F., 11 EGV a.F.). Damit wurde ein neues Instrument im Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Union (bei den beiden vorgenannten Bereichen) eingeführt. Es ist klar, dass mit der verstärkten Zusammenarbeit ein entscheidender Schritt in Richtung „differenzierte Integration“, „abge- stufte Integration“ gemacht wurde28. Die Einführung der Möglichkeit, eine verstärkte Zu- sammenarbeit auf einen oder mehrere Bereiche der Integration zu beschließen, bedeutet, dass Gemeinschaftsrecht geschaffen wird, das nicht in allen Mitgliedstaaten gilt, sondern nur in denen, die an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligt sind.

25 Vgl. Kl. Fischer, a.a.O, S. 61. 26 Schlussfolgerungen des (französischen) Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza, 7., 8. und 9. Dezember 2000, Ziff. 4-6, abgeduckt als Auszug in Kl. Fischer a.a.O, S. 62 f. 27 Schlussfolgerungen des (italienischen) Vorsitzes des Europäischen Rates in Brüssel, 12.12.2003, Ziff. III., 34-37. 28 Siehe statt aller E. Grabitz (Hrsg.), Abgestufte Integration - Eine Alternative zum herkömmlichen Integrati- onskonzept?, Kehl am Rhein - Straßburg, 1984; über die praktizierten Formen der Differenzierung im gelten- den Gemeinschaftsrecht s. E. Grabitz/C. Iliopoulos, Typologie der Differenzierungen und Ausnahmen im Gemeinschaftsrecht, in: E. Grabitz (Hrsg.), a.a.O., S. 31 f.

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Die wichtigsten Änderungen durch den Nizza-Vertrag bestehen einerseits darin, dass nun- mehr eine verstärkte Zusammenarbeit nicht mehr die Mehrzahl der Mitgliedstaaten, sondern lediglich acht Staaten (von 25 nach der Osterweiterung) umfassen soll. Andererseits ist die im Amsterdamer Vertrag vorhandene Vorschrift über die Einlegung eines Veto durch die Mitgliedstaaten, die sich eine verstärkte Zusammenarbeit nicht wünschen, gestrichen wor- den (Art. 11 Abs. 2 Satz 2, Art. 40 Abs. Satz 2 EGV a.F.). Dadurch wurde die Einführung einer verstärkten Zusammenarbeit enorm erleichtert. Im Gegensatz zu den Bereichen der EG und der PJZ in Strafsachen, steht den Mitgliedstaaten im Bereich der GASP ein Veto-Recht zu. Die Aufrechterhaltung des Veto-Rechts im GASP-Bereich ist nicht als Widerspruch zu sehen. Sie entspricht den Gegebenheiten des in diesem Bereich üblichen Beschlussfassungs- verfahren. Die Einsetzung der verstärkten Zusammenarbeit steht wegen ihres Ausnahmecharakters unter strikten materiell- und verfahrensrechtlichen Bedingungen. Die materiellrechtlichen Bedingungen sind hauptsächlich in den Art. 43, 43a, 43b, 40 Abs. 1, 27a, 27b EUV, die ver- fahrensrechtlichen in den Art. 11 EGV, 44 Abs. 1 EUV enthalten. Ist die Bewahrung der Funktionsfähigkeit (Regierbarkeit) der Union, insbesondere ange- sichts der beschlossenen Osterweiterung, der tragende Gedanke der Reformen von Nizza gewesen, stellt die verstärkte Zusammenarbeit die zweite der beiden Schienen zur Bewälti- gung dieses Problems dar. Die erste ist die Einschränkung der Einstimmigkeit im Rat zu Gunsten der qualifizierten Mehrheit. Dieser erste Weg ist vor dem Hintergrund der homoge- nen Anwendung des Gemeinschaftsrechts vorzuziehen, weil eine Regelung, die durch quali- fizierte Mehrheit zustande kommt, in allen Mitgliedstaaten Anwendung findet. Ob dieser erste Weg ausreichen wird oder der Einsatz der verstärkten Zusammenarbeit (als Notlösung) notwendig wird, bleibt noch offen. Dass dabei der verstärkten Zusammenarbeit eine Damo- klesschwert-Funktion zukommt, kann und darf nicht verneint werden.

IV. Die Bedingungen des Beitritts und die Beitrittsverhandlungen

1. Die Bedingungen des Beitritts – Die “Heranführungsstrategie”

Am 3. Juli 1990 stellte die Republik Zypern als erster Staat unter den zwölf Kandidatenstaa- ten einen Mitgliedschaftsantrag 29. Ungefähr achtzehn Jahre zuvor war Zypern durch das Assozierungsabkommen von Dezember 1972 mit der Gemeinschaft assoziiert worden30. Vor der Überreichung der Mitgliedschaftsanträge durch die Oststaaten hatte der Europäi- sche Rat von Kopenhagen von Juni 1993 beschlossen31, dass „die Länder Mittel- und Osteu- ropas, die dies wünschen, Mitglieder der Europäischen Union werden können“ und dass „der Beitritt stattfinden wird, sobald ein assoziiertes Land in der Lage ist, die Verpflichtungen der Mitgliedschaft zu übernehmen, indem es die wirtschaftlichen und politischen Vorausset- zungen erfüllt“ (Hervorh. d. Verf.). Nach den sog. Kopenhagener Kriterien muss der bei- trittswillige Staat folgende Voraussetzungen erfüllen : a) Stabilität der Institutionen, Demo-

29 Die anderen elf Staaten waren Malta (16. Juli 1990), Ungarn (31. März 1994), Polen (5. April 1994), Rumänien (22. Juni 1995), die Slowakische Republik (27. Juni 1995), Lettland (13. Oktober 1995), Estland (24. November 1995), Litauen (8. Dezember 1995), Bulgarien (14. Dezember), die Tschechische Republik (17. Januar 1996) und Slowenien (10. Juni 1996). Die Türkei hatte bereits am 14. April 1987 einen Antrag gestellt, der jedoch noch nicht zu Beitrittsverhandlungen geführt hat. 30 S. oben II, 1. 31 Bulletin EG, 6-1993, Ziff. 1.1, 1.13 f., 1.26.

