Plenarprotokoll 15/108

Deutscher

Stenografischer Bericht

108. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . 9746 C neten ...... 9733 A Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . 9747 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- (BÜNDNIS 90/ nung ...... 9733 A DIE GRÜNEN) ...... 9748 B Absetzung des Tagesordnungspunktes 19 . . . 9734 C (fraktionslos) ...... 9749 C Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 9750 B Zur Geschäftsordnung (SPD) ...... 9751 D Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 9734 C Roland Gewalt (CDU/CSU) ...... 9752 D

Tagesordnungspunkt 3: Tagesordnungspunkt 4: – Zweite und dritte Beratung des von den – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- Abgeordneten Maria Eichhorn, Dr. Maria SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Böhmer, , weiteren Ab- Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivie- geordneten und der Fraktion der CDU/ rung der Bekämpfung der Schwarzar- CSU eingebrachten Entwurfs einesDrit- beit und damit zusammenhängender ten Gesetzes zur Änderung des Achten Steuerhinterziehung Buches Sozialgesetzbuch (Drittes SGB (Drucksachen 15/2573, 15/3077, 15/3079, VIII-Änderungsgesetz – 3. SGB VIII- 15/3078) ...... 9734 D ÄndG) – Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 15/1114, 15/3000) ...... 9754 C Bundesregierung eingebrachten Entwurfs – Zweite und dritte Beratung des vom Bun- eines Gesetzes zur Intensivierung der desrat eingebrachten Entwurfs eines… Bekämpfung der Schwarzarbeit und Gesetzes zur Änderung des Sozialge- damit zusammenhängender Steuerhin- setzbuches – Achtes Buch – (SGB VIII) terziehung (Drucksachen 15/1406, 15/3000) ...... 9754 C (Drucksachen 15/2948, 15/3077, 15/3079, 15/3078) ...... 9735 A Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 9754 D , Bundesminister BMF ...... 9735 B Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 9756 B Elke Wülfing (CDU/CSU) ...... 9737 A Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 9757 C Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Klaus Haupt (FDP) ...... 9758 D DIE GRÜNEN) ...... 9740 A Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/ Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 9741 C DIE GRÜNEN) ...... 9760 A Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 9743 C (CDU/CSU) ...... 9761 C II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. , Donnerstag, den 6. Mai 2004

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . 9762 D Tagesordnungspunkt 27: (SPD) ...... 9763 C a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 9765 B SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Thomas Dörflinger (CDU/CSU) ...... 9765 D Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- derung des Gesetzes zur Errichtung ei- Christel Humme (SPD) ...... 9767 C ner Stiftung „Erinnerung, Verantwor- Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 9769 A tung und Zukunft“ (Drucksache 15/3044) ...... 9771 A

Zusatztagesordnungspunkt 9: b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Gesetzes zur Änderung des Güterkraft- Art. 77 des Grundgesetzes zu demVierund- verkehrsgesetzes dreißigsten Gesetz zur Änderung des Las- (Drucksache 15/2989) ...... 9771 B tenausgleichsgesetzes (34. ÄndGLAG) (Drucksachen 15/1854, 15/2230, 15/2558, c) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- 15/3058) ...... 9770 A brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Gesetzes zur Verbesserung des Mietrechts und zur Begrenzung des Zusatztagesordnungspunkt 10: Mietanstiegs sowie zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen Beschlussempfehlung des Ausschusses nach (Drucksache 15/2133) ...... 9771 B Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Durchführung von Verordnungen der Eu- d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- ropäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er- der Gentechnik und zur Änderung der gänzung der Kronzeugenregelungen im Neuartige-Lebensmittel- und -Lebensmit- Strafrecht und zur Wiedereinführung telzutaten-Verordnung einer Kronzeugenregelung bei terroris- (Drucksachen 15/2397, 15/2520, 15/2597, tischen Straftaten (KrzErgG) 15/2669, 15/2902, 15/3059) ...... 9770 B (Drucksache 15/2771) ...... 9771 C e) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Zusatztagesordnungspunkt 11: brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Fleischhygienegesetzes und Beschlussempfehlung des Ausschusses nach der Fleischhygiene-Verordnung Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur (Drucksache 15/2772) ...... 9771 C Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeits- f) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- markt sowie die Wohnsituation der Haus- brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur halte (Mikrozensusgesetz 2005 – MZG Änderung des Strafvollzugsgesetzes 2005) (Drucksache 15/2773 ) ...... 9771 C (Drucksachen 15/2543, 15/2673, 15/2904, 15/3060) ...... 9770 C g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Protokoll vom 16. Mai 2003 Zusatztagesordnungspunkt 12: zum Internationalen Übereinkommen von 1992 über die Errichtung eines In- Beschlussempfehlung des Ausschusses nach ternationalen Fonds zur Entschädi- Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur gung für Ölverschmutzungsschäden Verbesserung der Rechte von Verletzten im (Drucksache 15/2947) ...... 9771 C Strafverfahren (Opferrechtsreformgesetz – OpferRRG) h) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksachen 15/1976, 15/2536, 15/2609, rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 15/2906, 15/3062) ...... 9770 D zes zur Änderung von Vorschriften über die Entschädigung für Ölver- schmutzungsschäden durch Seeschiffe Zusatztagesordnungspunkt 13: (Drucksache 15/2949) ...... 9771 D Beschlussempfehlung des Ausschusses nach i) Erste Beratung des von der Bundesregie- Art. 77 des Grundgesetzes zu dem Telekom- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- munikationsgesetz (TKG) zes zur Änderung des VN-Waffenüber- (Drucksachen 15/2316, 15/2345, 15/2674, einkommens 15/2679, 15/2907, 15/3063) ...... 9771 A (Drucksache 15/2926) ...... 9771 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 III

Zusatztagesordnungspunkt 2: kommen vom 27. März 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und a) Antrag der Abgeordneten Monika der Republik Tadschikistan zur Ver- Griefahn, Eckhardt Barthel (Berlin), Ulla meidung der Doppelbesteuerung auf Burchardt, weiterer Abgeordneter und der dem Gebiet der Steuern vom Einkom- Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten men und vom Vermögen Dr. , (Köln), (Drucksachen 15/2925, 15/3070) ...... 9772 D Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE b) Zweite und dritte Beratung des von der GRÜNEN: Schaffung eines internatio- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs nalen Instruments zum Schutz der kul- eines Gesetzes zur Sicherung von Ver- turellen Vielfalt unterstützen kehrsleistungen (Verkehrsleistungsge- (Drucksache 15/3054) ...... 9772 A setz – VerkLG) (Drucksachen 15/2769, 15/3024) ...... 9773 A b) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zum c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Übereinkommen Nr. 185 der Internatio- des von der Bundesregierung eingebrach- nalen Arbeitsorganisation (IAO) über ten Entwurfs einesGesetzes zu dem Ausweise für Seeleute und zur verein- Internationalen Maasübereinkommen fachten Freistellung vom Visumserfor- vom 3. Dezember 2002 dernis (Drucksachen 15/2147, 15/2959) ...... 9773 B (Drucksache 15/3053) ...... 9772 A d) Beschlussempfehlung und Bericht des c) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Börnsen (Bönstrup), Karl-Josef Laumann, Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter durch die Bundesregierung:Vorschlag und der Fraktion der CDU/CSU:Zum für eine Verordnung des Europäischen Übereinkommen Nr. 185 der Internatio- Parlaments und des Rates über die Ver- nalen Arbeitsorganisation (IAO) über bringung von Abfällen Ausweise für Seeleute und zur verein- (Drucksachen 15/1547 Nr. 2.53, 15/2957) 9773 C fachten Freistellung vom Visumserfor- dernis e) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 15/3043) ...... 9772 B Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung:Vorschlag d) Antrag der Abgeordneten Hans-Michael für eine Richtlinie des Europäischen Goldmann, (Bayreuth), Parlaments und des Rates über un- (Münster), weiterer Abgeord- lautere Geschäftspraktiken im binnen- neter und der Fraktion der FDP: Zum marktinternen Geschäftsverkehr zwi- Übereinkommen Nr. 185 der Internatio- schen Unternehmen und Verbrauchern nalen Arbeitsorganisation (IAO) über und zur Änderung der Richtlinien 84/ Ausweise für Seeleute und zur verein- 450/EWG, 97/7/EG und 98/27/EG fachten Freistellung vom Visumserfor- (Richtlinie über unlautere Geschäfts- dernis praktiken) (Drucksache 15/3057) ...... 9772 B (Drucksachen 15/1547 Nr. 2.61, 15/3056) 9773 D f)–i)Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Tagesordnungspunkt 20: schusses: Sammelübersichten 113, 114, 115 und 116 zu Petitionen Antrag der Abgeordneten Angelika Krüger- (Drucksachen 15/2982, 15/2983, 15/2984, Leißner, , Dr. Hans-Peter 15/2985) ...... 9774 A Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Volker Beck (Köln), Tagesordnungspunkt 5: (Augsburg), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ a) Zweite und dritte Beratung des von den DIE GRÜNEN: Der 60. Jahrestag des Abgeordneten Reinhard Schultz (Evers- Kriegsendes im Jahr 2005 winkel), Marion Caspers-Merk, Klaus (Drucksache 15/2974) ...... 9772 C Kirschner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordne- ten , Ulrike Höfken, Tagesordnungspunkt 28: Michaele Hustedt, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion des BÜNDNIS- a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten des von der Bundesregierung eingebrach- Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- rung des Schutzes junger Menschen vor IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Gefahren des Alkohol- und Tabakkon- Tagesordnungspunkt 6: sums (Drucksachen 15/2587, 15/3084)...... 9774 B a) Antrag der Abgeordneten Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land), , b) Beschlussempfehlung und Bericht des , weiterer Abgeordneter Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und der Fraktion der CDU/CSU:Nano- und Jugend technologische Forschung und Anwen- dungen in Deutschland stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksache 15/2650) ...... 9792 D Ursula Heinen, Gerlinde Kaupa, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und b) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- der Fraktion der CDU/CSU: Verbesse- schung und Technikfolgenabschätzung rung der Maßnahmen zum Schutze gemäß § 56 a der Geschäftsordnung: der Kinder und Jugendlichen vor Technikfolgenabschätzung – hier: TA- Alkoholsucht Projekt – Nanotechnologie (Drucksache 15/2713) ...... 9793 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Haupt, Detlef Parr, Daniel Bahr in Verbindung mit (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:Besserer Schutz von Kindern und Jugendli- Zusatztagesordnungspunkt 3: chen vor Missbrauch von Alcopops Antrag der Abgeordneten , und anderen alkoholischen Ready- Jörg Tauss, Rainer Arnold, weiterer Abgeord- to-drink-Getränken neter und der Fraktion der SPD sowie der Ab- (Drucksachen 15/2646, 15/2619, 15/3085) 9774 C geordneten Hans-Josef Fell, Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 9774 D und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Aufbruch in den Nanokosmos – (CDU/CSU) ...... 9776 C Chancen nutzen, Risiken abschätzen (Drucksache 15/3051)...... 9793 A Simone Violka (SPD) ...... 9777 B in Verbindung mit (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9779 A Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 9780 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Georg Fahrenschon (CDU/CSU) ...... 9780 B Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, , (Hom- Klaus Haupt (FDP) ...... 9781 A burg), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Forschung und Entwicklung Sabine Bätzing (SPD) ...... 9782 C in der Nanotechnologie voranbringen Marion Caspers-Merk (SPD) ...... 9783 D (Drucksache 15/3074) ...... 9793 B Ulla Burchardt (SPD) ...... 9793 C Klaus Haupt (FDP) ...... 9784 B Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Detlef Parr (FDP) ...... 9784 D (CDU/CSU) ...... 9795 C Sabine Bätzing (SPD) ...... 9785 B Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 9785 C 9798 A Ulrike Flach (FDP) ...... 9799 B Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9787 A , Bundesministerin BMBF ...... 9800 B Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 9787 D Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 9788 B (CDU/CSU) ...... 9801 D Jella Teuchner (SPD) ...... 9788 D Ulrich Kasparick (SPD) ...... 9802 D (CDU/CSU) ...... 9789 D Jella Teuchner (SPD) ...... 9790 B Tagesordnungspunkt 7: Ursula Heinen (CDU/CSU) ...... 9790 C Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- Anton Schaaf (SPD) ...... 9791 B nikfolgenabschätzung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 V

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/ Flach, Cornelia Pieper, Christoph DIE GRÜNEN) ...... 9817 C Hartmann (Homburg), weiterer Abgeord- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ neter und der Fraktion der FDP:Ressort- DIE GRÜNEN) ...... 9818 C forschungseinrichtungen des Bundes regelmäßig im Hinblick auf internatio- nale Qualitätsanforderungen an das Tagesordnungspunkt 9: deutsche Forschungssystem evaluieren a) Beschlussempfehlung und Bericht des – zu dem Antrag der Abgeordneten Helge Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Braun, Dr. Maria Böhmer, Katherina der Fraktionen der SPD und des BÜND- Reiche, weiterer Abgeordneter und der NISSES 90/DIE GRÜNEN:Afrika auf Fraktion der CDU/CSU: Ressortfor- dem Weg zu Eigenverantwortung und schung des Bundes effizienter gestalten Selbstbestimmung unterstützen und evaluieren (Drucksachen 15/2478, 15/3071) ...... 9819 C – zu dem Antrag der Abgeordneten b) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Carola Reimann, Walter Schöler, Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag , weiterer Abgeordneter der Abgeordneten Hans Büttner (Ingol- und der Fraktion der SPD sowie der Abge- stadt), Brigitte Wimmer (Karlsruhe), ordneten Antje Hermenau, Hans-Josef Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordne- Fell, Volker Beck (Köln), weiterer Abge- ter und der Fraktion der SPD sowie der ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Abgeordneten Marianne Tritz, Claudia SES 90/ DIE GRÜNEN:Qualitätssiche- Roth (Augsburg), Volker Beck (Köln), rung des deutschen Forschungssystems weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: (Drucksachen 15/222, 15/1981, 15/2665, Den Stabilisierungsprozess in der De- 15/3068) ...... 9803 B mokratischen Republik Kongo nachhal- tig unterstützen Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 9803 C (Drucksachen 15/2479, 15/3072) ...... 9819 C (CDU/CSU) ...... 9805 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag DIE GRÜNEN) ...... 9806 B der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, Hermann Gröhe, Ulrike Flach (FDP) ...... 9807 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion Carsten Schneider (SPD) ...... 9808 B der CDU/CSU: Eine neue Politik für Afrika südlich der Sahara – Afrika for- (CDU/CSU) ...... 9809 B dern und fördern (Drucksachen 15/2574, 15/3073) ...... 9819 D d) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 8: Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- menarbeit und Entwicklung zu dem An- schusses für Verbraucherschutz, Ernährung trag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, und Landwirtschaft zu dem Antrag der Abge- Dr. Friedbert Pflüger, Hartwig Fischer ordneten Peter H. Carstensen (Nordstrand), (Göttingen), weiterer Abgeordneter und Dr. Peter Paziorek, Bernhard Schulte- der Fraktion der CDU/CSU: Umdenken Drüggelte, weiterer Abgeordneter und der in der Kongopolitik Fraktion der CDU/CSU: Multitalent nach- (Drucksachen 15/2335, 15/3086) ...... 9819 D wachsender Rohstoff effizient fördern in Verbindung mit (Drucksachen 15/1788, 15/2366) ...... 9810 C

Reinhold Hemker (SPD) ...... 9810 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU) . . . 9811 C Antrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich, (BÜNDNIS 90/ , Dr. , weiterer DIE GRÜNEN) ...... 9812 D Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Völ- kermord im Sudan verhindern Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 9814 A (Drucksache 15/3040) ...... 9820 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 9815 A Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD) ...... 9820 A Albert Deß (CDU/CSU) ...... 9816 C Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 9821 D Bernhard Schulte-Drüggelte Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 9817 A DIE GRÜNEN) ...... 9823 D VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Ulrich Heinrich (FDP) ...... 9825 A Jochen Welt (SPD) ...... 9848 C Siegmund Ehrmann (SPD) ...... 9825 D Gisela Piltz (FDP) ...... 9850 D (Lübeck) (CDU/CSU) ...... 9827 B Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) ...... 9828 A DIE GRÜNEN) ...... 9851 C Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU) ...... 9828 C Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) ...... 9852 D Rita Streb-Hesse (SPD) ...... 9854 A Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des von den Abgeordneten Zusatztagesordnungspunkt 14: Rainer Funke, Jörg van Essen, , weiteren Abgeordneten und der Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartner- schäftsordnung: Immunität von Mitglie- schaftsgesetzes (Lebenspartnerschaftsgesetz- dern der Bundesversammlung – hier: ergänzungsgesetz – LPartGErgG) Antrag auf Genehmigung zur Durchfüh- (Drucksache 15/2477) ...... 9829 D rung der Strafverfolgung (Drucksache 15/3107) ...... 9855 D Rainer Funke (FDP) ...... 9830 A (SPD) ...... 9831 B Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 9833 A Tagesordnungspunkt 13: Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Zweite und dritte Beratung des von der Bun- DIE GRÜNEN) ...... 9835 C desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesärzte- (SPD) ...... 9836 C ordnung und anderer Gesetze (Drucksachen 15/2350, 15/3039) ...... 9856 A Tagesordnungspunkt 11: Beratung der Unterrichtung durch den Wehr- Tagesordnungspunkt 14: beauftragten: Jahresbericht 2003 (45. Be- richt) Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ (Drucksache 15/2600) ...... 9837 D CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Den Weg zur Einheit und De- Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter mokratisierung in der Republik Moldau des Deutschen Bundestages ...... 9838 A unterstützen Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) ...... 9840 B (Drucksache 15/3052) ...... 9856 B , Parl. Staatssekretär (CDU/CSU) ...... 9856 B BMVg ...... 9842 A (SPD) ...... 9857 D Helga Daub (FDP) ...... 9843 C Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 9859 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9844 B Siegfried Helias (CDU/CSU) ...... 9860 B Hans Raidel (CDU/CSU) ...... 9845 B Ulrike Merten (SPD) ...... 9846 C Tagesordnungspunkt 15: Hedi Wegener (SPD) ...... 9847 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Außen- Tagesordnungspunkt 12: wirtschaftsgesetzes (AWG) und der Außen- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wirtschaftsverordnung (AWV) schusses für Familie, Senioren, Frauen und (Drucksachen 15/2537, 15/3076) ...... 9861 B Jugend zu dem Antrag der Abgeordneten , Hartmut Koschyk, (Recklinghausen), weiterer Ab- Tagesordnungspunkt 16: geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Keine Kürzungen von Integrationsmaß- Krogmann, Ursula Heinen, Julia Klöckner, nahmen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksachen 15/1691, 15/2900) ...... 9848 B CDU/CSU: Spam effektiv bekämpfen Willi Zylajew (CDU/CSU) ...... 9848 C (Drucksache 15/2655) ...... 9861 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 VII

Tagesordnungspunkt 17: Anlage 4 Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung desregierung eingebrachten Entwurfs eines des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Gesetzes zur Ausführung der im Dezember der Bundesärzteordnung und anderer Gesetze 2002 vorgenommenen Änderungen des In- (Tagesordnungspunkt 13) ternationalen Übereinkommens von 1974 Dr. Erika Ober (SPD) ...... 9870 D zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und des Internationalen Codes für die Helge Braun (CDU/CSU) ...... 9872 B Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Ha- fenanlagen Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) ...... 9873 B (Drucksachen 15/2700, 15/2952, 15/3082) . . 9862 A Petra Selg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9874 B , Parl. Staatssekretärin BMVBW ...... 9862 A Detlef Parr (FDP) ...... 9875 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . 9862 D Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Anlage 5 DIE GRÜNEN) ...... 9864 C Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 9865 B Antrags: Den Weg zur Einheit und Demokra- tisierung in der Republik Moldau unterstützen Dr. (SPD) ...... 9866 A (Tagesordnungspunkt 14) (Zingst) (CDU/CSU) ...... 9867 B Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9875 C

Tagesordnungspunkt 18: Anlage 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dritten Gesetzes zur Änderung des Tier- des Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Ände- seuchengesetzes rung des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG) (Drucksachen 15/2943, 15/3069) ...... 9868 C und der Außenwirtschaftsverordnung (AWV) (Tagesordnungspunkt 15) Nächste Sitzung ...... 9868 D Christian Müller (Zittau) (SPD) ...... 9876 B Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 9877 A

Anlage 1 Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 9878 B (BÜNDNIS 90/ Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9869 A DIE GRÜNEN) ...... 9879 B Gudrun Kopp (FDP) ...... 9880 B Anlage 2 Petra Pau (fraktionslos) ...... 9881 A Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär Jerzy Montag, Josef Philip Winkler und Jutta BMWA ...... 9881 C Dümpe-Krüger (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zur Intensivierung der Anlage 7 Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit zu- sammenhängender Steuerhinterziehung (Ta- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung gesordnungspunkt 3) ...... 9869 B des Antrags: Spam effektiv bekämpfen (Ta- gesordnungspunkt 16) (SPD) ...... 9882 B Anlage 3 Ursula Heinen (CDU/CSU) ...... 9884 A Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU) ...... Beschlussempfehlung und des Berichts: 9885 A Keine Kürzungen von Integrationsmaßnah- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ men (Tagesordnungspunkt 12) DIE GRÜNEN) ...... 9886 D Petra Pau (fraktionslos) ...... 9869 D Gudrun Kopp (FDP) ...... 9887 D VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Anlage 8 (CDU/CSU) ...... 9890 A

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (BÜNDNIS 90/ des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- DIE GRÜNEN) ...... 9891 A derung des Tierseuchengesetzes (Tagesord- nungspunkt 18) Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 9892 A Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 9888 B Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär (CDU/CSU) ...... 9889 B BMVEL ...... 9892 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9733

(A) (C) Redetext

108. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Rechtsausschuss Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Der Kollege Gernot Erler feierte am 3. Mai seinen Union 60. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen nachträglich sehr herzlich. (Bönstrup), Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer (Beifall) Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Zum Über- einkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorgani- Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene sation (IAO) über Ausweise für Seeleute und zur ver- Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge- einfachten Freistellung vom Visumserfordernis führten Punkte zu erweitern: – Drucksache 15/3043 – Überweisungsvorschlag: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP gemäß (B) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (D) Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT Innenausschuss zu den Antworten der Bundesregierung auf die dringli- Rechtsausschuss chen Fragen in Drucksache 15/3037 (siehe 107. Sitzung) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Ergänzung zu TOP 27) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten , Union Eckhardt Barthel (Berlin), Ulla Burchardt, weiterer Abge- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Goldmann, Horst Friedrich (Bayreuth), Daniel Bahr Dr. Antje Vollmer, Volker Beck (Köln), Grietje Bettin, wei- (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- FDP: Zum Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen SES 90/DIE GRÜNEN: Schaffung eines internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über Ausweise für Seeleute Instruments zum Schutz der kulturellen Vielfalt unter- und zur vereinfachten Freistellung vom Visumserfor- stützen dernis – Drucksache 15/3054 – – Drucksache 15/3057 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Entwicklung Union Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Jörg Union Tauss, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Grietje BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zum Übereinkommen Bettin, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Aufbruch in über Ausweise für Seeleute und zur vereinfachten Frei- den Nanokosmos – Chancen nutzen, Risiken abschätzen stellung vom Visumserfordernis – Drucksache 15/3051 – – Drucksache 15/3053 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Technikfolgenabschätzung (f) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 9734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ferner sollen der Tagesordnungspunkt 19 – Flächen- (C) Landwirtschaft deckende Postdienstleistungen – abgesetzt und der Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Tagesordnungspunkt 20 – 60. Jahrestag des Kriegsen- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des im Jahr 2005 – ohne Debatte aufgerufen werden. ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Kol- Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), weiterer legin Lötzsch erhebt Widerspruch. Bitte schön. Abgeordneter und der Fraktion der FDP:Forschung und Entwicklung in der Nanotechnologie voranbringen Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): – Drucksache 15/3074 – Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Überweisungsvorschlag: Herren! Um genau 8.33 Uhr Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) ( [CDU/CSU]: War es eine Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Funkuhr?) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft erreichte mich ein Fax, aus dem hervorging, dass der Ta- Verteidigungsausschuss gesordnungspunkt 20 zum 60. Jahrestag der Befreiung Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen vom Faschismus – so formuliere ich es – ohne Debatte Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit behandelt werden soll. Ich meine zwar, dass die ur- ZP 5 Beratung des Antrags derAbgeordneten Ulrich Heinrich, sprünglich vorgesehene späte Platzierung auf der Tages- Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und ordnung um etwa 21.45 Uhr dem Thema ebenfalls nicht der Fraktion der FDP: Völkermord im Sudan verhindern unbedingt angemessen war, denke aber, dass es diesem – Drucksache 15/3040 – Parlament drei Tage vor dem 59. Jahrestag der Befreiung Überweisungsvorschlag: Deutschlands vom Hitler-Faschismus gut angestanden Auswärtiger Ausschuss (f) hätte, über den vorliegenden Antrag des Bündnisses 90/ Verteidigungsausschuss Die Grünen und der SPD zu debattieren, die Positionen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auszutauschen und sich vor allen Dingen in einer sol- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und chen Debatte zu fragen, welche aktuellen Bezüge wir Entwicklung herstellen, welche Lehren wir daraus ziehen und wie wir ZP 6 Erste Beratung des von denAbgeordneten Cornelia Pieper, die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu mehr Zi- Christoph Hartmann (Homburg), Ulrike Flach, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs vilcourage auffordern können. eines Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsgesetzes Dass Zivilcourage erforderlich ist, haben gerade die – Drucksache 15/3042 – Ereignisse am 1. Mai gezeigt. Die NPD hatte zu einem (B) Überweisungsvorschlag: Aufmarsch in Berlin aufgerufen. Viele Bürgerinnen und (D) Ausschuss für Bildung, Forschung und Bürger und sicherlich auch Gäste der Stadt haben sich Technikfolgenabschätzung (f) diesem Aufmarsch entgegengestellt. Der Naziauf- Innenausschuss Rechtsausschuss marsch, der in meinem Wahlkreis Lichtenberg erfolg- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit reich gestoppt werden konnte, hat aber auf sehr beunru- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und higende Weise gezeigt, dass das braune Gedankengut Landwirtschaft noch vorhanden ist. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Nicht nur aus diesem Grunde hätte es dem Bundestag Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen heute – ich wiederhole: drei Tage vor dem 59. Jahrestag Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien der Befreiung Deutschlands vom Hitler-Faschismus – Haushaltsausschuss gut angestanden, über dieses Thema zu debattieren, statt ZP 7 Beratung des Antrags der geordneten Ab Nicolette Kressl, den Tagesordnungspunkt 20 ohne Debatte zu behandeln. Jörg Tauss, , weiterer Abgeordneter und der Frak- Ich beantrage eine Debatte zu diesem Tagesordnungs- tion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea punkt. Dückert, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ausbil- Vielen Dank. dungschancen für alle jungen Frauen und Männer si- chern – durch einen konzertierten Ausbildungspakt (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) – Drucksache 15/3055 – ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. ChristelPräsident Wolfgang Thierse: Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Dr. VolkerGibt es dazu weitere Wortmeldungen? – Dann stim- Wissing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: men wir über diesen Antrag ab. Wer ist damit einver- Projekt des Umweltbundesamtes zur so genannten ver- standen, dass Tagesordnungspunkt 20, wie vorgesehen, deckten Feldbeobachtung stoppen ohne Debatte aufgerufen wird? – Wer stimmt dagegen? – – Drucksache 15/2668 – Damit ist so beschlossen mit den Stimmen von SPD, Überweisungsvorschlag: CDU/CSU, Grünen und FDP gegen die Stimmen der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und beiden fraktionslosen Abgeordneten. Landwirtschaft (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- erforderlich, abgewichen werden. nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9735

Präsident Wolfgang Thierse (A) GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGeset- das – wieder zu mehren. Ich bin zuversichtlich, dass der (C) zes zur Intensivierung der Bekämpfung der Arbeitsmarkt bald von der sich abzeichnenden wirt- Schwarzarbeit und damit zusammenhängen- schaftlichen Erholung profitieren wird. Er ist – wie übri- der Steuerhinterziehung gens auch die Steuern – immer ein nachlaufender Indika- tor der wirtschaftlichen Entwicklung: Wenn es abwärts – Drucksache 15/2573 – geht, verläuft die Entwicklung bei den Steuereinnahmen (Erste Beratung 95. Sitzung) und auf dem Arbeitsmarkt noch eine Weile geradeaus. Wenn es aufwärts geht, vollzieht sich in diesen Berei- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- chen eine ähnliche Entwicklung, allerdings zuerst auf regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes einem unteren Level. Später machen sich die Auswir- zur Intensivierung der Bekämpfung derkungen der anspringenden Konjunktur dann auch bei Schwarzarbeit und damit zusammenhängen- den Steuereinnahmen und auf dem Arbeitsmarkt richtig der Steuerhinterziehung bemerkbar. Weitere Erfolge bei der Schaffung zusätzli- – Drucksache 15/2948 – cher legaler Beschäftigung hängen aber davon ab, ob es uns gelingt, die illegale Beschäftigung wirksamer als (Erste Beratung 105. Sitzung) bisher zurückzudrängen. Dazu dient der vorliegende Ge- a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- setzentwurf. schusses (7. Ausschuss) Wenn wir Schwarzarbeit intensiver bekämpfen kön- – Drucksachen 15/3077, 15/3079 – nen, gewinnen alle: Bürger, Unternehmen und das Ge- meinwesen. Es ist sehr schwierig, den Umfang der Berichterstattung: Schwarzarbeit – darüber ist auch in den Anhörungen dis- Abgeordnete Reinhard Schultz (Everswinkel) kutiert worden – exakt abzuschätzen. Das liegt ja gerade Elke Wülfing im Wesen dieser Sache. Dass es sich aber um einen sehr b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) hohen Milliardenbetrag handelt, ist nicht zuletzt – ich gemäß § 96 der Geschäftsordnung beziehe mich hier nicht auf die Erkenntnisse von Herrn Professor Schneider, sondern auf unsere eigenen – auf – Drucksache 15/3078 – der Basis der regelmäßig durch die Bundeszollverwal- Berichterstattung: tung durchgeführten Schwerpunktkontrollen offen- Abgeordnete Steffen Kampeter sichtlich, die immer erfolgreicher werden. Danach erga- Walter Schöler ben sich bei aktuellen Prüfungen in vielen Branchen Antje Hermenau 15 bis 20 Prozent Verdachtsfälle. Das bedeutet erhebli- (B) Dr. Günter Rexrodt che Ausfälle an Steuern und Sozialabgaben. Das bedeu- (D) tet aber auch, dass die Ehrlichen höhere Steuern und Ab- Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen gaben zahlen müssen. Das ist volkswirtschaftlich der CDU/CSU und der FDP vor. schädlich. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Schwarzarbeit schädigt gesetzestreue Unternehmer die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichund Arbeitnehmer ganz konkret. Sie drängt ehrliche Un- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ternehmer gerade in der Bauwirtschaft aus den Märkten. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- Dies zerstört viele legale Jobs. Aber auch die Schwarzar- minister der Finanzen, Hans Eichel, das Wort. beiter sind zum Teil mehr Opfer als Täter; denn Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung gehen oft mit Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Arbeitsbedingungen einher, die eindeutig als menschen- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undverachtende Ausbeutung zu bezeichnen sind. Hier gibt Herren! Nach den aufgeregten Diskussionen der letzten es nichts zu beschönigen. Tage haben wir heute Gelegenheit, zur Sacharbeit zu- Einen Aspekt möchte ich noch besonders hervorhe- rückzukehren. Unser Entwurf eines Gesetzes zur Intensi- ben: Schwarzarbeit schwächt die Chancen gerade für ge- vierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit ring qualifizierte Arbeitskräfte, einen neuen, legalen Ar- zusammenhängender Steuerhinterziehung ist ein weite- beitsplatz zu finden. rer Reformbaustein im Rahmen unserer Politik für mehr Beschäftigung. Mehr Beschäftigung zu schaffen ist die Wenn vor diesem Hintergrund prominente – Gott sei zentrale Herausforderung für Deutschland. Mit derdank sind es nur wenige – Politiker Schwarzarbeit als Agenda 2010 hat die Bundesregierung deshalb lange Steuernotwehr gegen den Staat verharmlosen, dann kann überfällige Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den man sich über so viel Torheit nur wundern. sozialen Sicherungssystemen auf den Weg gebracht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN) Für viele Bürgerinnen und Bürger sind diese Refor- Sie können ja über einzelne Gesetze denken, was sie men mit spürbaren Einschnitten und Belastungenwollen. Wir haben zum Beispiel eine Menge getan – ich verbunden. Aber sie sind notwendig, um vor dem Hin- komme darauf gleich zurück –, um die Steuern zu sen- tergrund des sich intensivierenden internationalen Wett- ken. Aber eines darf doch nicht sein: dass in einem de- bewerbs unseren Wohlstand zu sichern und – ich betone mokratischen Staat demokratisch beschlossene Gesetze 9736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Bundesminister Hans Eichel (A) nicht angewandt und durchgesetzt werden. Das kann Die leistungsfähige Kontrolle und Ahndung richten(C) doch auch nicht im Interesse derjenigen liegen, die mit sich dabei gegen die gewerbsmäßige Schwarzarbeit. Es den konkreten Regelungsinhalten möglicherweise nicht geht zum Teil um organisierte Wirtschaftskriminalität, einverstanden sind. die wir nicht verniedlichen dürfen. Es wird in einer Gesellschaft immer welche geben Außerhalb des Gesetzentwurfs haben wir im organi- – vielleicht sogar einige große Unternehmen –, die das satorischen Bereich bereits Änderungen vorgenommen, anders sehen. mit denen moderne und schlagkräftige Strukturen aufge- baut werden. Dafür haben wir das gemeinsame Dach (Volker Kauder [CDU/CSU]: Widerstand ge- „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ geschaffen. In der gen Gesetze kommt doch von Ihrer Seite! Die „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ arbeiten nach Zusam- Grünen haben doch Widerstand geleistet! menführung des in diesem Bereich tätigen Personals der Heuchler!) Bundesagentur für Arbeit und der Zollverwaltung der- Zu einem Rechtsstaat gehört aber, dass beschlossene Ge- zeit über 5 000 Personen. Künftig werden es 7 000 sein. setze auch durchgesetzt werden. Wer das als Politiker Die „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ ist flächendeckend nicht einsieht – das will ich ganz deutlich sagen; Sie wis- an 113 Standorten vertreten. Bei der Oberfinanzdirektion sen schon, wen ich meine –, der untergräbt die Basis, auf Köln haben wir eine zentrale Abteilung als serviceorien- der wir gemeinsam stehen. Das kann niemand wollen. tierten Ansprechpartner für alle Bürger und alle betroffe- nen Behörden eingerichtet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Durch dieses Gesetz werden die Regelungen zur Ver- folgung von Schwarzarbeit und der damit einhergehen- Mit der eben zitierten Aussage wird wissentlichden Steuerhinterziehung auf eine neue rechtliche Grund- unterschlagen, dass die Bundesregierung bereits in den lage gestellt. Um künftig deutlich zu beschreiben, was vergangenen Jahren die Besteuerung und wesentlicheSchwarzarbeit tatsächlich ist, definiert das Gesetz erst- Regelungen betreffend den Arbeitsmarkt deutlich be-mals den Begriff der Schwarzarbeit entsprechend dem schäftigungsfreundlicher ausgestaltet hat, als sie zu Zei- allgemeinen Sprachgebrauch. ten der Vorgängerregierung jemals waren. Dank der Steuerreform 2000 gibt es inzwischen historisch nied- Außerdem werden erstmals die Kontrollregelungen rige Steuersätze bei der Einkommensteuer. Im Unterneh- aus den verschiedenen Vorschriften, insbesondere des mensteuerbereich haben wir die Körperschaftsteuer für Sozialgesetzbuchs, inhaltlich zusammengeführt. Dabei thesaurierte und ausgeschüttete Gewinne deutlich redu- werden die Prüfungs- und Ermittlungsrechte der Zollver- ziert. Mit einer Steuerquote von knapp über 20 Prozent waltung erweitert, damit die Verfolgung der Schwarz- (B) ist Deutschland in der Europäischen Union der Fünfzehn arbeit und der illegalen Beschäftigung noch effektiver(D) das Land mit der niedrigsten Steuerquote. Selbst in der und effizienter durchgeführt werden kann. Die Zusam- Europäischen Union der Fünfundzwanzig gibt es nurmenarbeit der Zollverwaltung mit den Länderfinanzbe- wenige Länder, die eine niedrigere Steuerquote als wir hörden wird ebenfalls weiter ausgebaut. haben. Bereits heute wird Schwarzarbeit strafrechtlich ver- Wenn wir uns die um die Sozialversicherungsabgaben folgt. Sie ist regelmäßig mit Steuerhinterziehung, Betrug erweiterte Abgabenquote anschauen, erkennen wir eben- zulasten der Leistungsträger, der sozialen Sicherungs- falls: Wir liegen mit 36,2 Prozent im europäischen Mit- systeme, oder Verstößen gegen das Ausländerrecht ver- telfeld. Die Bundesregierung hat zudem die Arbeits-bunden und insoweit strafbar. Einige Strafbarkeitslücken märkte modernisiert und sie hat durch die Regelungen werden durch das Gesetz geschlossen, damit ganz deut- zur Ich-AG sowie vor allem durch die Minijobs eine un- lich wird, dass Schwarzarbeit kein Kavaliersdelikt ist. bürokratische Möglichkeit für mehr legale Beschäfti- gung geschaffen. Die Brücke in den ersten Arbeitsmarkt Noch eine weitere Klarstellung: Wir wollen nicht die ist deutlich verbreitert worden. Hilfeleistungen durch Angehörige und Nachbarschafts- hilfe in den Mittelpunkt rücken und diese schon gar Diese Strukturreformen müssen und werden wir kon- nicht kriminalisieren. Das war auch nie ein Ansatzpunkt sequent fortsetzen; aber wir dürfen nicht übersehen, dass dieses Gesetzes. Wie Sie wissen, haben wir – ich habe mehr legale Beschäftigung durch die gewerbsmäßigedarauf hingewiesen, dass es uns darum geht, den Bürge- und organisierte Schwarzarbeit gefährdet wird, die sich rinnen und Bürgern den Weg in die Legalität zu erleich- nur mit verstärkter Kontrolle wirksam zurückdrängen tern – mit den Minijobs gerade für die Privathaushalte lässt. ganz einfache und im Übrigen auch preiswerte legale Regelungen geschaffen. Ich kann nur hoffen – daran Im Interesse aller steuerehrlichen Bürger und Unter- müssen wir alle arbeiten –, dass diese Regelungen in An- nehmer haben wir deshalb eine abgestimmte Strategie spruch genommen werden. Nachbarschaftshilfe ist zur Bekämpfung der Schwarzarbeit entwickelt. Sie hat selbstverständlich zulässig, solange keine nachhaltige drei Säulen: eine Brücke in die Legalität für die Bürge- Gewinnerzielungsabsicht vorliegt. rinnen und Bürger, die Schaffung leistungsfähiger Struk- turen im Zoll zur Bekämpfung der gewerbsmäßigen Schwarzarbeit muss im Interesse aller Steuerehrlichen Schwarzarbeit und die transparente Bündelung derbekämpft werden, um wieder mehr Raum für legale Be- Rechtsvorschriften zur Schwarzarbeit, wobei auch Rege- schäftigung zu schaffen. Wir alle in diesem Hause – ich lungslücken geschlossen werden. sage das auch in Richtung Gewerkschaften und Wirt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9737

Bundesminister Hans Eichel (A) schaftsverbände – sollten deswegen an einem Strang zie- – Ich bin mit meinem Vortrag doch noch gar nicht fertig, (C) hen, auch wenn wir in Einzelheiten unterschiedlicherFrau Scheel. Meinung ist. (Ute Kumpf [SPD]: Wenn Sie schon so falsch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ anfangen!) DIE GRÜNEN) Das mit der Bauabzugsteuer war für uns ein Aha-Erleb- 7 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zollver- nis. Ich war damals Berichterstatterin und war darüber waltung, die für die Kontrolle zuständig sind, können erschrocken, wie es gewirkt hat. Es war so, wie Sie das zwar mehr als bisher tun. Schwerpunktmäßig muss auch immer wieder machen: Sie überziehen 100 Prozent der viel mehr getan werden, zum Beispiel auf Baustellen, wo Unternehmen mit einer Riesenbürokratie. Dann stellen es vielfach besonders kriminell zugeht, oder in Bran-Sie fest, dass vielleicht ein Bruchteil wirklich illegal ar- chen, über die ich vorhin gesprochen habe. Letzten En- beitet. des hängt der Erfolg all dessen, was wir hier diskutieren und beschließen, davon ab, ob wir ein gesellschaftliches Vom September 2001 ist Ihr Gesetz zur Bekämpfung Klima haben, in dem der gesetzestreue und steuerehrli- der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraft- che Bürger nicht der Dumme ist. Mit anderen Worten: verkehr. Am 1. August 2002 ist das Gesetz zur Erleichte- Das normale Verhalten unserer Gesellschaft sollte sein, rung der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und den Gesetzen zu entsprechen. Es nutzt am Schluss allen. Schwarzarbeit in Kraft getreten. Die Generalunterneh- merhaftung ist darin enthalten; der Straf- und Bußgeld- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rahmen wurde erhöht. DIE GRÜNEN) Zum 1. Januar 2004 gab es noch ein Gesetz, nämlich das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Ar- Präsident Wolfgang Thierse: beitsmarkt, das der Zollverwaltung die Aufgabe der Be- Ich erteile Kollegin Elke Wülfing, CDU/CSU-Frak- kämpfung der Schwarzarbeit zuwies. Damit ist auch das tion, das Wort. Arbeitnehmer-Entsendegesetz unter Ihrer Regierung zum dritten Mal geändert worden. Ich will damit sagen: Wir haben in fünf Jahren das Elke Wülfing (CDU/CSU): sechste Gesetz gegen die Schattenwirtschaft, und zwar Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!mit dem bezeichnenden Namen „Gesetz zur Intensivie- Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben eben davon ge- rung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit zu- sprochen, dass Sie Politik für mehr Beschäftigung ma- sammenhängender Steuerhinterziehung“, weil alle ande- (D) (B) chen oder machen wollen. Ich habe heute Morgen die ren Gesetze anscheinend nichts gebracht haben. Arbeitslosenzahlen gesehen. Daran kann man das nicht so richtig ablesen. Auch an der Erwerbstätigenstatistik Nun will der Bundesfinanzminister hierdurch gern kann man das nicht so richtig ablesen. Ich habe vielmehr 1 Milliarde Euro einfahren. Das Geld ist im Haushalt das Gefühl, dass der einzige Wirtschaftszweig, der wirk- schon verbraten. Der Personalaufwand wird immer hö- lich wächst, die Schattenwirtschaft ist. her. 7 000 Beamte von Zoll- und Arbeitsverwaltung sol- len in einer Bundesstrafverfolgungsbehörde mit einer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundesdatenbank jetzt so richtig auf die Menschen los- neten der FDP) gelassen werden. Das heißt, die Kosten des Kontrollstaa- Betrug der geschätzte Umsatz 1998 noch 280 Milliarden tes steigen stark. Euro, so lag er im Jahr 2003 schon bei 370 Milliarden (Zuruf von der SPD) Euro. Das ist eine Steigerung um 32 Prozent in sechs Jahren rot-grüner Bundesregierung. – Das interessiert Sie vielleicht nicht so sehr. – Die Mehreinnahmen, die man sich davon erwartet, stehen Sie haben zwar immer wieder den untauglichen Ver- weiter in den Sternen. such unternommen, mit höheren Strafen und mit mehr Bürokratie die Schattenwirtschaft und die Schwarzarbeit Nach dieser Erfahrung von fünf ziemlich unwirksa- zu bekämpfen; aber man hat fast das Gefühl: Je mehrmen Gesetzen ist der rot-grünen Bundesregierung an- Sanktionen Sie erfunden haben, desto stärker wuchs die scheinend immer noch nicht bewusst, weswegen die Schattenwirtschaft. Schattenwirtschaft zurzeit der einzig stark wachsende Wirtschaftszweig ist. Der Hauptgrund der wachsenden Zum 1. Januar 1999 haben Sie dasArbeitnehmer- Schattenwirtschaft ist die zu hohe Belastung der Brut- Entsendegesetz – das war noch ein Gesetz aus unserer tolöhne mit Steuern und Abgaben. Regierungszeit – verschärft. Vom 30. August 2001 ist Ihr Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Baugewerbe, das uns die unsägliche Bauabzugsteuer ge- Florian Pronold [SPD]: Dann hätte die bracht hat. Schwarzarbeit zu Ihrer Regierungszeit noch viel höher sein müssen!) (Hans Eichel, Bundesminister: Bayern, Hessen und Baden-Württemberg! – Christine Scheel Hohe Beitragslasten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben und nach wie vor zu hohe Steuersätze scheinen bei vie- Bayern und Hessen beantragt!) len Bürgern zunehmend die Auffassung zu verstärken, 9738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Elke Wülfing (A) dass man sich irgendwie dem Zugriff des Staates entzie- beitsfähiger Sozialhilfeempfänger pro Kind 50 Euro im (C) hen dürfte. Monat verliert, wenn er eine Arbeit aufnimmt. Das macht Beschäftigung gegenüber der Sozialhilfe unat- Es liegt aber auch daran, dass der Abgabenkeil zwi- traktiv und führt ebenfalls zur Schwarzarbeit. All diese schen den Kosten des Auftraggebers und dem Nettoein- Ursachen machen deutlich, dass die Schattenwirtschaft kommen der Ausführenden einfach zu hoch ist. Hieraus unweigerlich steigen musste. Sie wird weiter steigen, entsteht für beide Seiten der Anreiz, Lösungen zu finden, wenn die Anreizsysteme von dieser rot-grünen Bundes- die, ganz marktwirtschaftlich, für beide Seiten einenregierung weiterhin so falsch gestaltet werden, wie es Vorteil bieten, zumeist, indem Fiskus und Sozialkassen zurzeit geschieht. außen vor gelassen werden. Woran liegt das? Man braucht sich nur einmal ein Beispiel anzuschauen: 1966 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) musste ein Malergeselle 1,7 Stunden arbeiten, um seine eigene Handwerksstunde bezahlen zu können. 1980 wa- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legt Wert darauf, ren es schon vier Stunden und im Jahr 2002 dannzu betonen, dass wir das Ziel dieses Gesetzes selbstver- schließlich ganze sechs Stunden. Daran liegt es, dass le- ständlich begrüßen. Wer würde das nicht tun? gale Arbeit durch Schwarzarbeit ersetzt wird. Je höher (Florian Pronold [SPD]: Dann hätten Sie auch die Steuer- und Abgabenlast ist, umso stärker ist die Ab- einmal einen Satz dazu sagen können!) wanderung von legaler Arbeit in die Schwarzarbeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Ich bin noch nicht fertig. Ich habe immer noch zwei- einhalb Minuten Zeit. Nun hatte sich diese Bundesregierung ja freundlicher- weise vorgenommen und auch im Koalitionsvertrag fest- Der Gesetzentwurf selber setzt jedoch einseitig auf geschrieben, die Sozialabgabenquote auf unter 40 Pro- Repression – wie alle seine Vorgänger – und bekämpft zent zu senken. Das ist ihr leider nicht gelungen. nicht die wirklichen Ursachen der Schwarzarbeit. Die re- pressiven Maßnahmen stoßen an die Grenzen ihrer (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wie so vieles Wirksamkeit; denn ein entsprechendes Unrechtsbe- nicht!) wusstsein kann bei dieser Politik der rot-grünen Bundes- Zwar haben Sie mithilfe einer viermaligen Erhöhung der regierung nicht vorhanden sein. Ökosteuer versucht, immer mehr Steuergelder in die So- (Florian Pronold [SPD]: Durch solche Reden zialversicherungen hineinzupumpen. Aber warum haben wird es auch nicht gefördert!) Sie es gemacht? Weil Sie den Menschen nicht erklären wollten, dass unsere Sozialversicherungssysteme drin- – Sehr geehrter Herr Pronold, Sie werden wahrschein- (B) gend reformbedürftig sind. Genutzt hat es Ihnen auchlich gleich Gelegenheit haben, sich hier hinzustellen und (D) nichts; denn die Abgabenquote ist wieder bei 42 Prozent einmal zu begründen, warum Sie die Menschen mit im- angelangt. Das heißt, auf jedem Arbeitsverhältnis inmer mehr Repression belasten wollen, statt sie von Deutschland lasten weiterhin brutto zu hohe Kosten und Lohnzusatzkosten und Lohnnebenkosten zu entlasten, netto bleibt dem Arbeitnehmer zu wenig übrig. Das för- damit den Arbeitnehmern endlich mehr Geld in der Ta- dert Schwarzarbeit. sche bleibt und der Arbeitsplatz in Deutschland brutto nicht mehr so teuer ist. Außerdem sind natürlich übertriebene Regulierungen des Arbeitsmarktes ein weiterer Grund für das Anwach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen der Schwarzarbeit, denn diese kennt keine Regulie- rungen. Die Ausführung legaler Tätigkeiten erfordert An der Berechtigung der Kritik an dem Gesetzent- kaum noch zumutbare Kenntnisse. Fragen Sie einmalwurf gibt es gar keinen Zweifel; denn – die Anhörung Gastwirte, wie es ihnen geht. Es ist erforderlich, dasshat es sehr deutlich gemacht – er ist ganz offensichtlich man eine riesige Zahl von Vorschriften überblickt; das ein ziemliches Sammelsurium. Wenn Sie ihn mit den kann aber kaum einer. Diese Regierung hat dazu beige- Ländern besser abgestimmt hätten, dann wäre es gut ge- tragen, aber natürlich auch die Tarifparteien. Schauen wesen. Aber Sie haben in 43 Änderungsanträgen selber Sie sich einmal einen Tarifvertrag an: Den werden auch festgestellt, dass die Zusammenarbeit zwischen Zoll, Po- Sie nicht von vorne bis hinten verstehen. Schließlich ha- lizei, Strafverfolgungsbehörden und Finanzbehörden of- ben auch die Gerichte gerade durch Urteile zu arbeits- fensichtlich nicht in Ordnung ist. In Ihren Anträgen wird rechtlichen Vorschriften dazu beigetragen. All dies stößt höchstens zum Teil auf dieorganisierte Kriminalität auf fehlendes Verständnis und mangelnde Akzeptanz. und die Geldwäsche – Punkte, auf die wir großen Wert Deswegen sinkt die Bereitschaft der Bürger, Steuern und legen und immer großen Wert gelegt haben – eingegan- Abgaben zu zahlen, immer weiter. Wir brauchen deshalb gen. Genau diese Kriminalität ist aber das Problem und dringend ein neues Arbeitsrecht, damit sich legale Arbeit nicht die Menschen, die Schwarzarbeit leisten. endlich wieder lohnt. (Joachim Poß [SPD]: Die CDU ist das Pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) blem! – Florian Pronold [SPD]: Die Partei der schwarzen Koffer!) Das gilt natürlich auch für Sozialhilfe- und Arbeitslo- senhilfeempfänger. Es müssen Kombilöhne für Gering- In diesem Punkt sind Sie unseren Anträgen nicht wirk- verdiener und einfach strukturierte Arbeit eingeführtlich gefolgt. Auch deswegen werden wir diesen Gesetz- werden. Es ist nämlich nicht zu erklären, warum ein ar- entwurf ablehnen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9739

Elke Wülfing (A) Außerdem scheint Ihnen Folgendes Spaß zu machen: hat sie Recht, und sie hat fast immer Recht, in allen Be- (C) Sie haben unter Clement eine neue Handwerksordnung reichen, zu denen sie sich äußert. geschaffen. Was machen Sie jetzt mit diesem Gesetz? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die neue Handwerksordnung – dazu wird sicher Herr neten der FDP – Lachen bei der SPD und dem Hinsken, der in dieser Debatte ebenfalls noch sprechen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christine wird, einiges sagen wollen – wird von Ihnen von innen Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ausgehöhlt; denn eine fehlende Eintragung in die Hand- Betonung liegt auf „fast“!) werksrolle oder ins Gewerberegister soll von Ihnen von der Schwarzarbeit ausgenommen werden. Das schadet Sie äußert sich sehr oft und ich bin sehr, sehr glücklich dem Handwerk und fördert die Ich-AGs. Mit uns nicht, darüber. meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt diesen Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) setzentwurf ab. Sie macht allerdings sehr deutlich, dass wir ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung der Schwarzar- Außerdem verletzten Sie den Grundsatz „in dubio pro beit brauchen. Bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit reo“, „im Zweifel für den Angeklagten“, indem Sie Un- darf man aber nicht in einseitiger Art und Weise auf re- ternehmen von öffentlichen Aufträgen ausschließen pressive Maßnahmen setzen, sondern man muss präven- wollen, wenn es nur ein Verdachtsmoment gibt. tive und repressive Maßnahmen in ausgewogener Weise (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: miteinander verbinden. Ein begründetes Verdachtsmoment!) Des Weiteren müssen wir die Staatsausgaben endlich So steht es im Gesetz. Wir sind nicht der Meinung, dass in den Griff bekommen, Herr Eichel. Die Staatsquote das richtig ist. Ich denke, ein Unternehmen muss erstmuss mittelfristig wieder geringer als 40 Prozent sein. verurteilt worden sein, ehe es von öffentlichen Aufträ- Dann haben wir Spielraum für Steuersenkungen. gen ausgeschlossen werden darf. Das hat unser Rechts- Da wir beim Steuerkonzept sind, möchte ich herzlich system so vorgesehen. darum bitten, dass Sie sich unser „Konzept 21“ einmal anschauen. Ich denke, diesem Konzept könnten Sie gut (Beifall bei der CDU/CSU) folgen. Besonders kurios ist die Pflicht zur zweijährigen Auf- (Horst Schild [SPD]: Völlig unausgegoren!) bewahrung von Rechnungen für private Auftraggeber. Wir brauchen unbedingt ein steuerpolitisches Ge- (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das samtkonzept; denn unsere Steuern sind weiterhin zu (B) macht doch jeder!) hoch. Wir brauchen außerdem die Flexibilisierung des(D) Dazu möchte ich nur eines anführen. Professor Reiß von Arbeitsmarktes. der Uni Erlangen hat uns dazu in seiner Stellungnahme zu der Anhörung deutliche Worte ins Gewissen geschrie- Präsident Wolfgang Thierse: ben. Ich will Ihnen das cht ni vorenthalten; es ist zu Liebe Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit schon deut- schön: lich überschritten. Die Einführung einer bußgeldbewehrten Aufbe- (Florian Pronold [SPD]: Bitte noch ein biss- wahrungspflicht für private Auftraggeber ist trotz chen! Es war gerade so schön! – Franz des hehren Zieles schlicht lächerlich. Von solchen Müntefering [SPD]: Lass sie noch weiterre- Mätzchen sollte ein Gesetzgeber Abstand nehmen, den! – Jörg-Otto Spiller [SPD]: Dann geht es wenn er noch den Anspruch erhebt, ernst genom- jetzt über in Schwarzarbeit!) men zu werden.

Das ist alles Zitat, nicht meine Erfindung. Elke Wülfing (CDU/CSU): Man darf gespannt sein, welche Aufklärungsmaß- Danke für den Hinweis. nahmen der Gesetzgeber noch vorschlagen wird, Ich denke, dass der Gesetzentwurf zu Recht deutlich damit die geneigte Bevölkerung wenigstens von kritisiert worden ist. Trotzdem danken wir den Kollegin- dieser völlig neuartigen Verpflichtung erfährt. Oder nen und Kollegen für die faire Beratung und auch den soll sie erst durch die Verhängung von Bußgeldern Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die viele Arbeit. aufgeklärt werden? Wir lehnen den Gesetzentwurf aus den genannten Ich brauche dem nichts hinzuzufügen Gründen ab. Wir brauchen ein schlüssiges Gesamtkon- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zept zur Bekämpfung der Schwarzarbeit. Es darf nicht neten der FDP) allein so sein, dass die Bürger bestraft werden. Sie müs- sen auch von Lohnzusatzkosten entlastet werden. Dann als das, was unsere Fraktionsvorsitzende, Angelawird die Schwarzarbeit zurückgehen. Merkel, zu solchen Themen immer sagt: Sie können hin- Vielen Dank. ter jeden Bürger einen Kontrolleur stellen, der Bürger wird sich immer eine Finte ausdenken, wie er sich dieser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kontrolle entziehen kann. – Ich finde, wo sie Recht hat, neten der FDP) 9740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Präsident Wolfgang Thierse: kein Kavaliersdelikt, sondern organisierte Wirtschafts- (C) Ich erteile das Wort Kollegin Christine Scheel, Bünd- kriminalität. In dem heute zu verabschiedenden Gesetz nis 90/Die Grünen. zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und auch der damit verbundenen Steuerhinterziehung, Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die man nicht unterschätzen darf, definieren wir Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! LiebeSchwarzarbeit und grenzen sie von der Nachbarschafts- Frau Wülfing, es geht nicht um die Frage: Repressionen, hilfe und Selbsthilfe ab. Wir wollen die Bereiche treffen, ja oder nein? die für unsere Wirtschaft schädlich sind; darüber haben wir in diesem Hohen Hause immer wieder gesprochen. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Warum machen Wir müssen aus Wettbewerbsgründen dafür sorgen, dass Sie es dann?) diejenigen, die sich in diesem Land bereichern und die Es geht hier und heute vielmehr darum, einen gesetz-dem Wettbewerb schaden, strafrechtlich besser verfolgt lichen Beitrag zur Bekämpfung derorganisierten und werden können, als es bisher der Fall gewesen ist. vor allem der gewerblichen Schwarzarbeit zu leisten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Darum geht es und um nichts anderes. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ziel dieses Gesetzes ist es, alle Versuche – auch die und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: strafrechtlichen Regelungen – zur Bekämpfung der Genau das machen Sie nicht! Das ist das Pro- Schwarzarbeit, die bislang unternommen worden sind, in blem!) einem Gesetz zusammenzuführen. Es werden Prüfaufga- Es ist die typische Nummer der Union, die wir schon ben beim Zoll zusammengefasst. Wir haben im Rahmen aus anderen Zusammenhängen kennen: Mit fadenschei- der Ausschussberatungen von den Sachverständigen, die nigen und an den Haaren herbeigezogenen Begründun- in diesem Betrugsbekämpfungsbereich arbeiten, Anre- gen wird versucht, ein Gesetz schlechtzureden, weil man gungen aufgenommen, die Zusammenarbeit der ermit- nicht weiß, wie man sich verhalten soll. telnden Behörden, der Kriminalpolizei, des Zolls, der Steuerfahndung sowie der Staatsanwaltschaften, besser (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und gezielt zu regeln. Das liegt im Interesse dieser Be- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Ernst hörden. Dies liegt auch im Interesse der Politik und Hinsken [CDU/CSU]: Weil es Murks ist!) müsste auch im Interesse der Opposition liegen. Das Das ist Ihr Spiel: Auf der einen Seite wollen sollte Sie man nicht kleinreden. Schwarzarbeit bekämpfen, fügen jedoch hinzu: Aber (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Weil das Gesetz nicht so. Auf der anderen Seite gibt es keine Vorschläge (B) so schlecht gemacht ist) (D) von Ihnen, wie es besser geht. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir haben einen Man sollte vielmehr Farbe bekennen, ob man will, dass Entschließungsantrag eingebracht, Frau Kolle- all diese Behörden besser zusammenarbeiten. Wenn man gin! Da steht alles drin!) das will, sollte man diesem Gesetzentwurf auch zustim- men. Heute liegt ein Gesetz vor, mit dem das Problem der großen Schattenwirtschaft in der Bundesrepublik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland angegangen wird. Es ist spannend, zu beob- und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: achten, wie selbst Gesetze diffamiert werden, die aus Sie machen doch genau das Gegenteil!) unionsregierten Ländern kommen. Frau KolleginEs wird gemeinsame Ermittlungsgruppen der Behör- Wülfing, die Bauabzugsteuer ist eine Erfindung vonden gegen die organisierte gewerbliche Schwarzarbeit Herrn Koch aus Hessen und Herrn Stoiber aus Bayern. geben. Der Personaleinsatz beim Zoll wird erheblich Wir haben diese Idee aufgenommen, sie verbessert und verbessert. Die im Gesetzentwurf zusammengeführten umgesetzt, teilweise gegen die Stimmen der Union. Es und zum Teil erhöhten Strafmaße zur Bekämpfung der ist schon interessant: Zuerst bringen Ihre eigenen Minis- gewerblichen Schwarzarbeit sollen auf der einen Seite terpräsidenten, die Sie sehr schätzen, Gesetzentwürfedas Unrechtsbewusstsein verstärken und von der Organi- ein. Aber wenn es konkret wird, dann tauchen Sie jedes- sierung gewerblicher Schwarzarbeit abschrecken. Auf mal ab. der anderen Seite wollen wir den Weg zu einer unterneh- (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Von merischen Entscheidung für legales Verhalten stärker be- Stoiber lernen heißt siegen lernen!) tonen. Das verstehe ich unter Scheinheiligkeit. Wir müssen des- Das ist der Sinn und Zweck dieses ganzen Unterfan- halb sagen: So, wie sich die Opposition in diesem Land gens; denn wir alle wissen doch, dass gerade der Kon- verhält, kommen wir – auch bei dem Thema, über das kurrenzkampf im Rahmen privater oder öffentlicher wir heute reden – keinen Schritt weiter. Vergabeverfahren – ich denke beispielsweise an Bauauf- träge – sehr häufig zu illegalem Verhalten verleitet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deswegen brauchen wir in Deutschland bei Vergabever- und bei der SPD) fahren einen fairen Kostenwettbewerb, der unter Aus- Es ist ein sehr ernstes Thema, über das wir heute re- schluss von illegalem Verhalten erreichbar ist. Auch dem den; denn organisierte gewerbliche Schwarzarbeit istdient dieses Gesetz. Wir wollen illegales Verhalten been- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9741

Christine Scheel (A) den und dafür sorgen, dass das strafrechtliche Risiko er- Präsident Wolfgang Thierse: (C) höht wird, bei der Organisierung von Schwarzarbeit ent- Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Ludwig Thiele, deckt und dann auch bestraft zu werden. FDP-Fraktion. Ich bin mir bewusst, dass legales Verhalten angesichts erheblicher Gewinnvorteile durch illegales Verhalten al- Carl-Ludwig Thiele (FDP): lein durch Strafandrohungen nicht erreichbar ist; das ist Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten natürlich richtig. Aber die Steigerung des Entdeckungs- Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu Ihnen, Herr risikos mit erheblichen strafrechtlichen Folgen und mit Finanzminister Eichel: Ich stimme Ihnen ausdrücklich der Androhung von finanziellen Vermögensverlustenzu, dass wir eine Politikfür mehr Beschäftigung in kann den Prozess hin zu mehr Ehrlichkeit im Wettbe-Deutschland benötigen. Ich muss aber gleichzeitig fest- werb verbessern. Es geht darum, dass man diesen Pro- stellen: Sie sind seit fünfeinhalb Jahren mit Rot-Grün an zess insgesamt verbessert, dass man sagt: Wir sind für der Regierung und die Arbeitslosigkeit in Deutschland Ehrlichkeit im Wettbewerb, und zwar zum Schutz derje- hat einen noch nie da gewesenen Höchststand erreicht. nigen Unternehmen, die in diesem Staat einen ordentli- (Widerspruch bei der SPD) chen Beitrag zum Sozialversicherungsaufkommen, aber auch zu den Steuereinnahmen leisten. Das ist ein richti- Wir teilen zwar alle Ihre Zielsetzung, aber die als Folge ges Ansinnen. Deswegen kann ich nur sagen: Ich ver- Ihrer Politik eingetretene Wirklichkeit ist das genaue stehe wirklich nicht, Gegenteil dieser Zielsetzung. ( [CDU/CSU]: Sie verstehen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) so vieles nicht!) Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen. Wir sind alle darüber froh, dass sich im Bereich der geringer be- dass sich die Union diesem Anliegen nicht anschließen zahlten Tätigkeiten durch die Regelung der Minijobs für kann. Millionen von Menschen in unserem Land die Möglich- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dass Sie so vie- keit eröffnet hat, sich etwas weiß, also durch legale Tä- les nicht verstehen, ist das Problem!) tigkeit, hinzuverdienen zu können. Ich möchte allerdings an die Vorgeschichte dieses Ge- Es geht auch um die Bekämpfung von Wirtschaftskrimi- setzes erinnern: Es war die rot-grüne Regierung, die nalität und vielem mehr. 1998/99 die damalige 630-Mark-Regelung abgeschafft Natürlich bleibt das ordnungspolitische Ziel eines fai- hat. (B) ren, funktionsfähigen Wettbewerbs und niedrigerer (Dr. [FDP]: Was hat man (D) Lohnnebenkosten bestehen; das ist völlig richtig. Das sich dabei wohl gedacht!) hat aber mit diesem Gesetz nichts zu tun; das muss man an anderen Stellen regeln. Wir tun dies teilweise mit gro- Jetzt möchte ich mich ganz konkret an Sie, Herr Finanz- ßen Anstrengungen. Aber all die Reformbemühungen minister Eichel, wenden. Das Land Hessen hatte damals und Reformvorschläge, die in der Vergangenheit aufeine neue Landesregierung und Sie aus dem Amt ge- dem Tisch gelegen haben, um dieses Ziel zu erreichen, wählt. Sie haben dann zu Recht gesagt, Sie akzeptierten haben Sie abgelehnt. die Entscheidung des Wählers. Keine Entscheidung, die im Bundesrat auf die Stimmen des Landes Hessen ange- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das ist Quatsch!) wiesen ist, solle mithilfe Hessens zum Gesetz werden. Danach haben Sie Ihre Eintrittskarte ins Kabinett da- Es ist scheinheilig, andere Gesetze anzuführen, Forde- durch gezogen, dass Sie dafür gesorgt haben, dass die rungen aufzustellen, zu glauben, dass man mit diesen630-Mark-Arbeitsverhältnisse mit den Stimmen Hessens Begründungen ein so gutes Gesetz ablehnen kann, und abgeschafft wurden. Das hat Millionen von Menschen in dann, wenn Maßnahmen auf dem Tisch liegen, diese im- unserem Land massiv betroffen. mer wieder abzulehnen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich kann Sie nur auffordern: Stimmen Sie diesem Ge- Und es bedurfte wirklich jahrelanger Anstrengungen, bis setzentwurf zu! Wir erfüllen damit eine ordnungspoliti- sich ein Teilerkenntnisprozess bei Ihnen – von der FDP sche Aufgabe. Wir leisten hiermit einen weiteren Beitrag und der Union getrieben – im Vermittlungsverfahren zur Bekämpfung der Schwarzarbeit. Ich hoffe, dass sich konkretisieren konnte, sodass die 400-Euro-Minijob- die Opposition dem – ich muss es wirklich noch einmal regelung eingeführt wurde. Hier haben Sie Verantwor- sagen – nicht entzieht und Sie dieses Gesetz nichttung getragen und wir haben versucht, Korrekturen schlechtreden, sondern Ihren Beitrag leisten, indem Sie vorzunehmen. Je stärker wir über den Bundesrat die Ge- sagen: Das ist gut so. Auch wir wollen daran arbeiten. legenheit bekommen, Ihre Politik zu korrigieren, desto Deswegen unterstützen wir in dieser Frage die Regie- besser ist das für unser Land. Das hat man auch an dieser rung. Regelung gesehen. Danke schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schwarzarbeit ist Realität in Deutschland. Natur- und bei der SPD) gemäß lässt sie sich statistisch nicht erfassen. In der 9742 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Carl-Ludwig Thiele (A) Antwort auf eine Anfrage der FDP wurde im Frühjahr Gesetze gegen illegale Betätigung und Beschäftigung (C) letzten Jahres bereits darauf hingewiesen, dass gutdie Probleme nicht lösen. 350 Milliarden Euro – das sind mehr als 16 Prozent des- sen, was in unserem Land pro Jahr erwirtschaftet wird – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten durch Schwarzarbeit erwirtschaftet werden. Weit mehr der CDU/CSU) als 9 Millionen Menschen sollen zumindest teilweise in Sie werden vor allen Dingen nicht gelöst, solange Sie der Schattenwirtschaft tätig sein. nicht an die Ursachen der Schwarzarbeit gehen. Der Staat kann mit schärferen Kontrollen und neuen Befug- Die FDP tritt dafür ein,dass schwere Fälle von ge- nissen für die Zollbehörden zur Bekämpfung der werblicher Schwarzarbeit konsequent, auch durch Zoll- Schwarzarbeit kein neues Unrechtsbewusstsein bei den fahnder, verfolgt werden. Hierbei geht es häufig um or- Bürgern schaffen. Dieses wird nicht eintreten, solange es ganisierte Wirtschaftskriminalität. Dadurch werden die in unserem Lande bei zu hohen Steuern und Abgaben Firmen im Wettbewerb benachteiligt, schlechter gestellt und einer überbordenden Bürokratie bleibt. Man muss und möglicherweise aus dem Markt gedrängt, Firmen, deshalb an die Ursachen der Schwarzarbeit gehen. Man die ihre Steuern und Abgaben gesetzmäßig zahlen. Des- muss die Gesetze der sozialen Marktwirtschaft wieder halb ist es richtig, dass schon jetzt Schwarzarbeit verbo- entdecken, damit sich unser Land von sich heraus wieder ten ist. Verstöße dagegen werden auch schon jetzt straf- entwickeln kann. rechtlich verfolgt. Worin liegen denn die Ursachen der Schwarzarbeit? – Die FDP begrüßt daher die Zielsetzung des Gesetz- Wir haben eine viel zu hoheSteuer- und Abgaben- entwurfs, Schwarzarbeit, insbesondere in banden- und belastung. Der viel wirksamere Weg zur Bekämpfung gewerbsmäßig organisierter Form, zu bekämpfen. Aller- der Schwarzarbeit wäre eine Rückführung der Steuer- dings ist die FDP der Auffassung, dass dieser Gesetzent- und Abgabenbelastung. Hier muss angesetzt werden. Es wurf nicht geeignet ist, zur Umsetzung dieses Ziels ent- ist doch für einen Kfz-Gesellen oder Maler überhaupt scheidend beizutragen. Der Gesetzentwurf spiegeltnicht verständlich, dass er, gemessen an seinem Brutto- Lösungsmöglichkeiten vor, die die Schwarzarbeit nicht lohn, sechs Stunden arbeiten muss, um sich eine einzige nennenswert bekämpfen können; denn solange nicht an Stunde seiner eigenen Arbeitszeit überhaupt leisten zu die Ursachen der Schwarzarbeit gegangen wird, bleiben können. alle diese Gesetzesvorhaben nur an der Oberfläche. (Florian Pronold [SPD]: Dann sind die Löhne (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zu niedrig!) In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es, dass Das Problem besteht doch darin, dass den Arbeitnehme- (B) ein neues Unrechtsbewusstsein gegenüber Schwarzar- rinnen und Arbeitnehmern von dem, was sie brutto erar- (D) beit geschaffen und durch Hilfestellungen für die Bürge- beiten, netto zu wenig verbleibt. Das liegt daran, dass die rinnen und Bürger rechtmäßiges Verhalten gefördertSteuer- und Abgabenquote, vor allem aber die Staats- werden soll. Von Hilfestellungen für die Bürger finde ich quote in unserem Land viel zu hoch ist. Dieses bezieht in diesem Gesetzentwurf nichts. Durch noch mehr Ord- sich gerade auch auf die einfachen Tätigkeiten. nungsmaßnahmen und noch mehr Bürokratie werden Deshalb ist es gut, dass wir mit den 400-Euro-Jobs keine weiteren Anreize gesetzt, statt schwarz weiß zu ar- – auf die bin ich schon eingegangen – eine Regelung ge- beiten. funden haben. Das ist ein Schritt in die richtige Rich- Seit 1998 hat Rot-Grün eine Gesetzesinitiative nach tung. Aber auch an der Stelle könnte mehr geschehen. der anderen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit be- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So ist es!) schlossen: das Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversi- cherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte, das Warum sind Sie eigentlich nicht bereit, im Bereich der Gesetz zur Eindämmung illegaler Betätigung im Bauge- privaten Haushalte das Übel an der Wurzel zu packen? werbe, das Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Be-Warum lehnen Sie die von der FDP immer wieder gefor- schäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr, das Ge- derte Regelung ab, hauswirtschaftliche Arbeitsverhält- setz zur Erleichterung der Bekämpfung der illegalennisse dadurch anzuerkennen, dass die Abzugsfähigkeit Beschäftigung und Schwarzarbeit und das Dritte Gesetz dieser Kosten für einen privaten Haushalt bis zu für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. 12 000 Euro im Jahr sichergestellt wird? An dieser Stelle ist pure Ideologie im Spiel, mit der Sie eine vernünftige Dies sind nur die Gesetze, die sich konkret damit be- Regelung verhindern. schäftigt haben. Dabei habe ich noch die einzelnen Vor- schriften in anderen Gesetzen außer Acht gelassen, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zusätzlich beschlossen worden sind. Nur können wir an In dem Gesetzentwurf der FDP zur Einführung einer dieser Stelle keine Effekte feststellen. Wir können aber neuen Einkommensteuer haben wir in § 26 vorgesehen, feststellen, dass die Schwarzarbeit in Deutschland trotz dass im Kalenderjahr nachgewiesene Aufwendungen dieser weiteren Regulierungswut zunimmt. von bis zu 12 000 Euro vom Gesamtbetrag der Einkünfte (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja!) abgezogen werden können, wenn eine Person in einem hauswirtschaftlichen Beschäftigungsverhältnis, insbe- Wir haben an dieser Stelle nämlich kein Gesetzes-, sondere zur Pflege des Steuerbürgers, seiner Kinder oder sondern ein Vollzugsdefizit. Daher werden noch mehr sonstiger Angehörigen, tätig ist. Voraussetzung dafür ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9743

Carl-Ludwig Thiele (A) aber, dass das Arbeitsverhältnis sozialversicherungs-nen anderen Politikstil brauchen, als Sie ihn bisher an(C) pflichtig ist und eine Lohnsteuerkarte vorliegt. Wir wol- den Tag gelegt haben. len, dass der private Haushalt in diesem Rahmen als Arbeitgeber offiziell anerkannt wird, weil dies ein wirk- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – samer Weg ist, vielen Menschen aus der Schattenwirt- Franz Müntefering [SPD]: Ab ins Haus der schaft, aus der Schwarzarbeit herauszuhelfen. Geschichte! – Weiterer Zuruf von der SPD: Das habt ihr 40 Jahre lang nicht hingekriegt!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse: Meine sehr verehrten Damen und Herren von Rot- Ich erteile das Wort dem Kollegen Reinhard Schultz, Grün, wann lernen Sie endlich, dass es andere Möglich- SPD-Fraktion. keiten als nur repressive Maßnahmen der Strafverfol- gung gibt, Bürger steuerehrlich zu machen? Sie haben Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): hier – das muss der Öffentlichkeit vielleicht doch noch Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und etwas bekannter werden – in § 14 Umsatzsteuergesetz Kollegen! Das waren ja große Töne, die hier bereits am eine Regelung vorgesehen, die jeden Grundstückseigen- frühen Vormittag zu hören waren. Sie alle liefen darauf tümer verpflichtet, seine Rechnungen zwei Jahre aufzu- hinaus, die Probleme der illegalen Beschäftigung, der bewahren, was es bisher überhaupt nicht gegeben hat. In Schwarzarbeit, der Schattenwirtschaft und der Hinterzie- der Begründung dazu heißt es: hung von Steuern und Sozialbeiträgen in gigantischem Um eine bessere Kontrolle der Versteuerung dieser Umfang eher zu verniedlichen, als wirklich den Finger Umsätze zu ermöglichen, wird der private Empfän- darauf zu legen, welch ein Krebsgeschwür das für unsere ger einer … sonstigen Leistung im Zusammenhang Gesellschaft bedeutet. mit einem Grundstück zur Aufbewahrung der erhal- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christine tenen Rechung verpflichtet. Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es heißt weiter: Das Ich verstehe es gut, dass Sie, Frau Wülfing, und auch Sie, lieber Herr Kollege Thiele, so vorgehen. Denn das, soll eine umfassende Kontrolle der Versteuerung was Sie in Ihrer Regierungsverantwortung auf diesem der Umsätze durch den leistenden Unternehmer er- Gebiet zustande gebracht haben, war nur durch Vernied- möglichen. lichung gekennzeichnet. Lassen Sie mich an das von Ih- nen zitierte Entsendegesetz erinnern, das Norbert Blüm (B) Wollen Sie denn wirklich jedem Gartenarbeiter hin- (D) terhergehen und den Grundstückseigentümer verpflich- unter dem Druck der Öffentlichkeit im allerletzten Mo- ten, die Rechnung für dieLeistung, die der Gärtner in ment gerade noch durch das Parlament gebracht hat, als seinem Garten erbracht hat, aufzubewahren? Wo leben es auf allen Regierungsgroßbaustellen von Kolonnen wir denn? Dadurch werden wir zu einem Überwa-ausländischer Arbeiter wimmelte und der Einzige, der chungsstaat, den ich wirklich für total falsch halte. dort Deutsch verstand, der holländische Bauleiter war. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das hat sich nur Wir fordern eine drastische Vereinfachung des Wirt- nicht geändert!) schafts-, Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts. Die Arbeits- kosten müssen gesenkt werden. Wir benötigen eine um- Diese Situation gab es hier in Berlin. Gleichzeitig waren fassende Reform der Arbeitsmarktbedingungen. DieHunderttausende Bauarbeiter arbeitslos. Das haben Sie Steuerbelastung muss gesenkt werden. Hier muss ange- organisiert. setzt werden. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Trotz Ihrer vielen Wenn man in Ihrem Gesetzentwurf dann noch liest, Gesetze hat sich das überhaupt nicht geän- dass dadurch in diesem Jahr zusätzliche Einnahmen für dert!) den Staat in Höhe von 1 Milliarde Euro erzielt werden Die Umsetzung der europäischen Entsenderichtlinie sollen, stellt man fest, dass sich an dieser Stelle doch nur durch die Verabschiedung des Entsendegesetzes so lange das Chaos der Luftbuchungen des Finanzministers fort- hinauszuzögern lag unmittelbar in Ihrem eigenen Inte- setzt. Ihr Haushalt stimmtvorne und hinten nicht; Sie resse. Das war schändlich. Darüber ist damals auch öf- müssen einen Nachtragshaushalt aufstellen. Aber diefentlich diskutiert worden. Jetzt können Sie nicht so tun, Mehreinnahmen von 1 Milliarde Euro dürfen Sie getrost als hätten Sie auf diesem Gebiet eine glorreiche Vergan- wieder herausrechnen, weil Sie sie durch dieses Gesetz genheit – im Gegenteil. nicht bekommen werden. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christine Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Rot-Grün, ich kann Sie nur bitten: Stellen Sie sich der Sie haben uns hier einen Riesennachholbedarf hinterlas- Wirklichkeit in unserem Lande, nehmen Sie sie zur sen. Kenntnis und bringen Sie Reformen voran, die in unse- rem Land zu mehr Arbeit, mehr Beschäftigung, mehr Herr Thiele, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, Sozialabgaben und mehr Steuereinnahmen führen! Dann dass während unserer Regierungsverantwortung eine kann es aufwärts gehen. Das bedeutet aber, dass wir ei- Reihe von Gesetzen verabschiedet wurde; denn es ist ein 9744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Riesenproblem, eine mafiös organisierte Struktur am mobilisieren würde uns schon deutlich weiterhelfen. Al- (C) Bau und in anderen Bereichen zu packen. lein wenn wir 20 Prozent dieser Arbeitsverhältnisse in eine legale Beschäftigung überführen könnten, würde (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das hat doch zumindest zunächst einmal ein großer Teil der Haus- nichts genützt! Das hat überhaupt nichts ge- haltsprobleme bei uns, in den Städten und Gemeinden, in nützt!) den Ländern, bei den Sozialsystemen deutlich besser ge- In diesem Bereich stellen sich die beteiligten Personen ja löst werden können als bisher. nicht etwa und entschuldigen sich, wie es der zer-Allein wenn wir eine langfristige Strategie gegen ma- knirschte Autofahrer tut, der dabei erwischt worden ist, fiös organisierte Schwarzarbeit am Bau verfolgten, wä- dass er bei Rot über die Ampel gefahren ist. Hier beste- ren – bei vorsichtigem Optimismus – etwa 40 Milliarden hen vielmehr Strukturen, deren Drahtzieher meistensEuro für die Sozialsysteme und den Fiskus mobilisier- überhaupt nicht erwischt werden können, und die da-bar. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen, aber durch gekennzeichnet sind, dass in einer Kette von Ver- auf mittlere Sicht. Um diese Größenordnung geht es, schachtelungen von Subunternehmertätigkeiten am Ende nicht um die 2,5 Milliarden Euro, die im Zusammenhang eine illegale Kolonne steht, die durch Schwarzarbeit,mit der Streichung des Sparerfreibetrags genannt wer- vorbei am Fiskus und an den Sozialsystemen, riesigeden. Diese 40 Milliarden Euro sind die Dimension, um Gewinne macht. Darum geht es. die es hier geht, sage ich einmal – etwas ironisch – aus Da wir derzeit eine heftige Diskussion über den an- aktuellem Anlass. Das ist eine große Chance. geblichen Widerspruch zwischen einer aufWachstum Wir wissen ganz genau, dass besonders im Bereich ausgerichteten Haushalts- und Finanzpolitik auf der ei- der haushaltsnahen Dienstleistungen, der kleineren nen Seite und der Notwendigkeit derKonsolidierung Handwerksleistungen rund ums Eigenheim, im Wesent- der Staatsfinanzen auf der anderen Seite führen, kann ich lichen nicht kriminelle Energie der Beweggrund für nur feststellen: Im Lichte unserer heutigen Diskussion Schwarzarbeit ist. Natürlich spielen dabei hohe Preise besteht dieser Widerspruch eigentlich nicht. Denn wenn für Handwerker und die fehlende Bereitschaft oder das wir eine sparsame Haushaltsführung, den Abbau über- fehlende Bewusstsein eine Rolle, die modernen Mög- kommener Subventionen, eine richtige Schwerpunktset- lichkeiten geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse zung auf der Ausgabenseite und eine Senkung der– das ist fast kostenneutral für den Privathaushalt – zu Steuer- und Abgabenlast im Rahmen des Möglichen be- nutzen. Da muss Aufklärung geleistet werden. Ich bin treiben und gleichzeitig alle Einnahmen, auf die derüberzeugt, dass wir auf dem Gebiet weiterkommen. Staat und die Sozialversicherungen Anspruch haben, mobilisieren, dann, so denke ich, ist es möglich, sowohl Im Bereich der Schwarzgastronomie sind wir weiter- (B) die Finanzen zu konsolidieren als auch Wachstum zu fi- gekommen: Gerade aus dem Bereich der Gastronomie(D) nanzieren. Darum geht es hier. kommt der höchste Anteil von Anmeldungen bei der Mi- nijobzentrale. Die haben sich umgestellt, weil bei ihnen Es geht um Beträge von mehreren Milliarden Euro, das Entdeckungsrisiko verhältnismäßig hoch ist. Wenn die am Fiskus und an den Sozialversicherungssystemen wir in anderen Bereichen das Entdeckungsrisiko erhöhen vorbeigeschleust werden, die uns schlicht und einfach würden, würden auch die sich umstellen. Um aber die fehlen und die uns in steigendem Maße in eine finan-gesamte Dimension aufzuzeigen: Lediglich 15 Prozent zielle Notlage bringen. Wenn wir diese Mittel mobilisie- aller geleisteten Schwarzarbeit entstehen im Zusammen- ren könnten, wäre so manche schwierige Diskussionhang mit privaten Haushalten – 85 Prozent sind gewerb- über Einschnitte in das soziale Netz genauso wenig er- lich und organisiert. Das sind die Dimensionen, um die forderlich wie die immer wiederkehrende Diskussiones hier tatsächlich geht. Deswegen ist es natürlich richtig über Senkungen auf der Ausgabenseite, was beispiels- zu sagen: Wir wollen die Leistungen rund um die priva- weise die Investitionen im Bundeshaushalt, in den Haus- ten Haushalte nicht kriminalisieren. Da wird auch kein halten der Länder und in denen der Städte und Gemein- Zollbeamter hinter den Zaun gestellt. den betrifft. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Dann lassen Sie Das ist der richtige volkswirtschaftliche bzw. gesamt- die doch ganz raus!) wirtschaftliche Zusammenhang, über den hier diskutiert werden muss. Dazu gehört erstens der Kampf gegen den Es geht nicht um den Rentner, der den Zaun anstreicht; zunehmenden Umsatzsteuerbetrug, den wir auf europäi- es geht nicht um den Nachhilfelehrer und es geht nicht scher Ebene führen. Dazu gehört zweitens, dass Maß- um die Putzfrau. Dort wird nicht mit dem Strafrecht zu- nahmen gegen die Flucht vor der Zinsbesteuerung in das geschlagen; das sind nach wie vor Bußgeldtatbestände. Ausland durchgeführt werden. Vielmehr geht es uns um dieorganisierte kriminelle Schwarzarbeit. Diese muss stärker strafrechtlich ver- Mit unseren Maßnahmen, die eine Brücke hin zur Steu- folgt werden erehrlichkeit beinhalten, haben wir einen ersten Schritt getan. Aber wir müssen das sicherlich weiterentwickeln. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Dann müssen Sie Drittens gehört dazu der Kampf gegen Schwarzarbeit ein anderes Gesetz schreiben!) und illegale Beschäftigung. Ich erinnere daran – Minis- und dazu müssen wir eine angemessene Organisation der ter Eichel hat es gesagt –: Ein Gesamtumsatz zwischen für die Verfolgung zuständigen Behörden aufbauen. 350 und 400 Milliarden Euro wird illegal erwirtschaftet. Einen Bruchteil davon durch eine gezielte Strategie zu (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9745

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Organisierte Schwarzarbeit geht häufig mit anderenWenn gesichert ist, dass derjenige verurteilt werden(C) Formen organisierter Kriminalität einher: Geldwäsche, wird, wird er von der Teilnahme an öffentlichen Aus- Menschenhandel, Steuerbetrug in großem Umfang. Ich schreibungen ausgeschlossen. widerspreche Ihnen, Frau Wülfing, und der Opposition ausdrücklich, wenn Sie versuchen, auch diese Formen Wir müssen leider noch immer das Phänomen be- schwerer Kriminalität mit dem Hinweis auf zu hoheobachten – das richte ich besonders an die Adresse der Steuern, Sozialabgaben oder sogar zu hohe Löhne zu er- öffentlichen Auftraggeber –, dass der Zoll, der offen- klären. sichtlich sehr wirksam kontrolliert, auch auf öffentlichen Baustellen Schwarzarbeiter und illegal Beschäftigte ent- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jerzy deckt; es waren in den letzten Wochen einige Fernseh- Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – sendungen dazu zu sehen. Der Grund ist natürlich, dass Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das haben wir bei der Angebotsausgestaltung ein Preisdumping in doch gar nicht gemacht! Das wissen Sie ganz Schwung kommt, bei dem sich, da nach dem niedrigsten genau!) Preis gegangen wird, nur derjenige durchsetzen kann, der illegal Beschäftigte arbeiten lässt. Das darf nicht Diejenigen, die auf Baustellen, im Unterhaltungsge-sein. Wir von Bund, Ländern und Kommunen müssen werbe oder anderswo, häufig in einer Kette von krimi- als öffentliche Hand Vorbild sein. Wir müssen bei uns nellen Beziehungen, Schwarzarbeit und illegale Be-eine Selbstkontrolle einbauen, damit künftig auch darauf schäftigung nutzen oder anbieten, würden das auch bei geachtet wird, wie im Rahmen von Bauaufträgen die Ar- Niedrigsteuersätzen und auch dann tun, wenn wir diebeiten abgewickelt werden. Das ist wichtig, damit wir Sozialbeiträge halbieren würden. Sie werden es weiter- glaubwürdig sind. hin machen, solange es im Einzelfall auch nur einen ge- ringfügigen illegalen Ertrag bringt. Denn die Grundlage (Beifall bei der SPD) für das massenhafte Auftreten von Schwarzarbeit bildet der Umstand, dass es sich rechnet, und nicht die absolute Ich habe bereits in der ersten Lesung angekündigt, Höhe der Sozialversicherungsbeiträge. Solange es über- dass wir vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der haupt Sozialversicherungsbeiträge gibt, lohnt es sich, Praxis des Zolls, der Arbeitsverwaltung, der Kriminalpo- massenhaft Schwarzarbeit zu organisieren. Insofern ist lizei, der Gewerkschaften, des Handwerks und der In- es ein Irrglaube und folgen Sie einer falschen Spur, wenn dustrie das Gesetz im Rahmen des parlamentarischen Sie auf angeblich zu hohe Sozialabgaben, zu hohe Steu- Verfahrens weiter verbessern und die Einwände und An- ern verweisen. Es geht hier um kriminelle Energie und regungen des Bundesrats berücksichtigen werden. Ich die Abschöpfung eines nicht kontrollierten Marktes. will, weil Sie hier die stolze Opposition geben, auf Fol- gendes hinweisen: Wir haben – mit Ausnahme eines ein- (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zigen, relativ unbedeutenden Tatbestandes – alle Anre- (D) DIE GRÜNEN) gungen der Bundesländer in diesem Gesetz umgesetzt. Sie dagegen haben sich aus dem allgemeinen Konsens Das ist mit dem Steuerrecht oder mit dem Sozialver-populistisch herausgestohlen. Zwischen Bundesrat und sicherungsrecht nicht zu bekämpfen. Da hilft nur einder Mehrheit in diesem Haus besteht eine große Gemein- flächendeckender robuster Kampf mit allen möglichen samkeit, was die Notwendigkeit des Kampfes gegen or- polizeilichen Mitteln; ganisierte Schwarzarbeit angeht – bis hin zum Wortlaut (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Dann hätten Sie des Gesetzes. Denn wir wissen, dass wir beim Vollzug ein besseres Gesetz machen müssen!) vor Ort diesen Konsens brauchen. darum geht es, wie in anderen Fällen organisierter Kri- (Beifall bei der SPD) minalität auch. Wir haben aus eigenem Antrieb sichergestellt, dass Wir haben mit diesem Gesetz sichergestellt, dass alle zwischen Zoll, Steuerfahndung und Polizei im Kampf Formen gewerbsmäßiger Schwarzarbeit ausdrücklichgegen gewerbliche Schwarzarbeit und andere Formen Straftatbestände sind, die der Strafverfolgung unterlie- organisierter Kriminalität eine lückenlose Zusammen- gen. Die Strafen werden empfindlich sein. Daten vonarbeit erfolgt, dass alle wichtigen Informationen wech- Unternehmen oder Einzelpersonen, die Schwarzarbeit in selseitig weitergegeben werden, dass gemeinsame Er- großem Umfang durchführen oder zulassen, werden in mittlungsteams aufgestellt werden können und dass alle einer zentralen Erfassungsstelle zusammengeführt. Beteiligten Zugriff auf die bestehenden oder neu einzu- Wer als Unternehmer Schwarzarbeiter oder illegal Be- richtenden Datenbanken haben, wenn das für ihre Er- schäftigte einsetzt und dabei erwischt wird, wird von der mittlungen notwendig ist. Wir haben darüber hinaus si- Teilnahme an Ausschreibungen öffentlicher Aufträge für chergestellt, dass sich die Zollbeamten Zutritt zu längere Zeit ausgeschlossen. Sie weisen in diesem Zu- Baustellen, Fahrzeugen und Räumlichkeiten verschaffen sammenhang darauf hin, dass der arme Organisator von können, in denen sie Personen oder Unterlagen vermu- Schwarzarbeit so schnell ja gar nicht verurteilt werden ten, die für die Ermittlungen wichtig sind. Auch hier gab könne. – Ja, während der fünf Jahre, die das Verfahren es in der Vergangenheit Lücken. dauert – weil er mit einer halben Kompanie von Rechts- anwälten bis in die dritte Instanz geht –, organisiert er Wir haben – entgegen dem ursprünglichen Gesetzent- weiter Schwarzarbeit. Diesen Missstand wollen wirwurf – daran festgehalten, dass Bauarbeiter, Arbeitneh- nicht. mer ihren Sozialversicherungsausweis bei sich führen müssen. Wir wissen, dass der Sozialversicherungsaus- (Beifall bei der SPD) weis ein fälschungsanfälliges Dokument ist. Aber in 9746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Verbindung mit einem anderen, fälschungssicheren Per- Das ist auch für das Rechtsbewusstsein in den Wettbe-(C) sonaldokument, zum Beispiel dem Personalausweis, hat werbs- und Marktbeziehungen ganz wichtig. Wir wol- er natürlich eine Aussagekraft. Wir appellieren, len, so dass den Sozialversicherungen und dem Fiskus, dem schnell wie möglich eine elektronisch lesbare Jobcard Bund, den Ländern und den Gemeinden, durch die Aus- einzuführen, die auch die notwendigen Sozialversiche- trocknung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit rungsdaten enthält. Das würde die Kontrolle auf denMilliardenbeträge zur Finanzierung von Wachstum und Baustellen natürlich sehr erleichtern. Zukunftsaufgaben zufließen. Ich bin überzeugt davon, dass dieses Gesetz einen Beitrag dazu leistet, diese ganz (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christine wichtige Schlacht zu gewinnen. Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben festgestellt, dass die Gerichte bei der Be- DIE GRÜNEN) messung der Bußgelder, die sie bisher für Schwarzarbeit verhängt haben, häufig an der unteren Grenze geblieben sind. Damit haben sie mit dazu beigetragen, dassPräsident Wolfgang Thierse: Schwarzarbeit im gesellschaftlichen Bewusstsein eher Das Wort hat nun Kollege Stefan Müller, CDU/CSU- als eine Petitesse, als ein Kavaliersdelikt angesehenFraktion. wird. Wir haben jetzt sichergestellt, dass die Bundesre- gierung durch Rechtsverordnung den Bußgeldrahmen Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): für Schwarzarbeit festlegt und das Strafmaß für be- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und stimmte Tatbestände nicht unterschritten werden darf. Herren Kollegen! Herr Kollege Schultz, niemand von Die Höhe der Bußgelder sorgt dafür, dass es empfindli- der CDU/CSU bestreitet, dass Schwarzarbeit in che Strafen gibt, die eine abschreckende Wirkung entfal- Deutschland Besorgnis erregende Ausmaße angenom- ten werden. men hat. Richtig ist, die Schattenwirtschaft hat in Inzwischen gibt es neue Formen von Menschenhan- Deutschland mittlerweile ein Volumen von – wir haben del – auch darüber haben wir im Rahmen des Gesetzge- die Zahlen des Öfteren schon gehört – rund 370 Milliar- bungsverfahrens diskutiert –, der nicht mehr nur zum den Euro erreicht. Das entspricht in etwa 16 Prozent des Zwecke der Prostitution oder des Mädchenhandelsoffiziellen Bruttoinlandsproduktes. durchgeführt wird, sondern bei dem Menschen zu dem Richtig ist auch, dass analog zu dem weiteren Anstieg Zweck verschleppt werden, in Deutschland ohne Entgelt der Schwarzarbeit die Bereitschaft, in der Schwarzarbeit arbeiten zu müssen. Sie erhalten lediglich Frühstück,tätig zu sein, weiter gestiegen ist. Schwarzarbeit wird müssen in Baufahrzeugen übernachten, werden dort ein- von vielen Privaten – ob uns das gefällt oder nicht – zu- geschlossen und müssen ansonsten Stunde um Stunde nehmend als Korrekturmöglichkeit des kleinen Mannes (D) (B) malochen. Das ist kein seltenes Phänomen. Deswegen verstanden und leider Gottes akzeptiert. Eine aus dem weiten wir – nicht in diesem Gesetz, sondern in einem Gesetz, das morgen auf der Grundlage einer EU-Richt- vergangenen Jahr stammende Umfrage zeigt, dass mehr linie in erster Lesung eingebracht wird – den Begriff des als die Hälfte der Deutschen Verständnis dafür zeigt, Menschenhandels rechtlich aus: Die Strafverfolgungdass Privatleute Schwarzarbeiter beschäftigen. wird auf Tatbestände wie denMenschenhandel zum Die Folgen für die öffentlichen Kassen sind natürlich Zweck der erpressten Arbeit ausgedehnt, damit dieseenorm. Durch die Schwarzarbeit entstehen dem deut- besser als in der Vergangenheit verfolgt werden können. schen Staat jedes Jahr immense Einnahmeausfälle. Die (Beifall bei der SPD) vom Zoll für das Jahr 2003 ermittelte Schadensumme beläuft sich auf knapp 350 Millionen Euro. Insofern ist Die organisatorischen Voraussetzungen sind bereits die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe unbestritten. zum 1. Januar dieses Jahres geschaffen worden. Die Zu- ständigkeiten bei der Bekämpfung von Schwarzarbeit In den Beratungen IhresGesetzentwurfes haben wir und illegaler Beschäftigung wurden auf den Zoll verla- immer wieder deutlich gemacht: Das mit dem Gesetzent- gert. Durch die Zusammenführung von 2 500 Bedienste- wurf verfolgte Ziel, nämlich die Schwarzarbeit nachhal- ten der Arbeitsverwaltung und 2 500 Bediensteten des tig zu bekämpfen, wird von uns ausdrücklich begrüßt Zolls entsteht – Minister Eichel hat darauf hingewiesen – und findet unsere Unterstützung. Allerdings, meine Da- eine schlagkräftige Struktur. Weitere 2 000 Bedienstete men und Herren von Rot-Grün, erschien der Gesetzent- sollen mobilisiert werden. Mit 133 Standorten entsteht wurf von vornherein nicht geeignet, das von Ihnen selbst ein dichtes Netz. gesteckte Ziel zu erreichen. Das ist eine stattliche Polizeimacht. Wenn sie die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- technischen Mittel an die Hand bekommt – mit diesem neten der FDP) Gesetz geben wir sie ihr an die Hand –, dann kann man Durch den vorliegenden Gesetzentwurf wurde ver- in die Schlacht gegen organisierte Schwarzarbeit undsucht, zwei Dinge miteinander zu verbinden. In der An- illegale Beschäftigung ziehen und dabei auch Erfolg ha- hörung hat einer der Sachverständigen davon gespro- ben. Die gesetzlichen, organisatorischen und personellen chen, dass es sich um ein Gesetz „zur Bekämpfung von Voraussetzungen sind geschaffen. Ich bin überzeugt da- von, dass wir Erfolg haben werden. Raubtieren und Mäusen“ handelt. Sie haben mit dem Gesetzentwurf versucht, einerseits die gewerbsmäßige Wir wollen, dass ehrliche Unternehmen mit ehrlichen Schwarzarbeit – sie hat in einigen Branchen, beispiels- Preisen wieder eine Chance im Wettbewerb bekommen. weise der Bauwirtschaft, zugegebenermaßen bedrohli- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9747

Stefan Müller (Erlangen) (A) che Ausmaße angenommen – zurückzudrängen und an- persönlich es handhaben, wenn Sie eine Rechnung für(C) dererseits das rechtmäßige Verhalten im Privatbereich zu ein Gewerk erhalten, für das in der Regel zwei Jahre Ge- fördern. währleistung gilt: Werfen Sie dann diese Rechnung weg oder bewahren Sie sie auf? Fühlen Sie sich dadurch, dass (Florian Pronold [SPD]: Was ist daran Sie dies tun, zusätzlich belastet, nur weil es jetzt außer- schlecht?) dem gesetzlich vorgeschrieben ist? Dass gewerbliche Schwarzarbeit zurückgedrängt und bekämpft werden muss, ist unbestritten. Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Aber Ich stelle Ihnen eine Gegenfrage: Mäuse in der Speisekammer sind auch nicht so (Lachen bei der SPD) angenehm!) Wenn es nach Ihrer Anschauung ohnehin gemacht wird, Dass Instrumente zur Bekämpfung der gewerblichenwarum müssen Sie es dann überhaupt gesetzlich regeln? Schwarzarbeit notwendig sind, ist ebenso unbestritten; das wird auch von uns nicht infrage gestellt. Aber die Instru- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mente, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot- Ich rede hier von hohen Rechnungsbeträgen. Wir haben Grün, mit diesem Gesetzentwurf an die Hand nehmen, füh- im Gesetzgebungsverfahren angeregt, für geringe Be- ren zu keiner Verbesserungder Strafverfolgung für ge- träge eine Bagatellgrenze einzuführen. Warum haben Sie werbliche Delikte. Im Gegenteil: Sie erschweren in eini- sich dem verschlossen? Warum brauchen Sie eine ge- gen Teilbereichen sogar die Kriminalitätsbekämpfung. setzliche Regelung für etwas, das nach Ihrer Meinung (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ohnehin schon gemacht wird? Das leuchtet mir beim NEN]: Was?) besten Willen nicht ein. Andererseits sind die im Gesetzentwurf festgelegten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vorschriften nicht dazu geeignet, das Unrechtsbewusst- neten der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: sein der Privatleute tatsächlich herzustellen. Es reicht Setzen! Sechs!) nicht aus, Rechtsvorschriften in einem neuen Gesetz zu Dieser Gesetzentwurf – das ist schon angesprochen bündeln und Regelungslücken zu schließen. Es reicht worden – steht in einer fragwürdigen Tradition von fünf eben nicht aus, neue Straftatbestände zu schaffen. Es vorhergehenden Gesetzen zur Bekämpfung der reicht auch nicht aus, in großen Tageszeitungen und Ma- Schwarzarbeit. All diesen Gesetzen sind zwei Dinge ge- gazinen ganzseitige Anzeigen zu schalten, um auf die meinsam: Erstens. Bei allen gesetzgeberischen Maßnah- Auswirkungen von Schwarzarbeit hinzuweisen. men in der Vergangenheit haben Sie immer ausschließ- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich auf Repression und Strafe gesetzt. (D) Herr Schultz, Sie haben gerade davon gesprochen, (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass nur 15 Prozent der Schwarzarbeit auf Private ent- NEN]: Irgendwie haben Sie alle den gleichen fällt. Insofern ist es doch erst recht kontraproduktiv, Redeentwurf! Das ist eigenartig!) wenn Sie gerade private Haushalte mit einem Mehr an Bürokratie überziehen, so wie es jetzt geschieht. DieZweitens. Alle Gesetze sind in ihrer beabsichtigten Wir- bußgeldbewehrte Aufbewahrungspflicht von zwei Jah- kung, die Schwarzarbeit nachhaltig zu bekämpfen, ren für Privatleute bedeutet einen immensen Bürokratie- schlicht und ergreifend gescheitert. Die Schattenwirt- aufwand. schaft ist in den letzten Jahren immer weiter angestiegen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) NEN]: Wenn Sie Rechnungen in die Schub- Alle bisherigen Gesetze haben den Anstieg deswegen lade legen, ist das wohl nicht zu bürokratisch!) nicht bremsen können, weil sie ausschließlich auf Strafe Ich möchte darauf hinweisen, dass es Ihr Bundeswirt- und Verfolgung gesetzt und an den Ursachen des Pro- schaftsminister ist, der hier ständig über Bürokratieab- blems nichts geändert haben. bau philosophiert. Wenn aufgrund falscher Politik das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unrechtsbewusstsein nicht vorhanden ist, dann stoßen neten der FDP) repressive Maßnahmen des Staates an die Grenzen ihrer Wirksamkeit. Wir haben im Finanzausschuss eine mehrstündige An- hörung durchgeführt. Dabei ist deutlich geworden, dass die Ursachen für Schwarzarbeit sind: eine zu hohe Steuer- Präsident Wolfgang Thierse: und Abgabenbelastung, eine zu hohe Regulierungs- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegendichte und Bürokratie und eine zu hohe Verunsicherung Schultz? aufgrund der Steuer- und Sozialgesetzgebung. Kurz ge- sagt: ein Versagen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Meine Damen und Herren Kollegen von Rot-Grün, das ist Bitte schön. Ihr Versagen. Wie erklären Sie sich sonst, dass allein in den letzten vier Jahren die Wertschöpfung in der Schatten- wirtschaft um 25 Prozent gestiegen ist? Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Lieber Herr Kollege Müller, ich möchte von Ihnen (Peter Dreßen [SPD]: Warum haben wir denn – trotz Ihres jugendlichen Alters – gerne wissen, wie Sie so hohe Beiträge von euch übernommen?) 9748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Stefan Müller (Erlangen) (A) Fehlende Planungssicherheit aufgrund politischer Ent- Diese Kriminalität verursacht uns allen, der Gesell-(C) scheidungen, eine daraus folgende hohe Verunsicherung schaft, immense, in die Milliarden gehende Schäden. in der Bevölkerung und zudem das seit langem beste- Deswegen ist es völlig richtig, dass diese gewerbliche, hende Gefühl der Ungerechtigkeit vor allem durch die organisierte, bandenmäßig verfasste Schwarzarbeit tat- Steuerbelastung – daran haben Sie nichts geändert. Das kräftig bekämpft wird. alles sind Gründe für die Zunahme der Schwarzarbeit in unserem Land. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Reinhard Schultz [Everswin- Das Gesetz, über das wir heute entscheiden, geht in- kel] [SPD]: Er ist viel zu intelligent, als dass er sofern den völlig richtigen Weg, als sein Ziel die Schaf- es selbst glauben würde!) fung leistungsfähiger Strukturen im Zoll zur Bekämp- fung dieser gewerbsmäßigen Schwarzarbeit ist. Das In den Gesetzesberatungen ist deutlich geworden, dass Gesetz erfüllt dieses Ziel und ist daher richtig. Deswe- eine Strategie, die ausschließlich auf Abschreckung und gen ist es aber auch völlig unverständlich, warum Sie, Verfolgung ausgerichtet ist, nicht zum Ziel führt. Die Er- Meine Damen und Herren von der Opposition, Sonn- fahrungen der Vergangenheit zeigen immer wieder, dass tagsreden gegen die Schwarzarbeit halten, aber diesem verschärfte Razzien und höhere Strafen regelmäßig ins Gesetz nicht zustimmen wollen. Leere laufen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Joachim Poß [SPD]: Was wollen Sie denn SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Ernst machen?) Hinsken [CDU/CSU]: Weil es unausgegoren und allenfalls dem harten Kern der Schwarzarbeit zu und nicht richtig ist, Herr Jerzy Montag!) Leibe rücken. Es gibt nicht nur Gesetze, die zu 100 Prozent richtig Eine Bekämpfung der Symptome alleine über eine in- sind. Wir müssen uns darauf konzentrieren – das sage tensivere Strafverfolgung verursacht vor allemhöhere ich in allem Ernst und in aller Sachlichkeit auch zu Ih- Kosten. Wir haben dankenswerterweise eine Aufzeich- nen von der Opposition –, was die Zielrichtung ist und nung des Bundesfinanzministeriums bekommen. Da-was mit dem Gesetz tatsächlich erreicht wird. Die ban- nach sind allein zwischen 1998 und 2002 die Personal- denmäßig verfasste, gewerbliche Schwarzarbeit wollen und Sachkosten im Bereich der Bekämpfung Sie der alle – wie wir – bekämpfen und Sie behaupten auch Schwarzarbeit um fast 44 Prozent gestiegen. Eine Be- gar nicht, dass dieses Gesetz ein falsches Argument sei. kämpfung der Symptome führt aber nicht zu höherenEs ist auch kein falsches, sondern ein richtiges Argu- (B) Einnahmen, zumindest dann nicht, wenn die Bekämp- ment, und deswegen ist es nicht in Ordnung, dass Sie(D) fung der Ursachen außen vor bleibt. Herr Bundesfinanz- Fensterreden gegen die Schwarzarbeit halten, aber dem minister, insofern sind die Mehreinnahmen Gesetz von nicht zustimmen wollen. 1 Milliarde Euro, die Sie ansetzen, mit einem großen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fragezeichen zu versehen. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist wie bei Meine Damen und Herren von der Opposition, ge- der Maut!) nauso wie es keinen Sinn macht, auf Biegen und Bre- Auch das ist eines der Haushaltsrisiken, mit denen sie chen gute Gesetze schlechtreden zu wollen, muss es in kalkulieren müssen. diesem Hause erlaubt sein, dieses Gesetz auch bei Zu- stimmung nicht auf Biegen und Brechen in allen Punk- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten gutheißen zu müssen. Deswegen erlauben Sie mir, Meine sehr verehrten Damen und Herren von Rot-dass ich einige kritische Anmerkungen zu diesem Ge- Grün, das von Ihnen vorgelegte Gesetz ist ein Etiketten- setz mache. schwindel und findet daher nicht unsere Zustimmung. (Beifall der Abg. Elke Wülfing [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es trifft zu, was der Kollege Schultz ausgeführt hat: Die so genannte kleine Arbeit im privaten Bereich, die, Präsident Wolfgang Thierse: wenn sie legal wäre, in den Bereich der Minijobs fiele, Ich erteile das Wort Kollegen Jerzy Montag, Fraktion macht ungefähr 15 Prozent aus. Bei denjenigen, die ei- des Bündnisses 90/Die Grünen. ner solchen Beschäftigung nachgehen, ist ein fehlendes Unrechtsbewusstsein festzustellen; allerdings möchte ich ihnen nicht mit erhobenem Finger beibringen, dass Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dies höchst kriminell ist. Solche Dienst- und Werkleis- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebetungen sind auch nach der derzeitigen Gesetzeslage nicht Kolleginnen und Kollegen! Schwarzarbeit in Deutsch- in Ordnung; sie sollen und müssen legal ausgeübt wer- land – gewerbliche, organisierte, bandenmäßig verfasste den. Dafür gibt es bereits ein entsprechendes Instrumen- Schwarzarbeit in Deutschland – ist kein Kavaliersdelikt. tarium. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das kann man (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Und wenn unterstreichen!) nicht?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9749

Jerzy Montag (A) Es ist aber meiner Meinung nach sowohl bei der Defi- Fall ist – wie ich es hoffe –, dann würden wir mit dem(C) nition der Schwarzarbeit als auch bei der Beschreibung Gesetz das richtige Ziel verfolgen und auch erreichen. der Aufgaben der Zollverwaltung in den §§ 1 und 2 des Wenn wir hinsichtlich der Abgrenzung Nachbesserungs- Gesetzentwurfs nicht ausreichend gelungen, die so ge- bedarf erkennen sollten, dann können wir dem noch nannte kleine Arbeit, die – ich wiederhole mich –, wenn Rechnung tragen. Deswegen erfolgt auch von meiner sie in legalen Beschäftigungsverhältnissen verrichtetSeite die volle Zustimmungzu dem vorliegenden Ge- würde, den Minijobs entspräche, von der großen Zahl setzentwurf. von Handlungen im Bereich der Wirtschaftskriminalität abzugrenzen, die wir gemeinsam bekämpfen wollen. Danke. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist falsch, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Herr Montag!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Dies ist meiner Meinung nach ein bedauerlicher Fehler Präsident Wolfgang Thierse: im Gesetzentwurf. Ich erteile Kollegin Petra Pau das Wort. (Beifall der Abg. Elke Wülfing [CDU/CSU]) (fraktionslos): – Es bringt nichts, an dieser Stelle Beifall zu klatschen, Petra Pau Frau Kollegin; denn Sie haben im Gesetzgebungsverfah- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ren keinerlei konstruktive Verbesserungsvorschläge dazu Bundesagentur für Arbeit hat die aktuelle Statistik zur unterbreitet. Arbeitslosigkeit vorgestellt. Das Ergebnis ist nieder- schmetternd: Die Zahl der Erwerbslosen hat – saisonbe- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- reinigt – zugenommen. Der Beschäftigungsabbau hat SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Elke sich beschleunigt. Die rot-grünen Hartz-Versprechen Wülfing [CDU/CSU]: Weil Sie das kritisiert sind wie eine Seifenblase geplatzt. haben!) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Ihre Zustimmung in diesem Zusammenhang ist für mich tionslos]) ein Lob von falscher Seite. Die PDS hatte es prophezeit, weil die so genannte Ar- Zu einem zweiten Punkt möchte ich kritisch Stellung beitsmarktreform die Arbeitslosen und nicht die Arbeits- nehmen: Es ist völlig richtig gewesen,losigkeit dass bekämpft. Deshalb haben wir hier eine grundle- § 266 a StGB – bisher die Bestrafung von Arbeitgebern, gende Differenz zu Rot-Grün, aber auch zur Opposition die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung vor- zur Rechten. (B) enthalten – ausgeweitet wird, um die Strafbarkeit auch in (D) den Fällen zu schaffen, in denen die Arbeitgeber ihre ei- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- genen Verpflichtungen bezüglich der Arbeitgeberanteile tionslos]) nicht erfüllen. An dieser Stelle gab es eine Gesetzeslü- Keine grundlegende Differenz haben wir, wenn es da- cke und es war völlig richtig, sie zu schließen. Dazurum geht, die wuchernde Schwarzarbeit zurückzudrän- stehe ich. gen. Das habe ich hier schon vor Wochen betont und ich Aber im Falle des vorliegenden Gesetzentwurfs ver- wiederhole: Schwarzarbeit ist weder ausgleichende birgt sich die Ausnahme in den Tiefen der Sozialgesetz- Gerechtigkeit noch selbst bestimmter Widerstand. gebung. Arbeitgeber machen sich nicht schon mit dem Schwarzarbeit ist unter dem Strich asozial. Der Schaden ersten Cent strafbar, den sie vorenthalten; vielmehr greift für die Sozialsysteme ist enorm, und nicht nur für diese. die Strafbarkeit erst bei einer höheren Summe. Auch in Allerdings – auch das wiederhole ich –: Asozial sind vor dieser Ausnahme, die in der Sache richtig ist, ist es nicht allem jene, die aus organisierter Schwarzarbeit Kapital gelungen, den Bereich der Minijobs von der gewerbli- schlagen, und erst in zweiter Linie jene, die sich zu chen Schwarzarbeit abzugrenzen. Dumpinglöhnen verdingen. Deshalb muss es bei der Ahndung von Schwarzarbeit auch entsprechende Priori- Insgesamt ist meines Erachtens festzustellen, dass mit täten geben. dem Gesetz die richtige Richtung eingeschlagen wird. Die 85 Prozent, von denen der Kollege Schultz gespro- Nun hat der neue Entwurf eines Gesetzes gegen chen hat, werden mit diesem Gesetz ins Visier genom- Schwarzarbeit den Bundesrat durchlaufen und wir bera- men. Die Milliardenschäden, die die Schwarzarbeit im ten über ihn heute erneut und abschließend. Wie Sie wis- gewerblichen Bereich verursacht, können damit – das sen, haben auch die rot-rot regierten Bundesländer Ber- hoffe ich sehr – effektiv bekämpft werden. Die Zollver- lin und Mecklenburg-Vorpommern dem Gesetzentwurf waltung braucht dafür Kompetenzen, die ihr mit diesem grundsätzlich zugestimmt. Aber es gab auch Kritik. In Gesetz zugewiesen werden. diesem Zusammenhang möchte ich noch zwei Punkte anmerken. Erstens. Es gibt in nahezu allen Bundeslän- Wir werden aber in Zukunft sehr sorgfältig prüfendern interdisziplinäre Ermittlungsgruppen gegen müssen, ob in der Praxis – wie Sie es geschildert haben, Schwarzarbeit. Zu den anerkannt erfolgreichen gehört Herr Kollege Schultz, und wie ich es hoffe – diejenigen die Berliner Ermittlungsgruppe. Umso unverständlicher in kleinen Arbeitsverhältnissen, auf die das Gesetz nicht ist es, wenn dieser regionale Sachverstand künftig weni- angewendet werden soll, tatsächlich von den Kontroll- ger wichtig sein soll, als es nötig wäre. Das versteht nie- maßnahmen des Zolls verschont bleiben. Wenn dies der mand. 9750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Petra Pau (A) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- werksrecht – bewährte Regelungen ändern. Dagegen(C) tionslos] – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ sind wir; das machen wir nicht mit. DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Welt, Er bleibt!) in der wir leben, ist schon seltsam: Die Wirtschaft sta- Mein zweiter Kritikpunkt betrifft die Prioritäten. So gniert und die Schwarzarbeit galoppiert. Allein in den richtig es ist, Schwarzarbeit zu ahnden, so wichtig ist es letzten sechs Jahren hatte die Schwarzarbeit einen Zu- auch, Schwarzarbeit zu vermeiden. wachs um 32 Prozent zu verzeichnen. Das gab es in kei- nem anderen Land der Europäischen Union. Folgende (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Feststellung muss uns allen doch zu denken geben: Es tionslos]) gibt in Deutschland nur eine einzige Wachstumsbranche, Es gibt aber Hunderttausende Menschen, die regelrecht nämlich die Schwarzarbeit. Sie ist obendrein der am in Schwarzarbeit gedrängt werden, weil ihnen legaleschnellsten wachsende Wirtschaftsbereich in der Bun- Arbeit in der Bundesrepublik verwehrt wird. Das hat viel desrepublik Deutschland. Neueste Arbeitsmarktstatisti- mit dem Ausländerrecht bzw. -unrecht zu tun. Dasken zeigen – das ist das Schlimmste dabei –: Die Zahl hängt aber auch mit den Hängepartien beim EU-Recht der legal Erwerbstätigen sinkt, während die Zahl der zusammen. Ich möchte dazu nur anmerken: Die Grünen Schwarzarbeiter steigt. haben zu Recht die Verhandlungen mit der CDU/CSU Für uns alle ist es sehr wichtig, festzustellen: Für fast über ein modernes Einwanderungsrecht aufgegeben; jeden zweiten Mitbürger ist die Schwarzarbeit ein Kava- denn egal worum es geht, CDU und CSU verstehen ei- liersdelikt. Es ist Aufgabe der gesamten Politik, Zusam- gentlich immer nur Polizei oder Terrorabwehr. menhänge verstärkt klar zu machen; denn den meisten (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Mitbürgern ist nicht bewusst, dass die Schwarzarbeit ei- tionslos]) ner der Totengräber für den ehrlich arbeitenden kleinen und mittleren Unternehmer und für den Arbeitslosen ist, Nun noch eine abschließende Bemerkung: Die Äch- die gern arbeiten würden. tung von Schwarzarbeit hat viel damit zu tun, ob es all- gemein gerecht oder ungerecht zugeht. Obsiegt das Ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fühl „Jeder ist sich selbst der Nächste“ und „Wer hat, der neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE hat“, dann findet auch Schwarzarbeit bereitwillige Geber GRÜNEN und der FDP) und Nehmer. Das Gefühl von Ungerechtigkeit ist aber Der Anteil der Schattenwirtschaft am Bruttoin- weit verbreitet. Das Schlimme ist: Es ist nicht nur einlandsprodukt ist seit 1998 in 17 OECD-Mitgliedstaaten Gefühl. Die rot-grüne Agenda 2010 nährt Unrecht und zurückgegangen, zum Beispiel in Italien, in Großbritan- (B) (D) die Programme der Unionsparteien sowie der FDP las- nien, in Frankreich, in den USA und in Japan. Diese sen sogar noch Schlimmeres befürchten. Das ist ein tie- Länder machen uns vor, wie man es macht. Unter den fer Widerspruch; denn Sie können nicht Wasser predigen weltweit führenden Industriestaaten ist Deutschland zu- und die Weintrinker belohnen. sammen mit Österreich, was die Zunahme der Schwarz- arbeit angeht, in der Zwischenzeit – das wollten wir ei- Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, auf die heute gentlich nur bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 veröffentlichten Schätzungen zu schauen, wie viele werden – Weltmeister geworden. Das ist wahrlich ein Menschen vom 1. Januar 2005 an vom Arbeitslosen- trauriger Rekord. geld II, diesem arm machenden Geld, betroffen sein wer- den bzw. überhaupt keine Bezüge mehr bekommen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden. Was sagen Sie eigentlich diesen Menschen im Hinblick auf ihre Zukunftsperspektiven? Unbestritten ist: Schwarzarbeit muss entschieden be- kämpft werden. Das wurde bereits von den Vorrednern, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Frau Wülfing, Herrn Müller und anderen, gesagt. Auch tionslos]) in unserem Staat muss gelten: Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gott gebührt. Es geht auf Präsident Wolfgang Thierse: Dauer nicht, dass der Ehrliche der Dumme ist. Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Hinsken, CDU/ Man muss aber richtig ansetzen. Sie würden dann CSU-Fraktion. richtig ansetzen, wenn Sie sich Verschiedenes von dem zu Eigen gemacht hätten, was dem heutigen Entschlie- (Beifall bei der CDU/CSU) ßungsantrag unserer Fraktion zu entnehmen ist. Der renommierte Wirtschaftsprofessor Schneider aus Ernst Hinsken (CDU/CSU): Linz sagte in einem Interview mit dem „Straubinger Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Tagblatt/Landshuter Zeitung“ von gestern, dass dem Zuerst möchte ich ganz kurz auf das eingehen, was Sie, Staat durch Schwarzarbeit jährlichSteuereinnahmen Herr Kollege Montag, ausgeführt haben. Ihre Rede ist mindestens in Höhe von 50 Milliarden Euro entgehen. voller Widersprüche gewesen. Einerseits haben Sie die Was die Sozialsysteme der Bundesrepublik Deutschland Kriminalität angesprochen, die auf dem hier zur Diskus- angeht, ist dieser Betrag mindestens genauso hoch. sion stehenden Gebiet zu verzeichnen ist, und wollen die entsprechenden Vorschriften verschärfen und mehr re- Ich muss noch einmal sagen: Sie von Rot-Grün pa- glementieren. Andererseits wollen Sie – wie beim Hand- cken die Sache falsch an. Statt nur auf Repression zu set- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9751

Ernst Hinsken (A) zen, müssen die Ursachen der Schwarzarbeit viel stärker Ganz gefährlich wird es bei der von Rot-Grün geplan- (C) bekämpft werden. ten Bußgeldbewehrung für den Fall, dass jemand mit Schwarzarbeit gegen die Zulassungspflicht beigefah- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rengeneigten Handwerken verstößt. Gerade die Gefah- Dazu gehören in erster Linie die Senkung von Steuern rengeneigtheit war doch für Bundesminister Clement im letzten Jahr noch das wichtigste Kriterium für die Ein- und Abgaben, die Flexibilisierung und Entrümpelung stufung von Gewerken in die Anlage A. Nach der Ge- des Arbeitsmarktes und der Abbau von Bürokratie. werbeordnung werden Verstöße als Straftatbestand mit Wenn der Bürger wieder mehr in der Tasche hat, dann Freiheitsstrafe oder einer saftigen Geldstrafe geahndet. wird er nicht in die Schwarzarbeit getrieben. Herr Fi-Schließlich geht es hier um Gefahren für die Gesundheit nanzminister Eichel, auch das muss berücksichtigt wer- oder das Leben Dritter. Das alles wird von Ihnen verges- den. sen. Das ist für Sie von vorges tern. Sie schlagen das alles (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in den Wind. Eine Bußgeldbewehrung soll die Schwarz- arbeit eindämmen. Geht das nicht völlig an der Realität Rot-Grün stellt Bürger und Unternehmen unter den vorbei und gefährdet das nicht die Existenz Zehntausen- Generalverdacht der Schwarzarbeit. Das ist für sie ein der von Betrieben? Schlag ins Gesicht. Die Mehrzahl verhält sich nämlich Ich sage Ihnen von der Bundesregierung voraus: Die- gesetzestreu. Herr Eichel, je länger diese Bundesregie- ses Gesetz ist völlig ungeeignet, die Schwarzarbeit wirk- rung aber nicht in der Lage ist, die Probleme unseressam zu bekämpfen. Landes zu lösen, desto weniger werden sich die Bürger mit dem Staat identifizieren. Die Bürger wollen nicht, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dass der Staat alles bis ins Kleinste regelt und sie als un- Es ist eine Binsenweisheit: Eine Krankheit heilt man mündig hinstellt. nicht, indem man an den Symptomen herumdoktert. Rot-Grün plant jetzt unter dem Deckmantel der Be- Man wird nur gesund, wenn den Ursachen der Leiden entschlossen zu Leibe gerückt wird. – So ist es auch bei kämpfung der Schwarzarbeit einen weiteren Angriff auf der Schwarzarbeit. Wir brauchen einen Mix aus Repres- das Handwerksrecht. Das zeigt doch deutlich, worum sion und Prävention; denn Schwarzarbeit geht nur zu- es Ihnen überhaupt geht: Das Handwerk soll weiter zer- rück, wenn die Anreize dafür verschwinden. Die Devise schlagen werden. Ich sage Ihnen: Mit uns nicht! muss deshalb lauten: Legale Arbeit muss sich endlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wieder lohnen. Mit dem Gesetzentwurf, den Sie mehr- heitlich durchdrücken werden, werden Sie das nicht Durch die Ich-AGs wird der Schwarzarbeit in diesemschaffen. Es ist höchste Zeit, dass wir wieder das Ruder (B) Bereich doch bereits Tür und Tor geöffnet. Alle Warnun- in die Hand bekommen, (D) gen wurden in den Wind geschlagen. Wie viele Kontrol- (Lachen bei der SPD) leure will die Bundesregierung eigentlich beschäftigen, um nachzuprüfen, ob jeder einzelne Ich-AGler wirklich um hier danach zu trachten, dass es auch für diejenigen, nur 25 000 Euro Arbeitseinkommen im Jahr hat? die von der Schwarzarbeit negativ betroffen sind, wieder besser wird. Völlig unverständlich ist auch, dass die Bundesregie- rung Verletzungen der handwerklichenEintragungs- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. pflichten und der gewerberechtlichen Anzeigepflichten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht mehr als Schwarzarbeit verfolgen will. Bewährte Vorschriften, Herr Kollege Montag, die seit 1957 gelten, Präsident Wolfgang Thierse: sollen abgeschafft werden. Sie von Rot-Grün vergessen Ich erteile Kollegen Florian Pronold, SPD-Fraktion, – das möchte ich Ihnen noch einmal zurufen; damit will das Wort. ich Ihnen ins Gewissen reden –: Wer sich nicht richtig beim Gewerbeamt anmeldet, der ist auch bereit schwarz- zuarbeiten. Florian Pronold (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ihr Hü und Hott ist nichtnachvollziehbar. Erst Mitte Kollegen! Lieber Herr Hinsken, wenn jeder zweite Bür- 2002 wurden die bestehendenBußgeldvorschriften in ger Schwarzarbeit für ein Kavaliersdelikt hält, dann einem Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit erheb- kann das etwas damit zu tun haben, welche Reden im lich verschärft. Jetzt sollen sie auf einmal nicht mehr Deutschen Bundestag vonseiten der Opposition gehalten notwendig sein. Das versteht in den Betrieben niemand. werden. So etwas ist auch nicht nachvollziehbar. Ich nenne nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Beispiel: Wenn jemand ohne Führerschein oder ohne des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Anmeldung des Autos fährt, wird er bestraft. Hier dage- gen sagt man: Kavaliersdelikt; das ist nicht erforderlich. Sie alle geben hier nur Lippenbekenntnisse ab. Sie sa- – Das versteht wirklich niemand mehr. Machen Sie doch gen, Sie stimmten mit uns in der Zielsetzung überein und endlich eine Politik, die die Leute noch nachvollziehen wollten mit uns gemeinsam die Schwarzarbeit bekämp- können, die sie kapieren! fen, aber dann klingen 99 Prozent Ihrer Redeinhalte so, als würde ein Rechtsanwalt irgendwo vor Gericht jeman- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den verteidigen, der gerade wegen Schwarzarbeit ange- neten der FDP) klagt ist. 9752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Florian Pronold (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wie in der DDR!) (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Da haben Sie mir intel- Denn dort, wo keine Kontrolle stattfindet, ist dem Miss- lektuell nicht richtig folgen können!) brauch immer Tür und Tor geöffnet. Es wundert mich, dass Sie, die Sie sonst immer so vehement für Recht und Liebe Frau Kollegin Wülfing, ich hatte fast den Ein- Ordnung kämpfen, dann, wenn es darum geht, Recht und druck, dass Sie hier in einem neuen Wettbewerb antreten Ordnung auch wirklich durchzusetzen – das kann man und Schutzheilige werden möchten: Elke, die Schutzhei- nur über Kontrolle –, lige für die Schwarzarbeiter und die Steuerhinterzieher. Anders kann man Ihren Redebeitrag nicht werten. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ge- rade Sie reden von Recht und Ordnung!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Leo hier anführen, dass eine Mordsbürokratie entstehe. Das Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist eine unver- passt doch hinten und vorne nicht zusammen. schämte Diffamierung!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn ich mir vor Augen führe, was vonseiten der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ernst FDP außerhalb dieses Hauses geäußert wird, nämlich Hinsken [CDU/CSU]: Sie wollen doch über- dass Schwarzarbeit sozusagen Notwehr gegenüber dem bürokratisieren!) Staat ist, dann frage ich mich wirklich: Welches Rechts- Die Union muss wirklich aufpassen. Wenn im Sozial- bewusstsein wird den Bürgerinnen und Bürgern vermit- telt? Wie kann man sich ernsthaft darüber wundern,kundeunterricht gefragt wird, warum man denn die wenn in diesem Haus solche Redebeiträge gehalten wer- Unionspolitiker als die Schwarzen bezeichnet, würde den? Wundern muss man sich dann eher darüber, dass heute wohl geantwortet werden: weil die immer schwarz nur jeder zweite Bürger Schwarzarbeit für ein Kavaliers- sehen und alles nur schwarz malen, oder: wegen des vie- delikt hält. len Schwarzgeldes in Hessen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Wenn die Höhe der Steuerbelastung ausschlaggebend Zukünftig wird vielleicht auch noch geantwortet: weil für die Höhe des Anteils der Schwarzarbeit wäre, dann die für die Schwarzarbeit sind. müsste die Schwarzarbeit doch zurückgehen, weil wir (Albert Deß [CDU/CSU]: Bei Ihnen sehen die im Vergleich zu Ihrer Regierungszeit die Bürgerinnen Wähler rot!) und Bürger und die Unternehmen massiv und deutlich steuerlich entlastet haben. Sie müssen auch im eigenen Interesse darauf aufpassen, (B) in welchem Licht Sie in Zukunft selber stehen. (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD) Sie vergessen die vielen erhöhten Abgaben!) Ich bitte Sie inständig: Wenn Sie das von uns vertre- Wenn dieser einfache Wirkungszusammenhang richtig tene Ziel wirklich ernsthaft mittragen, dann stimmen Sie wäre, dürften wir momentan überhaupt kein Problem ha- dem vorliegenden Gesetzentwurf zu, in dem wir fast alle ben. Vorschläge des Bundesrates, in dem Sie die Mehrheit ha- Dann sagen Sie, die Sozialabgabenquote sei zu hoch. ben, eingearbeitet haben. Rechnen Sie doch einmal an einem konkreten Beispiel (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Der ist so unter Zugrundelegung der derzeit gezahlten Löhne für schlecht!) eine Handwerkerstunde durch, wie hoch die Entlastung wäre, wenn Ihr Vorschlag, die Quote auf 40 Prozent zu Machen Sie deutlich, dass Sie Schwarzarbeit wirklich senken, umgesetzt würde! Dann kostet eine Handwer- bekämpfen wollen, und geben Sie nicht irgendwelche kerstunde – da gibt Ihnen der Kollege Dreßen gerneLippenbekenntnisse ab. Zeigen Sie auch mit Ihrem Ab- Nachhilfe; er hat es nämlich einmal ausgerechnet stimmungsverhalten – hier der Schwarzarbeit die rote 20 Cent weniger. Sie aber glauben allen Ernstes, dassKarte und geben Sie nicht immer nur Lippenbekennt- das einen Anreiz zu mehr legaler Beschäftigung geben nisse ab. würde. Glauben Sie angesichts der unterschiedlichen Vielen Dank. Lohnstruktur zwischen dem, was schwarz gezahlt wird, und dem, was bei legaler Beschäftigung zu verdienen ist, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirklich, dass eine Verbilligung einer Handwerkerstunde DIE GRÜNEN) um 20 Cent zu einer massenhaften Bewegung von Schwarzarbeit hin zu legaler Beschäftigung führen würde? Es gibt nur zwei Wege dorthin: Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Roland Gewalt, CDU/ Erstens müssen wir Politiker alle gemeinsam deutlich CSU-Fraktion. machen, dass jede Form von Schwarzarbeit eine gesell- schaftliche Fehlentwicklung ist, die es zu verurteilen Roland Gewalt (CDU/CSU): gilt, und alles, was in diesem Bereich passiert, massiv Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine abgelehnt wird. Damen und Herren Kollegen von der rot-grünen Koali- Zweitens muss auch wirklich kontrolliert werden. tion, wenn man Ihre Wortbeiträge Revue passieren lässt, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9753

Roland Gewalt (A) kommt man zu der Feststellung, dass Sie offensichtlich überzieht die Bundesregierung den Datenschutz derart, (C) unsere Änderungsanträge, die wir im Innenausschuss dass er letztlich zum Täterschutz wird. und im Finanzausschuss gestellt haben, nicht einmal ge- lesen haben. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat Sie fast einstimmig aufgefordert, den Informationsaustausch Wir, meine Damen und Herren, haben eine Verschärfung zwischen Polizei und Zoll im Schwarzarbeitsbekämp- der Strafvorschriften gefordert. Diese haben Sie abge- fungsgesetz deutlich zu erleichtern. Auch bei einer An- lehnt. Wir haben für die Bekämpfung der Schwarzarbeit hörung im Finanzausschuss wurde von den Experten der die Zulassung der Überwachung der Telekommunikation Kriminalpolizei bis hin zum Zoll unisono eine vollstän- gefordert. Auch das haben Sie abgelehnt. Hier von einer dige – ich betone: vollständige – Rücknahme der daten- Zurückhaltung der Union zu sprechen ist nun wirklich schutzrechtlichen Bestimmungen eingefordert. Zumin- deplatziert. dest in der SPD-Fraktion scheint das – Herr Kollege Herr Minister Eichel hat heute noch einmal das Ziel Schultz, Sie haben in der Anhörung darauf hingewie- formuliert, das er mit diesem Gesetz verfolgt. Er hat ge- sen – Wirkung gezeigt zu haben. Mit Ihren Änderungs- sagt, dass für ihn dieBekämpfung der organisierten anträgen, mit denen der Gesetzentwurf der Bundesregie- Kriminalität im Zusammenhang mit Schwarzarbeit im rung nachgebessert wurde, nähern Sie sich den Ände- Vordergrund steht. In diesem Gesetzesziel stimmen wir rungswünschen der CDU/CSU-Fraktion wenigstens in nahtlos mit der Bundesregierung überein. Nur, meineTeilbereichen an. Aber Ihr grüner Koalitionspartner ver- Damen und Herren, dieses Gesetzesziel erreicht Ihrhindert offensichtlich, gerade was die datenschutzrecht- Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz nicht. lichen Bestimmungen angeht, noch immer ein akzep- tables Ergebnis. Die Polizei hat zwar jetzt Zugang zur (Albert Deß [CDU/CSU]: Sie erreichen über- Datenbank „Schwarzarbeit“ des Zolls, aber nur mit mas- haupt nichts!) siven Beschränkungen, die die Arbeit behindern. Dies macht gerade eine Fortführung der Arbeit der ausgespro- Ganz im Gegenteil: Es erschwert sogar die Bekämpfung chen erfolgreich tätigen gemeinsamen Ermittlungsgrup- der organisierten Kriminalität. pen von Zoll und Kriminalpolizei äußerst schwierig. Es (Beifall bei der CDU/CSU) ist doch geradezu grotesk, wenn der Kriminalpolizeibe- amte einer solchen Ermittlungsgruppe nicht auf die glei- Experten aus den Landeskriminalämtern, Herr Montag, che Datenbank Zugriff nehmen kann wie der neben ihm und Innenminister der SPD – gar nicht einmal von uns – arbeitende Mitarbeiter des Zolls, der im gleichen Fall er- (B) haben immer wieder auf die gravierenden Schwachstel- mittelt. Das geht nicht. (D) len dieses Gesetzentwurfes hingewiesen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das haben wir alles berücksichtigt!) Wer die organisierte Kriminalität im Bereich der Schwarzarbeit bekämpft, hat es zwangsläufig auch mit Sie sind damit im Bundesfinanzministerium auf taube anderen schweren Straftaten wie Menschenschmuggel Ohren gestoßen. Offenbar war der Finanzpolitiker Eichel oder Drogendelikten zu tun, die nicht in den Zuständig- der Auffassung, bei der Bekämpfung der organisierten keitsbereichs des Zolls fallen. Deshalb besteht die Not- Kriminalität im Bereich der Schwarzarbeit den Rat von wendigkeit einer entsprechenden Datenübermittlung. Fachleuten nicht zu benötigen. Nur dann ist es den gemeinsamen Ermittlungsgruppen Es verwundert daher nicht, dass der Berliner Innense- möglich, ihre Arbeit zu tun. Diese Arbeit wird durch den nator, Dr. Ehrhart Körting, ein Parteifreund von Ihnen, Gesetzentwurf behindert. Deshalb werden wir ihm auch seine geharnischte Kritik am rot-grünen Gesetzentwurf nicht zustimmen. über die Berliner Presse artikulierte. Der Berliner „Ta- Ein weiterer Schwachpunkt des rot-grünen Schwarz- gesspiegel“ titelte: „Innensenator kritisiert Gesetzent- arbeitsbekämpfungsgesetzes ist, dass Täter, die Schwarz- wurf zur illegalen Beschäftigung: Kampf gegen organi- arbeit in großem Stil organisieren, strafrechtlich kaum sierte Kriminalität wird erschwert“. anders eingeordnet werden als Gelegenheitstäter. So (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – sieht es der rot-grüne Gesetzentwurf vor. Wenn man, wie Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Wann es ein Experte bei der Anhörung formulierte, „Raubtiere war das? Das war vor der ersten Lesung!) zur Strecke bringen will“, dann muss man auch bei der Formulierung des Gesetzestextes ein größeres Kaliber In der Tat bremst der rot-grüne Gesetzentwurf vor al- wählen. Wer gewerbsmäßig Schwarzarbeit organisiert, lem die Landeskriminalämter in ihrem Kampf gegen die wer in großem Ausmaß Leistungen zu Unrecht erlangt, organisierte Kriminalität regelrecht aus. Datenschutz- wer professionell Belege fälscht oder wer die Mithilfe rechtliche Vorschriften verhindern, dass der Zoll wich- eines Amtsträgers ausnutzt, der darf nicht mit einer tige Erkenntnisse über Menschenschmuggel, Urkunden- Geldstrafe davonkommen, wie es Ihr Gesetzentwurf vor- fälschung und Subventionsbetrug an die hierfür nach wie sieht. Hier muss, auch zur Abschreckung, eine Mindest- vor zuständigen Landeskriminalämter unbürokratisch freiheitsstrafe ins Gesetz, die Sie aber abgelehnt haben. weiterleiten kann. Selbst bei einem so wichtigen Anlie- gen wie der Bekämpfung der organisierten Kriminalität (Beifall bei der CDU/CSU) 9754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Roland Gewalt (A) Auch der Referentenentwurf des Finanzministeriums, wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt (C) der der Gesetzesvorlage vorausging, sah noch im Okto- dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit ber letzten Jahres eine entsprechende Strafschärfung vor. den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen so- Auf wundersame Weise ist diese sehr sinnvolle Rege- wie der beiden fraktionslosen Abgeordneten gegen die lung dann aber in dem Gesetzentwurf der Bundesregie- Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. rung herausgestrichen worden. Änderungsanträge der Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- CDU/CSU, die strafschärfenden Tatbestände in das Ge- ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag setz wieder aufzunehmen – sie waren im Referentenent- der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/3081? wurf ursprünglich enthalten –, wurden von Ihnen abge- – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ent- lehnt. Es reicht eben nicht – wie Sie es heute hier blumig schließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses ge- getan haben –, mit starken Worten der organisierten Kri- gen die Stimmen der Fraktion der CDU/CSU abgelehnt. minalität bei der Schwarzarbeit den Kampf anzusagen. Es müssen im Gesetzgebungsverfahren dann auch die Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- notwendigen Strafvorschriften geschaffen werden, die tion der FDP auf Drucksache 15/3080? – Wer stimmt da- Sie aber nicht eingeführt haben. gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen der ande- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ren Abgeordneten des Hauses abgelehnt.

Präsident Wolfgang Thierse: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Lieber Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- neten Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Antje Roland Gewalt (CDU/CSU): Blumenthal, weiteren Abgeordneten und der Frak- Bei Berufsverbrechern werden Sie mit dem erhobe- tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines nen Zeigefinger wenig Eindruck hinterlassen. Dritten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch (Drittes SGB VIII- Die CDU/CSU-Fraktion wird Ihren Gesetzentwurf Änderungsgesetz – 3. SGB VIII-ÄndG) ablehnen, weil er Berufsverbrechern keine Schranken setzt, was aber notwendig wäre, um die organisierte Kri- – Drucksache 15/1114 – minalität zu bekämpfen. (Erste Beratung 56. Sitzung) (Peter Dreßen [SPD]: Das ist etwas ganz Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat Neues!) eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur (B) Änderung des Sozialgesetzbuches – Achtes(D) Vielen Dank. Buch – (SGB VIII) (Beifall bei der CDU/CSU) – Drucksache 15/1406 – (Erste Beratung 63. Sitzung) Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak- (12. Ausschuss) tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen so- wie von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzent- – Drucksache 15/3000 – würfe zur Intensivierung der Bekämpfung derBerichterstattung: Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuer- Abgeordnete Marlene Rupprecht (Tuchenbach) hinterziehung, Drucksachen 15/2573 und 15/2948. Der Andreas Scheuer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Jutta Dümpe-Krüger lung, die genannten Gesetzentwürfe als Gesetz zur In- Klaus Haupt tensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und da- mit zusammenhängender Steuerhinterziehung in der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ausschussfassung anzunehmen, Drucksachen 15/3077 Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen und 15/3079. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- Widerspruch. Dann ist so beschlossen. wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kol- das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Stimment- legin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion. haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen (Beifall bei der CDU/CSU) gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenom- men. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Wir kommen zur Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Kin- der- und Jugendhilfegesetz, das nun schon über zehn dritten Beratung Jahre besteht, hat sich bewährt und zu einer Qualifizie- rung der Angebote im Interesse der Kinder, der Jugendli- und Schlussabstimmung. Dazu liegt eine persönliche Er- klärung der Kollegen Montag, Winkler und Dümpe- Krüger vor.1) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- 1) Anlage 2 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9755

Maria Eichhorn (A) chen und der Familien beigetragen. Die Kommunen,sehen. Dies gilt insbesondere für die Eingliederungs-(C) aber auch die Träger der Jugendhilfe haben seither viel hilfe. Daher wollen wir mit unserem Gesetzentwurf ins- geleistet. besondere eine Änderung der §§ 35 a und 41 SGB VIII erreichen. Die Jugendämter erhoffen sich von einer Än- Allerdings müssen wir feststellen, dass die Ausgaben derung des SGB VIII klare gesetzliche Regelungen. Die enorm angestiegen sind. Ständig neue Ausgabenbelas- Erfahrung aus der Praxis zeigt, dass eindeutigeAlters- tungen und wiederholte Eingriffe in die Einnahmenseite grenzen und klar geregelteZuständigkeiten dabei die drohen die kommunale Selbstverwaltung auszuhöhlen. wichtigsten Instrumente sind. Die Finanzlage der Kommunen hat sich so zugespitzt, dass manche Städte und Gemeinden nicht mehr in der In Zeiten knapper Gelder müssen die Leistungen nach Lage sind, einen ordnungsgemäßen Haushalt vorzule- dem Kinder- und Jugendhilfegesetz verstärkt nach Wirk- gen. samkeit und Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen hinter- fragt werden. Eltern, die wirtschaftlich dazu in der Lage (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist leider sind, ist es durchaus zuzumuten, sich an den Kosten der wahr!) Kinder- und Jugendhilfe zu beteiligen. Der Kostenanstieg in der Kinder- und Jugendhilfe hat Ein besonderer Handlungsbedarf besteht bei § 35 a daran leider einen großen Anteil. Innerhalb von zehn SGB VIII. Hier haben sich innerhalb von nur fünf Jahren, von 1992 bis 2002, sind die Kosten um rund Jahren, von 1997 bis 2002, die Ausgaben mehr als ver- 6 Milliarden Euro – das sind 41 Prozent – gestiegen. doppelt. So werden aufgrund des Tatbestandes einer Dem können wir nicht tatenlos zusehen. Zahlreiche Hil- seelischen Behinderung Jugendämter derzeit per Ge- ferufe von Landräten, Oberbürgermeistern und Bürger- richtsbeschluss zur Finanzierung einer teuren Elite- meistern erreichen uns. privatschule im Ausland verpflichtet. Der Bayerische Landkreistag hat eine Reihe von Fäl- len gesammelt, die der Gesetzgeber so nicht gewollt hat. (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE Gute Ansätze des Kinder- und Jugendhilfegesetzes füh- GRÜNEN]: Was für eine unzulässige Verall- ren in einigen Fällen zu einem Missbrauch von Leistun- gemeinerung!) gen. Das können wir nicht hinnehmen. Die Union hat da- Dies führt zu Mitnahmeeffekten und falschen Anreizwir- her einen Antrag zur Beseitigung der Auswüchse in den kungen. Von bestimmten Interessengruppen wird diese Bundestag eingebracht. Vorschrift sogar als freier Markt verstanden. In einem Zeitungsartikel vom 29. Februar dieses Jah- Die Jugendämter und letztlich der Steuerzahler dürfen res hat Frau Ministerin Renate Schmidt Handlungsbe- nicht als goldener Esel missbraucht werden. Es geht da- (B) darf eingeräumt. Es kam sogar im März zu einem ge-rum, bei den Paragraphen, welche zu einem erheblichen (D) meinsamen Entschließungsantrag der Länder BayernKostenanstieg geführt haben, klar abzugrenzen. und Nordrhein-Westfalen. – Die Ministerin ist leider nicht da. Ich sehe auch keine Staatssekretärin. – Bei der Beratung des Gesetzentwurfs im Ausschuss wurde von Ihnen, meine Damen und Herren von Rot- (Marion Caspers-Merck, Parl. Staatssekretä- Grün, ein Änderungsbedarf bei den §§ 35 a und 41 rin: Die Staatssekretärin ist da!) SGB VIII mit dem Hinweis verneint, dass die Zahl der Diese beiden Länder, Nordrhein-Westfalen und Bayern, Hilfen nur gering sei. hatten sich stellvertretend für die B- und die A-Länder (Christel Humme [SPD]: 3 Prozent!) immerhin in zehn Punkten geeinigt und dabei Forderun- gen unseres Antrages aufgegriffen. Umso unverständli- Sie haben aber in der Anhörung erlebt, dass zum Bei- cher und unbegreiflicher ist es daher, dass Rot-Grün un- spiel der Jugendamtsleiter der Stadt Regensburg mit seren Gesetzentwurf im Ausschuss abgelehnt hat. konkreten Beispielen das Gegenteil bewiesen hat. Eine Kostensteigerung bei den teilstationären Hilfen inner- Die Ziele des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sind halb von zwei Jahren um 340 Prozent – Sie haben richtig erstens die Befähigung der Eltern, Kinder zu eigenver- gehört – ist wahrlich kein geringer Anstieg. antwortlichen Menschen zu erziehen, zweitens die Un- terstützung der Eltern in schwierigen Erziehungssituatio- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto nen und drittens die nachhaltige Förderung der Solms) Erziehung in Familien. Das SGB VIII verlangt erheblich Jetzt werden Sie sagen: Das ist ja nur ein Einzelfall. – mehr als die Gewährung von Hilfen. Es verpflichtet uns Es ist aber kein Einzelfall, wie uns zahlreiche Kommu- vor allem zu einer nachhaltigen Förderung der Erzie-nalpolitiker bestätigen. hung in den Familien. DerLeistungsbereich der Förde- rung der Erziehung stagniert, weil ihm die Aufgaben der (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wohl wahr!) Jugendhilfe kaum Entwicklungsmöglichkeiten lassen. Hier wird eine Regelung missbraucht und diesen Miss- Dabei wissen wir alle: Prävention hilft, Probleme zu ver- brauch müssen wir verhindern. hindern. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Jugendämter sind aber immer weniger in der Lage, diagnostische und pädagogische Hilfe zu leisten In der ersten Lesung hat Frau Staatssekretärin und als Fachbehörde Eltern und Erziehern beizustehen. Riemann-Hanewinckel Gesprächsbereitschaft signali- Sie werden in erster Linie nur noch als Kostenträger ge- siert. Aber was hilft die Gesprächsbereitschaft, ja sogar 9756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Maria Eichhorn (A) ein gemeinsames Papier von Nordrhein-Westfalen und Durch dieses Gesetz werden dem Träger der Jugend- (C) Bayern, wenn Ihre konkreten Beschlüsse fehlen? Sie ha- hilfe und dem Jugendamt Aufgabenfelder zugewiesen. ben die Zustimmung aus taktischen Gründen verweigert; Sie sind Gestalter, Dienstleister und Wächter mit hoheit- lichen Pflichten zum Schutz der Kinder. Diese Aufgaben (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) sind im Gesetz eindeutig geregelt. denn wie man hört und wie Ihre Ministerin im Aus- Wir diskutieren heute vor dem Hintergrund öffentli- schuss bestätigt hat, wollen Sie in einem anstehendencher Medienkampagnen, anders kann ich das nicht be- Gesetz zur Kinderbetreuung einige von uns gemachte zeichnen. So wie vor einem Jahr der Sozialhilfeempfän- Vorschläge aufgreifen. ger Florida-Rolf werden jetzt die Intensivpädagogik in (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So machen sie Griechenland und das Internat in Schottland – es geht das!) um Millionärskinder, die unberechtigt von der Jugend- hilfe finanziert wurden – von den Medien aufgegriffen. Warum stimmen Sie dann diesem Gesetzentwurf nicht Es sind also Skandale und sicher auch einige Miss- schon heute zu? Wir würden wertvolle Zeit für die Kom- brauchsfälle an die Öffentlichkeit gelangt, wobei ich munen gewinnen mich allerdings immer frage, wie in diesen Fällen der Datenschutz gewahrt wird, der im Kinder- und Jugend- (Christel Humme [SPD]: Aber nicht für die hilfegesetz eindeutig festgeschrieben ist. Jugendlichen!) Vor dem Hintergrund dieser Medienkampagnen ha- und den Kommunen Kosten sparen helfen, wenn Sie hier ben wir heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates und und heute unserem Gesetzentwurf zustimmten. einen der CDU/CSU zur Änderung des Kinder- und Ju- (Beifall bei der CDU/CSU) gendhilfegesetzes zu beraten. Jedem steht es frei – das ist völlig legitim –, zu überprüfen, ob das, was vor Taktische Finessen sind angesichts der katastrophalen 13 Jahren beschlossen und als Zielsetzung festgelegt Haushaltslage der Kommunen völlig unverständlich und wurde, den heutigen Ansprüchen und Gegebenheiten unmoralisch. Wir wollen auch in Zukunft jungen Men- noch entspricht, ob die Ziele, die wir damals festgelegt schen eine Chance auf positive Entwicklungsmöglich- haben, tatsächlich noch erreicht werden können. keiten eröffnen. Daher gilt es stärker als bisher, die knap- per werdenden Ressourcen ziel- und zweckgerichtet Die hier vorliegenden Gesetzentwürfe müssen da- einzusetzen. Die Kernaufgabe der Jugendhilfe, nämlich raufhin überprüft werden, ob die vorgesehenen Änderun- die Förderung der Erziehung in der Familie, muss wie- gen dem Sinn und Gehalt des Gesetzes entsprechen oder der in den Mittelpunkt des Gesetzes und der Aufgaben ob sie das Kinder- und Jugendhilfegesetz in der Substanz (B) (D) der Jugendämter gestellt werden. verändern. Diese Frage müssen Sie beantworten. (Beifall bei der CDU/CSU) In der Begründung des CDU/CSU-Gesetzentwurfs – das ist nicht von mir – heißt es: Vizepräsident Dr. : Angesichts der prekären Finanznot der öffentlichen Als nächste Rednerin hat die Kollegin Marlene Kostenträger werden von den Kommunen deshalb Rupprecht, SPD-Fraktion, das Wort. bundesweit seit längerem u. a. gesetzliche Ände- rungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz mit dem Ziel der Kostendämpfung massiv reklamiert. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Die Kostendämpfung ist das einzige Ziel Ihres Entwur- alle, die Kolleginnen und Kollegen des Bundestages, des fes. Bundesrates – eine Vertreterin aus Bayern ist da – und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Bundesregierung und alle Fachleute, sind uns einig DIE GRÜNEN – Andreas Scheuer [CDU/ – das wurde in der Anhörung im Dezember deutlich –, CSU]: Völliger Blödsinn!) dass sich das Kinder- und Jugendhilfegesetz – SGB VIII – grundsätzlich bewährt hat. Sie stellen nicht die Frage, ob mit den Hilfen, die bis- her gewährt wurden, das Ziel des Kinder- und Jugendhil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fegesetzes erfüllt worden ist. DIE GRÜNEN) (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Alte Kamel- Es war und ist auch nach 13 Jahren immer noch ein len! Warum wollen denn Sie reformieren, Frau sehr modernes Gesetz. Es stellt nämlich die Interessen Kollegin?) der Kinder und Jugendlichen und deren Familien in den Mittelpunkt. Beginnend schon in verschiedenen Absät- Ist es tatsächlich so umgesetzt worden? Darüber reden zen des § 1 bis hin zu den letzten Paragraphen stehenwir heute. Ich werde mir Ihre Entwürfe daraufhin genau immer die Interessen der Kinder und Jugendlichen im anschauen. Sie enthalten einige ganz tolle Punkte. Zentrum des Gesetzes. Das ist das Moderne und Erhal- tenswerte an diesem Gesetz. An einigen Stellen sind die Vorgaben des Gesetzes bisher erfüllt worden. In § 80 SGB VIII – Jugendhilfe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ planung – heißt es: Man muss im Rahmen der Jugend- DIE GRÜNEN) hilfeplanung den Bestand feststellen, den Bedarf ermit- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9757

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) teln und ein Angebot vorhalten, das nicht nur kurz-, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) sondern auch mittelfristig den Bedarf deckt. Frau Kollegin Rupprecht, erlauben Sie eine Zwi- schenfrage der Kollegin Eichhorn? (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Ihnen fällt nichts Neues ein! Immer die alte Leier!) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Das, was bisher gemacht worden ist, muss kontinuierlich Aber natürlich. fortgeführt werden. Gehen Sie raus in die Lande. Die Jugendhilfeplanung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ist in der Praxis sehr unterschiedlich umgesetzt worden. Bitte schön, Frau Eichhorn. Deshalb sind auch bei den Angaben zur Kostenexplosion keine Gründe, Ursachen und Fallzahlen genannt worden. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Da müssen Sie alle passen und können das nicht ange- Frau Kollegin, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass ben. Jeder einzelne Jugendamtschef kann das machen, es in § 35 a SGB VIII darum gehen soll, die Eingliede- wie er will, kann vorgeben, was er will. Erfüllen Sie des- rungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendli- halb die im Gesetz vorgeschriebene Aufgabe der Ju-che an die im Sozialhilfegesetz bestehende Eingliede- gendhilfeplanung – und das kontinuierlich. rungshilfe für körperlich und geistig behinderte Kinder (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des und Jugendliche anzugleichen, um einen einheitlichen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Standard zu schaffen, damit es nicht, wie dies derzeit der Fall ist, zu Missbrauch kommt? Weiterhin ist in Ihrem Gesetzentwurf die Einführung von Altersbegrenzungen enthalten. Dahinter steckt fol- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): gendes Menschenbild – das findet man immer wieder –: Frau Eichhorn, ich weiß nicht, an welchen Stellen Sie Als sei der Mensch geklont, lernt er im gleichen Rhyth- Missbrauch feststellen. mus, entwickelt sich im gleichen Rhythmus und ist mit 18 schlagartig erwachsen. (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Dann waren Sie bei der Anhörung nicht dabei! – Weiterer (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Oh mein Zuruf von der CDU/CSU: Siehe Schottland!) Gott!) – Ja, Schottland. – Wenn das Jugendamt Hilfe gewährt, Das entspricht schlicht und ergreifend nicht der Reali- muss für Maßnahmen nach den §§ 27 bis 35 SGB VIII in tät. Deshalb ist im bestehenden Gesetz in § 41 SGB VIII jedem Fall ein Hilfeplan erstellt werden. Wenn das tat- (B) die Regelung enthalten,dass Jugendhilfemaßnahmen sächlich geschieht, wäre eine Überweisung nach Schott- (D) über das 18. Lebensjahr hinaus bis maximal zum 21. Le- land theoretisch möglich. Aber das wäre allerdings nur bensjahr fortgesetzt werden können. eine Alternative. Die Entscheidungshoheit hat das Ju- gendamt. Wenn das Jugendamt allerdings nicht den Mut (Dr. [CDU/CSU]: Das ist die hat, zu sagen: „Diese Maßnahme ist nicht geeignet und sozialistische Urlehre der 60er- und 70er- es ist deshalb eine andere vorzuschlagen“, dann ist es Jahre!) nicht Sache des Gesetzgebers, dieses Vollzugsdefizit zu Selbst danach können noch Beratung und Unterstützung beseitigen. gewährt werden, wenn sie beim Übergang ins Erwachse- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nenleben benötigt werden. Dies geht von einem Men- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – schenbild aus, das nicht geklont ist, sondern orientiert Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das machen sich an dem tatsächlichen Leben der Menschen. Das ist die Ämter schon lange nicht mehr! Das ma- immer noch das Moderne an dem Gesetz. chen die Gerichte!) Nun komme ich zu § 35 a SGB VIII. Sie schlagen Ich möchte auf einen weiteren Aspekt des § 35 a vor, die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte SGB VIII eingehen, der immer geflissentlich übersehen Kinder und Jugendliche wesentlich einzuschränken. wird – deshalb müssten wir den Gesetzentwurf des Bun- Wenn Sie dem bisherigen § 35 a SGB VIII Schwammig- desrates eigentlich an die Länder zurückverweisen –: In keit vorwerfen, gilt das für die neue Regelung noch§ 35 a SGB VIII haben Sie all das aufgenommen, was mehr. eigentlich die ursächliche Aufgabe anderer Institutio- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen, zum Beispiel der Schule, ist. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Denn § 35 a SGB VIII beinhaltet eindeutig Leistungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) aufgrund seelischer Behinderungen, die nach internatio- Mit Ihrem Menschenbild gehen Sie davon aus, dass ein nalen Standards, also nach festgelegten Klassifikationen, Kind, das eingeschult wird, alles perfekt kann; wenn es gewährt werden. Wer sie nicht kennt, kann sich im Inter- das nicht kann, wird es ausgesondert. Wenn man aber net darüber informieren. Dort findet man alle Klassifika- das Menschenbild hat, dass man einem Kind – egal, wie tionen, nach denen sich ein Facharzt richten muss. Daher es ist – alle Förderungen zukommen lässt, die es ist Ihr Vorschlag bezüglich § 35 a SGB VIII nicht ziel- braucht, damit es die Schule erfolgreich bewältigen führend. kann, dann können in der Schule die Kinder, die dort 9758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) nicht hineinpassen, nicht aussortiert werden. Ich meine Maria Eichhorn (CDU/CSU): (C) Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, mit Lese- Frau Kollegin Rupprecht, verstehe ich Sie richtig, Rechtschreib-Schwäche, mit Rechenschwäche unddass bei den von Ihnen zitierten Paragraphen kein Ände- Hochbegabte. Das ist übrigens eine tolle Mischung; das rungsbedarf besteht? Wie begründen Sie dann die von muss ich wirklich sagen. Ihnen geäußerte Meinung, dass in eben diesen Paragra- Wie ich gestern von einem Fachmann gehört habe, phen, die Sie zu zerpflücken versuchen, Änderungsbe- werden in den Förderschulen für Hör- und Sprachbehin- darf besteht? derte inzwischen sogar die Einzeltherapiestunden abge- setzt, weil man für Einzeltherapeuten kein Geld mehr Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): hat. Man setzt diese Stunden ab und bemüht sich darum, Frau Eichhorn, wunderbar! Wenn Sie noch zwei Sätze dass die Krankenkasse das finanziert. Das heißt, wirgewartet hätten! Ich hätte das gleich angefügt. Als Erstes müssen die Länder auffordern, ihren Pflichtaufgaben im habe ich genannt: Strukturen aufbauen, wo das noch Schulbereich nachzukommen. nicht geschehen ist, wodie Jugendhilfeplanung noch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht gemacht worden ist. Dann wird weniger Einzelfall- hilfe gebraucht. Das Zweite ist: originäre Aufgaben an- Dann fällt ein großes Problem weg, das sich heute auf- derer Institutionen zurückzuverweisen, siehe das Bei- grund des § 35 a SGB VIII stellt. Ein Kind mit Lese-spiel Schule. Das Dritte ist: Da, wo man im Vollzug Rechtschreib-Schwäche oder Rechenschwäche, dasglaubt, dass das Gesetz nicht präzise genug ist, müssen nicht behandelt wird, kann auffällig werden, ihm kann wir als Gesetzgeber vielleicht so präzise formulieren, eine seelische Behinderung drohen. Nur dann erfüllen diese Kinder die Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Also doch!) Ich glaube, Sie wollen, dass das eine Aufgabe der Län- dass auch nicht der leiseste Hauch eines Missverständ- der ist. nisses aufkommen kann, Zu Ihren Vorschlägen. Die Kostendämpfung, die Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wollen, ist nur durch Streichungen zu erreichen. Wenn ich Leistungen streichen möchte, gehe ich davon aus,beispielsweise dann, wenn das Jugendamt eine Entschei- dass Maßnahmen durchgeführt wurden, die nicht not- dung trifft. Wir wollen aber keine Veränderungen, die zu wendig waren, dass also auch Kinder, die keinen Hilfe- einem Abbau von Leistungen, die Kinder dringend brau- bedarf hatten, Leistungen erhalten haben. In solchen Fäl- chen, führen. Das ist an der verkehrten Stelle gespart! len sind Streichungen gerechtfertigt. Oder Sie gehenEin Kind, das einen Knochenbruch hat, schicken Sie davon aus, dass zum Beispiel die Schule diese Leistung auch nicht wieder heim statt zum Chirurgen, sondern Sie (B) hätte erbringen müssen. Dann muss man sich mit densagen: Jawohl, da muss etwas getan werden. – Ich finde, (D) dortigen Verantwortlichen streiten oder billigend in Kauf ob ein Knochenbruch oder eine Wunde an der Seele, das nehmen, dass diese Kinder keine Hilfe bekommen, dass ist egal. Hauptsache, das Kind wird gesund und wächst sie zukünftig Problemfälle auf dem Arbeitsmarkt sind gesund auf, als eigenständige Persönlichkeit. Dann kön- und dass sie später von der Jugendgerichtshilfe Leistun- nen wir mit ihm als Erwachsenem auch etwas in unserer gen erhalten, die sie vorher nicht bekommen haben. Demokratie anfangen. Alles andere ist nicht zielführend, Wenn Sie Kindern Hilfsmaßnahmen verweigern, die deswegen lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. dringend Hilfe brauchen, muss ich sagen, dass Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schlicht und ergreifend eine Sünde an zukünftigen Gene- DIE GRÜNEN) rationen begehen. Was ist also zu tun? Nur so wird ein Schuh daraus: Wir müssen dieVollzugsdefizite ab- bauen. Das heißt, wir müssen in der Jugendhilfeplanung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Strukturen schaffen und Familienleitbilder erstellen. All Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Haupt von der dies müssen wir tun, damit Familien und Kinder dieFDP-Fraktion. Strukturen bekommen, die sie brauchen, und damit für (Beifall bei der FDP) die Kinder, die Einzelfallhilfe benötigen, tatsächlich Geld da ist. Klaus Haupt (FDP): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DIE GRÜNEN) Zwölf Jahre nach dem In-Kraft-Treten des Kinder- und Dann muss ein Hilfeplan für den Einzelfall erstellt wer- Jugendhilfegesetzes ist eine kritische Überprüfung den. sicherlich sinnvoll. Das gilt besonders, wenn Kosten- dämpfung möglich erscheint. Wer jedoch bei der Ju- gendhilfe sparen will, darf nicht vergessen, dass Ausga- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ben für unsere Kinder und Jugendlichen Investitionen in Frau Kollegin Rupprecht, erlauben Sie noch einedie Zukunft unserer Gesellschaft sind Zwischenfrage? – Dann bitte ich Sie, anschließend zum Schluss zu kommen. (Beifall bei der FDP) und falsches Sparen an dieser Stelle schlimme Folgen Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): haben kann. Außerdem ist im Blick zu behalten, dass die Ja. Kinder- und Jugendhilfe im Ausgabenblock des Sozial- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9759

Klaus Haupt (A) budgets unseres Landes ohnehin einen eher bescheide- jährige in Ausnahmefällen auch künftig über (C) die nen Anteil einnimmt und auch ihr Anteil an den Ausga- Vollendung des 21. Lebensjahres hinaus fortgesetzt wer- ben der Kommunalhaushalte keineswegs hoch liegt. Vor den können. In vielen Fällen kann eine Fortsetzung von diesem Hintergrund sind Vorschläge zu Leistungsein- Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe über das schränkungen bei der Jugendhilfe stets kritisch zu prü- 21. Lebensjahr hinaus sinnvoll sein, etwa bei Jugendli- fen. chen, die Strafvollzug oder Psychiatrie hinter sich haben, oder bei Frauen im Falle ungewollter Schwangerschaft Die auf Initiative der FDP durchgeführte Ausschuss- oder von Zwangsheirat. anhörung hat wertvolle und aus meiner Sicht differen- zierte Beiträge zur Meinungsbildung geliefert. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Genau!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eine erfolgreiche pädagogische Arbeit auch mit jungen Erwachsenen ist, wie man Studien entnehmen kann, sehr Ich möchte mich bei den Fachleuten bedanken, die mit wohl möglich. Im Übrigen ist die im Gesetzentwurf ge- sehr hilfreichen, sachkundigen Informationen zur Be- troffene Feststellung, dass Maßnahmen für junge Er- wertung der vorgeschlagenen Änderungen beigetragen wachsene zur Regel und zum enormen Kostenfaktor ge- haben. worden seien, nicht generell zutreffend. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, Die Einführung von Landesrechtsvorbehalten zur der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Verlagerung von Aufsichtskompetenzen, die Verände- GRÜNEN) rung von Zuständigkeitsregelungen und die Erhebung von Gebühren wären aus unserer Sicht zu befürworten. Die Mehrheit der Sachverständigen hat gegen mehrere Auch die stärkere Heranziehung zu den Kosten bei stati- Änderungsansätze des Gesetzentwurfes überzeugende onären Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe sieht Argumente angeführt, weshalb wir im Ausschuss diedie FDP positiv. Diese Thematik hat eine Kleine An- Streichung der betreffenden Artikel beantragt haben. frage der FDP vertieft. So können die vorgesehenen Einschränkungen der Dem Gedanken, das Kindergeld bei der Erhebung ei- Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nes Kostenbeitrages für Jugendhilfeleistungen anzurech- sowie die Verlagerung dieses Leistungsbereiches in die nen, wenn das Jugendamt den Lebensunterhalt für Kin- Sozialhilfe von der FDP nicht mitgetragen werden. der trägt, stehe ich ebenfalls aufgeschlossen gegenüber. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Es gibt keinen Grund, die bisherige relative Schlechter- SPD) stellung der Eltern, die ihre Kinder selbst erziehen, bei- (B) zubehalten. (D) Sie würden zu einer Verschlechterung der Hilfen und zu einer Kostenverlagerung, aber kaum zu einer Einsparung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten führen, vielleicht sogar zu zusätzlichen Folgekosten, der CDU/CSU) wenn die Aufgaben weniger zielgruppengerecht erfüllt Die FDP begrüßt den Vorschlag der Aufwertung der werden. Die bisherige Unterscheidung der Zuständigkei- Jugendhilfeplanung im Hinblick auf einen kontinuierli- ten für geistig und körperlich Behinderte auf der einen chen Prozess und einen höheren Gesamtstellenwert. und seelisch Behinderte auf der anderen Seite ist zwar nicht vollends überzeugend, es ist aber nach Anhörung Der Vorschlag, durch Landesrecht veränderte Zustän- der Experten zu bezweifeln, dass aus dem System der digkeiten für die Aufsicht über Tageseinrichtungen für Sozialhilfe heraus mit gleicher Qualität Hilfen für die Kinder zu ermöglichen, kann einen positiven Beitrag zur betroffenen Kinder und Jugendlichen erbracht werden Verwaltungsvereinfachung leisten. Allerdings darf es könnten wie bisher durch die Kinder- und Jugendhilfe nicht zu Interessenkollisionen auf der Ebene der örtli- und ihre Rehaträger. chen Träger der Jugendhilfe kommen. Sehr wohl wären durch den Gesetzentwurf Leistungs- (Beifall bei der FDP) einschränkungen für seelisch behinderte oder von einer Meine Damen und Herren, die FDP hat im Ausschuss solchen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche in diesem Sinne zahlreiche Änderungsanträge zu dem zu befürchten und damit ihre Integration gefährdet. Kos- vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht, um das in der tenreduzierungen in diesem Bereich sind, wie sich in ei- Anhörung vermittelte Expertenwissen in den Gesetzge- nigen Kommunen gezeigt hat, durch Verbesserung und bungsprozess einfließen zu lassen. Diese Änderungsan- Vereinheitlichung der Auslegung sowie durch Professio- träge sind nicht berücksichtigt worden. In der Gesamtab- nalisierung der Gesetzesanwendung insgesamt möglich. wägung enthält der Gesetzentwurf aus unserer Sicht Die im Gesetzentwurf vorgesehene Änderung desschwerwiegende Defizite, die zu einer erheblichen Ver- § 41 SGB VIII lehnen wir ab. Grundsätzlich sollte der schlechterung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe Schwerpunkt der Jugendhilfe auf der Förderung vonführen, ohne dass im Endeffekt sicher mit echten Ein- Kindern und Jugendlichen liegen. sparungen zu rechnen wäre. Die FDP lehnt den Gesetz- entwurf daher trotz einiger guter und sinnvoller Gedan- (Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD]) ken ab. Schon heute ist rechtlich sichergestellt, dass die Maß- Danke. nahmen vor der Volljährigkeit beginnen müssen. Aller- dings müssen Jugendhilfemaßnahmen fürjunge Voll- (Beifall bei der FDP) 9760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: vor Gericht erst einklagen müssten, und zwar weil wir, (C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger, der Gesetzgeber, diese Unklarheiten geschaffen hätten. Bündnis 90/Die Grünen. Das darf nicht passieren. Eine in der Anhörung gemachte Aussage möchte ich Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hier besonders unterstreichen: Die Jugendhilfe darf nicht NEN): zur „behindertenfreien Zone“ werden. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Kin- der- und Jugendhilfegesetz ist ein modernes und gutes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetz, und zwar deshalb, weil es die Hilfen leistet, die und bei der SPD) notwendig sind. Was den Bereich der Teilleistungsstörungen angeht (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Weil es von uns – Stichwörter „Legasthenie“ und „Dyskalkulie“ – ist gemacht worden ist, deswegen ist es gut!) klar: In erster Linie ist natürlich die Schule dafür zustän- dig, Kindern Lesen und Rechnen beizubringen. Die Was wir nicht gebrauchen können, ist ein KJHG light Schulen unterstehen der Länderhoheit. Das funktioniert unter ausschließlich finanziellen und nicht unter fach- mal mehr und mal weniger gut. Wir haben gelernt, dass lichen Gesichtspunkten. eine gute örtliche Kooperation zwischen dem Jugendhil- Zu § 35 a: Der Gesetzentwurf von CDU/CSU sieht fesystem und der Schule das Wichtigste ist. Ich habe die vor, dass die Leistungen für seelisch Behinderte oderExpertenmahnung noch sehr gut im Ohr, dass es in die- von Behinderungen bedrohte Kinder und Jugendliche an sem Bereich einen großen Forschungsbedarf gibt und die Anspruchsvoraussetzungen des Bundessozialhilfege- dass wir uns, weil wir in diesem Bereich relativ wenig setzes angeglichen werden sollen. Warum das aus fachli- wissen, davor hüten sollten, einschneidende Änderungen cher Sicht der falsche Weg wäre, ist sehr deutlich gewor- vorzunehmen. den: Die Zuweisung von seelisch behinderten jungen Menschen in die Sozialhilfe ist nicht angemessen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) In Bezug auf § 41 KJHG – Hilfen für junge Volljäh- rige – beabsichtigt die Unionfolgende Neuregelungen: Grund dafür ist, dass es im Bereich der Sozialhilfe eine ein generelles Maßnahmeende von Jugendhilfeleistun- völlig andere Logik der Hilfeplanung gibt als im KJHG. gen mit Vollendung des 21. Lebensjahres, keine Erst- Wenn es um rein materielle Versorgung geht, dann ist hilfe mehr ab dem 18. Lebensjahr und die Weiterführung (B) das Sozialamt zuständig. Wenn es aber um pädagogische einer Maßnahme über das 18. Lebensjahr hinaus nur(D) und erzieherische Hilfen geht, dann ist die Jugendhilfe noch als Kannleistung. Die Mehrheit der Experten in un- zuständig, und das aus gutem Grund: Sie kann das am serer Anhörung war der Ansicht, dass die Einführung besten. Sie erbringt die Hilfe, die speziell auf die Bedürf- des § 41 eine wichtige Errungenschaft des KJHG ist. nisse von Kindern und Jugendlichen zugeschnitten ist. Aus fachlicher Sicht gibt es also keinen Grund für eine Aus der Praxis wissen wir, dass die Jugendämter Veränderung. Warum will die Union trotzdem eine?diese Hilfegewährung restriktiv handhaben. Es gibt zwei Meine Kollegin Rupprecht hat schon darauf hingewie- Wege, um Kosten einzusparen: entweder die Hilfen im sen: ausschließlich aus Kosteneinsparungsgründen. Standard reduzieren oder überhaupt keine Hilfen mehr anbieten. Wenn zum Beispiel die jungen Volljährigen Die Einführung eines so genannten Wesentlichkeits- nicht mehr von der Jugendhilfe betreut werden, dann kriteriums, wie ihn der Gesetzentwurf der Union vor-werden sie überhaupt nicht mehr betreut. Damit ist diese sieht, würde bedeuten, dass Kinder und Jugendliche von Hilfeart vom Tisch. Trotzdem brauchen diese Jugendli- einer wesentlichen Behinderung bedroht sein müssen, chen noch Hilfe. Wenn wir all diese Jugendliche durch dass ihre Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft we- das Sieb fallen lassen, dann ist das im ersten Moment si- sentlich eingeschränkt sein muss, dass der Eintritt einer cherlich billiger. Langfristig sind aber nicht nur die Fol- seelischen Behinderung „mit hoher Wahrscheinlichkeit gekosten höher, sondern auch der gesellschaftliche Scha- zu erwarten“ sein muss und anderen Kindern und Ju-den ist riesig. gendlichen mit einer seelischen Behinderung Eingliede- rungshilfe gewährt werden „kann“. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die Einführung des Begriffs der wesentlichen Behin- derung würde keine Klärung, sondern Unklarheiten mit Die Aufwendung öffentlicher Mittel für Jugendhilfe sich bringen. Der Versuch, in wesentliche, nicht we-– das sage ich klipp und klar – ist keine Wohltat des sentliche oder weniger wesentliche Behinderungen zu Staates. Hilfeleistungen für Jugendliche sind Ausdruck unterscheiden, würde die Schwelle der Anspruchsvor- der öffentlichen Mitverantwortung für das Heranwach- aussetzungen erhöhen und es würde zu Abgrenzungs- sen junger Menschen. Alle Leistungskürzungen, die nur schwierigkeiten kommen. Wir alle müssten befürchten, dazu führen, dass bestehende Problemlagen verschärft dass eine solche Gesetzesänderung der Vorwand für un- werden, sind abzulehnen. differenzierte Leistungskürzungen wäre. Das heißt, für Kinder und Jugendliche ginge unter Umständen wert- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN volle Zeit verloren, weil Eltern Hilfen für ihre Kinder und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9761

Jutta Dümpe-Krüger (A) Zu § 10 KJHG: Die Union will, dass Leistungen für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) junge Volljährige nur noch als Folgeleistung des Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Scheuer von § 27 SGB VIII, nicht aber des § 35 a SGB VIII möglich der CDU/CSU-Fraktion. sein sollen. Damit wäre der Vorrang der Jugendhilfe auf- gehoben und in den Zuständigkeitsbereich des Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU) sozialhilfegesetzes verschoben. Dieser Vorstoß ist mir schon allein deshalb unverständlich, weil es nur sehr we- Andreas Scheuer (CDU/CSU): nige dieser Fälle gibt. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion um die Novellierung des Kinder- und Ju- Ich appelliere an Sie, noch einmal über die Fragegendhilfegesetzes hat im Laufe derBeratungen einige nachzudenken, warum erzieherische Hilfen auch fürsehr überraschende Entwicklungen und Wendungen ge- junge Volljährige notwendig und wichtig sind. Sie sind nommen. Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, wichtig, weil sich von diesen Leistungen betroffenesahen noch in der ersten Lesung am 3. Juli 2003 keinen junge Menschen häufig in einer sehr kritischenHandlungsbedarf. Sie blockten ab. Die Frau Staatssekre- Lebensphase befinden. Wenn es dann zu einem Zustän- tärin Riemann-Hanewinckel wies in der Debatte sogar digkeitswechsel des Rehaträgers käme, wäre das gleich- darauf hin, dass die Bundesregierung Gespräche darüber zeitig mit einem Einrichtungswechsel verbunden. Das grundsätzlich ablehne. Sie wollten auf diesem Gebiet würde Effekte begonnener Hilfe in hohem Maß infrage nichts reformieren und zeitgemäß anpassen. stellen. Wir wissen, dass besonders Mädchen davon be- troffen wären. Sie versuchten, die Problembereiche mit dem Argu- ment – wir haben es auch heute wieder gehört – einfach Ich habe folgendes Beispiel aus der Anhörung im wegzuwischen, dass für Kostensteigerungen im Kinder- Kopf: Ein Mädchen kommt in die Klinik, weil es sexuell und Jugendhilfebereich die Jugendämter selbst verant- missbraucht wurde und daraufhin versucht hat, sich das wortlich sind, weil diese mit dem KJHG falsch umge- Leben zu nehmen. Die junge Frau steht kurz vor ihrem hen. Sie sehen bei den Missbrauchsfällen weg und igno- 18. Lebensjahr und wollte eigentlich Abitur machen.rieren, dass die Jugendämter nur noch Auszahlstellen Wenn sie nun in der Klinik 18 Jahre alt wird und der So- sind, wodurch keine freien Mittel für die wichtige Prä- zialhilfeträger für sie zuständig würde, dann käme sie vention übrig bleiben. anschließend in ein Wohnheim für psychisch Kranke, die mit 40, 50 oder noch mehr Jahren sehr viel älter als sie (Beifall bei der CDU/CSU) sind. Das ist nicht die Hilfe, die diese junge Frau benö- Dann folgte am 10. Dezember 2003 eine Anhörung. tigt. Oh Wunder, plötzlich kamen leichte Signale in Richtung (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Änderungswillen. Es mag an den von uns vorgeschlage- und bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/ nen Experten aus der Praxis gelegen haben, dass Sie sich CSU]: Das stimmt ja gar nicht!) in der Folge für das Thema erwärmen konnten. Ein sehr erfahrener Jugendamtsleiter – er selbst ist sogar SPD- Was sie braucht, sind geeignete Hilfen, speziell aufParteimitglied – bestätigte uns die richtige Richtung un- junge Menschen ausgerichtet, damit sie ihr Leben wie- seres Vorschlags. der in den Griff bekommt, ihren Schulabschluss machen (Widerspruch bei der SPD) kann und anschließend hoffentlich einen guten Start in ihr weiteres Leben findet. – Frau Humme, sehr viele Experten bestätigten uns die Richtigkeit unseres Vorschlags. – (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das kann sie auch mit dem neuen Gesetz!) (Christel Humme [SPD]: Nicht in allen Punkten!) Ich möchte abschließend feststellen: Jugendhilfe darf man nicht nach Kassenlage betreiben. Finanznot darfEs mag vielleicht auch an den SPD-Bürgermeistern und nicht dazu führen, dass Rechtsansprüche und Qualitäts- SPD-Landräten liegen – es soll ja noch einige geben, standards in der Kinder- und Jugendhilfe eingeschränkt aber nach den anstehenden Kommunalwahlen in diesem werden. Jahr werden es wieder etwas weniger sein –, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) die Druck machten, hier etwas voranzutreiben. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, junge Menschen (Christel Humme [SPD]: Was?) zu fördern und dafür zu sorgen, dass alle annähernd die Dann kam die Ausschussberatung, bei der kleinere gleichen Chancen haben. Wir sind in der Pflicht, sie bei Kompromisslinien zu erkennen waren. Man konnte also der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen, hoffen, dass durch die Anhörung ein Anflug von Er- damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können. leuchtung bei Ihnen Einzug gehalten hatte. Ob das dazu Ich danke Ihnen. führt, dass die Hilfe zielgenau bei den Kindern, Jugend- lichen und Jugendämtern ankommt, glaube ich nicht; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denn die bei Ihnen zu erkennenden Reförmchen werden und bei der SPD) wieder an der Praxis vorbeigehen. 9762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Andreas Scheuer (A) Auch ein Entschließungsantrag von Bayern und Nord- der- und Jugendhilfegesetzes mit einigen kosmetischen (C) rhein-Westfalen im Bundesrat hat Sie dann wohl im wei- Änderungen abarbeiten. Wie stümperhaft Sie arbeiten, teren Verlauf zum Meinungsumschwung gezwungen. Da beweist dieser Entwurf. Sie wollen dieses Gesetz drauf- kann man nur sagen: Es geht doch. Wenn der Druck von packen, das auf den falschen Zahlen durch die Zusam- allen Seiten kommt, dann können Sie sich anscheinend menlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe – Hartz IV – doch bewegen. Dies geschieht zwar langsam, aber ich basiert. Die Finanzierung ist unsicher. halte mich an die Devise: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Frau Kollegin Rupprecht, jetzt komme ich zu Ihnen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich durfte mit Ihnen, hoch geschätzte Frau Kollegin, eine Herr Kollege Scheuer, erlauben Sie eine Zwischen- Podiumsdiskussion in Kelheim im schönen Niederbay- frage der Kollegin Rupprecht? ern bestreiten. Dort waren nicht die Kämmerer und nicht die Finanzexperten der Kommunen unsere Ansprech- Andreas Scheuer (CDU/CSU): partner, sondern die Jugendamtsleiter, die Praktiker, Den Absatz will ich noch beenden, danach gerne. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Nicht die Praktiker, die Amtsleiter!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. die Kommunalpolitiker und die Jugendpolitiker aus Bay- ern. Ich hätte eigentlich nach meinen Erläuterungen un- (CDU/CSU): seres Vorschlags gleich nach Hause fahren können, denn Andreas Scheuer die Union wurde in allen Punkten bestätigt. Sie aber, Darüber hinaus weiß mittlerweile jedes Kind über das Desaster von Hartz IV, das Hickhack und die Verschie- Frau Kollegin, mussten die sehr bescheidenen und reali- bung Bescheid. Die Umsetzung ist unsicher und fraglich. tätsfernen Vorschläge der Koalition vortragen, was allge- Die Ministerin hat im Ausschuss Auskunft gegeben. Sie meine Heiterkeit bei den beteiligten Experten auslöste. präsentieren uns Phantombuchungen und einen Entwurf (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der zur Tagesbetreuung und auch noch zum SGB VIII, um SPD) das Ziel von Rot-Grün doch noch in dieser Legislatur- periode zu erreichen – Sie wissen, diesen Ausspruch zi- Grundtenor dieser Jugendamtsleiter war: Die Vorstellun- tiere ich sehr gerne –: die Lufthoheit über den Kinderbet- gen von Rot-Grün gehen völlig an der Praxis vorbei. ten. Wenn Sie nicht einmal die guten Ratschläge der Ju- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt gendamtsleiter, der Praktiker aufnehmen, dann machen [Salzgitter] [SPD]: Ziemlich unangemessen, (B) Sie wie gewohnt Politik an den Menschen vorbei. Des- der ganze Beitrag!) (D) halb brauchen Sie sich auch nicht darüber zu beklagen, dass Sie bei Umfragen in diesem Land so mies dastehen. Bitte. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben in diesem Punkt keine Achtung vor der Eigenverantwor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tung der Kommunen und damit werden Sie zum Toten- Frau Kollegin Rupprecht, bitte schön. gräber der kommunalen Selbstverwaltung. Das ist Fakt. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): [Salzgitter] [SPD]: Das ist eine unglaubliche Herr Kollege Scheuer, ich habe gerne mit Ihnen die Übertreibung! Aber das kennen wir ja von Ih- Podiumsdiskussion geführt, weil Fachwissen gefragt nen!) war, nicht nur die Präsentation von Bildzeitungszitaten. Ich kann auf eine Erfahrung von zwölf Jahren in der Ju- Kommen Sie nicht mit dem Argument – das haben gendhilfeplanung in meiner kommunalen Gebietskörper- wir heute wieder gehört –, das sei ein sozialer Kahl-schaft zurückblicken und habe deshalb eine fundierte schlag, oder mit ähnlichen Phrasen. Das ist plump und Basis. billig. Wenn ich mir die Stellungnahmen der Jugend- amtsleiter bzw. der Kommunen ansehe, dann stelle ich Nun zu Ihrer Aussage, dass wir etwas nachschieben, fest, dass wir mit unserem Vorschlag völlig Recht haben. weil das Bestehende schlecht ist. Wenn gerade Sie in Bayern geprüft hätten, ob Sie bezüglich der Tagesbetreu- (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Le- ung und der Tagespflege Ihrer Verpflichtung nach- sen Sie mal die Stellungnahmen genau!) gekommen sind, nach § 80 SGB VIII – Jugendhilfe- – Ganz ruhig, Frau Kollegin Rupprecht, Blutdruck he- planung – den Bestand festzustellen, dann hätten Sie runterfahren! bemerkt, dass Sie die Augen zumachen, dass Sie sich ins Eckchen hocken und sich schämen müssten, weil Sie Sie, Frau Kollegin Rupprecht, setzen jetzt noch eins nichts dergleichen gemacht haben. Sie haben weder den drauf und kommen mit einem Tagesbetreuungsausbau- Bedarf noch den Bestand festgestellt. Und Sie wollen gesetz. Sie sagen, es gebe keinen Reformbedarf, das Ge- uns unterstellen, dass wir etwas schlecht gemacht haben! setz habe sich bewährt und Sie machten so weiter. Der Entwurf liegt aber schon in der Schublade des Ministeri- Deshalb meine Frage. ums. Tagesbetreuungsausbaugesetz ist wieder so ein durchgestyltes Mammutmarketingwort. Mit dem Ent- Andreas Scheuer (CDU/CSU): wurf wollen Sie noch schnell die Novellierung des Kin- Ach, doch noch eine Frage? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9763

(A) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): des SGB VIII hat eines bewirkt, nämlich dass auch Sie (C) Ja, Herr Scheuer, die Frage kommt jetzt: Warum glau- endlich den Handlungsbedarf sehen. ben Sie, dass Sie mit Ihren Maßnahmen die Umsetzung Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf erreichen, des Kinder- und Jugendhilfegesetzes präzisieren? dass mit dem KJHG einerseits weniger Mitnahmeef- Meine zweite Frage lautet: Können Sie uns detailliert fekte, weniger Missbrauchsfälle, weniger Gutachteritis vortragen, wie Sie mit den §§ 35 a und 41 SGB VIII die und Rechtsstreitigkeiten und andererseits mehr Transpa- Einführung der so genannten Maßnahmen der Schule im renz, mehr Klarheit der Strukturen, mehr Effizienz, mehr Rahmen der Jugendhilfe wieder rückgängig machenEigenverantwortung für die Kommunen, mehr Möglich- wollen? Wie wollen Sie das in Ihrer Reform mit demkeiten hinsichtlich der fachlichen Kompetenz der Ju- § 35 a erreichen? Denn der Bund ist dafür der falschegendämter, mehr Gerechtigkeit und mehr Geld für die Ansprechpartner. präventiven Maßnahmen unserer Jugendämter einherge- hen. Das würde mit unserem Gesetz erreicht. Deshalb Andreas Scheuer (CDU/CSU): muss jeder, der den Kindern und Jugendlichen helfen Frau Kollegin, angesichts der Tatsache, dass die Po- will, unserem Gesetzentwurf zustimmen. diumsdiskussion in Kelheim drei Stunden gedauert hat, Herzlichen Dank. könnte ich mir jetzt den Spaß erlauben, ausgiebig über den § 35 a zu diskutieren. Ich hoffe, dass sehr viele (Beifall bei der CDU/CSU) Landräte, Bürgermeister und Jugendamtsleiter die heu- tige Debatte vor dem Fernsehgerät verfolgen. Denn Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie doch zugeben, dass Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kerstin Griese die Podiumsdiskussion für Sie katastrophal verlaufen ist. von der SPD-Fraktion das Wort. Die Jugendamtsleiter bestätigen nämlich, dass unser Vorschlag richtig ist. Kerstin Griese (SPD): Für uns ist nichts Besseres vorstellbar – das ist uns in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be- der Anhörung bestätigt worden –, als den Wortlaut des vor ich meine Rede beginne, muss ich Ihnen mitteilen, § 35 a zusammen mit den Praktikern zu erarbeiten und dass die Ministerin in der heutigen Debatte nicht anwe- entsprechend umzusetzen. Hier diskutieren wir zunächst send sein kann, weil sie an der Beerdigung ihres Fahrers über unseren Vorschlag wie auch über Ihren Entwurf ei- teilnimmt. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass nes Reformgesetzes, in dem Sie den § 35 a kosmetisch Staatssekretärin Beck seit Beginn der Debatte anwesend etwas verändern. Sie werden sicherlich auf einen Kuh- ist. (B) handel hinauswollen. Wir werden sehen, wie Sie sich im Nun zu unserem Thema. In dieser Debatte geht es um (D) Zusammenhang mit dem § 35 a winden und zu einer Ei- eine gute Kinder- und Jugendpolitik, deren Zielsetzung nigung kommen wollen. ist, dass Kindern und Jugendlichen Chancen geboten (Beifall der Abg. Maria Eichhorn [CDU/CSU] und dass sie frühzeitig gefördert werden. Unser Ziel als – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Keine Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es, Fa- Antwort ist auch eine Antwort!) milien zu stärken und zu unterstützen, damit Kinder und Jugendliche gut aufwachsen können. Dafür haben wir – Herr Schmidt, vielleicht kennen Sie den vom Ministe- eine öffentliche Verantwortung, der wir mit dem Kinder- rium erarbeiteten Gesetzentwurf noch nicht. Aber weil und Jugendhilfegesetz nachkommen. Dabei handelt es Sie die Verantwortung und die Kosten immer wieder auf sich um einen bewährten und wichtigen Baustein in der die unteren Ebenen abschieben – Sie schreiben die Ge- Kinder- und Jugendhilfepolitik. Ich freue mich, dass wir setzentwürfe und die anderen sollen zahlen –, erlauben uns zumindest darüber einig sind, dass es sich dabei um Sie mir eine Randbemerkung. Dem Entwurf des TAG ist einen Erfolg handelt. hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen auf die öf- fentlichen Haushalte zu entnehmen, dass dem Bund Mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen Sie aber das Ziel keine Kosten entstehen würden. Für die Länder undeiner guten Kinder- und Jugendpolitik nicht, Herr Kommunen werden Kosten in Höhe von 1,61 Milliarden Scheuer. Euro erwartet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer zahlt DIE GRÜNEN) das? Wir! Das haben wir doch gesagt!) Sie schaffen damit einzig und allein einen Verschiebe- Die Einsparungen belaufen sich auf 219 Millionen Euro. bahnhof zulasten der betroffenen Kindern und Jugendli- Da muss doch jedem Kommunalpolitiker die Farbe aus chen. Das begründen Sie mit den gestiegenen Kosten bei dem Gesicht weichen, wenn er von solchen Plänen er- den kommunalen Leistungen, also mit rein fiskalischen fährt. Argumenten. Uns geht es aber darum, zu erkennen, wo wir qualitative und strukturelle Verbesserungen und Ver- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer änderungen vornehmen müssen und wo wir bewährte [CDU/CSU]: Gut formuliert!) Strukturen erhalten können. Im Deutschen Bundestag findet kein Wunschkonzert Lassen Sie mich etwas zu denKostensteigerungen der Maßnahmen statt; wir müssen vielmehr positiv und anführen; denn Sie, Frau Eichhorn, haben auch wieder realitätsnah agieren. Die Debatte über die Novellierung von einer Kostenexplosion gesprochen. Mehr als die 9764 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Kerstin Griese (A) Hälfte der Kostensteigerungen in den vergangenen zehn Mir ist es ganz wichtig, dass wir uns die in der Kin- (C) Jahren ist auf den seinerzeit geschaffenen Rechtsan-der- und Jugendhilfe vorhandene Qualität nicht von den- spruch auf einen Kindergartenplatz zurückzuführen, den jenigen beschädigen oder sogar zerstören lassen, die sich wir sicherlich alle befürworten. darauf verstehen, das System auszunutzen. Deshalb sind wir auch zu Änderungen bereit, die die Zielgenauigkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – verbessern und eine verstärkte Heranziehung der Eltern Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Nicht auf § 35 a bei den Kosten ermöglichen. Bei stationärer Hilfe – auch bezogen!) das muss deutlich gesagt werden, weil hier so getan wird, als ob es das noch nicht gäbe – müssen die Eltern Die andere Hälfte der Kostensteigerungen ist auf den schon heute Kostenbeiträge in Höhe von bis zu 800 Euro von uns Fachpolitikern gemeinsam gewollten Ausbau im Monat zahlen. Wir wollen das entbürokratisieren und der familienunterstützenden Erziehungshilfen zurückzu- vermögende Eltern stärker fordern. führen. Das ist der Hintergrund und das sollte man be- denken, bevor man von einer Kostenexplosion spricht. Ich warne vor dem Populismus einiger Boulevardzei- tungen und auch davor, sich deren Argumentation zu Ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen zu machen. Es ist zwar richtig, dass es einzelne Fälle DIE GRÜNEN) gegeben hat, in denen geschickte Eltern, die nicht zu den Die Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Ju- finanziell und sozial Schwachen gehören, das System gendliche sowie für junge Volljährige, um die es hier ausgenutzt haben. Aber die übergroße Mehrheit derjeni- hauptsächlich geht, sind zwei Herzstücke des Kinder- gen Kinder, die in den Maßnahmen sind, brauchen Hilfe. und Jugendhilfegesetzes. Das sieht auch die Fachwelt so. Es sind sogar eher die finanziell oder sozial schwachen Herr Scheuer, bei der von Ihnen angesprochenen Anhö- Familien, deren Kinder eine bessere Unterstützung rung war ich sowohl körperlich als auch geistig anwe- bräuchten und die oft nicht die juristischen Kniffe ken- send. Ich habe sie sogar geleitet und sehr genau zuge- nen, um an die entsprechenden Hilfen heranzukommen. hört. Nahezu alle Sachverständigen haben sich negativ Noch eine Bemerkung zu der Dokumentation des zu dem Vorhaben der Union geäußert. Nur drei IhrerBayerischen Landkreistages, in der 25 Fälle aufgeführt Sachverständigen haben sich etwas positiver dazu geäu- sind, in denen die Kinder- und Jugendhilfe angeblich un- ßert. berechtigterweise gewährt worden ist. Wenn Sie sich die Fälle genau ansehen – das geht vor allen Dingen an die (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Sie haben die Adresse der bayerischen Kolleginnen und Kollegen –, eingeladen, die durch Gutachtertätigkeit ihr dann stellen Sie fest, wo das eigentliche Problem liegt: Geld verdienen!) Die Schule ist ihren Aufgaben nicht gerecht geworden. (B) (D) Es liegen uns auch sehr viele Stellungnahmen vor. Ich Das Jugendamt hätte sich um die Hälfte der Fälle gar möchte nur auf die schriftliche Stellungnahme des Deut- nicht kümmern müssen, wenn die Schule die Förder- schen Caritasverbandes verweisen, der der Meinung ist, möglichkeiten wahrgenommen hätte. Insofern ist der dass Ihre Vorschläge sachlich und jugendpolitisch nicht Weg falsch, beim Kinder- und Jugendhilfegesetz anzu- vertretbar seien. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsiden- setzen. ten wörtlich aus dieser Stellungnahme: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die beabsichtigten Leistungseinschnitte würden insbesondere jene Kinder und Jugendliche treffen, Mir ist es wichtig, sachlich klarzustellen – ich bin die auf fachliche Hilfe und ein sozialpädagogisches dem Kollegen Haupt ausdrücklich dankbar, dass er das bzw. jugendhilfespezifisches Setting für ihre posi- an Beispielen aufgezeigt hat –, dass es sich bei Ihren tive Entwicklung angewiesen sind. Vorschlägen nur um einen reinen Verschiebebahnhof handelt: von der Schule in die Jugendhilfe, dann in die Auch der Deutsche Caritasverband hat Ihnen also seine Sozialhilfe oder in die Hilfen zur Erziehung, was wieder Ablehnung Ihres Vorhabens deutlich gemacht. nur den Kinder- und Jugendhilfeetat beanspruchen würde. Mit einem reinen Verschiebebahnhof kommen In der Anhörung haben die Sachverständigen be- wir nicht weiter. Wir brauchen kompetente Ansprech- stimmte Fragen gestellt, über die Sie noch einmal nach- partner. Bei der seelischen Behinderung von Kindern denken sollten. Zum Beispiel wurde gefragt, was es den und Jugendlichen sind das die Jugendämter und nicht die Kommunen eigentlich nutzt, wenn dieKosten vom Ju- Sozialämter. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie die Nach- gendamt auf das Sozialamt verlagert werden, oder was haltigkeit der Maßnahmen fordern. Im Ziel sind wir uns es ihnen eigentlich nutzt, wenn in einem Bereich Kosten also völlig einig. Aber Nachhaltigkeit der Maßnahmen eingespart werden, in dem – wenn Kinder und Jugendli- bedeutet auch, dass man dort ansetzen muss, wo die che ohne Hilfe bleiben – dann noch weit kostenintensi- kompetenten Ansprechpartner sind. Am besten wäre es, vere Maßnahmen von Staat und Gesellschaft notwendig die Probleme dort zu lösen, wo sie in den meisten Fällen werden. In der Anhörung hat zum Beispiel der Vertreter auftauchen, nämlich in der Schule. der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter deutlich gesagt, dass Ihr Gesetzentwurf nicht zielführend Unser Ziel ist, öffentliche Verantwortung für das Auf- ist und dass er ihn deshalb nicht unterstützt. So viel zu wachsen von Kindern und Jugendlichen zu übernehmen. Ihrem Argument, dass alle Jugendämter eigentlich für Das steht auch so im 11. Kinder- und Jugendbericht. Wir Ihren Vorschlag seien. sollten uns in dieser Debatte vor Augen führen, dass in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9765

Kerstin Griese (A) der PISA-Studie unter anderem festgestellt worden ist, ren Weg in die Gesellschaft zu finden, die es besonders (C) dass in Deutschland die Bildungschancen noch immer schwer haben, sich zu entwickeln und zu bilden. Ich massiv von der sozialen Herkunft abhängig sind. Dasfinde, das hat mit christlicher oder sozialer Politik wenig zeigt aber auch: Unsere Politik, die dort ansetzt, wo es zu tun. darum geht, die Bildungschancen von Kindern und Ju- gendlichen zu verbessern, ist richtig. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] und der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [SPD]) DIE GRÜNEN) Richtig ist, dass die Kommunen stöhnen. Richtig ist, Das Motto der Ministerin „Auf den Anfang kommt es dass vielen Kommunen das Wasser bis zum Hals steht. an“ ist richtig; denn gerade bei den Kleinen und denNicht umsonst haben Bürgermeisterinnen und Bürger- Kleinsten muss man für bessere Chancen und für mehr meister vor dem Bundesrat und an anderen Stellen de- Förderung sorgen. Auch die Familien werden so ge-monstriert. Aber die Schlussfolgerung kann doch nicht stärkt. Das hilft den Kindern und Jugendlichen in diesem darin bestehen, nun bei Kindern und Jugendlichen zu Land eindeutig mehr als Kürzungen der Maßnahmensparen; sie muss vielmehrdarin bestehen, die Reform und irgendwelche Verschiebebahnhöfe. der Kommunalfinanzen endlich auf den Weg zu bringen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und den Kommunen wieder Finanzmittel in die Hand zu geben, damit man eben nicht auf solche Ideen kommt. Mit uns wird es keine Kinder- und Jugendhilfe nach Kassenlage, sondern nur eine qualitative und realitäts- Wir dürfen aber nicht die Augen vor der Tatsache ver- nahe Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilfe- schließen, dass wir in Zukunft sicherlich noch mehr rechts geben. Wir machen deutlich – das finde ich wich- Geld für Kinder- und Jugendhilfe brauchen werden. tig –, dass Staat und Gesellschaft Verantwortung für das Meine Kollegin Petra Pau ist schon in der Debatte heute Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen tragen, Morgen darauf eingegangen, dass das Portemonnaie vie- ler Familien aufgrund derAgenda 2010 und insbeson- (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: dere des Hartz-IV-Gesetzes noch dünner werden wird, Art. 6 Grundgesetz!) als es jetzt schon ist. Wir alle wissen, dass schlechte ma- und zwar gerade dann, wenn es sich um Kinder mit be- terielle Verhältnisse, also wenig Geld in der Familien- sonderen Problemen handelt, die zu Hause wenig geför- kasse, nicht gerade dazu beitragen, dass Kinder problem- dert werden. Diese Verantwortung sollten wir wahrneh- los aufwachsen können. men. Mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz hat die Bun- Vielen Dank. desrepublik Deutschland ein sehr gutes Gesetz. Sie von (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU würden den Kindern und Jugendlichen in DIE GRÜNEN) unserem Land einen sehr schlechten Dienst erweisen, wenn es Ihnen gelänge, für Ihren Gesetzentwurf eine Mehrheit zu finden. Ich hoffe und gehe davon aus, dass Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: es Ihnen nicht gelingen wird. Wir von der PDS lehnen Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. den Gesetzentwurf der CDU/CSU entschieden ab.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Vielen Dank. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – ren! Sehr geehrte Gäste! Wir als Abgeordnete der PDS Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Wir sind tief lehnen den Gesetzentwurf von CDU und CSU ab. Sie getroffen!) von der CDU und der CSU machen gern Steuersen- kungsvorschläge, aber recht selten Sparvorschläge. Die- sen Sparvorschlag – endlich kommt einmal einer von Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ihnen – machen Sie ausgerechnet an der falschen Stelle: Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Dörflinger Sie wollen ausgerechnet bei Kindern und Jugendlichen von der CDU/CSU-Fraktion. 150 Millionen Euro bis 250 Millionen Euro – das haben Sie ausgerechnet – einsparen. Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Ich will Ihren Sparvorschlägen einmal eine andere Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Zahl entgegensetzen, damit wir alle wissen, worüber wir Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen hier reden. Der Kollege aus den Reihen die heutige Debatte nicht isoliert, sondern in einem Kon- der CDU hat ein Steuerkonzept vorgelegt, dessen Um- text. Dieser Kontext ist beispielsweise in der von Union setzung zur Folge hätte, dass 32 Milliarden Euro in den und FDP gemeinsam beantragten gestrigen Aktuellen öffentlichen Kassen fehlten. Sie sollten sich lieber Ge- Stunde deutlich geworden. Zu diesem Kontext gehört, danken darüber machen, wie Sie die öffentlichen Kassen dass jeder in diesem Hohen Hause, egal für welche fach- füllen, als darüber, wie sie bei Kindern und Jugendlichen politische Richtung er steht, die Aufgabe hat, mit Bezug sparen können. auf die gesamtstaatliche Finanzierbarkeit unseres Ge- meinwesens einen Gedanken daran zu verschwenden, (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) was – erstens – wünschenswert, was – zweitens – not- Sie wollen ausgerechnet bei denjenigen Kindern und wendig und was – drittens; das ist das Entscheidende – Jugendlichen sparen, die es besonders schwer haben, ih- finanzierbar ist. 9766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Thomas Dörflinger (A) Die Zeiten, in denen wir uns zwischen Regierung und (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Hört! Hört! (C) Opposition – unabhängig davon, er regiert – darüber Zwei Welten! – Andreas Scheuer [CDU/CSU]: streiten konnten, wer denn nun die höchsten Ausgaben Genau!) vorschlägt und wer die besten und kostenintensivsten Vorschläge für eine ganz bestimmte Fachrichtung ma- Das erschließt sich mir nicht. chen kann, sind ein für alle Mal vorbei. Sie tragen mit großen Worten vor, beim SGB VIII be- stehe kein Änderungsbedarf. Das haben Sie in der ersten (Beifall bei der CDU/CSU) Lesung gesagt, das haben Sie bei der Anhörung im Aus- Deswegen kann ich den Tenor von manchem Beitrag in schuss weitgehend vertreten und das haben Sie heute der heutigen Debatte nicht verstehen. wiederholt. Wieso machen Sie jetzt im Zusammenhang mit dem Ausbau der Tagespflege Änderungsvorschläge Der Kollege Scheuer sagt zu Recht, dass der Bera-zum SGB VIII, zum Kinder- und Jugendhilfegesetz, tungsverlauf zwischen der Einbringung unseres Gesetz- wenn doch kein Änderungsbedarf besteht? entwurfs vom 3. Juni desvergangenen Jahres und dem (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: So ist es!) heutigen Tag doch erstaunliche Wendungen genommen hat. Nur frage ich mich nach dem einen oder anderenNur eines von beiden kann richtig sein. Beides zusam- Beitrag heute, insbesondere von Ihrer Seite, meine Da- men geht nicht. men und Herren, ob wir mittlerweile nicht wieder am (Beifall bei der CDU/CSU – Andreas Scheuer Ausgangspunkt angekommen sind. [CDU/CSU]: Frau Humme wird uns das erklä- Wenn ich das, was Sie und insbesondere Kollegin ren!) Rupprecht heute vertreten haben, mit dem in Überein- Ich bin jetzt auf etwas gespannt. Wenn Sie den stimmung zu bringen suche, was im Referentenentwurf Entwurf zum Ausbau der Tagespflegein den Deut- zum TAG – ich habe ihn dabei – zum Thema SGB VIII schen Bundestag eingebracht haben werden – ich muss steht, dann gibt es zwei Möglichkeiten: dazusagen: unter der Voraussetzung, dass Sie die Finan- zierung geklärt haben –, werden wir eine Anhörung dazu (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Zwei Welten!) durchführen. Ich mache Ihnen jetzt einmal den folgen- den Vorschlag: Wir laden die gleichen Expertinnen und Entweder ist das richtig, was Sie heute vorgetragen ha- Experten, die Sie und wir zum Gesetzentwurf der CDU/ ben, oder das, was darin steht. CSU-Bundestagsfraktion und zu der Bundesratsinitiative (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: eingeladen haben, wieder ein und konfrontieren sie mit (B) Beides!) Ihren Vorschlägen zum KJHG. Ich will von dem Profes- (D) sor, der von Ihnen eingeladen wurde und in der Anhö- Beides zusammen geht nicht. rung gesagt hat – ich verzichte jetzt auf die Namensnen- nung – es gebe keinen Änderungsbedarf bei § 35 a, es (Beifall bei der CDU/CSU – Marlenegebe in weiten Teilen des KJHG keinen Änderungsbe- Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Doch! Sie darf, dann hören, wie er Ihren Gesetzentwurf beurteilt, in müssen lesen können!) dem genau zu diesen Bereichen Änderungsbedarf signa- lisiert und formuliert wird, was zumindest teilweise mit Mehrere Redner von Ihnen haben gesagt, die Kosten- dem identisch ist, was wir vorschlagen. steigerung sei nicht dramatisch. Das hat auch Staatsse- kretär Ruhenstroth-Bauer im Bundesrat vorgetragen. Die (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE zuständige Fachministerin aus Nordrhein-Westfalen GRÜNEN]: Das ist einer, der das so gesehen sagt, die Kosten seien zwischen 1995 und 2001 von hat!) 780 Millionen Euro auf 1 Milliarde Euro gestiegen. Das Nun war die Rede davon, dass wir den Kommunen liegt nicht nur am Rechtsanspruch auf einen Kindergar- etwas Handlungspielraum zurückgeben wollen, tenplatz. (Christel Humme [SPD]: Die Chance haben (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Sie im Vermittlungsausschuss vertan!) Unter anderem!) und zwar nicht nur unter finanziellen, sondern auch un- Dazu gehören noch einige andere Faktoren. ter ordnungspolitischen Gesichtspunkten. Ich traue den Jugendämtern in den beiden Landkreisen in meinem Sie reden davon, dass mit unserem Gesetzentwurf ein Wahlkreis, den dort beschäftigten Damen und Herren Kahlschlag verbunden ist. Ausweislich der Begründung nämlich einen gewissen Sachverstand zu. Ich traue ihnen kalkulieren wir Einsparungen zwischen 150 zu, und zu differenzieren, wann eine wesentliche Behinde- 250 Millionen Euro. Ausweislich Ihres TAG sind Ihre rung nach der Formulierung unseres Gesetzentwurfes Vorschläge 219 Millionen Euro schwer. Wenn die von vorliegt und wann nicht. uns genannte obere Grenze zum Tragen kommt – neh- Jetzt lese ich Ihnen den § 35 a in der Neufassung nach men wir das einmal an –, dann besteht zwischen der ver- Ihrem Gesetzentwurf vor: nünftigen Lösung nach Ihren Vorstellungen mit 219 Mil- lionen Euro und dem Kahlschlag, den Sie uns vorwerfen, Hinsichtlich der Voraussetzungen nach Absatz 1 eine Differenz von 31 Millionen Euro. Nummer 1 hat der Träger der öffentlichen Jugend- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9767