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kratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten, b) die Existenz einer funktionierenden Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Union standhält, c) Fähigkeit zur Übernahme der Pflichten der Mit- gliedschaft, einschließlich dem Einverständnis mit den Zielen der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion. Der Europäische Rat von Madrid vom Dezember 1995 fügte als eine zusätzliche Voraussetzung hinzu d) die Schaffung von geeigneten admi- nistrativen Strukturen, die in der Lage sein werden, die in die nationale Gesetzgebung über- nommene europäische Gesetzgebung auch effektiv umzusetzen32. Der Europäische Rat von Essen von Dezember 1994 hatte mittlerweile eine “Heranfüh- rungsstrategie” zur Vorbereitung der Oststaaten auf die EU-Mitgliedschaft beschlossen. Diese Strategie sollte sich auf folgende drei Elemente stützen: a) die Umsetzung der Europa- abkommen, b) das Phare-Programm zur finanziellen Unterstützung dieser Staaten und c) einen strukturellen Dialog zwischen allen Mitgliedstaaten und allen Beitrittskandidaten, bei dem Fragen von gemeinsamem Interesse zu diskutieren wären33. Der Europäische Rat von Madrid von Dezember 1995 hatte im Übrigen die Europäische Kommission aufgefordert, eine Beurteilung der Mitgliedschaftsanträge vorzulegen und eine ausführliche Analyse zu den Folgen der Erweiterung für die EU auszuarbeiten34. Im Juli 1997 stellte die Kommission die sog. Agenda 2000 vor, in der sie zu diesen Themen und zum Finanzrahmen für die Zeit nach dem Jahr 2000 für eine erweiterte EU Stellung nahm. Darüberhinaus empfahl sie die Einleitung von Beitrittsverhandlungen mit sechs Staa- ten. Dies waren Zypern, Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, Slowenien und Estland35. Der Europäische Rat von Luxemburg von Dezember 1997 beschloss die Einleitung der Bei- trittsverhandlungen mit diesen Ländern. Sie wurden offiziell am 31. März 1998 eröffnet36. Der Europäische Rat von Luxemburg (Dezember 1997)37 hat darüber hinaus (und im An- schluss an den Europäischen Rat von Essen von Dezember 1994) eine sog. intensivierte He- ranführungsstrategie für die zehn beitrittswilligen Staaten Mittel- und Osteuropas38 sowie eine besondere Heranführungsstrategie für Zypern39 beschlossen. Später wurde auch eine besondere Strategie jeweils für Malta und die Türkei festgelegt40. Die Heranführungsstrategie der EU für Zypern (und Malta) stützt sich auf a) das Assoziie- rungsabkommen, b) die Beitrittspartnerschaften und die Nationalen Programme für die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes, c) die Vorbeitrittshilfe, d) die Öffnung der Europäischen Gemeinschaftsprogramme und –agenturen für Zypern (und Malta)41.

32 Bulletin EG, 12-1995, Ziff. 1.25; Gemäß Verheugen forderte der Europäische Rat die Schaffung von geeigne- ten administrativen und justiziellen Strukturen, a.a.O, S. 8. 33 Bulletin EG, 12-1994, Ziff. 1.13 und Anhang IV. 34 Bulletin EG, 12-1995, Ziff. 1.25. 35 Bulletin EG, 7-1997, Ziff. 1.1. 36 Bulletin EG, 12-1997, Ziff. 1.5.11; s. auch Bulletin EG 3-1998, Ziff. 1.3.49, 1.3.51, 1.3.52. 37 Bulletin EG, 12-1997, Ziff. 1.1, 1.3. 38 Bulletin EG, 12-1997, Ziff. 1.5.13 39 Bulletin EG, 12-1997, Ziff. 1.5.22. 40 Bulletin EG, 12-1997, Ziff. 1.6. 41 Bulletin EG, 12-1997, Ziff. 1.5.22; als Beispiel für die Beitrittspartnerschaften, die eine direkte Hilfe für die spezifischen Bedürfnisse des jeweiligen Bewerberstaates darstellen (G. Verheugen, a.a.O, S. 12), sei für Zypern das Durchführen der Mehrwertsteuerharmonisierung in Bezug auf Standard- und reduzierte Sätze sowie die bessere Anwendung der Sicherheitsstandards für den Seeverkehr genannt, Einzelheiten G. Verheugen, a.a.O, S.12, 13; Die Vorbeitrittshilfe für Zypern (und Malta) bestand in einer Mittelzuweisung in Höhe von 90 Mio Euro für den Zeitraum 2000-2004 für den Harmonisierungsprozess. Im Falle Zyperns wird ein Teil dieser Mit- tel für bikommunale Maßnahmen angewendet, die den politischen Einigungsprozess unterstützen, G. Verheu- gen, a.a.O, S. 14; in Bezug auf die Öffnung der Programme der EU für Zypern s. G. Verheugen, a.a.O, S. 20.

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Die Heranführungsstrategie für die Oststaaten sowie die entsprechende Strategie für die Türkei ähneln der Strategie für Zypern (und Malta)42.

2. Die Beitrittsverhandlungen – Prinzipien und Verfahren

Sind in den Heranführungsstrategien die materiellrechtlichen Vorschriften über die Erwei- terung enthalten („was zu tun ist”) – womit es sich praktisch um die Beitrittsbedingungen i.S.d. Art. 49 EUV handelt – so legte der Europäische Rat von Luxemburg gleichzeitig das Verfahren fest, mit Hilfe dessen die EU die Erfüllung dieser Bedingungen durch die Bei- trittsländer kontrollieren würde sowie die Prinzipien und das Verfahren für die eigentlichen Verhandlungen, die für die ersten sechs Staaten bereits angefangen hatten, während sie für den Rest noch bevorstanden. So sollte durch die Anwendung des sog. “Screening des aquis” den Bewerberstaaten gehol- fen werden, ihr Verständnis der Regeln, die der EU zugrunde liegen, zu verbessern und kla- rer zu bestimmen, welche Fragen bei der Übernahme des Besitzstandes behandelt werden müssen. Ab dem Frühjahr 1998 wandte die Kommission in der Tat dieses System an.43 Was die Prinzipien für die Verhandlungen angeht, so handelt es sich dabei um a) die Umset- zung und Anwendung des gemeinschaftlichen Besitzstandes, b) die Einräumung von Über- gangsregelungen (befristet und im Umfang begrenzt), c) die Anwendung des sog. Prinzips der Differenzierung, wobei gemeint ist, dass die Verhandlungen mit den Beitrittsländern individuell geführt werden und die Geschwindigkeit des Verhandlungsprozesses allein von der Vorbereitung jedes einzelnen Staates abhängt, d) die Anwendung des sog. Prinzips des Aufholens44. Der Europäische Rat von Nizza (Dezember 2000) fügte e) den “Fahrplan” der Kommission hinzu, d.h. die Verpflichtung aller Beteiligten zur Einhaltung eines realisti- schen Zeitplans45. Was schließlich die eigentlichen Verhandlungen angeht, so wurde beschlossen, dass erst die Mitgliedstaaten die gemeinsamen Positionen der EU für alle Materien (31 sog. Kapitel) nach Vorschlag der Kommission (einstimmig) festlegen und dann die Union in Verhandlungen mit jedem einzelnen Bewerberstaat eintritt46. Im Anschluss an die ersten Stellungnahmen der Kommission von 199747 legte letztere dem Rat regelmäßige Berichte zu den weiteren Fortschritten der beitrittswilligen Staaten vor (1998-2002)48.

42 Einzelheiten G. Verheugen, a.a.O, S.10-20. Besonders interessant ist es in Bezug auf die Türkei, dass als Bei- spiel für die Beitrittspartnerschaften die politischen Kriterien des Vorhandenseins von stabilen Institutionen und einer intakten Demokratie sowie die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit, der Achtung der Menschen- rechte und des Schutzes von Minderheiten genannt wurden, Einzelheiten G. Verheugen a.a.O, S. 12-13. 43 Der ER von Luxemburg spricht von einer „ausführlichen Prüfung des Besitzstandes der Union für jeden ein- zelnen Bewerberstaat”, Bull. EG 12-1977, Ziff. 1.5.13, Einzelheiten G. Verheugen, a.a.O, S. 28. 44 Bulletin EG 12-1997, Ziff. 1.5.13-27; vgl. auch G. Verheugen, a.a.O, S. 22. 45 Verheugen spricht von der „Wegskizze“ (roadmap) der Kommission, a.a.O. 46 G. Verheugen, a.a.O. 47 In Bezug auf Zypern lag bereits 1993 der erste Bericht der Kommission, Bull. EG 1993, Beilage 5/93. 48 S. z.B. die überwiegend positive Berichte über Zypern für die Jahre 1998-2000, in: http://europa.eu.int/comm/ enlargement/report_11_98/pdf/de/cyprus_de.pdf, http://europa.eu.int/comm/enlargement/report_10_99/pdf/ de/cyprus_de.pdf, http://europa.eu.int/comm/enlargement/report_11_00/pdf/de/cyprus_de.pdf, http:// europa.eu.int/comm/enlargement/report2001/cy_de.pdf, http://europa.eu.int/comm/enlargement/report2002/ cy_de.pdf.

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Im Juni 1999 empfahl die Kommission die Einleitung von Beitrittsverhandlungen mit weite- ren sechs Kandidatenstaaten, nämlich Malta, Lettland, Litauen und der Slowakischen Repu- blik sowie, unter bestimmten Voraussetzungen, mit Bulgarien und Rumänien49. Der Euro- päische Rat von Helsinki vom Dezember 1999 beschloss diese Einleitung50. Die Beitrittsver- handlungen mit diesen Ländern wurden offiziell am 15. Februar 2000 eröffnet51. Darüberhinaus hat die Kommission Mitte des Jahres 2000 einen Mechanismus zur Überwa- chung der Verhandlungen eingeführt. Damit sollte verifiziert werden, inwieweit Bewerber- staaten die während der Verhandlungen gemachten Zusagen einhalten und in welchen Ge- bieten eventuell Verzögerungen bei der Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes eintreten52. Der Europäische Rat von Nizza (Dezember 2000) stellte nach Vorschlag der Kommission die Erweiterungsstrategie fest. So sollte u.a. die Union spätestens bis Juni 2002 mit den am weitesten fortgeschrittenen Bewerberstaaten in Verhandlungen über alle geforderten Über- gangsmaßnahmen und andere offene Fragen eintreten, so dass die Verhandlungen mit jenen Bewerbestaaten im Laufe des Jahres 2002 abgeschlossen werden, welche die Mitglied- schaftskriterien erfüllen. Die Türkei erfüllt noch nicht alle Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen53. Ende 2002 wurden die Verhandlungen mit den vorgenannten 10 Bewerberstaaten abge- schlossen. Am 16. April 2003 wurde der Beitrittsvertrag in Athen unterzeichnet. Er wurde von allen Signatarstaaten entsprechend ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften rechtszei- tig ratifiziert, so dass auch die neuen Mitgliedstaaten an den Wahlen für ein neues Europäi- sches Parlament im Mai 2004 teilnehmen konnten.

V. Spezifische gemeinschaftsrechtliche Fragen des Beitritts der Republik Zypern

Der Beitritt der Republik Zypern hat spezifische gemeinschaftsrechtliche Fragen aufgewor- fen. Diese hängen mit dem sog. politischen Problem der Inselrepublik zusammen. Letzteres besteht einerseits darin, dass der Norden der Insel (etwa 37% der Fläche) seit 1974 von der Türkei besetzt gehalten wird und andererseits in der Tatsache, dass seit 1964 nach einer bür- gerkriegsähnlichen Situation die zwei Gemeinden der Insel getrennt voneinander leben. Eine politische Vereinbarung zwischen den Führern der beiden Gemeinden Ende der siebziger Jahre über die Beibehaltung der Republik Zypern in Form einer Föderation von zwei Gebie- ten und zwei Gemeinschaften ist trotz bikommunaler Gespräche unter der Ägide der UNO nie umgesetzt worden. Auch der im November 2002 von UN-Generalsekretär Kofi Annan vorgelegte Plan führte bisher nicht zur Einigung. Die türkisch-zypriotische politische For- mation, die sich infolge der Nichteinigung im Norden der Insel im Zusammenhang mit der militärischen Präsenz der Türkei gebildet hat, wird von der Internationalen Gemeinschaft (mit einziger Ausnahme der Türkei) rechtlich nicht anerkannt. Als alleinige legale Regie- rung für die gesamte Republik wird die Regierung in Nicosia unter griechisch-zypriotischer

49 G. Verheugen, a.a.O, S. 9. 50 Bulletin EG, 12-1999, Ziff. 1.3.10. 51 G. Verheugen, a.a.O, S. 25. 52 G. Verheugen, a.a.O, S. 25. 53 G. Verheugen, a.a.O, S. 21; Die Türkei konnte lediglich an der ebenfalls in Nizza stattgefundenen Europakon- ferenz teilnehmen.

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Führung anerkannt. Trotzdem bleibt Tatsache, dass die Insel getrennt ist. Damit stellen sich eine Reihe von Fragen rechtlicher Natur aus der Sicht des Völker- und des Gemeinschafts- rechts in Verbindung mit dem Beitritt. Zunächst stand aus der Sicht des Völkerrechts aufgrund der Tatsache, dass alle Mitgliedstaa- ten einen einzigen zypriotischen Staat, die Republik Zypern, anerkennen, fest, dass auch die Europäische Union diesen einen zypriotischen Staat anerkennt, der somit als Ganzes der Union beitreten würde, sollte die politische Entscheidung dafür von Seiten der EU gefallen sein. Letzteres ist spätestens mit dem Beschluss des ER von Luxemburg vom Dezember 1997 über die Einleitung der Beitrittsverhandlungen mit Zypern (und fünf weiteren Staaten)54 geschehen. Parallel dazu regte die Union immer wieder bei den involvierten Parteien an, Gespräche zur Lösung der Zypern-Frage zu führen. So heißt es bezeichnenderweise im den Schlussfolge- rungen des Vorsitzes des ER von Madrid vom Dezember 1995: „Der ER spricht sich erneut dafür aus, dass substanzielle Anstrengungen unternommen werden, damit im Einklang mit den Entschließungen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen eine gerechte und tragfähi- ge Lösung der Zypern-Frage gefunden wird, die auf eine Föderation von zwei Gebieten und zwei Gemeinschaften basiert”55. Hier hatte sich für die Union die Frage gestellt, ob die Lö- sung des internen politischen Problems zu einer Vorbedingung für den Beitritt gemacht wer- den sollte. Die Union entschied negativ. Besondere Bedeutung kommt diesbezüglich dem ER von Helsinki vom Dezember 1999 zu. In Bezug auf den Beitritt Zyperns heißt es: „Der ER betont, dass eine politische Lösung (der Zypern-Frage) den Beitritt Zyperns zur EU erleich- tern wird. Sollte bis zum Abschluss der Beitrittsverhandlungen keine Lösung erreicht wer- den, so wird der Rat über die Frage des Beitritts beschließen, ohne dass die vorgenannte politische Lösung eine Vorbedingung darstellt. Dabei wird der Rat alle maßgeblichen Fakto- ren berücksichtigen”56. Dieser Entscheidung liegt ganz offensichtlich die Überzeugung zu- grunde, mit ihr zu einer Lösung der Zypern-Frage entscheidend beitragen zu können. Im Rahmen dieser politischen Weichenstellung entschied die EU dann, die Republik Zypern bei der ersten Etappe der Erweiterung miteinzubeziehen. Die Republik wurde Signatarstaat (zusammen mit den übrigen neuen Beitrittsstaaten) des Beitrittsabkommens von Athen, das am 16. April 2003 unterzeichnet wurde. Parallel dazu forderte die Union die betroffenen Parteien des Zypernkonflikts auf, ihre Gespräche zu intensivieren, damit eine Lösung der Zypern-Frage möglichst bis zum 1. Mai 2004 (Inkrafttreten des Beitrittsvertrages) erreicht wird. So heißt es in den Schlussfolgerungen des (italienischen) Vorsitzes des ER von Brüssel vom Dezember 2003: „Der ER bekräftigt, dass er den Beitritt eines wiedervereinten Zyperns zur Union am 1.5.2004 vorziehen würde, damit alle Zyprer in den Genuss einer sicheren und vom Wohlstand geprägten Zukunft sowie die Vorteile des EU-Beitritts gelangen. Zu diesem Zweck appelliert er an alle betroffenen Parteien, insbesondere an die Türkei und die tür- kisch-zypriotische Führung, die Bemühungen des UN-Generalsekretärs nachdrücklich zu unterstützen57”. Gleichzeitig erklärt der ER seine Bereitschaft, im Anschluss an eine Rege- lung der Zypern-Frage Finanzhilfe für die Entwicklung des nördlichen Teils von Zypern zu gewähren58.