Thomas Dörflinger (A) hilfe die Stellungnahme eines Arztes, der über be- von Ländern und Kommunen an uns herangetragen wer- (C) sondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischerden, nicht einfach aus ideologischen Gründen ignorieren, Störungen verfügt, eines psychologischen Psycho- sondern sie in ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsver- therapeuten oder eines Kinder- und Jugendlichen- fahren einbringen und anschließend auch umsetzen. psychotherapeuten einzuholen. Diese ist auf der (Zuruf von der SPD: Das tun wir!) Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für me- Ansonsten tun wir unseremeigenen Anliegen, die Zu- dizinische Dokumentation und Information heraus- ständigkeit beim Bund zu belassen, keinen Gefallen. gegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei Herzlichen Dank. ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krank- heitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Die (Beifall bei der CDU/CSU) Leistung darf nicht von der Person oder dem Dienst oder der Einrichtung, der die Person angehört, die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Stellungnahme abgibt, erbracht werden. Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Man hätte auch das Blatt Papier und den Stift, mit dem hat die Kollegin Christel Humme von der SPD-Fraktion die Stellungnahme geschrieben wird, noch detailliert be- das Wort. schreiben können. Christel Humme (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Da dokumentiert sich Ihr tiefes Misstrauen gegenüber Es ist schon erstaunlich, meine Herren und Damen von den Fachleuten vor Ort. der Union, dass Sie nach der Anhörung, die wir durchge- führt haben, und den vielen fachlichen Diskussionen, die (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) wir geführt haben, Ihrer Linie treu bleiben: Sie täuschen Geben Sie dem Jugendamt doch Handlungs- und Ent- nämlich die Öffentlichkeit bewusst und nehmen dabei in scheidungsfreiheit! Kauf, dass die gesamte gute Jugendhilfe vor Ort in Miss- kredit gebracht wird. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Dann sagen Sie doch, dass sie missbraucht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird! – Weitere Zurufe von der SPD) DIE GRÜNEN – Andreas Scheuer [CDU/ CSU]: Das weisen wir mit Abscheu von uns! – – Entscheidungsfreiheit vor Ort, Frau Rupprecht, ist das Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Gebot der Stunde, und zwar nicht nur unter finanziellen (B) Gesichtspunkten, sondern auch deswegen, weil eine Be- Ich bringe noch einmal kurz in Erinnerung, worüber (D) hörde vor Ort in der Regel besser zu entscheiden vermag wir eigentlich reden: Wir reden über einen Gesetzent- als ein Bundesgesetzgeber in Berlin. wurf des Bundesrates, der aus Bayern stammt und den sich die Oppositionsfraktion CDU/CSU zu Eigen ge- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) macht hat. Bezüglich der von Ihnen in diesem Gesetz- Der sollte sich darauf beschränken, Rahmenbedingun- entwurf unterbreiteten Vorschläge kann man nur feststel- gen zu schaffen, während die untergeordneten Dienst- len, dass sie nicht zur Problemlösung beitragen, sondern stellen bzw. Länder- oder Regionalebenen dann an-die Kinder- und Jugendhilfe ins Mark treffen. schließend die Ausführung übernehmen. (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Warten wir mal Lassen Sie mich eine Schlussbemerkung machen, ab, wie Sie beim TAG argumentieren!) meine Damen und Herren: Mitglieder aus allen Fraktio- Die heutige Debatte hat deutlich gemacht – dafür bin nen befinden sich in einem Diskussionsprozess – Stich- ich Frau Dümpe-Krüger und den anderen Vorrednerin- wort Föderalismuskommission –, in dem wir darübernen dankbar –, dass Kinder- und Jugendhilfe eine Dauer- nachdenken, wie wir die Zuständigkeiten zwischenaufgabe sein muss und nicht nach Kassenlage der kom- Bund und Ländern neu regeln können. Sie wissen ge- munalen Haushalte gestaltet werden darf. nauso gut wie ich, dass es unabhängig davon, wer in den einzelnen Bundesländern regiert, durchaus Bestrebun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen gibt, beispielsweise den Bereich der Kinder- und Ju- DIE GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/ gendhilfe vom Bund auf die Länder zu verlagern. Wir CSU]: Das bestreitet auch keiner!) sind uns wahrscheinlich unter den Fachpolitikerinnen Das hat auch die Anhörung der Fachleute ganz klar vor und Fachpolitikern aller Fraktionen dieses Hohen Hau- Augen geführt. ses einig, (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Prävention müsste (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: vorn drinstehen, nicht Reparatur!) Hoffentlich!) Darum danke ich Ihnen, Herr Haupt, dass die FDP zu- dass idealerweise weiterhinder Bund zuständig sein sammen mit uns im Ausschuss den Gesetzentwurf der sollte. Aber, meine Damen und Herren, dann müssen wir CDU/CSU abgelehnt und damit einen wesentlichen Bei- uns im Benehmen mit den Ländern – mit den A-Ländern trag zur Versachlichung der Debatte geleistet hat. Ich genauso wie mit den B-Ländern – auch in der Weise als denke, das ist ein guter Ansatz für die weitere Diskus- reformfähig erweisen, dass wir berechtigte Anliegen, die sion, die wir hier noch führen werden. 9768 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Christel Humme (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie Sie kritisieren die teure Unterbringung in einem(C) behaupten, Sie wollten die Kommunen entlasten. Die- Internat im Ausland auf Kosten des Staates und bekla- ses Argument zieht sich als roter Faden durch all Ihregen, dass Eltern, die über ein hohes Einkommen verfü- Reden. Wenn wir aber genauer hinsehen, stellen wir fest, gen, nicht zur Kasse gebeten werden. Ich frage Sie allen dass Ihre Vorschläge weder dem Kassenwohl noch dem Ernstes: Warum nutzen die Jugendämter nicht die Mög- Kindeswohl dienlich sind. Ihre Vorschläge sind – daslichkeit, die bereits heute im Kinder- und Jugendhilfege- konnte man in den Boulevardzeitungen ja auch nachle- setz besteht, die Eltern an den Kosten zu beteiligen? Das sen – sehr populistisch. Mehr noch – das behaupte ich wäre – wir haben es gerade gehört – bis zu 800 Euro im noch einmal –: Sie täuschen die Öffentlichkeit in mehr- Monat möglich. Warum tun sie das nicht? facher Hinsicht. Das will ich Ihnen jetzt an einigen Punkten deutlich machen. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Weil Gerichts- entscheidungen dem entgegenstehen, Frau (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So viel Zeit Humme! Leider!) haben Sie gar nicht!) Sie argumentieren – auch Sie, Frau Eichhorn – nach Das ist Ihre Täuschung der Öffentlichkeit Nummer drei. wie vor, die Kosten der Kinder- und Jugendhilfe seien (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stark gestiegen DIE GRÜNEN) (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Lesen Sie es Sie sagen weiterhin, liebe Kolleginnen und Kollegen halt nach!) von der CDU/CSU, Sie möchten dieMaßnahmen für und deshalb sei es Zeit für Einschnitte. Was Sie ver-junge Volljährige einschränken. Aber was würde pas- schweigen – das hat auch meine Kollegin Griese gerade sieren, wenn hilfebedürftige Jugendliche künftig ohne noch einmal deutlich gemacht –, sind die Gründe fürHilfe blieben? Die Folge wäre nicht eine Kosteneinspa- diese Kostensteigerung. Allein 50 Prozent des Kosten- rung, sondern eine Kostenexplosion an anderer Stelle; anstiegs gehen auf das Konto des Rechtsanspruchs auf Herr Haupt hat darauf hingewiesen. Denn jedes Kind, einen Kindergartenplatz. dem wir heute die nötige Hilfe verwehren, bekommt (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Das hat aber morgen vielleicht keinen Ausbildungsplatz, hat über- nichtsmit §35a zu tun!) morgen keine Arbeit und schließlich keinen eigenen Rentenanspruch. Das verursacht das Vielfache der Kos- Das heißt, Sie kritisieren die Kostenexplosion und ver- ten einer Jugendhilfemaßnahme, Kosten, die dann wie- schweigen, dass einer der wesentlichen Gründe der von derum bei den Kommunen anfallen. Mit Ihren Vorschlä- uns allen gewollte und sinnvolleAusbau der Betreu- gen entlasten Sie nicht die Kommunen, sondern Sie ung war. Das nenne ich Täuschung der Öffentlichkeit erweisen ihnen einen Bärendienst. Das ist die Täuschung (B) (D) Nummer eins. der Öffentlichkeit Nummer vier. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Auch der Grund für die zweiten 50 Prozent des Kos- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, mit tenanstiegs wurde eben schon dargelegt. Es gibt in unse- rem Land leider immer mehrKinder, die Hilfe bei der Ihrem Gesetzentwurf spielen Sie sich als Anwalt der Integration in die Gesellschaft brauchen, beispiels-Kommunen auf. Sie haben ja die Hoffnung zum Aus- weise Kinder und Jugendliche mit Lernschwächen; Frau druck gebracht, dass die Landräte heute vor den Bild- Rupprecht hat das sehr deutlich gemacht. Sie und alle schirmen sitzen. anderen haben auch deutlich gemacht, dass es eigentlich (Zuruf von der CDU/CSU: Dann können sie Aufgabe der Schulen wäre, hier zu helfen. das rot-grüne Trauerspiel live miterleben!) Sie fordern aber nicht – darum sind wir strikt gegen Tatsächlich aber haben Sie in den vergangenen Monaten Ihren Gesetzentwurf; wir reden hier nicht über irgend- jeden von uns eingebrachten vernünftigen Vorschlag zur welche zukünftigen Gesetze, sondern über Ihren Gesetz- Entlastung der Kommunen verhindert. entwurf –, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN – Dr. [CDU/ CSU]: Das stimmt doch nicht! Sie gehen mit dass die Länder helfen, die Schulen zu stärken, sondern verbundenen Augen durch die Welt!) im Gegenteil: Sie sehen einen Verschiebebahnhof vor, und zwar in Richtung Sozialhilfe. Das gefährdet meiner Ansicht nach die Qualität der Jugendhilfe und entlastet Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Kommunen in keiner Weise. Frau Kollegin Humme – – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Christel Humme (SPD): DIE GRÜNEN) Einen kleinen Moment, diesen Gedanken möchte ich Dies ist meiner Meinung nach die Täuschung der Öffent- noch zu Ende führen. lichkeit Nummer zwei. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wir fordern nur Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gleiche Standards!) Bitte. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9769

(A) Christel Humme (SPD): 21 Jahre und älter sind; denn nach dem Gesetz liegt die (C) Wir wollten mit der Weiterentwicklung der Gewerbe- Grenze bei 27 Jahren –, dann haben wir die verdammte steuer die kommunalen Finanzen nachhaltig verbes- Pflicht und Schuldigkeit, ihnen diese Hilfe zu gewähren. sern. Sie, meine Damen und Herren von der Union, ha- Ich glaube, die Fachleute haben uns deutlich gemacht, ben das im Vermittlungsausschuss verhindert. dass wir dorthin auf dem richtigen Weg sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Außerdem verweise ich auf das 10-Milliarden-Euro-De- Frau Eichhorn, ich glaube schon, dass die Menschen fizit des merzschen Steuerkonzepts. merken, wenn sie getäuscht werden. Sie predigen also die Entlastung der Kommunen, aber (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Von Ihnen!) wenn es darauf ankommt, verhindern Sie sie. Das ist die Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Bayern, das ur- Täuschung der Öffentlichkeit Nummer fünf. sprünglich den Gesetzentwurf über den Bundesrat einge- bracht hatte, zusammen mit Nordrhein-Westfalen am Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 2. April einen Antrag zur Änderung des KJHG in den Frau Kollegin Humme, darf ich Sie jetzt trotzdem un- Bundesrat eingebracht hat. Schauen Sie sich diesen An- terbrechen? Die Frau Kollegin Eichhorn möchte gerntrag an! Die wesentlichen Punkte Ihres Gesetzentwurfs eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie das genehmigen. sind darin nicht enthalten. Das Kinder- und Jugendhilfe- gesetz soll vielmehr weiterentwickelt werden, um die Qualität der Kinder- und Jugendhilfe zu sichern, aber (SPD): Christel Humme auch um die Mittel effizient einzusetzen. Manchmal Gerne. lohnt es sich, einen Zeitraum von einem Jahr für die Dis- kussion zu nutzen, um zu sinnvollen Ergebnissen zu Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kommen. Bitte schön. Nachdem wir Ihren Gesetzentwurf entsprechend be- schieden haben, lassen Sie uns jetzt im Bundestag an Maria Eichhorn (CDU/CSU): dem gemeinsamen Ziel arbeiten, dieQualität der Kin- Frau Kollegin Humme, würden Sie zur Kenntnis neh- der- und Jugendhilfe zu sichern. men, dass die beabsichtigte Änderung des § 41 des Kin- der- und Jugendhilfegesetzes auf folgendem Tatbestand (Zuruf der Abg. Maria Eichhorn [CDU/CSU]) beruht: Nach dem Willen des Gesetzgebers solltenJu- – Es ist besser, weil es die Kinder und Jugendlichen und (B) gendhilfeleistungen für Jugendliche über 21 Jahren nicht die Kassenlage in den Vordergrund stellt. Unsere(D) die Ausnahme sein; mittlerweile ist aber genau das Ge- beiden Fraktionen verfolgen da einen ganz unterschiedli- genteil der Fall, es ist nämlich zum Regelfall geworden. chen Ansatz. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das stimmt nicht!) DIE GRÜNEN) Diesen Missbrauch und diese vom Gesetzgeber nicht ge- Wir wollen die Kommunen da entlasten, wo es sinn- wollte Entwicklung wollen wir wieder ins Lot bringen, voll und richtig ist. Wir wollen mehr Investitionen in nicht mehr und nicht weniger. Bildung, Infrastruktur und Familien. Denn die Fachleute, die die Praxis kennen, sagen uns, Schönen Dank. dass nach dem 21. Lebensjahr Hilfen nach dem Kinder- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Jugendhilfegesetz zwar sehr viel Aufwand erfor- DIE GRÜNEN – Andreas Scheuer [CDU/ dern, aber wenig Erfolg bringen. CSU]: Vorwärts, Genossen, wir müssen zu- (Beifall bei der CDU/CSU) rück!)

Christel Humme (SPD): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Eichhorn, wir müssen in der Tat an unterschied- Ich schließe die Aussprache. lichen Anhörungen teilgenommen haben. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Ach- Das glaube ich auch!) ten Buches Sozialgesetzbuch auf Drucksache 15/1114. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Denn in der Anhörung wurde sehr deutlich gemacht,empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf dass die Hilfen für junge Volljährige, die von den Ju-Drucksache 15/3000, den Gesetzentwurf abzulehnen. gendämtern gewährt werden, auch heute durchaus eine Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Ausnahme darstellen. wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung DIE GRÜNEN) – bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und Ableh- nung aller anderen Fraktionen – abgelehnt. Damit Ich bin der Meinung: Wenn diese jungen Menschen entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera- unsere Hilfe brauchen – dazu zählen auch die, tung. die 9770 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesra- Wird das Wort zu einer Erklärung gewünscht? (C) tes zur Änderung des Sozialgesetzbuches, Achtes Buch, auf Drucksache 15/1406. Der Ausschuss für Familie, Se- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich ver- nioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 2 seiner zichte, Herr Präsident!) Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3000, den Ge- – Danke schön. – Das ist also nicht der Fall. setzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf entwurf ist in zweiter Beratung – bei Zustimmung der Drucksache 15/3059? – Gegenstimmen? – Enthaltun- CDU/CSU-Fraktion und Ablehnung aller anderen Frak- gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- tionen und Abgeordneten – abgelehnt. Damit entfälltnommen. nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Zusatzpunkt 11: Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses. Nach einer interfraktionellen Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Be- schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- ratung von fünf Beschlussempfehlungen des Vermitt- mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Durch- lungsausschusses erweitert werden. Diese Punkte sollen führung einer Repräsentativstatistik über die jetzt als Zusatzpunkte 9 bis 13 aufgerufen werden. Sind Bevölkerung und den Arbeitsmarkt sowie die Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so Wohnsituation der Haushalte(Mikrozensusge- beschlossen. setz 2005 – MGZ 2005) Zusatzpunkt 9: – Drucksachen 15/2543, 15/2673, 15/2904, 15/3060 – Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- Berichterstatter im Bundestag: mittlungsausschuss) zu dem Vierunddreißigsten Abgeordneter Dr. Dieter Wiefelspütz Gesetz zur Änderung des Lastenausgleichsge- Berichterstatter im Bundesrat: setzes (34. ÄndGLAG) Staatsminister Dr. Thomas de Maizière – Drucksachen 15/1854, 15/2230, 15/2558, 15/3058 – Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Berichterstatter im Bundestag: Abgeordneter Hans-Joachim Hacker Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus- (B) schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord- (D) Berichterstatter im Bundesrat: nung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Staatsminister Gernot Mittler Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies gilt auch Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Bericht- für die folgenden beidenBeschlussempfehlungen. Wer erstattung nicht gewünscht wird. Wird das Wort zur Er- stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungs- klärung gewünscht? – Auch das ist nicht der Fall. ausschusses auf Drucksache 15/3060? – Gegenstim- men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus- einstimmig angenommen. schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäfts- ordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag Zusatzpunkt 12: über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungs- schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- ausschusses auf Drucksache 15/3058? – Gegenstim- mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Verbesse- men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist rung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren einstimmig angenommen. (Opferrechtsreformgesetz – OpferRRG) Zusatzpunkt 10: – Drucksachen 15/1976, 15/2536, 15/2609, Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- 15/2906, 15/3062 – schusses nach Art. 77 des Grundsetzes (Vermitt- lungsausschuss) zu dem Gesetz zur Durchfüh- Berichterstatter im Bundestag: rung von Verordnungen der Europäischen Abgeordneter Jörg van Essen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Gentechnik Berichterstatter im Bundesrat: und zur Änderung der Neuartige Lebensmit- Staatsminister Dr. Thomas de Maizière tel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung Wird das Wort zu einer Erklärung gewünscht? – Das – Drucksachen 15/2397, 15/2520, 15/2597,ist nicht der Fall. 15/2669, 15/2902, 15/3059 – Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Berichterstatter im Bundestag: Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Abgeordneter Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Drucksache 15/3062? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Berichterstatter im Bundesrat: gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- Minister Rudolf Köberle nommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9771

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Zusatzpunkt 13: d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten (C) Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Kronzeugenregelungen im Strafrecht und zur schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- Wiedereinführung einer Kronzeugenregelung mittlungsausschuss) zu demTelekommunika- bei terroristischen Straftaten (KrzErgG) tionsgesetz (TKG) – Drucksache 15/2771 – – Drucksachen 15/2316, 15/2345, 15/2674, 15/2679, 15/2907, 15/3063 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Berichterstatter im Bundestag: Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Abgeordneter Wolfgang Meckelburg Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Berichterstatter im Bundesrat: e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Staatsminister Gernot Mittler Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? – Das ist Fleischhygienegesetzes und der Fleisch- nicht der Fall. hygiene-Verordnung – Drucksache 15/2772 – Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Überweisungsvorschlag: Drucksache 15/3063? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 i und Strafvollzugsgesetzes die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d sowie Tagesordnungs- punkt 20 auf: – Drucksache 15/2773 – Überweisungsvorschlag: 27 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, Rechtsausschuss (f) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Innenausschuss GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Er- g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- (B) richtung einer Stiftung „Erinnerung, Verant- (D) wortung und Zukunft“ tokoll vom 16. Mai 2003 zum Internationalen Übereinkommen von 1992 über die Errich- – Drucksache 15/3044 – tung eines Internationalen Fonds zur Entschä- Überweisungsvorschlag: digung für Ölverschmutzungsschäden Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 15/2947 – Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 15/2989 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Überweisungsvorschlag: rung von Vorschriften über die Entschädigung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) für Ölverschmutzungsschäden durch See- Rechtsausschuss schiffe Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft – Drucksache 15/2949 – c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Überweisungsvorschlag: Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge- Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen setzes zur Verbesserung des Mietrechts und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zur Begrenzung des Mietanstiegs sowie zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleis- i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- tungen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des VN-Waffenübereinkommens – Drucksache 15/2133 – – Drucksache 15/2926 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Verteidigungsausschuss Landwirtschaft Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Entwicklung 9772 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika weise für Seeleute und zur vereinfachten Frei- (C) Griefahn, Eckhardt Barthel (Berlin), Ulla stellung vom Visumserfordernis Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje – Drucksache 15/3057 – Vollmer, Volker Beck (Köln), Grietje Bettin, wei- Überweisungsvorschlag: terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Innenausschuss NISSES 90/DIE GRÜNEN Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Schaffung eines internationalen Instruments Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung zum Schutz der kulturellen Vielfalt unterstüt- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 15/3054 – 20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner, Rainer Arnold, Überweisungsvorschlag: Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter Ausschuss für Kultur und Medien (f) Auswärtiger Ausschuss und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne- Rechtsausschuss ten Dr. Antje Vollmer, Volker Beck (Köln), Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Claudia Roth (Augsburg), weiterer Abgeordneter Ausschuss für Bildung, Forschung und und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und GRÜNEN Entwicklung Der 60. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 2005 b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD – Drucksache 15/2974 – und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Zum Übereinkommen Nr. 185 der Internatio- Ausschuss für Kultur und Medien (f) nalen Arbeitsorganisation (IAO) über Aus- Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss weise für Seeleute und zur vereinfachten Frei- Verteidigungsausschuss stellung vom Visumserfordernis Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- – Drucksache 15/3053 – ten Verfahren ohne Debatte. Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an (B) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (D) Innenausschuss die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Rechtsausschuss überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/3044, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Tagesordnungspunkt 27 a, soll zusätzlich an den Finanz- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einver- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union standen? – Das ist der Fall. Damit sind die Überweisun- gen so beschlossen. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Karl-JosefIch rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 i auf. Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter Es handelt sich um dieBeschlussfassungen zu Vorla- und der Fraktion der CDU/CSU gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Zum Übereinkommen Nr. 185 der Internatio- Tagesordnungspunkt 28 a: nalen Arbeitsorganisation (IAO) über Aus- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des weise für Seeleute und zur vereinfachten Frei- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs stellung vom Visumserfordernis eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. März 2003 zwischen der Bundesrepublik – Drucksache 15/3043 – Deutschland und der Republik Tadschikistan Überweisungsvorschlag: zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Innenausschuss Rechtsausschuss vom Vermögen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Drucksache 15/2925 – Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Erste Beratung 105. Sitzung) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- schusses (7. Ausschuss) Michael Goldmann, Horst Friedrich (Bayreuth), Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter – Drucksache 15/3070 – und der Fraktion der FDP Berichterstattung: Zum Übereinkommen Nr. 185 der Internatio- Abgeordnete Stephan Hilsberg nalen Arbeitsorganisation (IAO) über Aus- Heinz Seiffert Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9773

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3070, Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf(C) den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die ist einstimmig angenommen. dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Tagesordnungspunkt 28 d: entwurf ist einstimmig angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Tagesordnungspunkt 28 b: und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der Un- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- terrichtung durch die Bundesregierung gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- zur Sicherung von Verkehrsleistungen (Ver- schen Parlaments und des Rates über die Ver- kehrsleistungsgesetz – VerkLG) bringung von Abfällen KOM (2003) 379 endg.; – Drucksache 15/2769 – Ratsdok. 11145/03 (Erste Beratung 102. Sitzung) – Drucksachen 15/1547 Nr. 2.53, 15/2957 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Berichterstattung: ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Abgeordnete (14. Ausschuss) Tanja Gönner Dr. Antje Vogel-Sperl – Drucksache 15/3024 – Birgit Homburger Berichterstattung: Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- Abgeordneter schlussempfehlung, in Kenntnis der Unterrichtung durch Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. sen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- sache 15/3024, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung sung anzunehmen. Ich tte bi diejenigen, die demist einstimmig angenommen. Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal- der Ausschuss, in Kenntnis der Unterrichtung durch die tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein- Bundesregierung eine weitere Entschließung anzuneh- stimmig angenommen. men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Wir kommen zur genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- (B) lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen (D) dritten Beratung die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- Tagesordnungspunkt 28 e: stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nommen. richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Tagesordnungspunkt 28 c: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Parlaments und des Rates über unlautere Geschäft- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs spraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsver- eines Gesetzes zu dem Internationalen Maas- kehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern übereinkommen vom 3. Dezember 2002 und zur Änderung der Richtlinien 84/450/EWG, – Drucksache 15/2147 – 97/7/EG und 98/27/EG (Richtlinie über unlau- tere Geschäftspraktiken) KOM (2003) 356 endg.; (Erste Beratung 86. Sitzung) Ratsdok. 10904/03 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – Drucksachen 15/1547 Nr. 2.61, 15/3056 – ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (15. Ausschuss) Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski – Drucksache 15/2959 – Michael Grosse-Brömer Jerzy Montag Berichterstattung: Sibylle Laurischk Abgeordnete Petra Bierwirth Ulrich Petzold Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tung durch die Bundesregierung eine Entschließung an- zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. sicherheit empfiehlt auf Drucksache 15/2959, den Ge- setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Petitionsausschusses. 9774 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Tagesordnungspunkt 28 f: Berichterstattung: (C) Abgeordnete Reinhard Schultz (Everswinkel) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Georg Fahrenschon ausschusses (2. Ausschuss) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sammelübersicht 113 zu Petitionen richts des Ausschusses für Familie, Senioren, – Drucksache 15/2982 – Frauen und Jugend (12. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula gen? – Die Sammelübersicht113 ist einstimmig ange- Heinen, Gerlinde Kaupa, Maria Eichhorn, wei- nommen. terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Tagesordnungspunkt 28 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Verbesserung der Maßnahmen zum Schutze ausschusses (2. Ausschuss) der Kinder und Jugendlichen vor Alkohol- sucht Sammelübersicht 114 zu Petitionen – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Haupt, – Drucksache 15/2983 – Detlef Parr, Daniel Bahr (Münster), weiterer Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Abgeordneter und der Fraktion der FDP gen? – Die Sammelübersicht 114 ist ebenfalls einstim- Besserer Schutz von Kindern und Jugendli- mig angenommen. chen vor Missbrauch von Alcopops und an- Tagesordnungspunkt 28 h: deren alkoholischen Ready-to-drink-Ge- tränken Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksachen 15/2646, 15/2619, 15/3085 – Sammelübersicht 115 zu Petitionen Berichterstattung: Abgeordnete Sabine Bätzing – Drucksache 15/2984 – Ingrid Fischbach Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Jutta Dümpe-Krüger gen? – Die Sammelübersicht 115 ist ebenfalls einstim- Klaus Haupt mig angenommen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (B) (D) Tagesordnungspunkt 28 i: Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- nerin der Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von der SPD- Sammelübersicht 116 zu Petitionen Fraktion das Wort. – Drucksache 15/2985 – (SPD): Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Ingrid Arndt-Brauer gen? – Die Sammelübersicht 116 ist mit den Stimmen Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktio- Damen und Herren! Wir beraten heute ein Gesetz zur nen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Verbesserung des Schutzes junger Menschen vor Gefah- ren des Alkohol- und Tabakkonsums. Ich denke, das Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: liegt uns allen sehr am Herzen. Es geht dabei umalko- a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- holhaltige Süßgetränke, so genannteAlcopops. Der neten Reinhard Schultz (Everswinkel), Marion Begriff ist meiner Meinung nach sehr verharmlosend; Caspers-Merk, Klaus Kirschner, weiteren Abge- ich werde ihn der Einfachheit halber trotzdem verwen- ordneten und der Fraktion der SPD sowie denden. Es geht um branntweinsteuerpflichtige Waren mit Abgeordneten Birgitt Bender, Ulrike Höfken,einem Zusatz von Limonaden und Zucker oder anderen Michaele Hustedt, weiteren Abgeordneten und Süßgetränken, wie zum Beispiel Cola. der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Wir reden hier von einer GruppeKinder und Ju- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur gendlicher, die sich diese Getränke ganz normal in Ge- Verbesserung des Schutzes junger Menschen schäften besorgen, bei Feten trinken und noch nicht ein- vor Gefahren des Alkohol- und Tabakkonsums mal den Eindruck haben, dass sie hochprozentigen – Drucksache 15/2587 – Alkohohl getrunken haben. Wir reden von einer Gruppe, die altersmäßig ungefähr bei zwölf Jahren beginnt. Wir (Erste Beratung 97. Sitzung) reden von Getränken, die hauptsächlich Mädchen an- sprechen. Wir reden also von Dingen, die für das, was Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- wir normalerweise bei Jugendalkoholismus vor Augen schusses (7. Ausschuss) haben, eigentlich recht untypisch sind. Ich denke, hier – Drucksache 15/3084 – liegt das Problem. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9775

Ingrid Arndt-Brauer (A) In den letzen Jahren hat sich durch Werbung einechen Bereich an der niederländischen Grenze. Ich werde (C) ganz bestimmte Produktgruppe herauskristallisiert. Ähn- immer wieder gerade von Jugendlichen gefragt, ob ich lich wie Lifestyleprodukte für Erwachsene attraktiv ge- für die Legalisierung von weichen Drogen bin. Meine worden sind, ist es für Kinder und Jugendliche attraktiv Antwort ist immer: Wenn wir vernünftig mit Alkohol geworden, diese Alcopops zu konsumieren. Man muss umgehen können, können wir danach auch über alles an- sich vorstellen: Es kommen ungefähr zwei Gläschendere reden. Wir sehen in unserem Staat Alkohol als nor- Schnaps auf eine kleine limonadenähnlich aufgepeppte males Konsummittel an und stellen die Gefährdung, die Flasche. Auch der Geschmack ist ähnlich und das Ge- im Alkoholismus liegt, nicht besonders heraus. tränk ist relativ günstig zu erwerben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Genau hier lag der Ansatz für unser Gesetz. Wir ha- ben uns überlegt, was wir tun können, um diese Ge- Das Problem ist, dass heute bereits bei Kindergarten- tränke unattraktiver zu machen. Es gibt eine ganze Reihe festen der Bierwagen auf dem Hof steht, dass es ganz von Möglichkeiten, präventiv etwas zu tun. Das wirdnormal ist, bei Schulfeten Alkohol zu konsumieren. Al- auch getan. Es laufen erstens Untersuchungen, um die koholkonsum wird von den Erwachsenen toleriert, auch Gruppe der Konsumenten herauszukristallisieren. Eswenn Jugendliche dabei sind. Ich denke, wir müssen uns laufen zweitens Aufklärungskampagnen. All das hatimmer vor Augen führen, dass der Alkoholismus in den aber noch nicht zu dem Erfolg geführt, den wir haben meisten Fällen in jungen Jahren angelegt wird, dass die wollten. Leute in jungen Jahren anfangen, ganz normal Alkohol zu trinken, sich an den Geschmack zu gewöhnen und in Deswegen haben wir eineAlcopopsteuer auf die Problemzeiten auf den Alkohol als Problemlöser zurück- Agenda gesetzt und werden heute über sie abstimmen. zukommen. Das ist ein gesellschaftliches Problem, das wir unbedingt angehen müssen. (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Wir hätten auch ein Jugendschutzgesetz!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Andreas Scheuer [CDU/ Diese Steuer führt zu einerVerteuerung um circa CSU]: Was ist mit Steuer und so?) 84 Cent pro kleiner Flasche. Ich denke, das ist für einen 12-, 14- oder 15-Jährigen eine ganze Menge und wird Es liegt noch eine weitere Aufgabe vor uns – damit be- dazu führen, dass diese Alcopops weniger stark konsu- schäftigen wir uns im zweiten Teil des Gesetzentwurfs –, miert werden. was vor allem die kostenlose Abgabe vonZigaretten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bzw. den Verkauf von Kleinstpackungen angeht. Auch DIE GRÜNEN – Andreas Scheuer [CDU/ hier besteht das Problem, dass Jugendliche, wenn sie et- (B) CSU]: Wir haben das Jugendschutzgesetz! was kostenlos oder günstig bekommen, leicht anzuwer- (D) Darüber haben Sie noch überhaupt nicht ge- ben sind. Dann geraten sie in Suchtgefahr, aus der sie ihr sprochen!) Leben lang nicht mehr ohne Probleme herausfinden. Deshalb haben wir in unseren Gesetzentwurf ein Verbot – Hier kam gerade der Hinweis auf dasJugendschutz- von Kleinpackungen aufgenommen. Ebenfalls wird ver- gesetz. Natürlich haben wir ein Jugendschutzgesetz. Das boten, Zigaretten zu verschenken. Ich denke, auch das ist Problem ist aber, dass die Verkäuferin an der Kasse diese ein ganz wichtiger Part, um etwas für die Jugendlichen Produkte momentan kaum von irgendwelchen Energy- und vor allem für die Kinder zu tun. drinks oder ähnlichen Getränken unterscheiden kann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Ina Lenke [FDP]: Deshalb wollen wir etwas DIE GRÜNEN) anderes! – Klaus Haupt [FDP]: Lesen Sie un- seren Antrag!) Ich möchte noch einmal Folgendes ansprechen: Das Mittel, in diesem Fall eine Steuer zu erheben – die Deswegen werden wir diese Produkte verstärkt dort plat- Steuereinnahmen werden laut Schätzungen zwischen zieren lassen, wo die hochprozentigen Alkoholprodukte 6 und 12 Millionen Euro pro Jahr betragen –, ist für uns stehen. Wir werden sie auch besonders für die Verkäufe- nur eine Möglichkeit. rinnen und auch für die Eltern mit einer Warnmarkierung kennzeichnen lassen, die darauf hinweist, dass der Ver- (Detlef Parr [FDP]: Da verschätzen Sie sich kauf an Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren nicht genauso wie bei der Tabaksteuer!) gestattet ist. Sie darüber hinaus noch mit einem Toten- – Die Steuereinnahmen sind auch nicht unser Ziel. Mir kopf und einer roten Plakette zu markieren fanden wir wäre es am liebsten, wenn wir aus dieser Steuer gar nicht sinnvoll, weil dann eine Art Trophäensammlung keine Einnahmen erzielten, einsetzen könnte und abends auf den Feten geschaut wird, wer die meisten Totenkopfflaschen gesammelt hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das halten wir für keinen sinnvollen Ansatz. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wenn die Jugendlichen diese Getränke also überhaupt DIE GRÜNEN) nicht mehr konsumierten, sondern stattdessen andere Getränke, zum Beispiel Cola oder Limo pur. Allerdings besteht das grundsätzliche Problem, das man angehen muss, in der Tolerierung von Alkohol in (Detlef Parr [FDP]: Die sind doch sonst immer der Gesellschaft. Mein Landkreis liegt in einem ländli- teurer als Bier!) 9776 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Ingrid Arndt-Brauer (A) Dadurch, dass wir die Preise für Alcopops erhöhen, Danke schön. (C) werden sie genauso teuer wie alkoholische Getränke. Es wird nicht mehr attraktiver sein, diese Getränke zu kon- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sumieren. Daher denke ich, dass das der richtige Weg ist. DIE GRÜNEN – Klaus Haupt [FDP]: Sie soll- ten am besten den FDP-Antrag lesen!) Wenn wir aus dieser Steuer kein Geld einnehmen, ha- ben wir das Problem gelöst; denn dann ist der Markt aus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: getrocknet. Frankreich hat uns das vorgemacht. Dort hat Das Wort hat der Kollege Georg Fahrenschon von der dieses Vorgehen sehr gut funktioniert. Die Schweiz hat CDU/CSU-Fraktion. mit diesem Verfahren begonnen. Wenn wir es schaffen, den Markt auszutrocknen, ist die Situation in Ordnung; (Beifall bei der CDU/CSU) wenn nicht, wird das Geld, das wir einnehmen, für Prä- ventionsmaßnahmen verwendet. Bei der Bundeszen- Georg Fahrenschon (CDU/CSU): trale für gesundheitliche Aufklärung wird extra für diese Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Maßnahmen ein bestimmter Topf ausgewiesen. Wir wer- ren! Zu Beginn dieser Debatte gilt es, zunächst ein- den ein Sonderprogramm für Prävention auflegen, mit mal zwei Punkte festzustellen: Zum Ersten. Für die dem wir insbesondere Jugendliche ansprechen werden. CDU/CSU-Fraktion steht außer Zweifel, dass der Alko- Denn ich denke, hier ist noch einiges im Argen und hier holkonsum von Jugendlichen in den letzten Jahren mas- muss noch einiges passieren. Jugendliche dürfen nicht siv zugenommen hat. Wir arbeiten gerne daran mit, et- nur von der Werbung angesprochen werden, sondern sie was dagegen zu unternehmen. müssen dort, wo sie sich befinden – in den Schulen, Ju- gendklubs und Diskotheken –, auch von anderen Stellen (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aufgeklärt werden. NEN]: Sehr schön!) Das ist ein sehr guter Gesetzentwurf, dem Sie alle zu- Zum Zweiten steht für die CDU/CSU-Fraktion auch au- stimmen müssten. ßer Zweifel, dass insbesondere der Konsum von alkoho- lischen Mixgetränken, den so genannten Alcopops, ein (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Super!) zentrales Problem darstellt; ich glaube, wir sind uns im ganzen Haus darüber einig. Wir haben unsere Zuarbeit Ich denke, auch Ihnen liegt der Schutz von Kindern und geleistet: Ein entsprechender Entschließungsantrag der Jugendlichen am Herzen. CDU/CSU-Fraktion liegt vor. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der entscheidende Unterschied zwischen Rot-Grün des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der einerseits und uns andererseits besteht aber darin, dass(D) (B) FDP – Klaus Haupt [FDP]: Wie verrückt!) Sie entweder dem Problem nicht ganz auf den Grund ge- Viele von Ihnen haben Kinder, vielleicht auch schon En- gangen sind oder wieder einmal mit der für Sie typischen kelkinder. Daher denke ich, dass es Ihnen so ähnlichArt und Weise eine Art Placebo-Politik betreiben. Sie le- geht, wie es mir gegangen ist: Ich muss sagen, dass ich gen einen Gesetzentwurf vor, dessen Ziel es sein soll, wenig Alkohol trinke. Ich habe vier Kinder im Alter von mittels einer Sondersteuer auf spirituosenhaltige Misch- 13 bis 19 Jahren. getränke Kinder und Jugendliche von den so genannten Alcopops fernzuhalten. Eine ehrenvolle Absicht, aber (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Die lachen hinter dieser ehrenvollen Absicht verbirgt sich blanker über diese Steuer!) Etikettenschwindel; denn mit der von Ihnen gewählten Bis vor einem Jahr war mir das Problem mit Alcopops in Definition von Alcopops als alkoholhaltige Mischge- diesem Umfang nicht bekannt, tränke auf Branntweinbasis erfassen Sie lediglich einen minimalen Bruchteil des Mischgetränkemarktes, den (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Dann müssen kleinsten Teil: Spirituosenhaltige Mischgetränke, die Sie Sie sich mal informieren!) mit der Sondersteuer belegen wollen, machten 2003 nur 86 Millionen Liter aus weil die Kinder und Jugendlichen natürlich nicht mit diesen Flaschen nach Hause kommen und diese Ge- (Horst Kubatschka [SPD]: „Nur“?) tränke zu Hause vor ihren Eltern konsumieren; dies tun – hören Sie sich einmal die Zahlen an, bevor Sie zwi- sie woanders. Von diesen Getränken bekommt man schenrufen! –, 275 Millionen Liter waren dagegen auf keine Fahne. Die Eltern merken also nicht, dass Alkohol der Basis von Bier und Wein. Da verharmlosen wir getrunken wurde. Wenn beispielsweise ein Mädchen nicht, sondern wir stellen fest, dass Sie am Ziel vorbeiar- – 12 Jahre alt, 48 Kilogramm schwer – zwei kleine Fla- beiten. schen der Alcopops getrunken hat, hat es ungefähr 0,9 Promille. Die Kinder schwanken daher auch nicht. (Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt Das ist ein schleichender Einstieg in die Sucht. Ich nicht!) finde, das müssen wir allegemeinsam verhindern. Hier haben wir eine Gesamtverantwortung. Daher sollten Sie Sie lassen mit der Ihrem Gesetzentwurf zugrunde liegen- sich nicht über eine Etikettierung mit uns streiten, son- den Definition über 76 Prozent des Mixgetränkemarktes dern im Sinne unserer Kinder und Jugendlichen diesen einfach unter den Tisch fallen. Bei diesen Größen- vernünftigen Weg einschlagen. verhältnissen ist Ihr Gesetz ein Treppenwitz. Es ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9777

Georg Fahrenschon (A) unredlich, darüber zu sprechen, dass Sie den Jugend-sich nur mit spirituosenhaltigen Mischgetränken aus-(C) schutz verbessern würden. einanderzusetzen und Produkte auf Wein- und Bierbasis auszuklammern. Solange Sie das tun, können wir Ihrem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Entwurf nicht zustimmen. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist eine ganz schlechte Argumenta- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sabine tion!) Bätzing [SPD]: Das ist doch Blödsinn!) Darüber hinaus bringen Sie auch noch das Ordnungs- Langsam erkennen Sie Ihr Problem ja. In Ihrem eige- recht durcheinander; denn Ihr Gesetzentwurf bedeutet nen Entschließungsantrag schreiben Sie: faktisch eine Absenkung der Altersfreigabe für allge- Frankreich hat 1996 eine Sondersteuer auf Premix- meine Alcopops von 18 auf 16 Jahre. Die besondere Iro- Getränke … eingeführt. … Das Beispiel Frankreich nie Ihres Entwurfs liegt doch in Folgendem: Sie klam- zeigt auch, dass die Steuer zu kurz greift, da sich mern den wesentlichen Teil des Marktes für alkoholische entlang der Steuer ein neuer Markt etabliert hat. Mischgetränke von der geplanten Steuer aus. Diese von Ihnen steuerrechtlich quasi geschütztenAlcopops auf (Sabine Bätzing [SPD]: Sie müssen den ganzen Bier- und Weinbasis dürfen bereits heute preiswerter Absatz lesen, nicht nur den letzten Satz!) und legal ab einem Alter von 16 Jahren gekauft werden. Im Gegensatz dazu dürfen die Branntweincocktails, die Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie mit einer Sondersteuer belegen wollen, eigentlichSie haben Recht, es wird ein neuer Markt etabliert, aber erst an über 18-Jährige verkauft werden. Sie subventio- er ist eigentlich schon da: Er besteht aus den wein- und nieren faktisch die Wein- und Biermischgetränke undbierhaltigen Mischgetränken. Deshalb müssen Sie sich manifestieren die daraus resultierende Marktverschie- den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie, anstatt das Pro- bung zulasten des Jugendschutzes. blem zu lösen, einen neuen Schub in diesen Markt bringen werden. Statt den Alkoholmissbrauch bei Ju- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gendlichen zu bekämpfen, organisieren Sie über das NEN]: Das ist doch absurd!) Steuerrecht eine gewaltige Nachfrageverschiebung in Richtung wein- und bierbasierter Produkte. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Kollege Fahrenschon, erlauben Sie eine Zwi- schenfrage der Kollegin Violka? Es wird aber noch besser. Sie gehen sogar so weit, dass Sie von der Bundesregierung fordern – diese jüngste Änderung haben Sie gestern im Finanzausschuss (B) Georg Fahrenschon (CDU/CSU): beschlossen –, am 1. Juli 2005, also ein Jahr nach der (D) Ja. Einführung Ihrer Sondersteuer auf Spirituosenmixge- tränke, einen Bericht vorzulegen, der – ich zitiere – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: „über die Auswirkungen des Gesetzes auf den Alkohol- Bitte schön. konsum von Jugendlichen unter 18 Jahren sowie die Marktentwicklung von Alcopops und vergleichbaren Getränken berichtet“. Man muss sich schon fragen, wa- Simone Violka (SPD): rum Sie ein Gesetz vorlegen, von dem Sie selber wissen, Herr Kollege Fahrenschon, wären Sie bereit, zumal dass es nicht zu den gewünschten Verbesserungen beim das Bier unter die Länderkompetenz fällt und wir auf- Jugendschutz führen wird, grund der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat auf Ihre Stimmen angewiesen sind, mit uns gemeinsam einen (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Antrag einzubringen, der auch diese Getränke erfasst? NEN]: Warum nicht?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sondern zu einer Verschiebung der Nachfrage am Markt auf die andere Seite der Produktpalette. Warum hören Sie eigentlich nicht auf die Union? Wir haben Ihnen den Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Vorschlag gemacht, umfassende Präventionsarbeit und Frau Kollegin Violka, wir haben schon in der ersten die konsequente Umsetzung des bestehenden Jugend- Lesung darauf hingewiesen, dass Sie in Ihrem Gesetz- schutzgesetzes in den Mittelpunkt der Initiative zu stel- entwurf einen wesentlichen Webfehler, einen Kardinal- len. fehler haben. Wenn Sie heute Ihren Gesetzentwurf zu- rückziehen, sind wir durchaus bereit, mit Ihnen über eine Sie vergessen oder lassen außer Acht, dass jeder Min- Behebung dieses Problems zu reden. derjährige beim Erwerb eines branntweinhaltigen Pro- dukts in die Situation gerät, dass er dieses Produkt illegal (Sabine Bätzing [SPD]: Das ist doch Quatsch!) erwirbt, und dass der Verkäufer gemäß § 28 Abs. 1 Ju- Sie haben uns nie dazu eingeladen. Sie haben von An- gendschutzgesetz eine Ordnungswidrigkeit begeht. Eine fang an darauf bestanden, solche Alkoholabgabe wird dadurch illegal, dass sich die Regelungen des Jugendschutzgesetzes auf die Alkohol- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie kön- basis beziehen und nichtauf den Alkoholgehalt. Kon- nen doch Ihre Initiative auch selbstständig ma- sequent wäre daher eineGleichbehandlung aller chen!) Mischgetränke bzw. eine Abgabebeschränkung dieser 9778 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Georg Fahrenschon (A) Getränkekategorien, gleich welchen alkoholischen Ge- Sie behaupten, die Kinder könnten dadurch noch einfa- (C) halts, an Volljährige. cher alkoholartige Spirituosenmixgetränke erkennen. Si- cher: Durch einen roten Kronkorken wäre für jedermann (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schnell und einfach auf den ersten Blick erkennbar, dass NEN]: Fordern Sie das doch einmal! Fordern dieses Getränk erst für Erwachsene ab 18 Jahren ist. Sie das?) Aber gerade durch das schnelle und einfache Erkennen Die Wahrheit aber ist: Um eine Änderung des Jugend- kommt es an der Kasse und damit am neuralgischen schutzgesetzes hinsichtlich der Alkoholabgabe an Ju-Punkt der Handelskette nicht zum Verkauf an Jugendli- gendliche durchzusetzen, fehlt Rot-Grün die Kraft. Statt- che. Missverständnisse beim Verkauf der Ware könnten dessen schießen Sie mit dem Steuerrecht auf Spatzen. dadurch minimiert bzw. völlig ausgeräumt werden. Im Übrigen bietet diese Farbe eine effektive Kontrollmög- lichkeit für die Eltern; denn Flaschen mit roten Kronkor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ken gehören nicht auf eine Party bei Kindern unter Herr Kollege Fahrenschon, beantworten Sie eine wei- 18 Jahren. tere Zwischenfrage der Kollegin Violka? (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Georg Fahrenschon (CDU/CSU): NEN]: Das ist lebensfremd!) Gerne. Diese Maßnahme wäre einfach und praktikabel.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU) Bitte schön. Meine Damen und Herren, die Union stellt außer Zweifel, dass der Alkoholkonsum von Jugendlichen in Simone Violka (SPD): den letzten Jahren massiv zugenommen hat und dass da- Herr Fahrenschon, beantworten Sie mir bitte folgende gegen unbedingt etwas unternommen werden muss. Wir Frage: Wie kann nach Ihren Vorstellungen das Jugend- müssen uns dabei vor allem die Frage stellen, warum schutzgesetz durchgesetzt werden, wenn die alkoholi- Kinder trinken. Neben dem Gesetzgeber sind auch die schen Getränke von älteren Geschwistern oder Freunden Eltern, die Lehrer und die Gesellschaft aufgefordert, die gekauft und dann an die jüngeren Geschwister weiterge- Ursachen zu suchen und zu beheben. Eine einseitige geben werden? In diesem Fall sind die Verkäufer und der Sondersteuer, wie Sie sie in Ihrem Gesetz vorschlagen Wirt nicht in der Pflicht.Schließlich können sie nicht und heute durchdrücken werden, ist keine Lösung und den Weg der Flasche verfolgen und überprüfen, in wes- wird dem Problem nicht gerecht. (B) (D) sen Hände sie gelangt. Sind Sie sich eigentlich nicht im Klaren darüber, dass (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- durch Ihre willkürliche Definition einer Sondersteuer für NEN]: Eine gute Frage!) Alcopops ausschließlich auf Spirituosenbasis allen Händlern, Wirten und vor allem den Jugendlichen sug- geriert wird, Bier- und Weinmixgetränke seien trotz Georg Fahrenschon (CDU/CSU): überwiegend gleichen bzw. ähnlich hohen Alkoholge- Liebe Frau Kollegin Violka, mir ist dieses Problem halts harmloser? Ist nicht Alkohol gleich Alkohol, egal durchaus bekannt. Im Zentrum steht aber doch die Frage, auf welcher Basis er hergestellt wird? was wir tun können, damit ein Jugendlicher unter 18 Jahren an der Kasse keine auf Branntwein basieren- Wir sind der festen Überzeugung, dass wir klareAb- den Mischgetränke bzw. Branntweingetränke insgesamt gaberegeln brauchen. Wir müssen gemeinsam mit El- erhält. Sie werden mir zugestehen müssen, dass dastern und Schule Kinder und Jugendliche über die Gefah- Steuerrecht mitnichten der richtige Weg ist, um dieses ren des Alkoholmissbrauchs aufklären und sie warnen. Problem zu beseitigen. Dabei werden Sie von unserer Seite jegliche Unterstüt- zung erfahren. Wir sprechen uns aber ausdrücklich ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gen eine willkürliche Strafsteuer aus, die das Jugend- Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schutzgesetz letztlich ad absurdum führt. Für uns ist klar NEN]: Da gibt es aber andere Erfahrungen!) – ich zitiere den französischen Filmregisseur Jean Wir haben Ihnen einen Vorschlag zu einer besseren Cocteau –: Kennzeichnungspflicht der spirituosenhaltigen Misch- getränke unterbreitet. In einem Änderungsantrag haben Wer der Jugend vorangehen will, muss gerade wir beispielsweise die Einführung eines deutlich sichtba- Wege gehen. ren Warnhinweises auf einem leuchtend roten Kronkor- Willkür ist fehl am Platze. ken vorgeschlagen. Wie Sie auf einen Totenkopf kom- men, liebe Frau Kollegin, weiß ich nicht. Vielleicht war (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- das ein freudscher Versprecher vor dem Bild Ihres Bun- neten der FDP) desfinanzministers. Das müssen wir hier aber nicht wei- ter vertiefen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Unserer Meinung nach ist dies eine sinnvolle Maß- Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Andreae vom nahme zur Verbesserung des Jugendschutzes, auch wenn Bündnis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9779

(A) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): besten Jugendschutz? Wie kann man das gemeinsame(C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undZiel erreichen? Erzielt diese Steuer die Lenkungswir- Herren! Herr Fahrenschon, aus irgendeinem Grundekung? Bei der dreistündigen Anhörung haben Sie doch habe ich Ihnen Ihre Redenicht abgenommen. Ich hatte mitbekommen, dass die Experten aus dem Sucht- und den Eindruck, dass Sie nicht dahinter standen, als SieDrogenbereich einhellig der Meinung sind, dass Preis- sagten: Wir dürfen keine Steuer auf Alcopops erheben, steigerungen ein wirksames Mittel sind. Ich kann nicht weil wir dadurch eine Substitution in andere Bereiche er- verstehen, wie Sie sich trotzdem hier hinstellen und be- möglichen würden. Es würde nur funktionieren, wenn haupten können, eine Preissteigerung würde nicht funk- wir auch auf diese anderen Getränke eine Steuer erhe- tionieren. Das geht mir nicht in den Kopf. ben. – Das ist eine krude Argumentation. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – und bei der SPD) Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Den Ein- Sie befürchten Substitutionseffekte. Was ist da wirk- druck haben wir bei Ihrer Politik auch, dass lich dran? Auch diesbezüglich waren sich die Experten Sie nicht dahinter stehen!) bei der Anhörung doch einig: Substitution funktioniert in Die Sachverständigen haben bei der Anhörung deut- der von Ihnen beschriebenen Form nicht, weil die Alco- lich gemacht, dass Alcopops Einstiegsdrogen sind, weil pops süß, klebrig und bunt sind, weil man den Alkohol sie verharmlosend sind und Kinder und Jugendliche an nicht schmeckt und sie mit einer Imagekampagne heftig den Genuss von Alkohol gewöhnen. Aufgrund des Ge- vermarktet werden. Da kann ein Radler nicht mithalten. schmacks wissen sie nicht, dass sie sich betrinken. Sie Deshalb existiert die Substitutionsgefahr, die Sie formu- haben den Bericht des Krankenhausleiters gehört, der liert haben, nicht. von jungen Mädchen erzählt hat, die sturzbetrunken, (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- quasi im Koma, zu ihm ins Krankenhaus kommen. Diese NEN]: Glücklicherweise! – Georg Fahrenschon Mädchen wissen nicht, dass sie nach dem Konsum von [CDU/CSU]: Wir sehen uns in einem Jahr wie- fünf Flaschen Alcopops einen Alkoholgehalt im Blut ha- der!) ben, den sie mit Radler oder Cola-Bier nie erreichen könnten, weil ihnen vorher schlecht würde. Die Studie hat gezeigt, dass ein langfristiger Trend zum Rückgang zu normalen Alkoholika erkennbar ist. Lang- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fristig wird weniger Alkohol getrunken, außer beim und bei der SPD) Alcopopkonsum junger Mädchen. Sie können nicht so Es geht um den Gewöhnungsprozess, um den ge-tun, als sei das nicht so. wohnheitsmäßigen Konsum. Wir haben, ebenso wie El- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) tern und Schule, eine Verantwortung wahrzunehmen. und bei der SPD) Dadurch, dass Sie sich hier verweigern, nehmen Sie diese Verantwortung nicht wahr. Sie können nicht nur das hören, was Sie hören wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Das funktioniert nicht. Ina Lenke [FDP]: Wir haben doch Alterna- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Schwarz-Weiß- tiven!) Malerei!) – Auf die Alternativen komme ich gleich garantiert zu Jetzt komme ich zu derPreissteigerung durch eine sprechen. Von diesen Alternativen halte ich nicht sehr Steuer. Ich gebe Ihnen völlig Recht: Wir brauchen einen viel. Strategiemix. Wir brauchen eine bessere Kontrolle im Wir haben die Zielgruppe vor Augen: Jugendliche, Jugendschutz und Präventionsmaßnahmen. Wir brau- Kinder, vor allem junge Mädchen, weil sie imageorien- chen aber auch diese Steuer, um einen Lenkungseffekt tiert sind. In dem Bericht der Suchtbeauftragten konnten zu erzielen. Wir brauchen übrigens auch Motivation zur wir lesen, dass sich der Alkoholkonsum junger Mädchen Verhaltensänderung. Hier ist die BZgA die richtige Insti- dort, wo Alcopops beworben wurden, drastisch erhöht. tution, um die Kampagne zur Prävention auf den Weg zu Das muss man doch zur Kenntnis nehmen. Man kannbringen. Deswegen soll die BZgA dieses Programm auf- doch nicht so tun, als sei dem nicht so. legen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen ist die Steuer keine Strafsteuer, sondern eine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Schutzsteuer. Wir wollen schützen. Frau Kollegin Andreae, erlauben Sie eine Zwischen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN frage der Kollegin Fischbach? sowie bei Abgeordneten der SPD – Ina Lenke [FDP]: Das ist naiv!) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Union gibt – wie eigentlich immer – Kontra und Ja, bitte. sagt: Nein, das machen wir nicht. Sie behaupten, über die Zielsetzung herrsche Einigkeit. Sie stellten, wie ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: finde, wirklich legitime Fragen: Wie erreicht man den Bitte sehr. 9780 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Ingrid Fischbach (CDU/CSU): hat der Einzelhandel hingewiesen –, dass in der Stress- (C) Frau Kollegin Andreae, ich möchte Sie an diesersituation an Kassen in Deutschland eine Kontrolle nicht Stelle ganz herzlich bitten, Namen und Textstellen zustattfinden kann? Vor diesem Hintergrund sind wir der nennen für Ihre Annahme, dass wir die Gefahr, die von festen Überzeugung, dass uns eine Kennzeichnung an Alcopops für Kinder und Jugendliche ausgeht, verharm- markanter Stelle an dem neutralen Punkt der Handels- losen. kette deutlich weiterhelfen würde. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abgesehen davon möchte ich Sie bitten, sich darüber NEN]: Sie wollen nichts tun!) Gedanken zu machen, ob nicht auch die Eltern einbezo- Ich habe mir Ihre Ausführungen fünf Minuten lang ange- gen werden müssen. Ihre Kollegin von der SPD-Fraktion hört. Meine Frage ist: Wo steht, dass wir die Gefahr ver- hat selber darauf hingewiesen, dass sie diese Produkte harmlosen? Nennen Sie bitte Ross und Reiter. Dann kön- vorab gar nicht kannte. Wir schaffen mit einer klaren nen wir das ausdiskutieren. Kennzeichnung an markanter Stelle, am Korken, auch für die Eltern ein Signal. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ändert doch in den Gaststätten gar Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nichts!) Das kann ich gerne tun, Frau Fischbach. Ich bin der Meinung, dass die Maßnahmen, die Sie in Ihrem Antrag Sie sollten sich überlegen, ob Ihr Vorwurf, wir könnten zur Eindämmung des Alcopopkonsums vorschlagen,damit eine Sammelwut auslösen, nicht ein Tritt unter nicht ausreichend greifen würden. Die Maßnahmen, die dem Tisch ist und sachlich in keiner Weise nachvollzo- wir vorschlagen, sind besser. gen werden kann. (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das ist ganz (Beifall bei der CDU/CSU) etwas anderes! – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist ein erheblicher Unterschied!) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Vorschlag, den ich wirklich absurd finde, ist Herr Kollege Fahrenschon, ich habe gerade bereits die Einführung von roten Kronkorken. Herr gesagt: Erstens. Ich bin der Meinung, dass auch die El- Fahrenschon, ich glaube, Sie sind ein halbes Jahr älter tern in der Pflicht stehen. Zweitens. Ich bin ebenso der als ich. Kennen Sie noch das Prämiensammeln? Ihr Vor- Meinung, dass im Rahmen eines Mixes verschiedene schlag würde darauf hinauslaufen; denn so würden die Einzelmaßnahmen, die insgesamt zu einem guten Ergeb- Jugendlichen am Abend zusammensitzen und die An- nis führen, ergriffen werden müssen. Drittens. Ich bin (B) zahl ihrer Kronkorken vergleichen. Dann würde des hei- durchaus der Meinung, dass auch der Einzelhandel in(D) ßen: Mench, ich habe schon sechs Kronkoren. Ich bin der Verantwortung steht. Das hat damit zu tun, wo die viel toller. – Diese Maßnahme greift nicht. Deswegen Getränke stehen. Sie dürfen nicht neben Cola und Limo- fordere ich Sie auf, einer nachweislich wirksamen Maß- nade stehen, sondern müssen neben Schnaps und Dop- nahme zuzustimmen. Sie hat in Frankreich und in der pelkorn stehen, wo sie hingehören. Das hat ebenfalls da- Schweiz gewirkt und wird auch bei uns Wirkung entfal- mit zu tun, wie die Kassiererinnen diese Getränke ten. erkennen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist jedoch lebensfremd, zu glauben, dass ein sowie bei Abgeordneten der SPD) 18-Jähriger nicht in der Lage ist, sich an der Tankstelle oder im Supermarkt die Tüte mit Alcopops zu füllen, um Ich behaupte: Sie verharmlosen dieses Problem, weil Sie diese danach seinen Kumpels im Alter von 15, 16 oder nicht bereit sind, die entscheidenden Maßnahmen mitzu- 17 Jahren zu geben. tragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Ina Lenke [FDP]: Dann brauchen sie auch nicht in und bei der SPD) der Nähe von Schnaps zu stehen!) So ist das nun einmal. Dieser Lebenswirklichkeit muss Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: man sich stellen. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie dies nicht Frau Kollegin Andreae, erlauben Sie eine Zwischen- tun. frage des Kollegen Fahrenschon? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bitte schön. Ich will noch zu einem kuriosen Punkt aus der Anhö- rung kommen. Der Einzelhandel – das haben wir schon (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Sie können gehört – hat sich in dieser Angelegenheit positiv geäu- dabei nur lernen!) ßert und erklärt, seiner Verantwortung dadurch nachzu- kommen, dass die Produkte nicht bei der Limonade Georg Fahrenschon (CDU/CSU): stehen und die Kassiererinnen stärker in die Pflicht ge- Frau Kollegin Andreae, würden Sie zur Kenntnis neh- nommen werden. Vonseiten der FDP gab es die Überle- men, dass unser wesentliches Problem bei der Abgabe gung, den Barcode so zu ändern, dass an der Kasse eine von Branntwein an Jugendliche die Tatsache ist – darauf Meldung erscheint, das Produkt nur an Jugendliche über Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9781

Kerstin Andreae (A) 18 Jahren auszugeben. Das finde ich gar nicht so unklug. Schon heute sind die wein- und bierbasierten Mixge-(C) Das kann man sich im Rahmen eines Mixes verschiede- tränke ganz klar marktbeherrschend. Hören Sie bitte zu: ner Maßnahmen überlegen. Rund 30 Produkte dieser Kategorie haben einen höheren Alkoholgehalt als die durchschnittlichen spirituosenba- Der Einzelhandel hat aber auch gesagt, es werde über sierten Mixgetränke. die Einführung einer Kundenkarte nachgedacht. Was aber heißt das? Dann sieht man, welche Tütensuppen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) man kauft, ob die Hühner, deren Eier man kauft, glück- Drittens. Schließlich sagen mir Jugendliche in jeder lich waren und welche Getränke man trinkt. Dieser Vor- Diskussion: Wir mixen unsere Drinks selber. schlag erscheint mir sehr dubios. In die Richtung wollen wir nicht gehen. Damit hätte sicherlich auch die FDP Aber nicht nur die Jugendlichen steigen um, auch große Probleme. viele Hersteller werden das tun. Schon heute produziert ein führender Markenhersteller sein in Deutschland auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Branntweinbasis angebotenes Mixgetränk in den USA Fazit: 19,5 Prozent der Todesfälle in Deutschland – so auf Bierbasis mit gleichem Geschmack und mit glei- ist uns in der Anhörung gesagt worden und das kannchem Alkoholgehalt. Unter diesen Umständen ist eine man in den Berichten lesen – haben inzwischen als Ursa- Sondersteuer absurd. che Alkohol- und Tabakkonsum. Die Union hätte jetzt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die Chance, den Expertinnen und Experten der Anhö- rung zu folgen und mit uns zusammen dieses Gesetz auf Zudem ist angesichts der Zahl der Minderjährigen, die in den Weg zu bringen. Eine Ablehnung ist verantwor-den Tabakkonsum einsteigen, fraglich, inwieweit das tungslos. Problem realistisch über denPreis bekämpft werden kann; denn die Erhöhung der Tabaksteuer hat in den ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gangenen Jahren in keiner Weise zur Eindämmung des und bei der SPD) Tabakkonsums bei Jugendlichen geführt. Für die Liberalen hat gerade die konsequente Durch- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: setzung der bestehenden Gesetze Vorrang. Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Haupt von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Klaus Haupt (FDP): Ein Vollzugsdefizit darf kein Anlass zur Schaffung neuer Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kolle- (B) Steuertatbestände werden. Gegen die selektive Besteue- (D) gen! In der Anhörung zum Gesetzentwurf wurde vonrung nur der spirituosenbasierten Alcopops wurden zudem den Experten eindrucksvoll bestätigt, dass alkoholische in der Anhörung verfassungsrechtliche Bedenken geäu- Mixgetränke gerade bei Kindern und Jugendlichen einen ßert. So sieht eben das Ergebnis aus, wenn man Jugend- Konsumtrend und damit bedenklichen Alkoholmiss-schutz unter Federführung des Finanzministers macht. brauch ausgelöst haben. Deutlich wurde aber auch: Das Angesichts der relativ neuen Situation mit den Alco- Konsumverhalten von Jugendlichen unterliegt oft pops werden neue Fragen aufgeworfen, die mir als Ju- schnelllebigen Trends. gendpolitiker wichtig sind; der Kollege Fahrenschon hat (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: So ist es!) darauf hingewiesen. Die heutigen Verbote einer Abgabe von alkoholischen Produkten an Kinder und Jugendliche Es ist weder möglich noch sinnvoll, jedem aktuellen Ju- treffen die Gefährdung nur noch ungenau. Die Anhörung gendtrend eine Sondersteuer entgegenzustellen. hat erneut bestätigt: Das für Kinder und Jugendliche Ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fährliche an den Fertigmixgetränken ist, dass der Alko- holgeschmack verdeckt und der Kindergeschmack ge- Es ist naiv, zu glauben, mit einer einseitigen Besteuerung nau getroffen wird. bestimmter Getränke könne man Jugendliche vom Alko- holkonsum abbringen. Sie steigen einfach auf andere Die Unterscheidung zwischen den zwei Altersgren- Getränke um. Sie kennen die Alternativen. zen von 16 und 18 Jahren im Jugendschutzgesetz wird dieser Problematik jedoch nicht gerecht, weil sie sich auf Der vorliegende Gesetzentwurf eröffnet gleich meh- die Alkoholbasis – für Bier bzw. Biermix gilt die Alters- rere Möglichkeiten: Erstens. Kinder und Jugendlichegrenze von 16 Jahren, für Spirituosen bzw. Spirituosen- werden von Markengetränken auf Produkte der Billig- mix die von 18 Jahren – und nicht auf den Alkoholgehalt hersteller umsteigen. bezieht. Bier- und weinbasierte Alcopops haben aber ei- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen ähnlichen Alkoholgehalt und sind nicht minder ge- NEN]: Die werden auch besteuert!) fährlich für Kinder und Jugendliche. Wir müssen inso- fern gemeinsam überlegen, wie die Regelungen des Zweitens. Sie werden die nicht gesondert besteuerten Jugendschutzgesetzes geändert werden können, damit und billigeren Mixgetränke auf Wein- und Bierbasissie Kinder und Jugendliche zielgenauer vor Alkohol- kaufen. missbrauch schützen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne NEN]: Das schmeckt anders!) Kastner) 9782 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Klaus Haupt (A) Dass das Gesetz allein den Jugendschutz nicht garan- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) tieren kann, ist uns allen klar. Aber ich kann mich nicht Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing, SPD-Frak- damit abfinden, dass es bei Alkohol und Tabakwarention. nicht ausreichend umgesetztwird. Daher plädiert die FDP mit ihrem Antrag genau dafür und für einen Maß- Sabine Bätzing (SPD): nahmemix aus Information, Aufklärung, Kontrolle, Ver- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und antwortung von Eltern und Schule, veränderter Werbung Kollegen! „Ein Gläschen in Ehren kann niemand ver- und weiteren Selbstverpflichtungen von Herstellern,wehren“ und „Auf einem Bein kann man nicht stehen“: Handel und Gastronomie. Diese Art weinseliger Sprüche sind uns allen – auch uns (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Abgeordneten – bestens bekannt. Denn leider ist der Al- der CDU/CSU) koholkonsum in unserer Gesellschaft eine Selbstver- ständlichkeit und wird entsprechend verharmlost. Auch technische Vorrichtungen zur Abgabekon- trolle an den Kassensystemen können einen wirksamen Wir verabschieden heute ein Gesetz, das Kinder und Beitrag zum Jugendschutz leisten. Frau Staatssekretärin, Jugendliche vor den Gefahren des Alkoholkonsums Sie haben sich darüber in der ersten Lesung belustigt ge- schützen soll. Denn im Gegensatz zu Erwachsenen kön- nen sie die Auswirkungen, die Alkohol auf ihren Körper äußert. und auf ihre Entwicklung hat, nicht einschätzen. Sie sind sich des Risikos, dass Alkohol auch schon im frühen Al- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ter zur Abhängigkeit führen kann, nicht bewusst. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kinder und Jugendliche orientieren sich am Verhalten Abgeordneten Caspers-Merk? von Erwachsenen. Außerdem sind sie noch viel stärker als Erwachsene Gruppenzwängen ausgesetzt. Klaus Haupt (FDP): Junge Menschen haben eine natürliche Hemmschwelle Ich würde das gerne noch fortsetzen; dann können Sie gegenüber Spirituosen. Würde man einem 13-jährigen zielgerichteter fragen. Mädchen einen Schnaps anbieten, so würde es bereits der (Beifall bei der FDP) stechende Geruch allein vom Probieren abhalten. Des- halb stellt sich die Frage, warum der Alkoholkonsum Bei einer großen Schweizer Einzelhandelskette muss bzw. der Alcopopkonsum bei Kindern und Jugendlichen seit einiger Zeit bei jedem Alkoholverkauf das Personal dennoch so rasant gestiegen ist. gegenüber der Kassenanzeige bestätigen, dass es das Al- (B) ter des Käufers überprüft hat. Auch an den SB-Kassen Alcopops basieren auf Branntwein. Genau genommen (D) einer deutschen Einkaufsmarktkette, bei denen kein Per- – die Kollegin Arndt-Brauer hat es bereits erwähnt – ent- sonal mehr eingesetzt wird, gibt es wohl schon techni- hält eine Flasche eines handelsüblichen Branntweinmix- sche Kontrollen für den Alkoholverkauf, wie aus dergetränkes durchschnittlich zwei Gläser puren Schnaps. Antwort der Bundesregierung auf meine schriftliche An- Diesen Schnaps schmeckt man aber nicht. Denn durch den Zusatz von Limonaden, Zucker oder Saft verschwin- frage zu entnehmen ist. Auch erste Tankstellen in det der Alkoholgeschmack fast vollständig. Dies funk- Deutschland arbeiten nach diesem Prinzip. tioniert bei Branntwein. Bei Mischgetränken, die zum Frau Staatssekretärin, ein Mautdebakel ist nicht zuBeispiel auf Bier oder Wein basieren, wird man dagegen befürchten, wenn, wie von den Liberalen gefordert, die noch immer einen leichten, bitteren Alkoholgeschmack betroffenen Wirtschaftszweige selbst die Chance haben, herausschmecken. Deshalb sind diese Getränke für solche Systeme zu entwickeln. junge Menschen und insbesondere für Kinder bei wei- tem nicht so interessant wie die auf Branntwein basie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten renden Alcopops. Die natürliche Hemmschwelle, die der CDU/CSU) junge Menschen bei Alkohol haben, wird durch den Konsum von Alcopops herabgesetzt. Wenn Kinder und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Jugendliche Alcopops konsumieren, dann tun sie das nicht, um Schnaps zu trinken. Sie wollen damit vielmehr Herr Kollege, ich kann die Zwischenfrage nicht mehr erwachsen wirken und dem von der Werbung suggerier- zulassen. Sie haben Ihre Redezeit überschritten. ten Zeitgeist entsprechen.

Klaus Haupt (FDP): (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Dagegen nützt auch Ihre Steuer nichts!) Ich komme zum Schluss. Um die bunt verpackten und süß schmeckenden Alco- (Heiterkeit im ganzen Hause) pops ist mittlerweile ein wachsender Markt entstanden; – Es gibt angesichts des Alcopopproblems viele Erfolg denn hier wird nicht Schnaps, sondern ein Image ver- versprechende Ansätze, den Jugendschutz zu verbessern. kauft. Coole Menschen konsumieren aus der Flasche Die Einführung einer Sondersteuer gehört offenkundig coole Getränke. So lautet die Werbebotschaft. Diese nicht dazu. Strategie zeigt Wirkung. Der Alcopopkonsum hat sich seit 1998 vervierfacht. Dies, verehrter Kollege Haupt, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten als Jugendtrend zu bezeichnen ist falsch und verharmlo- der CDU/CSU) send. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9783

Sabine Bätzing (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mit der geplanten Sonderabgabe auf Alcopops wird(C) DIE GRÜNEN) nicht nur ein Lenkungseffekt in Bezug auf das Konsum- verhalten von Kindern und Jugendlichen erzielt. Die Die Alcopops zählen zu den beliebtesten alkoholischen Einnahmen aus der Abgabe werden vielmehr auch in Getränken der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen eine gesonderte, groß angelegte Aufklärungs- und Prä- (Klaus Haupt [FDP]: Das ist der Jugendtrend!) ventionskampagne der Bundeszentrale für gesundheitli- che Aufklärung fließen. Darüber hinaus – auch das ist – Sie haben richtig gehört: zu den beliebtesten alkoholi- ein weiterer Mosaikstein unserer Strategie – werden wir schen Getränke der 14- bis 17-Jährigen! –, und das, ob- bereits zum 1. Juli 2005 überprüfen, wie sich der Alko- wohl sie eigentlich nur an Erwachsene verkauft werden holkonsum bzw. der Markt der alkoholischen Mixge- dürfen. Hier wird gegen unser Jugendschutzgesetz, ein tränke nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes entwickelt gutes Gesetz, verstoßen. Aber wir alle wissen: Die bes- hat. ten Gesetze sind wirkungslos, wenn sie nicht eingehalten (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das schauen werden. wir uns genau an!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nicht zuletzt hat auch diese intensive Debatte – wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu- führen sie schon seit einigen Monaten – zu einer Sensibi- rufe von der CDU/CSU: Eben!) lisierung in der Gesellschaft beigetragen. Viele reden über Alcopops. Wir wollen mit diesem Gesetz dafür sor- – Prima, dass Sie mir zustimmen. Dann können Sie gen, dass sie nicht in aller Munde sind. gleich auch unserem Gesetzentwurf zustimmen. Herzlichen Dank. Gerade der Jugendschutz kann nur dann funktionie- ren, wenn sich alle in der Gesellschaft an die diesbezüg- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lichen Bestimmungen halten und sich verantwortlich DIE GRÜNEN – Andreas Scheuer [CDU/ fühlen. CSU]: Sehr philosophisch!) Die verschärfte Kennzeichnungspflicht, die unser Ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: setzentwurf vorsieht, soll unter anderem das Verkaufs- Mir liegen zwei Wünsche zu einer Kurzintervention personal dazu anhalten, keine Alcopops an Minderjäh- vor. rige abzugeben. Aber – hier appelliere ich an Sie alle – es sollte jeden von uns angehen, wenn wir sehen, wie Zuerst gebe ich der Kollegin Marion Caspers-Merk vor uns an der Kasse ein 13-Jähriger Alkohol oder eine das Wort, die auf die Rede des Kollegen Haupt eingehen (B) 11-Jährige Zigaretten kauft. Hier muss man hinschauen möchte. (D) und handeln und darf das nicht einfach hinnehmen. (SPD): (Beifall bei der SPD – Andreas Scheuer [CDU/ Marion Caspers-Merk CSU]: Was hilft dagegen eine Steuer?) Herr Kollege Haupt, Sie haben mich vorhin direkt an- gesprochen. Ich will zu den Einlassungen der FDP drei Die Kennzeichnungspflicht – um diese geht es in Bemerkungen machen. dem neuen Paragraphen des Jugendschutzgesetzes – hilft Erstens. Sie sind gegen das Erheben einer Steuer, weil uns dabei, die Erziehungskompetenz der Eltern zu stär- Sie glauben, man könne das Ziel allein durch mehr Ju- ken; denn auch sie müssen lernen, dass nicht alles harm- gendschutz und durch die Einführung eines Barcodemo- los ist, was als harmlos verkauft wird. Gerade weil Alco- dells erreichen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass pops durch ihre Aufmachung eher an Fruchtschorlen man gerade in der Schweiz, die die Barcodemodelle er- oder an bunte Limonaden erinnern und in den Super-probt, zu dem Ergebnis gekommen ist, dies reiche nicht marktregalen direkt neben den Fruchtsäften aufgereiht aus und man müsse eine Sondersteuer erheben, weil es sind, vermuten Eltern, das Verkaufspersonal und auch darum gehe, diese Produkte gezielt zu verteuern, damit die Jugendlichen keinen oder zumindest keinen derartig keine falschen Anreizstrukturen entstünden. Zur Besteue- hohen Alkoholgehalt. Deshalb brauchen wir eine Kenn- rung gibt es keine Alternative; der Geldbeutel ist ein zeichnungspflicht für Alcopops, die diesen Namen auch wichtiges Erziehungsinstrument. verdient. Das bedeutet, dass wir eine Debatte über rote Kronkorken lieber nicht führen sollten. Wir meinen es Nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass Ihre Einlas- ernst mit dem Jugendschutz. Die sichtbare Kennzeich- sungen unzutreffend waren. Zum Beispiel geht überall nung von Alcopops ist auch nur ein Mosaikstein unserer dort, wo die Tabaksteuer deutlich erhöht worden ist, ins- gesamten Strategie. besondere der Anteil jugendlicher Raucher zurück. Das können Sie in zahlreichen WHO-Studien nachlesen. Die Übrigens, die Tatsache, dass sich an der Erarbeitung Tauglichkeit dieses Instruments ist weltweit deutlich ge- des Gesetzentwurfs verschiedene Ressorts beteiligt ha- worden. Auch wir haben mittlerweile die Erfahrung ge- ben, sehe ich nicht als Nachteil an. Im Gegenteil: Hier macht, dass gerade Jugendliche auf die deutliche Verteue- begreifen wir Jugendschutz als eine gemeinsame Auf- rung eines Produktes reagieren, also preissensibel sind. gabe und nehmen sie auch ernst. Zweitens. Sie haben verfassungsrechtliche Bedenken (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geäußert. Auch die beteiligte Industrie weist darauf im- DIE GRÜNEN) mer wieder hin. Bei uns ist niemand daran gehindert, das 9784 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Marion Caspers-Merk (A) Verfassungsgericht anzurufen. Dieser Weg ist frei von dukte mit demselben Alkoholgehalt auf Bierbasis her- (C) Kosten und öffentlichkeitswirksam. Tatsache ist: Bislang stellt – man kann heutzutage alles mit einem ist es völlig legal, eine Sondersteuer auf Sondertatbe-entsprechenden Aroma versehen –, die er in Deutschland stände zu erheben. Wenn diese Getränke nicht speziell mit der Aufschrift „weinbrandhaltig“ verkauft. Gegen- für unter 18-Jährige designt worden wären, wenn mit der über diesen Umsteigevarianten darf man doch nicht Werbung nicht speziell unter 18-Jährige angesprochen blind sein; man darf die Möglichkeit nicht einfach weg- würden, dann müssten wir dieses Problem jetzt nicht lö- schieben. sen. Es ist richtig, dass eine Schutzsteuer gerade diese (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Hersteller trifft; denn es geht nicht mehr an, dass die eine der CDU/CSU) Seite den Profit macht, während die öffentlichen Hände und die Sozial- und Krankenkassen hinterher die Sucht- Frau Staatssekretärin, wir unterscheiden uns wahr- probleme vieler bewältigen müssen. scheinlich in einem weiteren Punkt. Ich bin Jugendpoli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tiker. Ich denke zuallererst an das Jugendschutzgesetz. Ich denke zuallererst daran, wie man dieses Jugend- Drittens. In dieser Debatte wurde zwischen der Steuer schutzgesetz besser ausschöpfen kann. Ich will es nicht auf Branntwein und der auf bier- und weinhaltige Ge- hinnehmen, dass dieses Gesetz massiv unterwandert tränke unterschieden. Auch in dieser Hinsicht sind die wird und wir dann mit einer Steuer etwas nachlegen. Das Zahlen vernebelnd. Die Argumentationen, die auf halb- ist nicht Jugendschutzpolitik, wie ich sie verstehe. seitigen Anzeigen in großen Tageszeitungen zu lesen waren, sind unzutreffend. Die überwiegende Anzahl der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Probleme besteht bei Markenprodukten, die auf Brannt- Was die Verfassungsklage angeht, haben Sie in der wein beruhen. In Analysen, gerade in Amerika, wurde Aufregung wahrscheinlich nicht ganz richtig zugehört. nachgewiesen – auch davon war die Rede –, dass fastIch habe darauf hingewiesen, dass eine Verfassungs- alle Produkte, die vergorene Bestandteile enthalten, also klage von einigen erwogen wird. Sie wird nicht von mir Bier und Wein, auch Branntwein enthalten. Die Vorlage, und nicht von der FDP erwogen. Für mich war das nur die an genau dieser Stelle ansetzte, ist aufgegriffen wor- noch ein weiteres Argument, um deutlich zu machen: den; deswegen wird es in Zukunft keine Umgehungstat- Wenn Jugendschutz unter Federführung des Finanz- bestände geben. ministers gemacht wird, sollten alle Jugendschutzpoliti- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Georg ker allergisch reagieren. Fahrenschon [CDU/CSU]: Die Regierung soll (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von der Regierungsbank aus reden, wenn sie der CDU/CSU) reden will!) (B) (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zur Erwiderung Herr Kollege Haupt. Zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Parr das Wort. Klaus Haupt (FDP): Frau Staatssekretärin, wir sind uns einig: Es gibt Detlef Parr (FDP): keine Maßnahme, mit der man dieses gewaltige Problem Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich gewissermaßen per Knopfdruck lösen kann; notwendig möchte auf Frau Bätzing eingehen. ist ein Maßnahmenmix. Da uns diese Sache sehr ernst ist, will ich jede Polemik vermeiden, wie ich es auch zu- Erstens. Frau Bätzing, Sie haben erwähnt, dass die vor, als ich auf Sie eingegangen bin, getan habe. Steuermehreinnahmen in einen Sondertopf für Kampa- gnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf- Es geht darum, dass wir auf die Frage des Alkohol- klärung kommen sollen. Die Debatte bisher hat das zu konsums von Jugendlichen ne ei Antwort finden. Wir erwartende Ausweichverhalten sowohl der Hersteller als sind uns einig, dass es einen bestimmten Trend – Stich- auch der Jugendlichen noch einmal sehr deutlich ge- worte „süß“, „verführerisch“; er wurde hier charakteri- macht. Was tun wir, wenn die Mehreinnahmen nicht aus- siert – gibt, auf den man nicht mit einer Maßnahme rea- reichen? Sie selbst haben im Gesetzentwurf einen Prüf- gieren kann. Sie glauben an eine Wundermaßnahme, das auftrag formuliert. Sie sind sich wohl selbst nicht sicher, heißt an eine Wundersteuer. Da liegen unsere Positionen ob das angepeilte Ziel zu erreichen ist. weit auseinander. Wir sind uns darin einig, dass die Bundeszentrale für (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) gesundheitliche Aufklärung sehr gute Kampagnen – Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass ich in Bezug macht. Sie macht zum Beispiel die Kampagne „Kinder auf die Umsteigemöglichkeiten sachlich argumentiert stark machen“. Es ist wichtig, dass die Persönlichkeit der habe! Sie können diese Möglichkeiten nicht wegdisku- Jugendlichen gestärkt wird, damit sie für die Verführung tieren. durch die Werbung oder für den Gruppendruck Gleich- altriger weniger anfällig werden. Ich frage mich, was Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tun, wenn die Steuermehreinnahmen für eine Kampagne der CDU/CSU) der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nicht Sie können nicht bestreiten, dass ein führender Welt- reichen. Werden Sie die Aufstockung der Mittel dann an- produzent in Amerika schon heute entsprechende Pro- ders hinbekommen? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9785

Detlef Parr (A) Zweite Bemerkung. Es ist über die Werbung gespro- kommen könnten, der günstiger wäre als zum Beispiel(C) chen worden. Mir fehlt der Hinweis darauf, dass die Her- ein Wasser oder eine Cola. Ich denke, da haben wir un- steller und Importeure von Spirituosen aufgefordert wer- sere Hausaufgaben sicherlich gemacht. den sollten, die freiwilligen Verhaltensregeln für die Werbung mit alkoholischen Getränken, die sie schon Danke schön. 1976 in einer Vereinbarung mit dem Zentralverband der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ deutschen Werbewirtschaft erarbeitet haben, zu aktuali- DIE GRÜNEN) sieren. Es ist ganz wichtig, denke ich, dass Werbespots nicht leichtfertig auf Zielgruppen gerichtet werden dür- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fen, die dem Jugendschutz unterliegen. Gegebenenfalls muss der Deutsche Werberat eingreifen. Jetzt gebe ich das Wort der Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion. Dritter Punkt. Sie setzen auf die Steuerung über den (Beifall bei der CDU/CSU) Preis. Ich kann Ihnen nur in einem Fall zustimmen: Es muss in der Gastronomie zur Regel werden, dass neben Kaffee und Tee mindestens ein nicht alkoholisches Ge- Ingrid Fischbach (CDU/CSU): tränk deutlich billiger angeboten wird als die alkoholi- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schen Getränke. Wir haben vorhin über Coca-Cola und Liebe Frau Andreae, ich muss sagen, Sie haben mich Limonaden gesprochen. Gehen Sie mal in Kneipen! Sie sehr betroffen gemacht, und zwar insofern, als Sie in ein werden feststellen, dass die Cola häufig teurer angeboten wichtiges Thema – über das hiermit verbundene Ziel wird als das Bier. Das ist nicht akzeptabel. Hier müssten herrscht ja in diesem Haus vollkommene Einigkeit – positive Anreize gesetzt werden. Sie wären allemal bes- eine Polemik und einen Zungenschlag hereingebracht ser als eine Strafsteuer, wie Sie sie hier zur Abstimmung haben, die ich so nicht im Raum stehen lassen kann. Das stellen. möchte ich hier ganz deutlich sagen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der CDU/CSU) Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ach!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Antwort auf meine Frage, woran Sie Ihre Auffas- Frau Kollegin Bätzing. sungen festmachen, war wirklich sehr billig. Nur weil wir einer Steuererhöhung bzw. einer Sondersteuer nicht zustimmen, zu sagen, wir nehmen das Problem nicht (SPD): (B) Sabine Bätzing ernst, wir verharmlosen es und verweigern uns, ist eine (D) Herr Kollege Parr, Sie sprechen den Bericht an, den Unverschämtheit. Das möchte ich an dieser Stelle ganz wir von der Bundesregierung zum 1. Juli 2005 verlan- deutlich sagen. gen. Dabei handelt es sich nicht um einen Prüfauftrag. Vielmehr soll eine Evaluierung stattfinden, damit man (Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Andreae sieht, wie sich das Gesetz ausgewirkt hat. Deswegen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bleibe da- muss das Gesetz noch lange nicht negativ sein. Wir kön- bei!) nen mit unseren jugendpolitischen und finanzpolitischen – Sie bleiben dabei. Sie könnten das dann noch einmal Maßnahmen durchaus bestätigt werden. Wir machen ja bestätigen, nachdem ich Ihnen unser Vorhaben, Aufklä- ein Gesetz, weil wir davon überzeugt sind. Von daherrungskampagnen etc., die ich Ihnen gleich als Alternati- werden wir den Bericht abwarten und sehen, zu wel- ven vorschlagen werde, einzuführen, vorgestellt habe. chem Ergebnis er kommt. Wir verweigern uns nämlich nicht. Sie sprachen darüber hinaus die Werbung an. Die Ge- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tränkeindustrie – da stimme ich mit Ihnen überein; ich NEN]: Sie stimmen dem Jugendschutz nicht habe es auch angesprochen – macht mitWerbekampa- zu!) gnen im Internet und mit Merchandise-Artikeln ganz gezielt Werbung, die sich an Jugendliche richtet. Ich wi- Wir machen Ihnen Vorschläge, wie man es besser ma- derspreche Ihnen auch nicht, wenn Sie sagen, dass man chen kann. dagegen vorgehen muss. Den Jugendlichen soll mit der ( [Spandau] [SPD]: Das ist aber Werbung nicht der Schnaps verkauft werden, sondern ganz neu!) – ich habe es vorhin erwähnt; auch da stimmen wir si- cherlich überein – das Image des coolen jungen Men- – Sie sind schon so oft auf unsere Vorschläge eingegan- schen. gen, wenn auch nach langer Zeit. Manchmal brauchten Sie ein Jahr, manchmal zwei. Aber Sie kommen ja doch Was die Preisregulierung angeht, so haben Sie viel- dahin. Deswegen könnte ich jetzt ganz glücklich sein leicht übersehen, dass es bereits ein so genanntes Apfel- und sagen: Irgendwann machen Sie es und folgen unse- saftgesetz gibt, nach dem in einer Kneipe oder in einem rem Weg. Restaurant ein alkoholfreies Getränk günstiger ange- boten werden muss als die alkoholhaltigen Getränke. Es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – würde mich schon stark verwundern, wenn Sie einen Dr. Uwe Küster [SPD]: Jetzt erzählen Sie wie- Alcopop in einer Kneipe oder in einem Restaurant be- der Ihre Träume!) 9786 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Ingrid Fischbach (A) Meine Damen und Herren, das Problem, das unsmacht haben, halte ich wirklich für übertrieben. Ich weiß (C) heute beschäftigt, ist, wie ich glaube, sehr bedrückend. nicht, ob Sie einmal in ganz normalen Geschäften in Man kann sich gar nicht vorstellen, dass Alcopops – – Stoßzeiten einkaufen, also dann, wenn viel zu tun ist. Die Kassiererinnen haben überhaupt nicht die Zeit, sich (Dr. Uwe Küster [SPD]: Immer wenn Sie den jede Flasche anzusehen. Ich glaube, es wäre wirklich Mund aufmachen, kommen Ihre Träume wie- eine echte Hilfe für das Verkaufspersonal, wenn sie an- der hoch!) hand einer knalligen Farbe erkennen könnten, dass sie – Wenn Sie etwas sagen wollen, dann melden Sie sich! aufpassen müssen, ob derjenige, der diese Flasche kauft, Dann antworte ich Ihnen gerne. schon 18 ist. Wenn er sich nicht ausweisen kann, be- kommt er sie dann eben im Zweifelsfall nicht. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das habe ich schon! Das können Sie im Protokoll nachlesen!) Ich finde, Sie machen es sich wirklich zu einfach, wenn Sie sagen, dass Sie die roten Korken nicht wollen. – Frau Präsidentin, ich würde gerne ausreden können. Auch ich hätte lieber eine andere Farbe als Rot, das kön- Alcopops und Kinder gehören eigentlich gar nicht zu- nen Sie sich sicherlich vorstellen; aber Rot ist eine Si- sammen. Das sehen Sie wahrscheinlich genauso wie ich. gnalfarbe und deshalb habe ich mich darauf einlassen Hierbei handelt es sich um ein Problem, das uns beschäf- können. tigen sollte. Darauf müssen wir eine Antwort finden. Es Meine Damen und Herren, wir brauchen auch – das verhält sich nicht nur so, dass der Alkoholkonsum seit ist sicher – eine gezielte, sofortige Aufklärungskampa- 1998 insgesamt gestiegen ist – allein das macht schon gne, in die wir nicht nur die Jugendlichen einbeziehen betroffen –, sondern unser Problem ist, dass der Konsum sollten – ich gebe dem Herrn Kollegen Haupt Recht, gerade in der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen und dass wir die Jugendlichen stark machen müssen; denn hier speziell in der Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen nur starke Jugendliche können widerstehen –, sondern extrem zugenommen hat. Dieser Problemlage müssen auch die Eltern. wir uns stellen. Hierauf müssen wir Antworten finden und diese sollten wir gemeinsam suchen. Frau Bätzing, an dieser Stelle muss ich noch einmal widersprechen. Sie haben gesagt, wir alle seien gefor- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dert. Natürlich, aber in erster Linie sind die Eltern gefor- NEN]: Genau!) dert, 17 Prozent der 14- bis 19-Jährigen trinken mindestens (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und einmal pro Woche und teilweise mehrmals im Monat al- der FDP) koholische Premixgetränke. Für mich unfassbar, aber (B) leider bitterer Alltag sind folgende Zahlen: Wenn man ihre Kinder zu informieren und mit ihnen zusammen das (D) Jugendliche befragt, was sie im letzten Monat getrunken Thema anzugehen. Selbst wenn die Kinder nicht mit den haben, sagen 42 Prozent der 14- bis 17-Jährigen, dass sie Flaschen nach Hause kommen – wenn mein Kind Alko- mehr als einmal bzw. sogar mehrmals diese Getränke ge- hol getrunken hätte, würde ich das riechen und es auch trunken haben. Das ist für mich ein Wert, der einfacham Verhalten merken; denn wir haben noch Kontakt. nicht so stehen bleiben kann. Ob Sie das Problem einzig Wir sollten die Eltern nicht aus der Verantwortung ent- und allein mit der von Ihnen postulierten Steuer lösen, lassen; denn die Eltern sind die ersten Anlaufstellen und das wage ich zu bezweifeln. Gesprächspartner unserer Kinder. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Es zeichnet sich für mich folgende eindeutige Ent- wicklung ab: Wenn die jungen Leute in diesem Alter Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass wir diese Getränke trinken, werden sie schneller in Abhän- ein sehr gutes Jugendschutzgesetz haben. Ich hätte mir gigkeit geraten als sonst. Auch das ist ein Problem; denn – auch von der Koalition, liebe Frau Andreae – an der ei- – das hat die Kollegin Bätzing sehr richtig gesagt – Al- nen oder anderen Stelle, wenn wir über Jugendschutz re- copops enthalten 5 bis 6 Prozent Alkohol. Das entspricht den, eine ebenso intensive Hingabe von Ihnen ge- einem Alkoholgehalt von mehr als zwei Schnapsgläsern wünscht wie heute; denn Sie gehen manchmal doch sehr Korn pro Flasche. Das muss man sich einfach einmallocker und eher leichtfertig mit dem Jugendschutz um. vorstellen: In so einer Flasche ist wirklich der Alkohol- gehalt von zwei Schnapsgläsern Korn. Das Problem da- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bei ist, dass Geschmack und Farbe suggerieren, dass es Frau Kollegin – – sich um harmlose Limonade handele, die man so trinken könne. Ich gebe ehrlich zu: Auch ich habe es schon ein- (CDU/CSU): mal getrunken und habe nicht erst nachgeschaut, wie Ingrid Fischbach viel Alkohol darin enthalten ist. Es war gekühlt und hat Darf ich den Gedanken eben zu Ende führen. – Denn geschmeckt. Nach der dritten Flasche habe ich dann ge- wenn wir die Jugendlichen schützen wollen und davon merkt, das kann keine Limonade gewesen sein. reden, dass es gerade die jungen Menschen sind, die die- ses Thema betrifft, dann müssen wir auch überlegen, in- Deshalb ist es wichtig – das ist auch unsere Forde-wieweit wir die Ausgehzeitenverlängern oder Beglei- rung –, die Kennzeichnung wesentlich effektiver zu ge- tung als nicht notwendig regeln sollten. In diesen stalten. Die Polemik, die Sie an den roten Korken festge- Punkten haben Sie ja das Jugendschutzgesetz geändert. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9787

Ingrid Fischbach (A) Das passt nicht, wenn Sie auf der anderen Seite strenge aber auch die Schließung von Kiosken oder Gaststätten (C) Regeln wollen. bedeuten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie wollen das Problem durch eine Sondersteuer lö- sen. Mich hat erstaunt – da habe ich dieselbe Wellen- länge wie der Kollege Haupt –, dass Jugendschutzrege- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lungen jetzt ins Finanzministerium übergeleitet werden Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin sollen. Ich glaube, wir sollten sie dort belassen, wo sie Höfken? hingehören, nämlich in unseren Händen. Die Anhörung hat ergeben, dass die Sondersteuer, die Sie planen, neue Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Probleme aufwerfen kann. Ja. Ich wiederhole, was möglich ist, wovor gewarnt wurde und wofür es Belege gibt: Die jungen Leute wer- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den auf preiswertere Varianten zurückgreifen. Sie wer- Ich bin durchaus an einer Erklärung interessiert, wie den stärker bei Discountern kaufen oder sie werden mi- das mit dem roten Korken ist, einmal abgesehen davon, xen. dass die Alcopopflaschen keine Korken, sondern Schraubverschlüsse haben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Was? Das Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten. stimmt überhaupt nicht!) (CDU/CSU): Sie sagen, die Kennzeichnung müsse deutlicher sein und Ingrid Fischbach die geltenden Gesetze müssten eingehalten werden. Eine Substitution durch andere Mixgetränke wäre Auch wir erwarten, dass Verkäuferinnen und Geschäfts- ebenfalls möglich. Andere Formen der Beschaffung – auf leiter das tun. Aber wenn Sie sagen, in den Geschäften die drohende Kleinkriminalität wurde schon hingewie- müsse genauer überprüft werden, welches Alter ein Käu- sen – könnten sich entwickeln. fer von Alkohol hat, dann müsste das doch konsequen- Lassen Sie mich mit einem Zitat von François de Fénélon terweise nicht nur bei den branntweinhaltigen Geträn- enden: ken, sondern auch bei den bier- und weinhaltigen Getränken gelten. Planen Sie also einen gefärbten Kor- Man darf nie vergessen, dass man bei der Jugend ken nur das in die Seele legen darf, von dem man wünscht, dass es immer darin bleibe. (B) (Zuruf von der CDU/CSU: Einen grünen Kor- (D) ken!) Legen wir unseren Respekt hinein, verbunden mit un- serer Verantwortung für den Schutz der Jugend! auch für Bier- und Weinflaschen und – das ist die span- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nende Frage, die wir uns stellen – welche Farbe soll die- ser haben? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem (CDU/CSU): Ingrid Fischbach Kollegen Reinhard Schultz. Liebe Frau Kollegin, Ihre Äußerung macht deutlich, dass Sie der Ernsthaftigkeit dieses Themas überhaupt nicht gerecht werden. Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Liebe Kollegin Fischbach, ich habe Ihre Rede auf- (Beifall bei der CDU/CSU) merksam verfolgt. Ich wundere mich allerdings über ei- nige Punkte; denn ich gehe davon aus, dass Sie an der Ich glaube nicht, dass das im Sinne des Jugendschutzes Anhörung teilgenommen haben. ist. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob Sie den jungen Menschen mit einer solchen Frage gerecht wer- Unser Gesetz hat vier wesentliche Elemente. Erstens den. versuchen wir, die für Kinder attraktiven alkoholischen Mixgetränke über eine Verteuerung unattraktiv zu ma- Meine Damen und Herren, wir haben ein wirklich gu- chen. Zweitens wollen wir die Kontrolle an der La- tes Jugendschutzgesetz. Was fehlt, sind die Umset- dentheke und in der Kneipe. Drittens soll das Geld aus zungsmechanismen, das heißt die klare Anwendung. den Steuereinnahmen für die Prävention verwendet wer- Eine deutliche Umsetzung muss erfolgen. Das heißt, wir den. Viertens und letztendlich soll es – auch das gehört müssen stärker kontrollieren und denjenigen, die Verant- zu einer verantwortungsvollen Politik – einen Bericht wortung tragen, Unterstützung bei der Kontrolle anbie- und damit eine Erfolgskontrolle dieser politischen Maß- ten. Ebenso müssen wir – das ist der zweite wichtige nahme geben. Punkt – dafür sorgen, dass bei Missachtung entspre- chende Strafmechanismen einsetzen. Das heißt – meine Wir haben in der Anhörung gehört, dass gerade die Kollegin Heinen wird gleich noch darauf eingehen –, wir gut organisierte Spirituosenindustrie angesichts der müssen deutlich machen: Wer diese Jugendschutzbe-rückgängigen Umsätze bei jungen und älteren Erwachse- stimmungen missachtet, hat mit Strafen zu rechnen. Das nen mithilfe riesiger Werbeetats – ähnlich wie die Ziga- können Bußgeldzahlungen sein; es kann im Bedarfsfall rettenindustrie – gezielt Kinder ansprechen und sie auf 9788 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) diese Weise zum Suff bringen will. Das ist der Sinn die- falsche Weg; das kann es nicht sein. Sie wollen die Steu- (C) ser Kampagne. Ich halte das für geradezu kriminell. Eine ereinnahmen für die Prävention verwenden. Also noch solche Werbestrategie, nämlich die Nachwuchsförde-einmal: Wenn es keine Einnahmen gibt, dann gibt es, so rung sozusagen durch Anfüttern mit angesüßtem Brannt- vermute ich, keine Prävention. wein, muss durch besondere Maßnahmen, die der Dreis- tigkeit dieses Vorgehens entsprechen, beantwortetZweitens. Wir wissen, dass in Ländern, in denen der werden. Deswegen ist die Sondersteuer gerechtfertigt. Alkohol sehr teuer ist, das nicht erreicht wird, was wir alle wollen: dass derAlkoholkonsum zurückgeht. Im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gegenteil: Nehmen Sie die skandinavischen Länder; da DIE GRÜNEN) haben wir die höchsten Alkoholgefährdungen, Wir haben in der Anhörung ebenfalls gehört, dass es (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das nicht so ist, wie Sie eben vorgetragen haben, nämlich sind aber alles Erwachsene, die saufen, und dass man den Genuss dieser Getränke bei Kindern sofort keine Kinder!) riechen würde. Ich habe einen 11-jährigen Sohn und sage Ihnen: Man riecht es natürlich nicht, wenn Kinder obwohl Alkohol sehr teuer ist. Alcopops getrunken haben. Viele Kollegen wissen – sie Sie haben die finanzielle Situation angesprochen. sind vielleicht gar nicht im Saal –, dass man WodkaWenn Sie in Diskotheken oder Gaststätten, in denen sich nicht riecht. Man riecht ihn erst recht nicht, wenn er ge- die jungen Leute aufhalten, ein solches Getränk bestellen, mixt wird. Ein großer Teil der Alcopopgetränke basiert dann zahlen Sie im Durchschnitt zwischen 4 und 6 Euro. nun einmal auf Wodka, Tequila und Rum, die nicht zu Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass 80 Cent mehr die riechen sind, wenn sie gemixt werden. jungen Leute davon abhalten würden, ein solches Ge- Bei den Biermixgetränken verhält es sich anders. Man tränk zu bestellen bzw. zu trinken. Wir halten diesen kann hineinkippen, was man will: Die Fahne riecht man Weg für falsch. Es muss doch in diesem Hohen Hause früher oder später. Abgesehen davon ist es so, dass sol- erlaubt sein, einen falschen Weg, den Sie einschlagen che Getränke immer nach Bier schmecken. Das ist ein wollen, zu benennen. großer Unterschied zu den Alcopopgetränken. Ein Ge- Wenn wir uns in der Sache einig sind, dann können tränk mit einem bitteren Biergeschmack ist für 10-, 11- Sie doch unserem Antrag zustimmen; denn Sie haben oder 12-Jährige nicht das Getränk der Wahl. Ich glaube gerade gesagt, dass Sie alldie Punkte, die wir nennen, daher, dass ein Umsteigen auf Biermix- oder Weinmix- unterstützen. Dann dürfte es für Sie keine Schwierigkeit getränke auszuschließen ist – das hat im Übrigen auch sein, unserem Antrag zuzustimmen. die Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche (B) Aufklärung in der Anhörung erklärt –, zumal der Life- (Beifall bei der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: (D) style-Charakter, der in der Werbung für Bacardi und für Steuern, aber anders! – Kerstin Andreae andere Getränke vermittelt wird, den Bier- und Weinpro- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir nehmen dukten fehlt. das sehr ernst!) Ich glaube daher, dass wir richtig und Sie falsch lie- gen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Jella Teuchner, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jella Teuchner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gen! Frau Kollegin Fischbach, Sie haben gesagt, dass es Frau Kollegin Fischbach, bitte. bei uns im Hinblick auf die erwarteten Mehreinnahmen eine Bandbreite zwischen 12 und 6 Millionen Euro gebe. Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Herr Kollege, wenn es nur so einfach wäre: Sie liegen (Detlef Parr [FDP]: Sie setzen das doch so an!) richtig und wir liegen falsch. Dann wäre die Politik et- Ich möchte zunächst einmal klarstellen, dass bei dem was einfacher; wir könnten uns die Polemik sparen und Betrag von 12 Millionen Euro von Jahreseinnahmen ge- die Gesetzgebungsverfahren würden ganz schnell über sprochen wurde. Die 6 Millionen Euro beziehen sich auf die Bühne gehen. den Zeitraum vom 1. Juli bis zum Ende des Jahres, also Ich möchte an zwei Stellen einhaken. Erstens. Sieauf den Halbjahreszeitraum. Von daher schwanken wir schlagen Prävention vor und machen sie von Steuerein- nicht zwischen 12 und 6 Millionen Euro. Hier findet nahmen, die Sie erwarten, abhängig. Anfangs haben Sie vielmehr eine klare Abgrenzung statt. 12 Millionen Euro Einnahmen erwartet. Mittlerweile (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sind Sie auf 6 bis 12 Millionen Euro heruntergegangen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Andreas Vielleicht gibt es auch keine Einnahmen. Scheuer [CDU/CSU], zur SPD gewandt: Das (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Das wäre ja gut! hat aber lange gedauert! – Detlef Parr [FDP]: Dann wäre ja das Ziel erreicht!) Die Hoffnungen sind trotzdem falsch!) Wenn es keine Einnahmen gibt, bedeutet das im Um- Ich möchte mit einem Zitat aus einem Aufsatz begin- kehrschluss, dass es keine Prävention gibt. Das ist der nen, der mit dem Titel „Warum unsere Kinder Wein und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9789