54 S. oben IV, 1. 55 Bull. EG 12-1995, Ziff. 1.34. 56 Bull. EG 12-1999, Ziff. 1.3.9,b). 57 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des ER von Brüssel von Dezember 2003, IV („Zypern“). 58 A.a.O.

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Vom selben Geist sind auch die Schlussfolgerungen des (irischen) Vorsitzes des ER von Brüssel vom März 2004 getragen59. Da zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrages die Lösung der Zypern-Frage noch nicht erreicht war, hatte die EU das Problem der Anwendung des Gemeinschaftsrechts (Besitzstandes) im Norden der Insel nach dem Inkrafttreten des Vertrages (1.5.2004) zu lö- sen. Das „Protokoll Nr. 10 über Zypern”, das dem Beitrittsvertrag angefügt ist, bestimmt, dass die Anwendung des Besitzstandes in den Teilen der Republik Zypern ausgesetzt wird, in denen die Regierung der Republik Zypern keine tatsächliche Kontrolle ausübt (Art. 1 Abs. 1), wobei andererseits vorgesehen ist, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission über die Aufhebung der Aussetzung entscheidet (Art. 1 Abs. 2). Da der Türkei bei der Lösung des Zypernproblems eine Schlüsselrolle zukommt, wird in den Schlussfolgerungen des (italieni- schen) Vorsitzes des ER von Brüssel vom Dezember 2003 die besondere Bedeutung der Bekundung des politischen Willens zur Lösung der Zypern-Frage durch die Türkei betont. Ein solcher Beitrag der Türkei werde von der EU weiter als sehr förderlich für deren eigene Beitrittsbestrebungen angesehen60. Da beim Inkrafttreten des Beitrittsvertrages die Zypern-Frage nicht gelöst werden konnte (Scheitern der Verhandlungen von Luzern vom 24. bis 29. März 2004 zwischen den beiden Gemeinden der Insel in Bezug auf den Anan-Plan, Ablehnung dieses Planes durch die grie- chisch-zypriotische Gemeinde beim Referendum vom 24. April 2004), musste der Rat die VO 866/2004 vom 29.4.2004 „über eine Regelung nach Art. 2 des Protokolls Nr. 10 zur Bei- trittsakte“ erlassen61. Durch diese VO werden der freie Personen-, Waren- und Dienstleis- tungsverkehr über die sog. „grüne Demarkationslinie“ geregelt. Sie ist charakterisiert einer- seits durch die Anerkennung der zypriotischen Regierung als der einzigen legalen Regierung der Republik und andererseits durch Maßnahmen zur Förderung des nördlichen Teils der Insel62.

59 Schlussfolgerungen des (irischen) Vorsitzes des ER von Brüssel vom März 2004, IV. Zypern (Ziff. 49, 50). 60 A.a.O., III, „Türkei“ 61 Abl. L 161 vom 30.4.2004, S. 128 f. 62 Einzelheiten über den Inhalt der VO, Constantin Iliopoulos, Die Erweiterung der EU nach Osten und Süden (griechisch), Helleniki Epitheorisis Evropaikou Dikaiou (Revue Hellénique de Droit Européen), 2004, S. 267 f., 293 f.

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REZENSIONEN

Gert Nicolaysen, Europarecht I, Die Europäische Integrationsverfassung, 2. Aufl., No- mos Verlagsgesellschaft Baden-Baden 2002, 504 Seiten.

Das Lehrbuch zum Europarecht von Gert Nicolaysen gehört zu den Standardwerken dieses Rechtsgebietes. Sein wachsender Umfang spiegelt die enorme Entwicklung wider, welche sich in den letzten Jahren im Primär- und Sekundärrecht vollzogen hat. Konnte Nicolaysen 1979 das gesamte Europarecht noch auf gut 200 Seiten darstellen, so musste er in den 1990er Jahren sein Werk in zwei Bände teilen. Der erste Band liegt in nunmehr 2. Auflage vor und umfasst mit Anhängen 504 Seiten. Sein Gegenstand wird im Untertitel mit „Die Europäi- sche Integrationsverfassung“ treffend umschrieben. Es geht um die historischen und rechtli- chen Grundlagen des europäischen Integrationsprozesses, die tragenden Elemente der euro- päischen Rechtsgemeinschaft, die Institutionen, die Rechtsetzung und den Rechtsschutz. Das Wirtschaftsrecht ist Gegenstand von „Europarecht II“ (1996). Die stetig wachsende Bedeutung des Europarechts wird aber nicht nur an der Menge des Rechtsstoffes deutlich. Der interessierte Leser kann mittlerweile zwischen einer Vielzahl von Einführungen, Lehr- und Handbüchern unterschiedlichen Zuschnitts und auswählen. Insofern hat sich das Umfeld des Werkes von Nicolaysen entscheidend verändert, soll hei- ßen, der Wettbewerb um den Leser ist intensiver geworden. Um es vorweg zu sagen: In die- sem Wettbewerb nimmt „der Nicolaysen“ aufgrund seiner inhaltlichen Qualität und konzep- tionellen Ausrichtung eine herausragende Stellung ein. Gert Nicolaysen ist, wie auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, ein konse- quenter Verfechter einer autonomen Konzeption des Gemeinschaftsrechts. Dabei steht die von ihm weiter ausgearbeitete Gesamtakttheorie seines Lehrers Ipsen im Mittelpunkt. Die Zustimmung der Mitgliedstaaten zu den Gründungsverträgen war danach ein konstitutiver Akt der Neuschöpfung eines Hoheitsträgers, welcher kraft eigener Hoheitsgewalt die Mit- gliedstaaten und Einzelne berechtigen und verpflichten kann. Die Zustimmungsgesetze sind deshalb weder Transformation des EG-Rechts noch Anwendungsbefehl für den innerstaatli- chen Raum. Europarecht ist aus sich selbst heraus wirksam. Die Kontrolle des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts kann daher ausschließlich am Maßstab der Verträge stattfinden. An- dernfalls wären, wie Nicolaysen mit dem Gerichtshof anmahnt, die Einheit des europäischen Rechts und damit die Funktionsfähigkeit der EU insgesamt in Frage gestellt. Von diesem Ausgangspunkt aus entwickelt Nicolaysen in 14 Abschnitten ein in sich stimmi- ges Konzept der europäischen Integrationsverfassung. In § 1 werden die Motive und die Entwicklung der Gemeinschaften einschließlich ihrer jeweiligen Besonderheiten prägnant umrissen. Die Europäische Union wird in § 2 dargestellt, insbesondere die zweite (GASP) und dritte Säule (Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen). Auch die Fra- ge nach einer europäischen Verfassung, deren Existenz Nicolaysen bereits für die bestehen- de Rechtsordnung bejaht, wird in diesem Abschnitt überzeugend abgehandelt. In § 3, dem gedanklichen Herzstück des Buches, erläutert Nicolaysen sein Verständnis von Supranatio- nalität, also insbesondere Grundlagen und Grenzen der unmittelbaren Geltung und des Vor- rangs des Gemeinschaftsrechts sowie die tragenden Strukturprinzipien der EU. In einem gesonderten Teil (§ 4 ) werden die Grundrechte abgehandelt, gefolgt von einer Analyse des Verhältnisses zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten (§ 5). Dazu gehört auch die Frage, ob die Mitgliedstaaten noch die viel zitierten „Herren der Verträge“ sind. Für die Antwort sei der Leser auf die Lektüre des Buches verwiesen. In den drei folgenden Ab-

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schnitten geht es dann um die Institutionen (§ 6), Haushalt und Finanzen (§ 7) sowie die Rechtsetzung (§§ 8 u. 9) und die Rechtsakte der Gemeinschaft (§ 10). Schließlich nimmt der Rechtsschutz breiten Raum ein (§§ 11 – 14), was seiner Bedeutung für die Entwicklung des Integrationsprozesses entspricht.

Insgesamt handelt es sich um ein Buch, welches in prägnanter und dichter Sprache ein faszi- nierendes Konzept des europäischen Rechts vor dem Leser ausbreitet. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs bildet, unterstützt von in- und ausländischer Literatur, die Grundlage der jeweiligen Sachkapitel. Umfangreiche Literaturnachweise zu Beginn der Abschnitte bieten reichlich Material zur weiteren Vertiefung. Ein Sachverzeichnis erleichtert die gezielte Su- che nach Antworten auf bestimmte Fragen. Allerdings handelt es sich nicht um ein Buch aus der Reihe „Europarecht leichtgemacht“. Damit kein Missverständnis entsteht: Das Werk ist klar und ausgezeichnet verständlich geschrieben, es verlangt indes eine aktive Bemühung des Lesers, sich den Funktionsbedingungen und –grenzen einer Integrationsordnung zu öff- nen, deren Rechtsnormen in 25 Mitgliedstaaten gleichmäßig angewendet werden sollen. In- sofern wendet es sich an Leser, die nicht nur zuverlässig über das positive Recht informiert werden wollen, sondern „europarechtliches Denken“ anstreben. Aber auch der europarecht- lich vorgebildete Leser wird von der Lektüre dieses sehr eigenständigen Werkes profitieren. Für Studierende hat das Buch nur den Nachteil eines relativ hohen Preises. Dennoch lohnt sich die Anschaffung für jeden, der die europäische Integrationsverfassung wirklich verste- hen will.

Armin Hatje, Bielefeld

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Axel Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht. „Kon- vergenz” des Gemeinschaftsrechts und „Kohärenz” in der Rechtsprechung des EuGH (= Rechtsordnung und Steuerwesen, 29), Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln 2002, 1170 S.

Das Verhältnis des europäischen Gemeinschaftsrechts zur Besteuerung in den Mitgliedstaa- ten gehört zu den brisantesten und zugleich schwierigsten Diskussionsfeldern des Gemein- schaftsrechts. Um verlässliche Aussagen treffen zu können sind neben fundierten europa- rechtlichen Kenntnissen Erfahrungen nicht nur mit dem deutschen Steuerrecht, sondern auch mit Steuerrechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten unerlässlich. Diese kaum zu über- schätzende Hürde meistert die vorzustellende herausragende und mehrfach preisgekrönte Arbeit von Cordewener vollumfänglich. Während der primärrechtliche Abschnitt über die steuerlichen Vorschriften (Art. 90 ff. EG) sich nur auf die indirekten Steuern bezieht, enthält der Vertrag über die in der Praxis bedeut- sameren direkten Steuern nur negative ausdrückliche Erwähnungen, so insbesondere, wenn Art. 95 Abs. 2 EG das vereinfachte Rechtsangleichungsverfahren für den Binnenmarkt für Steuern ausschließt und damit auf dem Einstimmigkeitsprinzip beharrt. Die auf diese Weise zustandegekommenen Sekundärrechtsakte (die sog. Mutter-Tochter-Richtlinie, die sog. Fu- sionsrichtlinie, die Amtshilferichtlinie und das Schiedsübereinkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen) halten sich in ihrer praktischen Bedeutung in Grenzen. Die Bemühungen um eine Harmonisierung der Zinsbesteuerung und der Unternehmensbesteuerung kommen nicht von der Stelle. Die fortbestehenden Souverä- nitätsansprüche der Mitgliedstaaten schlagen sich hier nieder (vgl. den ersten Teil, S. 4 - 14 der Arbeit). Stattdessen gewinnen Regelungskomplexe des allgemeinen, nicht steuerspezifi- schen Gemeinschaftsrechts wie das Beihilfenregime und insbesondere die unmittelbar an- wendbaren Grundfreiheiten entscheidende Bedeutung für die nationalen direkten Steuern, deren Bedeutung für den Gemeinsamen Markt – wie der Verfasser ausführt – lange Zeit un- terschätzt wurde (S. 18). Dieser Prozess habe inzwischen eine „atemberaubende Geschwin- digkeit“ erlangt und führe nun auch im Steuerrecht dazu, „verkrustete Strukturen“ aufzubre- chen (zusammenfassend S. 982). Wichtige Judikate des Europäischen Gerichtshofs – etwa zur Arbeitnehmerfreizügigkeit – haben hier auch die deutsche Steuerrechtsordnung bereits nachhaltig beeinflusst und tragen zur „stillen Harmonisierung“ (S. 25) bei. Am bekanntes- ten ist die direkte Umsetzung der Entscheidung in der Rechtssache „Schumacker“ vom 14. Februar 1995 in dem seinerzeit neu eingefügten § 1 Abs. 3 EStG. Vor diesem Hintergrund sucht Cordewener eine umfassende Analyse des Spannungsfeldes zwischen europarechtlichen Grundfreiheiten und mitgliedstaatlichem Steuerrecht zu liefern. Umfassend in einem doppelten Sinn: Anders als in manchen anderen einschlägigen Arbeiten will der Verfasser zunächst eine allgemeine, d.h. von steuerlichen Fragen losgelöste Dogma- tik der Grundfreiheiten entwickeln (zweiter Teil der Arbeit: S. 39 - 375), um anschließend von diesem „System“ aus die steuerlichen Fragen bewerten zu können. Die Analyse kreist hier insbesondere um die beiden Dimensionen der Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und als Beschränkungsverbote. Cordeweners Analyse ist zum anderen auch deshalb umfas- send, da er – für deutsche europarechtliche Arbeiten immer noch nicht selbstverständlich – konsequent und flächendeckend ausländische Literatur einbezieht, um so schon im Ansatz die Gefahr einer deutschen europarechtlichen Sonderdogmatik zu vermeiden. Dieses Vorge- hen ermöglicht zugleich eine eingehende Analyse der einschlägigen steuerbezogenen Judika- te des Gerichtshofs, denn nur die Darstellung der angegriffenen Regelungen in ihrem jewei- ligen mitgliedstaatlich-systematischen Zusammenhang verspricht ein tieferreichendes Ver-