Jella Teuchner (A) Bier nicht haben sollen“ überschrieben ist. Dieser Auf- dürfen nicht immer nur den letzten Satz eines Absatzes (C) satz stammt von Dr. Wilhelm Bode. Dort heißt es: lesen, weil das besonders bequem ist. Der Alkohol ist ein Gehirn- und Nervengift und (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Tun Sie das wirkt als solches bei Kindern viel schlimmer als bei bei uns auch?) Erwachsenen, da ihr Gehirn erst noch sich bilden Sie sollten vielmehr den Gesetzentwurf insgesamt und erstarken muss. Zuweilen werden Kinder durch durchlesen. Dann sehen Sie: Darin wird klar und deut- dieses Gift getötet. lich davon gesprochen, dass es eine Lenkungswirkung (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ gibt. Das hat auch die Anhörung ergeben. Aber zu den DIE GRÜNEN]) Inhalten der Anhörung hat die Kollegin Andreae schon einiges gesagt. Die mir vorliegende Ausgabe stammt aus dem Jahre 1908. 1908 hat Wilhelm Bode versucht, dem ganz ge- Es ist scheinheilig, wenn dieSpirituosenhersteller wöhnlichen Alkoholkonsum bei Kindern und Jugendli- als Zeichen ihrer Verantwortung die Abgabe von Alko- chen entgegenzuwirken. Damals haben viele geglaubt, hol generell erst an Personen ab 18 Jahre erlauben wol- Alkohol stärke insbesondere schwache Kinder. Ichlen. Das ist eine Forderung, die wir gestern in allen gro- denke mir, wir alle wissen es heute besser. ßen Zeitungen in halbseitigen Anzeigen lesen konnten. Es verwundert mich allerdings schon, dass die von der Trotzdem hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Initiative „Verantwortungsbewusster Umgang mit Alko- Aufklärung festgestellt, dass Jugendliche immer mehr Al- hol“ angegebene E-Mail-Adresse von einer Person an- kohol trinken. Insbesondere der Konsum vonAlcopops gemeldet wurde, die als Kommunikationsberater bei ist in den letzten Jahren gestiegen. Der süße Geschmack Diageo arbeitet. Diageo ist eine Marketing- und Ver- überdeckt den Alkohol. Die poppige Aufmachung und triebsgesellschaft, zu deren Sortiment unter anderem die Werbung sprechen gerade Jugendliche an. All das ist „Smirnoff“ gehört. Ist das Zufall oder der Versuch, die heute von vielen Vorrednerinnen und Vorrednern gesagt Öffentlichkeit zu täuschen? Sei es, wie es sei. worden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aber wollen wir wirklich, dass Jugendliche dadurch DIE GRÜNEN) zu einem expandierenden Markt für alkoholische Ge- Die Unternehmen sind auf alle Fälle gefordert. Sie tränke werden? Ich bin froh, dass wir uns alle in dermüssen ihre Produkte und ihre Marketingaktivitäten so Frage einig sind, dass wir dies gerade nicht wollen. Ge- gestalten, dass sie nicht zu steigendem Alkoholkonsum rade deshalb müssen wir handeln und tun wir dies auch. bei Jugendlichen und zu einem früheren Einstiegsalter in (B) Das heißt, wir müssen Maßnahmen treffen, die auch wir- das Alkoholtrinken führen. (D) ken. Es geht nicht darum, sich verbal möglichst weit aus dem Fenster zu lehnen, sondern darum, dass alkoholi- Die Anhörung im Finanzausschuss hat nachdrücklich sche Getränke nicht zum normalen Schlummertrunk von gezeigt, dass die gewünschte Lenkungswirkung von ei- Jugendlichen werden. ner Steuer auf Alcopops ausgehen wird. Die meisten Sachverständigen haben unseren Weg unterstützt, und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zwar insbesondere auch deshalb, weil die Mehreinnah- DIE GRÜNEN) men für die Prävention verwendet werden sollen. Wir Dazu reicht es allerdings nicht, wohlfeile Forderungen brauchen einen Mix von verschiedenen Maßnahmen, wir nach einer besseren Durchsetzung der Jugendschutzgesetze brauchen die Lenkungswirkung der Steuern und vor al- zu erheben. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, lem eine stärkere Prävention. Beides erreichen wir mit dass das zum Teil nichts bringt. unserem Gesetzentwurf. (Detlef Parr [FDP]: Da bin ich mal gespannt!) (Detlef Parr [FDP]: Dann streichen wir doch das Jugendschutzgesetz!) Vielen Dank. Sicher brauchen wir in diesem Bereich Prävention. Die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Forderung nach mehr Prävention darf aber nicht zu einer DIE GRÜNEN) Entschuldigung für das Nichtstun werden. Gerade das versuchen Sie. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Jens Spahn. Herr Kollege Fahrenschon, Sie hatten § 28 Abs. 1 Ju- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Haben die alle Alco- gendschutzgesetz angesprochen, in dem es um die ille- pops im Blut?) gale Abgabe von Alkohol geht. Logischerweise ist diese Abgabe illegal. Aber logischerweise ist die Kontrolle der Durchführungsbestimmungen Aufgabe der Länder. Hier Jens Spahn (CDU/CSU): sind gerade die Länder gefordert, für eine bessere Kon- Frau Kollegin, wir haben kein schlechtes Gewissen. trolle zu sorgen. Mich stört während der ganzen Beratung, so auch in der Ausschusssitzung, Ihr Verhältnis zu Bundesgesetzen. Es Wenn Sie schon unseren Gesetzentwurf ansprechen, gibt das Jugendschutzgesetz und es kann nicht sein, dass dann möchte ich Sie bitten, diesen richtig zu lesen. Sie wir sagen: Das Jugendschutzgesetz wird nicht umgesetzt 9790 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Jens Spahn (A) und deswegen müssen wir etwas anderes machen. Das Sein Auftreten und seine Wortwahl führten dazu, dass(C) ist mir als Mitglied des Bundestags – wir sind der Bun- die Verkäuferin nicht weiter nachfragte, sondern ihm die desgesetzgeber – zu wenig. Wir müssen die Exekutive, Ware verkaufte. diejenigen, die die Gesetze ausführen, auffordern, dafür zu sorgen, dass die Gesetze, die wir hier beschließen (Detlef Parr [FDP]: Was beweist denn das?) – ich glaube, das Jugendschutzgesetz will keiner infrage Ich denke, das ist auch in einigen anderen Bereichen so. stellen –, auch um- und durchgesetzt werden. Mit einem So etwas muss durch die Länder kontrolliert werden. lapidaren „Das passiert halt nicht, da müssen wir etwas Und nur wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen anderes tun“ ist es nicht getan. Die Bundesregierung ist und uns nicht einseitig etwas vorwerfen, können wir die in der Verantwortung, sie muss zusammen mit den Län- Probleme lösen. dern dafür sorgen, dass dieBundesgesetze auch einge- halten werden. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ulla Heinen, CDU/CSU-Fraktion. Herrr Kollege, eine Kurzintervention ist dazu da, auf die Rede der Vorgängerin oder des Vorgängers einzuge- (Beifall bei der CDU/CSU) hen. Ursula Heinen (CDU/CSU): Jens Spahn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Genau das tue ich. Frau Teuchner hat sehr viel zum legen! Kurz nach der ersten Lesung des Gesetzentwurfes Jugendschutzgesetz gesagt. Sie hat vor allem davon ge- zur Alcopopsteuer Mitte März hier im Bundestag hat sprochen, wie wenig es eingehalten wird. mich eine Gruppe von fast 100 Schülern aus den zehnten Klassen eines Gymnasiums in meiner Heimatstadt Köln Eines möchte ich aufgrund meiner Erfahrungen inbesucht. Was meinten die Jugendlichen zu dieser De- meiner Heimatstadt Ahaus abschließend sagen: Wenn batte? Sie sagten, sie würden sich von einer Preissteige- die Einhaltung des Jugendschutzgesetzes nur halb so viel rung bei Alcopops überhaupt nicht beeinflussen lassen, kontrolliert würde wie das Falschparken, dann hätten wir das Problem schon gut im Griff. Wir haben die Erfah- sondern diese oder andere Drinks weiter konsumieren. rung gemacht, dass Kontrollen und Bußgelder zur Ver- Eine Umfrage unseres lokalen Radiosenders unter Ju- haltensänderung von Gastwirten, des Einzelhandels und gendlichen hat ein ähnliches Bild ergeben. Bei einem von Gastgebern von Partys führen. Ich denke, das wäre Besuch der Polizei in vier siebten Klassen eines Gymna- (B) der richtige Weg, statt immer über neue Maßnahmensiums in Stuttgart haben die Schüler, die gerade einmal (D) nachzudenken. Wir dürfen nicht so tun, als sei das Nicht- 13 Jahre alt sind, zugegeben, dass die Hälfte von ihnen einhalten von Gesetzen normal. schon einmal Alcopops probiert und konsumiert hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Warum ist das so? Das Konsumbewusstsein und das Konsumverhalten der Jugendlichen haben sich erheblich gewandelt. Fast jeder hat mittlerweile ein Handy und es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ist fast schon normal, für einen Kinobesuch mit Popcorn Frau Kollegin Teuchner, bitte. und allem Drum und Dran an einem Abend 8 bis 10 Euro auszugeben. Alles, was trendy und cool ist, wird Jella Teuchner (SPD): mitgemacht und durch das entsprechende Taschengeld Herr Kollege Spahn, ich habe das Gefühl, dass Ihre finanziert. Ausführungen nicht sonderlich zielführend waren. Die Untersuchungen zum Alkoholkonsum von Ju- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gendlichen im Rahmen einer WHO-Studie zeigen, dass des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gesundheitsgefährdender Alkoholkonsum zurzeit vor al- Es ist uns natürlich ein Anliegen, dass das bestehende lem und in steigendem Maße von Jugendlichen aus so- Jugendschutzgesetz eingehalten wird. Sie haben sichzial besser gestellten Familien praktiziert wird, denen wahrscheinlich den Satz gemerkt, dass die Länder die also, die über eine ausreichende Menge an Taschengeld Einhaltung kontrollieren müssen und die Kontrolle stär- verfügen. Es sei daher ebenfalls zu befürchten – so diese ker gefordert ist. Studie –, dass der Konsum dieser Getränke bei Jugendli- chen als sozial wirksames Statussymbol eingesetzt Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen: Ich war vor werde. 14 Tagen an einer Tankstelle. Während ich meine Tank- rechnung bezahlte, kam ein offensichtlich jugendlicher Wenn diese Ergebnisse zutreffen, ist eineBesteue- Kunde mit einem Alcopop-Sixpack in der Hand an die rung der Alcopops kein geeignetes Mittel, um bei Ju- Kasse. Die Dame an der Kasse fragte ihn: Bist du schon gendlichen einen veränderten Umgang mit Alkohol zu 18? Daraufhin fuhr der Jugendliche die Verkäuferin an: bewirken, im Gegenteil. Ich befürchte, dass dadurch die Wie könne sie sich überhaupt erlauben, ihn zu fragen, ob Alcopops für Jugendliche interessanter werden. er schon 18 sei. Er könne selber entscheiden, was er trin- Wir meinen – das haben wir ausgeführt –: Wir brau- ken dürfe. chen andere Instrumente bzw. müssen vorhandene In- (Detlef Parr [FDP]: Was beweist das denn?) strumente – die es ja gibt – vernünftig anwenden. Wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9791

Ursula Heinen (A) haben ein Jugendschutzgesetz, das die Abgabe von Ursula Heinen (CDU/CSU): (C) branntweinhaltigem Alkohol an unter 18-Jährige verbie- Wenn Sie es mit dem Jugendschutz tatsächlich ernst tet. Warum aber steht das nicht an erster Stelle der Dis- meinen, dann kann ich Ihnen nur raten, Ihren Entschlie- kussion? Die Einführung einer Alcopopsteuer ist doch ßungsantrag heute wieder von der Tagesordnung zu neh- die Kapitulation des Gesetzgebers vor der Durchset-men und nicht darüber abstimmen zu lassen; zungskraft seiner eigenen Gesetze! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der FDP) Diese Kapitulation geben Sie ja in einer in der Be-denn darin steht das glatte Gegenteil von dem, was Sie schlussempfehlung erwähnten Entschließung – Fraugerade behauptet haben. Ich möchte gerne einmal wis- sen, was Sie meinen, wenn Sie dort schreiben: Jugend- Teuchner hat es gerade noch einmal erwähnt – zu. Ich zi- schutz greift nicht. tiere den ersten Satz des zweiten Absatzes in der Ent- schließung: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Nennen Sie doch mal Bei- Das Jugendschutzgesetz greift bei Alcopops nicht. spiele!) Warum denn nicht? So einfach dürfen Sie es sich nicht – Ich hatte Beispiele erwähnt, unter anderem das aus machen. Wenn bestehende Gesetze nicht wirken, müssen Köln. sie verändert oder abgeschafft werden. Einfach nur zu sagen, ein Gesetz wirkt nicht, ist doch wirklich nicht der Aber es gibt noch weitere: In Neumarkt, in Bayern, hat sich ein Festwirt entschlossen, gar keine Alcopops richtige Weg. Es ist ein Zeichen Ihrer Hilflosigkeit. auszuschenken. Das scheint in Bayern um sich zu grei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fen. Denn meine Kollegin Kaupa, unsere Drogenbeauf- tragte, hat mir gerade erzählt, dass sich auch in Passau Wir haben deutlich gemacht, welche Maßnahmen wir ein Tankstellenpächter entschieden hat, gar keine Alco- verfolgen. An erster Stelle stehen die Durchsetzung und pops mehr zu verkaufen, weil ihm die Regelungen der die Anwendung des Jugendschutzgesetzes. Das Kölner Abgabe zu kompliziert sind. Beispiel aus dem Karneval, bei dem über 100 Jugendliche erwischt worden sind und sogar Kioske (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Simone über die umsatzstarken Karnevaltage geschlossen wur- Violka [SPD]: Super! Genau!) den, hat gezeigt, dass es geht. In Sindelfingen hat die örtliche Polizei bei Schülern, (Beifall bei der CDU/CSU) Eltern, Lehrern und Herstellern eine Präventionskampa- (B) gne durchgeführt. Dazu hat es mittlerweile von Polizei- (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dienststellen aus dem gesamten Bundesgebiet über Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des 100 Anfragen gegeben. Diese Beispiele zeigen, wie man Kollegen Schaaf? vorgehen könnte und wie unsinnig letztlich Ihre Behaup- tung ist, dass der Jugendschutz nicht greift. Man muss ihn nur greifen lassen. Man muss ihn wollen und auch Ursula Heinen (CDU/CSU): anwenden. Ja. Lassen Sie mich noch auf ein Problem zu sprechen kommen, das hier schon angesprochen worden ist, das Anton Schaaf (SPD): durch die Steuer aber überhaupt nicht gelöst wird. Sehr geehrte Frau Kollegin Heinen, würden Sie bitte (Unruhe bei der SPD) freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass es – das hat auch die Frau Kollegin Fischbach eben angemahnt – – Es wäre schön, wenn Sie zuhören würden; denn ich sich bei uns nicht um ein Entweder-oder handelt, also glaube, es gibt noch zusätzliche Möglichkeiten, etwas zu entweder Jugendschutzgesetz oder Steuer, sondern um tun. Dann merken Sie vielleicht auch, dass die Steuer ein Sowohl-als-auch? nicht der richtige Weg ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Problem, das nicht gelöst ist, besteht im Erfin- dungsreichtum bzw. – neudeutsch formuliert – in der In- Würden Sie uns bitte erklären, was für die Betroffenen novationsfähigkeit von Jugendlichen und Industrie glei- – für diejenigen, die wir durch den Jugendschutz schüt- chermaßen. Auch die Anhörung hat ganz deutlich zen wollen – daran schädlich ist, wenn wir die Mehrein- ergeben, dass sich Jugendliche ihre Getränke häufig sel- nahmen aus der Steuer einsetzen, um junge Menschen ber mixen. Zum Beispiel mixen sie in Schnullerflaschen davor zu bewahren, zu Alkohol zu greifen und alkohol- Amaretto mit Orangensaft oder ähnliche Kombinationen. abhängig zu werden? Würden Sie uns freundlicherweise Aber es gibt auch schon erste Belege für die Ideen- erklären, wodurch dieses Gesetz den jungen Menschen, vielfalt der Getränkeindustrie bzw. der Hersteller, die wir schützen wollen, schadet? (Zuruf von der SPD: Lobbyisten!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie müssen das beispielsweise durch eine Änderung der Zutaten. durchbringen, damit Sie Ihre Prävention be- (Zuruf von der SPD: Wodka durch Rum zahlen können!) ersetzen, oder was?) 9792 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Ursula Heinen (A) „Malternatives“ heißt das Zauberwort. Gemeint ist das eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung (C) Verfahren, aus Malz nicht gebrannten Alkohol herzustel- des Schutzes junger Menschen vor Gefahren des Alko- len. In den USA sind diese Drinks schon gang und gäbe. hol- und Tabakkonsums, Drucksache 15/2587. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Produkte infolge Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- der Alcopopsteuer auch bei uns auf den Markt kommen. schlussempfehlung auf Drucksache 15/3084, den Ge- Andere Produkte sind „Mudshakes“, Milchmixge-setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich tränke mit – man höre – Wodka, die aus Neuseelandbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- kommen. Bisher gibt es die Geschmacksrichtungenschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Schokolade, Karamell und Eiskaffee. Wegen ihres hohen chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- Milchgehalts unterliegen diese Produkte bei uns noch setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- nicht einmal der Pfandpflicht. Es wird also in die eine men der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU Tasche das gegeben, was aus der anderen Tasche genom- und der FDP angenommen. men wurde. Dritte Beratung (Heiterkeit des Abg. Andreas Scheuer und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem [CDU/CSU]) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Was ist das Fazit? – Das Gesetz wird den Alkohol- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- konsum von Jugendlichen nicht eindämmen, sondern ihn wurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim- wahrscheinlich auf andere Produkte lenken, wie es auch men der CDU/CSU und der FDP angenommen. in Frankreich infolge der Einführung der ersten Alco- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf popsteuer geschehen ist. Das hat auch eine repräsenta- Drucksache 15/3084 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- tive Forsa-Umfrage ergeben, bei der 700 junge Men-schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- schen zwischen 14 und 20 Jahren befragt wurden: Über schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – 63 Prozent der Befragten würden bei einer Sondersteuer Die Beschlussempfehlung ist mit demselben Stimmen- auf Alcopops andere alkoholische Getränke konsumie- verhältnis angenommen. ren. Über 39 Prozent der Befragten würden bei einer Tagesordnungspunkt 5 b. Beschlussempfehlung des Alcopopsondersteuer Bier- und Biermischgetränke trin- Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ken. Nur 5 Prozent der Befragten zwischen 14 und auf Drucksache 15/3085. Der Ausschuss empfiehlt unter 17 Jahren würden bei einer Sondersteuer gar nichts mehr Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des trinken. Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Druck- sache 15/2646 mit dem Titel: „Verbesserung der Maß- (B) (Florian Pronold [SPD]: Na, immerhin! – Wei- (D) terer Zuruf von der SPD: Gar nichts mehr? nahmen zum Schutze der Kinder und Jugendlichen vor Das ist aber auch nicht gut!) Alkoholsucht“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenprobe? – Enthaltungen? – Die Beschluss- Ihre Antwort darauf – man muss Ihren Text ja auch wei- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die ter lesen – besteht darin, die Steuer auf Alcopops auf an- Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP ange- dere Produkte auszudehnen. nommen. Meine Damen und Herren, das ist nicht der richtige Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Weg. Lassen Sie uns an die Wurzel des Problems gehen, der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion das Jugendschutzgesetz besser anwenden, vor allem aber der FDP auf Drucksache 15/2619 mit dem Titel: „Besse- auch bestehende Straf- und Bußgeldvorschriften durch- rer Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Miss- setzen. Kapitulieren Sie nicht; die Steuer hilft höchstens brauch von Alcopops und anderen alkoholischen Ready- kurzfristig. To-Drink-Getränken“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- Ich bin mir sicher: Wenn Sie im nächsten Jahr Ihren schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition Bericht über die Marktentwicklung von Alcopops und gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/ vergleichbaren Getränken vorlegen, werden wir sehen, CSU angenommen. welche Verschiebungen oder sogar Intensivierungen des Konsums es gegeben hat. Lassen Sie uns den Alkohol- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie konsum von Jugendlichen wirksam bekämpfen! Lassen die Zusatzpunkte 3 und 4 auf: Sie uns die bestehenden Gesetze anwenden und nicht 6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Axel E. ständig neue erfinden! Fischer (Karlsruhe-Land), Katherina Reiche, Danke. Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Nanotechnologische Forschung und Anwen- dungen in Deutschland stärken Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Drucksache 15/2650 – Ich schließe die Aussprache. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Wir kommen zur Abstimmung über den von den Technikfolgenabschätzung (f) Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9793

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (C) Landwirtschaft gin Ulla Burchardt, SPD-Fraktion. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ulla Burchardt (SPD): Haushaltsausschuss Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Herren! Wer sich dem Nanokosmos nähert, der Welt die- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ses fast unvorstellbar Kleinen, muss einfach fasziniert (17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- sein – mir zumindest geht das so. Wovon reden wir? Wie nung klein ist diese Dimension? Um der Vorstellung auf die Sprünge zu helfen, finde ich, nützt mehr als Zahlen ein Technikfolgenabschätzung illustrierender Vergleich des Nanoforschers Heckl. Er hier: TA-Projekt – Nanotechnologie hat beschrieben: – Drucksache 15/2713 – … ein Nanoteilchen verhält sich … zu einem Fuß- Überweisungsvorschlag: ball wie ein Fußball zur Erdkugel. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Experten prognostizieren: Die Nanotechnologie wird Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit in den nächsten zehn bis 20 Jahren die nächste industri- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und elle Revolution hervorbringen und sie wird unser Leben Landwirtschaft Verteidigungsausschuss mehr verändern, als es die Mikroelektronik bislang ver- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung mocht hat, die uns den PC, das Internet und andere Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Dinge gebracht hat. Das wird plausibel, wenn man sich Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vorstellt, dass mit Hilfe der Nanotechnologie zum Bei- ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ullaspiel Millionen von Bitsan Information auf einem Burchardt, Jörg Tauss, Rainer Arnold, weiterer Stecknadelkopf unterzubringen sein werden oder bei Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie Produkten so extreme Einsparungen an Rohstoff, Ge- der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Grietje Bettin, wicht und Material möglich sind, dass die ökologische Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und Effizienzrevolution in greifbare Nähe rückt. Maßge- der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- schneiderte Medikamente oder gar die direkte Behand- NEN lung kranker Zellen könnten möglich werden. Aufbruch in den Nanokosmos – Chancen nut- Doch bei aller Faszination plädiere ich sehr dafür, auf zen, Risiken abschätzen dem Boden der Tatsachen zu bleiben: Viele Anwendun- (B) gen befinden sich noch im Reich der Ideen. Und wie je- (D) – Drucksache 15/3051 – der technische Fortschritt ist auch der nanotechnologi- Überweisungsvorschlag: sche janusköpfig: Unerwünschte Folgen für Umwelt und Ausschuss für Bildung, Forschung und Gesundheit sind möglich, sie sind bislang weitgehend Technikfolgenabschätzung (f) unerforscht. Experten der Bundeswehr befürchten schon Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit jetzt neue Risiken für die internationale Sicherheit, etwa Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft das In-Gang-Setzen einerneuen Rüstungsspirale und Verteidigungsausschuss eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen militärischen Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Erstschlag. Das alles haben interessierte Leserinnen und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Leser schon im letzten Jahr in der „Welt“ nachlesen kön- ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike nen. Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann Angesichts der wirtschaftlichen Potenziale der Nano- (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Frak- technologie, vor allen Dingen aber wegen ihrer weit rei- tion der FDP chenden Wirkungen auf das individuelle wie soziale Le- Forschung und Entwicklung in der Nanotech- ben halten wir von der SPD-Bundestagsfraktion und von nologie voranbringen der Koalition insgesamt eine breite gesellschaftliche De- batte für absolut überfällig. – Drucksache 15/3074 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Überweisungsvorschlag: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Wir sagen: Nanotechnologie muss raus aus den reinen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Expertenzirkeln. Deswegen haben wir SPD-Forschungs- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft politiker zusammen mit unseren Kollegen aus den Berei- Verteidigungsausschuss chen Wirtschaft, Umwelt, Sicherheit, Verbraucherpolitik Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung und anderen relevanten Arbeitsgruppen einen Antrag er- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen arbeitet und eingebracht. Wir knüpfen in der SPD-Bun- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit destagsfraktion sozusagen ein Nanonetzwerk Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Ulrike Flach [FDP]: So klein?) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. und werden die Entwicklung kontinuierlich begleiten. 9794 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Ulla Burchardt (A) Der Deutsche Bundestag hat sich gut beraten lassen: Angesichts dessen dürfte eigentlich auch die Opposi- (C) Vor drei Jahren hat der Forschungsausschuss beim Büro tion kein Haar in der Suppefinden. Aber sie findet es, für Technikfolgenabschätzung die erste umfassende sys- indem sie einen Vergleich der Höhe der Fördermittel in tematische Bestandsaufnahme in Auftrag gegeben. Das der Bundesrepublik und den USA konstruiert. Ich sage Ergebnis liegt vor. Die TAB-Studie stellt in hervorragen- Ihnen: Das ist unseriös. Seriös wäre ein solcher Ver- der Weise dar, was Nanotechnologie ist, kann und mög- gleich, wenn man ihn zwischen EU und USA anstellen lich machen könnte. Sie gibt einen Überblick über aktu- würde. Dann würde man feststellen, dass EU und USA elle und potenzielle Anwendungen in wichtigen Feldern gleichauf liegen. In Europa hat Deutschland den größten wie Medizin, Energienutzung, Rüstung sowie in allen re- Anteil an Fördermitteln. levanten Branchen im Lowtech- und Hightechbereich. Sie stellt die Forschungs-und Entwicklungsaktivitäten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Deutschlands im internationalen Vergleich ebenso dar BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wie den Stand der öffentlichen Debatte, die in anderen Alles in allem: Wir reden also nicht nur von Innovations- Ländern längst begonnen hat. Sie setzt sich – das ist ganz förderung, wir betreiben sie, und das ausgesprochen er- wichtig, um der Nanotechnologie wirklich zum Durch- folgreich. bruch zu verhelfen – mit den Heils- und Horrorvisionen auseinander, die durch die Gegend geistern. Sie liefert Mit dem neuen Rahmenkonzept „Nanotechnologie eine rationale Bewertung der Chancen ebenso wie der erobert Märkte“ hat das BMBF die weitere nationale Risiken und sie identifiziert den weiteren politischenStrategie abgesteckt. Diese begrüßen wir ausdrücklich. Handlungsbedarf. Die Grundlagenforschung ist exzellent. Das muss so (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bleiben. Nun kommt es darauf an, Anwendungen und DIE GRÜNEN) damit Markt- und Beschäftigungspotenziale durch For- schungskooperationen entlang von Wertschöpfungsket- Als wir vom Forschungsausschuss im Herbst letzten ten weiter zu erschließen.Leitinnovationen sind der Jahres diese Studie präsentiert haben, haben alle Fraktio- richtige Ansatz. Richtig ist auch – auch das ist in dem nen dieses Hauses gesagt, das sei eine prima Sache, und Konzept vorgesehen – eine Aktion zur Stärkung des Mit- die Studie für ihre Ausgewogenheit gelobt. Wenn ich mir telstandes und junge Unternehmen sowie Unterneh- aber nun die Anträge von Union und FDP ansehe, dann mensneugründungen zu fördern. finde ich es erstaunlich, wie selektiv die FDP mit den Handlungsempfehlungen umgeht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: So sind die!) (B) In dem Rahmenkonzept steht noch viel mehr. Ich(D) Zum Antrag der CDU/CSU muss ich sagen: Liebe Kol- werde mich auf diese kurzen Anmerkungen beschrän- leginnen und Kollegen, Sie fallen weit hinter den wis- ken. Weiteres wird die Ministerin im Verlauf der Debatte senschaftlichen Erkenntnisstand zurück. deutlich machen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Klar ist: Eine Strategie, die nur die Wirtschaft im Blick hat, reicht nicht zur Förderung von Innovationen Wir von der Koalition greifen dagegen die Empfehlun- aus. gen der TAB-Studie in allen Teilen auf. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Diese Studie hat der Forschungs- und Förderpolitik BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Bundesregierung ein exzellentes Zeugnis ausgestellt. Mit Blick auf die Anträge der Opposition: Sie bleiben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit Ihren Forderungen auf halbem Wege stecken, weil DIE GRÜNEN) Sie auf einem Auge blind sind. Quintessenz des internationalen Vergleichs: Deutschland ist hervorragend aufgestellt – weltweit Rang drei bei den Für uns sind die Bürger nicht nur Wirtschaftsobjekte Publikationen und Rang zwei bei den Patentanmeldun- und die Gesellschaft ist mehr als die Wirtschaft. Wir gen; in Europa sind wir sogar Nummer eins, auch was wollen den gesellschaftlichen Aufbruch in den Nanokos- die Zahl der Firmen mit Bezug zur Nanotechnologie an- mos und die Chancen des nanotechnologischen Fort- geht. schritts im Interesse der Menschen nutzen – für mehr Le- bensqualität, Gesundheit, eine intakte Umwelt und die Entscheidend für diese starke Position ist dieFor- persönliche Freiheit. Dies ist ein fundamentaler Unter- schungsförderung durch Rot-Grün. Dazu drei Kennda- schied zu Ihnen. ten: Die Höhe der Projektmittel wurde seit 1998 vervier- facht. Die öffentliche Förderung ist in Deutschland (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ höher als in den anderen EU-Staaten zusammen. Mit DIE GRÜNEN) dem strategischen Aufbau von Infrastruktur – ich nenne Nun ist die Zeit der Weichenstellungen gekommen, nur das Stichwort Kompetenzzentren – wurde bereits um zu zeigen, in welche Richtung die Entwicklung geht. zwei Jahre vor den USA begonnen. Wir wollen eine nachhaltige Entwicklung und haben die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des unterschiedlichen Ansatzpunkte in unserem Antrag auf- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gelistet. Ich greife vier Bereiche heraus: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9795

Ulla Burchardt (A) Erstens, Bildung und Ausbildung. Wir gehen davon Ulla Burchardt (SPD): (C) aus, dass die Nanotechnologie das gesamte Bildungswe- Wir meinen, dass wir nicht unbedingt ein Gesetz ha- sen – angefangen beim Schulunterricht über die Erstaus- ben müssen. Der öffentliche Dialog ist aber essenziell. bildung und das Studium an den Universitäten bis hin Der Bundestag wäre gut beraten, hierbei eine aktive zur Weiterbildung – vor völlig neue Herausforderungen Rolle zu spielen. stellt. Hier ist nicht nur das Bundesministerium für Bil- Ich komme zum Schluss. Regierung und Koalition dung und Forschung gefragt, dessen Rahmenkonzept im haben die nächste Stufe auf dem Weg zur Eroberung des Übrigen auch flankierende bildungspolitische Aktivitä- Nanokosmos gezündet. Wir laden Sie ganz herzlich ein, ten enthält. Im bildungspolitischen Teil des Antrags der mit an Bord zu kommen. CDU/CSU kommt jedoch ein Bildungszentralismus zum Ausdruck, angesichts dessen die Länder, insbesondere (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die unionsregierten Länder, eigentlich ganz laut auf- DIE GRÜNEN) schreien müssten. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das Wort hat der Kollege , CDU/CSU- Fraktion. Wir dagegen respektieren den Bildungsföderalismus. Deswegen fordern wir eine gemeinsame Bildungsinitia- (Beifall bei der CDU/CSU) tive von Bund und Ländern. Hierbei sehen wir uns vom FDP-Antrag unterstützt. Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweitens, Überprüfung des Rechtsrahmens. Eine Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben von systematische Überprüfung ist notwendig, um alle Chan- der SPD-Kollegin Burchardt eben das gehört, was wir cen zu nutzen und um Risiken vorzubeugen. Deswegen erwartet haben, nämlich eine Lobeshymne auf die SPD- möchten wir, dass die Bundesregierung dem Bundestag Ministerin. Außer dem Lob für die eigene Regierung je- im nächsten Herbst einen Bericht vorlegt, sodass dasdoch kam nicht viel herüber. Frau Burchardt, wir werden Parlament frühzeitig über den etwaigen Handlungs- und uns in dieser Debatte und auch in der zweiten und dritten Reformbedarf beraten kann. Lesung inhaltlich noch einmal über die Anträge unter- Drittens, Rüstungskontrolle. Sicherheitsrelevante halten. Entwicklungen der Nanotechnologie müssen verstärkt Ich möchte die Gelegenheit nutzen, dieses gesamte Gegenstand der internationalen Forschungskooperation Feld in einen allgemeinen Kontext zu stellen und einen (B) und der internationalen Politik werden. Im Übrigen zu Überblick darüber zu geben, in welchem Rahmen wir(D) dem, was im im FDP-Antrag steht: Ein Missbrauchhier diskutieren: Die wirtschaftliche Entwicklung in un- durch Staaten ist eher wahrscheinlich als durch Terroris- serem Lande lahmt, die Arbeitslosigkeit steigt immer ten. Deswegen muss dieNanotechnologie Bestandteil weiter an, unser Sozialstaat wird seit Jahren nur noch auf von Rüstungskontrollverhandlungen werden. Pump aufrechterhalten, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ( [SPD]: Immer die alte Leier, egal, DIE GRÜNEN) worüber wir hier reden!) Viertens, öffentliche Information und Diskussion über Deutschland erfüllt seit Jahren die Maastricht-Kriterien Chancen und Risiken. Es ist nun wirklich eine Binsen- nicht mehr, der Verkauf der Goldreserven als letzter Re- weisheit, dass Technikakzeptanz die essenzielle Voraus- serve soll von der sinkenden Kreditwürdigkeit unseres setzung für Innovationen ist. Sie lässt sich nicht staatlich Landes ablenken, verordnen. Deswegen wollen wir allgemein zugängliche und gut verständliche Informationen für alle Bürger und (Jörg Tauss [SPD]: Er hatte gestern Geburts- einen Dialog zwischen Wissenschaftlern, Unternehmen tag! Lassen wir ihn also!) sowie Bürgerinnen und Bürgern. Das ist ebenfalls ein die Mittel für Investitionen im Bundeshaushalt sind ge- Stück Innovation und ein wichtiger Impuls für das de- ringer als die Neuverschuldung und die Bundesregierung mokratische Gemeinwesen. verweigert sich weiterhin hartnäckig, notwendige Refor- men zum Wohle der Menschen im Lande anzugehen. Wer jetzt wieder sagt, das sei eine rot-grüne Speziali- tät, dem antworte ich: Schauen Sie über den nationalen (Ulrich Kasparick [SPD]: Falsch!) Tellerrand hinaus in die USA. Der amerikanische Senat All Ihre Versuche, eine dynamische Wirtschaftsent- hat schon vor einem Jahr öffentliche Anhörungen zu die- wicklung herbeizureden oder durch planwirtschaftliche sem Thema durchgeführt, sowohl mit Kritikern als auch Eingriffe in die Marktwirtschaft künstlich zu erzeugen, mit Protagonisten. Dabei ist ein Gesetz herausgekom- sind fehlgeschlagen. Der Erhalt überkommener Struktu- men, welches vorgibt, dass gesellschaftliche, ethische ren durch Rot-Grün mit hohen Kosten für die Allgemein- und Umweltbelange von Forschern wie der Politik be- heit verhindert jede wirtschaftliche und gesellschaftliche rücksichtigt werden müssen. Entwicklung zum Besseren. Was bleibt, sind weithin sichtbare Investitionsruinen und ist in volkswirtschaft- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lich schädlichen Konjunkturprogrammen verbranntes Frau Kollegin! Geld, das für ertragreiche Zukunftsinvestitionen fehlt. 9796 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) Im Forschungshaushalt fehlt das Geld an allen Ecken (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) und Enden. Da werden reihenweise zukunftsträchtige des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu- Programme gekürzt. In den Universitäten und bei Groß- rufe von der SPD: Ah! – Weiterer Zuruf von forschungseinrichtungen muss Personal abgebaut wer- der SPD: Er kommt zum Thema) den, während an anderen Stellen Gelder in sinnlose Ver- wendungen gelenkt werden. Gleichzeitig verliert auch Der Bericht des Büros für Technikfolgenabschät- der Mittelstand, der unter den Gesichtspunkten der öko- zung beim Deutschen Bundestag zur Nanotechnologie nomischen Dynamik, der Innovationsfähigkeit, der Of- zeigt viele Chancen auf, diejetzt und in naher Zukunft fenheit für Neuerungen, aber auch der Schaffung vonim Zuge der Anwendung und Verbreitung der Nanotech- Arbeitsplätzen und sozialen Stabilisierung so wichtig ist, nik von und zum Wohle der Menschen hier im Land er- immer mehr an Bedeutung. griffen werden müssen. Neue Ideen und neue Initiativen für neue Produkte sollen breite Anwendungsfelder er- Unter den Lasten einer überregulierten Bürokratie schließen. Es besteht die Hoffnung, dass mit der Nano- und der erdrückenden sozialen Pflichten schwindet das technik die wirtschaftliche Lethargie in unserem Land heutige und auch zukünftig nutzbare wirtschaftliche Po- überwunden werden kann, dass mit der Nanotechnik ein tenzial immer weiter. Weg zurück zu wirtschaftlichem Wachstum, für mehr Arbeitsplätze und weiter steigendem Wohlstand in (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Jörg Deutschland eingeschlagen werden kann. Tauss [SPD]: Bei welchem Thema sind Sie ge- rade?) (Beifall bei der CDU/CSU) Es kann wirklich nicht verwundern, wenn sich vielerorts Der Standort Deutschland ist im Bereich der Nano- – beileibe nicht nur in den neuen Bundesländern – Per- technologieforschung derzeit international auf höchstem spektivlosigkeit breit gemacht hat. Niveau. Zahlen zum Publikationsaufkommen und die Anzahl der Patentanmeldungen belegen dies. Allerdings (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ist Ihnen das sind die jährlichen Wachstumsraten bei der Anzahl na- nicht selbst peinlich?) notechnologischer Patentanmeldungen in Deutschland eher unterdurchschnittlich. Dies weist auf Probleme bei Die ständig steigende Unsicherheit in der Bevölkerung der wirtschaftlichen Verwertung der vorliegenden For- über das, was kommt, ist in Deutschland mittlerweile auf schungsergebnisse hin. Zwar haben einige nanotechno- breiter Front in ein Klima starker Beunruhigung und gro- logische Verfahren und Produkte ihren Weg in den ßer Ängste breiter Bevölkerungsschichten umgeschla- Markt bereits gefunden, jedoch kann von einer umfas- gen. senden Marktdurchdringung nicht gesprochen werden. (B) (D) Nicht nur bei Älteren hat sich längst Hoffnungslosig- Auch der anhaltende Mangel an Ingenieuren und Natur- keit breit gemacht. Große Teile der jungen Generation wissenschaftlern ist eine zunehmende Gefahr für sprechen unserem Land auf seinem jetzigen Kurs die Zu- Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der Na- kunftsfähigkeit ab. Viele, beileibe nicht nur geistig Min- notechnik. derbemittelte, Alte oder schlechter Qualifizierte, verlas- Die Nanotechnik ist Hoffnungsträger für den Mittel- sen ihre Heimat und suchen ihr persönliches stand und wie für die Industrie und soll auch ein Hoffnungs- berufliches Glück in anderen Ländern. träger für junge Unternehmer und Wissenschaftler wer- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Peinlich! – Ulla den. Es gilt jetzt, folgende Fragen zu beantworten: Kann Burchardt [SPD]: Thema verfehlt!) die Nanotechnik die in sie gesetzten Erwartungen mit Blick auf neue volks- und betriebswirtschaftlich rentable Die Abstimmung mit den Füßen über die Attraktivität Produkte und Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung unseres Landes als Lebens-, Wissenschafts- und Wirt- erfüllen? Kann der Hoffnungsträger den hoch gesteckten schaftsstandort ist in vollem Gange. Erwartungen halbwegs gerecht werden? Nicht zuletzt: Was müssen wir dafür tun, um Erfolg zu haben? (Jörg Tauss [SPD]: Wann wandern Sie aus? Tun Sie mir den Gefallen!) Die Antwort auf die letzte Frage ist einfach. Die Wei- chen in Deutschland sind so zu stellen, dass die hervor- Junge Forscher kehren dem Land ebenso wie viele junge ragenden Ergebnisse der nanotechnologischen Grundla- und auch ältere Unternehmer den Rücken. Die Rahmen- genforschung verstärkt in die Produktion marktfähiger bedingungen sind in anderen Ländern offenbar deutlich Produkte mit einer hohen Wertschöpfung im Inland ein- besser als bei uns zu Hause. münden. Deutschland muss in der Nanotechnologie möglichst bald auf breiter Front den Sprung von der For- Wenn wir saldieren, wer zu uns ins Land kommt und schung in die Anwendung hinein schaffen. Transferpro- wer geht, dann wird deutlich, in welche Richtung diese zesse – von den Erkenntnissen aus Forschung und Ent- Bundesregierung unser Land führt. In dieser Situation wicklung bis zur Vermarktung – müssen deutlich suchen die Menschen, die zurückgeblieben sind, nach schneller werden. Grundlage dafür ist die Verbesserung Orientierung und Halt. Viele setzen ihre Hoffnungen auf der Rahmenbedingungen für Forschung und Entwick- Zukunftstechniken, die viel versprechende, verheißungs- lung entlang der gesamten Prozesskette. volle Anwendungen prophezeien. Inwieweit sich diese Hoffnungen erfüllen, ist a priori offen. Ein solcher Hoff- Es ist vor diesem Hintergrund erfreulich, dass Sie, nungsträger ist heute eindeutig die Nanotechnologie. Frau Bulmahn, Anfang März des Jahres angekündigt ha- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9797

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) ben, eine Innovationsoffensive zur Nanotechnologie zu Erfolgen als Resultat der Forschung messen lassen und (C) starten. Angesichts der Bedeutung dieser Schlüsseltech- weniger an hypothetischen Abhandlungen über etwaig nologie ist eine strategische Förderung dieses Bereichs bestehende Aussichten auf solche Erfolge. überfällig. Es wäre schön gewesen, wenn die Bundesre- gierung auch ausreichend Geld zur Verfügung gestellt Um die wirtschaftlichen Potenziale aus der Erfor- hätte. Unerfreulich ist es daher, dass im Haushalt 2004 schung der Nanotechnologie für unser Land nutzbar zu Titel im Bereich der Nanoforschung gekürzt werden. machen, brauchen wir notwendig die wirtschaftliche Freiheit, diese Forschungsergebnisse rasch und gewinn- Über den Erfolg und Misserfolg der Entwicklung und bringend in marktfähige Produkte umzusetzen. Für inno- Markteinführung neuer Techniken entscheidet zumvative Branchen benötigen wir eine neue Politik, das Glück nicht nur das Ausmaßder verwendeten öffentli- heißt: höhere Priorität für Bildung und Forschung im chen und privaten Mittel. Mindestens genauso wichtig Bundeshaushalt und gezielte Förderung der Zusammen- für den Erfolg sind die sonstigen Rahmenbedingungen arbeit von Forschung und Unternehmen etwa durch eine für die Forscher an ihrenForschungseinrichtungen und Forschungsprämie für kleine und mittelständische Un- für die Unternehmer auf den entsprechenden Märkten ternehmen. für Güter und Dienstleistungen. Bekannt sind uns allen die Klagen über ein unerträgliches Übermaß an Bürokra- Es ist auf jeden Fall begrüßenswert, wenn die öffentli- tie in Deutschland. Das betrifft auch die Forschung.che Hand mehr Geld für Zukunftsinvestitionen erübrigt. Kontakte zwischen Ministerien und WissenschaftlernWichtiger ist aber, die unbürokratische Umsetzung dieses mögen das erfreulich hohe Erkenntnisinteresse der Be- Geldes in Ideen und Produkte zu gewährleisten. Gefordert amten befriedigen, den Nutzen für unser Land erzeugen sind neue, dynamische Elemente für eine dezentrale För- aber die Wissenschaftler mit ihrer Forschungsarbeit. Die derung wie zum Beispiel eine stärkere Unterstützung von Beschäftigung hoch qualifizierter Wissenschaftler mit Unternehmensausgründungen aus Hochschulen oder an- immer aufwendigeren Anträgen für Projektmittel und deren Forschungseinrichtungen. Ähnliches bringt sicherlich keinen zusätzlichen gesell- Wir müssen junge Wissenschaftler dabei unterstützen, schaftlichen Nutzen. Sie behindert die eigentlichen For- aus einer guten Idee ein Produkt zu machen. Wir müssen schungsaktivitäten und belastet zunehmend die Motiva- sie motivieren, in Deutschland entweder in der For- tion der Forscher. schung zu bleiben oder vermehrt als junge Hightech-Un- (Jörg Tauss [SPD]: Wie in den USA!) ternehmer Verantwortung für unser Land zu überneh- men. Wenn man von Wissenschaftlern hinter vorgehaltener Hand Äußerungen hört wie „Früher zählte das Erreichte, (Beifall bei der CDU/CSU) (B) heute reicht das Erzählte“, dann mag das als Ausdruck (D) Hochschulen und Forschungseinrichtungen könnten ide- leichter Verstimmung über das Vorgehen einer zentralis- ale Kristallisationspunkte für solche Unternehmensgrün- tischen Forschungsbürokratie vielleicht ein wenig pau- dungen sein. Das Wissen der seit 1998 arbeitenden schal sein. Es verdeutlicht aber die herrschende Stim- Kompetenzzentren Nanotechnologie sollte stärker ge- mung und lenkt das Augenmerk auf eine zentrale nutzt werden und insbesondere auch für kleine und mitt- Schwäche nicht nur unseres Forschungssystems: seine lere Unternehmen nutzbar gemacht werden. Langsamkeit. Der Zeitraum von der erfolgreichen Erfindung bis zur Die angeblich neue Nanotechnologiepolitik der Bun- Umsetzung in marktfähige Produkte ist in Deutschland desregierung beseitigt nicht die offensichtlichen Mängel deutlich länger als in anderen Ländern. Vielleicht führen fehlender Freiheit und grenzenloser Bürokratie im For- gerade die Bemühungen in Deutschland zur staatlichen schungs- wie im Wissenschaftsbereich. Sie erschöpft Feinsteuerung des Engagements Einzelner dazu, dasssich wieder in dem bekannt sozialistisch-erfolglosen, Erfolge ausbleiben und selbst viel versprechende Schlüs- zentralistisch-planwirtschaftlichen Ansatz. seltechniken mit öffentlichen Mitteln auf den Markt ge- (Jörg Tauss [SPD]: Oh! Das ist ja nicht zum bracht und teilweise dort noch gehalten werden müssen. Aushalten!) Wir brauchen eine tief greifende Entbürokratisierung Sie beschränken sich in Ihrer Offensive auf vier ver- der Forschungsförderung und eine Verlagerung dermeintlich zukunftsträchtige Anwendungsbereiche. Entscheidungskompetenz über die Mittelvergabe näher hin zu den Forschern selbst. Die zu Recht hoch gesteckten Erwartungen der Men- schen an die Entwicklung der Nanotechnik für den (Jörg Tauss [SPD]: So wie wir es gemacht haben!) Wohlstand in Deutschland werden jedenfalls mit dem Im Gegenzug müssen die Forscher dann auch einen Teil von Ihnen vorgelegten Programm nicht erfüllt. der Verantwortung für den Erfolg der Verwendung der (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Mittel übernehmen. Ulrike Flach (FDP) (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Ach? Das ist ja Bürokratie!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Bewertung des Mitteleinsatzes muss sich in der Das Wort hat der Kollege Hans-Josef Fell, Bünd- Grundlagenforschung wieder an den langfristigen realen nis 90/Die Grünen. 9798 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bedeutet das eine echte Chance auf preiswerte und um- (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen weltfreundliche neue Biokraftstoffe. und Kollegen! Herr Kollege Fischer, wenn Ihnen Ihre Ich fasse zusammen: Nanotechnologie ist eine wich- Fraktion schon keinen eigenen Redebeitrag tige zum Schlüsseltechnologie für eine schadstofffreie solare Schlechtreden der deutschen Wirtschaft zugesteht, dann Energie- und Stoffwirtschaft. Diese Chance wollen wir sollten Sie auch diese rschungsdebatte Fo nicht dazu in den Mittelpunkt rücken. missbrauchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD – Axel E. Fischer [Karlsruhe- Land] [CDU/CSU]: Das sind die Rahmenbe- Selbstverständlich werden wir dabei auch die notwen- dingungen!) digen Verbesserungen der Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Forschungsergebnisse in unternehmeri- Meine Vorrednerin Frau Burchardt hat – auch Sie ha- sches Handeln im Blick haben. Dazu gehören die Verbes- ben das zum Teil getan – bereits in vielfacher Hinsicht serung der steuerlichen Rahmenbedingungen, die Stär- auf die großen Chancen der Nanotechnologie hingewie- kung der Kette von der Grundlagenforschung bis zur sen. Auch wir Grünen sehen diese Chancen und wollen Anwendung und die Cluster- und Netzwerkbildung in der sie in großem Umfang nutzen, auch zugunsten einer er- Forschungslandschaft. Selbstverständlich werden wir uns folgreichen wirtschaftlichen Entwicklung. auch für Verbesserungen aufeuropäischer Ebene – bei- Die unter der rot-grünen Bundesregierung aufgebaute spielsweise im 7. Forschungsrahmenprogramm – einset- führende Rolle Deutschlandsin der Forschung und zen. Entwicklung der Nanotechnologie gilt es weiter zu stär- Meine sehr verehrten Damen und Herren von der ken. Union, wir freuen uns, dass auch Sie – zumindest teil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weise – die Chancen der Nanotechnologie erkennen und und bei der SPD) deren Nutzung unterstützenwollen. Ihr Antrag leidet aber unter einer blinden Technikgläubigkeit. Deswegen begrüßen wir, dass die Bundesregierung mit der Vorstellung des neuen Rahmenkonzeptes „Nanotech- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wenn der Vor- nologie erobert Märkte“ wichtige Schwerpunktsetzun- schlag von uns kommt, dann ist es Technik- gen vorgenommen hat. Es istrichtig, dass die Stärken gläubigkeit!) der deutschen Industrie in den Bereichen Automobilin- Sie weigern sich, mögliche Risiken in den Blick zu neh- (B) dustrie, optische Industrie, Pharma- und Medizintechnik men und bei aller Chancenorientiertheit zu minimieren. (D) sowie Elektronik mit der Nanotechnologie gestärkt wer- Es ist geradezu skandalös,dass Sie die in diesem Be- den und die Industriezweige dadurch neue Wettbewerbs- reich sachlich dargelegten wissenschaftlichen Erkennt- vorteile auf dem Weltmarkt bekommen. nisse des fundierten Berichtes des Büros für Technikfol- genabschätzung in Ihrem Antrag schlichtweg ignorieren. Wir müssen auch die anderen deutschen Spitzenbran- chen stärken, vor allem im Bereich der Umwelttechnologie, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Energietechnologie und Biotechnologie. Ich will einige und bei der SPD) Beispiele für das Innovationspotenzial der Nanotechno- logie in diesen Bereichen geben: Die FDP hat immerhin einige Hinweise darauf – aller- dings zu wenige – in ihrem Antrag gegeben und nimmt Bereits in der Anwendung befindliche chemischedas Thema ernst. Aber Sie, meine Damen und Herren Schichten als Ersatz für Anti-Fouling-Anstriche vonvon der Union, lernen offensichtlich nichts aus der Ver- Schiffen sind ein Beispiel für das Potenzial, welches die gangenheit. Ihre blinde Technikgläubigkeit bei der Nanotechnologie für eine giftfreie Chemie bietet. Atomtechnologie hat der Menschheit nicht aus ihren Energienöten herausgeholfen, sondern hat der Mensch- Durch über elektrische Felder beeinflussbare ober- heit zunehmende Probleme mit atomaren Massenver- flächliche Nanopartikel in Gläsern können Lichtstrahlen nichtungswaffen beschert. fokussiert, abgelenkt, durchgelassen oder abgeschattet werden. Die Anwendungen für drastische Kostensen- (Widerspruch bei der CDU/CSU) kungen im Bereich der Solarstromgewinnung oder der Das kommt auch in Ihrem Antrag zum Ausdruck. Statt der aktiven Lichtlenkung in Gebäuden lassen große, mittel- vom Büro für Technikfolgenabschätzung dargestellten fristig erschließbare Potenziale für erneuerbare Energien Gefahr der Herstellung neuer Massenvernichtungswaffen und Energieeinspartechnologien erwarten. mithilfe der Nanotechnologie zu begegnen, betonen Sie Nanoporöse Membrane bieten große Möglichkeiten geradezu skandalös die Nutzung der Nanotechnologie bei in der Abwasseraufbereitung, Trinkwassererzeugung,neuen Wehrtechnologien. Ich halte das für verfehlt. Schadstoffbeseitigung, für neue Hochleistungsbatterien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder Brennstoffzellentechnologie. Die Analyse der Foto- und bei der SPD) synthese kann durch Nanobiotechnologie hoch effiziente Verfahren zur Nutzung der Sonnenenergie ermöglichen, Rot-Grün – das kommt auch in unserem Antrag zum zum Beispiel für die Erzeugung neuer Biokraftstoffe. Ausdruck – nimmt im Gegensatz zu Ihnen die Verant- Angesichts der aktuellen Diskussion um den Benzinpreis wortung für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Umwelt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9799

Hans-Josef Fell (A) schutz ernst, im Einklang mit einer fundierten wissen- der Nanotechnologie weit vorn. Aber unsere Aufgabe ist (C) schaftlichen Entwicklung auf dem spannenden neuennatürlich, dass es auch so bleibt. Um diesen Punkt geht Feld der Nanotechnologie. es heute. Das Büro für Technikfolgenabschätzung hat dem Deut- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie schen Bundestag in seinem Bericht ausdrücklich empfoh- bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- len, Begleitforschung zur Beherrschung möglicher Risi- SES 90/DIE GRÜNEN) ken zu leisten. Wir wollen eineaktive Begleitforschung Ich sehe, dass Sie unseren jahrelangen Forderungen zur Erkennung und Prävention möglicher Risiken. Die nachgekommen sind und versuchen, eine integrierte Untersuchung der Fragen der Ökologie, der Ethik, des Strategie zu entwickeln. Leitinnovationen und eine För- Sozialen, der Friedenspolitik, des Verbraucherschutzes derstrategie von der Idee bis zum Produkt sind richtig. sowie des Gesundheitsschutzes wollen wir mit 5 Prozent Ich glaube, es gab keine Debatte in diesem Hause zu die- der zur Verfügung stehenden Forschungsmittel fördern. sem Thema, in der ich das nicht immer wieder betont Nur bei klarer Analyse und dem Ausschalten der Risiken habe. wird es eine problemlose Nutzung der Chancen geben. Herr Fischer, dies ist ein entscheidendes Fundament; Wir müssen die zahlreichen Anwendungen von Ma- denn damit haben wir die Chance, fehlgeleitete Entwick- terialien in Nanogröße – diese Bereiche reichen von der lungen, wie sie in der Vergangenheit beispielsweise im Medizin über die optischen Technologien bis zur Elek- Bereich der Gentechnologie und insbesondere der gen- tronik, zur Chemie und zu neuen Werkstoffen – vernetzt technisch veränderten Lebensmittel immer wieder auf- sehen. Daran müssen wir unsere Strategien natürlich getreten sind, zu vermeiden und die Unternehmen ent- ausrichten. sprechend zu schützen. Dies ist das entscheidende Fundament für das von uns gewollte starke und kontinu- Frau Bulmahn, Sie versuchen, dies mit einem ressort- ierliche Wachstum der Nanobranche. übergreifenden Programm zu tun, das leider nach wie vor – das muss ich sehr deutlich sagen – Nanogröße hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Dr. [SPD]: Also bitte! Unverschämtheit!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 290 Millionen Euro sind zwar kein Pappenstiel, liebe Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach, FDP-Frak- Kollegen von den Regierungsfraktionen; aber die USA tion. – Frau Burchardt, ich lasse nicht zu, dass Sie das einfach vom Tisch fegen – investieren allein im Jahr 2005 850 Millionen Euro, (B) Ulrike Flach (FDP): (D) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kollegen und Kolleginnen! Ich freue mich, dass inzwi- NEN]: Und jeden Tag 1,5 Milliarden Neuver- schen alle Fraktionen die große Bedeutung der Nano- schuldung!) technologie erkannt haben, und bin sehr froh, dass dies Japan investiert 800 Millionen Euro. Die Länder China nicht zuletzt auf einen Bericht des Büros für Technikfol- und Indien, deren Bevölkerungen immer weiter wach- genabschätzung zurückzuführen ist, für dessen Grün- sen, ziehen nach. dung der Anstoß aus den Reihen der FDP kam. Ich bin genauso froh, dass wir mit Rainer Brüderle jemanden in Wir spielen in der Weltliga. Es hat überhaupt keinen unseren Reihen haben, der als Wirtschaftsminister von Sinn, darauf hinzuweisen, dass wir uns mit diesen riesi- Rheinland-Pfalz Anfang der 90er-Jahre eines der ersten gen Technologieländern nicht vergleichen können. Auf Institute in diesem Bereich gründete. diese Konkurrenz müssen wir uns einstellen und daran müssen wir unsere Programme ausrichten. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Man sieht also: Die FDP hat die Chancen dieser Techno- logie erkannt. Wir begrüßen es, dass dies nunmehr offen- Frau Ministerin, Sie haben eine ganze Reihe von bar auch in den anderen Fraktionen der Fall ist. wunderschönen Programmen mit vielen schönen Na- men, vor allen Dingen was die Vorsilben angeht, verse- Wie so häufig ist Deutschland durch seine ausgezeich- hen. Mich ärgern die in Ihrem Ministerium offensicht- neten Wissenschaftler in der Grundlagenforschung der lich vorhandenen Neigungen, eine Art Umetikettierung Nanotechnologie weit vorn. Ich glaube, das ist auch un- vorzunehmen. Das, was früher „Mikro“ oder „Optik“ bestritten. Es war der Deutsche Gerd Binnig, der 1986 war, ist bei Ihnen heute „Nano“. Ich glaube, das wird uns mit seinem Schweizer Kollegen Heinrich Rohrer für die nicht weiterführen. Der Haushalt wächst in diesem Be- Entwicklung des Rastertunnelmikroskops den Nobel-reich nicht. Wir haben uns mit Ihnen erst gestern darüber preis erhielt. Diese Forscher haben uns die Welt desunterhalten. Sie sorgen dafür, dass alles schön sichtbar Nanokosmos eröffnet. Wir Deutsche gehören also zu den wird; aber etwas wirklich Neues und in die Zukunft Wei- Ersten, die sich mit diesem Gebiet beschäftigt haben.sendes ist Ihre „Nanokampagne“ leider eben nicht. Auch bei Publikationen und Patententwicklungen im Be- reich der Nanotechnologie sind wir weltweit auf hohem Außerdem sehe ich in Ihrem Antrag eine gefährliche Niveau. Ich sage ganz bewusst, Frau Bulmahn – es hat ja Entwicklung. Herr Fell, da bin ich einfach anderer Mei- keinen Sinn, alles klein zu reden –: Deutschland ist in nung als Sie und einige Kollegen aus der SPD-Fraktion. 9800 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Ulrike Flach (A) Wir wissen selbstverständlich, dass es in jedem Technik- Forschung und Entwicklung einen beispiellosen Raub- (C) bereich Gefahren gibt. bau betrieben. Zwischen 1992 und 1998 sind die Mittel für das – für unser Land so wichtige – Feld „Bildung und (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Forschung“ um umgerechnet 670 Millionen Euro ge- NEN]: Das ist ja neu für die FDP!) kürzt worden. Diese Bundesregierung hat die Mittel für Auch im Nanobereich wird es Gefahren geben. Darüber Bildung und Forschung seit 1999 um rund 1 Milliarde haben wir damals bei der Beratung des TAB-BerichtsEuro erhöht. diskutiert. Trotzdem vertreten wir die Auffassung, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir die Chance nutzen müssen. DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/ (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU]: Das meiste fließt in Beraterverträge! – NEN]: Das unterscheidet uns doch nicht!) Ulrike Flach [FDP]: Genau das hat mit „nano“ wenig zu tun!) Wir dürfen in die Diskussion in diesem Lande nicht er- neut verzögernde Elemente einfließen lassen. SolcheDas ist der grundlegende Unterschied zwischen Ihnen Elemente waren bei den Diskussionen über die Gentech- und uns. nik und über die Kerntechnik unser Problem. Es gab eine Ein zentrales Ziel der Innovationspolitik der Bun- große Anzahl von Bedenkenträgern, die sich bei jeder desregierung ist – damit will ich auf die Nanotechnolo- neuen Technologie zu Wort gemeldet haben und uns gie, unserem Hauptpunkt heute, zurückkommen –, nicht weitergebracht haben. Deutschland auf dem Gebiet der Hochtechnologie dauer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haft an der Weltspitze zu positionieren. Meine Sorge ist, dass sich die Bedenkenträger bei Ih- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen wieder durchsetzen und dass es erneut zur Bürokra- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tisierung kommt. Ich bin ziemlich sicher: Eine Reihe von Regulierungen wird auf uns zukommen. Ich be-In dem Maße, in dem es uns gelingt, die Chancen, die in fürchte, dass es zu endlosen Diskussionen in so genann- den technologischen Entwicklungen liegen, für die deut- ten Bürgerkonferenzen kommt, die zu ähnlich negativen sche Wirtschaft zu aktivieren, nutzen wir auch die Chan- Ergebnissen führen, wie wir es bei der Grünen Gentech- cen für unser Land für die Schaffung von Arbeitsplätzen nik eigentlich jeden Tag erleben. und für wirtschaftliches Wachstum; denn die Fähigkeit zu Innovationen, insbesondere im Bereich neuer Tech- Für die FDP heißt Nanotechnologie natürlich auch die nologien wie der Nanotechnologie, wird zudem Diffe- Berücksichtigung eventuell negativer Auswirkungen. renzierungsmerkmal hoch entwickelter Volkswirtschaf- (B) Das ist keine Frage; das müssen wir mit großem Ernst ten. Deshalb haben wir die Innovationsoffensive(D) sagen. Aber wir stehen für die Chancen dieser Technolo- gestartet, mit der wir die Potenziale der wichtigen gie; denn wir stehen dafür, dass in diesem Land durch Schlüsseltechnologien für unser Land erschließen wol- neue Technologien Arbeitsplätze geschaffen werden und len. dass es vorankommt. Lassen Sie uns bitte alle gemein- sam dafür arbeiten! Wir haben heute einen ersten, sehr Das BMBF-Rahmenkonzept „Nanotechnologie er- wichtigen Schritt in dieses neue Feld getan. obert Märkte“ steht beispielhaft dafür, wie wir die In- novationskraft des Standorts Deutschland stärken wol- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) len, und zwar in Partnerschaft – ich sage das ausdrücklich – mit Wissenschaft und Wirtschaft. Die Na- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: notechnologie ist eine der Schlüsseltechnologien, der Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und Basistechnologien, die viele neue Wachstumsfelder er- Forschung, Edelgard Bulmahn. schließt – die Kolleginnen und Kollegen haben darauf hingewiesen –, in vielen Branchen aber auch Wachs- tumstreiber ist. Bereits heute profitiert eine ganze Reihe Bundesministerin für Bildung Edelgard Bulmahn, von Branchen davon: die Chemie, die Automobilindus- und Forschung: trie, der Maschinenbau, die gesamte Sensorik, die Elek- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten tronik. Herren und Damen! Herr Fischer, als ich Ihren Worten gelauscht habe, blühte in mir die Hoffnung auf, dass die Der Wettlauf bei der Eroberung des Nanokosmos ist Nanotechnologie dazu verhilft, das Langzeitgedächtnis weltweit bereits in vollem Gange. Unsere Ausgangsposi- der Menschen zu reaktivieren tion ist gut. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und die Wahrnehmung zu verbessern. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Bundesministe- rium für Bildung und Forschung die herausragende Be- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da könnt ihr deutung dieser Schlüsseltechnologie sehr frühzeitig er- bei euch einmal anfangen! Das kann man kannt hat. Durch eine parallele Förderstrategie – durch schon mit Lesen machen!) die Förderung von Kompetenzzentren sozusagen als Ich komme auf den Rahmen zu sprechen, in dem das wichtigem Rückgrat für die nanotechnologische For- Ganze stattfindet. Die Regierung Kohl hat damals bei schung und durch die gleichzeitige Projektförderung, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9801

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) mit der wir auch immer wieder die Verbindung zwischen Der Aufbruch, der in der wachsenden Dynamik der(C) Forschung und Wirtschaft herstellen – haben wir wirk- Nanotechnologie sichtbar wird, ist geschafft. Jetzt lich einen Vorsprung gegenüber vielen anderen Ländern kommt es darauf an, das, was wir in der Forschung er- erreicht. Wir stehen in der Forschung mit den USA an reicht haben, weiter auszubauen und vor allen Dingen der Spitze. die Anwendungspotenziale für die am Standort Deutsch- land wichtigen Industriebranchen zu erschließen. Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollen nicht nur in der Forschung Nummer eins sein, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sondern wir wollen auch das Exportland Nummer eins Hinzu kommt, dass auch die auf die Nanotechnolo- für Nanoprodukte werden. Das ist die Zielsetzung unse- gieprodukte ausgerichteten Firmen an Anzahl und Re- res neuen Förderkonzepts. nommee deutlich zugelegt haben. Etwa die Hälfte der in Europa ansässigen Firmen in diesem Bereich stammt aus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland. Bei den Patentanmeldungen liegen wir DIE GRÜNEN) weltweit auf Platz zwei – hinter den USA, aber vor Ja- Das von mir am 9. März vorgelegte Rahmenkonzept pan. Diese wirtschafts- und forschungspolitischen Er- „Nanotechnologie erobert Märkte“ bündelt die in den folge fußen auf der erfolgreichen Förderpolitik. einschlägigen Fachthemen geförderten Aspekte der Na- Wir investieren in Deutschland jährlich notechnologie rund zu einer nationalen Gesamtstrategie und 300 Millionen Euro an öffentlichen Fördermitteln in die macht damit auch deren kritische Masse sichtbar. Nanotechnologie. Das sind 40 Prozent der gesamten In- Entscheidende Elemente unseres Konzeptes sind an vestitionen in diesen Forschungsbereich in Europa. Ich der wirtschaftlichen Wertschöpfungskette ausgerichtete sage ausdrücklich: Europa gibt für diesen Technologie- Leitinnovationen. Ich denke, wir Forschungspolitiker bereich wirklich nur unwesentlich weniger aus als die sind uns einig, dass das der richtige Weg ist, weil wir bei hoch gelobten USA. Ich nehme einmal Ihren Vergleich Leitinnovationen schon bei der Forschung Umsetzung, auf, Frau Flach. Die USA haben dreimal so viel Bevöl- Anwendung und Marketing berücksichtigen. In enger kerung wie Deutschland. Wir geben 300 Millionen Euro Abstimmung mit Wirtschaft und Wissenschaft haben wir aus. Die USA geben 850 Millionen Euro aus. Das liegt vier Leitinnovationen entwickelt: die Leitinnovation also auf dem gleichen Niveau, wenn wir das zu unserer Nano-Fab mit einem Schwerpunkt auf der Elektronikfa- Bevölkerungszahl ins Verhältnis setzen. brikation, die Leitinnovation Nano-Lux für Licht- und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ optische Technologien, die Leitinnovation Nano-Mobil DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Das – dieser Begriff ist selbsterklärend – und die Leitinnova- nützt uns nur nichts, Frau Bulmahn! – Gegen- tion Nano-for-Life. Das sind die vier wichtigen Leitin- (B) (D) ruf des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Da sind novationen. Ebenfalls Bestandteil des Rahmenkonzeptes Sie flach!) ist die Unterstützung der kleinen und mittleren Unter- nehmen. Darauf hat Frau Burchardt schon hingewiesen. Da muss man schon die richtigen Relationen sehen und das wissen Sie auch. Ich kenne Sie lange genug, um zu Ich bin davon überzeugt, dass wir damit wirklich die wissen, dass Sie das richtig einschätzen können. Grundlage dafür gelegt haben, dass wir auch in der An- wendung, in der Produktion und im Export so erfolg- (Ulrike Flach [FDP]: Wir beide wären froher, reich sein werden, wie wir es in der Forschung schon wenn Sie mehr hätten, Frau Bulmahn!) sind. Für diese Bundesregierung – das sage ich ausdrück- Vielen Dank. lich – hat die Nanotechnologie Priorität. Das macht auch der Anstieg bei der Projektförderung für die Nanotech- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nologie deutlich. Da kann keine Rede von Kürzungen DIE GRÜNEN) sein; im Gegenteil: Wir haben die Mittel trotz der ange- spannten Haushaltslage seit 1998 mehr als vervierfacht, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Mayer, CDU/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) CSU-Fraktion. nämlich von damals 27,6 Millionen Euro auf inzwischen (Beifall bei der CDU/CSU) 123,8 Millionen Euro. Die institutionelle Förderung kommt, wie gesagt, immer noch dazu. Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU): Wir werden auch im Haushalt 2005 einen Schwer- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn punkt auf die Nanotechnologie setzen. Das heißt, wirman einmal von der üblichen Polemik der Bundesminis- werden die Mittel auch weiterhin erhöhen, um die gute terin gegenüber der Union und der FDP und Ihren Propa- Position, die wir auf diesem Gebiet inzwischen erreicht gandareden absieht, haben, zu halten und auszubauen. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Fahren dann kann man wohl feststellen, dass es in der Frage der Sie denn dann woanders zurück? Was ist mit Nanotechnologie auch eine Menge an Übereinstimmung den anderen Bereichen?) gibt. 9802 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (A) (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wie „in Entwicklung“, „bedeutendes Potenzial“ oder(C) NEN]: Das stimmt!) „dass es künftig gelingt“ verwendet werden. Vieles ist heute noch Vision und Hoffnung. Es ist erfreulich, wenn Es gibt einen hervorragenden Bericht des Büros für SPD und Grüne die Auffassung teilen, dass diese Hoff- Technikfolgenabschätzung. Es herrscht auch überall eine nungen Wirklichkeit werden sollen. Allerdings wird man gewisse Faszination über das, was Physiker, Chemiker, angesichts der Euphorie der Koalitionsabgeordneten Biologen und Mediziner herausfinden, wenn sie in eine beim Thema Nanotechnologie an frühere Reden von immer kleinere Welt vordringen. Es ist faszinierend, wie SPD-Abgeordneten zur Kerntechnik erinnert. Damals diese Welt der Atome und Moleküle neue Möglichkeiten glaubte man, dass man mit der Kerntechnik alles Mögli- eröffnet. Die relative Zunahme der Oberfläche derche erreichen könne. Solange die Anwendung noch weit kleinsten Teilchen im Vergleich zur Masse eröffnet viele weg ist, kennt bei Ihnen die Begeisterung keine Grenzen. neue Möglichkeiten. Viele neue Werkzeuge und Werk- Aber je näher eine breite Anwendung rückt, desto mehr stoffe sind möglich. Die Hoffnungen und Visionen, die gewinnen bei Ihnen die Bedenken die Oberhand. in diese Technik gesetzt werden, sind außergewöhnlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die CDU/CSU-Fraktion hat mit ihrem Antrag bei die- Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sem wichtigen Zukunftsthema eine Vorreiterrolle über- NEN]: Bei Ihnen fehlt ja noch der Lernpro- nommen. Es ist offensichtlich, dass die übrigen Fraktio- zess!) nen Bei der Entwicklung und Anwendung der Nanotech- (Ulrike Flach [FDP]: Das war jetzt aber nologie geht es um eine Reise in unbekanntes Land. Wie mutig!) bei Christoph Kolumbus ist das Ziel in vielen Bereichen klar definiert. Ob wir allerdings dort ankommen, wo wir – diese hat sie wohl übernommen – nachgezogen haben hinwollen, ist ungewiss. Wie damals in der christlichen und wir uns untereinander einig sind, dass das ein wich- Seefahrt funktioniert auch die Anwendung neuer Techni- tiges Zukunftsthema ist. Allerdings tut die Bundesregie- ken nicht ohne Gefahren für die Umwelt, die wir ernst rung zu wenig. So hat gar so der forschungspolitische nehmen müssen, insbesondere wenn die Anwendung ein Sprecher der Grünen erst vor zwei Monaten die Initiative größeres Ausmaß annimmt. „Nanotechnologie erobert die Märkte“ des Bundesfor- Es gibt aber mittlerweile Horrorszenarien, die sehr schungsministeriums als zu eng gefasst bezeichnet. Sie spekulativ sind. Darin wird zum Beispiel dargestellt, greife nicht die Chancen auf und lasse die notwendige dass sich selbst vermehrende Nanomaschinen die Bio- Interdisziplinarität vermissen. welt zerstören könnten. Man kann jetzt darauf warten, dass die Grünen diese Horrorszenarien aufgreifen und (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dazwischen sich ihre Begeisterung in Gegnerschaft wandelt. (B) liegen ja schon wieder zwei Monate!) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/ Dem kann man nur zustimmen, wenn selbst die eigenen CSU – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE Leute so etwas sagen. GRÜNEN]: Keine Angst!) Bei einem Vergleich mit den USA muss man außer- Wir von der Union jedenfalls werden gegenüber der dem feststellen: Leider fehlen der Bundesregierung auch Nanotechnologie ebenso wie gegenüber anderen neuen in diesem Bereich die notwendigen Mittel. Von der Ver- Techniken eine nüchterne, zukunftsorientierte Haltung doppelung der Ausgaben für die Forschung – einst ein einnehmen. Wir setzen bei der Nanotechnologie ebenso Wahlkampfversprechen – ist nichts mehr zu hören. wie bei der Kerntechnik und der Biotechnik auf Risiko- minimierung und Nutzung der Chancen. Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der muss in Forschung und Anwendung der Nanotechnolo- SPD: Nicht polemisch werden!) gie eine Spitzenstellung einnehmen. Dafür sollten wir Das ist schon lange vergessen. Jetzt hören wir vom Bun- uns gemeinsam einsetzen. deswirtschaftsminister, dass er selbst die Besitzer kleiner (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sparvermögen zur Kasse bitten will, (Ulla Burchardt [SPD]: Herr Mayer, Sie haben Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: so gut angefangen!) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ulrich Kasparick, SPD-Fraktion. um die Forschungsmittel nicht kürzen zu müssen. Ich finde, das ist ein jämmerlicher Beitrag, den er zu dieser Frage geliefert hat. Ulrich Kasparick (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der CDU/CSU) Herren! Ich möchte etwas zum industriepolitischen As- pekt unserer heutigen Debatte sagen. Die Zuhörer haben Es gibt bereits jetzt eine Reihe vonpraktischen An- verstanden, dass Nano etwas sehr Kleines ist. Was wir in wendungen der Nanotechnologie: in der Mikroelektro- Dresden daraus machen wollen, ist etwas sehr Großes. nik, in der Oberflächenbeschichtung und auch in ande- Wir wollen nämlich in Dresden eine Nano-Forschungs- ren Bereichen. Im Vergleich zu den potenziellenplattform aufbauen, die uns zur Nummer eins in Europa Möglichkeiten bewegen sich die derzeitigen Anwendun- machen wird. gen allerdings noch in engen Grenzen. Wenn man den TAB-Bericht zur Nanotechnologie aufmerksam liest, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fällt nämlich auf, dass zur Anwendung häufig Begriffe DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9803

Ulrich Kasparick (A) Wir sind mit dem IT-Cluster in Dresden schon jetzt die – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Carola(C) Nummer eins in Deutschland. Die Fraunhofer-Gesell- Reimann, Walter Schöler, Carsten Schneider, schaft wird in enger Abstimmung mit der Europäischen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Union, dem Bund, dem Land Sachsen-Anhalt und der re- SPD sowie der Abgeordneten Antje Hermenau, gionalen Wirtschaft etwas sehr Innovatives machen, Hans-Josef Fell, Volker Beck (Köln), weiterer nämlich ein gemeinsames Forschungslabor aufbauen, Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- um uns zur Nummer eins in Europa zu machen. SES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD) Qualitätssicherung des deutschen For- schungssystems Frankreich und Belgien haben erhebliche Beiträge ge- leistet. Die Europäische Union sagt: Wir sind bereit, zu – Drucksachen 15/222, 15/1981, 15/2665, 15/3068 – fördern, wenn es zwischen den drei Ländern ein abge- stimmtes Konzept gibt. Jetzt lese ich mit großer Auf- Berichterstattung: merksamkeit im Antrag der Union, dass sie uns auffor- Abgeordnete Ulrike Flach dert, die Cluster-Bildung voranzubringen. Dazu will ich Dr. Carola Reimann nur einen ganz kurzen Satz sagen. Helge Braun Hans-Josef Fell (Jörg Tauss [SPD]: Guten Morgen!) Zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Lieber Herr Fischer, wir sind ja schon zusammen ver- Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Änderungsantrag reist. Lassen Sie uns gemeinsam nach Dresden fahren! der Fraktion der FDP vor. Dann können Sie nämlich sehen, was diese Regierung längst tut. Ihr Antrag kommt um Jahre zu spät. Lassen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Sie uns das, was wir politisch schon längst getan haben, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre jetzt fortsetzen und Dresden über den Standort Nummer keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. eins in Deutschland hinaus – Professor Bullinger sagt zu Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Recht, dass dieser Standort die Nummer eins in Deutsch- gin Carola Reimann, SPD-Fraktion. land ist – auch zum Standort Nummer eins in Europa machen, indem wir den nächsten Step gehen und die Na- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) noelectronics in der Forschung entwickeln! Hier sind wir auf einem sehr guten Weg, weil uns die Regierung dabei Dr. Carola Reimann (SPD): sehr unterstützt. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ressort- (D) DIE GRÜNEN) forschung sowie die universitäre und außeruniversitäre Forschung der Länder sind ein wichtiger Teil der For- schungslandschaft. Die Ressortforschungseinrichtungen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: des Bundes weisen dabei eine Doppelfunktion auf: Sie Ich schließe die Aussprache. tragen auf der einen Seite zum allgemeinen Erkenntnis- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf gewinn bei und stellen auf der anderen Seite wissen- den Drucksachen 15/2650, 15/2713, 15/3051 und 15/3074 schaftliche Erkenntnisse für die Durchführung von Res- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüssesortaufgaben zur Verfügung. Ihnen fällt dabei eine vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist Schlüsselrolle dort zu, wo im politischen Raum wissen- der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. schaftlich fundierte Antworten benötigt werden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Wie bei anderen Forschungseinrichtungen auch muss die wissenschaftliche Qualität dieser Einrichtungen re- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gelmäßig überprüft werden. Das erfordert allerdings Er- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung fahrung und Augenmaß; denn die dort angelegten Be- und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) wertungsmaßstäbe müssen dieser Doppelfunktion der – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Ressortforschungseinrichtungen gerecht werden. Des- Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Hom- wegen ist hier auch die Anwendung spezifischer Bewer- burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion tungsverfahren und -kriterien erforderlich. der FDP (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ressortforschungseinrichtungen des Bun- DIE GRÜNEN) des regelmäßig in Hinblick auf internatio- Wir wollen eine exzellente Forschung. Deswegen nale Qualitätsanforderungen an das deut- sind wir grundsätzlich für eine Evaluierung der Ressort- sche Forschungssystem evaluieren forschungseinrichtungen – auch um eine zielgerichtete – zu dem Antrag der Abgeordneten Helge Braun, Politikberatung zu gewährleisten. Dr. Maria Böhmer, Katherina Reiche, weiterer (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU CSU]: Das hat gedauert, bis Sie so weit ge- Ressortforschung des Bundes effizienter ge- kommen sind! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss stalten und evaluieren [SPD]: Weiter als ihr!) 9804 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Dr. Carola Reimann (A) Hier wurde unter Rot-Grün in den letzten Jahren bereits Wir wollen die deutsche Forschung voranbringen.(C) einiges geleistet. So ist die Zahl der überprüften Ressort- Dazu gehört auch die kritische Analyse ihrer Leistungs- forschungseinrichtungen deutlich gestiegen. Die An-fähigkeit und natürlich auch das Aufzeigen ihrer strengungen zur Qualitätssicherung wurden ganz erheb- Schwachstellen. Nur so können wir letztendlich Verbes- lich ausgeweitet. serungen im Forschungssystem erreichen. Es ist aber nicht redlich – entsprechende Äußerungen haben wir in Kolleginnen und Kollegen von der FDP, leider ver- den letzten Wochen gehört –, wenn im Vorfeld be- mittelt Ihr Antrag den Eindruck, man stehe bei der Eva- stimmte Ergebnisse gezielt herausgegriffen und diese luierung ganz am Anfang und jetzt sei die Stunde Null. dann pauschal auf die gesamte Ressortforschung ange- Das ist so nicht richtig. wandt und übertragen werden. Ich meine damit Äuße- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die an- DIE GRÜNEN) lässlich der Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Ressortforschung des Verbraucherschutzministeriums zu Ganz im Gegenteil: In der Vergangenheit evaluierte der hören waren. Denn wer auch nur die Zusammenfassung Wissenschaftsrat beispielsweise das Paul-Ehrlich-Insti- gelesen hat, weiß um die notwendige Differenzierung. tut im Jahr 2000, das Bundesinstitut für gesundheitlichen Im allerersten Satz dieser Empfehlungen steht: Verbraucherschutz im Jahr 1999 sowie das Robert- Die Forschungsanstalten des BMVEL weisen be- Koch-Institut im Jahr 1997. Dazu wurde im Jahr 2001 züglich ihrer konkreten Aufgabenprofile sowie ih- eine zusammenfassende Stellungnahme vorgelegt. rer Stellung innerhalb des internationalen/europäi- Lassen Sie mich dasRobert-Koch-Institut heraus- schen und deutschen Wissenschaftssystems große greifen. Gerade Bundesregierung und Parlament greifen Unterschiede auf. auf die Expertise des Robert-Koch-Instituts sehr oft und Vor der Verallgemeinerung einzelner Ergebnisse darf ich sehr gern bei allen wichtigen Fragen zu Infektionser- doch sehr warnen. krankungen zurück. Ob wir eine Auskunft über Grippe- epidemien, SARS, BSE oder über sicherheitsrelevante Mit unserem Antrag stellen wir uns den aktuellen Vorkommnisse wie Milzbrandverdachtsfälle brauchen: Erfordernissen, die deutsche Forschungslandschaft, Immer ist die Expertise des Robert-Koch-Instituts ge- insbesondere die Ressortforschungseinrichtungen des fragt. Die wissenschaftliche Qualifikation des RKI auf Bundes, zu evaluieren, umsie kontinuierlich weiterzu- dem Gebiet der Infektionskrankheiten ist ganz unbestrit- entwickeln. Im Gegensatz dazu wird im Antrag der ten. Union leider dieDoppelfunktion der Ressortfor- schung ausgeblendet. Stattdessen präsentieren Sie gleich (B) (Ulrike Flach [FDP]: Das bezweifelt keiner!) die von Ihnen zum Teil vielleicht gewünschten Ergeb- (D) Das Gleiche könnte man im Veterinärbereich beispiels- nisse einer Evaluierung in einem Forderungskatalog und weise für die Bundesforschungsanstalt für Viruserkran- verknüpfen das mit zum Teil – ich habe das im Aus- kungen der Tiere sagen. schuss schon gesagt – widersprüchlichen Vorschlägen zu Strukturveränderungen. Das kann aber nicht Sinn und Zurzeit wird das Bundesinstitut für Arzneimittel und Zweck einer Evaluierung sein. Medizinprodukte evaluiert. Die Stellungnahme ist in Vorbereitung. Auch die ndesforschungsanstalt Bu für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Landwirtschaft wurde zusammen mit anderen Ressort- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) forschungseinrichtungen des BMVEL kürzlich begut- Wir müssen – darüber besteht sicher Einigkeit in un- achtet. Im Übrigen nicht zum ersten Mal: Die FAL hat serem Haus – die deutschen Forschungseinrichtungen bereits 1996 in Eigeninitiative mit der Durchführung ei- weiter stärken und zukunftsfest machen. Dafür ist eine ner externen Evaluierung und der Einrichtung eines Bo- Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen der Res- nusverfahrens Anstrengungen zur leistungsgebundenen sortforschung, verbunden mit dem Aufzeigen von Ver- Mittelverteilung unternommen. besserungsmöglichkeiten, unabdingbar; das ist völlig (Jörg Tauss [SPD]: Hört! Hört!) klar. Unser Antrag bietet die Grundlage dafür, eine sys- tematische Evaluierung durchzuführen; denn dem be- Weiterhin wird die BAM, die Bundesanstalt für Mate- sonderen Charakter der Ressortforschung muss durch rialforschung und -prüfung, zurzeit evaluiert. Ich denke, Augenmaß und differenziertes Vorgehen Rechnung ge- die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, verdeutli- tragen werden. chen, dass Evaluierungen sowohl sinnvoll als auch not- wendig sind. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In unserem Antrag fordern wir, den Wissenschaftsrat DIE GRÜNEN) mit der Begutachtung der Ressortforschungseinrichtun- gen zu beauftragen. Der Wissenschaftsrat hat in der Ver- gangenheit hervorragende Arbeit geleistet und giltVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – meiner Ansicht nach: zu Recht – als das fachlich kom- Das Wort hat der Kollege Helge Braun, CDU/CSU- petente Gremium in diesem Bereich. Fraktion. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9805

(A) Helge Braun (CDU/CSU): und der Grünen vor, der zumindest im Kernziel das Glei- (C) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! che wünscht wie wir. Bevor ich auf die vorliegenden Anträge zu sprechen Statt einer systematischen Evaluierung, die Sie, Frau komme, möchte ich den Beschäftigten in Dr. Reimann, den eben im Plenum vertreten haben, haben 54 Ressortforschungseinrichtungen des Bundes für ihre Sie Ihrem Antrag einige vorsichtige Formulierungen vo- Arbeit danken. Mit ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit rangestellt, die aus meiner Sicht nicht dafür sprechen, ermöglichen sie es, die Hoheitsaufgaben des Staates in dass wir jetzt direkt in eine systematische Evaluierung schwierigen Bereichen erfolgreich zu erfüllen, in denen eintreten. es zwingend darauf ankommt, dass die wissenschaftli- chen Erkenntnisse, die der Staat für sein Handeln benö- Statt einer systematischen Evaluierung fordern Sie tigt, auf dem neuesten Stand sind. zunächst eine Definition der Ressortforschung. Eine De- finition des Begriffs „Ressortforschung“ gibt es aber be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- reits seit 20 Jahren. Der Begriff „Ressortforschung“ neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wurde vom Bundesrechnungshof erstmals im Jahr 1984 Dadurch schützen wir auf hohem Niveau vor allen Din- definiert, danach wurden Leitsätze erarbeitet. Ich darf gen die Sicherheit und die Gesundheit der Bürger indiese Definition kurz vortragen: Deutschland. Ressortforschung Für diese Aufgaben wendet der Bund zurzeit jährlich – so der Bundesrechnungshof – 1,3 Milliarden Euro auf. Das ist ungefähr die gleiche Größenordnung wie der Haushalt der Max-Planck-Ge- ist darauf gerichtet, Entscheidungshilfen zur sach- sellschaft. Seit Ihrer Regierungsübernahme im Jahr 1998 gemäßen Erfüllung der Fachaufgabe der Ressorts haben Sie 6,4 Milliarden Euro für die Ressortforschung zu gewinnen. In diesem Rahmen sind auch Modell- ausgegeben. versuche Vorhaben der Ressortforschung. … Res- sortforschung ist eine aufgabenakzessorische Ver- Die wissenschaftliche Arbeit der Ressortforschung waltungsfunktion. erfolgt jedoch unter anderen Prinzipien als die freie For- schung in Forschungseinrichtungen oder an Universitä- Das ist die Definition, die Sie fordern. ten. Deshalb ist die Evaluierung dieser vom Staat betrie- Die Definition ist ein hervorragender Ausgangspunkt benen Forschung so unendlich wichtig. Bezüglichfür die weitere Arbeit der Ressortforschungseinrichtun- bereits begutachteter Einrichtungen aus den Bereichen gen. Eine weitere Beurteilung an dieser Stelle ist aus un- des Gesundheits- oder des Verbraucherschutzministe- serer Sicht nicht mehr erforderlich. (B) riums – das haben Sie eben angesprochen – hat der Wis- (D) senschaftsrat aus unserer Sicht wichtige Erkenntnisse er- (Beifall bei der CDU/CSU) zielt und auch gute Vorschläge gemacht, die in Zukunft Sie haben gerade den CDU-Antrag an einer Stelle als zu einer Verbesserung der Ressortforschung beitragen in sich widersprüchlich bezeichnet. Ich darf dieses Lob können. an Sie zu Ihrem Antrag zurückgeben. Sie haben soeben In unserem Antrag fordern wir heute die Bundesre- selbst gesagt, dass wir bereits einige exemplarische Res- gierung auf, die Erkenntnisse, die der Wissenschaftsrat sortforschungseinrichtungen des Bundes evaluiert ha- schon erarbeitet hat, umzusetzen und es anzugehen, sys- ben. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass nach Vorliegen tematisch alle 54 Bundeseinrichtungen zu evaluieren.der Ergebnisse einer exemplarischen Evaluierung ein Ziel dieses Prozesses muss es sein, die wissenschaftliche Bericht der Bundesregierung erstellt wird. Aus meiner Leistungsfähigkeit der Ressortforschungseinrichtungen Sicht ist der Bericht des Wissenschaftsrates über die zu optimieren und sie auf ihre Kernbereiche hoheitlicher Evaluierung der bestehenden Ressortforschungseinrich- Aufgaben zu konzentrieren. tungen – soweit sie sich einer solchen unterzogen haben – ausreichend. Die darin enthaltenen guten Ergeb- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sehr wohl!) nisse und klaren Handlungsanweisungen sollten ausrei- Sofern dem Geheimhaltungsansprüche nicht entgegen- chen, sodass wir jetzt direkt zur systematischen Evaluie- stehen, sollten viele Projekte an die freie Forschungrung übergehen können. übergeben werden, Auch der Änderungsantrag der FDP beseitigt diese (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Mängel nicht, er würde die Widersprüchlichkeit viel- der FDP) mehr noch ein wenig erweitern. Man würde auf diese Forderung die Forderung einer systematischen Evaluie- damit ein Teil der dafür zur Verfügung stehenden Gelder rung draufsatteln. Insofern schlage ich vor, beim Ur- im Wettbewerb zwischen den Universitäten und den außer- sprungsantrag der FDP zu bleiben, den wir mittragen universitären Forschungseinrichtungen nach den gängi- könnten. gen Verfahren der Evaluierung vergeben werden kann. Wie wichtig das Thema ist, wurde auch in der Frage- Im Grunde genommen sollten alle diese Forderungen stunde in der letzten Woche deutlich, als der Parlamenta- eine Selbstverständlichkeit sein. Leider wurden die An- rische Staatssekretär aus dem Ministerium für Verbrau- träge von CDU/CSU und FDP hierzu in den letzten bei- cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Dr. Thalheim den Debattenrunden durch die Regierungsfraktionen ab- feststellte, dass Synergieeffekte in Zukunft im Bereich gelehnt. Inzwischen liegt jetzt auch ein Antrag der SPD der Ressortforschung genutzt werden sollen und dass 9806 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Helge Braun (A) deshalb verschiedene Ressortforschungseinrichtungen Genauso ist es, wenn ich eine Institution begutachte, (C) im Bereich Lebensmittel zum 1. Januar 2004 zusammen- die per definitionem einen Doppelcharakter hat, nämlich gelegt wurden. Auf die Frage aus unserer Fraktion nach auf der einen Seite Politikberatung, wissenschaftliche der Kosten-Nutzen-Analyse führte er aus: Dienstleistungen, hoheitliche Aufgaben und vor allen Dingen den Transfer von Wissen aus dem wissen- Eine gesonderte Kosten-Nutzen-Analyse … wurde schaftlichen Raum in den politisch-administrativen nicht erstellt. Raum sowie auf der anderen Seite Grundlagenforschung Bei solch elementaren, großen Umwälzungen im Be-und anwendungsorientierte Forschung. Diesem Doppel- reich staatlicher Einrichtungen wäre es doch richtig ge- charakter muss ich bei der Frage gerecht werden, wel- wesen, eine Kosten-Nutzen-Analyse durchzuführen. chen Maßstab ich anlege, sonst gehe ich fehl. Das ist ganz wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir fordern Sie deshalb auf: Konzentrieren Sie die und bei der SPD) Aufgaben der Ressortforschungseinrichtungen auf die hoheitlichen Aufgaben. Befreien Sie die Ressortfor- Nehmen wir einmal diesen ersten Strang, bei dem es schungseinrichtungen von Tätigkeiten, die auch von der um Politikberatung, wissenschaftliche Dienstleistungen freien Forschungslandschaft übernommen werden könn- und hoheitliche Aufgaben geht. Es ist ganz wichtig, dass ten. Verlangen Sie keine weiteren Definitionen und un- wir unabhängige Forscherinnen und Forscher haben. terziehen Sie unverzüglich alle Ressortforschungsein- richtungen einer systematischen Evaluierung. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Ulrike Flach [FDP]: Wohl wahr!) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) Denn eines ist klar: Wir können nicht von Leuten bera- Das alles ist wichtig, weil die Aufgaben, die die Res- ten werden, die in hohem Maße beispielsweise von der sortforschungseinrichtungen in den kommenden Jahren Industrieforschung abhängen. Wir brauchen eigenständi- zu erfüllen haben, immer komplexer werden. Das orga- gen Sachverstand. Wissenschaftlerinnen und Wissen- nisierte Verbrechen und der internationale Terrorismus schaftler sind Menschen wie wir alle. Sie stecken in machen sich mehr und mehr modernste Technologien Zwängen und Abhängigkeiten. Deswegen braucht der zunutze. Infektionskrankheiten wie SARS oder die Ge- Staat bei solch elementaren Aufgaben eine eigene,un- flügelpest – Sie haben es selbst angesprochen – werden abhängige Beratungskapazität. Das kann man nicht in kürzester Zeit zur globalen Bedrohung. Bei der Be- privatisieren, das ist unmöglich. wältigung all dieser Aufgaben sind die Ressortfor- schungseinrichtungen des Bundes ein wichtiger Partner. Davon ist der Bereich der anwendungsorientierten (B) (D) Mit ihrer Hilfe können wir die Bevölkerung vor solchen Forschung und der Grundlagenforschung zu trennen. Bedrohungen schützen. Um den wachsenden Anforde- Dieser steht im Wettbewerb mit universitären und außer- rungen auch in Zukunft gerecht zu werden, brauchen wir universitären Forschungseinrichtungen. Hier müssen die die Evaluierung. Deshalb bitte ich Sie alle herzlich um gleichen strengen wissenschaftlichen Maßstäbe angelegt die Zustimmung zu unserem Antrag. werden. Die Einrichtungen müssen wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Deshalb kann man keine saubere Scheidelinie zwi- schen hoheitlichen Aufgaben hier und wissenschaftli- cher Forschung dort ziehen, denn Letzteres ist Voraus- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: setzung des Ersten. Deshalb sind wir der Meinung, dass Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Loske, Bünd- es nicht angemessen ist – das schwingt aber bei der nis 90/Die Grünen. Union ein bisschen mit –, die Ressortforschungseinrich- tungen im Prinzip auf die hoheitlichen Aufgaben zu re- Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- duzieren. Das wäre ein Kompetenzverlust, den wir so NEN): nicht wollen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, jede Institution braucht Evaluation, braucht den Mir persönlich ist eine Ressortforschungseinrichtung, unabhängigen Blick von außen. Eines ist klar: Institutio- die mich rechtzeitig auf bestimmte Gefahren wie BSE, nen neigen zur Selbstbespiegelung. Deswegen brauchen SARS oder was auch immer – es wurden schon mehrere wir den kritischen Blick von außen. Von daher ist das, Gefahren genannt – hinweist, ehrlich gesagt lieber als was wir hier heute debattieren, eine Selbstverständlich- die 999. Veröffentlichung durch die Mitarbeiter in einem keit. Ich kann in der Sache auch keinen Unterschied zwi- internationalen Journal, das ein Peer-Review-Journal ist. schen uns erkennen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Trotzdem muss man sich fragen, mit welcher Elle, mit Das ist auch wichtig. Aber wichtiger für uns ist Ersteres; welchem Maß ich an eine Institution herantrete. Wenn das muss man ganz klar sagen. Dafür brauchen wir un- ich beispielsweise ein gemeinnütziges Unternehmenabhängige Forschung. evaluieren will, werde ich nicht McKinsey beauftragen, weil sich ein gemeinnütziges Unternehmen nicht nur Jetzt zu den Anträgen. Der FDP-Antrag – das wurde nach Profitinteressen ausrichtet, sondern auch anderebereits gesagt – tut so, alshätte es noch gar keine Eva- Aufgaben wahrnimmt. luationen gegeben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9807