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ständnis dieser themenbezogenen Rechtsprechungslinie. Erst durch die Einbeziehung der jeweiligen nationalen steuerrechtlichen Diskussion können die auch hier in ihrer Begründung zumeist äußerst knapp gehaltenen Judikate wirklich eingeordnet und verstanden werden. Der dritte Teil (S. 377 - 974) bildet – nicht nur seinem Umfang nach – das Herzstück des Werkes. Er bietet die zur Zeit ausführlichste, genaueste und tiefdringendste Analyse der ein- schlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu dem Verhältnis von Grund- freiheiten und Besteuerung. Der Verfasser stellt zunächst Grobstrukturen nationaler Steuer- systeme dar (S. 377 - 384); die Teilelemente des materiellen Steueranspruchs (Steuersubjekt, Steuerobjekt, Steuertarif) dienen dann als systematisierungsleitende Ansatzpunkte für das Einwirken der Grundfreiheiten. Der Umfang einer Rezension verbietet es, hier auf Einzel- heiten einzugehen. Die schlagwortartige Bezeichnung wichtiger Judikate möge genügen: Als „erste Generation“ werden u.a. die Entscheidungen „avoir fiscal“, „Daily Mail“ und „Commerzbank“ zur Besteuerung von Gesellschaften sowie „Biehl“, „Bachmann“ und „Werner“ zur Besteuerung natürlicher Personen ausgewertet. Der Verfasser konstatiert, dass diese zunächst wenig beachteten Urteile verdeutlichten, dass es – vor der Klarstellung durch Art. 58 Abs. 1 lit. a EG – keine Bereichsausnahme für die direkten Steuern hinsichtlich des primären Gemeinschaftsrechts gebe. Eine inhaltliche Systematisierung ergibt in Anlehnung an die allgemeine Dogmatik der Grundfreiheiten zwei große Fallgruppen: Die Beeinträchti- gung von Steuerinländern in ihrer grenzüberschreitenden Wirtschaftstätigkeit im Ausland (sog. Wegzugs- oder Exportsituationen; „outbound“-Investitionen) sowie die Beeinträchti- gung von Steuerausländern in ihren wirtschaftlichen Aktivitäten im Inland (sog. Zuzugs- oder Importsituationen; „inbound“-Investitionen). Die „zweite Generation“ der einschlägi- gen Judikate verfeinerte die zuvor genannten Entscheidungen und sorgte nun auch für ein entsprechendes juristisches Fachinteresse: Die Urteile „Schumacker“, „Wielockx“, „As- scher“, „Futura“, „ICI“, „Safir“, „Gilly“, „Royal Bank of Scotland“, „Baxter“, „Gschwind“, „Saint Gobain“, „Eurowings“, „Vestergaard“, „Baars“, „Zurstrassen“, „Verkooijen“, „AMID“ und „Metallgesellschaft“ sind hier nur als die wichtigsten zu erwähnen. Die Grundfreiheiten weisen auch in ihrer Anwendung auf Besteuerungssachverhalte gleichheits- und (subsidiäre) freiheitsrechtliche Gehalte auf. Die „strukturelle Konvergenz“ der Grundfreiheiten kann laut Verfasser auch im steuerlichen Bereich nicht durch eine Überbetonung ihrer Dimension als Beschränkungsverbote beschrieben werden; grenzüberschreitende steuerliche Sachverhalte, da es zumeist um die unterschiedliche Behandlung von Inlands- und Auslandssachverhalten gehe, seien auch vor den Grundfreiheiten nach wie vor eher gleichheitsrechtsrelevant. Da es keine quantitative Unbeachtlichkeitsschwelle für steuerliche Sachverhalte vor den Grund- freiheiten gebe, seien nicht nur die Europarechtskonformität der Steueransprüche als solcher, sondern auch verfahrensrechtliche Aspekte zu gewährleisten. Das bedeute zugleich, dass jede einzelne Verästelung jedes mitgliedstaatlichen Steuersystems unter diesen Auspizien in das Blickfeld der europäischen Gerichtsbarkeit gelangen könne. Die im nationalen Steuer- recht gängige Rechtfertigungsfigur der Notwendigkeit der Typisierung werde vom eher auf Einzelfallgerechtigkeit programmierten EuGH kaum anerkannt. Insbesondere die jeweiligen nationalen Regelungen zur beschränkten Steuerpflicht nichtgebietsansässiger Personen ge- rieten so unter gemeinschaftsrechtlichen Reformdruck. Die zentralen Erkenntnisse der Ar- beit liegen auf der Ebene der Rechtfertigung festgestellter tatbestandlicher Verstöße gegen Grundfreiheiten durch Steuerrechtsnormen oder durch Besteuerungsvorgänge. Die inzwi- schen in Art. 58 Abs. 1 lit. b EG positivierten Rechtfertigungsgründe seien unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips verallgemeinerungsfähig. Vor allem der schillernde Be- griff der „Kohärenz“ der überprüften nationalen Steuerrechtsordnung als Rechtfertigungs-

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grund, wie er erstmals in der „Bachmann“-Entscheidung von 1992 zum Tragen kam, bedür- fe für den Bereich des materiellen Steuerrechts näherer Ausformung: Grundgedanke der Kohärenzrechtsprechung sei es, „die innerhalb eines spezifischen nationalen Regelungszu- sammenhangs bestehende Lastengleichheit und Systemgerechtigkeit davor zu bewahren, dass grenzüberschreitend tätige Marktteilnehmer sie durch einseitige Vorteilserlangung zu Lasten des innerstaatlichen Wirtschaftsverkehrs stören und damit auf dessen Kosten vom ‚free mover‘ zum ‚free rider‘ werden“ (zusammenfassend S. 980 f.). Die Steuervor- und Steuernachteile in ihrer Gesamtheit müssten daher bei inner- und bei zwischenstaatlichen Sachverhalten vergleichbar sein. Dadurch würde zugleich systemimmanent Rücksicht ge- nommen auf innerstaatliche Regelungskomplexe; die Gefahr jeder Grundfreiheitenjudikatur, durch Einzeleinwirkungen nationale Regelungssysteme zu zerstören, zumindest jedoch aus dem Gleichgewicht zu bringen, könne so wirksam gesteuert werden. Der so entfaltete Kohä- renzgrundsatz gelte grundsätzlich für alle einschlägigen Grundfreiheiten. In seiner Einbin- dung in den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei der Kohärenz-Topos in der Lage, sich „zu einem beachtenswerten nationalen Gegengewicht zu den gemeinschaftsrechtlich fun- dierten Positionen der einzelnen Marktteilnehmer“ zu entwickeln. Damit ist das Zentralpro- blem jeglicher „negativer“ oder „stiller Harmonisierung“ berührt: Die Frage, ob sich so ge- meinschaftsweit ein stimmiges Gesamtsystem entwickeln lässt. Zu Recht weist der Verfasser abschließend darauf hin, dass die Mitgliedstaaten ihre mitgliedstaatlichen Steuersysteme nur werden „retten“ können, sofern sie mit den Gemeinschaftsorganen kooperieren werden. Das bedeutet, dass europarechtliche Problemfelder schon bei der nationalen Steuerrechtsetzung verstärkt zu antizipieren sind. Diese hier nur schlagwortartig zusammengefassten Ergebnisse entwickelt Cordewener in kaum noch zu überbietender Gründlichkeit und – sowohl steuer- als auch gemeinschafts- rechtlicher – Gelehrsamkeit. Der für eine Dissertation ungewöhnliche Umfang des Buches rechtfertigt sich nicht zuletzt aus seinem – hier positiv zu bewertenden – Bemühen um Voll- ständigkeit, um so zugleich als Nachschlagekompendium für die einzelnen Sachprobleme dienen zu können. Die Stärke der Analyse liegt darin, dass einerseits für jedes dargestellte Judikat die Rückbindung an die systemimmanenten Probleme der jeweiligen nationalen Steuerrechtsordnung herausgearbeitet werden, andererseits die, die einzelnen Entscheidun- gen verbindenden, Leitlinien verdeutlicht oder entwickelt werden. „Konvergenz“ der Grund- freiheiten und „Kohärenz“ der mitgliedstaatlichen Steuersysteme erweisen sich so wahrhaft als die Koordinaten des Brückenschlags zwischen Steuer- und Gemeinschaftsrecht.

Christian Waldhoff, Bonn

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Martin Selmayr, Das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion, Erster Band: Die Ver- gemeinschaftung der Währung, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2002, Schriften- reihe Europäisches Recht, Politik und Wirtschaft, Band 276, XX und 486 S.

Selmayrs auf zwei Bände angelegtes Werk (der zweite Band war für Frühjahr 2003 ange- kündigt, lässt aber jedenfalls im Sommer 2004 noch auf sich warten) zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) beeindruckt. Immerhin hat schon der erste Band rund 450 Textseiten. Imponierend ist aber nicht zuerst der stattliche Umfang des Buches, sondern vor allem der Inhalt. Der Verfasser hat sich im Rahmen seiner Tätigkeiten an der Universität Passau und bei der EZB sowie durch ein Praktikum beim Internationalen Wäh- rungsfonds (IWF) intensiv mit Theorie und Praxis der Währungsunion beschäftigt. Er be- herrscht den Stoff souverän und stellt ihn gut verständlich und trotz einiger Längen auch interessant dar. Selmayr holt weit aus. Im ersten Kapitel geht er auf knapp 20 Seiten auf den Ursprung der Währung im staatlichen Recht ein. Das 2. Kapitel ist überschrieben mit „Staatliche Wäh- rungshoheit und Völkerrecht“. Hier erläutert der Verfasser die Bedeutung des Wechselkur- ses und konstatiert im völkerrechtlichen Bereich eine Pflicht zur Anerkennung fremden Währungsrechts. Anschließend untersucht er mögliche völkerrechtliche Grenzen der staatli- chen Währungshoheit und schildert die Rückkehr zu jedenfalls aus rechtlicher Sicht weitge- hend uneingeschränkter Handlungsfreiheit der Staaten nach dem Scheitern des Fixkurssys- tems im Rahmen des IWF. Erst im dritten Kapitel gelangt Selmayr zum eigentlichen Thema, der Vergemeinschaftung der Wirtschafts- und Währungspolitik in der EG. Aber auch hier muss sich der Leser erst noch einmal etwa 40 Seiten lang gedulden und mit den Besonderheiten der supranationalen Gemeinschaftsrechtsordnung beschäftigen. Einen gewissen Hang zur Länge kann man dem Verfasser daher durchaus bescheinigen. Allerdings erweist sich dieser erste Paragraph des 3. Kapitels als Grundlegung für spätere Folgerungen im Zusammenhang mit der Währungs- union und stellt daher keinen verzichtbaren Exkurs dar. Die nächsten 80 Seiten dienen dann der Schilderung der Entwicklung der währungs- und wirtschaftspolitischen Integration bis zum Vertrag von Maastricht. Damit kommt Selmayr zum geltenden Recht, sieht man einmal von den wenigen Änderun- gen durch den Vertrag von Nizza ab. Dennoch behandeln auch die Kapitel 4, 5 und 6 über- wiegend Vergangenes, denn sie analysieren - wie es der Untertitel des Buches bereits andeu- tet - den Weg zur Vergemeinschaftung der Währung. Allerdings handelt es sich deshalb nicht um eine rein rechtsgeschichtliche Arbeit; denn vieles behält seine Bedeutung, solange nicht alle Mitgliedstaaten den Euro eingeführt haben. Das 4. Kapitel befasst sich mit den Terminvorgaben des EG-Vertrags für den Beginn der drei Stufen der WWU. Die erste begann am 1.7.1990, die zweite am 1.1.1994. Am 1.1.1999 trat die Gemeinschaft dann in die Endstufe ein: 11 Mitgliedstaaten führten den Euro als gemeinsa- me und einheitliche Währung ein. Durch Übertragung der allgemeinen Überlegungen im § 1 des 3. Kapitels kommt Selmayr hier zu recht weitgehenden Folgerungen. So hält er die seit dem 1.1.1994 geltenden Verbote der Art. 101-103 EGV für individuell einklagbar (S. 232 ff.). Auch Verstöße gegen Art. 108 EGV, der die Unabhängigkeit der Europäischen Zentral- bank (EZB) und der nationalen Zentralbanken garantiert, sollen durch einzelne Bürger vor Gericht gebracht werden können. Und selbst die gemeinschaftsrechtliche Haushaltsdisziplin des Art. 104 EGV soll zumindest dann einklagbare Rechte für Private vermitteln, wenn der Rat das Bestehen eines übermäßigen Defizits förmlich festgestellt hat (S. 255). Erst künftige

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Entscheidungen des EuGH und der nationalen Gerichte könnten Klarheit darüber bringen, ob Selmayr mit seinen aus meiner Sicht zu weitgehenden Ableitungen Recht hat oder nicht. Nicht folgen kann ich der Einschätzung, dass die dritte Stufe der Währungsunion am 1.1.1999 automatisch beginnen musste, egal ob überhaupt ein Mitgliedstaat die Vorausset- zungen für die Einführung der einheitlichen Währung erfüllte oder nicht (S. 244). Auf der Basis von Art. 121 Abs. 4 EGV ist diese Auffassung aber natürlich gut vertretbar. Das gilt m. E. allerdings nicht mehr für die Meinung, der Euro hätte in einer solchen Situation 1999 als Parallelwährung zu den nationalen Währungen in Umlauf gebracht werden können (S. 246 Fn. 1001). Art. 123 Abs. 4 EGV ließ es nämlich nicht zu, den Euro entstehen zu lassen, so- lange es keine Mitgliedstaaten gab, die die Hürden zu dessen Einführung überwunden hat- ten. Im 5. Kapitel behandelt Selmayr die Auswahl der Teilnehmerstaaten. Er folgt hier der Ten- denz der Praxis, die Konvergenzkriterien des Art. 121 Abs. 1 EGV eher als Anhaltspunkte denn als verbindliche Vorgaben zu verstehen. Er lehnt auch eine Gleichsetzung der „notwen- digen Voraussetzungen“ (Art. 121 Abs. 2 und 3 EGV) mit diesen Kriterien ab (S. 276). Ge- rade die gemeinsame Erwähnung in Art. 122 Abs. 2 Satz 2 EGV, auf die auch Selmayr hin- weist (S. 280), legt das gegenteilige Verständnis aber aus meiner Sicht nahe. Im Zusammen- hang mit Überlegungen zur Rolle der Kommission in diesem Verfahren und im Rahmen der WWU überhaupt überzeugt mich der Hinweis nicht, aus der Systematik des EG-Vertrags ergäbe sich, dass im Hinblick auf die WWU nicht allein der Kommission, sondern ebenso der EZB Rechtsaufsichtsbefugnisse zustünden (S. 283 f.). Denn zum einen erscheint zwei- felhaft, ob es sich bei der Erstellung von Konvergenzberichten und der Wahrnehmung von Anhörungsrechten überhaupt um ein rechtsaufsichtliches Tätigwerden der EZB handelt. Und zum anderen ergeben sich die Kompetenzen der EZB nicht aus der Systematik des Vertrags, sondern aus einzelnen seiner Bestimmungen. Ausführlich beschäftigt sich der Verfasser im weiteren Verlauf dieses Kapitels mit der Aus- legung und der tatsächlichen Anwendung der Vorgaben für die rechtliche und die ökonomi- sche Konvergenz. Im Ergebnis kommt er zu der Auffassung, dass die bisherigen Entschei- dungen des Rates vom 3.5.1998 und vom 19.6.2000 (Griechenland) rechtmäßig ergingen. Das entspricht der ganz überwiegenden Ansicht und ist sicher gut vertretbar, aber eher zu großzü- gig. Wenn der Rat die Einführung des Euro auch in einem Mitgliedstaat zulassen dürfte, der nicht alle Konvergenzkriterien erfüllt (so Selmayr, S. 397), dann könnte eine solche Ent- scheidung mit dem im Währungsbereich vorrangigen Ziel der Preisstabilität kollidieren. Erwähnenswert erscheint mir aus dem fünften Kapitel noch der Versuch, die beiden auf der Grundlage von Art. 104 Abs. 14 UAbs. 2 EGV erlassenen Ratsverordnungen des Stabilitäts- pakts von 1997 dem Primärrecht zuzurechnen (S. 358). Man kann durchaus darüber streiten, ob der EG-Vertrag den Rat ermächtigt, das Protokoll über das Verfahren bei einem übermä- ßigen Defizit durch neues Primärrecht oder nur durch Sekundärrecht zu ersetzen. Dass aber selbst dann Primärrecht entstehen können soll, wenn der Rat das Protokoll nicht ersetzt, son- dern durch Verordnungen ergänzt, überschreitet das aus meiner Sicht Vertretbare. Das sechste und letzte Kapitel schildert schließlich die Einführung des Euro als Währung und auch als Bargeld. Selmayr beurteilt hier die Maßnahmen zur Ersetzung der Bezeich- nung ECU durch den Namen Euro sehr kritisch, aber letztlich als bestandskräftig. Besonde- re Aufmerksamkeit verdienen auch die ausführlichen Bemerkungen zum noch nicht ange- messenen strafrechtlichen Schutz der Euro-Geldzeichen. Eine relativ kurze Schlussbetrach- tung fasst dann die Ergebnisse dieses Bandes knapp zusammen.