Dr. Reinhard Loske (A) (Ulrike Flach [FDP]: Das gab es auch zu dem Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) Zeitpunkt nicht!) Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach, SPD- Fraktion. Frau Flach, Sie wissen, dass das nicht stimmt. Ich will aber nicht alles vorlesen, was dazu gesagt worden ist. Es (FDP): hat schon eine ganze Latte von Evaluationen stattgefun- Ulrike Flach den. Diese betreffen zum Beispiel das Paul-Ehrlich-In- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Res- stitut, das Robert-Koch-Institut, das Bundesinstitut für sortforschung des Bundes umfasst 54 Einrichtungen mit gesundheitlichen Verbraucherschutz und im Moment das rund 12 000 Wissenschaftlern und 9 000 Mitarbeitern. Damit es ganz klar ist: Wir haben nicht vor, an der Qua- Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. lität der Arbeit dieser Mitarbeiter zu zweifeln. Hier geht Hier passiert schon einiges. Aber grundsätzlich stimme es vielmehr um eine ganz normale Diskussion über die ich Ihnen zu, dass alle Institutionen evaluiert werden Fragen: Wie gehen wir mit wissenschaftlichen Instituten müssen. Allerdings muss man sich dabei an der Kapazi- um? Wie bewerten wir vor dem Hintergrund, dass wir tät des Wissenschaftsrates orientieren. Man kann nicht dies bei anderen Instituten außerhalb des Ressortfor- so tun, als ob er nichts anderes im Sinn hätte, als alle schungsbereiches bereits seit vielen Jahren tun, ihre Ar- zwei Jahre sämtliche Institutionen zu evaluieren. beit? (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Lieber Herr Loske, liebe Frau Dr. Reimann, die FDP [SPD]) hat seit Anfang der 90er-Jahre – das habe ich auch im Ausschuss schon erwähnt – nicht zuletzt in Gestalt ihres Dafür müssen auch die Kapazitäten vorhanden sein. damaligen Bundesforschungsministers Laermann immer Dem FDP-Antrag können wir deshalb nicht zustimmen, wieder vergebens eine Evaluierung gefordert, damals weil er den Eindruck erweckt, es würde in diesem Lande von der CDU, in der letzten Legislaturperiode von SPD dazu gar nichts passieren. und Grünen. Der Antrag der FDP steht also in einer lan- Der CDU/CSU-Antrag enthält viel Richtiges, gar gen Reihe. Ich bin froh – das will ich an dieser Stelle keine Frage. Er enthält aber auch Inkonsistenzen. Auf deutlich sagen –, dass Sie endlich in unserem Club ange- der einen Seite reden Sie von der Konzentration aufkommen sind. Kernaufgaben und tun so, als könne man den zweiten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Strang, die wissenschaftliche Grundlagenforschung, der CDU/CSU) ganz abschneiden. Auf der anderen Seite plädieren Sie für eine bessere Kooperation zwischen der Ressortfor- Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass in den letzten Jahren zwar einige Evaluierungen angefan- (B) schung und den außeruniversitären Forschungseinrich- (D) tungen. Das passt nicht zusammen: entweder oder.gen worden sind, wir bei unserer Umfrage in den Minis- Meine Meinung dazu habe ich gesagt. terien aber trotzdem feststellen mussten, dass es Ministe- rien gibt, die sich offensichtlich noch nie mit dem Zu dem Zeitpunkt ist zu sagen: Wir haben eine erste Gedanken der Evaluierung auseinander gesetzt haben. exemplarische Evaluation, die wir selber initiiert ha- Frau Wieczorek-Zeul schrieb uns zum Beispiel, dass ben, nämlich vom BMVEL, abgewartet und auf dereine Evaluierung des entwicklungspolitischen For- Grundlage der Erfahrungen, die wir dort gemacht haben, schungsprogramms bislang nicht erfolgt und auch nicht und der Empfehlungen des Wissenschaftsrates werden geplant ist. Herr Trittin schrieb, er sehe für weiterge- wir Schritt für Schritt auch die anderen Ressortfor-hende Evaluierungen im Geschäftsbereich des BMU schungseinrichtungen evaluieren. keine Veranlassung. Ehrlich gesagt: Damit können wir nicht zufrieden sein. Mein letzter Punkt: Wir haben – das muss man ganz (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) klar sagen; in diesem Punkt scheint der eigentliche Kri- tikpunkt der Opposition zu liegen – in bestimmten Berei- Jetzt haben sich SPD und Grüne endlich zu einer chen neue Leitorientierungen eingeführt. Wir sind der Überprüfung durchgerungen. Bei der ersten Bewertung Meinung, dass sich auch die Ressortforschungseinrich- Ihres Antrages neigte die FDP dazu – auch das sage ich tungen an den Kriterien nachhaltige Entwicklung, ökolo- ganz offen –, ihm zuzustimmen, weil der Weg über den gische Forschung, Friedens- und Konfliktforschung so- Wissenschaftsrat richtig ist. Aber dann geriet ich im wie ganzheitliche Gesundheitsforschung orientierenAusschuss an Herrn Fell. Damit war unsere Zustim- sollten. Diesen Konflikt darüber sollten wir allerdings mungsbereitschaft auf dem Nullpunkt. nicht auf dem Rücken der Forschungseinrichtungen aus- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE tragen. Das sind politische Konflikte, die wir hier austra- GRÜNEN]: Ist doch ein vernünftiger Mann, gen müssen. Wenn sie dann entschieden sind, sollten sie der Herr Fell!) durchaus ihren Niederschlag in den Ressortforschungs- einrichtungen finden. Den Streit in der Sache sollten wir Sie haben erklärt, dass Sie die Doppelfunktion der Res- also hier führen und nicht auf dem Rücken der Institute. sortforschung aufrechterhalten wollen und dass eine Ausgliederung – egal, wie eine Evaluierung ausgeht – Danke schön. für Sie nicht in Frage kommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der SPD) NEN]: Nicht egal, wie sie ausgeht!) 9808 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Ulrike Flach (A) Diese Aussage toppten Sie noch, indem Sie, was Herr dern. Das war Sinn und Zweck des Antrags, den wir im (C) Loske gerade bestätigt hat, eine Neuausrichtung der Res- Haushaltsausschuss im November letzten Jahres zum sortforschungseinrichtungen an gesellschaftliche Anfor- Haushalt 2004 gestellt haben. Wir wollen hier nämlich derungen forderten. nicht nur eine Evaluierung aller Institute. Wenn Sie den Antrag genau lesen, werden Sie feststellen: Darin steht Liebe Kolleginnen und Kollegen, der entscheidende „aufgabenkritische Überprüfung“. Ich möchte ganz klar in Unterschied zwischen Grünen und FDP ist, dass wir die Richtung des BMBF sagen: Ich erwarte, dass der Antrag Forschung nicht auf das festlegen, was wir gerade für politisch opportun halten. Ressortforschung muss höchs- des Haushaltsausschusses – einstimmig beschlossen! –, ten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, betriebs- eine aufgabenkritische Überprüfung vorzunehmen, näm- wirtschaftlich effizient durchgeführt werden und die for- lich zu untersuchen, ob das System, wie es bisher be- schungspolitischen Aufgaben der Ministerien auf hohem steht, wirklich wettbewerbsfähig und sinnvoll ist, vom Niveau erfüllen. Aber sie darf nicht zum willfährigenWissenschaftsrat umgesetzt wird, und zwar noch im Handlager politischer Akteure werden. Mai. Wir wollen das nicht verzögern und erwarten mög- lichst zügig Ergebnisse. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich kann mich nicht damit einverstanden erklären, erst NEN]: Das ist nicht gemeint! Das interpretie- jede Ressortforschungseinrichtung – Frau Flach, Sie ha- ren Sie völlig falsch!) ben die Zahlen genannt und gesagt, wie viele es gibt – zu evaluieren und dann, wenn das in drei oder vier Jahren Es darf nicht so sein, wie wir es im Augenblick bei der abgeschlossen ist, daraus Rückschlüsse zu ziehen. Das Grünen Gentechnik erleben: Ressortforschung ist derkönnen wir nicht machen, sondern wir müssen – das ist Empfänger der Aufträge der Ministerien, nicht aber der Sinn und Zweck unseres Antrags; deswegen differiert er Ergebnisse. von dem der FDP – aufgrund der dann vorliegenden ex- Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und emplarischen Ergebnisse, die, wenn man den Verteidi- Grünen, erwarte ich heute eine deutlicheKlarstellung. gungsbereich eventuell herausnimmt, einsehbar und Auch erwarte ich, dass Sie sich endlich dazu bekennen, auch vergleichbar sind, Änderungen vorschlagen. dass alle Institute ergebnisoffen evaluiert werden. Soll- ten Sie dies tun, könnten wir bereit sein, Ihren Antrag Wenn man sich die Evaluierung im BMVEL an- mitzutragen. Sollten Sie dies nicht tun, besteht zwischen schaut, sieht man, dass bei der Analyse zum Beispiel he- der FDP auf der einen Seite und SPD und Grünen auf rausgekommen ist, dass die Forschung der Ressortfor- der anderen Seite ein Riesengraben. Dann werden wir schungseinrichtungen in manchem nicht mit dem Rest des Wissenschaftssystems vernetzt ist, dass manche For- (B) bei der Ressortforschungsevaluierung weiterhin einen (D) getrennten Weg gehen müssen. schungsaufträge unter Ausschluss von Wettbewerb in- nerhalb der Einrichtungen vergeben werden und – das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zum Thema Flexibilität – dass über 98 Prozent der Be- der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das be- schäftigten unbefristete Verträge haben. Ich gönne das kümmert uns aber!) jedem, aber wenn man diese Situation mit der im norma- len Wissenschaftssystem vergleicht, muss man feststel- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: len, dass das nicht dazu beiträgt, die Innovationsfähig- Ich erteile dem Kollegen Carsten Schneider, SPD-keit in solchen Einrichtungen zu erhöhen. Darum geht es Fraktion, das Wort. ja auch. Ich glaube außerdem, dass es wichtig ist, die Koope- Carsten Schneider (SPD): ration mit den Hochschulen, die nur in sehr geringfügi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!gem Maße stattfindet, zu verbessern. Frau Flach, wenn es mir gelingen kann, Sie davon zu überzeugen, dass wir in dieser Frage offen sind, will ich Ich habe nichts gegen Publikationen, auch in interna- das gern versuchen. tionalen Zeitschriften. Diese Veröffentlichungen können Sie haben viele Punkte angesprochen, auch die Akti- dazu führen, dass das Renommee der Ressortfor- vitäten, die Sie in den vergangenen Jahren an dieserschungseinrichtungen gestärkt wird, weil sie zeigen, Stelle unternommen haben. Ich glaube, es war richtig, dass gute wissenschaftliche Arbeit geleistet wird. dass die Koalition mit ihrem Antrag gewartet hat, bis das Schließlich ist es wichtig, dass junge Leute eine Chance erste Ergebnis zum Geschäftsbereich des BMVEL, das bekommen, in diesen Einrichtungen Fuß zu fassen. vom Wissenschaftsrat evaluiert worden war, vorliegt, All dies erscheint mir nach dem derzeitigen Stand nicht um daraus Schlüsse für einen wirklich fundierten Antrag immer hundertprozentig gegeben zu sein. Ich teile Ihren zu ziehen. Dank an die Mitarbeiter, nichtsdestotrotz muss man Struk- Natürlich sind wir an dieser Stelle ergebnisoffen. Es turen überprüfen. Diesen Zweck verfolgt unser gemeinsa- wäre fatal, wenn wir Strukturen für immer beibehalten mer Antrag, und ich hoffe, dass der Wissenschaftsrat uns würden, nur weil es sie gibt. Wenn sich herausstellt, dass möglichst zügig, zumindest was die aufgabenkritische das eine oder andere Institut, das sehr gute Arbeit leistet, Überprüfung betrifft – dafür haben wir ihm zusätzliche auch von der freien Wissenschaft getragen werden kann, Stellen in diesem Jahr zur Verfügung gestellt –, Ergeb- dann ist es möglich, die bestehenden Strukturen zu än- nisse liefern kann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9809

Carsten Schneider (A) Ich persönlich würde sehr gern bereits in die Haus- Durchführung von Forschungsprojekten darstellen, der (C) haltsberatungen 2005, die im September beginnen wer- vor einiger Zeit stattgefundenhat. Frau Künast hat sich den, entsprechende Ergebnisse einfließen lassen. Wienicht gescheut, in ein Forschungsprojekt derBundes- könnte das aussehen? Auch da sind die Empfehlungen anstalt für Züchtungsforschung in Dresden persönlich des Wissenschaftsrates meines Erachtens zielführend, einzugreifen. Sie hat einem Forscher verboten, ein Pro- zum Beispiel 15 Prozent des Budgets der institutionellen jekt, das schon seit Jahren erfolgreich gelaufen ist und Haushalte statt wie bisher über einen Fonds frei zu ver- zum weiteren Erkenntnisgewinn beitragen sollte, fortzu- geben. Es geht dabei also nicht darum, den Ressortsführen. So darf Ressortforschung in diesen Einrichtun- Geld wegzunehmen – wir wollen Bildung, Wissenschaft, gen nicht stattfinden. So etwas können wir nicht unter- Forschung und Entwicklung stärken, auch finanziell, nicht stützen. nur in den Strukturen, aber auch in den Strukturen –, son- dern die Mittel effizienter einzusetzen. Wenn man die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mittel effizienter einsetzt, kann man letztendlich auch Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Welches besser begründen, dass man mehr Mittel verlangt. Projekt war das denn?) Ich halte unseren Antrag insgesamt für zielführend Dieses Projekt sollte die Ergebnisse von Langzeitfor- und hoffe, Frau Flach, dassSie dem nach den Ausfüh- schungen über die Freisetzung von transgenen Pflanzen rungen, die ich gemacht habe – dass wir wirklich offen überprüfen und ein entsprechendes Umweltmonitoring sind –, zustimmen können. Wir lehnen den Antrag, den fortsetzen. Dies war kein beliebiges Projekt, sondern Sie gestellt haben, was die gesamte Evaluierung betrifft, stand an der Spitze der internationalen Forschung in die- ab; denn dann würden wir in den nächsten Jahren noch sem Bereich. Wir fordern von unseren Forschungsein- nicht zu Ergebnissen kommen. richtungen immer wieder, dass sie auf internationaler Ebene mitspielen sollen. Nachdem Frau Künast dieses (Ulrike Flach [FDP]: Doch, sicher!) Vorhaben in Deutschland verboten hatte, gab es vier Wo- Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Angesichts der dramati- chen später eine Veröffentlichung der „National Aca- schen Haushaltslage und der Verantwortung, die wir ge- demy of Science“ der USA – das ist sicherlich kein un- genüber den Steuerzahlern haben, müssen wir zügiger bekanntes Gremium –, in der als ein großer Erfolg, als arbeiten und schneller zu Ergebnissen kommen. Aus die- Durchbruch im Bereich der Virenforschung gefeiert sem Grunde würde ich mich freuen, wenn Sie unserem wurde, dass auch in Italien und in der Schweiz die glei- Antrag zustimmen könnten. Ich hoffe, dass das Hauschen Ergebnisse erzielt worden sind. Frau Künast hat die meinen Hinweisen, was die Beauftragung des Wissen- Forschung dazu bei uns auf Eis gelegt. Ich glaube, so schaftsrates betrifft, entspricht. kommen wir nicht voran, wenn Minister den Forschern (B) vorschreiben, welche Versuche sie durchführen dürfen(D) (Beifall bei der SPD) und welche sie unterlassen sollen. Wie soll unter solchen Bedingungen eine vernünftige Ressortforschung stattfin- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: den? Wie sollen Forscher Politikberatung betreiben, Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt er- wenn ihnen die Politiker vorher sagen, was sie zu tun ha- hält der Kollege Helmut Heiderich für die CDU/CSU- ben? Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lassen Sie mich in der Kürze der Redezeit einen wei- teren Punkt aufgreifen. Es ist absolut wichtig, dass wir (CDU/CSU): Helmut Heiderich auch in den Ressortforschungseinrichtungen die natio- Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meinenale und die internationale Vernetzung aufrechterhalten sehr verehrten Damen und Herren! Die Ressortfor-und die Leistungsstärke bei unseren Forschungen bei- schungseinrichtungen des Bundes stellen besondere Ein- behalten. Ich sage das deswegen, weil gerade diese Gre- richtungen dar, da sie zum einen administrative und ho- mien Genehmigungsverfahren, Zulassungsverfahren und heitliche Aufgaben ausüben und zum anderen Forschung Regulierungen auf nationaler und internationaler Ebene betreiben. Die Zuordnung von zwei Aufgabenbereichen durchführen. Es ist wichtig, dass deutsche Forscher in kann, wie ich denke, durchaus ein Vorteil für diese Ein- den Regulierungsbehörden auf internationaler Ebene, richtungen sein, weil sie so nicht nur den Bezug zur tägli- den International Bodies, wie sie heißen, sei es bei der chen Praxis und zur Anwendung haben, sondern auchUN, sei es bei der FAO, mit dabei sind. weiterführende wissenschaftliche Projekte umsetzen kön- nen. Diese Struktur wird aber dann zum Nachteil – ich er- Sie können aber nur mitwirken, wenn sie international innere an die Formulierung„neue Leitorientierung“ von anerkannt sind. International anerkannt werden sie nur Herrn Loske –, wenn die Weisungsbefugnis aus dem ho- dann, wenn ihre Forschungen international Beachtung heitlichen Aufgabenbereich zu einer Gängelung oder gar finden. Vorhin ist gesagt worden, dass sie auch in inter- zu einer Beschneidung der Forschung genutzt wird. national renommierten Zeitungen veröffentlichen müs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen. Solche Veröffentlichungen gehören mit zur Res- sortforschung. Deswegen müssen wir den Anstalten die Als abschreckendes Beispiel dafür, wie Ressortfor-Möglichkeit geben, in Zusammenarbeit mit den Univer- schung nicht betrieben werden darf, möchte ich kurz ei- sitäten und mit anderen international tätigen Forschern nen Eingriff von MinisterinKünast in die praktische aktiv und erfolgreich zu arbeiten. 9810 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Helmut Heiderich (A) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das kön- der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 15/2665 vorge- (C) nen sie doch auch!) schlagen wird. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der Sie dürfen nicht durch Minister gegängelt werden. Stimme enthalten? – Diese Beschlussempfehlung ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehrheitlich angenommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Evalu- Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: ierung des BMVEL, die stattgefunden hat, hat seitens Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- des Wissenschaftsrates zu deutlichen Ergebnissen ge- richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, führt. Der Wissenschaftsrat warnt eindeutig davor, die Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Forschung nach ideologischen Kriterien auszurichten. zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H. Das kann ich von unserer Seite aus nur unterstreichen. Carstensen (Nordstrand), Dr. Peter Paziorek, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bernhard Schulte-Drüggelte, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU Ich habe es eben schon gesagt: Wir dürfen die Forschung in den Ressorteinrichtungen nicht von der Forschung in Multitalent nachwachsender Rohstoff effizient fördern anderen Bereichen abkoppeln. – Drucksachen 15/1788, 15/2366 – Ich komme zum Schluss: Die Qualität der Forschung in diesen Einrichtungen ist die Voraussetzung für die Berichterstattung: Qualität der Politikberatung, die diese leisten sollen. Abgeordnete Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Deswegen müssen wir sie an dieser Stelle unterstützen Bernhard Schulte-Drüggelte und fördern. Cornelia Behm Dr. Christel Happach-Kasan Schönen Dank. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Ich schließe die Aussprache. Kollegen Reinhold Hemker für die SPD-Fraktion das Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-Wort. schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- (B) schätzung auf Drucksache 15/3068. Reinhold Hemker (SPD): (D) Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! schlussempfehlung die Ablehnung des Antrages derLieber Albert Deß, lieber Bernhard Schulte-Drüggelte, FDP-Fraktion auf Drucksache 15/222 mit dem Titeles ist oft so: Auch dann, wenn ein gut gemeinter Antrag „Ressortforschungseinrichtungen des Bundes regelmä- auf den Weg gebracht wird, sind zumindest die im An- ßig im Hinblick auf internationale Qualitätsanforderun- trag festgeschriebenen Fakten aufgrund der parlamenta- rischen und der gesamten politischen Entwicklungen ir- gen an das deutsche Forschungssystem evaluieren“. Wer gendwann überholt. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Nichtsdestotrotz freue ich mich heute immer noch ge- lung ist mit Mehrheit angenommen. nauso über den Antrag wie damals, als er gestellt worden ist, weil in ihm wichtige Punkte benannt werden, die wir Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der seit 1998, seit dem Jahr der Regierungsübernahme durch Ausschuss die Ablehnung des Antrages der CDU/CSU- Grün-Rot oder Rot-Grün – je nach Sichtweise der Koali- Fraktion auf Drucksache 15/1981 mit dem Titel „Ressort- tionspartner –, auf den Weg gebracht haben. Seit 1998 forschung des Bundes effizienter gestalten und evaluie- befinden wir uns im Grunde genommen in einer Phase, ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer in der viele Vorstellungen, die Fachinstitute des Ökolo- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Be- gie- und Nachhaltigkeitsbereichs seit vielen Jahren ent- schlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. wickelt haben, abgearbeitet werden. Lieber Albert Deß, Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- um es deutlicher zu sagen: Wir befinden uns in einer ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3068 die Phase, in der wir das umsetzen, was auf der Rio-Konfe- Annahme des Antrages der Fraktionen von SPD undrenz im Jahre 1992 vorgeschlagen wurde. Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/2665 mit Wenn Sie sich anschauen, was jetzt mit derEEG- dem Titel „Qualitätssicherung des deutschen For-Novelle für die Zukunft wieder neu auf den Weg ge- schungssystems“. Zu diesem Antrag liegt ein Ände-bracht worden ist und zu was das Vorgängergesetz be- rungsantrag der FDP vor, über den wir zuerst abstim-reits geführt hat, dann wissen Sie, dass die Förderung der men. Wer stimmt für den Änderungsantrag erneuerbaren auf Energien – auch mit dem Schwerpunkt Drucksache 15/3087? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Biomasse – insgesamt ein gehöriges Stück weitergekom- hält sich? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt. men ist. Das geht auch noch weiter. Damit kommen wir zur Abstimmung über Nr. 3 der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung, in der die Annahme des Antrages DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9811

Reinhold Hemker (A) Ich sage an dieser Stelle:Ich freue mich sehr, dass es Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) aufgrund der Initiative von Kollegen aus ländlichen Räu- Diese weitere Debatte wird nun vom Kollegen men gelungen ist, fraktionsübergreifend festzuhalten: Wir Bernhard Schulte-Drüggelte für die CDU/CSU-Fraktion müssen die Privilegierungstatbestände in § 35 des Europa- fortgesetzt. rechtsanpassungsgesetzes – dieser scheußliche Begriff steht auch in Ihrem Antrag; das lässt sich nicht vermeiden, Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): wir müssen schließlich korrekt sein – ausweiten. Die Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Bandbreite von Möglichkeiten, den Einsatz von Biomasse gen! Es ist schön, Herr Hemker, dass Sie sich über CDU/ weiterzubringen, ist in der Tat groß. CSU-Anträge freuen. In der nächsten Woche – ich nehme an, dass einige Ich möchte nicht sofort auf die Geschichte eingehen, Kolleginnen und Kollegen anwesend und die Fachleute sondern einen aktuellen Punkt ansprechen. In diesen Ta- des Umweltministeriums vertreten sind – tagt hier ingen wird in den Medien über die Endlichkeit von Energie Berlin eine Konferenz, bei der wir uns über die Ergeb- diskutiert. Die Vorräte an fossilen Energieträgern wie Öl nisse verschiedener Forschungsinstitute zur Stoffstrom- und Gas gehen vermutlich früher zu Ende als bisher an- analyse der nachhaltigen energetischen Nutzung vongenommen. Es wird auch darüber berichtet, dass Benzin Biomasse informieren lassen. Ich habe mir zur Vorberei- so teuer wie noch nie ist. Der Liter kostet im Augenblick tung auf die heutige Debatte ein paar Unterlagen zu The- 1,20 Euro. Vielleicht sind das die Ziele – dabei schaue ich men kommen lassen, die in der nächsten Woche behan- die Grünen an – von Bündnis 90/Die Grünen. Ich weiß delt werden, und ein bisschen in die Fachliteraturnicht, ob Sie das vergessen haben: Die ursprüngliche geschaut. Dabei ist mir aufgefallen, dass wir ab demZielsetzung der Grünen für den Liter Sprit lag bei etwa Zeitpunkt, zu dem ihr euren Antrag eingebracht habt, ein 2,55 Euro, also – daran darf ich Sie erinnern – 5 DM. erhebliches Stück vorangekommen sind. Darüber freue (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE ich mich. Worüber ich mich nicht freue – das darf ich als GRÜNEN]: Das ist schon länger her! – Rainer Angehöriger der größeren Regierungsfraktion sagen –, Brüderle [FDP]: Das schaffen sie noch!) ist, dass so getan wird, als ob wir noch immer zu wenig tun. Es ist im Bereich der energetischen Nutzung noch Es mag sein, dass Sie nun zufrieden sind. Aber ich kann nie so viel wie seit 1998 getan worden. Das wird insge- Ihnen versichern, dass viele Menschen in Deutschland samt akzeptiert. wie die Pendler, die auf das Auto angewiesen sind, mit dieser Entwicklung nicht zufrieden sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) neten der FDP – Reinhold Hemker [SPD]: Was (D) Ich weiß zwar noch nicht, was gleich die Kollegin wollen Sie tun?) von der FDP sagen wird, aber gestatten Sie mir einen– Warten Sie doch einmal ab! Ich komme gleich zu dem kleinen Schlenker. Ich war zweieinhalb Jahre Mitglied in Thema erneuerbare Energien. Sparen Sie sich Ihre ei- der Enquete-Kommission „Herausforderungen der Glo- gene Energie. balisierung“. Dabei wurde auch der große Aufgabenbe- reich der Ressourcen behandelt. Was haben sich einige Wie lange die weltweiten Rohstoffreserven noch vor- dabei aufgeregt. Ich nenne nur einen Namen: Hartmut halten, ist unsicher. Prognosen hierzu sind zurückge- Schauerte von der CDU/CSU-Fraktion. Er hat immer da- nommen worden. Sie erinnern sich an die Prognosen in vor gewarnt, in diesem Bereich Subventionen zu gewäh- der Shell-Studie. Eines ist allerdings sicher: dass fossile ren; denn das würden schon der Markt, die Nachfrage Brennstoffe endlich sind. und die Interessenlage der potenziellen Energiewirte, der (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Eine Investoren regeln. Das ist aber nicht so. Die Erfolgsstory ganz neue Sicht!) zeigt, dass wir hier einen erheblichen Schritt weiterge- kommen sind. Der Einsatz zur Erforschung regenerativer Energien – da bin ich mit Ihnen, Herr Hemker, völlig einig – wird eine (Peter Dreßen [SPD]: Herrn Kollegen Schauerte immer größere Bedeutung bekommen. Bioenergie wird darf man da nicht ernst nehmen!) immer wichtiger werden. Ich möchte eines deutlich sa- gen: Alle Pflanzen sindnachwachsende Rohstoffe. – Doch, ich nehme ihn immer ernst. Er ist übrigens ein Diese nachwachsenden Rohstoffe haben wir als Multita- früherer Kollege aus meiner Landtagszeit, wo er auch lent bezeichnet, weil aus diesen Pflanzen Bioenergie, schon die entsprechenden Sprüche geklopft hat. Die Ver- Strom, Wärme, Kraftstoffe wie Bioethanol und Biodie- braucher müssten das dann über entsprechend höheresel und in zunehmendem Maße abbaubare Biowerkstoffe Energiepreise zahlen. Das ist der Punkt, Kollege Dreßen. gemacht werden können. Es ist auch klar, dass nach- wachsende Rohstoffe eine große Rolle beim Klima- Wir haben hier Fortschritte gemacht. Da ich im inter- schutz und beim globalen Umweltschutz spielen. nationalen Bereich tätig bin, möchte ich von den positi- ven Ergebnissen weiter lernen und diese weltweit wei- (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Deswegen tergeben. Ich freue mich auf die weitere Debatte. soll das Öl ja auch billiger werden!) – Habe ich das gesagt? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Ja!) 9812 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Bernhard Schulte-Drüggelte (A) Ich habe gesagt, dass ich pro Bioenergie spreche, für die- (Albert Deß [CDU/CSU]: Die haben wir (C) ses Multitalent, das nebenbei noch Arbeitsplätze schafft. gegründet!) Auch wenn es so zu sein scheint, dass sich die rot- Die ist 1993 von der unionsgeführten Regierung gegrün- grüne Bundesregierung unseren Antrag zu Herzen ge- det worden. nommen hat, möchte ich sagen, was fehlt. Das ist ein Gesamtkonzept. Sie haben richtigerweise von der Mi- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Und neralölsteuerbegünstigung und Privilegierung gespro- was war während Ihrer Regierungszeit? Sie chen. Das ist alles positiv. Notwendig sind aber langfris- haben gekürzt!) tig angelegte Zielvorstellungen, eine Systemlösung.Gerade in dem wichtigen zukunftsorientierten Bereich Weiterhin ist es notwendig, die Verwertungskonzepte der Forschung und Entwicklung ist gespart worden. Ich will nachwachsenden Rohstoffe zu koordinieren. Schließlich deutlich sagen: Das ist Sparen an der falschen Stelle. ist es notwendig, eine langfristig angelegte Forschung zu gewährleisten. Nur auf diese Weise können Hemmnisse, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. die jetzt im Bereich der Investitionen bestehen, aus dem Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) Weg geräumt werden. Ich will einmal sagen, an welcher Stelle man sparen Dass dem so ist, zeigt uns auch die Landwirtschaft. kann. Ich habe heute in der „Welt“ einen Artikel mit der Der Landwirt wird zum Rohstofflieferanten für die In- Überschrift „Bundesrechnungshof rügt Trittin und dustrie und für die Energieversorger. Er findet unter den Künast“ gelesen. veränderten Rahmenbedingungen ein neues Betäti- gungsfeld mit neuen Einkommensperspektiven. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Kollege, den werden Sie jetzt nicht verlesen können, weil dafür die Redezeit nicht mehr reicht. Der Landwirt wird auch Lieferant für Non-Food-Pro- dukte. Aber man sieht, dass trotz dieser veränderten (Heiterkeit bei der SPD) Rahmenbedingungen immer noch Zurückhaltung be- steht. Ein Grund für die Zurückhaltung ist die verunsi- Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): chernde rot-grüne Agrarpolitik. Alles klar. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist doch nicht zu fassen!) Ich bitte, das nachzulesen. In dem Artikel ging es um die völlig überflüssige Reise nach Brasilien und um das Denn nur wirtschaftliche Betriebe können und werden (B) dafür verbrauchte Flugbenzin. Das wäre die richtige(D) investieren. Aber es ist ganz klar: Es fehlt in der Regie- Stelle für Einsparungen gewesen. rung eine inhaltliche Koordinierung von Agrar-, Ener- gie-, Steuer-, Naturschutz- und Forschungspolitik auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. europäischer, bundespolitischer und landespolitischer Dr. Christel Happach-Kasan [FDP] – Michaele Ebene. Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das das Einzige ist, was Ihnen einfällt, (Beifall bei der CDU/CSU) dann ist das ein bisschen armselig!) Ich möchte auch auf die Nachteile eingehen, die mein Vorredner schon genannt hat, als er meinen Kollegen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Schauerte angesprochen hat. Ein Nachteil ist, dass die Das Wort erhält nun die Kollegin Cornelia Behm, nachwachsenden Rohstoffe zum Teil zu teuer sind. Aber Bündnis 90/Die Grünen. wenn sie bestehen wollen, dann müssen sie langfristig konkurrenzfähig werden. Um die langfristigeWett- bewerbsfähigkeit sicherzustellen, müssen auch die Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): technologischen Vorteile eingesetzt werden, die die Wis- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und senschaft heute bringt. Das heißt für mich, dass in Zu- Kollegen! Die CDU/CSU hat erkannt, dass durch die kunft auch die Grüne Gentechnik einen höheren Stellen- Nutzung einheimischer nachwachsender Rohstoffe wert haben muss. Wertschöpfung im Land gehalten werden kann, und zwar nicht nur Wertschöpfung für die Landwirtschaft, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. sondern auch für Industrie und Forschung. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP] – Albert Deß [CDU/CSU]: Gerade bei nachwachsen- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Rohstoffen!) NEN]: Toll!) – Gerade bei nachwachsenden Rohstoffen. Das ist richtig; auch wir sehen das so. Eine faire Marktöffnung für Bioenergie wird in Zu- Wertschöpfung im ländlichen Raum ist notwendig. kunft die zentrale Rolle in der Energiediskussion spie- Denn allein der Produktivitätsfortschritt macht jedes len. Deshalb ist es überhaupt nicht zu verstehen, dass die Jahr 100 000 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche in Mittel für die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe Deutschland für die Erzeugung von Nahrungsmitteln – ich weiß nicht, ob die Ihnen ein Begriff ist – überflüssig. um Dieses Kulturland kann und muss genutzt 30 Prozent gekürzt worden sind. werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9813

Cornelia Behm (A) Die CDU/CSU legt in ihrem Antrag dar, dass mit dem werden über Steuern und Abgaben auf die Gesellschaft (C) Einsatz nachwachsender Rohstoffe als Grundstoff fürumgelegt. Sie verlieren aber kein Wort darüber, dass ge- die Industrie und zur Energieerzeugung sowohl Klima- rade deswegen nachwachsende Rohstoffe gegenüber schutz- als auch Ressourcenschutzziele erreicht werden den viel zu billigen fossilen Rohstoffen in vielen Markt- können. Auch das ist richtig; das sehen wir genauso. segmenten nicht konkurrenzfähig sind. Die in dem Antrag formulierte Schlussfolgerung ist, (Albert Deß [CDU/CSU]: Frau Kollegin, das dass den nachwachsenden Rohstoffen mehr Bedeutung haben wir schon vor zehn Jahren gesagt! Das beigemessen werden muss. steht im Protokoll des Bundestags!) (Dr. [CDU/CSU]: Auch das ist – Gerade deswegen, Herr Deß. – Wenn Sie das nämlich richtig!) eingestehen würden, dann müssten Sie konsequenter- weise Ihren widersinnigen Widerstand gegen jeden Auch diese Auffassung teilen wir. Doch dazu bedarf es Schritt der ökologischen Steuerreform aufgeben. Wenn nicht Ihres Antrages. Ich frage mich ernsthaft, ob Sie, Sie etwa Holz, Stroh oder anderen Biomassen im Wär- meine lieben Kollegen von der CDU/CSU, die Sie mit memarkt zum Durchbruch verhelfen wollen, dann stellt uns gemeinsam um die Regelungen zur Förderung der die Erhöhung der Mineralölsteuer auf Heizöl das ein- Bioenergiegewinnung im EEG gerungen haben, nicht fachste und effektivste Förderinstrument dar. Dadurch gemerkt haben, dass die von Ihnen eingeforderte Politik könnten zukünftig viele Fördermillionen eingespart wer- bereits mit dem Regierungswechsel 1998 begonnen hat. den. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD und Grüne haben seit ihrer Regierungsüber- sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter nahme Stück für Stück die Rahmenbedingungen für eine Jahr [CDU/CSU]: Davon merkt man aber verstärkte und effiziente Nutzung von nachwachsenden nichts! – Albert Deß [CDU/CSU]: Die SPD Rohstoffen geschaffen. Wir haben mit der Förderung des war Anfang der 90er-Jahre gegen nachwach- Anbaus von nachwachsenden Rohstoffen nicht nur Per- sende Rohstoffe!) spektiven für die Landwirte, sondern auch im Bereich Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU- der stofflichen und der energetischen Nutzung dieser Fraktion, Ihre Ideen, wie bessere Rahmenbedingungen Rohstoffe eine Vielzahl von Arbeitsplätzen vor allem in für die nachwachsenden Rohstoffe geschaffen werden der Forschung und in der Technologieentwicklung ge- können, nehmen sich doch etwas ärmlich aus. Sie for- schaffen. Mit dieser Technologieentwicklung hat sich dern mehr Geld und neue Strukturen und schlagen In- ein neuer Exportmarkt für Deutschland erschlossen. strumente vor, die geeignet sind, die Akzeptanz, die die (B) Biomassenutzung zurzeit noch besitzt, in Windeseile zu Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie(D) verspielen. hören das nicht gerne, aber wir haben mit der Wende in der Energiepolitik, der Verkehrswende und der Agrar- Ich nenne einige Beispiele. Glauben Sie, dass die Ge- wende den Weg beschritten, der weg vom Erdöl hin zu sellschaft allgemein verbindliche und in einem mühevol- einer effizienteren Nutzung unserer natürlichen, nach- len Abwägungsprozess vereinbarte Standards zugunsten wachsenden Ressourcen führt. von Anlagenbetreibern aufgeben will? Aus dem verbrei- teten Widerstand gegen die Altholzverbrennungsanlagen (Albert Deß [CDU/CSU]: Verkehrswende mit müssen wir doch die Lehre ziehen, dass wir es uns auch dem Mautsystem?) bei den erneuerbaren Energien nicht erlauben können, Um auf diesem Weg weiterzugehen, bedarf es Ihres An- auf den Emissionsschutz zu verzichten. Die Menschen trages nicht. wollen saubere Luft und das ist auch gut so. Alles in allem ist Ihr Antrag eine Enttäuschung. Hier Zudem ist Ihr Antrag veraltet. Mittlerweile liegt eine hätte man wirklich gemeinsam an konstruktiven Lösun- Entscheidung zur Verwendung von Holzaschen vor. Die gen arbeiten können. Aber so bleibt Rot-Grün nur übrig, Düngemittelverordnung wird damit den aktuellen Anfor- sich weiter allein Gedanken über konkrete Förderinstru- derungen, die Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben, mente zu machen und sie dann leider ohne bzw. – besser gerecht. gesagt – gegen Sie im Bundestag und im Bundesrat durchzusetzen, genauso wie wir das beim EEG erlebt ha- Über die Privilegierung von Bioenergieanlagen imben. Dabei sind Sie sich nicht zu schade, sich mit den Baurecht haben wir in der vergangenen Woche im Rah- Erfolgen des Biogasausbaus zu schmücken, gegen den men der Baurechtsnovelle gemeinsam entschieden. Ich Sie am 2. April dieses Jahres gestimmt haben – so wie meine, wir können hinsichtlich der Bioenergie durchaus Herr Stoiber, der dem chinesischen Ministerpräsidenten zufrieden sein, dass wir die Ausweitung auf sämtliche Wen stolz bayerische Biogasanlagen als Erfolgsmodell Bioenergieanlagen sowie auf Biomasse auch aus Garten- präsentiert hat. baubetrieben erreichen konnten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sowie bei Abgeordneten der SPD) Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Erdöl, Erdgas und Kohle sind billig, weil sich die Kosten für die Gewinnung und den Transport nur unzu- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): reichend im Preis niederschlagen. Diese externen Kosten Ich komme zum Ende. 9814 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Cornelia Behm (A) In einer Woche werden wir dann erleben, wie Herr freie – Beimischung von Biodiesel von bis zu 5 Prozent (C) Stoiber im Bundesrat gegen die Förderung von Biogas- ist eine richtige Weichenstellung, die das Erreichen die- anlagen durch das EEG stimmen wird. ses Ziels unterstützt. (Albert Deß [CDU/CSU]: Bayern hat schon (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gefördert, als es noch keine rot-grüne Bundes- der CDU/CSU) regierung gab!) Bei der Stromproduktion ist für die Einhaltung des Das nenne ich verlogen, meine Damen und Herren von Kioto-Protokolls eine weitere Minderung der CO2-Emis- der Union. sionen erforderlich. Die Maßzahl, die den Vergleich so- Fazit: Man darf die CDU/CSU an allem messen, nur wohl verschiedener Energieträger als auch in der EU er- nicht an ihren eigenen Zielen. Das gilt auch für den Aus- möglicht, ist die Menge an CO2-Äquivalenten, die zur bau der nachwachsenden Rohstoffe. Produktion einer Kilowattstunde Strom erforderlich ist. Das Umweltbundesamt hat dies berechnet und stellt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland und damit der seit fast sechs Jahren regie- und bei der SPD) renden Bundesregierung ein überaus schlechtes Zeugnis aus. Mit 667 Gramm CO2-Äquivalent nimmt Deutsch- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: land im EU-weiten Vergleich den viertletzten Platz ein. Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. ChristelDer EU-Durchschnitt sind 429 Gramm CO2-Äquivalent. Happach-Kasan, FDP-Fraktion. In Frankreich sind es gerade einmal 100 Gramm CO2- Äquivalent. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot- Grün, ich frage mich, wie Sie angesichts dieser Daten Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): davon sprechen können, dass Sie mit Ihrer Energiepoli- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und tik, mit Ihrer Klimaschutzpolitik irgendeinen Erfolg ge- Kollegen! In der Zeit blühender Rapsfelder ist das habt haben. Das ist erkennbar nicht der Fall. Thema „Förderung nachwachsender Rohstoffe“ zu Recht auf die Tagesordnung gesetzt worden. Aus Raps (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lässt sich in Deutschland ein wichtiger nachwachsender Rohstoff produzieren. Bei blauem Himmel leuchtet die In diesen Daten spiegelt sich die verfehlte Energiepo- Landschaft, wenn der Raps blüht, außerdem blau-gelb. litik der Bundesregierung wider. Sie setzen einseitig auf Und das ist auch gut so. Wind und Sonne und Sie vernachlässigen die Potenziale, die in der energetischen Nutzung von Biomasse liegen. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) NEN]: Das ist doch unglaublich!) (D) Aber nicht nur im Mai gehört das Thema „nachwach- sende Rohstoffe“ zu den Kernstücken einer auf Nachhal- – Das ist nicht unglaublich. Sie haben eine Fehlsteue- tigkeit ausgerichteten Wirtschaft. Die Forderung nach rung. Schauen Sie sich bitte die Zahlen des Umweltbun- nachhaltiger Entwicklung – Kollege Hemker hat darauf desamtes an, das von Ihnen geführt wird. Das Umwelt- bereits hingewiesen – ist die Botschaft der Konferenz bundesamt hat diese Zahlen veröffentlicht und Sie von Rio aus dem Jahre 1992. Nachhaltigkeit in dernehmen sie nicht zur Kenntnis. Forstwirtschaft ist sehr anschaulich und unmittelbar ein- Sie müssen schlicht feststellen, dass Ihr Beschluss leuchtend. Dieses Prinzip auf weitere Bereiche der Wirt- zum Ausstieg aus der energetischen Nutzung der Kern- schaft zu übertragen stellt aber höhere Anforderungen. kraft einen weiteren Anstieg der CO2-Emissionen her- Die Konferenz von Rio hat sehr bewusst nicht nur auf vorrufen wird. Sie müssen auch feststellen, dass der die Ökologie gesetzt, sondern auch die sozialen Bedin- Deutsche Umweltrat der Klimaschutzpolitik der Bun- gungen einbezogen. In Deutschland lebt mehr als diedesregierung ebenfalls schlechte Noten gibt. Hälfte der Menschen in ländlichen und halbstädtischen (Reinhold Hemker [SPD]: Wir sind noch nicht Räumen. Für den Erhalt der Existenzfähigkeit der ländli- ganz zufrieden!) chen Räume ist die Schaffung von Erwerbsmöglichkei- ten notwendig. Eine Möglichkeit, die Wertschöpfung im Ein kleiner Lichtblick ist die beschlossene Änderung Lande zu halten, ist beispielsweise die Produktion nach- des Baugesetzbuches, durch die eine Privilegierung von wachsender Rohstoffe für die energetische Verwertung. Biogasanlagen herbeigeführt wird. Das geht in die rich- Auf die derzeitigen Schwierigkeiten bei der Preisgestal- tige Richtung. Aber die Begrenzung auf 0,5 Megawatt je tung ist schon hingewiesen worden. Anlage ist schlicht zu wenig, weil dadurch die Poten- ziale größerer Anlagen nicht ausgeschöpft werden. In dem Weißbuch der EU-Kommission „Die Europäi- sche Verkehrspolitik bis 2010“ wird gefordert, die hohen Weitere – – CO2-Emissionen insbesondere des Straßengüterver- kehrs durch Einsatz alternativer Biokraftstoffe zu verrin- (Reinhold Hemker [SPD]: Wir brauchen Zeit!) gern. Dies ist auch zur Einhaltung des Kioto-Protokolls notwendig. Deshalb sollen bis Ende 2005 2 Prozent al- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ler Kraftstoffe für den Verkehrssektor Biokraftstoffe ent- Frau Kollegin, weitere Hinweise lassen sich kaum halten und der Gehalt soll bis Ende 2010noch aufvortragen, weil Ihre Redezeit schon deutlich über- 5,75 Prozent steigen. Die von uns beschlossene – steuer- schritten ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9815

(A) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Warum sage ich das? Ich sage das, weil Sie hier Ihren (C) Ich komme zum Schluss. Antrag vorlegen, nachdem Sie den Meilenstein in der Biomasseförderung abgelehnt haben. Wir haben im letz- Wir sind der Meinung, dass die Anregungen im CDU/ ten Monat – meine Kollegin Behm hat darauf bereits CSU-Antrag richtig sind. Deswegen unterstützen wir hingewiesen – das EEG beschlossen. Wir werden die diesen Antrag. Bedingungen zur Förderung der Biomasseverstromung Ich danke für die Aufmerksamkeit. enorm verbessern. Auch ich persönlich habe mich dafür vehement eingesetzt. Wir alle wissen, das Ergebnis kann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sich sehen lassen. Auch die Fachverbände haben das Ge- setz sehr begrüßt. Beispielsweise bezeugt der Bundes- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: verband Biogene Kraftstoffe der Bundesregierung, dass Ich weise noch einmal darauf hin, dass die Uhrzeitdas EEG den Durchbruch für die Biomasse bedeutet. – man kann sie am Rednerpult sehen – relativ deutlich zu erkennen gibt, wann die vereinbarte Redezeit ausge- (Reinhold Hemker [SPD]: Die verstehen was schöpft ist. Wenn sich ein Präsident mit Lichtzeichen davon!) meldet, dann ist das in der Regel ein Indiz dafür, dass die Sie haben zum EEG Nein gesagt, obwohl unsere Ziele Redezeit relativ deutlich überschritten ist. Es gibt dann auch aus Ihren Reihen unterstützt wurden. Das ist eine irgendwo einen Punkt, wo die Akustik zur Verstärkung bittere und traurige Tatsache. Ihr Vorgehen ist inhaltlich der Lichtsignale unvermeidlich wird. Es wäre schön, einfach nicht nachvollziehbar. Ich kann hier nur feststel- wenn wir dieses Problem wechselseitig in Grenzen hal- len: Das ist parteipolitisches Kalkül. Die Bundesregie- ten könnten. rung verbessert seit 1998 kontinuierlich die Förderkon- Nun erteile ich das Wort der Kollegin Waltraud Wolff, ditionen für Biomasse. Wir unterstützen die energetische SPD-Fraktion. Nutzung durch die verschiedensten Programme. (Peter Dreßen [SPD]: Überzieh auch mal drei Herr Schulte-Drüggelte, Sie haben hier gesagt, die Minuten!) CDU/CSU sei förmlich der Vater oder die Mutter der er- neuerbaren Energien. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von CDU/ Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und CSU: Richtig!) Kollegen! Das, was Herr Schulte-Drüggelte vorhin ab- geliefert hat, war ein peinliches Beispiel für die Wider- – Halt! Schauen Sie in den Haushalten doch bitte einmal nach, wie Sie zu Ihrer Regierungszeit damit umgegan- (B) sprüchlichkeit der CDU/CSU-Politik im Bereich nach- (D) wachsender Rohstoffe. gen sind! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Bernhard Schulte-Drüggelte [CDU/CSU]: DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ Gucken Sie mal auf die Kürzungen! Das sind CSU – Bernhard Schulte-Drüggelte [CDU/ doch Luftblasen!) CSU]: Das war jetzt aber ein bisschen hart!) Schauen Sie sich einmal an, wie Sie die Förderung zu- Das werde ich im Laufe meiner Rede ganz deutlich ma- rückgefahren haben! Wir haben mit der Förderung nach chen. 1998 erst wieder angefangen. Sie haben die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe (Albert Deß [CDU/CSU]: Sie wollen mehr Ar- angesprochen. Sie hätten auch das Fraunhofer-Institut, beitslose! Sie wollen etwas anderes!) das Institut für Energetikund Umwelt in Leipzig oder Sie schreien jetzt immer: mehr, mehr, mehr. Das erin- das Institut für Energie- und Umweltforschung nehmen nert mich ein bisschen andie Geschichte vom kleinen können. Ich könnte hier noch fünf weitere Einrichtungen Häwelmann, der auch immer mehr wollte und nie genug aufzählen, die in der nächsten Woche den Zusammen- kriegen konnte. Ich finde Ihre Vorgehensweise einfach hang zwischen Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Abfall- nur verlogen. wirtschaft und Energiewirtschaft aufzeigen werden. Sie werden sehen, dass unsere Politik genau richtig ist, weil (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sie in die richtige Richtung zielt. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Im Titel für nachwachsende Rohstoffe im DIE GRÜNEN – Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]: Einzelplan 10 sind Förderungen in Höhe von bis zu Das merkt bloß keiner! Das muss mal gesagt 30 Millionen Euro vorgesehen. Da vergibt der Bund Zu- werden!) schüsse für Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstra- tionsvorhaben. Auch darüber werden Sie wieder schimp- Ehrlich gesagt, ich frage mich, wieso der Antrag der fen und klagen, es sei alles gekürzt worden. Auch dafür CDU/CSU-Fraktion hier überhaupt vorgelegt worden ist. kann ich mich nur bei Ihnen für Ihre jahrelange mise- Sie beschreiben zwar die Vorteile der nachwachsenden rable Haushaltsführung bedanken. Rohstoffe als regenerative Energien; aber ich sehe nicht, dass Sie, die Kollegen und Kolleginnen der CDU/CSU, (Albert Deß [CDU/CSU]: Wir haben die daraus die richtigen Konsequenzen für Ihr politisches Maastricht-Kriterien im Gegensatz zu Ihnen Handeln ziehen. eingehalten! – Gegenruf des Abg. Manfred 9816 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) Helmut Zöllmer [SPD]: Waigel ist nach wie (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (C) vor Schuldenmeister! – Gegenruf des Abg. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]: Nicht mehr Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die förderpoliti- lange!) schen Instrumente nicht ausreichen. Was wir in fünf Jah- Mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik kön- ren an Überprüfungen, an Korrekturen und an Gesetzes- nen wir weitermachen. Die Prämien werden von der Pro- änderungen auf den Weg gebracht haben, haben Sie in duktion entkoppelt. Damit wird den Landwirten endlich zehn Jahren nicht geschafft. die Chance eröffnet, am Markt frei zu agieren. Ich habe (Albert Deß [CDU/CSU]: Das werde ich die große Hoffnung, dass die steigende Nachfrage, die gleich widerlegen!) wir im Bereich des Marktes für nachwachsende Roh- stoffe verzeichnen, nun stärker aus der heimischen Pro- Ich kann Ihnen eines versichern: Mit unseren politischen duktion gedeckt werden kann. Zielsetzungen werden wir weiter daran arbeiten. Darauf können Sie ganz fest vertrauen. Das Thema „nachwach- In der Vergangenheit habe ich häufig versucht, Land- sende Rohstoffe“ ist bei Rot-Grün in den allerbesten wirte und Vertreter der Bauernverbände zu motivieren, Händen. Sie sind wie so oft mit Ihrem Antrag einfach sich vermehrt alternativer Produktionsformen anzuneh- fehl am Platz. Darum können wir ihn nur ablehnen. men. Aber viel zu oft war das Bitten vergebens, obwohl man wusste, dass es Absatzmärkte dafür gibt. Die meis- Danke schön. ten Bauern haben mir gesagt: Ich bin Unternehmer. Ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ produziere das, wofür ich am meisten bekomme, und das DIE GRÜNEN) ist die gekoppelte Produktion. – Das ist aus Sicht der Bauern vielleicht nachvollziehbar gewesen, aber total am Markt vorbei. Das wollen wir nicht mehr. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zum Schluss dieses Tagesordnungspunkts erteile ich Die Option, sich ein weiteres Standbein zu schaffen, das Wort dem Kollegen Albert Deß, CDU/CSU-Frak- indem man nachwachsende Rohstoffe anbaut, ist fürtion. viele zu uninteressant gewesen. Ich hoffe, dass die wei- terverarbeitende Industrie unter den neuen Bedingungen (Beifall bei der CDU/CSU) in Zukunft einen sicheren Zulieferer aus der eigenen Re- gion hat. Albert Deß (CDU/CSU): (Reinhold Hemker [SPD]: So ist das!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich ja darüber, wenn ich fraktionsübergreifend (B) Sie fordern in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und feststellen kann, dass die nachwachsenden Rohstoffe(D) Kollegen der CDU/CSU, die Mittelerhöhung aus derheute einen anderen Stellenwert als vor 20 Jahren haben, Ökosteuer zu finanzieren. aber, lieber Kollege Reinhold Hemker, die unionsge- führte Bundesregierung musste Anfang der 90er-Jahre (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – von 1990 bis 1994 waren Sie, glaube ich, nicht im NEN]: Die wollen die Ökosteuer doch ab- Deutschen Bundestag – zusammen mit der FDP vieles schaffen!) gegen den Widerstand der damaligen Opposition durch- Es ist richtig, das Marktanreizprogramm wird aus der setzen. Ökosteuer gespeist. Aber erstens erhöhen wir die Mittel (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sowieso von jetzt 200 Millionen Euro auf im nächsten NEN]: Jetzt müsst ihr euch gegen eure eigene Jahr 220 Millionen Euro und im darauf folgenden Jahr Fraktion durchsetzen!) auf 230 Millionen Euro und zweitens kann ich an dieser Stelle nicht umhin, Ihnen noch einmal zu sagen, dass der – Die Grünen waren damals auch nicht vertreten, son- Schwerpunkt bei der Ökosteuer eigentlich ein ganz an- dern nur Bündnis 90 aus dem Osten, weil die Grünen derer war. Wir haben gesagt, dass damit die Lohnneben- 1990 im Westen an der Fünfprozenthürde gescheitert kosten gesenkt werden müssen. sind. Das darf ich hier doch wohl anmerken. Für den Bereich der Bioenergie wurden die Förder- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sätze am Anfang des Jahres sogar noch einmal leicht er- NEN]: Trotzdem waren wir doch da!) höht. Außerdem ist nun zum Beispiel die Förderung von Ich kann sagen, dass ich seit Beginn meiner politi- modernen handbeschickten Holzfeuerungen möglich, schen Tätigkeit für nachwachsende Rohstoffe kämpfe. was auch dem ländlichen Raum zugute kommt. Darüber Gerade in der Zeit von 1990 bis 1994 habe ich zusam- hinaus haben wir die Voraussetzungen dafür geschaffen, men mit meinen Kolleginnen und Kollegen massiv ver- dass Kommunen, Kirchen und öffentliche Körperschaf- sucht, in diesem Bereich etwas voranzubringen. Ich darf ten in den Kreis der möglichen Antragsteller aufgenom- hier in aller Deutlichkeit sagen: Es war der damalige men werden und nun auch mit Bioenergie heizen kön- Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle, nen. (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) Wir schreiben nicht über einen Antrag „Nachwach- sende Rohstoffe fördern“, so wie Sie das tun, sondern der zusammen mit Theo Waigel den Durchbruch für wir machen das einfach, auch wenn die Unterstützung nachwachsende Rohstoffe ermöglicht hat. Kiechle hat der Opposition bisher ausbleibt. nämlich damals in Brüssel durchgesetzt, dass auf stillge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9817

Albert Deß (A) legten Flächen nachwachsende Rohstoffe angebaut wer- halb halte ich es für unangebracht, heute die Union zu (C) den können, und Theo Waigel hat die Mineralölsteuer- beschimpfen. befreiung durchgesetzt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ruf von der SPD: Wie haben Sie denn beim EEG gestimmt, Herr Deß?) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Deß, es gibt den massiven Bedarf an Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zwischenfragen. Nun möchte die Frau Kollegin Hustedt eine Zwi- schenfrage stellen. Albert Deß (CDU/CSU): Gerne. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die SPD ist immerhin lernfähig. Mit ihr zusammen haben wir die Mineralölsteuerbefreiung für alle Bio- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: kraftstoffe beschlossen und durchgesetzt. Sie tritt in die- Zunächst der Kollege Schulte-Drüggelte, bitte. sem Jahr in Kraft. Es ist Ihnen sicherlich auch bewusst, (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Unter- dass es, nachdem wir imEEG einen Bonus für nach- stützerfragen!) wachsende Rohstoffe in Höhe von 4 bis 6 Cent für kleine Anlagen festgeschrieben haben, einen massiven Push beim Anbau nachwachsender Rohstoffe auf dem Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU): Acker gegeben hat. Jetzt meine Fragen: Sie hatten gerade die Zeit angesprochen, in der Herr Kiechle und Herr Waigel Minister waren. Erstens. Wie haben Sie sich als Vorkämpfer für die nachwachsenden Rohstoffe bei der Abstimmung hier im (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundestag zum EEG verhalten? NEN]: Kiechle würde sich heute angesichts des Verhaltens der CDU/CSU im Grab umdre- Zweitens. Was tun Sie als CSU-Abgeordneter gegen- hen!) über Ihrer bayerischen Landesregierung? Ist Ihnen bekannt, dass sich gerade zu der Zeit die SPD (Zuruf von der SPD: Nichts!) im Deutschen Bundestag gegen nachwachsende Roh- Herr Stoiber brüstet sich ja zum einen auf dem Hof von stoffe ausgesprochen hat? Pellmeyer mit unseren Erfolgen, auf der anderen Seite (B) versucht er gleichzeitig im Bundesrat, das EEG wieder (D) Albert Deß (CDU/CSU): zu Fall zu bringen. Was tun Sie als CSU-Abgeordneter, Ja, ich kann das bestätigen. Die SPD hat sich damals damit Ihre Landesregierung einen Kurs zugunsten nach- massiv dagegen ausgesprochen. Ich wollte diesen Punkt wachsender Rohstoffe einschlägt? eigentlich am Schluss meiner Rede noch ansprechen, aber angesichts der Frage bin ich gerne bereit, schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jetzt aus dem Sitzungsprotokoll des Deutschen Bundes- und bei der SPD) tages vom 14. Januar 1993 zu zitieren. Damals hat ein SPD-Kollege gesagt: Albert Deß (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich kann Ihnen die Frage ganz korrekt Der Entwurf für die EG-Richtlinie, mit der die Ver- beantworten; das ist auch nachprüfbar. Ich musste mich brauchsteuern auf Pflanzenkraftstoffe auf 10 % des an dem betreffenden Freitag wegen einer Beerdigung in normalen Mineralölsteuersatzes begrenzt werden meinem Heimatlandkreis beim Präsidenten entschuldi- sollen, ist absolut töricht. gen. An einer anderen Stelle hat er gesagt: (Zuruf von der SPD: Wie hätten Sie Wer die Umwelt aber retten will, indem er minerali- gestimmt?) sche Kraftstoffe durch Rapsöl oder Alkohol aus Zu- Wenn ich hier gewesen wäre, hätte ich dieses EEG als ckerrüben und Weizen ersetzt, der versucht, denGesamtpaket so abgelehnt. Im Bereich Biomasse, Frau Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Kollegin, hätte ich zustimmen können, weil hier meiner Man könnte noch mehr Zitate bringen. Ansicht nach der richtige Weg beschritten worden ist. Aber der Weg wäre noch richtiger gewesen, wenn Sie im EEG 5 Cent der Vergütung von Windenergie und Photo- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: voltaik auf die Biomasse übertragen hätten; denn durch Das machen wir jetzt aber nicht, Herr Kollege. Biomasse kann die Grundlast bei der Stromversorgung gedeckt werden, was mit Sonnenenergie und Windener- Albert Deß (CDU/CSU): gie nicht der Fall ist. Nein, Herr Präsident, ich will hier nur anmerken, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eindeutig in Protokollen des Deutschen Bundestages festgehalten ist, dass die SPD zu der Zeit massiv gegen Eines muss ich hier in aller Deutlichkeit sagen: Ich den Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen war. Des- lasse mich in diesem Plenum, solange ich noch hier bin, 9818 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Albert Deß (A) von niemandem übertreffen, was den Einsatz für die (Beifall bei der CDU/CSU) (C) nachwachsenden Rohstoffe angeht. Alle Kolleginnen und Kollegen, die mich seit vielen Jahren kennen, wis- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sen das. Herr Kollege, die Kollegin Höfken hat sich zu einer Es ist auch unangebracht, Bayern hier an den Pranger Zwischenfrage gemeldet. zu stellen. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Albert Deß (CDU/CSU): NEN]: Es verhindert den Fortschritt!) Gerne. Es gibt kein Bundesland, das seit 1990 so viel Geld für nachwachsende Rohstoffe ausgegeben hat wie der Frei- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: staat Bayern. Er hat von 1990 bis 2000 mehr dafür aus- Ich will nur darauf hinweisen, dass ich weitere Zwi- gegeben als alle anderen 15 Bundesländer zusammen. In schenfragen dann nicht mehr zulassen möchte, weil wir Bayern werden bereits 3,9 Prozent der Primärenergie aus auch bei den Zwischenfragen ein bisschen im Hinterkopf behalten sollten, dass der Zeitrahmen für eine Debatte Biomasse erzeugt; im übrigen Deutschland sind es vor deren Beginn einvernehmlich festgelegt wird. 1,6 Prozent. Schaut doch erst einmal, dass ihr in den rot- grün regierten Bundesländern auf 3,9 Prozent kommt, Bitte schön, Frau Höfken. wenn ihr Bayern hier an den Pranger stellen wollt! Wir haben schon zu Zeiten, als ihr das Thema noch gar nicht Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gekannt habt, versucht, das Ganze voranzubringen, auch Dann muss ich ja ein bisschen schneller reden. – Lie- gegen den Widerstand der bayerischen SPD vor Ort. ber Kollege Deß, Bayern versteht sich doch als Teil von Deshalb brauchen wir keine Belehrungen. Deutschland. Allein in Bayern werden durch den Einsatz von Bio- (Heiterkeit bei der SPD) masse 2,2 Milliarden Liter Heizöl und damit 6 Millionen Tonnen CO2 eingespart. Darüber freue ich mich. Ich sage hier in aller Deutlichkeit – so viel Rückgrat habe Albert Deß (CDU/CSU): ich –, dass diese rot-grüne Bundesregierung beim Thema Auch wenn es manchmal schwer fällt! nachwachsende Rohstoffe nicht so viele Fehler gemacht hat wie in anderen Bereichen. Aber man hätte das Ganze Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): noch besser machen können. Frau Kollegin Wolff, ich Bayern – auch Sie als Person – trägt eine Mitverant- (B) finde es nicht in Ordnung, dass man die Forschungsgel- wortung für die Entwicklung der Landwirtschaft in den (D) der im Haushalt 2004 so massiv gekürzt hat. Ich schlage ländlichen Regionen in ganz Deutschland. Teilen Sie die Ihnen vor, den Ansatz für die Forschungsgelder imAnsicht, dass durch das geltende EEG eine erhebliche Haushalt 2005 – dafür erhalten Sie sicher die Unterstüt- Steigerung der Wirtschaftskraft in den ländlichen zung der Opposition – wieder auf 43 Millionen Euro zu Räumen bewirkt wird und dass es vonseiten der Bayeri- erhöhen. Denn ich bin der Meinung, dass im Bereich der schen Staatsregierung unverantwortlich ist, durch das nachwachsenden Rohstoffe noch wesentlich mehr ge- Anrufen des Vermittlungsausschusses den ländlichen forscht werden müsste. Räumen die Möglichkeit einer Erhöhung der Wertschöp- (Beifall bei der CDU/CSU) fung zu nehmen und ihnen die Unterstützung ihrer Land- wirtschaft zu versagen? Allein die Zeitverzögerung Ich habe bereits vor zehn Jahren die Zahlen im Deut- würde die ländlichen Regionen unglaublich viel Geld schen Bundestag genannt. Leider sind sie in der Öffent- kosten und das ganze Projekt sogar gefährden. Ist das lichkeit viel zu wenig bekannt. Wissenschaftler sagen nicht ein Zeichen von politischer Unverantwortlichkeit? uns, dass jährlich 200 Milliarden Tonnen Biomasse wachsen. Von diesen 200 Milliarden Tonnen werden nur (Beifall der Abg. Michaele Hustedt [BÜND- 2 Prozent genutzt: 0,75 Prozent für die Ernährung und NIS 90/DIE GRÜNEN]) 1,25 Prozent in Form von nachwachsenden Rohstoffen. Auch wenn das nur eine theoretische Rechnung ist: Ein Albert Deß (CDU/CSU): Siebtel dieser Menge würde ausreichen, um den gesam- Frau Kollegin Höfken, Ihre Frage geht völlig an der ten Einsatz von Öl, Kohle und Gas zu ersetzen. Die Wis- Sache vorbei; denn Bayern ist das Bundesland, das zur senschaft hat die Aufgabe, zu erforschen, wie wir mehr Förderung der ländlichen Räume bisher mehr Geld aus- Biomasse sinnvoll einsetzen können. Von gegeben den hat als alle anderen Bundesländer. 98 Prozent Biomasse, die nicht genutzt werden, wird (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CO2 freigesetzt, ohne dass wir die Biomasse zur Ener- gieerzeugung nutzen. Es ist ein gewaltiges Potenzial CSU]) vorhanden. Ich habe 1993 in der Debatte im Deutschen Was das EEG anbelangt, kann ich Ihnen sagen: Wenn Bundestag gesagt: Wenn nur ein Bruchteil dessen, was nicht so große Ungereimtheiten darin enthalten wären, wir für die Forschung in der Waffentechnik ausgeben, dann wäre eine Einigung mit der Opposition möglich ge- für die Forschung bei nachwachsenden Rohstoffen aus- wesen. Aber ihr wart nicht bereit, sinnvoll mitzuarbei- gegeben würde, dann wären wir bei den nachwachsen- ten. den Rohstoffen heute schon wesentlich weiter, als es so der Fall ist. (Widerspruch bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9819

Albert Deß (A) Frau Kollegin, es ist ein großer Unsinn, wenn auf wert- 9 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (C) vollen Ackerflächen hektarweise Sonnenkollektoren richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- aufgestellt werden. Ich habe nichts gegen Sonnenkollek- schuss) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD toren auf Dächern. Aber wenn ich feststellen muss, dass und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN wertvolle Ackerflächen mit Sonnenkollektoren zuge- pflastert werden, dann muss ich schon sagen, dass es ein Afrika auf dem Weg zu Eigenverantwortung großer wirtschaftlicher und ökologischer Unsinn ist. und Selbstbestimmung unterstützen Deshalb können wir nicht alles, was uns im EEG von – Drucksachen 15/2478, 15/3071 – Regierungsseite vorgelegt worden ist, mittragen. Berichterstattung: Der Einspruch des Bundesrates gegen das EEG ist Abgeordnete Hans Büttner (Ingolstadt) damit zu erklären, dass Bayern zusammen mit anderen Anke Eymer (Lübeck) B-Ländern möchte, dass dieses EEG sinnvoller gestaltet Marianne Tritz wird und nicht dazu führt, dassArbeitsplätze aus Dr. Rainer Stinner Deutschland vertrieben werden. Wir haben schon ein sinnvolles EEG gefordert, als Sie noch nicht in der Re- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gierungsverantwortung waren. richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist doch Büttner (Ingolstadt), Brigitte Wimmer (Karls- lächerlich!) ruhe), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne- Herr Präsident, ich möchte noch eine Schlussbemer- ten Marianne Tritz, Claudia Roth (Augsburg), kung machen. Ich kandidiere für das Europäische Parla- Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und ment. der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Zuruf von der SPD: Ah!) NEN Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass ich in der Den Stabilisierungsprozess in der Demokrati- nächsten Wahlperiode Mitglied des Europäischen Parla- schen Republik Kongo nachhaltig unterstüt- ments bin. Eines kann ich Ihnen allen versprechen: Ich zen werde mich, wenn ich dort mitarbeiten darf, in Brüssel – Drucksachen 15/2479, 15/3072 – und in Straßburg sehr massiv für die nachwachsenden Rohstoffe einsetzen, Berichterstattung: Abgeordnete Hans Büttner (Ingolstadt) (B) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg NEN]: Dann müssen Sie die Partei wechseln!) Marianne Tritz weil ich der Meinung bin, dass auch die Kommission in Dr. Rainer Stinner Brüssel dieses Thema sträflich vernachlässigt hat. Diese c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Übereinstimmung zwischen den Parteien möchte ich am richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Ende meiner Rede hervorheben. schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Wie gesagt: Ich möchte mich im Europäischen Parla- Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, ment massiv für die nachwachsenden Rohstoffe einset- Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der zen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung. Fraktion der CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Eine neue Politik für Afrika südlich der der Abg. Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE Sahara – Afrika fordern und fördern GRÜNEN]) – Drucksachen 15/2574, 15/3073 – Berichterstattung: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Abgeordnete Hans Büttner (Ingolstadt) Ich schließe die Aussprache. Anke Eymer (Lübeck) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Marianne Tritz schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Dr. Rainer Stinner wirtschaft auf Drucksache 15/2366 zu dem Antrag der d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Multitalent nach- richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- wachsender Rohstoff effizient fördern“. Der Ausschuss sammenarbeit und Entwicklung (18. Ausschuss) empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1788 abzuleh- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, Hartwig Fischer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der Stimme enthal- (Göttingen), weiterer Abgeordneter und der Frak- ten? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit ange- tion der CDU/CSU nommen. Umdenken in der Kongopolitik Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis d sowie den Zusatzpunkt 5 auf: – Drucksachen 15/2335, 15/3086 – 9820 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Berichterstattung: möglich machte, weil der Kalte Krieg der Supermächte (C) Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen) und ihrer jeweiligen Verbündeten Afrika zum Spielball Brigitte Wimmer (Karlsruhe) ihrer Interessen an Mehrheiten in der UN machte und Hans-Christian Ströbele diese Mächte mit ihren entwicklungspolitischen und mi- Ulrich Heinrich litärischen Hilfen oft weniger die eigenständige Ent- wicklung der Länder im Auge hatten als deren Bindung ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich an die jeweiligen Machtblöcke und weil die Eliten der Heinrich, Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, wei- afrikanischen Staaten, ausgebildet in oder nach den terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mustern der jeweiligen ideologischen Blöcke, die Basis Völkermord im Sudan verhindern in ihrer eigenen Bevölkerung verloren und zunehmend nur noch ihre eigenen partikularen Interessen verfolgt – Drucksache 15/3040 – hatten. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Mit dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Ende Verteidigungsausschuss des Kalten Krieges verschwand Afrika zunehmend aus Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe dem politischen Interesse der Industrienationen. Das Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und nach wie vor bestehende große Interesse ihrer Wirtschaft Entwicklung an den Ressourcen des afrikanischen Kontinents, am Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Öl, an den Erzen und dem Holz, ließ sich in zerfallenden Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu Staaten ebenso lukrativ erfüllen. Afrika erlebte und er- höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos- lebt seitdem ein Jahrzehnt vonKriegen und Bürger- sen. kriegen, die ihren Höhepunkt in dem schrecklichen Ge- nozid in Ruanda und dem Krieg im Kongo erlebten. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD- Fraktion erhält zunächst der Kollege Hans Büttner. Die noch intakten Staaten Afrikas und deren verant- wortungsbewusste Staatsmänner erkannten zunehmend, dass ihre Staaten und dergesamte Kontinent nur dann Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): eine gleichberechtigte Rolle spielen können, wenn sie Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sich auf ihre eigene Kraft, ihre Fähigkeiten und Mög- Herren! Am vergangenen Samstag wurde die Erweite- lichkeiten konzentrieren, selbst handeln und sich nicht rung der EU gefeiert; ich meine: zu Recht. Nach Jahr- länger behandeln lassen. hunderten, die durch religiösen, nationalistischen und rassistischen Fundamentalismus und Terrorismus ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) prägt waren, die in den 40 Millionen Toten des Zweiten (D) Weltkrieges ihren Höhepunkt erlebten, eröffnet sich nun Diese Erkenntnis findet sich in der vom Charisma des die Chance, dass die Völker Europas einen hundertjähri- ersten afrikanischen Präsidenten Südafrikas, Nelson gen Frieden erleben können. Für diesen Frieden haben Mandela, geprägten und von dem jetzigen Präsidenten, Politiker und andere Menschen in Westeuropa 50 Jahre Thabo Mbeki, formulierten Idee der African Renais- erfolgreich gearbeitet. Diesen Frieden haben sich diesance ebenso wieder wie im Afrikaplan des nigeriani- Menschen in Mittel- und Osteuropa mit friedlichen Mit- schen Staatsoberhaupts Obasanjo oder in den Ideen des teln erkämpft. früheren malischen Staatspräsidenten und jetzigen AU- Generalsekretärs Konaré. Diese Erkenntnis ist die Leit- Die jetzigen Grundwerte der EU sind schon seit über schnur der New Partnership for Africa’s Development 50 Jahren die Grundwerte der Vereinten Nationen und ebenso wie die der Gründungsakte der Afrikanischen sind in deren Charta niedergelegt. Sie wurden in der Mil- Union. Sie ist nahezu deckungsgleich mit den Grund- lenniumserklärung der UN erneut feierlich bekräftigt. werten, die wir in Europa haben: Selbstbestimmung des Allerdings lehrt uns die Geschichte – das möchte ichEinzelnen und der einzelnen Staaten, Achtung der vorab sagen –: Feierliche Erklärungen und entspre-Würde des Menschen, Respektierung der Staaten und ih- chende Verfassungen werden und bleiben nur dann Rea- rer Grenzen und deren Überwindung nur auf friedliche lität, wenn mutige Menschen innerhalb der Staaten und Weise durch Kooperation bei Respektierung der jeweili- zwischen den Staaten dafür kämpfen. Das gilt gen für Interessen des anderen, chancengleicher Zugang zu Europa ebenso wie für den Rest der Welt, auch und vor Bildung und Arbeit sowie gegenseitige Kontrolle dieser allem für Afrika. gemeinsamen Grundwerte. Auf unserem Nachbarkontinent Afrika hatten vor So wie die Menschen und verantwortungsbewusste 40 Jahren mutige Staatsmänner wie Kwame Nkrumah, Staatslenker in Europa haben auch die verantwortlichen Julius Nyerere, Léopold Sédar Senghor oder Kenneth Politiker in Afrika erkannt: Dauerhafte Beseitigung von Kaunda versucht, ihre nach einem Jahrhundert kolonia- Armut lässt sich nur durchFrieden und gegenseitige ler Deformation unabhängig gewordenen Staaten undAchtung erreichen. den ganzen Kontinent auf der Basis dieser Grundwerte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ neu zu gestalten. Doch sie scheiterten nicht zuletzt des- DIE GRÜNEN) wegen, weil der sich über 30 Jahre hinziehende Kampf der Dekolonialisierung, der erst 1993 mit der Befreiung Gerade wie die Regierung und das Volk von Ruanda der- Südafrikas sein Ende fand, den Aufbau einer eigenenzeit mit den Folgen des schrecklichen Genozids umge- afrikazentrierten Infrastruktur erschwerte, ja nahezu un- hen, ist ermutigend und verdient Unterstützung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9821

Hans Büttner (Ingolstadt) (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Sie hat nicht nur früher als andere, sondern auch mit (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) enormen finanziellen Mitteln den Kampf gegen die Volksseuche Aids, die den Kontinent noch stärker als Die Entwicklung in und um den Kongo lässt ebenso hof- der Sklavenhandel zu entvölkern droht, in den Mittel- fen wie die in Kenia. Die Entwicklung im Sudan zeigt punkt ihrer Hilfsprogramme gestellt. Sie beteiligt sich aber, wie groß die Aufgaben sind, vor denen die Staaten außerdem intensiv am Aufbau der nationalen und regio- und Politiker in Afrika stehen. Sie nämlich sind jetzt ge- nalen Sicherheitsstrukturen, deren Notwendigkeit im fordert, sich in den Konflikt und die drohende menschli- Sudan erneut deutlich wird. che Katastrophe in Darfur einzumischen. Sie müssen ak- tiv werden und die Weltgemeinschaft muss sie dabei Diese Umorientierung deutscher Afrikapolitik mit aktiv unterstützen. dem Ziel der Stärkung von Eigenverantwortung und Selbstbestimmung hat der Bundeskanzler bei seiner (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Afrikareise zu Jahresbeginn sowohl in seinen Reden als DIE GRÜNEN) auch durch seine Reiseroute sehr gut und symbolisch Es ist im Interesse Deutschlands und Europas, ja im richtig deutlich gemacht. Interesse der gesamten Welt, diese Politik zu unterstüt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zen. Es ist im Interesse Deutschlands, wenn in Afrika DIE GRÜNEN) Staaten mit intakten Strukturen in Verwaltung, inne- rer Sicherheit und Justiz entstehen, weil nur so verläss- Diese Politik bedarf sicherlich noch Ergänzungen und liche Vereinbarungen zu gegenseitiger Kooperation in Anstrengungen bei der weiteren Umsetzung. Dabei geht Politik, Sicherheit und Wirtschaft geschlossen werden es zum einen um die Umsetzung innerhalb der europäi- können. Wer Ruheräume für den internationalen Terro- schen Außen- und Sicherheitspolitik, zum anderen aber rismus beseitigen oder garnicht erst entstehen lassen auch um eine bessere Koordination der jeweiligen Poli- will, muss dafür sorgen, dass Staaten über eine entspre- tikbereiche und der in vielen Fällen verdienstvolle Ar- chende Infrastruktur in Bezug auf Verwaltung, Polizei beit leistenden privaten Entwicklungsorganisationen; und Sicherheitskräfte verfügen, die so etwas verhindern denn auch eine fehlende Koordination auf der Geberseite kann. gefährdet und erschwert den Aufbau der notwendigen, (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) stabilen und intakten Strukturen in den Nehmerländern. Wie sollen sich Arbeits- oder Finanzministerien in Län- Wer der deutschen Wirtschaft einen friedlichen und dern, die nicht größer sind als die kleineren Regionen ungehinderten Zugang zu wichtigen Rohstoffen Deutschlands, in zum Beispiel um den Aufbau einer intak- Afrika erhalten will, braucht verlässliche staatlicheten Steuer- und Finanzverwaltung kümmern können, (B) Strukturen, die die Bestimmungen und Regeln über den wenn sie damit belastet werden, Tausenden von auslän- (D) Zugang einheitlich festlegen, organisieren und überwa- dischen Experten und Entwicklungshelfern – das ist chen können. Wer, wie die deutsche Wirtschaft, aufFakt – Arbeitserlaubnisse und Steuerfreistellungen aus- globales Wachstum angewiesen ist, braucht internatio- stellen zu müssen? nale Kaufkraft auch in unserem Nachbarkontinent, die durch eine Stärkung der regionalen Märke erst geschaf- Man kann mit Recht sagen: Wir sind in unserer Afri- fen werden muss. Das setzt eine Infrastruktur in denkapolitik auf einem guten Weg, haben aber noch viel zu Bereichen Verkehr, Kommunikation, Energie- und Was- tun. Packen wir es gemeinsam an, und zwar nicht nur serversorgung voraus, die nicht länger an alten Kolonial- mit zusätzlichem Geld und guten Worten, sondern mit verbindungen ausgerichtet ist. gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Verantwor- tung, nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern indem Die Regierung Schröder hat die Notwendigkeit einer wir zuhören, Gespräche führen, den Dialog verbessern neuen Afrikapolitik erkannt. Sie hat die Staaten der G 8 und helfen, die Wünsche unserer Partner zu erfüllen. und der EU wesentlich auf die Unterstützung der NEPAD-Initiative eingeschworen und entwicklungspoli- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. tische Kooperationen von Stiftungen und GTZ frühzeitig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auf die Beratung beim Aufbau von Verwaltungsstruktu- DIE GRÜNEN) ren hin orientiert. Sie fördert maßgeblich die Ziele euro- päischer Entwicklungszusammenarbeit beim Aufbau der harten Infrastruktur, wobei eine bessere Koordination Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nationaler und europäischer Maßnahmen sicherlich not- Das Wort hat nun der Kollege Hartwig Fischer, CDU/ wendig ist. CSU-Fraktion. Sie konzentriert sich zunehmend auf die Unterstüt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zung der jeweiligen staatlichen und regionalen Entwick- lungsprogramme, indem sie die Selbstbestimmung der Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): afrikanischen Akteure respektiert und gleichzeitig im In- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! teresse der eigenen Steuerzahler aufTransparenz ach- Statt einer vom Kanzler auf seiner Afrikareise angekün- tet, also darauf, dass die Mittel auch für die Zwecke ver- digten Regierungserklärung gibt es nun eine 45-minütige wendet werden, für die sie vorgesehen sind. Transparenz Debatte. In dieser Debatte sollen mehrere Grundsatz- ist auch die Voraussetzung für die demokratische Kon- anträge zu Afrika sowieAnträge speziell zum Kongo trolle in den afrikanischen Staaten selbst. und zum Sudan behandelt werden. Die Zeit ist nicht 9822 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) annähernd ausreichend, um diese Themen abzuhandeln. cherzustellen? In vielen afrikanischen Staaten tummeln (C) Das ist ein Wortbruch des Kanzlers, der bei einem sosich multilaterale, bilaterale und nicht staatliche Geber entscheidenden Thema, das die Welt bewegt, das Deut- nebeneinander, ohne ihre jeweiligen Projekte und Pro- sche bewegt und das die Menschen in Afrika in ganz be- gramme zu koordinieren. sonderer Weise betrifft, nicht hinzunehmen ist. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) GRÜNEN]: Das ist noch aus Ihrer Zeit! Es In den letzten Tagen haben wir vonFlüchtlings- hätte Ihnen eher einfallen sollen!) strömen im Sudan gehört. Wir haben erfahren, dass Unsere afrikanischen Partner sind mit der Administra- dort Hunderttausende in Flüchtlingslagern lebten undtion dieser vielfältigen Geberaktivitäten oft überfordert. der Flüchtlingsstrom inzwischen auf 700 000 Menschen Es ist aber auch die Aufgabe der Bundesregierung, auf angestiegen ist. EU-Ebene eine bessere Projektabstimmung vorzuneh- Afrika steht in den nächsten Jahren vor gewaltigen men. Herr Ströbele, Sie können Ihren Beitrag dazu leis- gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen He- ten. rausforderungen, die erhebliche Auswirkungen auf (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das Europa und Deutschland haben können. Dabei entspricht stimmt!) die Stabilität in Afrika unseren ureigensten Interessen. Politische Instabilität, Armut und Ordnungslosigkeit in Ein Minimum an selbsttragender wirtschaftlicher Dy- Afrika stellen eine sicherheitspolitische Gefahr dar, weil namik und strukturellen Rahmenbedingungen ist Grund- die Länder auf diesem Kontinent dadurch Operations- voraussetzung für die nachhaltige Bekämpfung von und Rückzugsraum bzw. Rekrutierungs- und Finanzie- Armut. Deshalb dürfen wir die Debatte über die Armuts- rungsquelle für internationalen Terrorismus bzw. inter- bekämpfung nicht von der über die wirtschaftliche Ent- nationale Kriminalität sind oder werden können. Kriege wicklung entkoppeln, wie es die Bundesregierung leider und Konflikte bringen länder- und kontinentübergrei- häufig tut. fende Migrationsströme mit sich, die es einzudämmen gilt. (Beifall bei der CDU/CSU – Karin Kortmann [SPD]: Hat sie noch nie getan!) Unser gemeinsames Ziel muss es sein, eine sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung der afrikani- Anspruch und Ressourcen der deutschen Afrikapoli- schen Staaten zu begleiten und zu fördern. tik fallen eklatant auseinander. Das gilt zum Beispiel für die Erreichung der Millennium Development Goals zur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Halbierung der weltweiten Armut bis 2015. Um diese (B) neten der FDP) Ziele zu erreichen, haben sich die Industriestaaten und(D) Wir müssen aber auch diedeutschen Außenwirt- damit auch diese Bundesregierung verpflichtet, schaftsinteressen an einer vernünftigen und fairen nach- 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die Armutsbe- haltigen Nutzung afrikanischer Rohstoffressourcenkämpfung zur Verfügung zu stellen. Deutschland steht aufzeigen. Es muss sichergestellt sein, dass dieWert- mit 0,27 Prozent in Europa an der 10. Stelle, Dänemark schöpfung der Bodenschätze für eine sich selbst tra- mit 1,06 Prozent ganz oben. gende wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern ver- Afrika will Partner auf gleicher Augenhöhe sein. Das bleibt und dadurch zum Wohl der Bevölkerungerfordert realistische und nüchterne Konzepte. Wir als eingesetzt wird. CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen daher eine Kehrt- Nicht zuletzt liegt der Schutz der Ökosysteme – das wende in der deutschen Afrikapolitik. Wir brauchen eine gilt zum Beispiel für die Auswirkungen des Regenwal- klare Strategie und das nötige Engagement für den Um- des auf das Klima – und der Artenvielfalt Afrikas in un- gang mit sich schnell verändernden gesellschaftlichen ser aller Interesse. und politischen Rahmenbedingungen in Afrika. Die Bundesregierung hat es bisher versäumt, unsere Der Bundesregierung fehlt eine ausreichende Flexibi- Interessen und Ziele in Afrika klar zu definieren, damit lität in der Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Ent- auch unsere afrikanischen Partner wissen, welches un- wicklungspolitik, um auf verändernde Situationen zum sere Absichten sind. Beispiel durch die Vergabe von Unterstützung oder die Verhängung von Sanktionen schneller reagieren zu kön- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen. Es fehlt eine Verzahnung der deutschen und europäi- Wir wollen eine Intensivierung der sicherheitspoliti- schen Außen- und Sicherheitspolitik mit der Politik schen Kooperation mit der Afrikanischen Union, den der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das Auswär- Regionalorganisationen und so genannten Ankerstaaten tige Amt und das BMZ ziehen leider nicht an einem wie Südafrika. Dabei müssen wir unsere afrikanischen Strang. Die Prioritäten- und die Zielsetzung der Bundes- Partner beim Aufbau regionaler afrikanischer Kapazitä- regierung im Hinblick auf die gesellschaftlichen und ten zur Konfliktbeilegung und Konfliktprävention, wie ökonomischen Entwicklungen und Interessen Afrikas beim Aufbau einer afrikanischen Eingreiftruppe, konse- sind falsch. quent unterstützen. Bei fast allen Gesprächen, die wir als Wo ist der Beitrag der Bundesregierung, um auf inter- Parlamentarier im In- und Ausland führen, werden wir nationaler Ebene eine straffere Geberkoordinierung si- gebeten, unser personelles Know-how dabei und beim Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9823

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) Aufbau rechtsstaatlicher Systeme und einer effektiven Danach befahlen sie meinem Bruder: „Du musst(C) Verwaltung zur Verfügung zu stellen. jetzt vor uns mit deiner Mutter schlafen, und zwar schnell!“ Mein Bruder lehnte ab. Meine Mutter Wir sehen, dass viele afrikanische Staaten auf dem sagte nichts. Ein Mann hielt seine Waffe an ihren richtigen Weg in eine selbstverantwortete Zukunft sind. Kopf und schoss auf sie. Sie fiel tot neben meinem Dies spiegelt sich auch in der Neuen Partnerschaft für Vater hin. Afrikas Entwicklung wider. Die Afrikaner wissen, dass sie selbst die größte Verantwortung tragen. Wir müssen Ich wurde entführt, monatelang vergewaltigt und aber diese Initiativen weiterhin konstruktiv begleiten. konnte bei einem zweiten Fluchtversuch den Män- Wir wollen eine Stärkung der diplomatischen Präsenz nern entkommen. Ich war inzwischen hochschwan- in den deutschen Botschaften und bei den UN-Missio- ger. Dieses Martyrium dauerte eineinhalb Jahre. nen. Wir haben, als wir mit einer fraktionsübergreifen- Wir dürfen diesen Grausamkeiten nicht länger zu- den Delegation im Kongo waren, gesehen, was Stiftun- schauen. Die Bundesregierung muss sich bei der UN da- gen leisten können. Bei einem Rechtsstaatsseminarfür einsetzen, dass auch die UN-Mission in Nord- und haben wir im dortigen Krisengebiet erlebt, wie dieSüd-Kivu – ähnlich wie in Bunia, wo es zu einer Stabili- Konrad-Adenauer-Stiftung ihren Beitrag zur Entwick- sierung gekommen ist – mit einer entsprechenden Perso- lung einer Zivilgesellschaft leistet, was in anderen Län- nalkapazität ausgestattet wird. dern auch die übrigen Stiftungen tun. Wir müssen jetzt die Voraussetzungen schaffen, um gerade beimAufbau Trotz dieser Darstellung glaube ich, dass es in Afrika rechtsstaatlicher Strukturen die positiven Entwicklun- insgesamt viel mehr Licht als Schatten gibt. Die Afrika- gen auf afrikanischer Seite nachhaltig zu unterstützen. ner jedenfalls wollen, dass es dort mehr Licht gibt. Sie leisten dazu ihren Beitrag. Wir können ihnen dabei hel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fen. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Leider dient der Reichtum Afrikas selten der Bevöl- Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ kerung oder dem Nationalstaat, sondern häufig der DIE GRÜNEN]) schamlosen Bereicherung krimineller Elitenetzwerke und terroristischer Strukturen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist der Punkt!) Das Wort hat nun die Kollegin Marianne Tritz, Bünd- Oft ist der Reichtum an Bodenschätzen die eigentliche nis 90/Die Grünen. Ursache für Konflikte und Bürgerkriege, wie es auch im (B) (D) Gebiet der Großen Seen der Fall ist. Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei unserem Besuch in der Demokratischen Republik Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Kongo haben wir erlebt, dass insbesondere Frauen und alle reden mit großer Selbstverständlichkeit über Afrika. Kinder unter diesem Konflikt leiden. Wir wollen Eigenverantwortung und Selbstbestimmung (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE für Afrika. Wir ersehnen eine Stabilisierung in Afrika. GRÜNEN]: Das stimmt!) Wir wollen Afrika fördern und fordern und streben ein Umdenken in der Afrikapolitik an. Wir haben mit Frauen gesprochen, die von Milizen und ehemaligen Mitgliedern der ruandischen Armee aus (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ ihren Dörfern verschleppt, brutal vergewaltigt und DIE GRÜNEN) schwanger wurden. Das alles geschah, um die Menschen Manchmal stockt mir der Atem bei so viel Mut, aber in der Region zu demoralisieren. auch bei der Vermessenheit, die wir in Bezug auf Afrika Ich zitiere einen Auszug aus dem Bericht eines miss- an den Tag legen. In den letzten Monaten, während der handelten Mädchens, den es am 23. Oktober in Goma europäischen Erweiterung, haben wir schwierige politi- niedergeschrieben hat: sche Prozesse vollzogen. Aber bei aller Freude über die Erweiterung behalten die Nationalstaaten für uns ihre Mein Name ist Safi. Ich komme aus der ProvinzBedeutung: Wir lieben das italienische Dolce vita, den Süd-Kivu. Ich bin jetzt 17 Jahre alt. englischen Humor, die deutsche Gründlichkeit und die Es war im April 2002, als die Milizen zu uns ka- französische Küche, wir bewundern die lettische Infor- men. Sie sind gewaltsam ins Haus eingedrungen. mationsgesellschaft und das finnische Bildungswesen. Wir waren alle da: meine Mutter, mein Vater, mein Unseren Nachbarkontinent aber mit seinen 50 Staa- älterer Bruder und meine vier jüngeren Brüder und ten, seinen über 2 000 Sprachen, seinen unterschiedli- Schwestern. chen Stärken und Schwächen und verschiedenen Kultu- Die Männer richteten ihre Waffen auf meinen Vater. ren reduzieren wir aber auf „Afrika“. Das ist sogar Sie sagten zu meinem Vater: „Du, Papa, du musst nachvollziehbar; denn würden wir versuchen, alle Wi- jetzt vor unseren Augen mit deiner Tochter schla- dersprüche, Extreme, Besonderheiten und die Mannig- fen!“ Mein Vater flehte sie an, dass er das nicht ma- faltigkeit der Länder, Landschaften und Kulturen Afri- chen könne, weil ich sein Kind sei. Da erschossen kas zu verstehen, würden wir an diesem Kontinent sie ihn vor unseren Augen. verzweifeln. Meine Fraktion nehme ich da nicht aus. 9824 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Marianne Tritz (A) Dieses Afrika kann einen schon ratlos machen: hin- Sinn, Gelder für Infrastrukturmaßnahmen bereitzustel-(C) reißend schön – abstoßendes Elend, unglaubliche Land- len, wenn sie für Prestigeobjekte zweckentfremdet wer- schaften – mörderisches Klima, atemberaubende Tier- den. An vielen Stellen müssen wir noch genauer hin- welt und Luxus im Überfluss auf der einen Seite gucken – und unsere Mittel und Politik zielgerichteter millionenfacher Hunger auf der anderen, Hütten, dieeinsetzen. noch nicht einmal diesen Namen verdienen, neben Pa- Afrika selbst muss dieBedingungen und Vorausset- lästen in unmittelbarer Nachbarschaft und dann diese un- zungen schaffen, damit unsere Hilfe überhaupt greifen glaubliche Armut, Kriege, Völkermord und über allem kann. Um uns nicht zu überfordern, müssen wir Prioritä- das Sterben von Hunderttausenden an Aids. Wir lieben ten setzen und uns die Belastungen mit den europäischen Afrika und wir verfluchen Afrika, aber wir müssen im- Nachbarn teilen. Unsere gesamte Afrikapolitik hat nur mer wieder nüchtern bilanzieren, wo dieser Kontinent im europäischen Kontext eine Chance, erfolgreich zu steht und wohin er will, warum er uns von Bedeutung ist sein. Nationale Alleingänge sind nicht kraftvoll genug, und wie wir ihm helfen können. um wirklich effektiv zu sein. In diesem Zusammenhang Die Hauptherausforderungen, vor denen Afrika steht, muss man die Initiative des Bundeskanzlers und seiner lassen sich in vier Bereiche einteilen: Staatszerfall, re- Afrika-Beauftragten Uschi Eid würdigen, mit dem G-8- gionale Gewaltkonflikte, Armut und Aids. Diesen zen- Afrika-Aktionsplan den reformwilligen Staaten lang- tralen Herausforderungen wollen wir uns mit einer auf- fristige und nachhaltige Unterstützung bei ihren Refor- einander abgestimmten außen-, entwicklungs- undmen anzubieten. sicherheitspolitischen Herangehensweise stellen. Dazu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehört, dass wir ehrlich benennen, welches Interesse wir sowie bei Abgeordneten der SPD) an Afrika haben, dass nämlich die soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung Afrikas in unserem elemen- Afrika erkennt mittlerweile seine Eigenverantwortung taren Sicherheitsinteresse liegt. an. Ohne diese Eigenverantwortung bleibt jedoch jede entwicklungs-, außen- und sicherheitspolitische Hilfe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von außen wirkungslos. Das, was von einigen afrikani- sowie bei Abgeordneten der SPD) schen Staaten auf den Weg gebracht wurde, macht Mut Was tun wir? Wir unterstützen den schwarzen Konti- und stimmt hoffnungsvoll: Die Neue Partnerschaft für nent bei seinen Bemühungen, sich stärker in die Welt- die Entwicklung Afrikas, genannt NEPAD, entwirft eine wirtschaft zu integrieren. Wir wollen die subventionierte weit reichende Entwicklungsstrategie für den afrikani- europäische Agrarpolitik so geändert sehen, dass es für schen Kontinent. Die Afrikanische Union will Demokra- afrikanische Produkte einen breiten Zugang zum Welt- tie und Menschenrechte durchsetzen und sich bei Völ- (B) markt gibt. kermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die(D) Menschlichkeit endlich in die inneren Angelegenheiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN anderer afrikanischer Staaten einmischen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Damit komme ich zu meinem letzten Punkt: Nach den Wir setzen uns für Entschuldung ein, wir pumpen Geld fürchterlichen Massakern im Kongo und zehn Jahre nach in die Armutsbekämpfung und in den Bildungssektor dem Völkermord in Ruanda hat sich die internationale und sind einer der größten Geber bei der Bekämpfung Staatengemeinschaft geschworen: Nie wieder, nie wie- von HIV bzw. Aids. Wir fördern den Aufbau rechtsstaat- der Völkermord! Trotz dieses Schwures könnte aber ge- licher Institutionen. Deutschland unterstützt gezielt nau diese Entwicklung jetzt imSudan eintreten: Mehr Maßnahmen der Konfliktprävention und Konfliktbear- als zehntausend Tote und über eine Million Flüchtlinge beitung. sind das Ergebnis der Politik der verbrannten Erde, auf Aber wir tendieren auch dazu, uns zu überschätzen. die der sudanesische Militär- und Staatschef setzt. Die Wenn ich mir die Afrika-Anträge anschaue und die dazu- von ihm ausgerüsteten Milizen rauben, morden, brand- gehörigen Kataloge von Forderungen an die Bundes- schatzen und vergewaltigen mit Unterstützung der suda- regierung, dann kann man eigentlich nur zu mehr Rea- nesischen Regierung, die die Dörfer der Aufständischen lismus mahnen. Wir tun häufig so – ich nehme bombardiert. da Das klare und eindeutige „Nie wieder!“ der ausdrücklich keine Fraktion aus –, als wenn wir allesinternationalen Gemeinschaft nach den Vorkommnissen Elend, alle Sorgen und Nöte auf dem afrikanischen Kon- in Ruanda weicht gerade windelweichen und völlig inak- tinent bekämpfen könnten, wenn wir nur genug Geld für zeptablen Stellungnahmen. Entwicklungszusammenarbeit, mehr Soldaten zum Ein- (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!) greifen bei Konflikten, mehr technische und medizinische Hilfe zur Verfügung stellen würden, wenn wir denn nur Wir unterstützen alle Initiativen der Afrikanischen mahnender mit afrikanischen Politikern reden würden. Union, die dazu führen, dass gewalttätige Konflikte in Zukunft von den Afrikanernselbst gelöst werden kön- Aber, mit Verlaub, so einfach ist das nicht. Es macht nen. Dazu helfen wir ihnen beim Aufbau und bei der wenig Sinn, Millionen von Euro in die Bekämpfung von Ausbildung von afrikanischen Friedenstruppen, die al- HIV bzw. Aids zu stecken, wenn es keine Strukturen ei- lerdings in demokratische Strukturen eingebunden sein nes Gesundheitswesens gibt, die den Zugang zu Medika- müssen. menten ermöglichen. Es ist zweifelhaft, wenn Land um- verteilt wird, die Neubesitzer aber nicht ausgebildet Afrika möchte als gleichberechtigter Partner an der werden, dieses Land zu bewirtschaften. Es macht keinen Gestaltung globaler Politik aktiv teilnehmen. Unterstüt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9825

Marianne Tritz (A) zen wir es auf seinem Weg zu mehr Anerkennung und der feststellen, dass im Süden der Region Kivu genau (C) Selbstbestimmung, damit es nicht länger als ein Ort der das Gegenteil der Fall ist; Kollege Fischer hat das vorhin Kriege und Katastrophen, sondern als Region der Hoff- sehr eindrucksvoll geschildert. nung und des Aufbaus angesehen wird! Welche Rolle erwartet man von der Bundesrepublik Danke. Deutschland? Wenn man vor Ort unterwegs ist, hört man von den Menschen, dass sie von uns eine stärkere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vermittlerrolle erwarten. Sie sagen, wir sollten uns ak- und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Friedbert tiv als Vermittler in diesen Prozess einmischen. Die Bun- Pflüger [CDU/CSU]) desrepublik Deutschland hat einen hervorragenden Ruf im Kongo, in Ruanda und in Uganda. Man bittet uns ge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: radezu, hier aktiv zu werden. Ich bitte, dass dies von der Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Heinrich, FDP- Bundesrepublik stärker beachtet wird. Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ulrich Heinrich (FDP): Leider Gottes sind die vier Minuten, die mir für meine Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undRede zur Verfügung stehen, schon fast wieder vorbei. Herren! Der Prozess, in Afrika zu Eigenverantwortung Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen. Es geht um und Selbstbestimmung zu kommen, geht sehr langsam den Friedensprozess in Somalia. Es ist fast vermessen, und schleppend voran; alle meine Vorredner haben das dabei von einem Friedensprozess zu sprechen, aber dort unterstrichen. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen. sind erste Regungen festzustellen. Die Warlords kom- Unter anderem ist das weit gehende Fehlen von Füh-men zusammen, aber sie benötigen einen runden Tisch. rungseliten zu nennen. Sie brauchen jemanden, der sich zur Verfügung stellt und als Katalysator wirkt.Auch von dieser Seite höre Trotz allem muss man festhalten: Der Rahmen steht. Die ich, dass die Bundesrepublik Deutschland in dieser AU hat vor zwei Jahren ein klares Bekenntnis zu Demokra- Frage eine wichtige Vermittlerrolle spielen könnte. tie und zur Einhaltung der Menschenrechte abgelegt. Durch die Abkehr von der Strategie der Nichteinmischung in in- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Vorsicht!) nere Angelegenheiten anderer Staaten bei Völkermord,– Lassen Sie es mich so sagen: Andere hören etwas an- Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlich- deres. keit gibt es die Chance auf einen Wandel in der afrikani- schen Menschenrechtspolitik. Die NEPAD – New Partner- Ich möchte deutlich machen, dass wir nicht erst dann (B) ship for Africa’s Development – wurde mit dem Zieltätig werden dürfen, wenn die UNO von uns fordert, Sol- (D) gegründet, die Milleniumserklärung der Vereinten Na- daten in den Kongo zu schicken, und nachdem die Frak- tionen umzusetzen und in eigener Verantwortung zution der FDP in ihrem hier eingebrachten Antrag zum kontrollieren, um den Peer-Review-Prozess zu begleiten. Sudan konkrete Vorschläge gemacht hat. Wir müssen Eine ganze Reihe von regionalen Zusammenschlüssen uns weit im Vorfeld dieser politischen Entwicklungen wie IGAD, ECOWAS oder SADC sollen die Zusam-stärker einmischen, um zu verhindern, dass die Dinge menarbeit fördern und demokratische und rechtsstaatli- aus dem Ruder laufen. che Strukturen schaffen. Der Rahmen stimmt also. Wir, Ich hoffe sehr, dass wir mit weiteren Anträgen ande- die internationalen Geber, sind bereit, mitzuhelfen, die- rer Fraktionen rechnen können, wenn der Antrag der sen Rahmen zu stabilisieren. FDP überwiesen wird, um eine intensive Diskussion Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, als zu er- führen zu können, und dass wir verhindern, dass es einen kennen, dass die Realität trotz aller Bemühungen und weiteren Völkermord im Sudan gibt. aller guten Ansätze anders aussieht. Staaten sind bereits Herzlichen Dank. zerfallen oder befinden sich im Zustand des Zerfalls. Bürgerkriege, ethnische Säuberungen, Kampf um Bo- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) denschätze und vieles mehr sind in einer ganzen Reihe von Staaten leider Wirklichkeit. Hinzu kommt, dass die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Weltgemeinschaft fast damit überfordert ist, überall dort, wo sie gebraucht wird, auch tatsächlich einzuschreiten. Ich erteile dem Kollegen Siegmund Ehrmann, SPD- Fraktion, das Wort. Welche Rolle spielen die UN? Welche Rolle spielt Deutschland? Welche Rolle kann die EU angesichts die- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. ser Szenarien spielen? Wenn man sich vor Ort erkundigt Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Kollege Fischer hat bereits auf unsere Reise hingewie- NEN]) sen –, muss man feststellen, dass die UN leider nicht im- mer den besten Ruf haben. Sie werden in der Regel als Siegmund Ehrmann (SPD): zu lasch und zu gleichgültig bezeichnet, ihr Vorgehen Herr Kollege Fischer, der Abgesang Ihrer Rede hat wird als nicht zielführend dargestellt. Ihr Ruf ist beson- mich beeindruckt. Das hörte sich gut an. Darüber, was ders im Kongo nicht einheitlich. In der Gegend umSie zwischendurch abgeliefert haben, müssen wir uns Bunia konnten die UN ein einigermaßen robustes Man- aber noch detailliert unterhalten. Ich komme gleich dat nach Kap. 7 verwirklichen. Dagegen muss man lei- gerne darauf zurück. 9826 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Siegmund Ehrmann (A) (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das war ge- Konzept. Ich stelle für mich fest, liebe Kolleginnen und (C) nau richtig, Herr Ehrmann! Davon sollten Sie Kollegen von der Opposition: Das war ein schwerer lernen!) Stockfehler. Sie ignorieren nämlich bei dieser Bewer- tung maßgebliche Leitlinien des Regierungshandelns; in Bevor ich zu einer resümierenden Bewertung dieser diesem Zusammenhang ist der G-8-Afrika-Aktions- politischen Debatte über Afrika komme, möchte auch plan zu nennen. Zudem beinhaltet das Positionspapier ich auf die bedrohliche Situation imSudan eingehen. zur Entwicklungszusammenarbeit mit Sub-Sahara- Nach zunächst hoffnungsvoll stimmenden Verhand-Afrika nicht nur allgemeine strategische Aussagen, son- lungsphasen, die dann allerdings von schweren Kampf- dern auch sehr konkrete und treffliche Beispiele, die im handlungen überlagert worden sind, erreichen uns seit Grunde genommen Ihre ganze Argumentation, Herr Anfang des Jahres dramatische Nachrichten. Wichtige Fischer, widerlegen. Man muss nur bereit sein, dies zur Punkte sind genannt worden: über 2 000 Tote vor weni- Kenntnis zu nehmen. Herrn von und zu Guttenberg kann gen Wochen, als die Regierung Grenzgebiete bombar- ich nur sagen: Natürlich sind die Papiere mühsam zu le- dieren ließ, 1 Million Flüchtlinge, etwa 2 Millionen sen. Aber man hätte nur den Reden von Frau Wieczorek- Menschen, die im gesamten Sudan von dem Desaster be- Zeul und Frau Eid lauschen müssen, um einen qualifi- troffen sind, und ein sich neu entwickelnder Konflikt- zierten Erkenntniszuwachs zu erzielen. herd im Bundesstaat Darfur. Der UN-Koordinator für den Sudan, Kapila, spricht von einem organisierten Ver- Die Initiativen der Bundesregierung zum Sudankon- such, eine Volksgruppe vollständig auszulöschen. Kofi flikt belegen aus meiner Sicht, dass auf der Grundlage Annan erkennt einen drohenden Völkermord. Nahrungs- eines strategisch abgestimmten und fachübergreifenden mittelhilfen und die medizinische Versorgung sind unter Konzeptes gehandelt wird. massiver Beteiligung der Bundesregierung eingeleitet (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Besonders worden. – Vor dem Hintergrund dieses Szenarios be- im Kongo!) grüßt die SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich, dass sich die Bundesregierung, insbesondere in Form der Mi- Sie belegen aber auch, dass die Regierung im Einzelfall nisterin Wieczorek-Zeul, öffentlich und durch Initiativen in der Lage ist – das haben Sie eingefordert, Herr in den überstaatlichen Institutionen klar positioniert hat, Fischer –, zeitnah und flexibel zu agieren. Wie heißt es um den Druck auf die sudanesische Regierung zu erhö- so schön? – Die Wahrheit ist konkret. hen. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Sehr konkret! In (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Simbabwe ist es auch sehr konkret!) DIE GRÜNEN) Man muss sich in dieser Debatte mit den Dingen im De- (B) Für die humanitäre Soforthilfe sind erhebliche Mittel tail auseinander setzen. (D) bereitgestellt worden. Freitag wird sich der VN-Sicher- Wer der Rede von Herrn Vaatz gelauscht hat und sich heitsrat auf ausdrückliches Betreiben unserer Bundesre- nicht auskannte – bitte nehmen Sie es mir nicht übel –, gierung mit dem Sudan befassen. Die internationale Ge- konnte zumindest einen interessanten Literaturhinweis meinschaft zieht an einem Strang. Das gilt für die entgegennehmen. Ansonsten gab es nur die pauschale Vereinten Nationen, für die EU und auch für die USA. Kritik, es gebe kein Gesamtkonzept. Zudem wurde die Überdies hat die Bundesregierung gestern im Kabinett Unfähigkeit der Koordination beklagt. Das haben wir initiiert, dass die AKP-Ratsgruppe der EU die Prozesse schon häufiger gehört. Mich hat das allerdings erstaunt, so beschleunigt, dass die EU-Friedensfazilitäten mobili- weil ich bisher eine bedeutend stärkere gemeinsame siert werden können. Auch das ist ein Beweis für das Grundhaltung ausgemacht hatte. vortreffliche Handeln unserer Regierung. Sie reklamieren – das steht auch in Ihren Anträgen –, (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des dass wir eine klarere Interessendefinition brauchen. Abg. Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE Was ist damit gemeint, Herr Fischer? Sie haben vorhin GRÜNEN]) erklärt, die Afrikaner müssten wissen, was wir von ihnen Entsprechend unserem Verständnis vonPartner- erwarten. schaft und Dialog – da haben mir manche Ihrer Formu- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: lierungen, Herr Fischer, nicht zugesagt – werden wir Richtig!) aber eines nicht machen können: Wir können nicht auf deutscher oder EU-Ebene einseitig bewerten, entschei- Unsere Erwartung ist definiert. Wir wollen auf gleicher den und in direktem Zu- und Durchgriff handeln. Hier ist Augenhöhe als Partner in einen Dialog eintreten. die AU gefordert; sie hat ihre Verantwortung auch be- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: reits erkannt. Die afrikanischen Nationen müssen in ge- Das habe ich doch gesagt!) steigertem Maße dazu beitragen, die Konflikte auf ihrem Kontinent zu bändigen. Unsere Erwartung wird durch das Interesse der Afrikani- schen Union widergespiegelt, demokratische und sichere Noch ein Wort zum Sudan, zugleich als Überleitung Strukturen zu entwickeln. zu meiner Bewertung der Afrikadebatte. In der Debatte im Februar hat Herr von und zu Guttenberg der Bundes- Afrikapolitik ist mehr als Außenwirtschafts- und regierung vorgehalten, es fehle ein schlüssiges, kohären- Energiepolitik. Es geht um einen breit abgesteckten tes außen-, entwicklungs- und verteidigungspolitisches Pfad. Diesen müssen wir innerhalb der Völkergemein- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9827