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Das Werk von Selmayr setzt Maßstäbe. Das allerdings eher als Hand- oder Lehrbuch zur Entstehung der WWU, weniger als Doktorarbeit. Auch wenn man es dem Buch nicht gleich anmerkt, handelt es sich bei diesem Ersten Band doch um eine Dissertation. Wenn man for- dern will, dass ein Doktorand jedenfalls im Kernbereich seiner Arbeit die gesamte einschlä- gige Literatur berücksichtigt, dann entspricht die vorliegende Arbeit dem nur zum Teil. Zu viele Stellungnahmen in der Literatur bleiben unberücksichtigt. Und auch bei der Lösung von Einzelfragen fehlt gelegentlich eine wirkliche Auseinandersetzung mit konkret nachge- wiesenen anderen Ansichten. So hätte man sich an einigen Stellen mehr gewünscht als die Angabe eines einzigen Autors „m.w. Nachw. zum Meinungsstand“ (exemplarisch S. 319 Fn. 1336). Einzelne Streitfragen werden überhaupt nicht als solche erkannt. So ist z.B. die rechtliche Unverbindlichkeit der Entschließungen des Europäischen Rates (S. 161, 353) nicht gänzlich unbestritten (vgl. Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, 3. Aufl., 2000, Rn. 175 ff.). Und wenn der Verfasser die neueren Kommentierungen von Art. 88 GG einbe- zogen hätte, die meist auch mehr oder weniger ausführlich auf die WWU eingehen, dann wäre bei der (m. E. zutreffenden) Behauptung, die Organe der nationalen Zentralbanken sei- en andere Stellen i.S.v. Art. 108 EGV (S. 312), mindestens eine Gegenstimme (Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, 1998, Art. 88 Rdnr. 51) zu zitieren gewesen. Zuzugestehen ist allerdings, dass die Fülle der noch nicht abschließend geklärten Rechtsfragen der WWU einer literatur- intensiven Klärung schon aus Platzgründen Grenzen setzt. Eine etwa stärkere Beschäftigung mit der Literatur hätte ich von einer Dissertation aber schon erwartet. Diese Bemerkungen sollen das Verdienst von Martin Selmayr aber nicht wesentlich schmä- lern. Der Leser wartet gespannt, ob der im Ersten Band bereits häufig zitierte und dann ja ohnehin den Anforderungen an Prüfungsarbeiten enthobene Zweite Band tatsächlich noch kommt, und hofft auf ebenso anregende Ausführungen z. B. zur Geldpolitik und insbeson- dere zum institutionellen Recht der WWU. Insoweit wird nicht zuletzt interessant sein, wie der Autor das Urteil des EuGH vom 10. Juli 2003 (Rs. C-11/00 Kommission/EZB) verarbei- tet hat, das seine an anderer Stelle publizierte und m. E. ohnehin problematische These, die EZB sei eine supranationale Organisation neben der EG, jedenfalls für die Rechtspraxis wi- derlegt haben dürfte.

Ulrich Häde, Frankfurt (Oder)

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BIBLIOGRAPHIE

Zusammengestellt von der Schriftleitung der Zeitschrift Europarecht unter Mitarbeit von Florian Gröblinghoff

Bücher und Zeitschriften

Abkürzungsverzeichnis

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JA ...... Juristische Arbeitsblätter JB...... Juristische Blätter JCMS ...... Journal of Common Market Studies Jura ...... Jura JuS...... Juristische Schulung JR...... Juristische Rundschau JRP...... Journal für Rechtspolitik JZ ...... Juristenzeitung Kreditwesen ...... Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen KritJ...... Kritische Justiz KritV...... Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft LIEI...... Legal Issues of Economic Integration MDR...... Monatsschrift für Deutsches Recht MJECL ...... Maastricht Journal of European and Comparative Law MJIL...... Maastricht Journal of International Law MRM ...... MenschenRechtsMagazin NdsVBl ...... Niedersächsische Verwaltungsblätter NILR...... Netherlands International Law Review NJ...... Neue Justiz NJB ...... Nederlands Juristenblad NJIL...... Nordic Journal of International Law NJW...... Neue Juristische Wochenschrift NUR...... Natur und Recht NVwZ ...... Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NWVBl ...... Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter NZA...... Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht ÖJ...... Österreichische Juristenzeitung OR...... Osteuropa Recht ÖZÖR ...... Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht RabelsZ...... Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RdA...... Recht der Arbeit RdE...... Recht der Energiewirtschaft RDIDC ...... Revue de Droit international et de droit comparé RdW...... Recht der Wirtschaft RIW ...... Recht der Internationalen Wirtschaft RL ...... Recht der Landwirtschaft RMCUE ...... Revue du marché commun et de l’Union Européenne RTDE...... Revue Trimestrielle Droit Européen RuP ...... Recht und Politik SächsVBl ...... Sächsische Verwaltungsblätter SEER ...... South East European Review for Labour and Social Affairs SEW...... Tijdschrift voor Europees en economisch recht SZIER...... Schweizer Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht ThürVBl ...... Thüringer Verwaltungsblätter UPR ...... Umwelt und Planungsrecht VerwArch ...... Verwaltungsarchiv VergabeR...... Zeitschrift für Vergaberecht VN ...... Vereinte Nationen

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Die Zeitschrift EUROPARECHT erscheint sechsmal im Jahr. Schriftleitung: Armin Hatje und Ingo Brinker. Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Armin Hatje, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld, Telefon: (0521) 106 44 12, Telefax: (0521) 106 60 37; RA Dr. Ingo Brinker LL.M., c/o Gleiss Lutz Hootz Hirsch, Prinzregentenstraße 50, 80538 München.

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ISSN 0531-2485

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