Siegmund Ehrmann (A) schaft beschreiten, damit Instabilitäten und Unsicherhei- eine europäische Afrikapolitik, in der es hohe Zeit ist,(C) ten reduziert werden, damit sich die Menschen ent-unsere deutschen Anliegen deutlicher zu benennen und wickeln können und – wir sind keine Altruisten – damit zu vertreten. Die Republik Südafrika ist eines der großen Investitionen langfristig die vorhandenen wirtschaftli- Beispiele für einen demokratischen und fortschrittlichen chen Potenziale freisetzen. Physische, soziale, politi-Staat und für einen verlässlichen Partner auch für die sche, rechtliche und wirtschaftliche Unsicherheiten zu deutschen Außenwirtschaftsinteressen. bändigen als überholtes Verständnis einer Entwicklungs- Die uns heute vorliegenden Anträge spiegeln die Tat- zusammenarbeit zu bezeichnen, wie es Herr von und zu sache wider, dass die afrikanischen Länder zu einem Guttenberg getan hat, ist schon ein starkes Stück. gleichberechtigten Partner geworden sind. Ihre Bereit- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schaft und Kapazitäten zur Übernahme von Eigen- verantwortung bei der Bewältigung der anstehenden Afrika, dieser riesige, schöne und an wunderbarenProbleme gilt es wahrzunehmen und zu unterstützen. Menschen reiche Kontinent, hat sich zur Jahrtausend- Dabei hat der Austausch mit der Afrikanischen Union, wende neu verfasst. Der neu formulierte und neu for-die Unterstützung der Arbeit der NEPAD und die Um- mierte ernsthafte Wille, vorrangig auch die eigenensetzung des Afrika-Aktionsplans der G 8 eine bleibende Kräfte für Frieden und Entwicklung zu mobilisieren,Bedeutung. verdient unser Vertrauen. Ich stelle für mich fest – das spiegelt sich in den Anträgen der Koalitionsfraktionen Immer deutlicher wird die Erkenntnis, dass ein wider –: Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich wünschte gleichberechtigter Dialog im Interesse aller liegt. Ein be- mir, dass wir auch in denGrundpfeilern dieser Politik sonderes Gewicht hat hierbei die Tatsache, dass die deut- über den Tag hinaus zu mehr Gemeinsamkeit finden. – sche Politik zunehmend in eine europäische Außen- und Herr Ruck, ich weiß, dass auch Sie lernfähig sind. Sicherheitspolitik eingebettet ist. Unter den europäi- schen Partnern gibt es Staaten, die dezidiert eigene Inte- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So nicht, ressen benennen und durchzusetzen verstehen. Dass die Herr Ehrmann! – Weiterer Zuruf von der Gründe hierfür auch in der kolonialen Vergangenheit CDU/CSU: Das ist eine Unterstellung!) mancher Staaten liegen, ist bekannt. Dass wir in Deutschland eine vergleichsweise geringe Belastung aus Danke schön. dieser Zeit mit uns tragen, verstehe ich eher als Chance. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir sind ein Dialogpartner, dem in Afrika großes Gehör DIE GRÜNEN – Dr. Christian Ruck [CDU/ und großes Vertrauen entgegengebracht wird. CSU]: Nehmen Sie das eventuell zurück?) Das wurde auch in den erfolgreichen Gesprächen (B) deutlich, die die parlamentarische Delegation und die(D) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Teilnehmer der Wirtschaftsdelegation bei derAfrika- Das Wort hat nun Anke Eymer, CDU/CSU-Fraktion. reise des Bundeskanzlers geführt haben. Äthiopien, Kenia, Südafrika und Ghana – die Länder, die wir bereist (Beifall bei der CDU/CSU) haben, gehören zu jenen Staaten, die zukünftig im be- sonderen Fokus der deutschen Afrikapolitik stehen wer- den. Wir stehen vor der Entscheidung, ob Deutschland (Lübeck) (CDU/CSU): Anke Eymer zu einem Global Player oder nur zu einem Statisten in Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! der internationalen Afrikapolitik wird. Dabei hilft unse- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Afrika ist ein rer Politik aber nicht, nur einen weiten und allgemeinen Thema, dem sich die deutsche Politik in jüngerer Ver- Bogen für ein neues Konzept zu entwerfen. Unsere Afri- gangenheit vermehrt zuwendet. Es ist eine erfreuliche kapolitik braucht eine deutliche Benennung von deut- Tatsache und eine notwendige Konsequenz. Das ist eine schen Interessen, die wir auch verfolgen. Konsequenz aus der Tatsache, dass die Zeit der überhol- ten Klischees keine Grundlage für eine solide Afrika- Ich beziehe mich auf den vorliegenden Antrag meiner politik des 21. Jahrhunderts ist. Fraktion: Zu einem nachhaltigen und effizienten Einsatz unserer Mittel gehört neben dem Abrücken von Ideolo- Afrika ist weder nur als Entwicklungsgebiet zu sehen, gie und überhöhten Zielvorstellungen auch eine sinn- noch ist Afrika nur das Land der Naturkatastrophen und volle Koordinierung der Mittel und der verantwortli- der ethnischen Kriege. Es gibt Licht in Afrika, so habe chen Ministerien. Es hilft weder, sich in einige wenige ich meinen Kollegen Fischer verstanden. Um ein Bei- Details zu verbeißen, noch hilft es, in einer breit gefä- spiel zu nennen: Zehn Jahre Überwindung der Apartheid cherten Aufzählung die konkreten Probleme zu umge- in Südafrika – daran wird in diesen Wochen nicht nur in hen. Südafrika, sondern auch an vielen Orten bei uns feierlich gedacht. Das ist viel mehrals nur ein historisches Ge- Ich möchte meine feste Überzeugung zum Ausdruck denken der großen Erfolge, die sich auch um eine Person bringen, dass es auf einer soliden und sachlichen Grund- wie Nelson Mandela ranken. Es geschieht in einer festen lage auch im Hinblick auf den vorliegenden Antrag der und zukunftsorientierten Überzeugung: Südafrika gehört SPD-Fraktion mit uns als Opposition konstruktive Wege in die Gruppe jener Staaten, die verlässliche Partner für einer Zusammenarbeit geben kann. Unsere Afrikapolitik eine neue deutsche und europäische Afrikapolitik sind, muss sachlich und realistisch werden. Wir müssen sa- gen, was wir wollen. Unsere Ziele müssen realistisch an (Beifall bei der CDU/CSU) unseren Möglichkeiten orientiert sein. Europa grenzt an 9828 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Anke Eymer (Lübeck) (A) Afrika. An dieser Chance und Herausforderung muss Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): (C) sich endlich auch die deutsche Politik orientieren. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ich danke für die Aufmerksamkeit. Wieczorek-Zeul, ich glaube, was denSudan anbetrifft, (Beifall bei der CDU/CSU) liegen wir nicht auseinander. Vielleicht hätten wir aber schon sehr viel früher und sehr viel aufmerksamer rea- gieren müssen. Ich glaube, ein verdächtiges Signal war Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: bereits die Ablösung unseres früheren Kollegen Gerhart Zu einer Kurzintervention erteile ich der KolleginBaum als Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen. Wieczorek-Zeul das Wort. Eine Reihe von Ereignissen ist langfristig erkennbar ge- wesen. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein – ich Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte werde versuchen, das noch an einigen anderen Punkten ist mehrfach der Sudan zur Sprache gekommen. Ich bin deutlich zu machen –, dass wir es in Khartoum mit selbst auf dieses Thema angesprochen worden. Ich will einem Regime zu tun haben, das nicht darauf ausgelegt an dieser Stelle sagen und ich glaube, es fühlt jeder so ist, den Menschenrechten und dem Respekt gegenüber wie ich, dass wir die sudanesische Regierung auffordern anderen Religionen und Rassen die notwendige Sorgfalt endlich die Unterstützung der Milizen in Darfur, die die und Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. afrikanischstämmige Bevölkerung vertreiben, aufzuge- ben – dieser Vertreibung muss ein Ende gemachtMan muss allerdings korrekterweise hinzufügen, dass sich zum Beispiel die Repräsentanten der so genannten werden – und dazu beizutragen, dass die Menschen auch Südsudanesen auch nicht mit Ruhm bekleckert haben. durch humanitäre Hilfe erreicht werden. Das heißt: Der Die Verbrechen bis hin zuMorden und Vergewaltigun- Waffenstillstand muss endlich eingehalten werden. gen und das tägliche Drangsalieren anderer werden in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diesem Lande auf allen Seiten praktiziert. Ich glaube, DIE GRÜNEN) dass es in der Tat richtig ist, dass die Europäische Union und die internationale Gemeinschaft stärker als bisher Diese Forderung müssen wir alle erheben. darauf hinweisen. Ich fordere die sudanesische Regierung auf, den Ver- Zu vielen Konflikten haben wir zwar nicht geschwie- treibungen ein Ende zu machen. Ethnische Vertreibun- gen, aber mich hat es verwundert, dass wir jahrelang gen, wo auch immer sie stattfinden, dürfen von der inter- mehr oder weniger nur zugeschaut haben. Wenn wir uns nationalen Gemeinschaft nie mehr hingenommenheute Rechenschaft ablegen, dann müssen wir eingeste- (B) (D) werden. Bei solchen Vertreibungen darf niemand weg- hen: So viel hat sich nicht verändert. Wenn man die Be- sehen. richterstattung über Afrika genau verfolgt sowie an den Kongo, den Hartwig Fischer al s Beispiel genannt hat, und (Beifall bei der SPD) an das denkt, worauf Hans Büttner verwiesen hat, dann stellt man fest, dass tagtäglich in vielen Ländern des afri- Ich habe Gespräche mit dem Exekutivdirektor des kanischen Kontinents viel mehr Menschen ums Leben Welternährungsprogramms, James Morris, und dem UN- kommen als zum Beispiel im Irakkonflikt. Damit kein Beauftragten für den Sudan geführt, die mit einer UN- Missverständnis entsteht: Ich möchte natürlich nicht auf- Delegation in Darfur waren. rechnen. Aber auch daran kann man erkennen, dass die (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Weltöffentlichkeit die einzelnen Konflikte mit unter- schiedlichen Maßstäben misst und mit unterschiedlicher Beide haben ebenso wie die Vertreterinnen und Vertreter Aufmerksamkeit verfolgt. Vielleicht ist die heutige De- der Zivilgesellschaft, mit denen ich gestern zusammen- batte eine Gelegenheit, stärker darauf hinzuweisen. gekommen bin, festgestellt, dass Friedenstruppen vor (Beifall bei der CDU/CSU) Ort für den Schutz der Bevölkerung sorgen müssen und dass im Sudan humanitäre Hilfe geleistet werden muss. Man kann es aber auch zynischer formulieren, wenn Diese Forderung will ich an dieser Stelle noch einmal man will: Im Schatten der Konflikte im Nahen und hervorheben und darauf hinweisen, dass es auf europäi- Mittleren Osten sind Millionen Menschen in Afrika scher Ebene die Friedensfazilität für Afrika gibt. Wir ums Leben gekommen. Ich kann mich nicht erinnern haben uns gestern im Kabinett dafür entschieden, diesen – das ist eine kühle Feststellung –, dass sich bedeutende Weg der Unterstützung einzuschlagen. Das heißt, dieFührer der verschiedenen christlichen Kirchen in der Afrikanische Union wird Friedenstruppen vorschlagen, Welt und insbesondere in Europa zu den Massakern in die die Europäische Union finanzieren soll und wird. Ich Afrika geäußert haben. meine, diese Aufgabe und Zielsetzung sollten wir alle (Widerspruch bei der SPD) gemeinsam angehen und unterstützen. – Können Sie mir den Namen eines bedeutenden deut- (Beifall bei der SPD) schen Kirchenführers nennen, der in aller Deutlichkeit gesagt hat: Das, was wir an dieser Stelle für falsch hal- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ten, halten wir auch an jener Stelle für falsch? Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen Tatsächlich wurde immer nur eine Seite kritisiert. Ich Hedrich. glaube, das müssen wir uns vorhalten lassen. Im Kon- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9829

Klaus-Jürgen Hedrich (A) flikt an den Großen Seen – das wissen auch Sie – haben Herzlichen Dank. (C) sogar Kirchenführer dazu aufgerufen, sich an den Mas- sakern zu beteiligen. Wenn man heute mit Verantwortli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen der katholischen Kirche und insbesondere im Vati- neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE kan redet, dann stellt man fest, dass diese – zu Recht – GRÜNEN und der FDP) darauf verweisen, dass dies eines der dunklen Kapitel der jüngsten Geschichte der christlichen Kirchen gewe- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sen ist. Ich schließe die Aussprache. Ich möchte hier keine Aufrechnungen vornehmen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- Mir geht es nur darum, darauf hinzuweisen, dass wir uns gen Ausschusses auf Drucksache 15/3071 zu dem An- den bewaffneten Konflikten und dem Morden in Afrika trag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit zuwenden, mit Die Grünen mit dem Titel „Afrika auf dem Weg zur Ei- der wir das bei anderen Konflikten tun. Ich wiederhole: genverantwortung und Selbstbestimmung unterstützen“. Vielleicht trägt die heutige Debatte dazu bei, dies einDer Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- wenig zu ändern. sache 15/2478 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- GRÜNEN und der FDP) tion angenommen worden. Wir beklagen zu Recht, dass die Bundesregierung in Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses den letzten Jahren das finanzielle Engagement für Afrika auf Drucksache 15/3072 zum Antrag der Fraktionen der – ich meine nicht Ihr persönliches Engagement, FrauSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel Ministerin; diese Anrede ist ja jetzt formell korrekt – zu- „Den Stabilisierungsprozess in der Demokratischen Re- rückgefahren hat. Aber noch ein anderer Punkt ist wich- publik Kongo nachhaltig unterstützen“. Der Ausschuss tig. Wir können nur dort Hilfe, auch finanzielle, leisten empfiehlt, den Antrag anzunehmen. Wer stimmt für und gegenüber dem deutschen Steuerzahler rechtferti- diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- gen, wo die Eliten der betroffenen Länder selbst bereit haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- sind, die Ressourcen, die den Ländern zur Verfügungmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der stehen, auch einzusetzen. Opposition angenommen worden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses (B) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE auf Drucksache 15/3073 zu dem Antrag der Fraktion der (D) GRÜNEN) CDU/CSU mit dem Titel „Eine neue Politik für Afrika südlich der Sahara – Afrika fordern und fördern“. Ich nenne als negative Beispiele nur Herrn Mugabe in Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- Simbabwe und den häufig gepriesenen Herrn Museveni sache 15/2574 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- in Uganda. Es wird immer behauptet, dass dieHIPC- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Initiative dort gegriffen hätte. Ich kann nur darauf ver- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen weisen, dass die Einnahmen aus dem Schmuggel über der Koalitionsfraktionen und des Abgeordneten Heinrich die Grenze, mit denen die Waffenkäufe finanziert wer- gegen die Stimmen der CDU/CSU und der sonstigen den, im Staatshaushalt erst gar nicht auftauchen. FDP-Abgeordneten angenommen worden. Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Drucksache 15/3086 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Umdenken in der Kongopoli- Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): tik“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- sache 15/2335 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Frau Präsidentin, ich bin sofort fertig. – Ein anderes schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- negatives Beispiel ist die Clique um dos Santos unter gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Führung seiner Tochter Isabell in Angola, die inzwi- der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stim- schen zu den Reichsten gehört, die alle Ressourcen des men von CDU/CSU angenommen worden. Landes ausbeuten, ohne sie für den Aufbau des Landes einzusetzen, und die sich gleichzeitig mit der Bitte um Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird Überweisung der Hilfe an die internationale Gemeinschaft wendet. Vorlage auf Drucksache 15/3040 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie Vielleicht müssen wir in Zukunft vielhärtere Maß- damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die stäbe anlegen. Wir sollten zwar immer bereit sein, hu- Überweisung so beschlossen. manitäre Hilfe zu leisten; das ist ja unstrittig. Aber zu ei- ner klassischen Kooperation sollte es erst dann kommen, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: wenn die Eliten – das gilt in besonderem Maße für Afrika, wenn auch nicht nur – Vorleistungen erbracht ha- Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer ben und die Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, Funke, Jörg van Essen, Sibylle Laurischk, weite- auch wirklich zum Aufbau ihrer Länder nutzen. ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP 9830 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurBesonders wichtig war uns, dass mit dem Richterspruch (C) Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes endlich Rechtssicherheit für alle bereits eingetragenen Lebenspartner besteht. (Lebenspartnerschaftsgesetzergänzungsgesetz – LPartGErgG) Wir waren sehr überrascht – um das zu Ihnen zu sa- gen, Frau Kollegin –, dass die Koalition unmittelbar – Drucksache 15/2477 – nach Verkündung des Urteils aus Karlsruhe keine weite- Überweisungsvorschlag: ren Anstrengungen unternommen hat, um das Ergän- Rechtsausschuss (f) zungsgesetz erneut auf die Tagesordnung des Vermitt- Innenausschuss lungsausschusses zu setzen. Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Man darf nämlich nicht immer nur reden, sondern man Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend muss auch einmal handeln; das gilt insbesondere für die Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung SPD und die Grünen. Haushaltsausschuss (Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ströbele Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die auch! Wir sind heftig dabei!) FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- Wir haben Rot-Grün mehrfach zum Handeln aufgefor- derspruch. Dann ist so beschlossen. dert. Unserer Meinung nach hätte es nach den klaren Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Worten des Gerichts eine realistische Chance für eine der Abgeordnete Rainer Funke. sach- und ergebnisorientierte Beratung im Vermittlungs- ausschuss gegeben. Rainer Funke (FDP): Auch in anderen Bereichen sieht Rot-Grün keinerlei Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Handlungsbedarf. Sie mich mit einem Zitat beginnen: (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Aus der Zulässigkeit, … die Ehe gegenüber an- GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht!) deren Lebensformen zu privilegieren, lässt sichDie vom Bundestag in einer einstimmig angenommenen kein … Gebot herleiten, andere Lebensformen ge- Entschließung geforderte Errichtung einerMagnus- (B) genüber der Ehe zu benachteiligen. Hirschfeld-Stiftung zum kollektiven Ausgleich von na- (D) tionalsozialistischem Unrecht bei der Verfolgung von Dies ist eine der Kernaussagen des Urteils des Bundes- Homosexuellen wird von Rot-Grün weiterhin behindert. verfassungsgerichts vom 17. Juli 2002 zum Lebens- Erst gestern haben wir den Gesetzentwurf der FDP dazu partnerschaftsgesetz. im Rechtsausschuss behandelt. Anschließend haben Sie Das zustimmungspflichtige Ergänzungsgesetz ist sei- von Rot-Grün die weitere Beratung vertagt, weil Sie nerzeit am Widerstand des Bundesrates gescheitert. Zum keine Antwort darauf hatten. So kann man mit solchen Zeitpunkt der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss Problemen nicht fertig werden. herrschte die Rechtsauffassung vor, eine weitgehende (Beifall bei der FDP) Gleichstellung zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe verstoße gegen Art. 6 Grundgesetz. Hier hat das Urteil Diese Nullbilanz zeigt mir deutlich, was von der des Bundesverfassungsgerichts mit eindeutigen Worten einstmaligen angeblichen Bürgerrechtspartei der Grünen für Klarheit gesorgt. Es hat unter anderem ausgeführt, heute noch übrig geblieben ist, nämlich gar nichts. dass die Ehe durch das Gesetz weder beschädigt noch sonst irgendwie beeinträchtigt werde. (Beifall bei der FDP) (Christine Lambrecht [SPD]: Das haben wir Nun zu unserem Gesetzentwurf im Einzelnen. Nach immer gesagt!) jetziger Rechtslage stehen Rechte und Pflichten der ein- getragenen Lebenspartner in einem unausgeglichenen – Auch wir, im Übrigen. Verhältnis. Viele Rechtsbereiche wie das Steuerrecht und das Sozialhilferecht wurden im Lebenspartnerschaftsge- Das Gericht hat insbesondere auf Ungleichgewichte setz nicht berücksichtigt. im geltenden Recht hingewiesen. So haben die Unter- haltslasten von Lebenspartnern bisher zu keinen Ände- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wir sind schon rungen des Einkommensteuerrechts geführt. Ferner hat weiter!) es betont, dass die sozialhilferechtliche Schlechterstel- Die FDP nimmt den Handlungsauftrag des Bundesver- lung der Ehe gegenüber derLebenspartnerschaft einen fassungsgerichts ernst. Unser Entwurf schlägt daher vor, Verfassungsverstoß bedeuten könnte. alle wesentlichen Bereiche zu regeln, die das Lebens- Die FDP hat das Urteil aus Karlsruhe sehr begrüßt. partnerschaftsgesetz nicht erfasst und die zum Abbau der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare zwingend (Christine Lambrecht [SPD]: Wir auch!) erforderlich sind. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9831

Rainer Funke (A) Wir fordern, dass die Lebenspartnerschaft bundes- (Rainer Funke [FDP]: Bei mir nicht!) (C) einheitlich vor dem Standesamt begründet werden soll. – Das ist ja gar nicht als Kritik gemeint. – Ich empfinde Daneben fordern wir die völlige Gleichstellung von es als sehr angenehm, dass wir uns heute einmal mit die- Lebenspartnern im Erbschaftsteuerrecht und die Einfüh- sen Fragen ganz sachlich auseinander setzen. Das wird rung eines Realsplittings im Einkommensteuerrecht. Bei Zeit, da haben Sie Recht. Auch ich freue mich auf die der Prüfung der Bedürftigkeit in der Sozialhilfe, bei der Auseinandersetzung. Ausbildungsförderung und beim Wohngeld sollen Ein- kommen und Vermögen des Lebenspartners einbezogen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden. Die wesentlichen beamtenrechtlichen Regelun- DIE GRÜNEN) gen sollen für Lebenspartner für sinngemäß anwendbar erklärt werden. Die ganze Aufregung konnte ich damals angesichts dessen, was wir eigentlich wollten – das muss man sich Ein zentraler Punkt unseres Gesetzentwurfs ist dieimmer wieder vor Augen halten –, nicht so ganz nach- Begründung eines gemeinschaftlichen Adoptions-vollziehen. Eigentlich hieß dieses Lebenspartnerschafts- rechts für eingetragene Lebenspartner. Nach geltendem gesetz „Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung Recht ist die Einzeladoption bereits möglich. Für uns ist gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartner- einzig und allein das Wohl des Kindes ausschlaggebend. schaften“. Allein anhand dieses, wenn auch etwas Ein Kind hat gute Entwicklungschancen in einer stabilen schwierigen Titels ist erkennbar, dass es uns darum ging, und gefestigten Beziehung, wie sie auch eine eingetra- Diskriminierung abzubauen. Bevor es dieses Gesetz gene Lebenspartnerschaft bieten kann. gab, hatten gleichgeschlechtliche Partner, egal, wie (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ lange sie miteinander zusammen gelebt hatten, füreinan- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der der eingestanden waren und Sorge füreinander wahrge- SPD) nommen hatten, in bestimmten Konfliktsituationen keine Rechte. Sie wurden wie Fremde behandelt, hatten Die FDP ist daher der festen Überzeugung, dass eine ge- also im Krankenhaus kein Recht auf Auskünfte zur Si- meinschaftliche Adoption zweier Partner dem Kindes- tuation des Partners und keinerlei Rechte, wenn der Part- wohl eher entspricht als eine heute zulässige Einzeladop- ner starb. Es war an der Zeit, dass mit dieser massiven tion. Diskriminierung endlich Schluss gemacht wurde. Das hat nicht nur diejenigen betroffen, die direkt per- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sönlich involviert waren, sondern es ging auch um das Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Ich familiäre Umfeld. Durch dieses Gesetz, das wir im habe sie schon verlängert. Jahre 2000 auf den Weg gebracht haben, wurden auch (B) (D) Eltern von homosexuellen Kindern darin bestärkt, die Rainer Funke (FDP): Homosexualität ihres Kindes nicht als Unglück zu emp- Ich bin gleich fertig. finden, sondern das Kind so anzunehmen, wie es ist. Zu- gleich erfuhr man dank dieses Gesetzes eine gewisse Art Der Bundeskanzler hat in einem Interview im Sep- von öffentlicher Unterstützung, um das Kind vor Diskri- tember letzten Jahres gesagt: Ein explizites gemeinsa- minierung zu schützen. mes Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare ist rechtlich schwierig und derzeit nicht vorgesehen. – Wir Schließlich konnte einem Elternteil auch nicht mehr sind auf die Diskussion mit dem Bundeskanzler, vor al- das Sorgerecht für das leibliche Kind wegen eigener Ho- lem aber auch auf die in Ihrer Koalition, sehr gespannt. mosexualität abgesprochen werden. Es musste in einer Viel Vergnügen! homosexuellen Lebensgemeinschaft auch nicht mehr heimlich zusammengelebt werden, sondern man konnte (Beifall bei der FDP) sie ausleben. Eine solche Partnerschaft und auch das Wohl eines Kindes, das inihr lebte, wurde also durch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Heimlichtuerei nicht mehr beeinträchtigt. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lambrecht. Ich glaube, es wurde deutlich, dass es uns um die An- erkennung anderer Lebensformen unter Einbeziehung der Sexualität ging. Dabei ist Sexualität in gleichge- Christine Lambrecht (SPD): schlechtlichen Lebensgemeinschaften genauso wie in Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was für heterosexuellen Gemeinschaften immer nur ein Aspekt ein wohltuender Unterschied besteht doch zwischen dem der Partnerschaft und nicht der alles umspannende. Klima, in dem wir uns heute über Ihren Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgeset- Es ging nicht darum, dass sich eine bestimmte Gruppe zes unterhalten, und der aufgeladenen und aufgeheizten à la carte Rechte auswählen kann, vielmehr ging es um Stimmung im Jahre 2000, als wir uns hier über das Le- die Ermöglichung dauerhafter Bindungen mit Rechten benspartnerschaftsgesetz ausgetauscht haben. und Pflichten. Wir haben von Anfang an den Weg eines eigenen familienrechtlichen Instituts gewählt, also einer (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE familienrechtlichen Einrichtung eigener Art. Familie er- GRÜNEN]: Das ist die wohltuende Wirkung scheint heute eben in vielerlei Gestalt. Damit haben wir des Bundesverfassungsgerichts!) von Anfang an klargestellt, dass diese Partnerschaft we- Damals sind die Emotionen wirklich hochgegangen. der das Gleiche wie die Ehe ist, noch in diese Richtung 9832 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Christine Lambrecht (A) geht oder ihr womöglich in die Quere kommt, wie es ja rem Entwurf ist, wenn ich das richtig sehe, nur ein be-(C) zum Teil unterstellt wurde, sondern etwas völlig anderes schränktes Realsplitting enthalten. ist. Gleiches gilt für die erbschaftsteuerliche Gleichstel- Nachdem sich dann im Jahre 2000 abzeichnete, dass lung; auch sie war in unserem Entwurf enthalten. wir für diese Vorhaben keine Mehrheit im Bundesrat be- kommen würden, haben wir den Gesetzentwurf in einen Neu ist – man muss ehrlicherweise sagen, dass dieser zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Punkt im Jahr 2000 bei uns nicht vorgesehen war – das Teil aufgesplittet. Dadurch kam es zu meiner Meinung gemeinschaftliche Adoptionsrecht. Wir hatten damals nach sehr unbefriedigenden Lösungen. Beispielsweise den Eindruck, dass die Gesellschaft noch nicht so weit wird im zustimmungsfreien Teil die gegenseitige Unter- war, eine solche Regelung mitzutragen und zu akzeptie- haltsverpflichtung geregelt – da haben wir also eineren, dass sie im Interesse und zum Wohle des Kindes ist. Pflicht begründet –, während das Recht, solche Leistun- Wir sollten heute ohne Scheuklappen und Vorurteile an gen wie heterosexuelle Paare von der Steuer abziehen zu dieses Thema herangehen und es diskutieren. Ich bin ge- können, im zustimmungspflichtigen Teil geregelt wor- spannt und freue mich darauf. den wäre, wenn er den Bundesrat bzw. den Vermittlungs- Darüber hinaus – deshalb kann Ihr Antrag nur eine ausschuss passiert hätte. Das ist leider nicht der Fall ge- Grundlage sein – müssen wir uns über die Hinterbliebe- wesen. Man könnte noch mehrere solcher Beispielenenversorgung im Todesfall und in diesem Zusammen- aufzeigen. Daran sieht man, wie falsch die Blockade des hang vielleicht auch über Unterhaltsregelungen für Kin- Bundesrates war. der Gedanken machen, wobei das nicht unbedingt in das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ergänzungsgesetz aufgenommen werden muss. Aber wir DIE GRÜNEN) sollten jetzt beginnen, die gesamten Lebensumstände vom Grundsatz her neu zu regeln. Der zustimmungsfreie Teil wurde hier mehrheitlich beschlossen, und zwar, wenn ich mich richtig erinnere, Wie gesagt, Ihr Vorschlag ist ein Schritt in die richtige gegen die Stimmen der FDP bei einer Enthaltung. Ich Richtung, worüber ich mich freue. Vielleicht schaffen bin aber froh, dass die FDP mittlerweile ihre Meinung Sie es ja, auch Ihre Parteikolleginnen und -kollegen in geändert hat und zur Einsicht gekommen ist, und freue den Ländern mitzunehmen. Vielleicht schaffen wir es in mich auf die Diskussionen über den Gesetzentwurf, den dieser Runde sogar, die Kolleginnen und Kollegen von Sie hier heute einbringen. Die Intentionen Ihres Antra- der Union mit ins Boot zu nehmen, ges unterstütze ich ausdrücklich. Ihr Vorschlag hat im (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wesentlichen allerdings Regelungen zum Inhalt, die in (B) unserem ursprünglichen Entwurf enthalten waren. Sonachdem eines der schlagenden Argumente, nämlich(D) viel zu Ihrem Hinweis, Herr Funke, dass Sie Dinge auf- dass das Gesetz gegen Art. 6 des Grundgesetzes versto- griffen, die Rot-Grün nicht anpacken will. ßen würde, vom Bundesverfassungsgericht weggefegt worden ist. (Rainer Funke [FDP]: Warum bringen Sie sie nicht ein?) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie könnten alle durchaus schon längst in Kraft sein. Frau Kollegin, denken auch Sie an die Zeit? Das gilt beispielsweise für die bundeseinheitliche Zu- ständigkeit der Standesämter. Wie lange haben wir da- Christine Lambrecht (SPD): rum gekämpft und um Einsicht geworben! Ja; ganz kurz zum Schluss. – Es hat den Antrag auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einstweilige Anordnung abgelehnt und die Gründe in DIE GRÜNEN) seinem Urteil sehr ausführlich dargestellt. Damit hat es Klarheit geschaffen. Da nun also das wichtigste Argu- Was Sie zur Anwendbarkeit der beamtenrechtlichen ment – Regelungen vorschlagen, ist völlig identisch mit dem von uns im Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Le- benspartnerschaftsgesetzes. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, bitte! (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Das Thema Berücksichtigung der Einkommen bei der Christine Lambrecht (SPD): Bedürftigkeitsprüfung im Sozialrecht, Herr Funke, ist – zu Ihrer vollsten Zufriedenheit behandelt worden schon längst erledigt, nämlich mit dem SGB XII; dasist: herzlich willkommen zu den Beratungen im Rechts- Gesetz tritt am 1. Januar 2005 in Kraft. Insofern hat sich ausschuss! Ich freue mich darauf. Ihr Antrag erledigt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auch die steuerrechtliche Berücksichtigung der Un- DIE GRÜNEN) terhaltsverpflichtung von Lebenspartnern hatten wir be- reits im Entwurf 2000 vorgesehen. Allerdings ging unser Entwurf in diesem Punkt sogar noch ein Stück weiter als Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ihrer, denn wir hatten volles Splitting vorgesehen; in Ih- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9833

(A) Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): bisch- und türkischstämmigen Jugendlichen gesprochen, (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor vier die Probleme bereiten. Sie warfen mit Pflastersteinen Jahren habe ich von dieser Stelle aus zur Rehabilitierung und machten Sprüche wie: Haut ab, ihr schwulen Säue! der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen Offensichtlich ist es nicht nur die Stellung und geredet. Ich gebe freimütig zu, dass mir die Situation Gleichberechtigung der Frau, die unser freiheitlicher von Lesben und Schwulen in unserem Land und erst Staat zu schützen hat. Wenn wir über Zuwanderung und recht der historische Rückblick über Jahrzehnte vor die- Kopftuch reden, dann sollten wir uns auch in diesem Zu- ser Zeit nicht gerade geläufig war. Wer kann das auch sammenhang nicht nur einem paradiesischen Wolken- von sich behaupten? Daher hatte ich in meiner damali- kuckucksheim hingeben. gen Rede etwas ausführlicher als in diesem Haus allge- mein üblich über die rechtliche wie gesellschaftliche In diesem Kontext erlaube ich mir, eine Passage aus Entwicklung gesprochen, die homosexuelle Menschen der Erklärung des CDU-Bundesvorstandes zum damali- in unserem Land betrifft. gen Regierungsentwurf zu den gleichgeschlechtlichen Heute wie damals geht es mir darum, uns alle ein we- Lebenspartnerschaften zu zitieren. Dort heißt es wört- lich: nig daran zu erinnern, welch dramatische Entwicklung in den vergangenen sechs Jahrzehnten zu verzeichnen Homosexuelle Menschen und Lebensgemeinschaf- war, und uns vielleicht auch ein wenig dafür zu sensibili- ten haben in unserer Gesellschaft Anspruch auf sieren, dass jede Entwicklung ihre Zeit hat – und manch- Nichtdiskriminierung, Achtung und Nichtausgren- mal auch ihre Zeit braucht. zung. Ich will uns allen in diesem Zusammenhang in Erin- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nerung rufen, dass der unselige §175 nicht in den 70er- GRÜNEN]: Das stimmt!) Jahren unter den Kanzlern Schmidt oder Brandt, sondern 1994 unter Kanzler Helmut Kohl und einer CDU/CSU- Wo insofern Defizite bestehen, sind dies in aller Re- FDP-Koalition endgültig aus dem deutschen Strafgesetz- gel nicht Fragen des Rechts, sondern des alltägli- buch verschwand. chen Umgangs in der Gesellschaft. Wiederum zehn Jahre später empfinden wir dies alles (Beifall bei der CDU/CSU) als lang, lang her. Vieles im Umgang mit Schwulen und Die Gesellschaft, ihre Mitglieder und Institutionen Lesben ist alltäglich und selbstverständlich in unserem sind aufgerufen, Zurücksetzungen und Benachteili- Land geworden, erst recht in großen Städten wie Berlin. gungen im Alltag entgegenzutreten. Dies gilt auch für unsere Parteien. Beispielsweise war (B) auf dem letzten Landesparteitag der hessischen CDU ein Wir Christdemokraten respektieren selbstverständlich (D) Stand der LSU zu finden und wir alle kennen inzwischen auch die Entscheidung von Menschen, die in anderen For- prominente Schwule und Lesben auch als Spitzenpoliti- men als der Ehe einen partnerschaftlichen Lebensentwurf ker. Vor Jahrzehnten wäre dies im Parlament schlechter- zu verwirklichen suchen. Schließlich ermöglichen unsere dings undenkbar gewesen. Ob allerdings eine sexuelle pluralistische Gesellschaft und unser freiheitlicher Staat Präferenz, wo sie doch offenbar unwichtig ist, überhaupt dem Einzelnen eine weitestgehende Freiheit in der priva- betont werden soll, wage ich eher zu bezweifeln. Wenn ten Lebensgestaltung. der Regierende Bürgermeister von Berlin auf dem No- Wir Christdemokraten stehen allerdings auch dafür, minierungsparteitag mit dem Spruch „Ich bin schwul – Maß und Mitte zu wahren. Bei den anstehenden Fragen und das ist auch gut so“ geradezu kokettiert, dann ist das zur weiteren rechtlichen Ausgestaltung gleichge- eher das Niveau von Jürgen Drews und Dieter Bohlen. schlechtlicher Lebensgemeinschaften geht es um Maß (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – und Mitte. Es geht auch darum, einmal innezuhalten und Dirk Manzewski [SPD]: Oh nein! Ich wusste der Versuchung zu widerstehen, gleich alles bis ins letzte doch, dass das kommt!) Detail positiv-rechtlich regeln zu wollen. Allerdings ist manches vielleicht doch nicht so alltäg- (Beifall bei der CDU/CSU) lich und selbstverständlich, wie wir es uns manchmal Ich bin der festen Überzeugung, dass die Wahrung denken. Wer mich kennt, weiß, dass ich gerne in dieser von Maß und Mitte geradezu eine friedensstiftende Wir- Stadt lebe. So lese ich nicht nur den Politikteil der hiesi- kung für unsere Gesellschaft entfaltet. Wir alle erinnern gen Presse, sondern verirre mich gelegentlich auch ein- uns doch noch an die heftigen Debatten zum Lebenspart- mal in den Lokalteil. Beim Durchforsten des Lokalteils nerschaftsgesetz in der vergangenen Legislaturperiode. der „Berliner Zeitung“ bin ich vor etwa zwei Monaten Frau Lambrecht, Sie haben gesagt, dass der Ton damals über einen Bericht gestolpert, in dem es hieß, dass inetwas schärfer war und dass wir heute sehr viel modera- dieser Stadt ein Café names „PositHiv“ – es ist ter an die Sache herangehen. einziges Selbsthilfe-Café für HIV-Positive, in dem viele Schwule und Lesben verkehren – recht häufig unange- An dieser Debatte hat nicht nur der eine oder andere nehmen Besuch junger Leute mit einem etwas anderen Fachpolitiker in diesem Hause teilgenommen. Es war kulturellen Hintergrund erhält, die offensichtlich mas- vielmehr eine große gesellschaftliche Debatte. Nicht zu- sive Probleme mit homosexuellen Menschen und deren letzt die beiden großen Kirchen und auch nicht nur deren Lebensstil haben. Wer es genau wissen will, dem sage Spitzen, sondern viele engagierte Christen und selbstver- ich: Im Zeitungsbericht wird klipp und klar von ara-ständlich auch viele Christen in unserer Fraktion 9834 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Dr. Jürgen Gehb (A) – schließlich sind wir Christdemokraten – haben sichdiese Gruppe konstituiert werden. Es gibt aber keinen(C) hieran oft leidenschaftlich beteiligt. Schließlich ging es Zwang zu handeln, wie Sie das eben gesagt haben, kei- auch um recht grundsätzliche Fragen, die nicht nur Fra- nen richterlichen Appell, alles so zu regeln, dass es mit gen des Rechts berühren. der Ehe nahezu identisch wird. Aber gerade weil mir die Leidenschaftlichkeit der De- (Christine Lambrecht [SPD]: Das habe ich mit batte noch so präsent ist, habe ich auch noch den Schluss- keinem Wort erwähnt! Das hat Herr Funke ge- satz meiner Kollegin – sie ist anwesend – im sagt!) Ohr, die ihre damalige Rede mit den Worten beendete: Dies sehen offensichtlich auch viele Gerichte in unserem Versuchen wir doch alle, Anderssein und Anders- Lande so. Mit schöner Regelmäßigkeit werden Klagen denken in gegenseitigem Respekt zu ertragen. abgewiesen, die auf eineGleichbehandlung mit der Ehe abstellen, Wir Christdemokraten haben damals in diesem Haus, aber auch im Bundesrat klar und eindeutig die Gesetzent- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- würfe der Regierungskoalition zur gleichgeschlechtlichen NEN]: Weil es ja noch kein Gesetz gibt!) Lebenspartnerschaft abgelehnt. Hierzu stehen wir auch heute noch. Da wir das Gesetz formell und materiell für immer mit dem Hinweis, die gleichgeschlechtliche Le- verfassungswidrig hielten, insbesondere weil das Lebens- benspartnerschaft und die Ehe seien zwei Paar Schuhe partnerschaftsgesetz mit dem nach Art. 6 Abs. 1 Grundge- und der Gesetzgeber habe zu entscheiden, was dieser be- setz gebotenen besonderen Schutz von Ehe und Familie sonderen Lebenspartnerschaft zukommt und was nicht. nicht im Einklang stehe und auch das in dieser Grund- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! – rechtsnorm enthaltene Abstandsgebot nicht wahre, Michael Kauch [FDP]: Eben!) wurde von Bayern, Sachsen und Thüringen das Bundes- verfassungsgericht mit der Bitte um Entscheidung ange- Ich halte diese Argumentation für richtig, schlüssig und rufen. am Urteil unseres Verfassungsgerichts orientiert. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Deswegen war ich schon ein bisschen überrascht, als DIE GRÜNEN]: Kennen Sie das Urteil?) ich unlängst vom Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Ortszuschlag bei eingetragenen Lebenspartnerschaften Das haben auch Sie eben gesagt. Unabhängig von der hörte. Unabhängig davon, ob ich im vorliegenden Fall Frage, ob ich eine Entscheidung Karlsruhes für richtig, nun den höheren Ortszuschlag für gerecht oder unge- falsch oder nachvollziehbar halte, schätze ich als Demo- recht, angemessen oder nicht angemessen halte, stört krat, Jurist und schließlich auch als ehemaliger Richter mich doch der mit Händen zu greifende Wille des Bun- (B) und Mitglied des Hessischen Staatsgerichtshofs die klä- desarbeitsgerichts sehr, mit den Instrumenten eines Ge- (D) rende Funktion eines Karlsruher Rechtsspruchs. Dasrichts Politik treiben zu wollen. müssten sich einige von Ihnen, wenn Ihnen wieder ein- mal ein Richterspruch nicht passt, hinter die Ohren Nun ist die FDP-Fraktion initiativ geworden und hat schreiben. Im übertragenen Sinne gilt also für das Bun- den vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht. Ich bin desverfassungsgericht – ich zitiere ja immer gerne aus sehr gespannt, wie die Regierungskoalition hiermit um- der römischen Rechtsgeschichte –: Roma locuta, causa gehen wird. Wenn ich daran denke, wie Rot-Grün mit finita. dem FDP-Entwurf zur Magnus-Hirschfeld-Stiftung um- geht, und wenn ich daran denke, wie Herr Beck mit die- Wir haben also nun ein neues, vom höchsten Gericht ser Stiftung in der letzten Legislaturperiode umgegangen anerkanntes Rechtsinstitut der eingetragenen Lebens-ist, dann schwant mir einiges. partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare. Karlsruhe hat immens viel Mühe darauf verwandt, darzulegen, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- der Ehe keine Einbußen durch ein Rechtsinstitut drohen, wie der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: das sich ausschließlich an Personen wendet, die mitei- Schauen Sie mal, wie Sie damit umgegangen nander keine Ehe eingehen können. Profan gesprochen sind!) heißt das: Ehe und Lebenspartnerschaft haben nichts Ich jedenfalls habe den Eindruck gewonnen, dass ins- miteinander zu tun und stehen unverbunden nebeneinan- besondere die Grünen mit Argusaugen darüber wachen, der. dass sich ja keine Sozialdemokratin oder Liberale – von Frau Lambrecht, diese Konstruktion haben Sie viel- Christdemokratinnen völlig zu schweigen – erdreistet, leicht missverstanden. – Übrigens, Ihre Diktion war eben etwas zum Wohl dieser Gruppe zu unternehmen. schon wieder ein bisschen geladen, vor allem Ihre Aus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- sage, das Bundesverfassungsgericht habe den Antrag der wie bei der FDP) CDU-Länder hinweggefegt. – Aber gerade aus dieser Konstruktion heraus sah Karlsruhe den GesetzgeberMeine geschätzte Kollegin kann inzwi- nicht gehindert oder, anders formuliert, absolut frei, für schen sicherlich einiges zu dieser unseligen Art des Um- die gleichgeschlechtliche Partnerschaft Rechte undgangs beisteuern. Recht paternalistisch erheben die Grü- Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich- odernen nach meinem Eindruck so etwas wie einen nahe kommen. Es liegt also ausschließlich am Gesetzge- Exklusivanspruch auf diese Gruppe und sind bereit, ber, ganz bewusst zu entscheiden, ob überhaupt und, recht bissig zu werden, wenn das grüne Logo nicht wenn ja, in welchem Umfang Rechte und Pflichten für draufpappt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9835

Dr. Jürgen Gehb (A) (Christine Lambrecht [SPD]: Sie kommen Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) nicht infrage! – Hans-Christian Ströbele Frau Präsidentin! Guten Tag, meine Damen und Her- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Rolle ist ren! Schade, dass bei der letzten Rede trotz der längsten uns nun einmal zugefallen!) Redezeit in dieser Debatte keine Zeit blieb, zum Thema zu sprechen. Ich danke der FDP ausdrücklich, dass sie Das ist eine Patentierung, eine Lex Beck. Herr Beck, es uns Gelegenheit gibt, heute wieder über dieses Thema zu löckte Sie doch gegen den Stachel, dass es nicht um die sprechen; denn es ist notwendig und bietet die Möglich- Gruppen ging, die Sie repräsentieren. Daher haben Sie keit, Bilanz zu ziehen. die Magnus-Hirschfeld-Stiftung in der letzten Legisla- turperiode in grenzenlosem Egoismus an die Wand fah- Mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz haben wir einen ren lassen. Das muss man Ihnen einfach einmal sagen. riesigen gesellschaftspolitischen Erfolg für die Minder- heit der Schwulen und Lesben in unserem Land erreicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mich wundert besonders, wie die Sozialdemokraten sowie bei Abgeordneten der SPD) mit sich umspringen lassen. Wir haben diese Woche schon bei der Zuwanderungsdebatte erlebt, wer sich in Anders als von vielen vermutet, hat das Gesetz die Ak- der Koalition offensichtlich als Herr im Hause fühlt:zeptanz der Lesben und Schwulen deutlich gestärkt. Les- Was der Zuwanderungsdebatte ihr Bütikofer, ist derbisches und schwules Leben ist nicht nur in den Groß- Schwulendebatte ihr Volker Beck. Dieses Platzhirschge- städten, sondern auch in vielen kleinen Dörfern und habe, Herr Beck, ist – das muss man wirklich sagen – in Gemeinden selbstverständlich und sichtbar geworden. unserem Parlamentarismus geradezu unerträglich. Schauen wir uns um: Das Abendland ist tatsächlich nicht untergegangen. Am Ende hat auch das Bundesverfas- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sungsgericht alle Argumente und Befürchtungen – übri- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, jetzt gens auch die von Herrn Gerhardt und Herrn habe ich fast keine Zeit mehr, Westerwelle von der FDP –, unser Gesetz sei verfas- sungswidrig, zurückgewiesen. Schön, dass Sie jetzt (Zurufe von der SPD: Oh!) selbst einbringen, was Sie mal unlängst abgelehnt ha- ben! im Detail auf Ihren Gesetzentwurf einzugehen. Sie haben heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, der (Heiterkeit bei der FDP – Dr. Michael Bürsch an vielen Punkten fein säuberlich das abmalt, was wir als [SPD]: Jetzt mal zum Thema!) Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz vorgelegt haben. (B) Das freut uns. Im Himmel ist immer mehr Freude über(D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: einen reuigen Sünder als über tausend Gerechte. Das Noch 20 Sekunden. zeigt schlichtweg, dass wir für unsere Perspektive der Gleichstellung dieser Minderheit gesellschaftspolitisch (Christine Lambrecht [SPD]: Jetzt mal 20 Se- immer mehr Unterstützung finden. Vielleicht ist die Un- kunden zum Thema, Herr Gehb!) terstützung so weit gediehen, dass die FDP in der einen oder anderen Landesregierung den Koalitionspartner zur Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Zustimmung zu diesen Forderungen bewegen kann. Ich will noch feststellen: Die Grundposition meiner (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktion ist – das will ich in aller Deutlichkeit und Klar- sowie bei Abgeordneten der SPD) heit jenseits aller Detailfragen formulieren – Die Koalition hat sich im Koalitionsvertrag die (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ist nicht Gleichstellung vorgenommen. Übrigens, Herr Gehb, vorhanden!) SPD und Grüne haben sich das gemeinsam vorgenom- – prima, Herr Bürsch –: men, da gibt es keinen Wettbewerb. Wir ziehen an einem Strang, wie wir es auch in der vergangenen Wahlperiode (Christine Lambrecht [SPD]: Sagen Sie doch getan haben, als Margot von Renesse, Hertha Däubler- einmal etwas zur Sache! – Hans-Christian Gmelin, der Kollege Scholz, ich und andere an dem Ge- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind setzgebungsverfahren mitgewirkt haben. Ohne alle diese Sie jetzt dafür oder dagegen? Das habe ich im- Beteiligten hätte es keinen Erfolg gegeben. Das möchte mer noch nicht verstanden!) ich an dieser Stelle sagen, damit kein falscher Zungen- Wir sind grundsätzlich gegeneine Ausweitung der be- schlag in diese Debatte kommt. stehenden Regelung. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP war nicht hilfreich!) Herzlichen Dank, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit. Zu dem Gesetzentwurf der FDP muss man sagen: In- zwischen hat Karlsruhe entschieden. Wir haben damals (Beifall bei der CDU/CSU) vieles so formuliert – gegebenenfalls hätte man dann entsprechend argumentieren können –, dass ein Abstand Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zur Ehe sichtbar wird, auch wenn wir ihn politisch und Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck. verfassungsrechtlich nicht wollten. Wir wollten aber 9836 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Volker Beck (Köln) (A) nicht das Risiko eingehen, dass Karlsruhe das ganze Ge- Schule macht. Ole von Beust hat angekündigt, man(C) setz aufhebt. Deshalb haben wir uns gemeinsam fürwolle uns unterstützen. Das wollen wir mal sehen. Dort einen vorsichtigen Weg entschieden. wird es zum Schwur kommen und da werden wir Sie stellen. Ich hoffe, dass die Diskussion in den nächsten Wir wollen das bestehende Gesetz jetzt überarbeiten. Wochen auch in Ihrer Partei so weitergeht, dass man (Rainer Funke [FDP]: Warum dauert das so sagt: Gleiche Rechte, gleiche Pflichten – nur das ist fair. lange? – Gegenruf der Abg. Silke Stokar von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das und bei der SPD) bestimmen wir selber!)

Wir wollen die Differenzen und Unübersichtlichkeiten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: beseitigen, die wir damals aus diesen Überlegungen he- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Olaf Scholz. raus in das Gesetz aufgenommen haben. Wir werden ge- meinsam – das hat die Koalition so verabredet – vor der (SPD): Sommerpause einen ersten Schritt unternehmen. Danach Olaf Scholz Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist werden wir ein Ergänzungsgesetz vorlegen, bei dem es gut, dass wir über den Gesetzesantrag sprechen können, nicht nur in diesem Hause, sondern auch in der anderen weil er uns eines zeigt: Es gibt so etwas wie eine Weiter- Kammer, drüben im Bundesrat, zu dem Schwur kommen entwicklung. Es macht Sinn, Gesetze zu beschließen, die wird. Dann werden wir sehen, wer es am Ende schafft, einen Fortschritt bedeuten. Es macht Sinn, zur Kenntnis bei der Abstimmung über die Forderung nach der zu nehmen, dass es Urteile gibt, die einen Fortschritt be- Gleichstellung im Steuerrecht, im Erbschaftsteuerrecht, deuten. Das ändert offenbar etwas im politischen Be- im Beamtenrecht und über die Einführung des Standes- wusstsein von Parteien, aber ganz offenbar auch etwas in amts als bundesweit einheitlich zuständige Behörde eine dem allgemeinen politischen Bewusstsein einer Bevöl- Mehrheit zu besorgen. kerung. Ich wünsche mir, dass Sie dabei erfolgreich sind. Alles, was hier in dem letzten Gesetzgebungsverfah- Schließlich geht es um das Ergebnis und nicht um partei- ren ganz aufgeregt diskutiert worden ist, hat sich später politischen Wettstreit; es geht um die Durchsetzung nicht bewahrheitet. Die Menschen haben das Gesetz mit eines Prinzips: Wenn jemand, wie es in der Ehe der Fall seiner Intention und seinen Regelungen akzeptiert. Man ist, die gleichen Pflichten übernimmt – Stichworte: so- kann davon ausgehen, dass dieLebenspartnerschaft zialrechtliche Subsidiarität und Unterhalt –, müssen ihm als ein Rechtsinstitut für Schwule und Lesben heute ge- auch die gleichen Rechte eingeräumt werden. sellschaftlich mehrheitlich akzeptiert ist und von den (B) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Menschen unterstützt wird. Das ist ein Erfolg von Ge-(D) Kinder kriegen!) setzgebung und darauf können wir hier stolz sein. Ich bin dankbar, dass dasBundesarbeitsgericht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diese rechtlichen Überlegungen angestellt und sehr prä- DIE GRÜNEN) zise formuliert hat: Auch das, was der Kollege Gehb heute gesagt hat, ist Das Rechtsinstitut der Lebenspartnerschaft begrün- ein Beweis dafür, dass es Fortschritt gibt. det einen neuen Familienstand. Die damit verbun- (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- denen Pflichten im Unterhaltsrecht entsprechen de- NIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Christian nen der Ehe. Die Wesensmerkmale des Instituts Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: eingetragene Partnerschaften sind wie bei der Ehe Selbst das, was Herr Gehb gesagt hat!) ausgerichtet auf eine exklusive, auf Dauer ange- legte und durch staatlichen Akt begründete Verant- – Ich will das so sagen. Er hat immerhin gesagt: Das Ge- wortungsgemeinschaft, deren vorzeitige Auflösung setz gilt jetzt. Außerdem hat er hinzugefügt: Wenn das einer gerichtlichen Entscheidung bedarf. Urteil gesprochen ist, gilt es erst recht. Man kann das vielleicht, obwohl er das nicht gesagt hat, so auslegen, Daraufhin – so hat es das Bundesarbeitsgericht ge- dass es Meinung der CDU/CSUist, dass es auch nicht sagt – müssen diese Lebenspartnerschaften auch den wieder rückwärts gehen soll. Das halte ich für einen entsprechenden Ortszuschlag nach BAT erhalten. Wenn Fortschritt und das darf man auch sagen. man diesen Rechtsgrundsatz ernst nimmt, muss man auch die beamtenrechtlicheVersorgung gleichstellen (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich wünsche und die Unterhaltspflichten steuerrechtlich in gleicher mir das bei Ihnen bei der Sicherungsverwah- Weise berücksichtigen. Genauso muss auch bei der Hin- rung auch einmal so!) terbliebenenversorgung die entsprechende Gleichstel- Gleichzeitig hat er aber auch gesagt, wie mit diesem lung erfolgen. Das sollten wir weiter in Angriff nehmen. erreichten Fortschritt weiter umgegangen werden soll. Ich habe gehört, Herr Gehb hält die Meinung eines je- Er hat nämlich gesagt, Maß und Mitte müssten bewahrt den Richters, egal ob er in Karlsruhe am Bundesverfas- werden. Deshalb müsse man sehen, dass eigentlich das sungsgericht oder am Bundesarbeitsgericht in Erfurt ju- Gericht nur gesagt habe, Ehe und Lebenspartnerschaft diziert, zwar für interessant. Er ist aber auch stünden der nebeneinander. Nebenbei bemerkt: Das ist das Auffassung, dass die CDU sie sich politisch nicht zu Ei- Gegenteil dessen, was Sie bisher in den Debatten immer gen macht. Ich hoffe daher, dass Hamburg bei Ihnengesagt haben. Daraus sei die Konsequenz zu ziehen, dass Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9837

Olaf Scholz (A) es einen weiteren Fortschritt mit seiner Partei nicht ge- ständigkeit der Standesämter bundeseinheitlich zu ge-(C) ben könne. stalten, in der Tat eine gute Sache. Das bedeutet Bürokratieabbau und Abbau von Wirrnis, weil überall Das ist, glaube ich, ein bisschen wenig. Sie sollten aus unterschiedliche Institutionen zuständig sind. Versuchen der bisherigen Gesetzgebung und der öffentlichen Ak- Sie doch, Ihre konservativen Koalitionspartner in den zeptanz dieses Gesetzes gelernt haben, dass es auch Ih- Bundesländern, in denen Sie zusammen regieren, davon nen nicht schaden würde, wenn Sie sich einen Ruckzu überzeugen. geben, weitermachen und bei der gesetzgeberischen Fortentwicklung dieses Lebenspartnerschaftsinstituts (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mithelfen würden. Ich glaube jedenfalls, auch Sie hätten DIE GRÜNEN) etwas davon. Mein Rat und mein Wunsch ist, dass Sie bei den Beratungen über die Gesetze, die demnächst an- Dann hätten Sie etwas geleistet und auch zum gesell- stehen werden, helfen, hier einen Fortschritt zu errei-schaftlichen Fortschritt beigetragen. Hier haben Sie aber chen, und nicht in einem Jahr oder in zwei oder drei Jah- nur auf Bundestagspapier ein Flugblatt produziert. ren sagen: Auch das, was wir beschlossen haben, ist gut (Zuruf von der FDP: Das ist ja sagenhaft!) und das würden Sie nicht mehr rückgängig machen wol- len, aber bei dem nächsten Fortschritt wollen Sie wieder Das ist für die politischen Debatten der nächsten Mo- nicht mitmachen. – Ich glaube, manchmal ist es sinnvol- nate natürlich hilfreich; aber es ist viel zu wenig. Des- ler, schneller zu sein. halb will ich aus meiner Sicht noch etwas anderes sagen: Gesetzgebung sollte nicht folgen- und wirkungslos sein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Zuruf von der FDP: Stimmen Sie uns doch zu! Dann ist es nicht wirkungslos!) Der Antrag der FDP ist natürlich an der falschen Stelle gestellt. Der Gesetzentwurf, den Sie hier eingebracht haben, wird aber folgen- und wirkungslos bleiben. Anders verhielte (Widerspruch bei der FDP) es sich mit einem Erfolg im Bundesrat, um den sich zu Die FDP ist an den Landesregierungen in Baden-bemühen Sie sich nicht getraut haben. Württemberg, Niedersachen, Sachsen-Anhalt und auch Was das zwischenmenschliche Leben betrifft – dieser in Rheinland-Pfalz beteiligt. Wir wissen alle, welches Meinung sind wir alle –, muss man sich oft dafür einset- das Problem des Lebenspartnerschaftsergänzungsgeset- zen, dass bestimmte Handlungen folgen- und wirkungs- zes der letzten Legislaturperiode war. los bleiben. Aber eines ist ganz offensichtlich: Wir brau- (B) (Rainer Funke [FDP]: Hic Rhodus, hic salta!) chen kein Safer Law. (D) Das Problem war, dass es keine Mehrheit im Bundesrat (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE gegeben hat. Deshalb ist es richtig, jetzt zu sagen: Für GRÜNEN – Widerspruch bei der FDP) bestimmten gesetzgeberischen Fortschritt brauchen wir den Bundesrat. Es wäre eine große Sache, wenn sich die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: FDP endlich dafür einsetzen und darum bemühen würde, Damit schließe ich die Aussprache. dass es diesen gesetzgeberischen Fortschritt im Bundes- rat gibt. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wurfs auf Drucksache 15/2477 an die in der Tagesord- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Sie aber haben das Gesetz hier beantragt. Dann ist die Überweisung so beschlossen. ( [FDP]: Wo denn sonst?) Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Man stellt sich schon die Frage: Wozu? Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbe- auftragten (Otto Fricke [FDP]: Wo bringen Sie denn Ge- setze ein?) Jahresbericht 2003 (45. Bericht) Das ist sicherlich ein ganz klasse Flugblatt: auf Staats- – Drucksache 15/2600 – kosten in einer Buch- und Offsetdruckerei gedruckt und Überweisungsvorschlag: ganz im Sinne Ihrer Partei auch noch ein Beitrag zur Verteidigungsausschuss Wirtschaftsförderung. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider- Es stellt sich aber auch die Frage: Was soll damit pas- spruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen. sieren? Daher kann man ihr Vorgehen wirklich nicht ver- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbe- stehen. Denn hier, an dieser Stelle, müssen Sie nicht er- auftragte des Deutschen Bundestages, unser lieber Kol- folgreich und mutig sein. Nehmen Sie doch ein paarlege Dr. Willfried Penner. Argumente aus Ihrem Argumentationskanon. Zum Bei- spiel ist Ihr Vorschlag, die Regelungen bezüglich der Zu- (Beifall bei der SPD) 9838 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut- Verbot, gegen den Drogenanbau und Drogenhandel vor- (C) schen Bundestages: zugehen, für die Soldaten irritierend. Ihre Tatenlosigkeit Sehr verehrte Frau Präsidentin Dr. Antje Vollmer! rückt sie in die Nähe einer ungewollten Komplizen- schaft. Dies wird auch nicht dadurch aufgefangen, dass (Heiterkeit) für die Soldaten der Umgang mit Drogen bis hin zum Ei- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Grundsätzen genkonsum wie im Inland strikt untersagt ist und ein der inneren Führung, um deren Einhaltung sich derVerstoß dagegen regelmäßig die Entlassung aus der Bun- Wehrbeauftragte von Gesetzes wegen zu kümmern hat, deswehr zur Folge hat. Ein betroffener Mannschafts- gehört auch und gerade die Bindung der Bundeswehr an dienstgrad hat es auf den Punkt gebracht und mir berich- das Grundgesetz, das Völkerrecht und das Verbot von tet, es sei bizarr – so meint er –, dass die Bundeswehr Angriffskriegen, das übrigens Verfassungsrang hat und unnachsichtig gegen den Umgang mit Drogen vorgehe, dessen Übertretung unter Strafe gestellt ist. Diese Bin- dieselbe Bundeswehr aber in Kunduz in der Drogenfrage dungen haben trotz der gewaltigen Spannungen im Hin- zum untätigen Zusehen verurteilt sei. blick auf den Irakkrieg gehalten und sind nicht etwa po- (Beifall bei der FDP – Günther Friedrich litischen Opportunitäten zur Disposition gestellt worden. Nolting [FDP]: Wohl wahr!) Für die Orientierung der Bundeswehr und ihrer Soldaten war das wichtig. Das war der jüngste und wichtigste Be- Dem ist nichts hinzufügen! leg dafür, dass Bundeswehr tatsächlich nur dann stattfin- Seit der Wende 1989/1990 reißen gewaltige Verände- det, wenn es dafür eine rechtliche Legitimation gibt. rungen für die Bundeswehrnicht ab. Sie haben sehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten konkrete Auswirkungen auf immer mehr Soldaten. Nach des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den jüngsten politischen Entscheidungen soll die Bun- deswehr noch 250 000 Soldaten und Soldatinnen umfas- Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass sen. Ich erinnere daran, dass es im Jahr der Wiederverei- die politische Entscheidung gegen die Teilnahme amnigung noch 670 000 waren, 1994 370 000, Ende der Irakkrieg auch Schwierigkeiten für Soldaten nach sich 90er-Jahre 340 000 und bis zum vergangenen Jahr noch gezogen hat. Gelegentlich haben mir Soldaten berichtet, 283 000. Das sind nur Zahlen, aber mit den Zahlen sind dass sie wegen der Zurückhaltung Deutschlands im Irak auch organisatorische Veränderungen der Bundeswehr besonders von amerikanischen Kameraden scharf kriti- mit Auswirkungen auf ganz viele Soldaten verbunden: siert worden seien. Bundeswehr und Soldaten müssen 620 Standorte gibt es gegenwärtig noch, in den nächsten davon ausgehen dürfen, dass sich solche SpannungenJahren werden es wohl 200 weniger sein. Es wird vorge- nicht verstetigen, sondern dass politische Initiativenbracht, dass die Versetzungen immer häufiger würden (B) dazu beitragen, sie baldmöglichst abzubauen. und in immer dichter werdenden zeitlichen Abständen(D) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke aufeinander folgten. Die Bundeswehr wird mehr und Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mehr zur Pendlerarmee – mit vielfältigen Auswirkungen NEN]) auf die Soldaten und ihre Familien. Es ist zu hören, dass allein in den Jahren 2002 und 2003 rund 9 000 Offiziere Um nicht missverstanden zu werden, sage ich: Das ist und 25 000 Unteroffiziere versetzt werden sollten. kein Votum gegen das Kriegsvölkerrecht. Deshalb war es auch richtig, dass keine deutschen Soldaten an der Das Sanitätswesen – auch eine gewaltige Verände- Festsetzung zur Überführung bestimmter Personen nach rung – ist zur selbstständigen Teilstreitkraft entwickelt Guantanamo beteiligt waren. worden. Die Streitkräftebasis ist eingerichtet worden. Der Luftwaffe werden künftig weniger Fluggeräte zur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verfügung stehen. Damit können nicht alle noch so gut DIE GRÜNEN sowie der Abg. Helga Daub begründeten Erwartungen künftiger Piloten erfüllt wer- [FDP]) den. Die Bundeswehr als Panzerarmee hört auf zu beste- Es ist ein Eckstein der inneren Führung, dass der Sol- hen – mit tiefen Auswirkungen auf das Selbstverständnis dat den Sinn und die Notwendigkeit seines Dienstes er- der Teilstreitkraft Heer. Überdies, aber auch mit Erfolg kennen kann. Die auf dem Balkan eingesetzten Soldaten muss die Öffnung der Bundeswehr für Frauen – bei un- wissen, dass ihr Dienst dort hilft, erneutes Morden,eingeschränkter Verwendung – durchgesetzt werden; ich Brennen, Schänden und Verstümmeln zu verhindern.füge hinzu – ohne hoffentlich missverstanden zu wer- Aber sie müssen auch erfahren, dass militärischer Dienst den –: Das alles muss verkraftet werden. Vorrangig wird politische Fortschritte und Lösungen nicht ersetzender Umbau der Bundeswehr zur Einsatzarmee, der kann. Gerade solche Soldaten, die schon mehrmals auf Mitte der 90er-Jahre mit der Bildung so bezeichneter dem Balkan waren, können diesbezüglich keine Verän- Krisenreaktionskräfte begonnen hat, anhalten. Dabei soll derungen zum Positiven feststellen. Das nährt Zweifel die Landesverteidigung trotz nachlassender Bedeutung am Sinn des eigenen Dienstes. Es besteht politischermit immer knapper werdenden Mitteln aufrechterhalten Handlungsbedarf. werden. (Beifall bei der FDP – Günther Friedrich Das alles bleibt nicht Reißtischarbeit, es wird durch- Nolting [FDP]: So ist es!) geführt und bestimmt damit auch den Truppenalltag. Von diesen Fakten, dieser Fülle der Veränderungen wird Was den Einsatz in Afghanistan und namentlich in Kun- das Klima in der Truppe bestimmt. Kein Wunder, dass es duz angeht, so wirkt das für die Bundeswehr statuierte auch durch Stress, durch Ärger und nicht zuletzt durch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9839

Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner (A) Frustration gekennzeichnet ist. Viele nehmen diese Ver- (Beifall der Abg. Hedi Wegener [SPD]) (C) änderungen als nicht enden wollenden Prozess wahr, ohne dass ein Ziel sichtbar würde, nach dessen Erreichen Quintessenz: Die Truppe ist irritiert. Sie ist sich nicht si- man auch einmal Luft holen könnte. Einer der maßge- cher, ob die Wehrpflicht künftig bleibt. Das ist kein benden Faktoren dafür ist die Debatte um die Wehrform, Wunder, da die Presse von links bis rechts das Ende der die nicht abreißt. Wehrpflichtarmee Bundeswehr befürwortet. Die beab- sichtigte Festlegung der Einberufungskriterien durch Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, was die Gesetz soll wohl auch den Vorwurf der Willkür entkräf- Wehrpflicht angeht, so wissen Soldaten sehr genau, dass ten. Ob damit der politischen Frage beizukommen ist, schon seit langem von derallgemeinen Wehrpflicht steht dahin. nicht mehr die Rede sein kann. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Frauen sind in der Bundeswehr angekommen. Sie leisten Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) überall in der Bundeswehr Dienst, und das mit Erfolg. Die Zahl der Abbrecher ist nicht größer als bei den Män- Sie registrieren aufmerksam, dass der politische Rück- nern. Allerdings gibt es nach wie vor eine Präferenz für halt für eine Wehrpflicht eher abnimmt, an der sie imdas Sanitätswesen; gut 5 000 Frauen leisten da Dienst – Hinblick auf Nachwuchsgewinnung und gesellschaftli- das sind rund 56 Prozent von allen weiblichen Soldaten che Mischung in der Bundeswehr aber festhalten möch- in der Bundeswehr. Frauen in der Bundeswehr, das ten. Es mehren sich die Zweifel, ob die Wehrpflicht mit- muss auch Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeu- telfristig noch Bestand haben kann. Diese Zweifelten. Es geht um Konkretes: um flexible Arbeitszeiten, werden durch Äußerungen ehemaliger hochrangiger Of- um Teilzeitbeschäftigung, um Kinderbetreuungseinrich- fiziere verstärkt. Einer Meldung der Nachrichtenagentur tungen. Das sollte eigentlich bis Ende 2003 gesetzlich ddp zufolge haben gleich mehrere Generale bei derabgesichert werden, ist aber nicht geschehen. Es darf jüngsten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Wehr- nicht vergessen werden. technik eine Abkehr von der Wehrpflichtarmee befür- wortet. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Knapp 6 100 Eingaben sind im Berichtsjahr 2003 bei DIE GRÜNEN sowie des Abg. mir eingegangen; das sind 350 weniger als im Vorjahr. [FDP]) Gemessen an der zurückgehenden Jahrestruppenstärke der Bundeswehr sind das proportional gesehen kaum Zur Frage der Wehrpflicht unter besonderer Berück- weniger Eingaben als im Jahre 2002. sichtigung der Wehrgerechtigkeit sind nur wenige Ein- (B) (D) gaben bei mir eingegangen. Andererseits kommt das 6 100 Eingaben – das sind zu einem Drittel Perso- Thema nicht zur Ruhe. Die Zahl der Skeptiker in dernalangelegenheiten der Zeit- und Berufssoldaten. Das ist SPD ist nach diesbezüglichen öffentlichen Äußerungen seit Jahren der größte Block an Eingaben. Das reicht von des NRW-Landesvorsitzenden Harald Schartau und des Problemen im Zusammenhang mit der Einführung der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Erler größer ge- neuen Laufbahnen und vom Unmut über einen Beförde- worden. Selbst in der CDU/CSU gibt es in dieser Frage rungsstau bis hin zu mangelnder Transparenz bei Beur- Bewegung. Der CSU-Generalsekretär redet einer allge- teilungsentscheidungen und Bearbeitungsmängeln aller meinen Dienstpflicht mit Wahlmöglichkeit für den zivi- Art. len oder militärischen Sektor das Wort. Der Vorsitzende 6 100 Eingaben – das sind auch 231 Eingaben zum der jungen Gruppe der Unionsfraktion, Dr. Krings, for- Thema Fliegerzulage. Das ist der größte Block zu einem dert einem Bericht der „Welt“ zufolge, jetzt müsse die Spezialthema. Wehrpflicht auf den Prüfstand. In demselben Bericht er- klärt der CDU-Verteidigungspolitiker Spahn, die Wehr- 6 100 Eingaben – das sind 50 Prozent weniger Eingaben pflicht könne keinen Bestand haben. Die Grünen sind aus dem Einsatz. Im Berichtsjahr 2002 waren es 1 100. Da- wie die FDP nach wie vor für eine Freiwilligenarmee. rin war allerdings ein großer Block zu einem Spe- Die Koalitionsvereinbarung sieht nach wie vor einen zialthema, nämlich dem Auslandsverwendungszuschlag Prüfungsauftrag hinsichtlich der Wehrform vor. Dieund seiner Absenkung für Einsätze auf dem Balkan, ent- neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien basierenhalten. Es zeichnet sich ab, dass das Thema Auslands- zwar auf der Wehrpflicht, sollen den Worten des Bun- verwendungszuschlag auch im Berichtsjahr 2004 aktuell desministers der Verteidigung zufolge aber den Wechsel sein wird. Nach dem Sachstand von Anfang Mai hat es zur Freiwilligenarmee nicht versperren. Das ist die Si- bereits mehr als 130 Eingaben zu dieser Thematik gege- tuation. ben. Ansonsten geht es bei den Eingaben, die mich aus den Einsatzgebieten erreichen, vor allem um Angelegen- Merkwürdig ist in diesem Zusammenhang, dass das heiten des militärischen Alltags. Darüber hinaus nenne Urteil des Verwaltungsgerichts Köln, das die Richtlinien ich Einplanungsmängel, Belastungen für die Familien, für die Einberufungspraxis als rechtlich nicht tragfähig Ausstattungsversäumnisse und Führungsverhalten. rügte, ein so nachhaltiges öffentliches Echo hervorgeru- fen hat, hingegen anders lautende Entscheidungen aus 6 100 Eingaben – das sind 83 besondere Vorkommnisse jüngster Zeit von 13 weiteren Verwaltungsgerichtenmit Verdacht auf Verstoß gegen das Recht auf sexuelle – von Arnsberg bis Leipzig – zum gleichen Sachverhalt Selbstbestimmung gegenüber 75 Fällen im Vorjahr. überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden sind. 22 Fälle davon konnten verifiziert werden, darunter 9840 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner (A) sechs als verbale Übergriffe und 16 Fälle von Gewaltan- sen werden. Die Aufmerksamkeit des Bundestages für(C) wendung. die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr muss eine verlässliche Größe sein und bleiben. Die Verbindung 6 100 Eingaben – das sind schließlich 139 besondere von Parlament und Armee, am besten in dem Begriff Vorkommnisse mit Verdacht auf rechtsextremistischeParlamentsarmee zu fassen, muss besonders in Zeiten oder fremdenfeindliche Hintergründe, gegenüber 111 im radikaler Veränderung ein Faktor der Stabilität sein. Berichtsjahr 2002 und 186 bzw. 196 in den Berichtsjah- ren 2001 bzw. 2000. Dabei handelt es sich allesamt um Sehr geehrter Herr Dr. Penner, ich danke Ihnen für Äußerungsdelikte ohne Gewalttätigkeit. An diesen Vor- den 45. Bericht eines Wehrbeauftragten des Deutschen kommnissen waren zu mehr als 70 Prozent Grundwehr- Bundestages. Ich spreche diesen Dank auch im Namen dienstleistende und zwei Berufssoldaten beteiligt. So- meiner gesamten Fraktion aus. Unser Dank gilt auch Ih- weit zum Statistischen. ren Mitarbeitern, die im Berichtsjahr wieder sehr viele Eingaben zu betreuen hatten. Die beinahe unverändert Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich hohe Zahl von Eingaben – gemessen am Umfang der schließe mit der Bitte um Nachsicht für folgende Hartnä- Bundeswehr –, der zweithöchsten seit Bestehen des Am- ckigkeit, die hoffentlich nicht halsstarrig wirkt. Ich be- tes, ist weiterhin ein deutliches Zeichen für das Knir- tone im Plenum des Deutschen Bundestages also noch- schen im Gebälk, wenn ein Haus umgebaut wird, das mals: Die Bundeswehrsoldaten müsseneinheitlich gleichzeitig einem Sturm trotzen soll. Es darf uns nicht besoldet werden. verwundern, wenn sich die Bewohner des Hauses Sor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gen machen, wenn einige Angst um ihre berufliche Zu- des Abg. Reinhold Robbe [SPD]) kunft bekommen und wieder andere einfach ausziehen. Ich bedanke mich auch im Namen meiner Mitarbeite- Die grundlegende Situation kann aber nicht geändert rinnen und Mitarbeiter für die tatkräftige Unterstützung werden: Transformation und Einsätze müssen gleichzei- unserer Arbeit, namentlich seitens des Verteidigungsaus- tig geleistet werden. Umso mehr Respekt verdienen die schusses. Für den leitenden Beamten Dr. Seidel ist das jungen Männer und Frauen, die heute den Dienst in der der letzte Bericht, an dem er mitgewirkt hat. NachBundeswehr wählen und als Wehrpflichtige oder Zeit- 13 Jahren Dienst in verantwortungsvoller Position bei soldaten in die Kasernen kommen. der Dienststelle des Wehrbeauftragten geht er in diesem Jahr in den Ruhestand. Es besteht Anlass, auch im Ple- Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt sowohl ver- num darauf aufmerksam zu machen. meidbare Missstände als auch unvermeidbare Härten. Der Bericht bietet als Mängelbericht Indizien dafür, wie (Beifall im ganzen Hause) es in der Truppe wirklich aussieht, wie die Stimmung ist (B) und wie es um die Einsatzbereitschaft steht. Aus Ihrem (D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bericht lassen sich bestimmte Grundprobleme und Ent- Lieber Herr Kollege Penner, ich glaube, es bestehtwicklungen herauslesen. Einen Schwerpunkt bilden die nicht nur Anlass für das Haus, sich Ihrer letzten Bemer- Personalangelegenheiten, die über 40 Prozent aller Ein- kung anzuschließen, sondern auch, Ihnen persönlich für gaben ausmachen. Der Transformationsprozess führt Ihre Arbeit besonders zu danken. Sie sind ja kein Beauf- zu zahlreichen Personalveränderungen. Ich habe den tragter der Bundesregierung, sondern ein Beauftragter Eindruck, dass die Führung des Verteidigungsministeri- des gesamten Hohen Hauses. Ich glaube, wir alle können ums dieser Aufgabe nicht immer gewachsen ist. sagen, dass Sie uns sehr gründlich und nachdenklich in- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) formieren. Es lohnt sich sicher, dies in dem Bericht ein- mal nachzulesen. Vielen Dank an Sie und an Ihr Haus Bei vielen Eingaben liegt die Ursache der Beschwer- für Ihre Arbeit. den im Zusammentreffen der Reformwellen. Da bleiben Anträge liegen, weil die Personalführung gleichzeitig an (Beifall im ganzen Hause) Kopf und Füßen umgebaut wird, weil vorhersehbare Das Wort hat jetzt die Kollegin Anita Schäfer. Auslandseinsätze zu Lücken beim Personal führen, die nicht durch Vertretungen geschlossen werden können. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn weitere hundert Standorte aufgelöst werden, wenn Einsätze künftig kurzfristig kommen, dann müssen wir Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): weit vorausschauend planen. Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle- gen! Sehr geehrter Herr Penner! In schöner Regelmäßig- Neben den Problemen der Personalführung bestehen keit befassen wir uns im Plenum mit dem Jahresbericht aber auch gravierende materielle Mängel, die an Motiva- des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Dies tion und Einsatzbereitschaft zehren. Wenn ich die Ergeb- ist eine gute Tradition und keine lästige Pflicht. nisse Ihres Berichtes mit meinen Eindrücken aus der Truppe verbinde, dann erkenne ich so etwas wie eine Im Angesicht der Transformation der BundeswehrZweiklassenarmee. Das Material im Einsatzland ist gut, und der gleichzeitig laufenden intensiven Auslandsein- wenn auch verbesserungswürdig. Das Material in der sätze stellt der Bericht des Wehrbeauftragten eine derHeimat ist aber immer wieder so knapp, dass die Ausbil- letzten dauerhaften Regelmäßigkeiten im Umfeld unse- dung leidet und manchmal unmöglich wird. Ich stelle rer Streitkräfte dar. Über den eigentlichen Bericht hinaus daher die Frage, wie Soldaten ihre Aufträge sofort erfül- muss dem eine hohe symbolische Bedeutung zugemes- len sollen, wenn sie wichtige Teile ihrer Ausrüstung erst Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9841

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) im Kosovo oder in Kabul kennen lernen. Wie schnell die An dieser Stelle muss ich die Seite derAuslandsein- (C) Sicherheitslage dramatisch umschlagen kann, haben wir sätze ansprechen, die wir alle möglichst selten zu sehen erst vor wenigen Wochen im Kosovo erlebt. bekommen wollen: Tod und Verwundung im Auslands- einsatz. Wir alle erinnern uns an die unschönen recht- Das meiste moderne Material fehlt beim Heer. Herr lichen Auseinandersetzungen zwischen Verteidigungs- Dr. Penner, ich stimme Ihnen daher zu, dass beim Heer ministerium und Hinterbliebenen, an den schwer das Gefühl wächst, zum großen Verlierer der Transfor- nachvollziehbaren Umgang des Dienstherrn mit im Ein- mation zu werden. Das Heer trägt nach wie vor diesatz verwundeten Soldaten. Endlich ist hier ein Gesetz in Hauptlast der Auslandseinsätze. Dementsprechend muss Vorbereitung, es auch ausgerüstet sein. Die Bundesregierung wird ihrer Verantwortung gegenüber den Soldaten im Einsatz nicht (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Hat gerecht, wenn sie beispielsweise geschützte Fahrzeuge lange genug gedauert!) nur zögerlich beschafft. Auch in Eingaben an den Wehr- beauftragten äußern Soldaten ihre Sorgen, dass bei Aus- das klar erkennen lässt, dass ein Oberfeldwebel in Kabul landseinsätzen Mängel im Schutz bestehen. ein völlig anderes Berufsrisiko hat als der Finanzbeamte hier in Deutschland. Über den materiellen Fragen darf Ein weiterer Punkt ist dieUnterbringung. Es hat aber nicht vergessen werden, dass sich für viele Solda- mich nicht gewundert, als vor kurzem ein Soldat zu mir tinnen und Soldaten immer stärker die Frage nach dem gesagt hat, sein Container im Kosovo sei moderner ge- politischen Sinn der Einsätze stellt. Gerade die völlig un- wesen als seine Stube in Deutschland. Im 45. Jahresbe- erwarteten Unruhen im Kosovo haben bei vielen Solda- richt findet sich eine lange Liste maroder Kasernen. Es ten den Eindruck entstehen lassen, dass ihr Einsatz we- ist verständlich, dass Kasernen nicht grundsaniert wer- nig Sinn macht, dass politische Konzepte fehlen. den können, wenn sie demnächst geschlossen werden sollen. Jedoch ist der Dienstherr verpflichtet, bestimmte Neben einer uneingeschränkt guten Ausrüstung muss Standards einzuhalten, besonders im hygienischen Be- die Bundesregierung auch für eine realistische Perspek- reich. tive in der Auftragserfüllung sorgen. Es muss den Solda- tinnen und Soldaten das Gefühl vermittelt werden, dass Der Bericht des Wehrbeauftragten soll immer auch sie der wichtigste Teil der Bundeswehr sind. Denn nur ein Licht auf die Umsetzung der inneren Führung wer- hoch motivierte und sehr gut ausgebildete Soldaten kön- fen. Hier ist die Bundeswehr eine gefestigte Truppe. So nen den Anforderungen der nächsten Jahre gewachsen unschön und strafwürdig auch die aufgetretenen Zwi- sein. Ich betone, dass ich an dieser Stelle keinen Unter- schenfälle sind: Es sind gottlob Einzelfälle, die in derschied zwischen Wehrpflichtigen, Zeit- und Berufssolda- (B) Regel schnelle und harte Konsequenzen nach sich zie- ten machen möchte und machen kann. (D) hen. Die große Herausforderung in diesem Zusammen- hang besteht darin, die innere Führung unter den Belas- Sehr geehrter Herr Dr. Penner, mit Ihrem Jahresbe- tungen der Armee im Einsatz weiterzuentwickeln. richt haben Sie der Bundesregierung gezeigt, dass die Grenzen der Belastbarkeit für die Soldatinnen und Sol- Die Öffnung aller Laufbahnen in der Bundeswehr für daten in der Bundeswehr erreicht worden sind. Frauen hat sich bewährt. In den Eingaben an den Wehr- beauftragten kamen hin und wieder Probleme mit dem Zum Schluss noch ein Wort zurallgemeinen Wehr- derzeitigen Erlass „Sexuelles Verhalten von und zwi-pflicht. Der Minister betont täglich, dass er an der Wehr- schen Soldaten“ zur Sprache. So wurde bemängelt, dass pflicht festhalten wird. Im Interesse der Bundeswehr eine ernsthafte, auf Dauer angelegte Beziehung zwi-hoffe ich, dass er zu seinem Wort steht. schen einem Soldaten und einer Soldatin nicht möglich (Gernot Erler [SPD]: Macht er immer!) sei, wenn beide zum Wohnen in der Kaserne verpflichtet sind. Das Verteidigungsministerium will und muss hier Wir dürfen nicht die Fehler anderer Staaten wiederholen. Änderungen schaffen. Die Vorgesetzten brauchen klare Aus den vielen Problemen, die mit der Abschaffung der Richtlinien. Große Interpretationsspielräume darf esWehrpflicht auf die Bundeswehr zukämen, möchte ich nicht geben. einen Aspekt aufgreifen: Die Wehrpflichtarmee ist im- mer ein Spiegel der Gesellschaft. Die Soldatinnen und Wenn Soldatenpaare in der Kaserne leben dürfen,Soldaten stehen in der Gesellschaft. Ethische Grundsätze dann sollte der Minister auch an mögliche Folgen dieses der Menschenführung sind im System der Parlaments- Zusammenseins denken: an das Gründen einer Familie, und Wehrpflichtarmee verankert. Die Aufmerksamkeit an Kinder. Ich kann hier nur auf unseren aktuellen An- von Politik und Gesellschaft für das Innenleben der trag hinweisen. Familien in der Bundeswehr müssenStreitkräfte ist daher groß, gewiss größer als bei der Be- mehr gefördert werden. Die Bundeswehr darf nicht eine rufsarmee. Aber vor allem stellt sich die Frage: Wie ver- familienfreie Zone werden. Besonders diejenigen, die als ändert sich in einer Berufsarmee das Menschenbild der Soldat für die Gemeinschaft dienen, müssen bei derSoldaten? Gründung einer Familie unterstützt werden. Die künftige Flexibilität bei Auslandseinsätzen kann nur geleistet (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- werden, wenn in der Heimat alles stimmt, wenn der neten der SPD) Kopf frei von Sorgen um Partner und Kinder ist. Ich warne davor, eine Berufsarmee zu schaffen, die sich (Beifall bei der CDU/CSU) irgendwann eigene ethische Gesetze schafft. 9842 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Ach, wer wird. Deswegen hat das Bundesministerium der Vertei- (C) glaubt denn so was?) digung der Weiterentwicklung derFamilienbetreuung der Soldatinnen und Soldaten einen hohen Stellenwert – Warten Sie nur einmal ab! – Neben vielen anderen Fra- eingeräumt. Wir betrachten die Betreuung und Fürsorge gen zu Militär und Krieg in unserer Zeit ist uns eine als wesentliche Konstanten in einem Prozess fortwäh- hoch aktuelle Frage aus dem Irakkrieg erwachsen: Sind render Anpassung. Ich darf in diesem Zusammenhang Berufsarmeen anfälliger für unkontrollierte Gewaltta- darauf hinweisen, dass wir bis Ende des Jahres 2004 ten? Innere Führung, allgemeine Wehrpflicht, Parla- über eine flächendeckende Endstruktur mit insgesamt mentsarmee – diese drei Institutionen gehören zum geis- 31 Familienbetreuungszentren verfügen werden, mit de- tigen Kern der Bundeswehr. Sie sind notwendig, um nen bei Auslandseinsätzen den Familien im Inland eine langfristig eine Bundeswehr ohne Söldnermentalität zu wertvolle Hilfestellung geboten werden kann. bewahren. Herr Staatssekretär Kolbow, erhalten Sie die Wehr- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried pflicht, bevor wir in diesem Hause über Verbrechen re- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) den müssen! Fast 8 000 Soldatinnen und Soldaten unserer Bundes- (Widerspruch bei der FDP – Winfriedwehr sind derzeit auf dem Balkan, in Georgien, am Horn Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: von Afrika, der Straße von Gibraltar, in Usbekistan und Vorsicht mit einem Generalverdacht gegen- in Afghanistan im multinationalen Einsatz zur Siche- über Zeit- und Berufssoldaten!) rung des Friedens. Bei SFOR in Bosnien und Herzego- wina ist dies nun bereits ununterbrochen seit mehr als Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. acht Jahren der Fall, bei KFOR seit fünf Jahren. Seit (Beifall bei der CDU/CSU) 1990 waren immerhin 171 000 Soldatinnen und Solda- ten im Auslandseinsatz. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der persönliche Einsatz unserer Soldatinnen und Sol- Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär daten trägt maßgeblich zur Absicherung der durch die Walter Kolbow. internationale Staatengemeinschaft erzielten Friedens- prozesse bei. Der Wehrbeauftragte hat darauf hingewie- Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- sen, dass die Einhaltung der Menschenrechte, das Ver- nister der Verteidigung: hindern von Krieg und die durch die Präsenz im Ausland Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! realistische und greifbare Chance auf ein künftig friedli- ches Zusammenleben die Auslandseinsätze rechtfertig- (B) Zunächst möchte ich – selbstverständlich auch für Ver- (D) teidigungsminister Dr. Struck – dem Herrn Wehrbeauf- ten. Sie verdienen unseren Respekt und Anerkennung. tragten, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Ich will in diesem Zusammenhang auch darauf hin- auch Herrn Dr. Seidel ein herzliches Dankeschön sagen, weisen, dass daran aktuelle Berichte über das Verhalten für diesen Bericht wie auch für die anderen Berichte in von Soldatinnen und Soldaten, gerade im Kosovo, nichts der bisherigen Amtszeit des gegenwärtigen Wehrbeauf- ändern können. Ich danke dem Parlament – vor allem tragten und für die Klarheit und Wahrheit der Inhalte, die den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses und des für uns Anspruch bedeuten im Aufarbeiten, Umsetzen Auswärtigen Ausschusses –, dass sie sich hinter unsere und Beseitigen der Mängel. Soldatinnen und Soldaten gestellt haben, denen im Zu- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried sammenhang mit den Vorkommnissen im Kosovo am Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 17. und 18. März ungerechtfertigte Vorwürfe gemacht worden sind. Die konstruktiv-kritische Begleitung der Bundeswehr und der Ansatz, durch objektive Kritik ein breit angeleg- (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei tes Themenspektrum abzudecken, sind für uns eine un- Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- verzichtbare Hilfe. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich an dieser Stelle eines anmerken: Wir Wir sind immer für kritische Anregungen aus dem haben in den letzten Jahrzehnten mit unseren Wehrbe- Parlament offen, Frau Kollegin Schäfer; das versteht auftragten wirklich Glück gehabt, ob sie Karl Wilhelm sich von selbst. Ich darf aber darauf hinweisen, dass wir Berkhan, Willi Weiskirch, Alfred Biehle, Clairezum Schutz der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz im- Marienfeld oder Willfried Penner hießen bzw. heißen. mer das Bestmögliche für die Ausrüstung wie auch für die Ausbildung tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Das FDP) habe ich doch gesagt!) Der Wehrbeauftragte hat zu Recht auf die Probleme Das gilt trotz des engen Haushaltsrahmens auch für die im gegenwärtigen Transformationsprozess unserer Bun- Vorhaben der von Ihnen angesprochenen Materialbe- deswehr hingewiesen und aufgezeigt, welch hohes Maß schaffung. Deswegen haben wir die Beschaffung der an Flexibilität und Leistungsbereitschaft unseren Solda- geschützten Transporter Duro, Dingo und Mungo unver- tinnen und Soldaten wie auch ihren Familien – auch das züglich auf den Weg gebracht. Deshalb setzen wir das hat der Wehrbeauftragte herausgestellt – abverlangtProjekt „Infanterist der Zukunft“ zielstrebig weiter um Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9843

Parl. Staatssekretär Walter Kolbow (A) und beschaffen nach diesem Jahr im Rahmen des ein- Helga Daub (FDP): (C) satzbedingten Sofortbedarfs weitere Systeme. Deshalb Frau Präsidentin! Herr Dr. Penner! Verehrte Kollegen soll die persönliche Ausrüstung der Soldatinnen und Sol- und Kolleginnen! Die Jahreszahl des Berichts ändert daten im Rahmen des Konzepts „Soldat im Einsatz“ wei- sich. Einige Probleme bleiben, andere kommen hinzu. ter verbessert werden. Kurz: Die Bundeswehr soll und Aber selbstverständlich ändert das gar nichts daran, dass wird künftig über einen noch besseren Mix aus gut ge- die FDP-Fraktion Ihnen, Herr Dr. Penner, und Ihren Mit- schützten Transport- und Führungsfahrzeugen, durchset- arbeitern für die Erstellung dieses sachlichen und offe- zungsfähigen leichten, mittleren und schweren Gefechts- nen Berichts danken möchte. fahrzeugen, leistungsfähigen Hubschraubern und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Transportflugzeugen, vernetzten Führungs- und Infor- der CDU/CSU) mationssystemen sowie aus persönlichen Schutz- und Ausstattungspaketen der Soldatinnen und Soldaten ver- In den vergangenen Wochen – und jetzt ganz aktuell – fügen. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis und gehen Sie ist besonders die Frage derWehrpflicht wieder in das damit objektiv um! Interesse der Öffentlichkeit gerückt. Daher freut es mich, Herr Dr. Penner, dass diese Problematik in Ihrem Bericht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zumindest am Rande dargestellt wird. Allerdings zeich- DIE GRÜNEN) net sich nicht nur ab, dass die Wehrgerechtigkeit zum Herr Wehrbeauftragter, es ist in der Tat keine Hals- Thema wird, wie es in Ihrem Bericht heißt, sondern sie starrigkeit, dass Sie wieder darauf hingewiesen haben, ist bereits ein Thema. dass die Angleichung der Besoldung im Osten an die (Beifall bei der FDP) im Westen noch nicht erfolgt ist, die wir alle in diesem Hause eigentlich wollen. Wir haben mit dem Gesetz über Das wird so lange so bleiben, wie die Koalition dieses die Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge in Thema vor sich herschiebt. Bund und Ländern 2003/2004 wichtige Anpassungs- Darüber hinaus ist der Motivationsrückgang bei den schritte beschlossen und den Willen ausgedrückt, dieSoldaten zu beklagen. Ihre Bereitschaft, Reformen mit- Angleichung des Bemessungssatzes für die unterschied- zutragen, sinkt weiter. Die schwindende Zahl von Be- lichen Besoldungsgruppen bis Ende 2007 bzw. Endewerbern als Berufssoldaten sollte als Alarmsignal begrif- 2009 zu erreichen. Wir werden weiter konstruktiv anfen werden und hat wohl auch etwas mit der mangelnden dem Erreichen dieses Ziels arbeiten. Ich muss hier schon Planungssicherheit zu tun. Ebenso sind die Beschwerden aus objektiven Gründen darauf hinweisen, dass uns, dem über Mängel bei der Ausbildung und über das Material Bund, in diesem Zusammenhang immer wieder vorge- ernst zu nehmen. Es ist wohl so, dass die Ausbildung in halten wird, welche Ausstrahlungswirkung eine einsei- (B) den Verbänden total auf der Strecke bleibt. (D) tige Entscheidung auf die kommunalen Haushalte und gerade auf die Haushalte der neuen Bundesländer hätte. Angesichts der Wirklichkeit bei Auslandseinsätzen wird die vorbereitende Ausbildung in Deutschland sehr Frau Schäfer, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie genauso zu Recht kritisiert. Kraftfahrzeuge und Splitterschutz- wie der Wehrbeauftragte in der aktuellen Debatte daswesten seien hier nur als Beispiele genannt. Das bedeu- Einsatzversorgungsrecht angesprochen haben. Ichtet, dass die Ausbildung an einem anderen Material statt- denke, es ist eine gute Gelegenheit, festzuhalten – auch findet, als man es am Einsatzort vorfindet. Der weil der Wehrbeauftragte in seiner bisherigen Amtszeit routinierte Umgang mit Ausrüstung und Gerät muss immer wieder darauf hingewiesen hat, dass hier Abhilfe eine Grundvoraussetzung sein, weil Routine Sicherheit zu schaffen ist –, dass wir jetzt Betreuung, Fürsorge und bedeutet und weil Routine auch Leben retten kann. soziale Absicherung im hoffentlich nicht eintretenden Fall von Verletzung oder Tod geregelt haben. Ich sage (Beifall bei der FDP) das gerade im Hinblick auf das schreckliche Attentat in Grundsätzlich als Erfolg zu werten ist – auch auf- Kabul, bei dem vier Soldaten zu Tode gekommen sind grund der Kritik in der Vergangenheit – die Verkürzung und 29 verletzt wurden. Wir haben mit dem Institut des der Einsatzdauer von sechs auf vier Monate. Einsatzunfalls eine sehr gute Regelung für den schlech- testen Fall gefunden, den wir uns nicht wünschen. (Ursula Lietz [CDU/CSU]: Wenn sie denn kommt!) Ich danke dem Herrn Wehrbeauftragten und Ihnen für Ihre konstruktiven Beiträge. Seien Sie versichert, dass Hier hat die Regierung endlich die Notwendigkeit, zu wir dem Parlament unverzüglich Lösungsvorschlägehandeln, erkannt. Nun gilt es aber, Vorsicht walten zu vorlegen werden. Das gilt sowohl für die angesproche- lassen. Was auf der einen Seite gewonnen wurde, darf auf der anderen Seite nun nicht zu einer erhöhten Ein- nen Themen wie für die anderen Vorhalte, die ich jetzt satzfrequenz führen. Wenn dieser Fall einträte, dann aus Zeitgründen nicht ansprechen konnte. käme das, mit Verlaub, der Echternacher Springprozes- Vielen Dank für das Zuhören. sion gleich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Im Übrigen: Ein Auslandseinsatz von Grundwehr- DIE GRÜNEN) dienstleistenden – wenn auch auf freiwilliger Basis; wo und in welcher Art auch immer – ist mit der FDP nicht zu machen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Helga Daub. (Beifall bei der FDP) 9844 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Helga Daub (A) Eine entsprechende Äußerung des Ministers hat, wieAllein im letzten Jahr wurde der Bundeswehrumfang um (C) auch im Bericht des Wehrbeauftragten nachzulesen ist, 23 000 Soldaten verringert. Mehrere Auslandseinsätze wohl zu Irritationen geführt. Auch wir waren irritiert, als wurden tatsächlich beendet. Das ist kaum bekannt. Ver- wir davon in der Presse gelesen haben. Wir alle wissen, breitet ist die Wahrnehmung, es gebe immer wieder neue dass die Situation für unsere Soldaten nicht einfacher ge- Auslandseinsätze. Es gab mit dem fürchterlichen Terror- worden ist. Wie gut, dass es den Wehrbeauftragten gibt, angriff in Kabul erstmalig einen gezielten Angriff auf an den sie sich mit ihren Problemen wenden können. Bundeswehrsoldaten. Beherrschendes Thema war schließlich der Irakkrieg. Grundsätzlich gilt – noch einmal –: Die Institution des Wehrbeauftragten ist wehrformunabhängig, ebenso Herr Penner, Sie haben mit ausgezeichneter und vor- das Konzept der inneren Führung. – Ich stelle geradebildlicher Deutlichkeit auf die völkerrechtliche Einbin- fest, dass ich den Rest meines Manuskripts am Platz lie- dung der Bundeswehr bei Ihren Einsätzen hingewie- gen gelassen habe. Das ist aber egal; denn ich kannsen. Sie sprechen in Ihrem Bericht auch an, dass die meine Rede auch so fortsetzen. Soldaten im letzten Jahr verstärkt die Rechtmäßigkeit verschiedener Dienste diskutiert haben. Das betrifft nicht (Heiterkeit) nur Luftwaffeneinsätze im Innern, sondern auch die Be- Es gibt wohl niemanden in diesem Saal, der daranwachung von US-Liegenschaften und natürlich den ge- zweifelt, dass unsere Soldaten, sowohl die Zeit- als auch samten Komplex Irakkrieg. Dass dies von Soldaten so die Berufssoldaten, mit beiden Beinen fest auf dem Bo- breit thematisiert wurde, dass von ihnen die Rechtmä- den des Grundgesetzes stehen, wenn sie im Auslandßigkeit von Aufträgen eingefordert wurde, spricht für die oder hier eingesetzt sind. Mündigkeit und das Rechtsstaatsbewusstsein der Bun- deswehrangehörigen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- Erstmalig spricht der Wehrbeauftragte in diesem Be- SES 90/DIE GRÜNEN) richt traumatische Erkrankungen von Soldaten an. Nach Expertenmeinung bedürfen ungefähr 2 bis 5 Pro- Es wird immer wieder – direkt oder unterschwellig – zent der aus Einsätzen zurückgekehrten Bundeswehrsol- die Befürchtung geäußert, wir könnten mit einer Berufs- daten psychologischer Behandlung. Das sind die armee einen Staat im Staate bekommen. Frau Schäfer, unsichtbaren Verwundungen, mit denen umzugehen wei- ich muss Ihnen hier jetzt einfach sagen: Das wird so terhin sehr schwer fällt; denn solche psychologischen wohl nicht der Fall sein. Ich glaube, das ist auch durch Probleme und Störungen scheinen zumindest dem das, was ich eben gesagt habe, klar geworden. Selbstbild und dem Fremdbild des starken Soldaten zu (B) (Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Ich widersprechen. Umso mehr muss es Aufgabe der Bun-(D) wollte gerade sagen: Das habe ich nicht ge- deswehr sein, so meine ich, aber auch unsere Aufgabe, sagt!) auf solche Art Verwundete nicht allein zu lassen. Dieses Thema braucht unsere stärkere Aufmerksamkeit. Die Bundeswehr befindet sich in einem Transforma- tionsprozess. Das heißt aber auch, dass sie zukunfts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sicher ausgestaltet werden muss und dass endlich und bei der SPD) Planungssicherheit eintritt. Dazu gehört für uns die Aus- setzung der Wehrpflicht. Inzwischen erlebt die Bundeswehr ihre vierteStruk- turreform seit Anfang der 90er-Jahre. Dass dabei die (Beifall bei der FDP) Reformbereitschaft der Soldatinnen und Soldaten sowie Wir haben das immer wieder betont. In diesem Zusam- ihrer Angehörigen an ihre Grenze stößt, ist mehr als menhang fordert die Fraktion der FDP den Minister wie nachvollziehbar und verständlich. Es ist zugleich eine schon in der vergangenen Woche auf: Holen Sie sich das Mahnung an uns Politiker, jetzt eine Transformation der Gesetz des Handelns zurück! Bundeswehr auf den Weg zu bringen, die strukturell wirklich länger hält. Vor diesem Hintergrund kann ich Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. nur betonen – Herr Penner hat es mit anderen Worten auch zum Ausdruck gebracht; ich interpretiere ihn zu- (Beifall bei der FDP) mindest so –: Je zügiger in diesem Zusammenhang die Frage der Wehrform geklärt werden kann, desto besser. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Man sieht: Es geht auch ohne Zettel. Der Wehrbeauftragte benennt verbreiteteMängel in der Ausbildung, für die, wie er schreibt, in nicht weni- (Heiterkeit) gen Einheiten und Verbänden zu wenig Zeit und Ausbil- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfrieddungsmaterial zur Verfügung stehe. Angesprochen wird Nachtwei. der Zustand vieler Kasernen. Angesichts der Beschrei- bung – es gibt Pilz- und Schimmelbefall in den Unter- künften – muss man sagen: Das ist unzumutbar und das Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist – es geht um öffentliche Gebäude – schlichtweg un- Frau Präsidentin! Lieber Herr Penner! Liebe Kolle- glaublich. ginnen und Kollegen! Das Berichtsjahr 2003 ist vor al- lem durch folgende Entwicklungen gekennzeichnet: Es (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das gab einen regelrechten Neustart der Bundeswehrreform. ist richtig!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9845

Winfried Nachtwei (A) Solche Mängel sind nicht hinnehmbar. Sie drücken zu- gut aufgenommen hat. Dann würden nämlich viele(C) dem auf die Motivation von Soldaten und senken die Be- dieser Mängel im nächsten Bericht nicht mehr aufgelis- reitschaft der Soldaten, sich weiter zu verpflichten. Sie tet werden. sind genau das Gegenteil von Nachwuchswerbung; sie sind Nachwuchsabschreckung. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein Dauerthema im Mängelbericht des Wehrbeauf- Die Systematik eines solchen Berichts sorgt so dafür, tragten – das ist er vom Ansatz her zunächst einmal – ist dass vieles immer wieder vorkommt. Ich gestehe auch die Soldatenbeteiligung. Vielfach und schwer wird ge- gerne zu, dass wir aufpassen müssen. Im Inland stellt gen gesetzliche Vorgaben verstoßen. Zu bekräftigen ist, sich die Situation nämlich völlig anders dar als im Aus- dass Soldatenbeteiligung der sachgerechten Entschei- land. Auch diesen Unterschieden muss dementsprechend dungsfindung dient und die Stellung des Staatsbürgers in Rechnung getragen werden. Uniform fördert. Nicht hinnehmbar ist, dass Vorgesetzte Sie, Herr Wehrbeauftragter, mahnen im Hinblick auf so breit gegen die eindeutigen gesetzlichen Vorgabendie Vorsorge Reformen an. Eine altbekannte Forderung verstoßen. von unserer Seite lautet, endlich das Weißbuch auf den Vor zwei Wochen besuchte eine Delegation des Ver- Markt zu bringen und nicht immer nur Teilaspekte, in teidigungsausschusses des Bundestages Moskau. Erst- denen Reformen schon vollzogen wurden, zu nehmen malig traf man dort mit der Vereinigung der Soldaten- und aus ihnen ein Buch zusammenzustellen. Vielmehr mütter Russlands zusammen. Diese Frauen schilderten müssten aus der Perspektive einer Sicherheits- und Be- uns die rechtlose Situation der russischen Soldaten. Be- drohungsanalyse die notwendigen Schlussfolgerungen wunderung und hohen Respekt empfanden wir für diese gezogen werden. Die hieraus abgeleiteten Maßnahmen mutigen Frauen, die unser Vorsitzender, Kollege Robbe, müssten dann auch mit den notwendigen finanziellen zu Recht „famose Frauen“ genannt hat. Wir erfuhrenMitteln unterfüttert werden. Es hat überhaupt keinen plastisch, wie wenig selbstverständlich die Achtung von Sinn, hier über Reformen nachzudenken, wenn nicht Menschenwürde und Menschenrechten in Streitkräften gleichzeitig für deren Umsetzung das benötigte Geld zur ist. Darum machen sich dort die Soldatenmütter ver-Verfügung gestellt wird. dient. Darum macht sich hier der Wehrbeauftragte mit Desgleichen haben wir angemahnt, einmal im Jahr seinen Mitarbeitern in vorbildlicher Unabhängigkeit ver- einen Bericht zur Lage der Nation abzugeben, in dem dient. das gesamte Spektrum vom Reformtempo bis hin zu den Herr Penner, ich danke Ihnen. internationalen Verpflichtungen aufgezeigt wird. Es ist schon bezeichnend, dass auch viele hohe Militärs fest- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellen, dass zwischen dem Anspruch der Bundesregie- (D) und bei der SPD) rung und der sie tragenden Koalition, internationale Mi- litärpolitik mitzugestalten, und der vorhandenen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ausrüstung der Bundeswehr eine Riesenlücke klafft. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans Raidel. Anspruch und Wirklichkeit passen in vielen Dingen eben nicht zusammen. Hans Raidel (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrter Herr Dr. Penner! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch Sie, Herr Wehrbeauftragter, haben ja festge- Auch ich bedanke mich natürlich sehr, sehr herzlich für stellt, dass die bestehenden Materialmängel so nicht wei- diesen Bericht, Herr Dr. Penner. Ich bedanke mich auch ter hingenommen werden können. Sie haben auch darauf bei all Ihren Mitarbeitern, die immer einen sehr sorgfäl- hingewiesen, dass beispielsweise die Führungskräfte zur tigen und ausgewogenen Bericht vorlegen, der auf der Ausbildung daheim nicht zur Verfügung stehen, weil sie einen Seite klarstellt, was die Bundeswehr im Inneren im Auslandseinsatz sind. braucht, auf der anderen Seite aber auch versucht, einige Sie haben das wertvolle Institut des Bürgers in Uniform Hinweise darauf zu geben, welche Reformen demnächst angesprochen. Wir sollten dieses Institut als Ausdruck angegangen werden müssen, um die Einrichtung Bun- unserer Haltung in der Armee weiter ausbauen und pfle- deswehr so zu erhalten, dass sie auch den Interessen un- gen. Ich behaupte einmal: Wenn andere Armeen ein sol- seres Landes in vollem Umfang nachkommen kann. ches Institut in dieser Ausformung hätten, würden wir Sie haben die Sachverhalte im Bericht unter zwei Be- zum Beispiel in den Nachrichten aus dem Irak nicht über griffen, wenn ich es richtig sehe, subsumiert: unter den Menschenrechtsverletzungen oder andere Übergriffe der Fürsorge für unsere Soldaten und unter den der Vor- durch US-Soldaten informiert werden müssen. sorge. Sie haben das innere Gefüge der Bundeswehr auf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gezeigt und in der Zusammenstellung und Beurteilung der SPD) der Mängel auf die Fürsorge hingewiesen. Ich wäre sehr dankbar, Herr Staatssekretär, wenn man hier nicht immer Aus diesem Grunde müssen wir dieses Institut pflegen. wieder nur feststellen würde, dass man solche Hinweise Deswegen haben wir auch den Unterausschuss für die ernst nimmt, sondern man auch durch Abarbeitung die- Weiterentwicklung der inneren Führung unter Leitung ser Mängel zeigen würde, dass man die Institution Wehr- von Dr. Lamers eingesetzt. Dabei geht es nicht nur um beauftragter voll in das eigene Lebens- und Gedanken- die aktive Truppe, sondern auch um die Reservisten. 9846 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Hans Raidel (A) Damit würde ich gerne eine Überleitung zur Wehrpflicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) herstellen. Wir müssen uns davor hüten, in Zeitgeistbe- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Merten. trachtungen einmal Hü und einmal Hott zu sagen. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ulrike Merten (SPD): NEN]: Sie haben immer Hott gesagt!) Frau Präsidentin! Sehr verehrter Herr Dr. Penner! Die militärische Führung der Bundeswehr selbst stellt Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Jahresbericht fest, dass das gesamte Konstrukt, die gesamte Transfor- 2003 liegt uns eine detaillierte Information über Zustand mation auf der Wehrpflicht aufgebaut ist. In den Unterla- und inneres Gefüge der Bundeswehr vor, die wir nie be- gen, die Sie vorhin belächelt haben, sind die Stellung- kommen würden, wenn es den Wehrbeauftragten nicht nahmen Ihres Hauses enthalten, die auf die Folgen eines gäbe. Wir könnten gar nicht so viele Besuche bei der Verzichtes auf die allgemeine Wehrpflicht hinweisen.Truppe machen, die notwendig wären, um die Informa- Was wir heute in der Zeitgeistbetrachtung für gut halten, tionen zusammenzutragen, die wir Jahr für Jahr durch wirkt sich wahrscheinlich nachhaltig auf die Auftrags- den Wehrbeauftragten und sein Team bekommen, bei wahrnehmung dieser Bundeswehr, auf das innere Ge- dem ich mich ganz ausdrücklich dafür bedanken möchte. füge unserer Armee aus. Ich warne davor, die Wehr- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ pflicht in dieser Plattheit einfach zur Disposition zu stellen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Einsatz und Reform der Bundeswehr haben sich im neten der SPD) Berichtsjahr – es wurde schon mehrfach darauf hinge- wiesen – gewandelt und weiterentwickelt. Wichtige Im- Herr Staatssekretär, Sie haben sich dafür bedankt,pulse dafür gingen unter anderem auch von der Entwick- dass wir die Bundeswehr in der letzten Ausschusssitzung lung auf europäischer und internationaler Ebene aus. Die in Schutz genommen haben. Ich habe eigens den „Spie- Belastungen für die Soldatinnen und Soldaten sind gel“-Bericht mitgebracht: „Die Hasen vom Amselfeld“. dabei keineswegs geringer geworden. Deshalb müssen Die Presse ist in Deutschland frei. Das ist gut so. Aber wir auch genau abwägen, wenn wir politische Entschei- sie hat auch eine Verantwortung. Diese Verantwortung dungen treffen, die neue, zusätzliche Belastungen mit nimmt sie, glaube ich, nicht in ausreichendem Maßesich bringen. Wer meint, er könne die Bundeswehr mit wahr, wenn sie hier so formuliert, wie sie es getan hat. zusätzlichen Aufgaben im Inneren belasten, der muss Wir sollten uns gemeinsam, auch heute, öffentlich vor auch aufrichtig vor die Soldaten und Soldatinnen treten unsere Bundeswehrsoldaten im Einsatz stellen. Das be- und sagen, wie sie das leisten sollen und wie das finan- ziert werden soll. Herr Kollege Raidel, Ihre Klage über (B) deutet nicht, dass man nicht prüfen und darüber nach- (D) denken sollte, welche Fragen zu klären sind. Aber Pau- die Belastungen und über die Mängel in der Ausbildung schalverurteilungen sollten wir hier zurückweisen. Wir aufgrund der Auslandseinsätze ist vor dem Hintergrund sollten uns zu unseren Soldaten bekennen. dessen, was Sie hier fordern, ein wenig unehrlich. Das muss man an dieser Stelle einmal sagen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es gibt kaum einen Dienst in diesem Lande, der durch so viele Umzüge und Umstrukturierungen, mangelndes Wenn wir über Belastungen reden, dann muss man Geld, fehlende Ausrüstung und entsprechende Konse- auch auf den Einsatz der Bundeswehr im Zuge des Irak- quenzen belastet ist wie der Soldatenberuf derzeit. Hinzu krieges zu sprechen kommen. Bundeswehrsoldaten hat- kommen Belastungen durch den Auslandsdienst. Sieten amerikanische Liegenschaften in Deutschland zu kennen alle diese Problematik. DieFürsorgepflicht schützen. Der Einsatz war zwar durchaus überschaubar. sollte für uns an erster Stelle stehen, auch in Bezug auf Trotzdem führte er zu erheblichen personellen und zeitli- Besoldung, Versorgung und Rücksichtnahme auf dieje- chen Belastungen der Truppe. nigen, die unter besonderen Situationen zu leiden haben, zum Beispiel durch Verwundung oder als Familienange- Überdies – ich glaube, der Kollege Nachtwei hat dies höriger durch den Tod eines Soldaten. Psychologiefra- angesprochen – stellten die Soldaten die Frage nach der gen sind bereits angesprochen worden. Rechtmäßigkeit ihres Dienstes. Ich finde, wir sollten dies nicht kritisieren, sondern die Zweifel als Beleg da- Wir alle tun gut daran, parteiübergreifend – obwohl für nehmen, dass wir es in der Bundeswehr mit Soldaten ich einzelne Perspektiven aus den verschiedenen Par-zu tun haben, die als kritische, zu eigenem Urteil befä- teien nicht missen möchte, weil sie befruchtend seinhigte und zivilcouragierte Staatsbürger in Uniform ih- können, aber nur dann, wenn wir uns einig sind – hinter ren Dienst tun. Dies ist im Übrigen das Ergebnis von fast Bündnis- und Landesverteidigung, hinter den Aufgaben 50 Jahren innerer Führung, die mehr denn je ihre Be- der Bundeswehr zu stehen und dementsprechend im Par- rechtigung hat. lament richtungsweisende Beschlüsse zu fassen, ein- schließlich der Zurverfügungstellung des notwendigen Deutsche Soldaten, die tatenlos zusehen, wie Jahrtau- Geldes, insbesondere in Zeiten knapper Kassen. sende alte Kulturgüter derPlünderung anheim fallen, Herzlichen Dank. werden wir – da bin ich mir ganz sicher – nicht erleben, gar nicht zu reden von den Anschuldigungen wegen (Beifall bei der CDU/CSU) Misshandlungen von Gefangenen, die jetzt im Irak ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9847

Ulrike Merten (A) gen amerikanische und britische Soldaten erhoben wur- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) den. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hedi Wegener. Unsere Soldaten in den Einsatzgebieten sind doch auch deshalb so hoch geschätzt, weil sie eben nicht als Hedi Wegener (SPD): Besatzer auftreten. Auch deshalb verdient ihr Einsatz Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr uneingeschränkten Respekt und Anerkennung. Dr. Penner! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie schön, dass in der letzten Stunde viele junge Leute oben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auf der Tribüne gesessen haben und dass dort immer DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der noch Schülerinnen und Schüler sitzen! Denn auf euch CDU/CSU und der FDP) kommt gegebenenfalls das zu, worüber wir hier diskutie- ren: der Kontakt zum Wehrbeauftragten. Unsere Soldaten sind gut ausgebildet und gut vorbereitet auf ihren Einsatz in fremdem Gebiet, das eine andere Insgesamt haben wir ein Problem; denn wir stehen Kultur hat, und im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit vor großen Herausforderungen. Nach Angaben des Sta- anderen Nationen. Ich glaube, dass der Aspekt der inter- tistischen Bundesamtes leben circa 4,8 Millionen Män- kulturellen Kompetenz mit der Ableistung erfolgreicher ner zwischen 16 und 25 Jahren in Deutschland. Da die Einsätze im Ausland zunehmend an Bedeutung gewin- Bereitschaft junger Männer, sich freiwillig als Soldat bei nen wird. Dieser Punkt sollte in der Ausbildung stärker der Bundeswehr zu verpflichten, in den letzten Jahren berücksichtigt werden. gleich geblieben ist, ergibt sich einBewerberpotenzial von ungefähr 680 000 jungen Männern. Diese Gruppe Schon Graf Baudissin, der Ideengeber der innerenwird innerhalb der nächsten 20 Jahre um 20 Prozent ab- Führung, konzipierte die Bundeswehr im Rahmen einer nehmen. Damit wird sich die Bewerberlage in der nächs- europäischen Sicherheitsstruktur, das heißt mit einer ten Zeit ganz spürbar verschärfen. Weil heute überpro- internationalen Perspektive. Das Leitbild der innerenportional viele Bewerber aus den neuen Bundesländern Führung ist der kritische, zu eigenem Urteil befähigte kommen, die dortige demographische Entwicklung aber und zivilcouragierte Staatsbürger in Uniform. Vorge-besonders drastisch ist, da hier ein ganz erheblicher Ge- setzte in der Bundeswehrtragen gegenüber den ihnen burtenrückgang zu verzeichnen ist, wird die Problematik anvertrauten Soldatinnen und Soldaten eine besondere noch größer werden. Junge Frauen interessieren sich nur Verantwortung, für die sie adäquat ausgebildet werden marginal für die Bundeswehr, nämlich nur jede 20. Aus müssen. Leitlinie dafür sind die Grundsätze der inneren diesem Grund ist auf dieses Potenzial vorläufig nicht zu- Führung. rückzugreifen. (B) Wie dieses Leitbild weiterentwickelt werden kann, Warum sage ich das? Wir müssen pfleglich mit unseren (D) darüber diskutieren wir im Unterausschuss; KollegeSoldatinnen und Soldaten umgehen, ihnen Berufschan- Raidel hat darauf hingewiesen. Dass unter den neuencen, Weiterbildungschancen und einen sozialverträglichen Bedingungen der Bundeswehr neue Lösungen für neue Arbeitsplatz bieten, damit sie weiterhin die Bundeswehr Fragen im Bereich der inneren Führung gefunden wer- sind, die wir im In- und Ausland haben wollen. Dazu ge- den müssen, liegt auf der Hand. Wir wissen, dass dies hört auch der Wehrbeauftragte, also sozusagen die Funk- kein statisches Konzept ist, sondern durchaus an neue tion einer Beschwerde- oder Petitionsstelle, um auf Män- Bedingungen angepasst werden muss. gel, Forderungen und Wünsche einzugehen. Dafür Ihnen, Herr Dr. Penner, Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Nicht nur das Sozialwissenschaftliche Institut dertern noch einmal ganz herzlichen Dank! Bundeswehr stellt fest, dass die soziale Integration fort- gesetzt und vertieft werden muss. Probleme der Verein- Es gibt keine Berufsgruppe, die einen verfassungsge- barkeit von Beruf und Familie gewinnen für Soldatin- mäßen Anspruch auf eine solche Beschwerdestelle hat. nen und Soldaten immer größere Bedeutung, auch für Es gibt eigentlich auch keinen Arbeitgeber, der sich so Alleinerziehende, die sich fragen: Was mache ich eigent- umfassend mit Mängeln beschäftigt. lich mit meinem Kind, wenn ich in den Einsatz muss? In einer vor kurzem vorgelegten Studie des Sozial- All das gehört im Übrigen auch zur Steigerung der At- wissenschaftlichen Instituts ist ermittelt worden, dass traktivität des Soldatenberufes. Der Kollege Nachtwei 78 Prozent der jungen Männer ihr Interesse am Solda- hat dies angesprochen und der Herr Wehrbeauftragtetenberuf damit begründen, dass sie viel mit moderner geht in seinem Bericht besonders darauf ein. Technik und mit Waffen zu tun haben. 74 Prozent nen- nen die Sicherheit des Arbeitsplatzes und immerhin Ich glaube, wir tun gut daran, den Bericht des Wehr- 72 Prozent die Möglichkeit, sich als Soldat weiterzuent- beauftragten, in dem natürlich auch Mängel genannt wickeln. Der gute Ruf der Bundeswehr und ihrer Solda- werden, als eine Chance zu begreifen, ein weiteres Mal ten, die Herausforderung einer militärischen Ausbildung als Gesellschaft genau hinzuschauen, was in den Streit- und die Auslandseinsätze der Bundeswehr wurden im- kräften vorgeht, und damit erneut unter Beweis zu stel- merhin von über 60 Prozent als Begründung angeführt. len, dass wir eng mit den Streitkräften verbunden sind. Das bedeutet für mich, dass die Einsteiger mit einer ho- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. hen Motivation in diesen Beruf kommen. Diese Motiva- tion müssen wir erhalten und pflegen, auch damit sie die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Motivation, wenn sie einmal Vorgesetzte sind, an ihre des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Untergebenen weitergeben. Grundsätzlich bedeuten die 9848 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Hedi Wegener (A) Ergebnisse der Studie, dass die Bundeswehr ein attrakti- Frauen und Jugend (12. Ausschuss) zu dem An- (C) ver Arbeitgeber ist. trag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Erwin Marschewski (Reck- Der Bericht des Wehrbeauftragten gibt uns jedes Jahr linghausen), weiterer Abgeordneter und der Frak- Anhaltspunkte, wo Verbesserungen und Abhilfe von tion der CDU/CSU Mängeln notwendig sind. Wir können aber auch ablesen, auf welchen Feldern Fortschritte gemacht worden sind. Keine Kürzungen von Integrationsmaßnah- Dazu ein Beispiel: In dem Bericht von 2002 bezog sich men eine große Anzahl der Eingaben und Beschwerden auf – Drucksachen 15/1691, 15/2900 – die langen Standzeiten und die mangelnde Flexibilität bei Auslandseinsätzen. Dass in diesem Jahr davon nicht Berichterstattung: mehr die Rede ist, heißt sicherlich nicht, dass es damit Abgeordnete Rita Streb-Hesse grundsätzlich keine Probleme mehr gibt; aber es zeigt Willi Zylajew doch, dass es eindeutige Besserungen gibt. Ekin Deligöz (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Klaus Haupt Kastner) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Gleichzeitig mehren sich die Eingaben wegen der Ein- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre satzplanung. Bemängelt wird häufig eine kurzfristigekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Umsetzung. Hierbei sind sicherlich noch Verbesserun- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege gen möglich. Willi Zylajew, CDU/CSU-Fraktion. Unsere Bundeswehr genießt im In- und Ausland ein hohes Ansehen, nicht zuletzt wegen ihres vorbildlichen Willi Zylajew (CDU/CSU): Verhaltens bei der Durchführung ihrer oft gefährlichen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auslandseinsätze. Die CDU/CSU-Fraktion hat diesen Antrag gestellt, um (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Bildungsbereich eine erprobte, verlässliche und er- DIE GRÜNEN) folgreiche Förderung junger Zuwanderer, in erster Linie Russlanddeutscher, Herr Welt, zu erhalten. Wir haben Das hören wir immerzu, wenn wir Soldatinnen und Sol- dies getan, weil wir es für richtig und wichtig halten, im daten im Ausland besuchen oder mit Vertretern der Län- Bereich der Bildung zu investieren. Mit diesen Maßnah- der sprechen, die von uns Hilfe erbitten. Damit dies so men wollen wir vor allen Dingen im Bereich der Sprach- bleibt, haben wir besondere Verpflichtungen gegenüber kompetenz investieren, damit aber auch Grundlagen für (B) unseren Soldatinnen und Soldaten. Wir haben in ange- den weiteren Bildungs- und Ausbildungsweg in Schule, (D) messener Weise auf die Eingaben zu reagieren. Der Ver- Berufsausbildung und Studium schaffen. teidigungsausschuss fordert deshalb den Verteidigungs- minister auf, entsprechende Regelungen zu treffen. Das Kabinett fordert derzeit sehr laut nach mehr An- strengungen im Bereich Bildung. Im März haben zwei Kolleginnen von der CDU und ich Vertreter der „Soldatenselbsthilfe gegen Sucht“ getrof- (Rita Streb-Hesse [SPD]: Zu Recht!) fen. Diese ehrenamtliche Organisation wird auch von Ih- – Zu Recht! Das sehen wir auch so, Frau Kollegin. – Es nen, Herr Dr. Penner, erwähnt. Wir unterstützen – ich wird also verlangt, dass sich die Länder um die Verbes- glaube überparteilich – diese Organisation. Wir danken serung der Schulausbildung bemühen. Dazu leisten wir dem Verteidigungsministerium, dass es sich im letzten Jahr mit dem Garantiefonds im Bildungssektor einen wichti- an dem „Aktionsplan Drogen und Sucht“ beteiligt hat. gen Beitrag für eine Gruppe, die sicherlich in besonde- Als letzte Rednerin möchte ich Ihnen, rem Herr Maße Handicaps hat, für die es besonders schwer Dr. Penner, ganz herzlich danken. Wir sehen uns zurist, sich in unserem Schul- und Ausbildungssystem zu- dritten Lesung wieder. rechtzufinden. Hier bauen Sie Mittel ab. Das ist Schönen Dank. schlechthin ein schreckliches Zeichen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Bildungsministerin forderte heute früh im DIE GRÜNEN) Deutschlandfunk Zielvereinbarungen zwischen der Wirt- schaft und der Politik, um Ausbildung sicherzustellen. Sie verlangt nach einem Ausbildungspakt. Inzwischen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fordert das ganze Kabinett solch einen Pakt. Auf der Ich schließe die Aussprache. Grundlage dieses Paktes sollen also Mittel für Bildung Interfraktionell wird Überweisung des Jahresberich- bereitgestellt werden, soll investiert werden. Selbst der tes 2003 des Wehrbeauftragten auf Drucksache 15/2600 Kanzler hat sich in jüngster Zeit mit dem Thema Bil- an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie dung beschäftigt; er hat sich dazu geäußert. Wir nehmen damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist diedas mit großer Freude zur Kenntnis. Sogar bei den un- Überweisung so beschlossen. heimlichen Geheimgesprächen, die es zwischen Genos- sen gibt, soll das Thema Bildung eine Rolle gespielt ha- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: ben. Nun geschieht faktisch Folgendes: Es gibt viele Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Worte im Interesse der Bildung; aber bei den Taten voll- richts des Ausschusses für Familie, Senioren,zieht sich in diesem Arbeitsfeld ein Abbau. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9849

Willi Zylajew (A) Bis April 2005 sollen die Maßnahmen und Förderun- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) gen auslaufen, die Internate sollen sogar noch im Som- Nächster Redner ist der Kollege Jochen Welt, SPD- mer dieses Jahres geschlossen werden bzw. deren Förde- Fraktion. rung soll eingestellt werden. Wir sagen: Dies ist schlichtweg schlimm. Zehntausende junger Menschen (SPD): werden damit der Bildungschancen beraubt. Auf der Jochen Welt einen Seite tun Sie dies, aber auf der anderen Seite for- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- dern Sie Bündnisse ein. Sie brechen hiermit – auch wenn gen! Der Antrag „Keine Kürzungen von Integrations- er nicht beurkundet war – einen Pakt, der zwischen den maßnahmen“, den uns die Union hier serviert, ist nach Kommunen, den Trägern der Maßnahmen, den Aussied- meiner festen Auffassung unseriös, unehrlich und vor al- lern und der Bundesregierung vereinbart wurde. Sie tun len Dingen zynisch. dies offensichtlich sehenden Auges. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke Die Bundesministerin Bulmahn hat heute beim Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tagesordnungspunkt 6 erklärt, man müsse die Sensorik NEN]) verbessern. Ich kann Ihnen nur dringend empfehlen, sel- Die Union hatte in den 90er-Jahren Regierungsverant- biges auch zu tun. wortung. Gerade in den 90er-Jahren sind die meisten (Beifall bei der CDU/CSU) Menschen als Zuwanderer bzw. Aussiedler nach Deutschland gekommen. Gerade in diesen Jahren sind Sie müssen in diesem Bereich die Sensorik verbessern! auch die meisten Integrationsprobleme entstanden, weil Sie marschieren schlichtweg in die falsche Richtung. immer mehr Menschen ohne deutsche Sprachkenntnisse Es ist ein falsches Signal, von den einen mehr Ausbil- zu uns kamen. dungsanstrengungen zu verlangen, sich selbst aber zu- (Erika Lotz [SPD]: So ist es!) rückzuziehen. Das ist ein Umstand, den wir nicht hin- nehmen. Aus meiner Sicht ist Ihr Handeln hierbei wie Gerade in diesen Jahren der erschwerten Integration Wasser: durchsichtig und geschmacklos. Sie wollen da in Deutschland haben Sie den Mut bewiesen, die Dauer Geld einsparen, wo Aufstockungen notwendig wären. der Sprachförderung in Deutschland von zwölf über Das ist geschmacklos, weil Sie damit jungen Menschen zehn auf sechs Monate zu reduzieren. Gerade in diesen Bildungschancen verbauen und Sie selbst nicht bereit Jahren der Integrationsprobleme haben Sie auch den Mut sind, das zu erbringen, was Sie von Handwerk, Handel, bewiesen, die Grundschulen aus der Förderung durch Industrie, Dienstleistern, Fachschulen und Hochschulen den Garantiefonds auszuschließen. In Sachen Qualität verlangen. von Integrationspolitik sind Sie wirklich ein schlechter (B) Ratgeber. (D) 25 Prozent unserer jungen Ausbildungsplatzsuchen- den sind nicht ausbildungsfähig. Der Anteil unter den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Spätaussiedlern und den Kindern von Flüchtlingen – wir DIE GRÜNEN) alle kennen die Situation aus unseren Wahlkreisen – ist noch wesentlich höher. Sie kappen trotzdem sehenden Das, was Sie uns nach diesen Jahren überlassen ha- Auges die Mittel und beenden erprobte und bewährteben, Maßnahmen. Der Berufspädagoge Josef Lintermann (Zuruf von der FDP: Haben Sie eigentlich würde dazu sagen: Herr, vergib ihnen; denn sie wissen auch eigene Vorstellungen?) nicht, was sie tun. sind Konzeptionslosigkeit und Kinder, die damals nach (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland gekommen sind, die im doppelten Sinne Nach den Gesprächen mit Ihnen muss ich leider sa- des Wortes „sprachlos“ sind und die hier scheiterten, gen: Sie wissen, was Sie tun. Sie sind nicht bereit, in Bil- weil sie allein gelassen wurden. Dafür tragen Sie die dung zu investieren und den jungen Menschen eineVerantwortung. Ich denke, es ist wichtig, darauf an die- Chance zu geben. ser Stelle hinzuweisen, weil wir seit 1998 in zweifacher Hinsicht einen Kurswechsel einleiten mussten: Erstens (Anton Schaaf [SPD]: Stimmt nicht!) haben wir die Quote bei den Aussiedlern von 200 000 – Lieber Toni, du hast dich ja nicht durchsetzen können. auf 100 000 gesenkt. Damit haben wir für die Städte und Ich vermute, dass du eine vernünftigere Position alsGemeinden mehr Raum für Integrationsmaßnahmen ge- deine Fraktion hattest. Aber in diesem wie in anderen schaffen. Fällen ist deine Meinung nicht mehrheitsfähig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir bitten Sie, Ihre Entscheidung zu überdenken.Diese Maßnahmen sind dadurch erst möglich geworden. Diese Kürzungen sind in dieser Zeit ein falsches Signal. Wir wären enttäuscht, wenn Sie bei Ihrer ablehnenden Zweitens haben wir in den Herkunftsländern mehr Position blieben. Wir finden, ein positives Signal wäre Bleibehilfe geleistet, damit die Menschen wieder Chan- ein gutes Zeichen für die jungen Menschen, die unsere cen und Perspektiven finden und dort bleiben. Wir haben Hilfe an dieser Stelle benötigen. die Großinvestitionen zurückgefahren, die Sie seinerzeit Ich bedanke mich sehr. gefördert haben, die Millionenprojekte, die Sie in den si- birischen Sand gesetzt haben und durch die die Men- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen letztlich nach Deutschland gelockt wurden. 9850 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Jochen Welt (A) Mit unserer Integrations- und Hilfenpolitik, die wir in meiner Einschätzung ein notwendiges Verfahren. Sie(C) den Staaten der ehemaligen Sowjetunion betreiben, in- stellen sich hier hin und fordern mehr Sprachförderung, vestieren wir in die Herzen und Köpfe der Menschen: in aber lassen es durch Ihre Blockadepolitik bei der Zuwan- Ausbildung, Fortbildung und Qualifizierung. Die Folge derung zu, dass immer mehr Menschen ohne Kenntnisse ist, dass es günstiger ist, weil wir für die Hilfen in den der deutschen Sprache nach Deutschland kommen. Herkunftsländern pro Jahr nicht mehr 150 Millionen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Euro, sondern nur noch 25Millionen Euro ausgeben. DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ Das positive Ergebnis ist, dass jetzt nicht mehr CSU) 110 000, sondern nur noch 40 000 Menschen pro Jahr ei- nen Antrag auf Aufnahme in Deutschland stellen. Das Das ist die Situation, das ist die Realität. gibt uns Chancen für mehr Integration. Das ist unser Also noch einmal: Ihr Antrag ist zynisch, er ist unse- Beitrag zur Integrationssteuerung und Integrationsförde- riös. Dank wirksamer Hilfen, die wir in den Herkunfts- rung. ländern leisten, haben wir eine drastisch gesunkene Zu- Weil das so ist, haben wir dieMittel für Integra- zugszahl. Natürlich gehen damit auch die Ausgaben für tionshilfen aufstocken können. Mit den 16 MillionenÜbersiedlung, Eingliederungshilfen und Integrations- Euro, die dem Bundesinnenministerium unter Ihrer Re- hilfen automatisch zurück. Aber speziell bei den Inte- gierung seinerzeit für die Projektförderung zur Verfü- grationsfördermaßnahmen ist allein für das Bundes- gung standen, haben Sie die Großverbände und Groß- innenministerium zu sagen, dass die Ausgaben, die organisationen institutionell gefördert. Wir leisten seit Investitionen um mehr als 70 Prozent gestiegen sind; ich 1998 Integrationshilfen in einer Größenordnung von bis denke, das ist ein Erfolg. Was jetzt Not tut, ist der Er- zu 28 Millionen Euro. Diese Mittel haben wir aufge-werb von Sprachkenntnissen in den Herkunftsländern stockt – als Integrationsvorleistung – sowie Integrations- und Sprachkurse für alle Mitglieder von Aussiedlerfamilien. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das haben wir im Zuwanderungsgesetz festgeschrieben. und Projekte vieler gesellschaftlicher Organisationen, Jetzt sind Sie, meine Damen und Herren von der Op- viele in diesem Bereich ehrenamtlich Tätige und auch position, am Zuge: Stellen Sie keine überflüssigen An- junge Menschen, die ehrenamtlich Integrationspolitik träge, machen Sie Ihre Schularbeiten, blockieren Sie betreiben, gefördert. Wir fördern 1 300 Projekte gesell- nicht, verabschieden Sie sich vor allen Dingen von Ihren schaftlicher Integration gegen Gewalt, Isolation und beiden Lebenslügen „Deutschland ist kein Zuwande- Drogenkonsum und 7 000 Projekte im Bereich Sport und rungsland“ und „Wenn Deutsche nach Deutschland Integration. All das sind wertvolle Hilfen. Sport ist – das kommen, dann brauchen sie sich nicht zu integrieren“. (B) sei an dieser Stelle gesagt – geradezu eine Schutzimp- (D) Verabschieden Sie sich davon und nehmen Sie letztlich fung gegen soziale Auffälligkeit. Ihre Verantwortung wahr. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herzlichen Dank. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deswegen finanzieren wir die „Impfung“ mittels dieses DIE GRÜNEN) Sektors.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: DIE GRÜNEN) Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion. Natürlich, meine Damen und Herren: Die Integration ist schwieriger geworden. Sie ist schwieriger geworden, Gisela Piltz (FDP): weil immer mehr Menschen ohne Kenntnisse der deut- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schen Sprache zu uns nachDeutschland gelangen. An- Ausländische Kinder und Jugendliche mit Migrations- fang der 90er-Jahre haben 75 Prozent aller Spätaussied- hintergrund sind in der Bildung stark benachteiligt und ler über Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt,verfügen über unzureichende Deutschkenntnisse. – Da- inzwischen sind es nur noch 20 Prozent. Diese Situation mit machte die letzte PISA-Studie das öffentlich, was macht das Leben nicht einfacher. Deswegen brauchen schon seit langem empirisch belegt ist: Ausländische wir neben den Sprachfördermaßnahmen, die insge- und Spätaussiedlerkinder haben in Deutschland ekla- samt auf dem Stand der vergangenen Jahre gebliebentante Nachteile aufgrund unzureichender Sprachförde- sind, auch Steuerungsmöglichkeiten. Wir wollen über rung. Damit fehlt ihnen der entscheidende Schlüssel zur ein Zuwanderungsgesetz – das wissen Sie – den Sprach- Integration. Daran hat sich bis heute leider nichts geän- test für Familienangehörige bereits im Herkunftsland. dert. Wir wollen Sprachförderung für alle mitreisenden Fami- Der Kanzler ruft jetzt das „Jahr der Innovation“ aus lienangehörigen. und die Bildungsministerin stellt eine Bildungsoffensive (Gisela Piltz [FDP]: Erzählen Sie das bitte ein- in Aussicht. Jetzt wollen Sie die Mittel für die Sprach- mal Ihrem Koalitionspartner!) förderung jugendlicher Spätaussiedler und ausländischer Flüchtlinge kürzen. Wie passt das bitte schön zusam- Wir wollen, dass die nach dem Gesetz möglichen zu- men? sätzlichen Integrationsfördermaßnahmen für Jugendli- che den Jugendlichen auch zugute kommen; das ist nach (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9851

Gisela Piltz (A) Herr Welt, ich frage mich: Wer von uns ist denn ei- Aus diesen Gründen – damit komme ich (C) zum gentlich zynisch – Sie oder wir? Wenn Sie hier die CDU/ Schluss – stimmen wir dem Antrag der CDU/CSU zu. CSU beschuldigen, das Zuwanderungsgesetz zu blo- ckieren, dann möchte ich einmal fragen, warum Sie mit Vielen Dank. keinem einzigen Satz die Position der Grünen kritisie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ren, die aus den Verhandlungen schließlich mit Pauken und Trompeten ausgezogen sind. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, NEN]: Weil die Union blockiert!) Bündnis 90/Die Grünen. Ich hätte mir von Ihnen eine Rede gewünscht, die zum Thema und zum Antrag passt und nicht die Vergangen- Josef Philip Winkler(BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heit und die Gegenwart beschönigt. NEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Die Forderung der CDU/CSU ist umso wichtiger vor Kollegen! Aus gegebenem Anlass werde ich gleich auch folgendem Hintergrund: Im Vergleich zu deutschen Ju- noch auf die Zuwanderungsgesetze eingehen, Frau Kol- gendlichen ist der Anteil der Jugendlichen aus Einwan- legin Piltz. dererfamilien, die die Schule ohne Abschluss verlassen, doppelt so hoch. Weit weniger junge Menschen mit Mi- Die CDU/CSU-Fraktion kritisiert – das haben wir ge- grationshintergrund erreichen mittlere und höhere Schul- hört – im vorliegenden Antrag die Kürzungen im Garan- abschlüsse. Der Anteil junger Menschen mit Migrations- tiefonds sowie die zeitlichen Kürzungen der Sprachkurse hintergrund, die keinen Berufsabschluss erreichen, ist und fordert die Wiederherstellung des ursprünglichen viermal so hoch. Die Faktensprechen ja wohl für sich, Zustands. Hierbei geht es nicht nur um die Eingliede- oder? rung junger Spätaussiedler, sondern auch um die Ein- gliederung junger anerkannter ausländischer Flücht- Bildung und Integrationsind nur möglich, wenn linge. Deutschkenntnisse vorhanden sind; ich glaube, da sind wir uns alle einig. Schade, dass wir uns im Ergebnis Der Bundesrechnungshof hat den Gesetzgeber auf- nicht einig sind. Denn die Situation hat sich gerade bei gefordert, die Förderung nach dem Garantiefonds für den Spätaussiedlern drastisch verschärft: MitreisendeSchulpflichtige einzustellen. Familienangehörige verfügen in der Regel nicht mehr (Rita Streb-Hesse [SPD]: So ist es! Das erzäh- über Kenntnisse der deutschen Sprache. Fragen Sie doch len wir jetzt schon seit Wochen!) (B) bitte einmal die Menschen vor Ort nach den Konflikten, (D) die sich daraus ergeben, und erklären Sie dann den Be- Das wurde noch nicht erwähnt. Durch Erlass vom troffenen ihre Kürzungen. 13. Juni 2002 sind die Länder sehr frühzeitig über die Beendigung dieser Förderung zum 31. Dezember 2003 Die Sprache der Mehrheitsgesellschaft ist eine der unterrichtet worden. Schlüsselqualifikationen für die von uns gewollte Integration von eingewanderten Menschen, für de- (Rita Streb-Hesse [SPD]: Genau!) ren schulischen und beruflichen Erfolg – und damit Vorbereitungszeit und auch Zeit für die entsprechenden für ihren sozialen Aufstieg. Haushaltsplanungen hätte eigentlich genug sein müssen. Das stammt aus einem Beschluss der Grünen. Warum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie heute quasi gegen Ihren eigenen Beschluss stimmen, und bei der SPD) würde ich gerne einmal wissen. Warum wollen Sie diese Mittel eigentlich kürzen, wenn das doch Ihre Beschluss- Eine ganze Reihe von Bundesländern hat nicht zuletzt lage ist? Oder ist das wieder ein Tribut, wie wir es in die- wegen der Ergebnisse der PISA-Studie – das wurde be- ser Woche häufig erlebt haben, an den Koalitionspartner reits angesprochen – inzwischen erfolgreiche Maßnah- SPD? Wir halten das für einen Offenbarungseid der grü- men eingeleitet, um die schulpflichtigen jungen Spätaus- nen Integrationspolitik. Muss denn da nicht eigentlich siedler gemeinsam mit den jugendlichen Migranten Ihr Gewissen aufschreien? ausreichend sprachlich zu fördern. Im Rahmen der PISA-Studie ist aufgefallen, dass es auch bei in Deutsch- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) land geborenen „normalen Deutschen“ teilweise erhebli- che sprachliche Defizite gibt. Man kann im Zusammen- Wie wird Ihre grüne Parteiführung das eigentlich Ihrer hang mit der Frage der Integration und angesichts Basis vermitteln? Nachdem Sie das Problem jetzt nicht dessen, was man von den zugewanderten Menschen ver- mehr im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes lösen kön- langt, nicht einfach ausblenden, dass es inzwischen nen, müssten Sie doch gerade mehr Geld zur Verfügung selbst bei hier geborenen Kindern deutscher Eltern, die stellen. Diesen Widerspruch müssen Sie uns und denebenfalls bereits hier geboren sind, große Probleme gibt. Wählern erst einmal erklären. Oder streben Sie jetzt statt vernünftiger Integrationsmaßnahmen wieder eine multi- Meine Fraktion setzt sich seit langem für ein einheitli- kulturelle Ideologie an, die nur Parallelwelten schafft, ches Integrationsangebot für alle Zugewanderten und aber kein gemeinsames Miteinander? Ihr Vorhaben wird für eine gleichwertige Förderung aller Zuwanderungs- die Probleme nur verschärfen. gruppen ein. 9852 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Josef Philip Winkler (A) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Dadurch, (C) NEN]: Richtig!) dass Sie auf die FDP schimpfen, wird es auch nicht besser!) Eine Privilegierung einzelner Gruppen, wie zum Bei- spiel die der Spätaussiedler, lehnen wir ab. – Werte Frau Kollegin Piltz, ich schimpfe ja überwie- Es gibt unbestreitbar Probleme bei der Integration in gend auf die Union. Deutschland. Diese sind aber auf die jahrzehntelange (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verfehlte Gastarbeiterpolitik zurückzuführen. Wenn etwa NEN]: Zu Recht! – Gisela Piltz [FDP]: Ich beim Bund bisher jährlich Sprachkurse für weniger als sagte das zu Frau Stokar von Neuforn!) 0,5 Prozent der erwachsenen ausländischen Wohnbevöl- kerung finanziert worden sind und der Rest in die Förde- In meiner nächsten Rede werde ich dann auf Sie schimp- rung der Aussiedlerintegration geflossen ist, dann muss fen. Dazu habe ich heute nicht mehr genug Zeit. man sich über Defizite bei der Integration eines Teils der Werte Kollegen der Union, die reine Verschärfung des erstgenannten Gruppe nicht wundern. Konsequenter-Ausländerrechts, die Sie fordern, will ich nicht mittra- weise war deshalb in unserem Zuwanderungsgesetzent- gen. Es geht nicht, dass Sie solche Anträge einbringen wurf ein Rechtsanspruch, aber auch eine Teilnahmever- und sich Rosinen herauspicken. Sie wollen uns nämlich pflichtung für alle Neuzuwanderer vorgesehen. Das ist im Kleinen etwas nachweisen, weil Sie meinen, dass wir die richtige Lösung. etwas nicht so tun, wie wir es uns in unseren eigenen Jetzt kommen wir zurUnion. Es ist wirklich nicht Zielen vorgegeben haben. Sie müssen aber unser Ge- mehr zu verstehen, wie Sie mit dem Zuwanderungsge- samtkonzept bezüglich der Gestaltung der Zuwanderung setz und mit dem Teil der Integration in diesem Gesetz betrachten. Danach können wir unser Konzept mit Ihrem umgegangen sind. vergleichen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dann Sie und nicht wir den Offenbarungseid leisten müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herzlichen Dank. Werter Herr Kollege Zylajew, Sie waren ja nicht dabei, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich richte das daher an Ihre Fraktion und nicht an Sie und bei der SPD) persönlich. Die Aufgabe der Integration besteht nicht nur aufseiten der Zuwanderer, sondern auch aufseiten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der aufnehmenden Gesellschaft. Wir stehen alle gemein- sam in der Verpflichtung, die entsprechenden gesetzli- Das Wort hat der Kollege Jochen-Konrad Fromme, (B) chen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Integra- CDU/CSU-Fraktion. (D) tion stattfindet. Hier kann nicht nur eine Verpflichtung eingefordert werden, ohne dass ein Angebot unterbreitet Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): wird. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Welt, wenn hier jemand blockiert, dann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind es die Grünen, die ihren eigenen Innenminister blo- und bei der SPD) ckieren, und nicht wir; Werte Frau Kollegin Piltz, der Vermittlungsausschuss hat sich in epischer Breite mit diesen Fragen beschäftigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- Zum Ende der Beratungen des Vermittlungsausschusses derspruch bei der SPD) wurden wir von der rechten Seite dieses Parlamentesdenn wir haben nur die Forderung Ihres Innenministers überwiegend mit sachfremden Erwägungen konfrontiert. aufgegriffen. Alles andere stand von Anfang an in Rede, (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Die in- sodass das gar nichts Neues ist. – Ihre Reaktion zeigt ja nere Sicherheit ist sachfremd? Das ist ja völlig auch, dass ich offensichtlich ins Schwarze getroffen neu!) habe. – Werter Kollege, diese Erwägungen konnte man auf je- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! – Jerzy den Fall nicht mit der Integration in Verbindung bringen. Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie blockieren seit Monaten mit unsinnigen Anträ- Um die Integration zu fördern, wollen wir mehr ge- gen!) zielte Angebote zurSprachförderung unterbreiten. Nach dem, was Sie gesagt haben, geht es Ihnen vor al- Es ist schon erstaunlich, dass hier unter dem gleichen lem darum, zu kriminalisieren, zu bestrafen und aufent- Etikett unterschiedliche Dinge vertreten werden. Herr haltsrechtliche Sanktionen einzuführen. Nach Ihrer Mei- Welt, wenn all das, was wir gemacht haben, so falsch nung müssen die Leute raus, wenn sie den Kurs nichtwar, dann weiß ich überhaupt nicht, warum Sie uns noch bestehen. Das kann nun wirklich nicht die Lösung sein. unterbieten. Ich kann Ihren Kurswechsel, der darin be- steht, all das in Ihren Augen Falsche noch falscher zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen, nur als „toll“ bezeichnen. und bei der SPD – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sagt die (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE FDP: Nur weiter so! – Gisela Piltz [FDP] zu GRÜNEN]: Das haben nicht einmal Ihre Leute Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜND- verstanden!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9853

Jochen-Konrad Fromme (A) Sie verkennen, dass die Integrationsprobleme natür- weil es weniger gibt. Tatsächlich ist das Potenzial klei- (C) lich auch deshalb größer geworden sind, weil das Um- ner geworden. feld völlig anders ist als Anfang der 90er-Jahre. Die (Jochen Welt [SPD]: Noch 2 Millionen!) wirtschaftliche Situation ist völlig unterschiedlich und es ist heute natürlich schwieriger, Problemgruppen im Darüber hinaus führen Sie die Forderung des Bundes- Arbeitsmarkt unterzubringen. rechnungshofes nach einer veränderten Kompetenzord- nung als Begründung für Ihre Kürzung an. Ich kann Ih- (Jochen Welt [SPD]: Das ist doch gar nicht das nen nur eines sagen: Wenn es Ihnen wirklich um die Thema!) Integration ginge, dann hätten Sie die Forderung des – Natürlich ist das das Thema. Bei der Integration geht Bundesrechnungshofes als Anlass genommen, um mit es auch darum, in welchem Umfeld sie vollzogen wird. den Ländern zu verhandeln. Sie aber haben einfach die In einem schwierigeren Umfeld ist es nun einmalMittel gestrichen. Das zeigt, dass es Ihnen nicht um ord- schwieriger. Dass das Umfeld in den letzten Jahrennungsgemäße Zustände geht, sondern Sie wollen schwieriger geworden ist, haben Sie zu vertreten; denn schlicht und einfach Mittel kürzen. Außerdem haben Sie nicht umsonst sind wir von der Lokomotive zur rotendie Zuwendungen für die Sprachkurse für junge Spätaus- Laterne in der EU geworden. Diese Probleme haben das siedler verringert. Stattdessen haben Sie neue Bürokra- Ganze zusätzlich erschwert. tieorgien entwickelt. Das ist Ihre Art von Politik. Sie hilft nicht den Menschen, sondern allenfalls den Büro- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei kraten. der SPD) Wenn Sie verlangen, dass die Angehörigen von Aus- Wenn ich mir die Ergebnisse der Ausschussberatun- siedlern einen Sprachtest machen sollen, dann ist das gen anschaue, dann sehe ich, dass Sie keine Gruppe der zum einen kontraproduktiv. Es ist kontraproduktiv, weil Migranten gegenüber einer anderen bevorzugen wollen. sich dann die Angehörigen nicht mehr in den Eingliede- Sie sagen, die Kürzung der Sprachkurse sei richtig. Vor- rungsschein eintragen lassen, sondern mit Berufung auf hin hat Herr Welt genau das Gegenteil gesagt. Sie be- Art. 6 des Grundgesetzes einreisen, wodurch sie als Ehe- haupten, Sie hätten keine Mittel gekürzt. Ich werde Ih- partner und Familienangehörige außerhalb jedes Integra- nen gleich die Zahlen vorhalten. Die Grünen sagen, man tionszwangs stehen und trotzdem hier bleiben dürfen. sollte das Geld lieber in den Jugendbereich geben. Das hat mit Integration nichts zu tun. Zum anderen stel- len Sie die deutschen Aussiedler bei der Integration Sie wollen alle Menschen, die zuziehen, in einen Topf schlechter als andere Migranten; denn ihnen wird er- werfen. Dabei verkennen Sie die historischen Dimen- laubt, die Sprachkenntnisse vor Ort zu erwerben. Das ist sionen. Wir haben das hier in der ersten Lesung ganzinsbesondere vor unserem historischen Hintergrund un- (B) ausführlich behandelt. Wir stehen zu der unterschiedli- anständig. Anders kann man das nicht bezeichnen. (D) chen Behandlung. Das kann man natürlich unterschied- lich sehen. Ich kann nur sagen: Wer das so sieht wie Sie, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der lässt die historischen Bezüge außer Acht. Sie haben Herr Welt, Sie haben erklärt, dass heute immer weni- einen anderen Blickwinkel als wir. ger Aussiedler Sprachkenntnisse besitzen. Das ist richtig (Jochen Welt [SPD]: Das ist richtig!) und falsch zugleich. Es ist falsch, weil sich ein Familien- verband denjenigen aussucht, der den Test am leichtes- – Ihr Blickwinkel ist schlicht und einfach falsch. ten besteht, während sich der Rest in den Aufnahmebe- scheid aufnehmen lässt. Das ist eine vernünftige Herr Welt, Sie behaupten, Sie hätten keineMittel- Handlungsweise. Sie haben den Druck in diese Richtung kürzungen vorgenommen. Ich kann Ihnen nur sagen: sogar noch erhöht. Das aber ist der falsche Weg. Wenn (Erika Lotz [SPD]: Wir haben keine Wahlen!) sich jemand nicht für den Sprachtest anmeldet, dann heißt das noch lange nicht, dass er kein Deutscher im Im Haushalt 1998 standen 894 Millionen Euro bereit. Im Sinne des Grundgesetzes ist. Haushalt 2004 stehen nur noch 590 Millionen Euro be- reit. Hinzu kommen noch die Kürzungen, die Sie mit den (Jochen Welt [SPD]: Das habe ich auch nicht Koch/Steinbrück-Vorschlägen begründet haben. Diese behauptet!) Kürzungen im Einzelplan 17 haben im Koch/Steinbrück- – Sie haben die Zahlen so dargestellt, dass dieser Ein- Papier überhaupt nicht gestanden. Herr Welt, ich rate Ih- druck entsteht. nen, sich eine neue Brille zuzulegen, damit Sie nicht nur den Haushalt des Bundesinnenministeriums, sondern Sie kriminalisieren die Aussiedler, indem Sie behaup- alle Haushalte überblicken können. Ihr Blick ist ein we- ten, dass sie krimineller als andere Gruppen sind. Die nig kurzsichtig. Statistik, mit der das bewiesen werden soll, existiert gar nicht, weil es das Erfassungsmerkmal des Aussiedlers in Sie haben noch eine weitere Kürzung vorgenommen, der Kriminalstatistik nicht gibt. Als Kriterium wird der indem Sie die vorhandenen Töpfe auch anderen Gruppen Geburtsort genommen. Sie meinen, dass jeder, der im zugänglich gemacht haben. Das ist eine doppelte Kür- Eichsfeld geboren ist, katholisch ist. Wenn er nicht ka- zung. Das und nichts anderes ist Ihr Kurswechsel. tholisch ist, wird er in der Statistik „katholisch ge- macht“. Wenn Sie erklären, die Tatsache, dass weniger Aus- siedler nach Deutschland kommen, sei Ihr Verdienst, (Anton Schaaf [SPD]: Das ist eine Unter- dann verkennen Sie die Realität. Es kommen weniger, stellung!) 9854 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Jochen-Konrad Fromme (A) Das ist unseriös. Das Kriminalamt in Hessen und auch Das Zweite ist die Notwendigkeit – das wird vergessen, (C) die bayerische Forschungsgruppe für Kriminalstatistik weil viele in den letzten Jahren von Integration reden –, haben dies sehr genau analysiert. Ich habe leider nicht Integration neu zu ordnen. Integration – das ist in der die Zeit, Ihnen dies im Einzelnen vorzutragen. Fachwelt nicht streitig – ist ein gesellschaftlicher Pro- zess. Alle Vorschläge, die wir in den letzten drei Jahren (Anton Schaaf [SPD]: Das können Sie auch auf den Tisch bekommen haben, zeigen sehr deutlich, nicht belegen!) dass ein hohes Maß an Übereinstimmung darüber be- Ich rate Ihnen, sich damit sehr genau zu beschäftigen. steht, wie Integration fürKinder und Jugendliche mit Dann kommen Sie nämlich zu dem Ergebnis, dass esMigrationshintergrund erfolgen sollte. hier keine eklatanten Abweichungen gibt. Der Kollege Zylajew und die Kollegin Piltz haben zu Wer die Mittel kürzt und die Wirtschaft ruiniert, der Recht aufgezählt, worin wir übereinstimmen. Nicht darf sich über schlechte Integrationsergebnisse nichtstreitig ist die Türöffnerfunktion von Sprache bzw. wundern. Deswegen kann ich Ihnen nur empfehlen:Sprachkenntnissen. Nicht streitig ist auch, dass wir eine Stimmen Sie unserem Antrag zu, um endlich den Kurs- öffentliche Verantwortung für eine bedarfsgerechte wechsel in die richtige Richtung zu vollziehen. Sprachförderung haben. Nicht streitig ist – darüber ha- ben wir vor einigen Wochen diskutiert –, dass im öffent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lichen Bildungssystem und im vorschulischen Bereich neten der FDP) eine frühzeitige und verstärkte Förderung erfolgen muss. Wir alle haben begrüßt, dass die Länder unter Berück- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sichtigung der Empfehlung des Forums Bildung und der Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die KolleginVerabredung der Bund-Länder-Kommission – da gibt es Rita Streb-Hesse, SPD-Fraktion. die Verknüpfung zwischen dem Bund und den Ländern – bereits vielfältige Maßnahmen auf den Weg gebracht ha- (Beifall bei der SPD) ben.

Rita Streb-Hesse (SPD): Wir wissen, dass diese Maßnahmen bei aller Vielfalt eines gemeinsam haben: Sie orientieren sich jetzt vor- Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir rangig an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen sollten uns an eines erinnern: Thema dieser Aussprache und nicht mehr an ihrer Herkunft, sei es bei Frau Wolff ist das Sprachförderungskonzept des Bundesministeri- in Hessen oder sei es bei Herrn Böger in Berlin. Das ist ums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, nicht des das gemeinsame Konzept. Wir finden das gut. Es erfolgt Bundesinnenministeriums. Darauf bezieht sich Ihr An- eine Begleitung durch die Bundesregierung und die Be- (B) trag. (D) auftragte gibt Handreichungen für den Kindergarten. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das habt Diese werden genutzt, jeder freut sich darüber und arbei- ihr in die Integrationsdebatte eingeführt!) tet damit. In diesem Bereich ist keine Mittelkürzung erfolgt. Das Wenn jetzt aber die Bundesregierung genau im Wis- wollte ich einmal klarstellen, auch wenn das jetzt dassen um die Änderungen im Bildungssystem mit dem Ziel fünfte Mal gesagt worden ist. Man kann zwar alles mit- der Passgenauigkeit, der Effizienz – die Träger wollen einander vermengen, aber es wird dadurch nicht besser. das auch, wenn auch nicht unbedingt die Internatsbetrei- ber, Kollege Fromme –, der Überschaubarkeit und zur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sicherstellung eines regionalen Angebots gerade im DIE GRÜNEN – Anton Schaaf [SPD]: Die ländlichen Bereich Sprachförderungsmaßnahmen zum sind beratungsresistent!) Sprachkonzept für alle jungen Migrantinnen und Mi- Das jahrelange Hin und Her – ich meine nicht diegranten zusammenführt, dann ist auf einmal die Gemein- letzten Verhandlungen – um das Ob und Wie eines Zu- samkeit zu Ende, obwohl sich dieses Angebot gleichfalls wanderungsgesetzes lässt zwei positive Ergebnisse ver- mehr an dem Integrationsbedarf des einzelnen Jugendli- gessen. chen – Sprachkenntnisse, Berufsausbildung und Schul- ausbildung – orientiert anstatt ausschließlich an der (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wie Herkunft. Das ist die Differenzierung im Sprachförde- war das? Thema verfehlt!) rungskonzept. Für die Aussiedlerjugendlichen gibt es – Ich komme jetzt zum Thema. – Der erste Punkt ist die noch eine andere – wie Sie wünschen: pfleglichere – Be- breite Akzeptanz der Tatsache, dass Deutschland einhandlung in vielem anderen mehr. Einwanderungsland ist. Um es mit Marlene Dietrich zu Ihre Argumente, meine Damen und Herren von der sagen: Nicht nur die Aussiedler haben ihren Koffer aus- Opposition – Frau Piltz, Sie waren bei der letzten Dis- gepackt und wollen hier bleiben, sondern auch alle ande- kussion im Ausschuss nicht dabei, weil Sie kein Mit- ren Zuwanderer und Migranten. Der eine Koffer ist in glied sind –, der Heimat verblieben. Ob der Koffer von Ihnen eine Gleichbehandlung erfährt, ist allerdings sehr fragwürdig. (Gisela Piltz [FDP]: Ich bin schon Mitglied, aber in einem anderen Ausschuss!) (Beifall bei der SPD – Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wir bekennen uns sind keine Antwort auf die veränderte Migration. In Ih- dazu!) rem Antrag, Kollege Zylajew, wünschen Sie längere Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9855

Rita Streb-Hesse (A) Sprachkurse von zwölf bis zu 18 Monaten, und zwar nur gern für diese neuen Schritte danken. Ich denke, wir sind (C) für eine bestimmte Gruppe. Diese alte Praxis hat aber damit auf einem guten Weg. doch gezeigt, dass die gesellschaftliche Integration, die Sie und wir erwartet haben, nicht funktioniert. Deswe- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Alles gen gibt es ein anderes Konzept. Wir werden sehen, ob aus Ihrer Richtung kann man vergessen!) das erfolgreich ist oder nicht. Wir laden Sie von der Opposition weiterhin ein: Be- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef enden Sie Ihre Blockade! Beteiligen Sie sich an der Ge- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- staltung! Das liegt in unser aller Interesse. NEN]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dieser Antrag ist nicht isoliert zu sehen. Die Verhandlun- DIE GRÜNEN) gen über das Zuwanderungsgesetz und manche Länderent- scheidungen lassen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der von Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ihnen öffentlich geforderten – ich betone es – verstärkten, Die Kollegin Petra Pau hat ihre Rede zu diesem nachholenden und umfassenden Integrationspolitik 1) aufkommen. Diese Zweifel sind bei mir mittlerweileTagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben. Deshalb ganz stark. schließe ich die Aussprache. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- DIE GRÜNEN – Jochen-Konrad Fromme schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf [CDU/CSU]: War das das Thema?) Drucksache 15/2900 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Keine Kürzungen von Inte- Der CDU/CSU-Vizefraktionsvorsitzende Bosbachgrationsmaßnahmen“. Der Ausschuss empfiehlt, den forderte am letzten Freitag, dass diese umfassende, ver- Antrag auf Drucksache 15/1691 abzulehnen. Wer stimmt stärkte und nachholende Integration nicht nach Kassen- für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent- lage erfolgen darf. Schauen Sie sich einmal die Haus- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- halte der CDU/CSU-regierten Länder an. In Hessenmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen werden die Landesmittel für Familien, Jugend und Sozi- die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. alarbeit so radikal gekürzt, dass alle laufenden Integrati- onsmaßnahmen gefährdet sind und neue überhaupt nicht Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta- mehr angefangen werden können. gesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- (Anton Schaaf [SPD]: Soso!) (B) schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur (D) In Bayern ist der Landeszuschuss für die Ausländersozi- Durchführung der Strafverfolgung zu erweitern und die- alberatung drastisch reduziert worden; er ist in Baden- sen jetzt gleich als Zusatzpunkt 14 aufzurufen. Sind Sie Württemberg bereits 2002 und nun auch in Hessen kom- damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so plett gestrichen worden, wohl wissend, dass dadurchbeschlossen. auch der an den Landeszuschuss gebundene Bundesan- Somit rufe ich jetzt den Zusatzpunkt 14 auf: teil nicht mehr gesichert ist. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Erika Lotz [SPD]: Alles egal!) richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu- Wo passt bei Ihnen der Topf zum Deckel? nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) Immunität von Mitgliedern der Bundesver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sammlung Frau Kollegin, werfen Sie bitte einen Blick auf die Uhr! hier: Antrag auf Genehmigung zur Durchfüh- rung der Strafverfolgung (Anton Schaaf [SPD]: Geben Sie ihr noch eine Minute! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ – Drucksache 15/3107 – DIE GRÜNEN]: Jetzt geht es in die Verlänge- Berichterstattung: rung!) Abgeordnete Erika Simm

Rita Streb-Hesse (SPD): Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss Entschuldigung. für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Die rot-grüne Integrationspolitik ist auf einem guten che 15/3107, die Genehmigung zur Durchführung der Weg. Mittlerweile hat die Bundesregierung ein Gesamt- Strafverfolgung zu erteilen. Wer stimmt für diese Be- konzept zur Jugendintegration erarbeitet und vorgestellt. schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Es umfasst jetzt auch die Jugendmigrationsdienste. tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men des ganzen Hauses angenommen. Für meine Fraktion möchte ich der Bundesregierung, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dem Fachpu- blikum, den Sachverständigen und den Maßnahmeträ- 1) Anlage 3 9856 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: einen sehr erfreulichen Umstand als Ursache, nämlich(C) dass sich alle Fraktionen dieses Hauses auf einen ge- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- meinsamen Antrag verständigen konnten. Deshalb gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes möchte ich ausdrücklich allen Fraktionen in diesem zur Änderung der Bundesärzteordnung und Hause danken. anderer Gesetze – Drucksache 15/2350 – (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) (Erste Beratung 88. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Inhaltlich unterscheidet sich der Antrag nur unwe- ses für Gesundheit und Soziale Sicherungsentlich von dem der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, (13. Ausschuss) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE – Drucksache 15/3039 – GRÜNEN]: Das kann nicht sein!) Berichterstattung: was angesichts der Situation in der Republik Moldau Abgeordnete Dr. Erika Ober auch kaum verwundert. Denn seit unserer letzten De- batte haben sich die Probleme der Republik Moldau eher Die Rednerinnen und Redner Dr. Erika Ober, Helge vergrößert, sodass man unsererseits kaum zu unter- Braun, Dr. Hans Georg Faust, Petra Selg und Detlef Parr schiedlichen Einschätzungen kommen kann. Ich denke, 1) haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. dass der vorliegende gemeinsame Antrag einen wichti- Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von gen Beitrag zur Lösung der dortigen Probleme liefert. der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge- Die heutige Debatte findet knapp eine Woche nach setzes zur Änderung der Bundesärzteordnung und ande- der größten Erweiterung der Europäischen Union statt. rer Gesetze, Drucksache 15/2350. Der Ausschuss fürWir werden sicherlich innere Herausforderungen zu be- Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt in seiner wältigen haben. Aber das darf nicht dazu führen, dass Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3039, den Ge- wir unsere Nachbarn aus dem Blickfeld verlieren. Im setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich Gegenteil: Wir werden in stärkerem Maße auf unsere bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-Nachbarn schauen müssen. Deshalb ist es nur folgerich- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. tig, dass die EU-Kommission dasKonzept der neuen – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Nachbarschaft entwickelt hat. Im Rahmen dieses Nach- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen barschaftskonzeptes werden in Zusammenarbeit mit den des ganzen Hauses angenommen. verschiedenen betroffenen Ländern Aktionspläne erar- (B) Dritte Beratung beitet. Diese Pläne sollen länderspezifisch, sozusagen(D) maßgeschneidert sein sowie gemeinsame Politikziele und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- und politische und wirtschaftliche Richtwerte enthalten, setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werdie dazu dienen, den Fortschritt zu messen. stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: In diesen Aktionsplänen kommen sowohl Angebote als auch Erwartungen der Europäischen Union an die be- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, troffenen Länder zum Tragen. In meinen Augen bieten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIEdie Verhandlungen über diese Aktionspläne eine hervor- GRÜNEN und der FDP ragende Chance für die entsprechenden Länder, eigene Den Weg zur Einheit und Demokratisierung in Vorschläge einzubringen sowie für sich selber Aufgaben der Republik Moldau unterstützen und Maßnahmen zu definieren, die dazu dienen, den Fortschritt im eigenen Land zu messen und zu überprü- – Drucksache 15/3052 – fen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die In welchem innenpolitischen Umfeld finden die Ver- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörehandlungen der EU mit der Republik Moldau statt? keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Auch drei Jahre nach dem Amtsantritt der Kommunisten Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- haben sich die politischen, die wirtschaftlichen und die gin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion. bürgerlichen Freiheiten nicht verbessert. Im Gegenteil: Sie sind schlechter geworden. Gerade die jüngsten Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) suche der Regierung, unabhängige Medien zu verbieten, zeigen, dass man dort noch sehr weit entfernt von unse- Claudia Nolte (CDU/CSU): ren europäischen Standards und unserem Demokratie- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Botschafterverständnis ist. Auch die anhaltende Weigerung der gro- Corman! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Innerhalbßen kommunistischen Mehrheit, einen Dialog mit der kürzester Zeit diskutieren wir erneut über einen Antrag, Opposition zu führen, weist in die gleiche Richtung: Es der sich mit der Republik Moldau befasst. Das hat aber gibt eine große Distanz zum allgemeinen Demokratie- verständnis. 1) Anlage 4 (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9857

Claudia Nolte (A) Der Umstand, dass drei Abgeordnete ihre Immunität einiges erwarten. Das heißt: Diese Regierung muss die(C) verlieren, weil zwei von ihnen an einer nicht genehmig- gravierenden Mängel im Bereich der Demokratie, der ten Demonstration teilgenommen haben, spricht eben- Menschenrechte und der Grundrechte jetzt beseitigen, falls Bände und ist ein Hinweis darauf, wohin zurzeit der wenn sie glaubwürdig sein will. Weg führt. Der mangelnde Wille zur Kooperation mit den internationalen Geldgebern verbaut gleichermaßen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie die Chance, die eigene wirtschaftliche Entwicklung end- des Abg. Markus Meckel [SPD]) lich umzukehren und aus der desolaten wirtschaftlichen Ganz nebenbei bemerkt: Wenn die moldauische Re- Situation herauszufinden. Die Folge ist eine zuneh-gierung wirklich eine europäische Perspektive wünscht, mende Armut unter der Bevölkerung. dann muss sie den Widerspruch zum Programm der sie tragenden Partei auflösen. Wir wollen mehr als nur Lip- Gerade vor dem Hintergrund, dass eventuell von 2007 penbekenntnisse. an die Republik Moldau ein direkter Nachbar der Euro- päischen Union sein wird, ist es für die EU ein direktes (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) Problem, dass der Transnistrienkonflikt nach wie vor ungelöst ist. Wir haben es mit einem rechtsfreien Raum Dieser Antrag ist keine einseitige Handlungsaufforde- zu tun, in dem kriminelle Machenschaften, die vom Dro- rung an die Bundesregierung und die EU-Kommission; genhandel bis zum Menschenhandel reichen, freie Bahn er ist vielmehr eine Aufforderung zu einem konstrukti- haben. Das können wir nicht akzeptieren. ven Dialog. Damit die Fortschritte messbar sind, fordern wir neben der Umsetzung des Aktionsprogramms für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Moldau die Formulierung von klaren Kriterien hinsicht- neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE lich der Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaatlich- GRÜNEN und der FDP) keit, Menschen- und Grundrechten sowie Minderheiten- schutz in der Republik Moldau – und dann auch die Mein Kollege Helias wird dazu noch weitere Ausführun- entsprechende Kontrolle. gen machen. Ich hoffe, dass wir selbst, die Abgeordneten, mit die- Der gesamte Zustand der Republik Moldau muss uns sem Antrag einen kleinen Beitrag zur Verbesserung der vor diesem Hintergrund mit großer Sorge erfüllen. Das Situation in der Republik Moldau leisten. Mit der heuti- bedeutet für mich, dass sich die EU angesichts der gen Verabschiedung dieses Antrags legen wir dieses Probleme ihrer Verantwortung gegenüber diesem Land Thema nicht ad acta. Wir erwarten und wir hoffen, dass stellen muss. Sie muss mehr Engagement zeigen und vor uns die Bundesregierung regelmäßig über ihre Bemü- allen Dingen für die Menschen in der Republik Moldau hungen berichtet. (B) spürbar präsenter sein. Deswegen fordern wir in unse- (D) rem Antrag die Bundesregierung beispielsweise auf, sich Herzlichen Dank. für eine möglichst baldige Eröffnung eines Büros der EU in Chisinau einzusetzen. (Beifall im ganzen Hause)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Markus Meckel [SPD]) Das Wort hat nun der Kollege Markus Meckel, Ich denke, in einem zukünftigen Nachbarland der EU SPD-Fraktion. müsste das eigentlich selbstverständlich sein. (SPD): Wir fordern außerdem, die Instrumente der bilateralen Markus Meckel und der multilateralen Entwicklungshilfe verstärkt ein- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und zusetzen, auch wenn wir die diesbezüglichen Schwierig- Kollegen! Wir beraten heute über ein Land, das in keiten in solchen Ländern kennen. Europa gewissermaßen vergessen ist. Es ist zudem das ärmste Land Europas. Deshalb ist es wichtig, dass wir Unser fraktionsübergreifender Antrag enthält aber darüber beraten und gemeinsam einen Antrag verab- auch – ich denke: zu Recht – Erwartungen an dieschieden. Republik Moldau. Die moldauische Regierung muss schon klarstellen, welchen Weg sie eigentlich gehen Ich bin der Kollegin Claudia Nolte sehr dankbar, dass will. sie als Beauftragte des Bundestages für dieses Land die Initiative zu dieser Debatte ergriffen hat. Ich bin eben- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie falls sehr dankbar, dass es ihr und manchen anderen ge- des Abg. Markus Meckel [SPD]) lungen ist, einen gemeinsamen Antrag zu dieser Sache vorzulegen und voraussichtlich zu verabschieden. In der letzten Woche hat mir der moldauische Außenmi- Deutschland und ganz Europa sollten gemeinsam ein In- nister dazu ganz deutlich gesagt, seine Regierung habe teresse daran haben, dass dieser vergessene Fleck Euro- die feste Absicht, Moldau näher an die Europäischepas mehr Aufmerksamkeit erhält. Wir müssen uns ihm Union heranzurücken, und zwar mit dem Ziel, in der Zu- mehr zuwenden. kunft Mitglied der EU zu werden. Ich habe daraufhin ge- fragt, woran man diese Absicht erkennen kann. Es liegt Wenn wir zurückschauen, dann sehen wir, dass dieses ja auf der Hand: Worten müssen irgendwie valide Taten Land mit dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig folgen. Deswegen war es mir auch wichtig, zum Aus- geworden ist. Man hat versucht, für Demokratie und druck zu bringen, dass wir von der Regierung in Moldau Freiheit zu sorgen. Das geschah unter anderem durch 9858 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Markus Meckel (A) Regierungen, die versuchten, die Identität des Landes Zum Außenpolitischen hat Präsident Voronin zwar(C) neu zu bestimmen. Eines der Hauptprobleme dieses Lan- erklärt – so wurde es von meiner Vorrednerin schon ge- des besteht ja darin, dass es auf der Suche nach der eige- sagt –, man habe einen proeuropäischen Kurs – das wird nen Identität ist. immer deklaratorisch behauptet –, aber die Politik im Lande tritt eine solche Orientierung mit Füßen. Die In- Die angestammten Bürger dieses Landes sind in ihrer nenpolitik beweist nämlich das Gegenteil. großen Mehrheit eigentlich Rumänen. Durch den Lauf der Geschichte wurden sie aber – ohne ihr eigenesDie Frage ist nur: Wollen wir das Land einfach an die- Zutun – unterschiedlich zugeordnet. So hat jeder gelernt, ser Regierung messen? Ich glaube, das wäre falsch. die Muttersprache unterschiedlich zu schreiben: einmal (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in kyrillischen und einmal in lateinischen Lettern. Wir neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wissen, dass Sprache und Kultur wesentliche Bestand- teile der Identität eines Volkes sind. Wir haben es mit Menschen zu tun, die eine europäische Vergangenheit haben und die sich zu Europa hingezogen Die Sowjetunion hat mit einer einseitigen Siedlungs- fühlen. Wir haben bei den Feierlichkeiten der EU-Bot- und Grenzpolitik das Ziel verfolgt, die Identität dieser schaften in diesem Land in den letzten Tagen erlebt, dass Nation auszulöschen. Die heutigen Probleme in Trans- Intellektuelle aus Moldau mit Wehmut sehen, was woan- nistrien haben mit dieser Vergangenheit zu tun. ders möglich ist und was für sie selbst in ihrem Land bis- Es war deutlich, dass die neuen Regierungen nachher nicht möglich ist. Wir sollten dieses Volk dieser Re- 1991 vor ungeheuren Problemen standen. Sie haben es gierung nicht zur Geisel geben, glaube ich, zwar verstanden, Rechtsstrukturen zu schaffen, Demo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kratie zu schaffen – jedenfalls dem Gesetz nach; das neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN müssen wir zugeben –, aber sie haben es nicht geschafft, und der FDP) der Bevölkerung eine Perspektive zu geben. Deswegen konnte gelingen, was man sich normalerweise kaum vor- sondern wir sollten alles tun, damit das, was eine europä- stellen kann, nämlich dass eine kommunistische Partei, ische Perspektive für dieses Land genannt wird, wirklich und zwar eine nicht reformierte, mit einer überwältigen- mit Inhalt ausgefüllt wird. den Mehrheit gewählt wurde. Es ist also wichtig, die Ur- Der Transnistrienkonflikt ist wahrhaftig ein äußerst sachen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten schwieriges Problem. Die OSZE hat sich darum geküm- dieses Landes und dieses Volkes im Blick zu haben. mert. Wir wissen: Es lässt sich ohne die Kooperation mit Nun haben wir den Salat – so hätte ich beinahe ge- Russland nicht lösen. Gleichzeitig müssen wir im sagt. Nun hat dieses Volk die Probleme, die mit einerWesten sehr deutlich sagen – vor allem gegenüber Russ- (B) (D) solchen Regierung natürlich verbunden sind. Alles das, land –, dass wir Kooperation und konstruktive Politik er- was man nach einem Vorurteil – das gebe ich zu – ge- warten. genüber einer kommunistischen Regierung vermuten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kann, wird getreu eingelöst, nämlich das Kaputtmachen der parlamentarischen Demokratie, der Unabhängigkeit Wir erwarten, dass die Truppen abgezogen werden, wie der Justiz und der Unabhängigkeit der Medien. In klei- es 1999 in Istanbul zugesagt worden ist. Wir erwarten, nen, aber sehr gezielten und sehr bewusst durchgeführ- dass man sich mit den Herrschern in Transnistrien über ten Schritten wird die Demokratie zurückgebildet. Das den Fahrplan für denAbzug der dort vorgehaltenen Rad der Geschichte dreht sich in Moldau zurzeit zurück. Munition einigt. Es kann nicht hingenommen werden, Das ist natürlich eine ungeheure Herausforderung fürdass es extrem lange dauert, weil man nur alle paar Wo- dieses Land selbst, aber, wie ich glaube, eben nicht nur chen oder nur jeden Monat einen Zug abfahren lässt. für dieses Land. Dies muss in nächster Zeit schnell geschehen. Während der Freedom House Report vor kurzem Heute sind ja verschiedene Organisationen an der Lö- noch sagte, dass die Presse und die Medien zum Teil frei sung dieses Konflikts beteiligt. Die OSZE hat gerade in seien, stuft er die Medien heute als unfrei ein. Das Parla- Bezug auf den Transnistrien-Konflikt wichtige Initiati- ment und die Opposition werden in ihren Rechten so be- ven unternommen, aber sie sind im Sande verlaufen, schnitten, dass vor kurzem Folgendes passierte: Dieweil Mitglieder der OSZE, insbesondere Russland, und Regierung erklärt, dass sie proeuropäisch ist und sichnatürlich auch die Akteure vor Ort, nicht wirklich mitar- Europa zuwendet. Sie führt eine Debatte. Diese wirdbeiten. Dann gab es den Vorschlag einer gemeinsamen nach zehn Minuten abgebrochen. Die Opposition kommt Verfassungskommission. Aber auch in diesem Punkt dazu nicht zu Wort. – Die Erklärung widerspricht also kommt man nicht voran. Dann macht Russland an der den realen Abläufen in diesem Land. OSZE vorbei einen Vorschlag und legt einen Entwurf vor, der im Grunde das Land auf Dauer an Russland bin- (Beifall bei der CDU/CSU) det. Auch das kann natürlich nicht akzeptiert werden. Dazu kommt die Frage der Wirtschaft. Von Wirt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, schaftsreformen kann überhaupt keine Rede sein. Im bei der CDU/CSU und der FDP) Augenblick versucht man,die privatisierte Landwirt- schaft neu zu kollektivieren. Das alles sind Anzeichen, Man merkt, dass der Präsident und die Regierung in all die sehr deutlich machen: Die Politik in diesem Landdiesen Fragen einen Schlingerkurs fahren, der, wie ich geht rückwärts. denke, ebenfalls nicht akzeptiert werden kann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9859

Markus Meckel (A) Wir sollten uns darauf besinnen – das hat meine Vor- sondern auch auszubauen. Ich erwarte – das sage ich(C) rednerin schon sehr deutlich gesagt –, dass wir es mit ei- sehr deutlich, auch als Mitglied einer Koalitionsfrak- nem europäischen Nachbarland der Europäischen Union tion –, dass sich dies auch im künftigen Haushalt wider- zu tun haben. Wir sollten den Menschen dort, die sich als spiegelt. Europäer fühlen und die eine europäische Geschichte ha- Ich danke Ihnen. ben, nicht die europäische Perspektive verweigern. Es ist klar, dass dafür Voraussetzungen geschaffen werden (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie müssen. Natürlich muss sich auch im Lande selber etwas beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der bewegen, und zwar nicht nur aufseiten der Regierung. CDU/CSU und der FDP) Von ihr erwartet man es eigentlich, aber sie hat leider die in sie gesetzten Erwartungen in der Vergangenheit nicht Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: erfüllt. Für ein weiteres Problem halte ich, dass die Op- Für die FDP-Fraktion erhält jetzt der Kollege Rainer position gespalten ist. Wir müssen die Opposition aufru- Stinner das Wort. fen, sich zu einen, eine gemeinsame Linie zu finden und damit zu einem Machtfaktor zu werden. Wir brauchen nämlich demokratische Kräfte in diesem Land, um un- Dr. Rainer Stinner (FDP): sere Perspektiven dort vermitteln zu können. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich Ihnen, Ein nächster Punkt ist die Frage, welche Instrumente liebe Frau Kollegin Nolte, meinen Respekt dafür aus- die Europäische Union selbst hat. Es gab ja bei Bildung sprechen, dass es Ihnen gelungen ist, dieses Thema in- des Stabilitätspaktes Diskussionen, ob Moldova sich da- nerhalb von wenigen Monaten zweimal hier im Plenum ran beteiligen kann. Bodo Hombach hat damals die Ini- behandeln zu lassen. Respekt! Das gelingt nicht allen, tiative ergriffen und diesen Vorschlag auch in die Reali- die mit einem Thema so eng verbunden sind. Sie müssen tät umgesetzt. Das kann natürlich nicht alles sein.in Ihrer Fraktion ungeahnte Machtstrukturen hinter sich Vielmehr stellt sich die Frage, was daraus folgt. Die Eu- haben, dass Ihnen das gelungen ist. ropäische Union erarbeitet zurzeit ein neues Aktionspro- gramm, das Nachbarschaftsprogramm; auch das ist (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: schon angesprochen worden. Das halte ich für sehr Die hat sie! Es ist eine tüchtige Kollegin!) wichtig. Aber auch wir müssen uns fragen, wie intensiv Herzlichen Glückwunsch dazu. wir uns um dieses Land bemühen, denn es geht hier wirklich um europäische Interessen. Wenn wir uns nicht Wir sind uns alle einig: Die Republik Moldau ist ein um dieses Land kümmern, dann sind wir in meinen Au- Teil von Europa. Wenn wir uns darüber einig sind, dann (B) gen selber dafür verantwortlich, wenn ein schwarzesmüssen wir aber auch entsprechend handeln und die Re- (D) Loch organisierter Kriminalität, geprägt durch Waffen- publik Moldau als solche behandeln. Aus heutiger Sicht schmuggel und Menschenhandel, in unserer unmittelba- muss man sagen, dass die Republik Moldau zwischen al- ren Nachbarschaft entsteht. Das sollten wir nicht zulas- len Stühlen sitzt. Wir müssen uns ändern – das ist gesagt sen, denn das können wir uns nicht leisten. worden –, aber insbesondere muss sich die Regierung der Republik Moldau dringend ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Zwischen der Europäischen Kommission und dem Markus Meckel [SPD]) Europäischen Parlament gibt es unter anderem Streit darüber, ob man nicht vielleicht doch – ich persönlich Wir erwarten – das eint uns alle heute hier – ein ganz unterstütze das – Moldova nach der Aufnahme in den deutliches Bekenntnis der Regierung der Republik Mol- Stabilitätspakt auch die Perspektive der Assoziierung er- dau zu den Werten Europas. Wir glauben und hoffen, öffnen sollte. Ich kann nur ausdrücklich unterstützen,dass die Bevölkerung weiter ist als die Regierung und was meine Vorrednerin sagte: Die Europäische Union dass sie das auch reflektiert. Wir erwarten von der Repu- sollte dort so schnell wie möglich ein Delegationsbüro blik Moldau, dass sie europäische Werte akzeptiert, dass bzw. eine Repräsentanz eröffnen, damit die Menschen sie das aber auch im täglichen politischen Handeln dau- einen Ansprechpartner haben. erhaft demonstriert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der des Abg. Markus Meckel [SPD]) CDU/CSU und der FDP) Da klafft bisher eine Lücke; das müssen wir sehr deut- lich machen. Nur so wird die angestrebte Annährung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dieses Landes an Europa, die auch wir wollen, möglich Herr Kollege! werden und nur so kann am Ende des Weges – irgend- wann einmal – die Perspektive eines gemeinsamen euro- päischen Verbundes im Rahmen der EU diskutiert wer- Markus Meckel (SPD): den. Ich möchte schließen – ich weiß, Herr Präsident, dass ich zum Ende kommen muss –, indem ich darauf hin- Wir haben einige Prüfsteine vor uns. Im Jahr 2005, im weise, dass auch wir Deutschen in der Verantwortung nächsten Jahr, gibt es Wahlen in Moldawien. Wir hoffen stehen, unsere bilateralen Kontakte nicht nur zu pflegen, – wir können nur an die Regierung appellieren –, dass 9860 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Dr. Rainer Stinner (A) dies ein Demonstrationsobjekt für die entwickelte De- für 2007 geplanten EU-Beitritt Rumäniens. Wir können (C) mokratie werden wird: dass es wirklich freie Wahlen ge- es nicht zulassen – da hat der Herr Kollege Meckel völ- ben wird, dass die Opposition nicht behindert wird, dass lig Recht –, dass sich ein Teil eines Nachbarlandes der Redefreiheit herrscht etc. EU zum rechtsfreien Raumentwickelt, in dem Terror und Willkür herrschen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie DIE GRÜNEN]) des Abg. Markus Meckel [SPD]) Wir sind sehr besorgt darüber, dass in diesen Tagen Dies ist weder im Interesse der dort lebenden Menschen offensichtlich die Freiheit der Presse und der Journa- noch im Interesse der internationalen Gemeinschaft. listen eingeschränkt wird. Wir erleben in diesen Tagen, Transnistrien ist nach allgemeiner Einschätzung eine dass Journalisten und Verlage demonstrieren, weil ihre Drehscheibe für den internationalen Menschen-, Dro- Freiheit nachhaltig eingeschränkt wird. Dagegen müssen gen- und Waffenhandel. Waffen aus Transnistrien finden wir unsere Stimme sehr, sehr deutlich gemeinsam erhe- sich zum Beispiel in den Krisengebieten von Tschetsche- ben. nien bis hin zum Kosovo und Afghanistan wieder und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie verrichten dort ihren tödlichen Dienst. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Zwar sollte die OSZE den bereits vertraglich verein- GRÜNEN und des Abg. Markus Meckel barten Abzug von russischen Truppen und russischem [SPD]) Gerät aus Transnistrien überwachen – dazu erhielt sie im Wir haben das Problem – die Kolleginnen und Kolle- März 2004 Zugang zu den Waffendepots –, aber sie gen haben es angesprochen – desTransnistrien-Kon- durfte die eigentlichen Verladevorgänge nicht kontrollie- fliktes; wir haben Probleme mit den russischen Solda- ren. ten. Ich bin völlig Ihrer Meinung, Herr Meckel – wir Für nicht minder große Beunruhigung sorgten Ge- sind hier insgesamt einig; das finde ich sehr begrüßens- rüchte, wonach radioaktiv verseuchter Stahl aus einer wert –, dass endlich vollzogen werden muss, was ver- Fabrik in Ribnita über dunkle Kanäle auf den Weltmarkt sprochen worden ist. Wir appellieren gemeinsam mitgelangte. Außerdem sollen bereits 1994 nuklear be- Ihnen an unsere Regierung, die gegenwärtig noch von stückte Sprengköpfe von 38 Wetterraketen verschwun- Ihnen gestellt wird, und andie Europäische Union, das den sein. nachhaltig umzusetzen. Effektive und unabhängige Kontrollen von Waffen Unser gemeinsamer Antrag, den wir verabschieden und sonstigen einschlägigen Materialien transnistrischer (B) (D) wollen, macht deutlich – wir haben schon bei der Lesung Herkunft sind ebenso wie die definitive Klärung der Sta- im Januar festgestellt, Frau Nolte, dass wir inhaltlichtusfrage also dringend erforderlich. völlig d’accord sind, und ich bin froh, dass wir den An- trag heute gemeinsam verabschieden –, dass wir bereit Die Folgen dervölkerrechtswidrigen Abspaltung sind, die Republik Moldau, wenn sie sich entwickelnsind für die Zentralregierung in der Hauptstadt Chisinau will, auf dem Weg zu Europa zu unterstützen. Wir geben politisch und wirtschaftlich verheerend. Denn in Trans- unsere Unterstützung zur Entwicklung von Demokratie, nistrien ist rund die Hälfte der gesamten moldawischen Rechtsstaat und Freiheitsrechten und wir erwarten von Industrie angesiedelt. Seit der Abspaltung verfügt das der Regierung, dass sie die ausgestreckte Hand nimmt. moldauische Kernland nur noch über zwei Wasserkraft- Nur so kann der Weg nach Europa für die Republik Mol- werke sowie über kleinere Erdgasvorkommen. Weiterhin dau gestaltet werden. nimmt die abtrünnige Region fast die gesamte Ostgrenze Moldaus ein. Die Republik läuft also Gefahr, dauerhaft Schönen Dank. von ihrem wichtigsten Handelspartner Russland abge- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem schnitten zu werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Die Regierung in Chisinau versuchte deshalb, die Markus Meckel [SPD]) Kontrolle über die so genannte Transnistrische Moldaui- sche Republik mit militärischen Mitteln zurückzugewin- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nen. Die Folge war ein Bürgerkrieg mit mehreren Hun- Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der dert Toten und 130 000 Flüchtlingen. Die Kämpfe Kollege Siegfried Helias für die CDU/CSU-Fraktion das wurden letztendlich durch das Eingreifen der russischen Wort. Truppen zugunsten der Separatisten entschieden. Zwar endete der Bürgerkrieg 1992 mit einemWaf- Siegfried Helias (CDU/CSU): fenstillstand, aber nur, weil sich die Republik Moldau Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undgezwungen sah, die so genannte Republik Transnistrien Herren! Meine Kollegin Claudia Nolte hat, ebenso wie zu dulden. Dort hat sich inzwischen ein autokratisches die anderen beiden Vorredner, die schwierige Situation System nach kommunistischem Vorbild entwickelt, das der Republik Moldau eindrucksvoll beschrieben. Ichanscheinend nach Belieben schalten und walten kann. möchte insbesondere auf den Transnistrien-Konflikt Moldawien muss die Separatisten notgedrungen gewäh- eingehen, einen Konflikt, der auch ein Problem derren lassen, vor allem wegen der Präsenz russischer Ein- Europäischen Union ist, vor allem im Hinblick auf den heiten in der abtrünnigen Region. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9861

Siegfried Helias (A) Halten wir fest: Russland hatte sich, wie es meine Berichterstattung: (C) Vorredner schon erwähnt haben, in Istanbul verpflichtet, Abgeordneter Dirk Niebel sämtliche Verbände bis Ende 2002 abzuziehen. Dieses Versprechen wurde bis heute nicht eingelöst. Obschon Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Russland die Zusicherung auf dem OSZE-Gipfel indiese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Porto wiederholt und einen Aufschub bis zum Dezember werden wir nicht benötigen, da die Kollegen Christian 2003 erhalten hatte, ist bis heute nichts geschehen. Müller (Zittau), Dr. Michael Fuchs, Erich G. Fritz, Alexander Bonde, Gudrun Kopp, Petra Pau und der Par- Der Schlüssel zu einer politischen Lösung des Trans- lamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt ihre Reden nistrien-Konflikts liegt zweifelsohne in Moskau. Eszu Protokoll geben.2) – Auch dazu höre ich keinen Wi- muss daher die Aufgabe der internationalen Diplomatie derspruch. und damit auch der Bundesregierung sein, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auf dierussische Regie- Dann können wir gleich zur Abstimmung über den rung einzuwirken, dass sie gemäß ihren Zusicherungen von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines von Istanbul und Porto sämtliche Truppen und das restli- Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes che Kriegsgerät unverzüglich aus Transnistrien abzieht und der Außenwirtschaftsverordnung kommen. Dazu empfiehlt der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit in (Beifall im ganzen Hause) seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3076, und dass sie ihren ganzen politischen und wirtschaftli- diesen Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, chen Einfluss auf die Machthaber in Transnistrien dazu die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das nutzt, um diese zur Akzeptanz eines Autonomiestatus Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält bei gleichzeitigem Verbleib im moldauischen Staatswe- sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit sen zu bewegen. Mehrheit angenommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Über- Wir kommen zur schrift des Antrages aller Fraktionen lautet „Den Weg dritten Beratung zur Einheit und Demokratisierung in der Republik Mol- dau unterstützen“. Ich halte es für wichtig, dass die Frak- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem tionen im Deutschen Bundestag ein gemeinsames Zei- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen chen setzen, um die Menschen in diesem Land aufzu erheben. – Gleiches gilt für diejenigen, die dem Ge- diesem Weg zu begleiten, und mithelfen, ihnen eine Per- setzentwurf nicht zustimmen wollen. – Gibt es noch je- spektive zu geben. manden, der sich der Stimme enthalten möchte? – Dann ist der Gesetzentwurf mit der Mehrheit der Koalition ge- (B) (Beifall im ganzen Hause) gen die Stimmen der Opposition angenommen. (D) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Marianne Tritz, Bündnis 90/Die Beratung des Antrags der Abgeordneten Grünen, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Damit Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen, Julia schließe ich die Aussprache. Klöckner, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ Spam effektiv bekämpfen Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/3052 mit dem Titel „Den Weg zur Einheit und Demokratisierung – Drucksache 15/2655 – in der Republik Moldau unterstützen“. Wer stimmt für Überweisungsvorschlag: diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) sich? – Der Antrag ist einstimmig angenommen. Innenausschuss Rechtsausschuss Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss regierung eingebrachten Entwurfs einesElften Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschafts- Auch hierzu war eine Debattenzeit von einer halben gesetzes (AWG) und der Außenwirtschaftsver- Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen ordnung (AWV) Ulrich Kelber, Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen, Ulrike Höfken und Gudrun Kopp geben ihre Reden zu – Drucksache 15/2537 – Protokoll.3) Damit schließen wir die Aussprache. (Erste Beratung 94. Sitzung) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Drucksache 15/2655 an die in der Tagesordnung aufge- ses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es offen- kundig Einverständnis. Dann ist das so beschlossen. – Drucksache 15/3076 – 2) Anlage 6 1) Anlage 5 3) Anlage 7 9862 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 17 auf: Jahres beschlossen wurde. Auf der Ebene des Bundes(C) geht es dabei um die Bestimmung derZuständigkeiten Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- für die Wahrnehmung der Aufgaben im Bereich der See- gierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes schiffe und – das ist der zweite Punkt der Verordnungs- zur Ausführung der im Dezember 2002 vorge- ermächtigung – um die Erweiterung für dieDetailrege- nommenen Änderungen des Internationalen lungen sowie um die Schaffung der technischen und Übereinkommens von 1974 zum Schutz desoperativen Voraussetzungen für die Umsetzung der menschlichen Lebens auf See und des Interna- Maßnahmen zur Gefahrenabwehr. tionalen Codes für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen Der Bundesrat hält das Gesetz fürzustimmungs- pflichtig. Diese Auffassung teilen wir nicht. Wir greifen – Drucksachen 15/2700, 15/2952 – nicht in die Kompetenz der Länder ein. Hafenanlagen (Erste Beratung 100. Sitzung) sind zwar Länderangelegenheiten, aber die Länder müs- sen jetzt das internationale Abkommen umsetzen. Die Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Verpflichtung zum Erlass der Ländergesetze ergibt sich ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenalso nicht aus diesem Gesetz mit dem langen Titel, son- (14. Ausschuss) dern aus der durch Vertragsgesetz zugestimmten völker- – Drucksache 15/3082 – rechtlichen Verpflichtung. Berichterstattung: Noch ein Wort zu den Kosten. Damit werden wir uns Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup) auch noch aufgrund des FDP-Antrages beschäftigen. Es geht um die Eigensicherung der Schiffe und der Hafen- Dazu liegt ein Entschließungsantrag der FDP vor. anlagen gegen das Eindringen Unbefugter. Weiter greift das Gesetz nicht. Akute Bedrohungen fallen eindeutig in Eine Debattenzeit von einer halben Stunde ist zwi- den Zuständigkeitsbereich der Polizei – besser gesagt: schen den Fraktionen vereinbart. – Dazu erhebt sich kein der Polizeien der Länder. Damit sind und bleiben die Widerspruch. Dann verfahren wir so. Kosten für deren Einsätze hoheitlich in der öffentlichen Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für Hand. Da alle an der internationalen Schifffahrt Beteilig- die Bundesregierung zunächst der Parlamentarischenten den Nachweis ihrer Eigensicherungsmaßnahmen er- Staatssekretärin Angelika Mertens. bringen müssen, bedeutet die Kostenübernahme keine Wettbewerbsverzerrung per se. Gute Eigensicherungs- maßnahmen können im Gegenteil auch ein Gütesiegel Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: sein. Die Reeder, jedenfalls unsere deutschen Reeder, (B) haben das sofort erkannt. (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- nen und Kollegen! Nahezu unbegrenzte Mobilität und Wir werden aber sehr genau darauf achten, dass es Kommunikation sind eindeutig ein Plus unserer heutigen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU Welt. Aber sie bedeuten auch, dass Terroristen von prak- kommt. Vertreter des BMVBW und ein Vertreter der tisch überall in der Welt agieren können. Das machtKüstenländer werden deshalb an einem in Brüssel tagen- einen wirksamen Schutz vor Anschlägen so schwierig. den Maritime Security Committee teilnehmen, wo der Das gilt auch für den Seeverkehr, wenngleich er bisher Harmonisierungsaufwand und mögliche Korrekturvor- kein bevorzugtes Ziel von terroristischen Angriffen war. schläge abgearbeitet werden sollen. Sie können sicher sein, dass wir darauf achten werden, dass es gerecht zu- Damit das so bleibt, soll mit diesem Gesetz versucht geht. werden, potenzielle Schwachstellen zu beseitigen. Unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 Zum Schluss möchte ich mich bei allen ganz herzlich befassten sich Arbeitsgruppen der Internationalendafür bedanken, dass wir das Gesetz so schnell durchge- Schifffahrtsorganisation, IMO, mit der Erarbeitung eines bracht haben, sodass wir vor In-Kraft-Treten des Geset- komplexen Systems der Gefahrenabwehr auf Schiffen zes alles in die Wege leiten können. Das gilt für alle und in den Häfen. Am 13. Dezember 2002 wurden die Fraktionen. Ergebnisse von mehr als 100 Staaten durch Unterzeich- Herzlichen Dank. nung beschlossen. Die im Sinne der präventiven Gefah- renabwehr beschlossenen Ergänzungen des SOLAS- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Übereinkommens umfassen unter anderem den so ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der nannten ISPS-Code und gelten völkerrechtlich verbind- CDU/CSU und der FDP) lich ab 1. Juli dieses Jahres für Handelsschiffe ab 500 BRZ und Fahrgastschiffe im internationalen Ver- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: kehr. Nun erhält das Wort der Kollege Wolfgang Börnsen, Bis dahin ist die Umsetzung in nationales Recht auf CDU/CSU-Fraktion. Bundes- und Landesebene erforderlich. Das vorliegende Ausführungsgesetz dient der Anpassung des innerstaatli- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): chen Rechts, nachdem das so genannte Vertragsgesetz Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! zur völkerrechtlich verbindlichen Übernahme mit Zu- Verehrte Bürgerinnen und Bürger, die Sie noch zu dieser stimmung des Bundesrates bereits im Dezember letzten Zeit in den Deutschen Bundestag gekommen sind! Es ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9863

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) gerade 13 Tage her und es hätte so idyllisch sein können: rung appelliert, bei den Kosten für die Betroffenen zwi- (C) Vor der irakischen Küste dümpelt ein Holzfrachter in der schen Safety und Security zu unterscheiden. Abendsonne, wenige Meilen vor einem Hafen. Doch die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Idylle findet schnell ein Ende. Das mit Sprengstoff bela- dene Boot explodiert kurz vor dem Ölverladetermi- Doch dieser Beschluss wird mit dem heute vorliegenden nal von Umm Qasr. Dieser Hafen, das wissen alle, ist Artikelgesetz nicht umgesetzt. Über 100 Millionen Euro der Eingangshafen für die gesamte Versorgung des Lan- müssen in diesem Jahr einmalig in neueSicherheits- des, für 40 Millionen Menschen, für die alliierten Streit- maßnahmen in Häfen und auf Schiffen in Deutschland kräfte, die dort eintreffen. Beinahe wären die Versor-investiert werden. Dazu haben Reeder und Hafenbetrei- gungslinien durch diesen Anschlag stillgelegt worden. ber in Zukunft jährlich weitere 50 bis 60 Millionen Euro Nur knapp ist das Land einem folgenreichen, menschlich zu zahlen. Wir als Union erkennen an, dass sich beide und wirtschaftlich großen Unglück entgangen. Branchen damit beispielhaft an der Sicherung unseres Landes vor Terrorangriffen beteiligen. Dieser Anschlag führt uns eine völlig neue Dimen- sion des Terrorismus vor Augen: Schiffe und Häfen als Doch dieses Ausführungsgesetz ermöglicht es dem Werkzeuge des Terrors. Anschläge wie dieser im Irak Staat – Frau Staatssekretärin, hierbei sind wir anderer können ebenso deutsche Häfen oder Schiffe treffen:Auffassung –, seine hoheitlichen Aufgaben auf die See- Gastanker vor Wilhelmshaven, Kreuzfahrtschiffe inverkehrswirtschaft abzuwälzen. Kiel. Ein Anschlag im Hamburger Hafen zum Beispiel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) würde die deutsche Wirtschaft für mehr als sechs Wo- chen völlig lahm legen. Häfen und ihre Hinterlandver- Zum Beispiel hätten Häfen und Schiffsbetreiber im Fall kehre sind Lebensadern der Transportkette unseres Wirt- einer Bombendrohung und dem damit verbundenen schaftssystems. Großeinsatz von Polizeikräften die Kosten voll zu tra- gen. Das ist nicht vertretbar. Das würde die Hafengebüh- Der lange Schatten desWorld-Trade-Center-Un- ren noch mehr in die Höhe treiben. Die Wettbewerbs- glücks hat auch unsere Seeverkehrswirtschaft erreicht. verzerrungen gegenüber Holland und Polen würden Verletzbar auf eigenem Territorium zu sein war bis zum sich noch mehr verschärfen. Bremen, Hamburg und Lü- Jahr 2001 für die Amerikaner völlig undenkbar. Dieser beck befürchten schon heute, dass die Reeder dann ihre Anschlag war für die Menschen des Landes ein ganz tie- Anlandungen in europäische Nachbarstaaten verlagern. fer Schock. Nur so ist zu erklären, dass sie einen Sicher- Dazu darf es nicht kommen. heitsperfektionismus betreiben, der auch für uns weit- reichende Folgen hat. Sie wollen Land und Menschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) weltweit geschützt wissen. Doch sie sollten erkennen, (B) Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht keine(D) dass Terrorakte trotz unserer heutigen empfindlichenfaire Kostenverteilung vor. Über 10 Millionen Euro Systeme möglich bleiben. müssen danach jährlich von der deutschen Seeverkehrs- Einig sind wir uns im Ziel, im Vorfeld alles Erdenkli- wirtschaft für zusätzliche Aufgaben aufgebracht werden, che für mehr Sicherheit zu tun. Auch im Bereich derdie allein in staatlicher Verantwortung liegen. Arbeits- Seeschifffahrt hat auf Betreiben der USA ein Umdenken plätze werden damit bei uns nicht geschaffen, sondern stattgefunden. Im Jahr 2002 hat die Internationale See- vernichtet und im Ausland aufgebaut. Das ist nicht ver- schifffahrtsorganisation, die IMO, Antiterrormaßnah- antwortbar. Die Regierung wird mit dieser Maßnahme men für Schiffe und Häfenmit einem Internationalen zum Preistreiber an der Küste. Code für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und Hafenan- Wir als Union treten für eine optimierte Sicherheit für lagen beschlossen. Ab Juli 2004 müssen danach alleMeer und Menschen ein. Deshalb haben wir für die Handelshäfen und großen Schiffe ein neues Sicherheits- neuen Regelungen gestimmt. Doch dieses Artikelgesetz, system praktizieren. das der Wirtschaft alle Lasten aufbürdet, lehnen wir ab. In gut sechs Wochen werden die Amerikaner nur noch Die Holländer beispielsweise sind in diesem Fall ge- Boote in ihren Häfen löschen lassen, die den kostenauf- schickter vorgegangen als Manfred Stolpe: Die Kosten wändigen Normen von heute entsprechen. Das gilt auch für die Risikobewertung und die Erstellung der Pläne für für die Personenschifffahrt. Hinzu kommen in Zukunft die Gefahrenabwehr übernimmt der Staat. Damit gibt es – auch das muss man wissen – mehr Kontrollen für die geringere Kosten und geringere Hafengebühren und man Passagiere, mehr Kontrollen für die Besatzung, längere macht den Seeverkehrsstandort Niederlande attraktiv. Wartezeiten, mehr Aufwand, mehr Bürokratie und vor Eine von vielen Konsequenzen: Rotterdam gewinnt, allen Dingen auch mehr Überwachung. Der internatio- Bremen und Hamburg verlieren. Diese Einschätzung tei- nale Terrorismus nimmt negativen Einfluss auf unsere len, nebenbei bemerkt, viele Kollegen im Verkehrsaus- offene, freiheitliche Gesellschaft und verändert sie Tag schuss querbeet durch alle Fraktionen. Doch die Regie- für Tag. Auch der Seeverkehr muss sich diesem Druck rung bewegt sich nicht. Sie will ein Exempel statuieren beugen. und die Wirtschaft offensichtlich zum Mitträger ihrer Finanznot machen. Was heute die Seeverkehrswirtschaft Im Jahr 2003 hat dieses Haus mit allen Fraktionentrifft, wird morgen andere Branchen treffen. Wir halten dem Vertragsgesetz zu den Änderungen des SOLAS-Ab- diesen Weg für verhängnisvoll. Er schadet dem Wirt- kommens zugestimmt. Die Union steht voll und ganzschaftsstandort Deutschland. hinter den von der IMO beschlossenen Antiterrormaß- nahmen. Fraktionsübergreifend wurde aber an die Regie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 9864 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) Was wir benötigen, ist eine Wende in der Seeverkehrs- ein Konzept entwickeln, das mehr Sicherheit gewähr-(C) politik: keine neuen Kosten für Schiffe und keine Erhö- leistet und zu einer besseren Kostenverteilung führt. hung der Hafengebühren, sondern eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Seeverkehrs. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Man muss noch eine andere Besorgnis ernst nehmen: Für die USA ist der 1. Juli 2004 alsBeginn der neuen Sicherheitsära bindend. Schiffe, die dann noch nicht Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zertifiziert sind, erhalten Einlaufverbot. Das Wort erhält nun der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen. (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) Boote aus Häfen, die nicht dem ISPS-Code entsprechen, Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erhalten keine Einlaufgenehmigung. Die AmerikanerNEN): sind in Sachen Sicherheitknochenhart. Besatzungsmit- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir glieder, die trotz eines internationalen Seefahrtbuches sind uns sicherlich einig, dass es die Situation nach dem kein Visum haben, dürfen nur dann an Land, wenn sie 11. September 2001, bei der es auch im Seeverkehr zu ständig von zwei Wachleuten begleitet werden. Gefährdungslagen kam, zwingend notwendig macht, ge- rade diesen hoch sensiblen Bereich besser zu schützen Wie sieht die Lage in Deutschland fast sechs Wochen als in der Vergangenheit. Bei der Gefahrenabwehr im vor diesem Stichtag aus? Von den Sicherheitsplänen für Seeverkehr sind verstärkte Maßnahmen notwendig, um die über 450 unter nationaler Flagge registrierten Schiffe Leben zu schützen. Aber in Anbetracht der Bedeutung, waren in der letzten Woche 163 genehmigt und 287 nicht die der Seeverkehr für den internationalen Güterverkehr genehmigt, und das obwohl der Germanische Lloyd und hat, besteht hier auch aus ökonomischen Gründen zwin- das BSH mit Hochdruck arbeiten. Noch sind die Zertifi- gender Handlungsbedarf. zierungen sowieso nur vorläufig, weil die Rechtsgrund- lage dafür fehlt. Das ist unvertretbar. Der Seeverkehr ist – in Tonnen pro Kilometer gerech- net – mit über 90 Prozent der mit Abstand wichtigste (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Verkehrsträger in den internationalen Verkehren. Alleine Hans-Michael Goldmann [FDP]) in den europäischen Häfen werden jedes Jahr Die großen Häfen, zum Beispiel Bremerhaven, in de- 2 Milliarden Tonnen verschiedenster Güter umgeschla- nen der Handelsanteil der USA bei über 30 Prozent liegt, gen. Ich glaube, das macht deutlich, welches Gefähr- sind gut gerüstet, viele kleine Häfen in Deutschland je- dungspotenzial darin steckt und welch enormer Auf- (B) doch nicht. Eine am heutigen Tage durchgeführte Blitz- wand betrieben werden muss, um hier die notwendigen (D) umfrage hat ergeben, dass Sicherheitspläne an den nord- Sicherheitsstandards zu realisieren. deutschen Häfen nur teilweise, die Genehmigungen für Zur Verbesserung der Gefahrenabwehr auf Schiffen Sicherheitsanlagen, Zäune, Überwachungskameras und in Hafenanlagen hat sich die IMO bereit erklärt und und viele anderen Maßnahmen aber noch gar nicht vor- beschlossen, neue Sicherheitsstrukturen zu schaffen, liegen. Viele rechnen damit, dass es erst im Spätherbst so einmal im Bereich SOLAS – Kollege Börnsen hat darauf weit sein wird. Das ist nicht vertretbar. Dadurch verliert hingewiesen – und dann mit dem ISPS-Code, der als der Standort Deutschland an Attraktivität. Außerdemneue Sicherheitsstruktur eingeführt wird. Beide Instru- schaffen wir dadurch eine Sicherheitslücke, die nichtmente müssen in Gemeinschaftsrecht umgesetzt werden; vertretbar ist: weder für die Menschen noch für die Be- die Europäische Kommission hat im Mai 2003 den Ver- satzung und die Küste selbst. ordnungsentwurf dafür vorgelegt. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sind dafür, dass auf Grundlage dieser Vorlage eine einheitliche Auslegung und Anwendung der Instru- mente sowie der Kontrollen durch die Gemeinschaft er- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: folgt; das ist notwendig. Die Staatssekretärin hat ja auch Herr Kollege, falls Sie die Absicht haben sollten, die deutlich gemacht, dass wir Wettbewerbsverzerrungen verbleibende Zeit bis zur Eröffnung der morgigen Sit- zwischen europäischen Häfen vermeiden wollen. Das zung zu füllen, muss ich Sie darauf aufmerksam machen, kann man zum einen dadurch erreichen, dass man ver- dass das eine längere Redezeit als die von der Fraktion sucht, die Subventionen anzugleichen. Dabei besteht al- gemeldete voraussetzen würde. lerdings immer die Gefahr – lieber Kollege Börnsen, (Heiterkeit) auch das muss man sagen –, dass man in einen Subven- tionswettlauf gerät, den wir grundsätzlich nicht wollen. Vielmehr wollen wir auch in diesem Bereich eine ver- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): nünftige Kostenbelastung. Das Gros der Gelder, die zu- Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihren sanftensätzlich für Sicherheit ausgegeben werden müssen – da Hinweis und schließe meine Rede mit folgender Bemer- sind wir uns hoffentlich einig –, fällt nicht im hoheitli- kung: Die USA haben bereits vor zwei Jahren parallel zu chen Bereich an, sondern muss von den Betrieben den Verhandlungen ein Sicherheitskonzept erstellt. Wir zwangsläufig für ihre Sicherheit zur Verfügung gestellt sind zu spät gekommen und verfügen über keine vertret- und ausgegeben werden; das ist völlig klar. Zum anderen bare Aufgaben- und Kostenverteilung. Wir sollten daher bin ich sehr dafür, dass wir den Wettbewerb zwischen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9865

Rainder Steenblock (A) den europäischen Häfen gerecht gestalten; das werden angestoßen worden ist, nämlich Hilfe für Ausbildung im (C) wir beobachten müssen. Bereich der maritimen Wirtschaft bei den Binnenschif- fern und bei der Seeschifffahrt, zum Erliegen kommen Die Bundesregierung hat sich dafür ausgesprochen würde. Deswegen bin ich hundertprozentig einverstan- – ich kann das gut nachvollziehen –, dieSubventionie- den. rung in diesem Bereich nicht weiter zu erhöhen; wir ha- ben im Bereich des Luftverkehrs im Grunde das gleiche (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Problem. Ich bin dafür, dass die Verkehrsträger gleich der SPD und des Abg. Werner Kuhn [Zingst] behandelt werden und nicht unterschiedlich. Mir ist be- [CDU/CSU]) wusst, dass insbesondere in den ARA-Häfen – gerade bei den Holländern – die Konkurrenz staatlich stärker Nur – jetzt sage ich einmal: so’n Schiet –, wir waren materiell subventioniert wird. Ich glaube, dass wir das uns einig bei SOLAS, wir waren uns einig in dieser durch europäische Regeln bekämpfen müssen. Zum Teil Frage und haben gesagt: Das ist eine hoheitliche Auf- ist eine vernünftige Analyse von uns zu leisten, welche gabe und für diese hoheitliche Aufgabe muss die öffent- wettbewerbsverzerrenden Maßnahmen an dieser Stelle liche Hand die Kosten übernehmen. Nun legen Sie einen in der EU existieren. Ich bin sehr dafür, dass wir unseren Gesetzentwurf vor. Ich sage Ihnen schon jetzt: Wir ha- Häfen auf der Grundlage einer solchen Analyse dannben uns schwer damit getan, wie wir darüber abstimmen. auch helfen. Es ist einfach enttäuschend, wenn in diesen Gesetzent- wurf – zwar nicht in die Forderungen, aber in den Aus- In der Sache selber sindwir uns ja einig, dass die führungsteil – eine Formulierung hineingemogelt wird. Maßnahmen, die hier realisiert werden, sinnvoll und ver- Unter dem Punkt „Finanzielle Auswirkungen“ wird der nünftig sind und dem Seeverkehr eine neue Qualität von Grundsatz formuliert, dass die öffentlichen Kosten durch Sicherheit geben, die wir alle wollen. In derKosten- neue Gebühren für die Hafenbetriebe abgemildert frage haben wir sicherlich Schwierigkeiten. Wir haben werden sollen. Das heißt im Klartext: Die Kosten, die für das im Verkehrsausschuss ausführlich diskutiert und sind eine hoheitliche Aufgabe entstehen – Ihr Gesetz bezieht uns unter den Verkehrspolitikern einig, dass wir unsere sich einzig und allein auf hoheitliche Aufgaben –, wol- Häfen hier nicht alleine lassen können. Deshalb werden len Sie sich über Gebühren zurückholen. Was wir im Ha- wir die Wettbewerbssituation weiter beobachten undfen in Papenburg machen müssen, was die Emdener ma- analysieren und notfalls auch zu Maßnahmen kommen chen müssen, was die Nordenhamer, was die Bremer müssen. Mit dem Antrag, der jetzt vorliegt, ist uns daund die Bremerhavener machen müssen, hat mit diesem nicht weitergeholfen. Der Gesetzentwurf ist dagegenGesetz überhaupt nichts zu tun; eine vernünftige Grundlage für weiteres Handeln. (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen (B) Vielen Dank. [Bönstrup] [CDU/CSU]) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihr Gesetz bezieht sich auf die öffentliche Aufgabe, auf und bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang die hoheitliche Aufgabe. Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) Wir wollen einmal nicht so tun, Frau Mertens, als ob Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: es hier nur um ein paar Euro ginge. Hier geht es um Mil- Ich erteile das Wort dem Kollegen Michaellionenbeträge, die unsere maritime Wirtschaft belasten. Goldmann, FDP-Fraktion. Ich bin bitter enttäuscht darüber, dass in dieser Frage, in der wir uns so einig waren, eine Formulierung sozusagen durch die Hintertür in das Gesetz aufgenommen worden Hans-Michael Goldmann (FDP): ist, die unsere Gemeinsamkeit in besonderer Weise in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Anspruch nimmt. Es mag Ihnen egal sein, wie die Oppo- bin froh, dass wir über dieses Thema reden, weil ichsitionsparteien hier stimmen. Ich will hier die Gemein- glaube, dass es wichtig ist, dass wir in dieser Frage – für samkeit nicht zerstören; deswegen werden wir uns heute einen Sektor, der im Moment unheimlich boomt, in dem der Stimme enthalten. Wir sagen: Lasst uns doch nicht viele Arbeitsplätze entstehen und der nach wie vor große wegen einer solchen Sache die Gemeinsamkeit zerstö- maritime Chancen für uns bietet – die Gemeinsamkeiten ren! Dennoch ist Ihre Vorgehensweise nicht in Ordnung; betonen. ich muss sie wirklich aufs Schärfste verurteilen. Frau Faße, ich bin froh, dass wir heute Mittag zusam- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten men im maritimen „Forum Binnenschifffahrt“ waren. der CDU/CSU) Lassen Sie uns diese Gemeinsamkeiten weiterentwi- ckeln. Ich bin froh, dass die Ausbildungsplatzabgabe- Es ist unklug, dass Sie diese Allianz aufgeben. Es Regelung mit den Vereinbarungen, die auf der maritimen wird uns in der Situation mit den Amerikanern die Posi- Konferenz getroffen worden sind, vereinbar werden. Ich tion erschweren; denn die werden in dieser Frage nach würde mich freuen, wenn Kollege Robbe, der ja wohl wie vor Druck machen. Es wird uns auch in der Situation Vorsitzender Ihrer Küsten-Gang ist, sich durchsetzt. Ich mit den Mitbewerbern die Position erschweren. Ich war bin gespannt, was Frau Bulmahn jetzt macht, um dieses jetzt in den Niederlanden unterwegs, weil ich aus der Thema abzuarbeiten; denn es wäre jammerschade, wenn Region an der Ems komme, wo wir in sehr direkter Kon- das, was auf der maritimen Konferenz erarbeitet und im- kurrenz mit den Niederländern stehen. Die Niederländer mer von der Parlamentariergruppe „Binnenschifffahrt“ lachen sich kaputt über das, was wir in dieses Gesetz 9866 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Hans-Michael Goldmann (A) schreiben, und sagen: Ihr seid im Grunde genommen zu Ich möchte auch noch etwas zum Sicherheitsgewinn (C) dämlich, eure maritime Wirtschaft voranzubringen. sagen, der bereits angesprochen wurde. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sagen Sie mal etwas zu den Kosten!) Es ist bedauerlich und ärgerlich, dass wir uns in dieser Frage nicht einig sind. Wir hätten es einfacher und über- – Ich sage gleich auch etwas zu den Kosten, Herr einstimmender haben können. Aber lassen Sie es unsGoldmann. – Wir können natürlich keinen absoluten auch in Zukunft gemeinsam probieren – deshalb unsere Sicherheitsgewinn garantieren; das ist völlig klar. Diese Enthaltung. Maßnahmen, die weltweit umgesetzt werden, geben uns aber eine deutlich höhere Sicherheit. Man kann natürlich Herzlichen Dank. nicht sämtliche Fracht überprüfen und man kann auch (Beifall bei der FDP) nicht überprüfen, ob jeder Seemann, der ein nautisches oder technisches Patent besitzt, möglicherweise ein Ter- rorist ist. Es kann ja vorkommen, dass Terroristen nauti- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sche Patente erwerben und danach auf die Schiffe gehen. Noch gibt es zwei kleine Aussichten für die Herstel- Insofern wird der Sicherheitsgewinn zwar hoch sein, es lung der notwendigen Einigkeit. Als Vorletzte erhält die kann sich aber nicht um einen absoluten Sicherheitsge- Kollegin Margrit Wetzel das Wort für die SPD-Fraktion. winn handeln. Wenn deutsche Schiffe und Häfen diese international Dr. Margrit Wetzel (SPD): vereinbarten Standards nicht einhalten, dann werden sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich im internationalen Wettbewerb nicht mehr wettbe- will gerne versuchen, mehr Einigkeit herzustellen. Zum werbsfähig sein. Die Wirtschaft würde einen ganz gro- Gesetz ist hier schon genug gesagt worden. Ich kann es ßen Schaden nehmen. Es ist bereits gesagt worden: Es mir also ersparen, dazu noch etwas zu sagen, und will würden keine Schiffe mehr abgefertigt bzw. unsere Hä- ein bisschen auf die Ausführungen der Kollegenfen würden von den Schiffen nicht mehr angelaufen. Die Börnsen und Goldmann eingehen. daraus resultierenden Folgekosten wären wie bei jedem Anschlag unermesslich hoch. Wir sind uns natürlich einig darin, dass Terroristen, Waffen und gefährliche Stoffe nicht an Bord von Schif- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir sind fen oder in Hafenanlagen gelangen sollen, und auch da- doch für Sicherheit! Darum geht es doch gar rin, dass Schiffe nicht als Waffe benutzt oder Ziel von nicht!) terroristischen Anschlägen werden sollen. Aber, Herr (B) (D) Börnsen, ich glaube, Sie haben bei der Beschreibung der Diese Konsequenz sehen natürlich auch die Reeder tatsächlichen Situation eine ganze Menge falsch be- und die Hafenbetriebe. Sie haben ein eigenes wirtschaftli- schrieben. Sofort nach Abschluss der internationalenches Interesse daran. Bei dem Gesetz geht es überwiegend Vereinbarungen haben in Deutschland Bund, Länder und um Eigenmaßnahmen und die Kosten der Eigensiche- die Verbände, die Wirtschaft und alle Institutionen, die rung. Wir erkennen natürlich an, dass die Seeverkehrs- im maritimen Umfeld mit Sicherheit zu tun haben, wirk- wirtschaft die Kosten der Eigensicherung in erheblichem lich fieberhaft daran gearbeitet, Regelungen zu finden, Maße selbst trägt; dies muss sie aber auch tun. Das Glei- die praktikabel sind. Sie waren dabei unglaublich unbü- che gilt für die Folgekosten. rokratisch und flexibel und wirklich praxisorientiert. Wirklich nur teilweise im Moment noch ungeklärt Man kann zum Beispiel auf der Internetseite des BSH – die Gebührenordnungen und die Erlasse müssen ja erst alle möglichen Formulare, Empfehlungen und Richtli- noch kommen – ist die Frage, was nun eigentlich hoheitli- nien unkompliziert abrufen, sodass auch kleine Reeder che Aufgaben sind und was nicht. Es ist völlig klar, dass jede mögliche Hilfestellung bekommen, die sie nur er- Polizeieinsätze und die on v Herrn Börnsen bemühte halten können. Das ist auch entsprechend genutzt wor- Bombenentschärfung auf dem Terminal hoheitliche Auf- den. gaben sind und dass die Kosten nicht auf den jeweiligen Betrieb, bei dem das geschieht, umgelegt werden kön- Natürlich kann man beklagen, dass noch nicht alle nen. Andererseits ist nicht jede staatliche Verpflichtung Schiffe unter deutscher Flagge zertifiziert sind und dass zur Garantie international vereinbarter Sicherheitsstan- die Zertifizierung nur vorläufig erteilt werden kann, dards gleichzeitig ein hoheitlicher Akt, dessen Kosten weil wir erst heute die Rechtsgrundlage beschließen. vom Staat zu tragen sind. Wir gehen davon aus, dass Diese musste aber erst einmal entwickelt werden und sie diese Fragen sehr gründlich beraten werden und dass musste Hand und Fuß haben. Das braucht ein bisschen sich dies in den Gebührenordnungen so wiederfinden Zeit. Nichtsdestotrotz muss man feststellen, dass wir in wird, wie es den Gesetzen entspricht. Deutschland einen weit überdurchschnittlichen Zertifi- zierungsgrad im Vergleich zur weltweiten Flotte haben. Im Gesetzentwurf ist sogar festgehalten, dass sich die Das wiederum kann man nur mit Respekt vermerken.Bundesregierung dafür einsetzt, dass die Kostenbelas- Das Gleiche gilt auch in den Häfen: Die größten Contai- tung der Wirtschaft nicht zu Wettbewerbsverzerrungen nerterminals haben ihre Gefahrenabwehrpläne bereits gegenüber dem Ausland führt. Die Staatssekretärin hat genehmigt bekommen. Die Hafensicherheitskommissio- uns das gerade bestätigt. Natürlich wollten wir im Ver- nen wurden sofort eingerichtet und haben hervorragend kehrsausschuss diesen Entschließungsantrag einver- gearbeitet. Dafür sollten wir Dank sagen. nehmlich beschließen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9867

Dr. Margrit Wetzel (A) (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: in einem Plan festgehalten werden. Dieser wird von den (C) Und die Kosten teilen!) zuständigen staatlichen Stellen erarbeitet. Die dafür zu- ständige deutsche Bundesbehörde ist das Bundesamt für Das Problem war nur die Formulierung. Diesen komple- Seeschifffahrt und Hydrographie; sie nimmt diese Auf- xen Sachverhalt des Auseinanderhaltens von hoheitli- gabe wahr. Dort werden Festlegungen getroffen. Damit chen Aufgaben und Aufgaben, die gebührenfähig sind, ist klar, dass hier Kosten entstehen. Diese Kosten kön- kann man nicht in ein oder zwei Sätzen formulieren. nen nicht einfach durch eine Refinanzierung, wie Sie es (Hans-Michael Goldmann [FDP]: vorgeschlagen haben, in Form einer Gebühr auf die Ree- Sie sind gescheitert!) der und Hafenbetreiber umgelegt werden; denn das geht zulasten des maritimen Standortes Deutschland. Das Wir vertrauen darauf, dass uns die Regierung an dieser können wir nicht mittragen. Stelle genauso unterstützt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Dieser Regierung vertrauen wir nicht!) Die Koalition legt immer wieder kostenträchtige Pläne auf den Tisch, beispielsweise mit derAusbil- wie vorher, als sie mit den Ländern, der Wirtschaft, den dungsplatzabgabe und einer möglichen Erhöhung der Verbänden und übrigens auch mit uns – wir sind ständig Umlage über die Berufsgenossenschaft, wodurch Ne- zeitnah informiert worden – einvernehmlich zusammen- benkosten entstehen und die Wettbewerbsfähigkeit des gearbeitet hat. Standortes Deutschland ins Hintertreffen gerät. Ange- Deshalb bitte ich Sie herzlich, hier jetzt keinen künst- sichts der EU-Osterweiterung orientieren sich die östli- lichen Konflikt aufgrund einer Formulierung, die meines chen Häfen in Mecklenburg und Vorpommern natürlich Erachtens alles offen lässt – das wollen Sie ja –, hinein- schon in diese Richtung, weil dort die Abfertigungsmög- zuinterpretieren. Ich bitte Sie wirklich um Einverneh- lichkeiten besser sind und auch die Sicherheitsstandards men in dieser Frage. eingehalten werden, die Hafengebühren aber geringer ausfallen. Vielen Dank. Hier im Hause wird immer gemeinschaftlich an den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Patriotismus unserer Unternehmer appelliert. Ihrer Mei- DIE GRÜNEN – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] nung nach kann es nicht sein, dass so viele deutsche [CDU/CSU]: Das kostet ein bisschen Geld! Das Schiffe ausgeflaggt werden und unter anderen Flaggen ist es!) auf den Weltmeeren kreuzen und Transportleistungen er- bringen. Über diese Entwicklung brauchen wir uns aber (B) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nicht zu wundern, wenn wir die Kosten im eigenen(D) Zum Schluss dieser Debatte erhält der KollegeLande so hoch treiben, dass der große Staubsauger Rot- Werner Kuhn für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. terdam alles an sich zieht, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!weil da die Kosten gering sind, die Betuwelinie ausge- Frau Wetzel, leider müssen die Oppositionsparteien Ih- baut wird und sich von dort aus gut agieren lässt. All das ren Ausführungen gemeinschaftlich widersprechen. können wir nicht mittragen. Insgesamt stehen Kosten von insgesamt fast 100 Millionen Euro zur Debatte; das Letztendlich müssen hier hoheitliche Aufgaben erle- wurde von mehreren Rednern schon erwähnt. digt werden; auch Herr Goldmann hat die Sache noch einmal ganz klar auf den Punkt gebracht. Eine dieser (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hoheitlichen Aufgaben besteht darin, dass der ISPS- NEN]: Das sind doch keine 100 Millionen ho- Code für Schiffe und Hafenanlagen so umgesetzt werden heitliche Kosten!) muss, dass eine Risikobewertung der Schiffe, deren Bruttoraumzahl größer als 500 ist, und der jeweiligen Letztendlich müssen wir bei einer Sicherheitsüber- Hafenanlagen durchgeführt werden kann. Die Zustän- prüfung darauf achten, dass die beschlossenen Maßnah- digkeit dafür liegt immer bei der Vertragsregierung. Das men tatsächlich der Gefahrenabwehr dienen. Dabei spie- ist letztendlich unsere Bundesregierung. len die Ladung und natürlich auch die Passagiere eine große Rolle. Wenn beim kombinierten Verkehr Eisen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bahnfähre und Passagierfähre zusammen agieren, dann der FDP) sind im Hafenbereich entsprechende Sicherheitsanlagen bereitzustellen. Herr Börnsen hat es vorhin schon gesagt: Das zuständige Ministerium hat diese Aufgabe letztend- Deutschland ist total ins Hintertreffen geraten. Die ande- lich im Auftrag des Parlaments zu erledigen. ren Länder sind längst so weit, dass sie die sicherheits- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: technischen Bestimmungen erfüllen. Das steht ja auch darin!) Herr Börnsen hat auch ausgeführt, dass er mit den Ha- Wir sind doch fachlich überhaupt nicht auseinander,fenbetreibern von Mukran bis Bremen und auch weiter wenn es darum geht, was im Gesetz stehen soll und was westlich telefoniert hat. Dabei hat er festgestellt, dass sie wir zur Abwehr terroristischer Akte, die sich auf weiche fast auf dem falschen Fuß erwischt wurden. Schauen wir Ziele beziehen, zu tun haben. Die Gefahrenabwehr muss uns einmal das Flaggenland Liberia an! Mit den 9868 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

Werner Kuhn (Zingst) (A) technischen Standards, die dort entwickelt wurden, sind trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der (C) sie uns schon wieder Nasenlängen voraus. Dort wurde Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. umgesetzt, was IMO und SOLAS fordern. Hier besteht Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Handlungsbedarf. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Wir fordern die Bundesregierung auf: Machen Sie gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten keine Refinanzierung über eine neue Gebührenordnung! Gesetzes zur Änderung des Tierseuchengeset- Die deutschen Unternehmen sind genug belastet. Wir zes brauchen Aufschwung und Freiheit für die Wirtschaft. Für den Norden ist das die einzige Möglichkeit, um wie- – Drucksache 15/2943 – der Arbeitsplätze zu generieren. (Erste Beratung 105. Sitzung) (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- NEN]: Steuersenkungen fehlen noch!) ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! Dann wirtschaft (10. Ausschuss) haben wir eine gemeinsame Position. Die maritime Ver- – Drucksache 15/3069 – bundwirtschaft wird es Ihnen danken. Berichterstattung: Nach diesem Petitum wünsche ich allen Kolleginnen Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier und Kollegen einen angenehmen Abend; denn ich Gitta Connemann glaube, Herr Präsident, dies ist der letzte Debattenpunkt. Friedrich Ostendorff Hans-Michael Goldmann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zu diesem Tagesordnungspunkt haben die Kollegin- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nen und Kollegen Dr. Wilhelm Priesmeier, Marlene Mortler, Gitta Connemann, Friedrich Ostendorff, Hans- Herr Kollege Kuhn, die Schlussbemerkung hinsicht- Michael Goldmann und der Parlamentarische lich des verbleibenden Abends nehme ich als unauffäl- Staatssekretär Gerald Thalheim ihre Reden zu Protokoll lige Bewerbung für eine künftige Mitgliedschaft im Prä- gegeben.1) Wir kommen damit zu den Abstimmungen sidium des Deutschen Bundestages. Wir kommen bei über den von der Bundesregierung eingebrachten Ge- einem anderen Tagesordnungspunkt gelegentlich darauf setzentwurf zur Änderung des Tierseuchengesetzes auf zurück. Drucksache 15/2943. Der Ausschuss für Verbraucher- schutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in sei- (B) Ich schließe die Aussprache. (D) ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3069, den Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Aus- bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- führung der im Dezember 2002 vorgenommenen Ände- fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer rungen des Internationalen Übereinkommens von 1974 ist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetz- zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und des entwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Internationalen Codes für die Gefahrenabwehr auf Schif- fen und in Hafenanlagen. Es handelt sich um die Druck- Dritte Beratung sachen 15/2700 und 15/2952. Der Ausschuss für Ver- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem kehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seinerGesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3082, den Ge- zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. ordnung. Ich schließe mich den guten Wünschen des Kollegen Kuhn ausdrücklich an und freue mich, dass ich Dritte Beratung das im Namen des gesamten anwesenden Präsidiums tun und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem kann. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- zu erheben. – Wer stimmt gegen den Gesetzentwurf? – destages auf morgen, Freitag, den 7. Mai 2004, 9 Uhr, Wer enthält sich der Stimme? – Der Gesetzentwurf ist ein. mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltung der Opposition angenommen. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 20.57 Uhr) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck- sache 15/3083. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- 1) Anlage 8 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9869

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Wir haben aber weiterhin Bedenken, alle so genann- ten Minijobs auch im nichtgewerblichen Bereich als Schwarzarbeit durch den Zoll zu bekämpfen. Wir sehen entschuldigt bis die Gefahr, damit Menschen ohne verwerfbares Un- Abgeordnete(r) einschließlich rechtsbewusstsein zu verfolgen, und fürchten, dass die notwendige Konzentration auf die Bekämpfung der or- Bülow, Marco SPD 06.05.2004 ganisierten und gewerblichen Schwarzarbeit Schaden nehmen könnte. Evers-Meyer, Karin SPD 06.05.2004 Die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmerinnen Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 06.05.2004 und Arbeitsnehmer außerhalb der Legalität oder zu we- sentlich ungünstigeren Arbeitsbedingungen ist Teil der Hagemann, Klaus SPD 06.05.2004 Schwarzarbeit. Auch die gilt es zu bekämpfen. Es ist uns ein zentrales Anliegen, Lohndumping zu vermeiden. Die Hoffmann (Chemnitz), SPD 06.05.2004 im Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der Jelena Schwarzarbeit hierzu vorgesehenen Maßnahmen gehen aber nach unserer Auffassung zu einseitig auf Kosten der Lehn, Waltraud SPD 06.05.2004 ausländischen Arbeitnehmer. Es wird der Eindruck ver- mittelt, als ob diese Menschen in aller Regel sich be- Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 06.05.2004 wusst für eine Beschäftigung zu ungünstigeren Arbeits- bedingungen entscheiden würden, obwohl sie in vielen Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 06.05.2004 Fällen keine echte Wahl haben, einer legalen Beschäfti- Klaus W. gung nachzugehen. Wir sind der Auffassung, dass noch intensiver auch die Arbeitgeber zurVerantwortung gezo- Matschie, Christoph SPD 06.05.2004 gen werden müssen, wenn sie unter Umgehung des deut- schen und internationale Arbeits- und Sozialrechts Kos- Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 06.05.2004 ten sparen oder sich unredlicher ausländischer DIE GRÜNEN Subunternehmen bedienen. Dieser Aspekt findet nur we- nige Berücksichtigung, wenn wir auch sehen, dass mit Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 06.05.2004 (B) der Neufassung der Strafvorschriften über den Men-(D) DIE GRÜNEN schenhandel in einem Gesetz zur Änderung des Strafge- setzbuchs diese Formen der Ausbeutung der Arbeitskraft unter erhebliche Strafdrohung genommen werden. Anlage 2 Trotz dieser Bedenken stimmen wir dem Gesetzent- wurf zu, weil die Intensivierung der Bekämpfung der Erklärung nach § 31 GO Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuer- der Abgeordneten Jerzy Montag, Josef Philip hinterziehung notwendig und richtig ist. Winkler und Jutta Dümpe-Krüger (alle BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Intensivierung Anlage 3 der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit Zu Protokoll gegebene Rede zusammenhängender Steuerhinterziehung (Ta- gesordnungspunkt 3) zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Keine Kürzungen von Integrations- Organisierte und gewerbliche Schwarzarbeit hat in maßnahmen (Tagesordnungspunkt 12) Deutschland ein nicht hinnehmbares Niveau erreicht. Sie schädigt gesetzestreue Unternehmer wie Arbeitnehmer Petra Pau (fraktionslos): Das Zuwanderungsgesetz und verursacht hohe Einnahmeausfälle bei den Sozial- ist nun hoffentlich in der Gestalt, wie es zuletzt in den kassen und beim Fiskus. Die Zielsetzung, die Bekämp- Beratungen auf dem Tisch lag, endgültig Geschichte. fung der Schwarzarbeit im gewerblichen Bereich zu in- Worüber Koalition und bürgerliche Opposition noch dis- tensivieren, unterstützen wir deshalb voll und ganz. kutiert haben, hatte mit einem liberalen Recht oder gar mit Integration schon lange nichts mehr zu tun. Vielmehr Im Gesetzgebungsverfahren ist es gelungen, so ge- drohte der Rückfall in längst überwunden geglaubte nannte haushaltsnahe geringfügige Beschäftigungen aus Denkweisen des Polizeirechts, nach dem ein Ausländer dem Aufgabenkatalog des Zolls und Dienst- und grundsätzlich als eine Bedrohung der Sicherheit und Werkleistungen unter Angehörigen, im Gefälligkeitsbe- Ordnung angesehen wird. reich und im Rahmen der Nachbarschaftshilfe aus der Bezeichnung als Schwarzarbeit herauszunehmen. Damit Die Integration von Menschen aus anderen Ländern wurde der Gesetzentwurf nicht unwesentlich verbessert. in die deutsche Gesellschaft bedeutet dagegen für die 9870 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) PDS die vollständige Partizipation am politischen, sozia- sondere Bedeutung zugemessen werde. Dies schließt die (C) len, kulturellen und wirtschaftlichen Leben in der neuen stärkere Anerkennung und Förderung der Mutterspra- Heimat. Dazu gehört auch die Möglichkeit, die Sprache chen der Migrantinnen und Migranten als Fremdsprache der Mehrheitsgesellschaft zu erlernen. Insoweit ist es tat- mit ein. sächlich unverständlich, wenn die staatlichen Mittel für Deutschkurse nicht aufgestockt, sondern reduziert wer- Die PDS fordert anstelle eines polizeirechtlichen Ein- den sollen. wanderungsverhinderungsgesetzes eine wirksame Inte- grationspolitik mit dem Ziel der sozialen und politischen Aber der Antrag der Union streift nur das eigentliche Gleichstellung der Migrantinnen und Migranten und des Problem. Betroffen sind nicht „nur“ Spätaussiedlerinnen friedlichen Zusammenlebens von Bürgerinnen und Bür- und Spätaussiedler sowie ausländische Asylberechtigte, gern unterschiedlicher ethnisch-kultureller und religiöser sondern Probleme haben viele andere Gruppen in noch Herkunft. Unter anderem ist die Chancengleichheit von höherem Maße: Ausländische Studierende könnenMenschen nicht deutscher Herkunftssprache beim Zu- Deutschkurse an den Universitäten beziehungsweise Stu- gang zu allen Bildungsstufen durch gesonderte Maßnah- dienkollegs belegen. Auch für Dozenten gibt es solche men, die die Integration in die Gesellschaft erleichtern, Angebote. Firmenmanager, Diplomaten und Menschen zu gewährleisten. Dazu gehören auch Sprachlehrgänge mit viel Geld können Lehrgänge an privaten Instituten be- in ausreichendem Umfang, denn das Erlernen der Spra- suchen. Die „normalen“ ausländischen Arbeitnehmer und che ist eine der wichtigsten Integrationsvoraussetzun- Arbeitnehmerinnen kommen hier allerdings nicht vor, von gen. Die PDS will andererseits, dass die Migranten und Asylsuchenden und Aussiedlern und AussiedlerinnenMigrantinnen ihre eigene Kultur und Sprache nicht auf- ganz zu schweigen. geben müssen. Deshalb treten wir für das Recht auf För- derung der Muttersprache ein. Dazu gehört auch die För- Im Auftrag des Bundes – und von ihm bezahlt – bietet derung der interkulturellen Erziehung und Bildung. der Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitneh- mer zusätzliche Deutschkurse an. Doch auch hier ist der Integration hört aber nicht mit Spracherwerb und Bil- „Kundenkreis“ von vornherein eingeschränkt: Gefördert dung auf. Im Gegenteil: Alle Rahmenbedingungen müs- werden nur Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und sen dazu führen, dass alle Menschen unabhängig von ih- ihre Familienangehörigen aus den Mitgliedstaaten der rem Pass in Deutschland gleichberechtigt leben können. Europäischen Union sowie aus den früheren Gastarbei- Das schließt die Herstellung des Wahlrechts für Einge- teranwerbestaaten Türkei, Marokko, Tunesien und dem wanderte auf allen Ebenen ein, aber auch den umfassen- ehemaligen Jugoslawien. Hinzu kommen Menschen, die den Schutz für Verfolgte und Flüchtlinge aus Notsitua- als Vertragsarbeitnehmer und Vertragsarbeitnehmerin- tionen, die Angleichung dersozialen Standards – zum (B) nen aus Angola, Mosambik und Vietnam in die damalige Beispiel durch die Abschaffung des berüchtigten Asyl- (D) DDR gekommen sind. Schön. Nur, was ist mit dembewerberleistungsgesetzes –, das Ermöglichen des Fa- Flüchtling aus Togo, der Deutsch lernen möchte? Oder miliennachzugs für alle Angehörigen und die Anglei- mit der chinesischen Frau, die hier arbeitet und ebenfalls chung des deutschen Rechts an die Standards der UN- Deutschkenntnisse braucht? Diese wenden sich mögli- Kinderrechts- und der UN-Wanderarbeiterkonvention. cherweise an die Volkshochschule vor Ort, denn die bie- Das bedeutet zudem Schutz für „Illegalisierte“ vor Aus- tet ja oft auch Sprachkurse an. Dort wartet jedoch wieder beutung und unmenschlichen Lebensverhältnissen. eine Enttäuschung: Die Kurse bei der VHS werden häu- Das Scheitern des Zuwanderungsgesetzes gibt die fig von den Arbeitsämtern finanziert. Und deren Richtli- Gelegenheit, von der Diskussion über noch mehr Poli- nien schreiben vor, dass solche Fördermaßnahmen Asyl- zeirecht im Ausländerrecht endlich wegzukommen und berechtigten und Spätaussiedlern vorbehalten bleiben sich mit den wirklichen Problemen zu beschäftigen. Wir sollen. Also auch hier wieder Fehlanzeige für die Asyl fordern die Koalition auf, diese Chance endlich wahrzu- suchende Frau oder den zwar als Flüchtling, nicht aber nehmen. als Asylberechtigten anerkannten Mann. Zu dieser Realität steht die Position der CDU/CSU, aber auch von Teilen der Regierungskoalition in krassem Anlage 4 Gegensatz. Im Streit um das Zuwanderungsgesetz haben Sie gefordert, den Besuch von Deutschkursen zur Pflicht Zu Protokoll gegebene Reden zu machen und die Nichtteilnahme zu bestrafen. Einen zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Rechtsanspruch darauf, einen Deutschkurs überhaupt Änderung der Bundesärzteordnung und ande- besuchen zu können, wollten Sie dagegen nicht einräu- rer Gesetze (Tagesordnungspunkt 13) men.

Integration darf vor allem nicht zur Assimilation wer- Dr. Erika Ober (SPD): Die fraktionsübergreifende den: Menschen ausländischer Herkunft dürfen nicht ge- Zustimmung im Ausschuss für Gesundheit und Soziale zwungen werden, ihre Muttersprache und ihre eigenen Sicherung zu der vollständigen Abschaffung der „Arzt Traditionen und Kulturen aufzugeben. Integration ist im Praktikum“-Phase von letzter Woche begrüße ich keine Einbahnstraße, sondern erfordert Leistungen so- sehr. Mit dem uns heute vorliegenden Gesetzentwurf wohl der Zuwandernden als auch der Aufnahmegesell- nutzen wir die Möglichkeit, die ärztliche Ausbildung zu schaft. Deshalb fordern auch die Wohlfahrtsverbände, reformieren und das AiP abzuschaffen Das dient auch dass der Förderung der Mehrsprachigkeit zukünftig be- der Verbesserung der Qualität der medizinischen Versor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9871

(A) gung. Deshalb bin ich optimistisch, dass der Gesetzent- verständigen zum AiP auf. Damit gehen wir über die(C) wurf heute von der breiten Mehrheit des Hauses getra- ursprünglich vorgesehene rein finanzielle Gleichstellung gen wird. von AiPlern und Assistenzärzten noch hinaus. Neben der Verbesserung der Bezahlung der AiPler verzichten wir Neben der Modernisierung der ärztlichen Ausbildung mit diesem Entwurf auf eine Übergangslösung, wie sie werden in der Vorlage mit der Umsetzung der entspre- noch in der ersten Lesung vorgesehen war. Wir beschlie- chenden EU-Richtlinie außerdem notwendige Änderun- ßen heute die statusrechtliche Gleichstellung von Medi- gen in den Heilberufsgesetzen vorgenommen. Derzinstudentinnen und -studenten, die bis zum 1. Oktober Wechsel von einem Rechtssystem zum anderen stellt Be- 2004 noch AiPler sind, mit denen, die nach dem 1. Okto- troffene oft vor Probleme. Der vorliegende Entwurf ver- ber 2004 als Assistenzärzte nach dem letzten Staatsexa- bessert die Rechtsstellung von nicht deutschen Staatsan- men in ihren Beruf starten. gehörigen, die in einem Heilberuf in Deutschland tätig sein wollen. Das verbessert die Situation für Patientin- Mit dem Entwurf gehen wir auch über die so ge- nen und Patienten, weil bundeseinheitliche Mindestvo- nannte Optionslösung hinaus, die in der Anhörung dis- raussetzungen für Zulassungen zu Heilberufen auch der kutiert wurde. Sie sah vor, AiPlern zum Stichtag 1. Ok- Qualität der Versorgung dienen. tober 2004 eine Wahlmöglichkeit zu geben, ob sie die Vollapprobation oder an ihrem AiP-Vertrag festhalten Eingeführt wurde das AiP Mitte der 80er-Jahre. In wollen. Ich denke, dass die heute abzustimmende Vor- Zeiten hoher Studentenzahlen im Fach Humanmedizin lage der Situation am besten gerecht wird. wurden in der ärztlichen Ausbildung praktische Anteile nicht ausreichend berücksichtigt. Das AiP sollte damals Diese Verbesserung der Situation ärztlicher Berufsan- die praktische Qualifikation junger Ärzte und Ärztinnen fänger entspricht nicht nur dem vielfach vorgetragenen verbessern. Das Manko an praktischer Erfahrung wäh- Anliegen der Studentinnen und Studenten, sondern auch rend des Studiums sollte mit der praktischen Ausbildung den Vorstellungen der Ärzte- und Krankenhausverbände. nach dem dritten Staatsexamen ausgeglichen werden. Wir tragen mit dieser Regelung angesichts eines drohen- Das AiP ist inzwischen entbehrlich geworden. Denn den Ärztemangels in Deutschland auch dem gesamtge- durch das In-Kraft-Treten der neuen Approbationsord- sellschaftlichen Interesse an engagierten jungen Nach- nung für Ärzte vom 27. Juni 2002 konnte die praktische wuchsärzten Rechnung. ärztliche Ausbildung in die Gesamtausbildung an der In der öffentlichen Anhörung vom 31. März dieses Universität integriert und somit der Versorgungswirk- Jahres wurde neben dem AiP auch die Übergangsrege- lichkeit angepasst werden. Besonders dem allgemeinme- lung thematisiert, welche sich aus der 2002 geänderten dizinischen und hausärztlichen Bereich wurde ein höhe- (B) Approbationsordnung ergibt. Diese Übergangsregelung (D) rer Stellenwert zuerkannt. Angesichts unserer alternden bezieht sich auf den Studienablauf im Fach Humanmedi- Gesellschaft war dies dringend notwendig geworden,zin. Sie steht dabei in keinem direkten Zusammenhang auch um zum Beispiel zu erreichen, dass ältere Men-mit der Abschaffung des AiP. Dennoch darf es uns nicht schen so lange wir möglich in ihrer gewohnten Umge- gleichgültig sein, wann Studierende ihr Studium been- bung bleiben können. Mitder neuen Approbationsord- den, die genau in diese Übergangsphase fallen und wo- nung von 2002 wurde die Grundvoraussetzung dafürmöglich unverschuldet Verzögerungen in ihrem Studien- geschaffen, die dem Studium nachgelagerte Phase des ablauf hinnehmen müssten. Deshalb begrüße ich die AiP zum 1. Oktober 2004 abzuschaffen. Mit ihr wurde Zusage der Bundesregierung, diesen Sachverhalt mit den das Medizinstudium neu ausgerichtet. Theorie und Pra- Bundesländern zu erörtern. Denn diese sind im Zusam- xis wurden besser miteinander verzahnt. Die Ausbildung menspiel mit den Landesprüfungsämtern für die Durch- ist näher am Patienten. führung der Prüfungen zuständig. Hier ist eine Lösung Eine weitere Voraussetzung für das Ende des AiPim Interesse der Betroffenen wünschenswert. wurde im GMG geschaffen. Die Finanzmittel von circa Was gewinnen die jungen Nachwuchsärzte durch die 300 Millionen Euro zur Abschaffung des AiP werden Annahme dieses Gesetzentwurfes? durch das GMG aufgefangen. Dies ist dort mit Änderun- gen zur Bundespflegesatzordnung und zum Krankenhaus- Endlich werden mehrfach staatlich examinierte Ärzte entgeltgesetz geregelt. Im GMG ist auch die Vergütung und Ärztinnen auch angemessen bezahlt. Bislang erhiel- für die letzten drei Monate des Jahres 2004 mit einem ten dreifach staatlich examinierte Ärzte und Ärztinnen, Bedarf von circa 75 Millionen Euro geregelt. die ihre universitäre Ausbildung abgeschlossen hatten, Die Differenz der Vergütung zwischen vollapprobier- für ihre Arbeit nach dem Studium eine Ausbildungsver- tem Assistenzarzt und teilapprobiertem AiPler liegt der- gütung. Die Arbeitszeiten entsprechen denen von Assis- zeit bei 29 000 Euro im Jahr. Das ist eine recht stattliche, tenzärztinnen und -ärzten. Dennoch fällt die Vergütung gleichwohl aber überfällige Aufstockung des Anfangs- derzeit noch um circa 29 000 Euro im Jahr geringer aus. gehalts. Bei circa 10 000 anzunehmenden Studienab-Außerdem ist ein AiPler nicht voll verantwortlich, son- schlüssen im Fach Humanmedizin ergibt sich also ein dern muss stets unter der Aufsicht eines vollapprobierten Finanzbedarf von 300 Millionen Euro innerhalb eines Arztes handeln. AiPler übten dennoch im Regelfall die- Jahres. selben Tätigkeiten wie Assistenzärzte aus, waren also günstige Arbeitskräfte. Mit der neuen Approbationsord- Mit der kompletten Abschaffung des AiP greifen wir nung 2002 haben sich die Voraussetzungen aber bereits die Ergebnisse der öffentlichen Anhörung von Sach-derart geändert, dass die Abschaffung des AiP – jetzt, 9872 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) wo im GMG auch die finanziellen Grundlagen geschaf- angehende Mediziner haben nach ihrem Studium nicht(C) fen wurden – die Konsequenz sein muss. mehr das AiP angeschlossen. 22 Prozent der Absolven- ten eines Medizinstudiums wurden also kein Arzt. Sie Schon lange wurde von Betroffenen aus vielerleihaben Tätigkeiten in anderen Branchen aufgenommen. Gründen die Forderung gestellt, das AiP abzuschaffen. Eine der wesentlichsten Gründe war die Ungleichbe- Mangels Nachwuchsmedizinern zeichnet sich in deut- handlung von AiPlern mit anderen Ärzten und Ärztin- schen Krankenhäusern ein dramatischer Fachkräfte- nen. Dieser Forderung werden wir nun gerecht. Die ärzt- mangel ab. Jedes zweite Krankenhaus kann Stellen im liche Ausbildung ist modernisiert worden und damitÄrztlichen Dienst nicht mehr besetzen. Besonders in setzt die SPD ihren Kurs der letzten Legislatur konse- Ostdeutschland wird das ärztliche Versorgungsnetz quent fort. dramatisch dünn. Schätzungen zufolge sind allein in Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass junge Krankenhäusern rund 4 800 ärztliche Stellen vakant. Mediziner und Medizinerinnen vermehrt in andere Län- Der Mangel an Nachwuchs hat aber auch noch eine der abwandern, um dort ärztlich tätig zu werden. Auch andere Ursache. Deutsche Krankenhäuser und Universi- ist festzustellen, dass viele Nachwuchskräfte Tätigkeiten tätskliniken stehen im nationalen Wettbewerb mit ande- ausführen, die mit der kurativen medizinischen Versor- ren Branchen. Ein Assistenzarzt verdient deutlich weni- gung im klassischen Sinne nichts mehr zu tun haben. ger als ein Berufseinsteiger in der Wirtschaft mit Der Arztberuf wird durch die der Arbeit angemessenen vergleichbarer Ausbildung. Zudem sind die Arbeitsbe- Entlohnung wieder attraktiver. Die finanzielle und recht- liche Gleichstellung kann der ärztlichen Abwanderung dingungen in Krankenhäusern oft nicht allzu attraktiv: vorbeugen. Patientinnen und Patienten brauchen unsere Lange Arbeitszeiten und ausgeprägte Hierarchien wir- gut ausgebildeten Medizinerinnen und Mediziner, dieken auf Berufseinsteiger häufig abschreckend. motiviert sind, hier vor Ort als Ärzte zu arbeiten. Die deutsche Krankenversorgung steht aber nicht nur In erster Linie hat die fachlich dringend erforderliche untereinander und mit anderen Branchen im Wettbe- Abschaffung des AiP positive Auswirkungen auf den werb. Zunehmend wandern deutsche Nachwuchsmedizi- ärztlichen Nachwuchs, in zweiter Linie aber auch auf die ner ins Ausland ab. Dieser so genannte Braindrain er- Patientinnen und Patienten. Auch die Krankenhäuserfolgt hauptsächlich in die USA. Aber auch die können profitieren. Denn immer häufiger fehlen dortskandinavischen Länder bieten für junge Ärzte attraktive Nachwuchsmediziner. Mit der Gleichbehandlung wird Rahmenbedingungen. Diese Abwanderung ist für nun der Berufseinstieg, aber auch der Arztberuf insge- Deutschland zum einen fatal, weil wir trotz Ärzteman- samt aufgewertet. gels Nachwuchs verlieren. Zum anderen aber stellt die (B) Abwanderung ärztlichen Nachwuchses eine verlorene(D) Mit der Zustimmung des Deutschen Bundestages zu Investition dar. Kein Studiengang kostet den Staat so viel dem uns vorliegenden Gesetzentwurf, werden Jungärzte Geld wie der zum Mediziner. Während der Staat je Uni- die beste Situation für den Berufseinstieg in Deutschland versitätsstudent durchschnittlich rund 8 000 Euro pro seit dem Zweiten Weltkrieg vorfinden. Auch in der Me- Jahr ausgibt, müssen für jeden angehenden Mediziner dizinalassistentenzeit, an die ich mich selbst noch gut er- jährlich ungefähr 28 000 Euro aufgewandt werden. Die innern kann, oder in anderen Ausbildungszeiten waren Hälfte der gesamten Hochschulausgaben wird für die die Berufsanfänger sowohl finanziell als auch status-Ärzteausbildung benötigt. Für jeden ausgewanderten rechtlich schlechter gestellt. Medizinhochschulabsolventen hätte man 14 BWL-Stu- Deshalb freue ich mich über die Entscheidung, die denten finanzieren können. heute zu fällen ist und der wir alle gemeinsam positiv gegenüberstehen. Der Braindrain bei Ärzten hat zwei Aussagen: Zum einen zeugt er von der qualitativ hochwertigen Ausbil- dung der deutschen Ärzte, sodass diese im Ausland ge- Helge Braun (CDU/CSU): Endlich wird zum 1. Ok- fragt sind. Zum anderen aber gehen Deutschland Nach- tober dieses Jahres die Phase Arzt im Praktikum, AiP, wuchskräfte verloren, die dringend benötigt werden. Wir abgeschafft. Endlich sage ich als Arzt, der das AiP selbst brauchen daher attraktivere Arbeitsbedingungen für Be- absolviert hat. Endlich sage ich auch als Bundestagsab- rufseinsteiger und mehr junge Menschen, die Arzt wer- geordneter. den wollen. Die Ausbildung zum Arzt wird ohne das AiP attrakti- Während also deutsche Kliniken im Wettbewerb um ver. Die Ausbildungszeit verkürzt sich. Karriereperspek- den Nachwuchs stehen, können sie selbst nur erschwert tiven sind für Studenten früher sichtbar. Der Arztberuf um ausländische Studenten werben. Kliniken haben musste für junge Menschen dringend interessanter ge- große rechtliche Schwierigkeiten, junge Ärzte von au- macht werden. Denn der steigende Bedarf an jungen ßerhalb der EU nach Deutschland zu holen. Da die Fach- Ärzten kann zunehmend schlechter erfüllt werden. arztausbildung nicht mehr zur medizinischen Ausbil- Die Zahl der Approbationen ist in den letzten sechs dung gehört, bekommen junge ausländische Ärzte keine Jahren um 22 Prozent gesunken. Die Facharztanerken- Aufenthaltsgenehmigung. Hier haben leider die Grünen nungen sind sogar um 25 Prozent zurückgegangen. Im mit dem Scheitern der Verhandlungen zum Zuwande- Jahr 2000 standen 9 100 Studiumsabsolventen nur 7 100 rungsgesetz eine große Chance vertan, dem Ärztemangel abgeschlossene AiP-Phasen gegenüber. Dies heißt: Viele abzuhelfen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9873

(A) Der Mangel an Nachwuchs wird sich auch in Zukunft rung hat sich fraktionsübergreifend die Auffassung(C) auf absehbare Zeit nicht entspannen. Mehr als die Hälfte durchgesetzt, dass der einzig sinnvolle Weg darin be- aller ambulant tätigen Ärzte wird in den nächsten zehn steht, mit dem Datum 1. Oktober allen Ärzten die Voll- Jahren in den Ruhestand gehen. Doch der Anteil junger approbation zu geben. Ärzte sinkt seit geraumer Zeit. Bei dem Für und Wider ging es ausnahmsweise mal Die Folgen des fehlenden Nachwuchses in der Ärzte- nicht primär ums Geld. Denn die Bereitstellung der zu- schaft werden durch den demographischen Wandel noch sätzlichen Mittel für die Aufstockung der AiP-Gehälter verschärft. Mit steigender Lebenserwartung wächst auch auf ein normales Assistenzarztgehalt war ja bereits ge- der Bedarf ärztlicher Betreuung im Alter, sodass allein setzlich geregelt. Nein, es war eher die Unsicherheit, ob deswegen eine Zunahme von Approbationen erforder- alle AiPler auch gemäß der gesetzlichen Empfehlung lich ist. Die Entwicklung in Deutschland ist: Bei steigen- von Seiten der Krankenhäuser entsprechend bezahlt den Patientenzahlen haben wir immer weniger Ärzte,worden wären. „Weitere Probleme mit dem Gesetzent- weil der Nachwuchs fehlt. wurf schienen vorprogrammiert: Was hätte die junge Mutter machen sollen, die nach Ablegung des dritten Hiergegen ist die nun bereits zum Oktober 2004 erfol- Staatsexamens sich zwei Jahre um die Kindererziehung gende Abschaffung des AiP eine notwendige Maß-gekümmert hat und die Arzt-im-Praktikum-Phase nicht nahme. Das AiP wurde eingeführt im Jahr 1988, als es geleistet hat? Sollte sie diese noch später nachholen einen starken Überhang an Medizinabsolventen gab.müssen? Wer bietet diese Ausbildungsstelle dann noch 16 Jahre später – wir haben Ärztemangel – kann das AiP an? abgeschafft werden. Studium und das Praktische Jahr sind nun so gestaltet, dass der Absolvent des Medizin- Nein, als einziges ernsthaftes Argument gegen die studiums auf die verantwortungsvolle Aufgabe des Arz- komplette Abschaffung des Arztes im Praktikum sprach, tes auch ohne AiP vorbereitet ist. Ursprüngliche Pläne dass möglicherweise Kündigungen aufgrund des Ein- der Bundesregierung, die Abschaffung des AiP mitgreifens in bestehende Ausbildungsverträge erfolgen Übergangsregelungen bis zum Jahr 2009 zu gestalten, könnten. In der Anhörung hat sich ergeben, dass die hätten die ärztliche Versorgung in Deutschland zusätz- Sachverständigen diese Befürchtung für zwar theoretisch lich verschärft. berechtigt, in der Praxis aber für vollkommen unbegrün- det halten. Dieser Auffassung haben sich im Ausschuss Der heutige Beschluss des Bundestages, das AiP ab- dann auch alle fraktionsübergreifend angeschlossen. Der zuschaffen, muss der Auftakt zu weiteren Verbesserun- Arzt im Praktikum wird zum 1. Oktober abgeschafft. gen der Rahmenbedingungen für Medizinstudenten und Absolventen sein. Wollen wir dem stetig steigenden Ärz- Im Verfahren sind dann noch für die praktische Um- (B) temangel entgegnen, dann ist die Bundesregierung ge- setzung wichtige Dinge geregelt worden. Zum Beispiel, (D) fordert, wieder verstärkt junge Menschen für den Beruf dass die Mehrkosten für die Abschaffung des AIPler für des Arztes zu interessieren, Ausbildung für Mediziner die Krankenhäuser, die ihre Budgetvereinbarung 2004 attraktiver zu gestalten und Abwanderung von Medizi- schon abgeschlossen haben, im Jahr 2005 in die Verein- nern in andere Branchen und ins Ausland einzudämmen, barung über das Budget einzubeziehen sind. Das interes- indem attraktive Rahmenbedingungen für junge Ärzte siert vornehmlich die Krankenhausdirektoren und Ge- geschaffen werden. Denn mit kränkelnden Studiums-schäftsführer. und Berufsbedingungen können wir niemanden für den Arztberuf begeistern. Die Studierenden wird interessieren, dass im Aus- schuss darauf hingewiesen wurde, dass die für die Ap- probationserteilung zuständigen Landesbehörden gehal- Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Heute ist ein ten sein sollten, bereits vor dem In-Kraft-Treten des Tag der Freude für Medizinstudentinnen und Medizin- Gesetzes die Bearbeitung von Anträgen auf Erteilung der studenten, für alle die, die im praktischen Jahr Dienst am Approbation vorzubereiten, damit es nicht durch Verzö- Patienten tun, für die, die trotz schwerer werdender Rah- gerungen zu personellen Engpässen in den Krankenhäu- menbedingungen bereit sind, sich als Ärztinnen odersern kommt. Hier ist die Bundesregierung aufgefordert, Arzt in den Dienst kranker Menschen zu stellen: Derfür eine frühzeitige und umfassende Information der Be- Arzt im Praktikum wird ohne Wenn und Aber abge-troffenen über die zuständigen Behörden zu sorgen. schafft. Damit wird der unwürdige Zustand für junge Menschen nach langem Studium, praktischem Jahr und Mit der Abschaffung des AIP hat die Gesundheitspo- Staatsexamen beseitigt, dass sie dann immer noch nicht litik ein Signal gesetzt, dass ihr der ärztliche Berufsstand in der Lage sind, mit dem schwer verdienten Lohn eine und insbesondere der ärztliche Nachwuchs am Herzen Familie zu ernähren. Die Entgelte für Ärzte im Prakti- liegen. Doch dieses Signal allein reicht nicht aus, um kum reichten dafür einfach nicht aus. Hier wird jetzt ein eine Trendwende in Negativentwicklung bei der ärztli- Signal gesetzt, dass die Politik es ernst meint mit dem chen Versorgung herbeizuführen. Versprechen, den Beruf des Arztes für junge Menschen wieder attraktiver zu machen. Wir haben ein Nachwuchsproblem. Während sich im Jahr 1998 noch knapp 8 000 Absolventen des Medizin- Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregie- studiums bei den Ärztekammern anmeldeten, war diese rung vom Januar dieses Jahres sah eine Beibehaltung des Zahl vier Jahre später auf 6 600 zurückgegangen. Dra- Arztes im Praktikum für alle vor, die ihr drittes Staatsex- matisch ist die Tatsache, dass immer mehr Medizinstu- amen vor dem 1. Oktober 2004 ablegen. Nach der Anhö- denten ihr Studium abbrechen und die mit Staatsexamen 9874 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) häufig nicht in der Humanmedizin ärztlich tätig werden. nach dem 1. Oktober 2004 ihr drittes Staatsexamen be- (C) In den alten Bundesländern können fast jedes zweitestehen, sofort ihre Vollapprobation erhalten. Sie könnten Krankenhaus und in den neuen Bundesländern vierdann von den Krankenhäusern sofort als Assistenzärzte Fünftel aller Häuser offene Stellen für Ärzte nicht beset- eingestellt werden. Alle diejenigen Studenten jedoch, die zen. vor diesem Datum ihr Studium abschließen, müssten die AiP-Phase noch vollständig ableisten. Um eine finan- Die Arbeitsbedingungen junger Ärztinnen und Ärzte zielle Ungleichbehandlung zu vermeiden, war allerdings müssen grundlegend verbessert werden. Dazu gehören vorgesehen, dass diese AiP dieselbe Vergütung wie As- nach dem Verwirrspiel über das Arbeitszeitgesetz klare sistenzärzte erhalten. Hintergrund dieser Stichtagsrege- Arbeitszeitregelungen. Dazu gehört, dass die Mediziner- lung war, dass Mediziner, die vor Oktober 2003 das Stu- ausbildung noch praxisnäher gestaltet werden muss, dass dium aufgenommen haben, die novellierte Ausbildung es weniger Regulierung und Bürokratie in den Praxen nicht komplett durchlaufen haben. Und gerade dieses und den Krankenhäusern geben muss. Mehr als 30 Pro- praxisbezogenere Studium macht ja erst das AiP über- zent der durchschnittlichen Arbeitszeit verbringt derflüssig. Arzt mit Dokumentation und Verwaltungsarbeit und da- mit nicht mehr am Patienten. Mit der Stichtagsregelung wären jedoch Umsetzungs- probleme verbunden gewesen, die das Anliegen der Praxisnahe Ausbildung, kollegiale ärztliche Arbeit im Bundesregierung konterkariert hätten. So ist unklar, wel- Team, eine angemessene Vergütung und Wertschätzung che Auswirkungen dies auf die internen Hierarchien in des ärztlichen Berufs durch die Gesellschaft, das sindden Krankenhäusern oder auf den beruflichen Aufstieg Voraussetzungen, unter denen Ärzte auch in schwierigen hätte. In welchem Verhältnis steht ein Mediziner, der be- Zeiten bereit sind, sich aufopferungsvoll um ihre Patien- reits den AiP ableistet zu einem Assistenzarzt, der frisch ten zu kümmern, ohne Rücksicht auf eine 40-Stunden- vom Studium kommt? Darüber hinaus bestand Anlass zu Woche, häufig in Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit.der Befürchtung, dass Examenskandidaten womöglich Wertschätzung der Gesellschaft und der Politik? Krimi- ihre Prüfungen verschieben würden, um auf diese Weise nelle Energie und fehlendes Rechtsbewusstsein wurde von der Neuregelung zu profitieren. den Ärzten im Schwarzbuch des Gesundheitsministeri- ums vorgeworfen. Auch wenn Teile des Schwarzbuches Angesichts dieser Problematik einigte sich der Aus- jetzt gelöscht sind, so lässt die Tatsache, dass diesesschuss auf einen von Rot-Grün eingebrachten Ände- Schwarzbuch überhaupt entstehen konnte, darauf schlie- rungsantrag, der die generelle Abschaffung des AiP ab ßen, dass das Verhältnis von Rot-Grün zur deutschendem l. Oktober 2004 fordert. Durch die Änderung des Ärzteschaft doch erheblich gestört ist. Gesetzentwurfs können auch diejenigen Studenten, die (B) ihr Studium vor dem 1. Oktober abgeschlossen haben, zu (D) Die Ärzte sind es leid, immer dann, wenn die Gesund- diesem Stichtag die Vollapprobation beantragen. Dabei heitspolitik Schwierigkeiten hat, als Abzocker und Profi- spielt keine Rolle, ob sie bereits AiP sind oder nicht. Das teure des Systems hingestellt zu werden. Das gibt esArgument, damit unzulässig in Tarifverträge einzugrei- noch, das Berufsethos der Ärzte, die in erster Linie an fen, konnten wir entkräften. So haben wir die Zusage der ihre Patienten und erst in zweiter Linie an ihr eigenesVertragsparteien der AiP-Ausbildungsverträge, dass Be- materielles Wohlergehen denken. Wenn dies nicht sostandsschutzinteressen der Betroffenen nicht berührt wäre, dann hätten die jungen Ärzte im Praktikum, denen werden. wir heute helfen, nicht so engagiert und klaglos gearbei- tet. Mit der Änderung des Gesetzentwurfes erreichen wir also, dass die Absolventen nicht nur finanziell, sondern Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Während auch statusrechtlich gleichgesetzt werden. Mit der zügi- der ersten Lesung des Gesetzentwurfs zur Änderung der gen und vollständigen Abschaffung der AiP-Phase sen- Bundesärzteordnung wurde bereits deutlich, dass es über den wir ein klares Signal an junge Menschen, dass wir dessen grundsätzliches Anliegen kaum Meinungsver-bemüht sind, die Attraktivität des Arztberufes zu stei- schiedenheiten gibt. gern. Zum einen geht es darum, mit der Abschaffung der Der zweite unklare Punkt betraf die Finanzierung der AiP-Phase die ärztliche Berufslaufbahn attraktiver zuMehrkosten für die Krankenhäuser. Bereits im GMG machen. Rot-Grün tut damit etwas für Nachwuchsge- hatten wir festgelegt, dass den Krankenhäusern für winnung im eigenen Land. Zum anderen trägt der Ge- die Bezahlung der neuen Assistenzärzte zusätzliche setzentwurf durch die Umsetzung der EU-Richtlinie zur 300 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Die Harmonisierung der ärztlichen Berufe bei. So machen Finanzierungsoption wurde im Rahmen der öffentlichen wir es auch Ärztinnen und Ärzten aus anderen EU-Län- Anhörung zwar von den meisten Experten begrüßt, zu- dern leichter, in Deutschland zu arbeiten. Bei den Aus- gleich aber als nicht ausreichend empfunden. So sei ein schussberatungen kristallisierte sich bei zwei Punkten al- Großteil der Budgetvereinbarungen bei In-Kraft-Treten lerdings Nachbesserungsbedarf heraus. Dies sind diedes Gesetzes für das Jahr 2004 bereits abgeschlossen. Stichtagsregelung der AiP-Abschaffung sowie die Fi- Um diese Lücke zu schließen, empfiehlt der Ausschuss nanzierung der Mehrkosten. Regelungen sowohl für das Krankenhausentgeltgesetz als auch die Bundespflegesatzverordnung, nach denen es Zuerst zur Stichtagsregelung: Der Gesetzentwurf der möglich wird, diese Mehrkosten einmalig rückwirkend Bundesregierung sieht vor, dass nur die Studenten, die zu berücksichtigen. Ich denke, dass wir nun die richtige Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9875

(A) Antwort auf den Handlungsbedarf gefunden haben. Die „100 Tage Gesundheitsreform“ war ein trauriges, vor-(C) Ärztin und der Arzt im Praktikum, die ja immer auch Sy- läufiges Ende. nonym waren für die billige Arbeitskraft im Kranken- haus, werden ab Oktober der Vergangenheit angehören. Mit solchen Diffamierungen schaden Sie, Frau Und für die Finanzierungsprobleme haben wir ebenfalls Schmidt, vor allem den Patienten. Denn Sie treiben wei- eine gute Regelung gefunden. Es ist ja im Übrigen – so tere Ärzte aus dem System. Da nutzt es auch nicht, das viel zum Abschluss – auch erfreulich, dass sich einmal Schwarzbuch in diesen Tagen stillschweigend wieder alle Fraktionen über etwas wirklich einig sind. zurückzuziehen. Der Flurschaden bleibt. Wir sollten alle die Bundesärzteordnung ernst nehmen: Heilberufe sind freie Berufe. Und nur, wenn Sie, liebe Kolleginnen und Detlef Parr (FDP): Wir alle atmen mit den Betroffe- Kollegen von Rot-Grün, das Staatskorsett in die Requisi- nen. Der AiP ist abgeschafft, auch mit ausdrücklichertenkammer verbannen, wird sich der Wachstumsmarkt Unterstützung meiner Fraktion. So ist ein erster Schritt Gesundheit entfalten können. getan, die Arbeitsbedingungen junger Ärzte zu verbes- sern. Die FDP begrüßt, dass die Stichtagsregelung ge- strichen wurde und der AiP nun am 1. Oktober 2004 der Anlage 5 Vergangenheit angehören wird. Dies gibt den jungen an- gehenden Medizinern Planungssicherheit. Aber es wer- Zu Protokoll gegebene Rede den noch sehr viel mehr Maßnahmen folgen müssen, um zur Beratung des Antrags: Den Weg zur Einheit dem schon bestehenden und noch weiter drohenden Ärz- und Demokratisierung in der Republik Moldau temangel zu begegnen und den Arztberuf für junge Men- unterstützen (Tagesordnungspunkt 14) schen wieder attraktiver zu machen.

Aktuelle Zahlen sprechen für sich. Der Nachwuchs Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu- bricht weg. Die Zahl der Studienabsolventen ist rückläu- nächst möchte ich allen beteiligten Kolleginnen und fig. Die Neuzugänge in den Arztberuf verzeichnen seit Kollegen danken, dass wir nun einen gemeinsamen An- 1998 einen Rückgang von rund l5 Prozent. Immer mehr trag für die Republik Moldau verabschieden können. Es Junge wandern in andere Berufe oder ins Ausland ab. ist ein gutes Zeichen, dass wir gemeinsam an einem Der Anteil der älteren Ärzte steigt dafür kontinuierlich Strang ziehen, um den Weg zur Einheit und Demokrati- an, ebenso wie die Zahl derjenigen, die aus Altersgrün- sierung in der Republik Moldau zu unterstützen. den aus der ärztlichen Berufstätigkeit ausscheiden. Ver- Unsere erste Debatte im Januar hatte es bereits ge- sorgungsengpässe haben wir heute schon vor allem in zeigt: Die Unterschiede bei der Beurteilung der Lage in den neuen Bundesländern. (B) Moldau und den weiteren erforderlichen Schritten zwi- (D) Als ersten Reparaturschritt fordern wir die Aufhe-schen den Fraktionen des Deutschen Bundestages waren bung der Altersbegrenzung für Vertragsärzte. Dies löst marginal. nicht die Probleme des Nachwuchsmangels, dient aber Es besteht Einigkeit darüber, dass insbesondere der Sicherstellung der medizinischen Versorgung. Deutschland sich nicht verstecken muss, wenn wir die Doch viel wichtiger ist es, den jungen Ärzten wieder verschiedenen Unterstützungen und Hilfestellungen be- Perspektiven zu geben, um im kurativen Berufsfeld zu trachten, die für Moldau auf dem Weg in die Demokratie bleiben oder auch wieder dahin zurückzukehren. Dies geleistet wurden und werden. fängt bei den Arbeitsbedingungen in den Krankenhäu- Es besteht auch Einigkeit darüber, dass die Regierung sern an, hört aber dortnicht auf. Überstunden und in Moldau nun ihre Bemühungen und Aktivitäten erheb- schlechte Vergütung sind ein harter Berufsstart für junge lich verstärken muss. Eine Vielzahl von Abkommen und Ärzte. Früher haben sie solche Arbeitsbedingungen im Vereinbarungen mit der OSZE, der EU und dem Europa- Krankenhaus noch geschluckt, weil sie eine Perspektive rat müssen jetzt von der Regierung Moldaus intensiver für die Zukunft hatten. Sie hatten als Freiberufler die ei- umgesetzt werden. Dies betrifft den weiteren Aufbau gene Praxis im Blick. Einkommen winkten, für die es von rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen, sich lohnte, Durststrecken in Kauf zu nehmen. Dieseaber auch die Stärkung von gesellschaftlichen und wirt- Perspektive ist ihnen seit Jahren genommen. schaftlichen Strukturen. Heute stehen die jungen Ärzte vor einer großen Ver- Wir sind uns einig darüber, dass die künftige Ent- unsicherung. Die Vergütungsaussicht ist mau, die eigene wicklung Moldaus ganz entscheidend von der Lösung Praxis ist in Anbetracht von Versorgungszentren undder Transnistrien-Frage abhängt. Die Wiederherstellung ambulanter Versorgung im Krankenhaus in weite Ferne der Einheit mit dem seit 1991 abgespaltenen Landesteil gerückt. Ein Leben als Angestellter widerspricht demTransnistrien und die Überwindung der Spaltung des ärztlichen Berufsbild als „freier Beruf“. So ist er heute Landes ist die entscheidende Grundlage für die Schaf- immer noch in der Bundesärzteordnung definiert. Die fung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Struktu- Therapiefreiheit wird zunehmend durch von Kassen ge- ren. Da muss aber noch sehr viel geschehen. Russland steuerte Versorgungsprogramme eingeschränkt. Und die wird seinen zentralen Beitrag zur Konfliktlösung leisten Bundesregierung tut alles, den Arztberuf in der Öffent- müssen. Diese besteht nicht darin, die Republik Moldau lichkeit schlechtzureden. Der Korruptionsbeauftragtein dauerhafte Abhängigkeit zu bringen, wie durch das in- war der Anfang, das unsägliche Schwarzbuch zwischen zu gescheiterte russische „Kozak-Memorandum“. 9876 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Eine Lösung des Konfliktes muss unter Wahrung dersen, so sind sie angesichts der besonderen Bedeutung der (C) territorialen Integrität Moldaus dazu führen, dass Trans- wehrtechnischen Industrie per Definition hochpolitisch nistrien sich den internationalen Überwachungsmecha- und werden auch im Ausland keinesfalls dem freien nismen nicht mehr entziehen kann. Dazu brauchen wir Spiel marktwirtschaftlicher Kräfte überlassen. Dabei die Unterstützung Russlands. geht es nicht nur um den Schutz sensibler Technologien, sondern auch um die industrielle Unterfütterung politi- Die Bundesregierung wird deshalb ihre Bemühungen scher Bindungen. fortsetzen, in bilateralen Gesprächen mit der russischen Regierung darauf zu dringen, dass der Wiedervereini- Das Recht, Nein … zu sagen, sichert … die Verfü- gungsprozess in Moldau weiter vorankommt. gungsgewalt über industrielle Kernkompetenzen. Dabei kann es in der Regel nicht darum gehen, ge- Die OSZE bleibt weiter aufgerufen, maßgeblich an ei- plante Übernahmen tatsächlich zu untersagen. Der ner Lösung mitzuwirken, der sowohl die Führung als Vorteil des Genehmigungsvorbehalts besteht viel- auch die Bevölkerung beider Landesteile zustimmen mehr darin, dass er als Hebel eingesetzt werden können. Deutschland wird in Gesprächen mit Russland kann, um bestimmte Zusagen zur Versorgungssi- auch auf die Umsetzung der Abzugsverpflichtungen der cherheit durchzusetzen. russischen Truppen drängen. Weiterhin setzt sich die Bundesregierung bei der EU-Kommission für die Eröff- In den europäischen Nachbarstaaten wird die Zu- nung einer EU-Delegation in Chisinau ein. sage in der Regel erteilt, wenn der Käufer sich etwa Wir wollen, dass Moldau die Chance nutzt, sich der zur Einhaltung bestehender Lieferverträge oder Europäischen Union zuzuwenden. Mit unserem gemein- zum Erhalt bestimmter technologischer Kompeten- samen Antrag machen wir deutlich, dass wir unser En- zen verpflichtet. Die Möglichkeit, die Übernahme gagement für die Entwicklung Moldaus weiter verstärken gegebenenfalls zu blockieren, verbessert dabei die wollen. Wir wollen zeigen, dass wir sehr an der stärke- Verhandlungsposition der Regierung ganz entschei- ren Anbindung Moldaus an Europa interessiert sind. dend. Deutschland wird zusammen mit den europäischen und Zwischenzeitlich hatte ich den Eindruck gewonnen, internationalen Partnern auf verschiedenen Ebenen mit- dass die deutsche Industrie akzeptiert, dass die Bundes- wirken, damit eine gemeinsame Perspektive für Europas republik mit ihren Partnern in Europa und in Amerika ärmstes Land erarbeitet werden kann. auf Augenhöhe verhandeln können muss. Lassen Sie mich hoffen, dass dies auch weiterhin gilt.

Anlage 6 In der heutigen Debatte wird behauptet, das vorgese- (B) hen Verfahren sei im Verhältnis zu anderen Ländern zu (D) Zu Protokoll gegebene Reden restriktiv. Dies trifft wohl nicht den Kern. Angesichts der zur Beratung des Entwurfs eines Elften Geset- in den USA oder Großbritannien vorgesehenen Möglich- zes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes keit, Transaktionen rückwirkend zu untersagen oder gar (AWG) und der Außenwirtschaftsverordnung rückgängig zu machen, ist dieser offenbar sehr wirksame (AWV) (Tagesordnungspunkt 15) Mechanismus ein Damoklesschwert, das trotz fehlenden gesetzlichen Meldezwanges nicht unterschätzt werden sollte. Christian Müller (Zittau) (SPD): Die Bundesregie- rung hat soeben noch einmal Notwendigkeit und Inhalt Jedenfalls führen staatliche Regelungen in diesen und der vorgesehenen Änderung des Außenwirtschaftsgeset- anderen Ländern nicht dazu, dass Fusionen und Ver- zes begründet. Eine politische Reaktionsmöglichkeit auf käufe von Anteilen behindert werden. Auch hier bei uns anstehende Veräußerungen von rüstungspolitisch sensi- geht es am Ende darum, einen präventiven Mechanismus blen Unternehmen, zu denen auch Hersteller von Anla- zu haben, der im gegebenen Fall zu einem Dialog zwi- gen zu ebenso sensibler Kommunikation gehören, an ge- schen Wirtschaft und Behörden führen wird und muss bietsfremde Erwerber ist angesichts der jüngerenund auf den Erhalt von Sicherheit, Technologie und Ar- Erfahrungen, die sich mit den Stichworten „MTU“ oder beitsplätzen zu richten ist. „HDW“ verbinden, offenbar notwendig. Hinsichtlich des Eingriffsverfahrens haben wir zuletzt In der Anhörung vom 26. April 2004 wurde dazu sei- alternativ über das vorgesehene Genehmigungsverfahren tens des Instituts für Sicherheitsstudien der Europäi-in Relation zu einer Meldepflicht mit Verbotsmöglich- schen Union hervorgehoben: keit intensiv diskutiert. Wenn eine derartige Regelung auf einen seltenen Ausnahmefall zielt, ist letztendlich Die geplante Neuregelung sichert … Mitsprache auch die Wirkung beider Verfahren ähnlich. Rechtstech- beim Zugriff auf nationale wehrtechnische Kern- nisch ist beides möglich, ein Genehmigungsverfahren kompetenzen. Letztere sind die Voraussetzung da- liegt allerdings in der Systematik des Außenwirtschafts- für, deutsche Interessen bei der Entwicklung einer rechts und stellt als „Genehmigung“ einen positiven Vor- europäischen Rüstungspolitik einbringen zu kön- gang im Verhältnis zu einem „Verbot“ dar. Abgesehen nen. … Das gilt auch hinsichtlich der Rolle der davon fiel die dazugehörige Entscheidung letztendlich Bundesrepublik beim Aufbau der ESVP. nach einem Abwägungsprozess in Bundesregierung und Auch wenn industrielle Zusammenschlüsse undKoalition. Ich selbst hätte mir allerdings auch den ande- Übernahmen vor allem wirtschaftlich Sinn machen müs- ren Weg sehr gut vorstellen können. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9877

(A) Der weiter gefasste Geltungsbereich der gesetzlichen vom Tisch gefegt hat. Schade, dass Rot-Grün sich kei-(C) Änderung – Rüstungsgüter – im Verhältnis zu dem der nen Ruck gegeben hat und den Sachargumenten und AWV – Kriegswaffen – wurde von der Bundesregierung Empfehlungen der Sachverständigen nicht gefolgt ist. begründet. Die im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit am Mittwoch festgehaltene Protokollnotiz regelt rechts- Die Union wird den Gesetzentwurf, über den heute verbindlich im Rahmen einer Gesamtabwägung die not- abgestimmt werden soll, aus folgenden Gründen ableh- wendigen Einschränkungen für Unternehmen, die in ge- nen: ringem Umfang andere Rüstungsgüter herstellen. Erstens. Die deutschen wehrtechnischen Unterneh- Zitat: men sind angesichts des seit 1990 dramatisch ge- schrumpften nationalen Rüstungsmarktes auf internatio- Bei einer möglichen Ausweitung der Genehmi-nale Kooperationen und Verflechtungen auch über gungspflicht des § 52 AWV auf Unternehmen, die internationale Kapitalbeteiligungen angewiesen. Anders andere Rüstungsgüter als Kriegswaffen herstellen lassen sich keine leistungsfähigen wehrtechnischen Ka- oder entwickeln, berücksichtigt der Verordnungsge- pazitäten in Deutschland erhalten. Wir halten dies aber ber im Rahmen einer Gesamtabwägung neben der nur durch verstärkten Rüstungsexport in Kooperation Bedeutung dieser Wirtschaftsgüter für die nationa- mit unseren europäischen Partnern für möglich. Leider len Sicherheitsinteressen auch technologisches Ni- ist dies dank des geplanten Genehmigungsvorbehaltes, veau sowie ihren Anteilan der Gesamtproduktion der wie die ohnehin schon vorhandene restriktive deut- der betroffenen Unternehmen. sche Rüstungsexportgenehmigungspolitik – inklusive Endverbleibsklausel – das falsche Signal setzt, nicht so Erich G. Fitz (CDU/CSU): Wir diskutieren heute in einfach. Wir sind der Auffassung, dass eine behördliche zweiter und dritter Lesung über einen Gesetzentwurf,Kontrolle von Unternehmensbeteiligungen weder zur von dem wir nach der Anhörung vom 26. April glaubten Existenzsicherung der wehrtechnischen Industrie bei- und glauben konnten, ihn in dieser Form nicht wieder trägt noch fehlende Aufträge ersetzt. auf den Tisch zu bekommen. Denn die Anhörung des Zweitens. Erschwert würden zudem multinationale Wirtschaftsausschusses hat eindrucksvoll die von derund transatlantische Joint Ventures, was zwangsläufig zu Union von Beginn an vertretene Position bestätigt, dass Beschränkungen im Handels- und Investitionsbereich die von der Bundesregierung vorgesehene Einführung führt. Ein Sachverständiger nannte das Gesetz gar eine eines Genehmigungsvorbehaltes für den Erwerb vonLex Antiamericana. Dies schadet der Attraktivität des Rüstungsunternehmen und Unternehmen der Krypto-Industriestandortes Deutschland und trägt auch nicht wirtschaft durch gebietsfremde Erwerber der falschedazu bei, technologische Kompetenzen am Standort (B) Weg ist. Deutschland zu halten. (D) Die Sachverständigen waren sich nahezu einig, dass Drittens. Planwirtschaft hilft der deutschen Rüstungs- das Ziel der Sicherheitsvorsorge auch durch das mildere industrie nicht weiter. Wohin zu viel Einmischung füh- Mittel einer Meldepflicht zu erreichen und die geplante ren kann, zeigt das Beispiel Frankreich, das etwa in der Maßnahme weder geeignet noch erforderlich noch ange- Wehrtechnik penibel darauf achtet, Kernkompetenzen messen ist, Schlüsseltechnologien und die Kernfähig- national zu erhalten mit der Folge, dass sowohl im Mari- keiten der deutschen Rüstungswirtschaft zu erhalten.nebereich wie auch bei der Heerestechnik Unternehmen Eine generelle Genehmigungspflicht wurde zudem als existieren, die weder wettbewerbsfähig noch rentabel integrationshemmend und nicht geeignet bezeichnet, die sind. Rolle Deutschlands als aktiver Partner vor allem beim Aufbau der europäischen Sicherheits- und Verteidi- Natürlich besteht auch das Ziel der Union darin, gungspolitik zu fördern. wehrtechnische Kernfähigkeiten in Deutschland zu er- halten. Die geplante AWG-Änderung ist aber das falsche Unabhängig davon, dass die Union und eine Reihe Instrument. Was wir stattdessen brauchen, sind verbes- von Sachverständigen der Meinung waren, ein solches serte Rahmenbedingungen für die deutsche Rüstungsin- Gesetz sei überhaupt nicht nötig, schien es zwischenzeit- dustrie und die Förderung von Forschung und Entwick- lich auch so – das konnte man jedenfalls den Signalen lung. Wenn sich die Rahmenbedingungen für die von Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion entnehmen –, Rüstungsindustrie nicht verbessern, kann auch das von dass sich Regierung und Opposition auf eine Melde-der Bundesregierung geplante Gesetz einen Ausverkauf pflicht mit Verbotsvorbehalt einigen könnten. Eineder deutschen wehrtechnischen Industrie nicht aufhalten. solche Meldepflicht hätte den Charme gehabt, dass ei- Die Situation der Rüstungsindustrie verbessern würde nerseits die durch einen Genehmigungsvorbehalt ge-zum Beispiel eine Erhöhung der Forschungsmittel; denn schaffene starke Reglementierung weggefallen wäre,Forschungs- und Entwicklungsmittel entscheiden nicht andererseits aber auch Eingriffsmöglichkeiten seitenszuletzt über unsere Partnerschaftsfähigkeit. In Frank- der Bundesregierung im Bedrohungsfall möglich gewe- reich und Großbritannien zielt die militärische For- sen wären. Irgendwann in der Zeit zwischen der Anhö- schung viel stärker auch auf das Sichern von Ex- rung und der gestrigen Ausschusssitzung muss die SPD- portchancen. Da haben wir in Deutschland noch großen Bundestagsfraktion offenbar einen Querschuss vonseiten Nachholbedarf. des kleineren Koalitionspartners erhalten haben, der den zum Greifen nahe scheinenden Kompromiss, nämlich Viertens. Europäische Lösungen müssen Vorrang vor eine Meldepflicht mit Verbotsvorbehalt einzuführen,nationalen Regelungen haben. Vorrangig muss die 9878 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Schaffung einer europäischen Rüstungsindustrie bzw. ei- zuführen, wie nur selten eine Anhörung dies zutage(C) nes europäischen Rüstungsmarktes sein. Dieses Ziel ist bringt. Dabei waren es nicht nur die betroffenen Kreise, jedoch nicht zuletzt deshalb gefährdet, weil das von der allen voran der BDI, sondern auch unabhängige, neutrale Bundesregierung vorgesehene Einspruchsrecht beiSachverständige, die Ihr Gesetzvorhaben verurteilten. Übernahmewünschen von Gebietsfremden, also auch von Firmen aus EU-Staaten, gelten soll. Wie man gleich- Nun haben Sie uns gestern im Ausschuss erklärt, ähn- zeitig betonen kann, das Gesetz richte sich gerade nicht lich wie bei den Exportgenehmigungen müsse nun auch gegen europäische Kooperationen, bleibt ein Geheimnis im AWG ein Genehmigungsvorbehalt enthalten sein. der Regierung. Der alles entscheidende Grund dafür sei die Rechtssyste- matik. Wenn Sie dies einem Unternehmer erzählen, der Wie sehr sich die Schaffung eines europäischen Rüs- vor der Entscheidung steht, eine Beteiligung einzugehen tungsmarktes gerade in Zeiten knapper europäischeroder ansonsten sein Geschäft aufzugeben, dann passen Haushalte lohnen würde, belegt die Studie des britischen Sie auf, dass man Sie nicht für verrückt erklärt. Rechts- Wirtschaftswissenschaftlers Keith Hartley, wonach ein systematik ist wichtig, aber Sie entscheiden hier letzt- liberalisierter Rüstungsmarkt mit einer europäischen Be- endlich über Gesetze, die direkte Nachteile für die Wirt- schaffungsagentur helfen könnte, Kosten von bis zuschaft bedeuten. Dies verdeutlicht für mich Ihr völlig 15 Milliarden Euro im Jahr zu sparen. Wir fordern die verfehltes Gespür für wirtschaftliche Zusammenhänge. Bundesregierung daher auf, sich verstärkt für den Auf- Dass Sie uns dann trotzdem überzeugen wollen, Ihr Han- bau eines europäischen Rüstungsmarktes einzusetzendeln diene Sicherheits- und Verteidigungsinteressen und und aktiv in der Arbeitsgruppe zur Gründung der EU- Sie bezweckten, wehrtechnische Spitzentechnologie im Rüstungsagentur mitzuwirken. Dort werden Antworten Lande zu halten, wirkt nur noch wenig glaubwürdig. auf die entscheidenden Herausforderungen der Zukunft erarbeitet, nämlich Antworten auf die Entwicklung ge- Ein weiteres Problem wird die Reichweite des rot- meinsamer Verteidigungsfähigkeiten, die Rüstungskoo- grünen Gesetzesentwurfes sein. Es ist zum jetzigen Zeit- peration und Stärkung der industriellen und technologi- punkt nicht auszuschließen, dass Zulieferbetriebe und zi- schen Basis in Europa, die Schaffung vile Unternehmen, eines die in geringem Umfang militärisch wettbewerbsfähigen europäischen Marktes für die Ver- nutzbare Produkte herstellen, dem Genehmigungsvorbe- teidigungsindustrie und die Förderung von Forschung halt unterliegen werden. Für das Thema „Dual Use“ for- und Entwicklung. Nur EU-Lösungen bieten Europa si- dere ich Sie zu noch größerer Klarheit auf. cherheitspolitische Unabhängigkeit. Deshalb müssen na- tionale Alleingänge, wie Sie sie wünschen, vermieden Ihre Rüstungspolitik ist auch vom Grundansatz her werden. durchweg widersprüchlich. Beim Thema Rüstungsex- (B) porte reden schon Ihre eigenen Genossen von einer Lo- (D) Wir fordern die Bundesregierung auf, den Gesetzent- ckerung der restriktiven Handhabung. Sowohl Herr wurf zurückzuziehen, weil dadurch weder die Sicher- Arnold als auch Herr Gloser forderten im „Handelsblatt“ heitsbedürfnisse befriedigt noch die Probleme am der 11. September 2003 eine lockerere Haltung. Es ist deutschen Rüstungsindustrie gelöst werden können.also nicht nur der Union und dem BDI bewusst, dass die Vielmehr nimmt der Staat den verbliebenen Rüstungsun- deutsche Wehrindustrie an der unteren Grenze der Exis- ternehmen jeglichen Spielraum, sich in einem globalisie- tenzsicherung angekommen ist. Denn Ihre Politik lässt renden und von Unternehmenszusammenschlüssen ge- deutsche Rüstungsfirmen ausbluten. prägten Umfeld zu positionieren. Im Übrigen setzt das geplante zusätzliche Genehmigungsverfahren außen- Dass Sie nun mit der Änderung des AWG unsere Rüs- wirtschaftspolitisch ein Signal, das dem Ziel der vontungsindustrie mit einem erneuten Schutzwall umgeben, Rot-Grün verabschiedeten Außenwirtschaftsoffensive kann man nicht mehr nachvollziehen. Die Lage ist näm- widerspricht. Eine Einigung auf eine Meldepflicht für lich schon ernst genug: Sie haben den Verteidigungs- ausländische Interessenten wäre eine praktikable Alter- haushalt derart zusammengekürzt, dass der Posten für native gewesen. Schade, dass Rot-Grün so bockbeinig Forschung und Entwicklung bald nur noch unter „ferner war. liefen“ zu finden ist: 2003 gaben Sie hierfür 220 Millio- nen Euro aus und dieses Jahr stehen gerade einmal 19 Millionen Euro mehr zur Verfügung. Die USA ste- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Heute wird trotz aller Verhinderungs- und Verbesserungsversuche dercken hingegen 62,8 Milliarden Euro in die militärische Opposition eine Änderung des Außenwirtschaftsgeset- Forschung und Entwicklung. Die Äußerung des Kolle- zes, AWG, mit den Stimmen der Regierungskoalition be- gen Arnold im „Handelsblatt“ am 12. Dezember 2003 schlossen. Dies stimmt mich sehr ärgerlich und zerstört klingt da wie Hohn: „Die Forschung ist der Schlüssel für meinen Glauben in Ihre Politik vollends. Meine Damen die Bewahrung der technologischen Fähigkeiten der und Herren, die Bundesregierung legt hier einen völlig Rüstungsindustrie“. Sie statten die Bundeswehr mit Ma- falschen Patriotismus an den Tag und sie ist sich über die terial aus, das Sie bald nur noch in Museen finden wer- mittel- und langfristigen Konsequenzen ihres Handelns den, und Sie verkünden regelmäßig neue Kürzungspläne überhaupt nicht im Klaren. im Verteidigungshaushalt. Wenn man aber derartig Ver- teidigungspolitik betreibt, ist es kein Wunder, dass die Im Vorfeld zu diesem Gesetz haben wir eine Anhö- deutsche Rüstungsindustrie allein mit inländischen Auf- rung durchgeführt, die so eindeutig zu einem Ergebnis trägen nicht überlebensfähig ist. Wer sich dann noch da- führte, nämlich einen Genehmigungsvorbehalt nicht ein- rüber wundert, dass unsere Unternehmen das gefundene Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9879

(A) Fressen für ausländische Firmen sind, der glänzt mittun. Wir befinden uns vielmehr in guter internationaler(C) wirtschaftlicher Naivität. Gesellschaft. Die USA, Frankreich, Großbritannien, Ita- lien – alle haben bereits auf die ein oder andere Art und Ihr Gesetz hält die Hand vor die Augen, die eigentlich Weise ihre Industrie vor Übernahmen geschützt. Wir wa- sehen sollten, dass wir in Zeiten zunehmender europäi- ren die letzte Nation mit bedeutender Rüstungsindustrie, scher Rüstungskooperationen leben. Ihr Genehmigungs- die keine Handlungsfähigkeit bei der Kollision wirt- vorbehalt ist der Deckel auf eine Schwachstelle in der schaftlicher mit sicherheitspolitischen Interessen besaß. deutschen Industrie. Sie machen es nur noch schlimmer. Durch die ohnehin schon restriktive Handhabung des Dabei wird auch gerne übersehen, dass die Besonder- AWG sind wir im Rüstungssektor bereits jetzt häufigheiten dieses Marktes bei weitem nicht immer zum zweiter Sieger. Mit dieser Regelung nehmen Sie den ver- Nachteil der deutschen und europäischen Rüstungsin- bliebenen Rüstungsunternehmen jeglichen Spielraum, dustrie ausfallen. Bei der Beschaffung ist doch die Über- sich in einem globalisierenden und fusionierenden Um- lebensfähigkeit der deutschen und europäischen Rüs- feld zu positionieren. Stattdessen sollten Sie die deut- tungsindustrie ein Argument, das oft, wenn nicht sogar schen Rüstungsunternehmen wettbewerbsfähig machen nach meiner Meinung zu oft, eine bedeutende Rolle und deren strategische Ausrichtung am internationalen spielt. Tiger, Eurofighter, Meteor, Iris-T, A 400 M – die Markt fördern. Doch mit Planwirtschaft und neuen büro- Aufzählung lässt sich beliebig verlängern, und niemand kratischen Regelungen für die Industrie schlagen Sie den will behaupten, dass die gewählte Lösung nur aufgrund Sargnagel nur noch tiefer hinein. Was nützt ein Verbot militärischer Anforderungen oder Wirtschaftlichkeitser- internationaler Zusammenschlüsse, wenn national nicht wägungen zustande gekommen ist. für Ausgleich gesorgt wird? Der einzige Schutz, den die Zweitens. Manchmal wurde in der Debatte so getan, deutsche Rüstungsindustrie benötigt, ist der Schutz vor als würde der Verkauf von Unternehmensanteilen in dieser rot-grünen Bundesregierung. Deutschland generell verboten. Das ist Unsinn. Es geht hier um einen rechtlichen Hebel, mit dem die Ministe- Ich fordere Sie auf, lösen Sie Ihre überholten Moral- rien im Notfall intervenieren können. Eine Entschei- probleme und schauen Sie konstruktiv in die Zukunft. dung, inwieweit durch die Veräußerung von Unterneh- Dieses Gesetz sollten Sie umgehend zurückziehen, es mensanteilen nationale Sicherheitsinteressen berührt schafft lediglich nachteilige nationale Alleingänge.sind, ist stark von der jeweiligen Situation abhängig. Die Schaffen Sie stattdessen einen einheitlichen europäi-Schwarzmalerei ist unsachlich. Es wird immer um Ein- schen Rüstungsmarkt, erhöhen Sie die wehrtechnischen zelfallentscheidungen gehen. Investitionen und schaffen Sie Arbeitsplätze durch Teil- nahme am freien Wettbewerb! Europäische Zusammenarbeit und europäische Fusio- (B) nen wird es auch in Zukunft geben. Ich befürworte die(D) europäische Zusammenarbeit ebenso wie den weiteren Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ausbau europäischer Strukturen zu einer gemeinsamen Wir beschließen heute den Antrag zur Änderung des Au- Beschaffungspolitik. Dass demnach bei einer Entschei- ßenwirtschaftsgesetzes. Dabei geht es um die Schaffung dung über einen Erwerb durch einen europäischen Inves- der rechtlichen Voraussetzungen, den Erwerb von natio- tor ein anderer Maßstab anzuwenden ist als bei einem nalen Rüstungsunternehmen zum Schutz unserer we-durch einen nicht EU-Investor, versteht sich doch von sentlichen Sicherheitsinteressen beschränken zu können. selbst. Rot-Grün wird sich auch in Zukunft für eine Stär- Bisher konnte der Erwerb wesentlicher Anteile unserer kung der europäisch-koordinierten Rüstungsindustrie Rüstungsindustrie von ausländischen Firmen selbst in und Beschaffung einsetzen. Eine europäische Sicher- dem Falle, dass Sicherheitsinteressen gravierend betrof- heitsstruktur ist ebenso wie die OCCAR ein Baustein in fen wären, nicht verhindert werden. Das wird sich nun diese Richtung und wird auch von uns unterstützt. Ich ändern. bin auch der Meinung, dass wir eine echte europäische In der Debatte muss man meines Erachtens zweiRüstungsagentur benötigen, die Kompetenzen einge- räumt bekommt, die über reine Koordination hinausge- Punkte beachten: hen, und unterstütze insofern auch die Forderungen der Erstens. Der Bereich der Rüstungsindustrie ist kein Industrie. Die Definition deutscher Kernfähigkeiten der „normaler“ Wirtschaftszweig. Wir können den Handel Rüstungsindustrie ist ein weiterer Baustein, der in Zu- mit Kriegswaffen und Rüstungsgütern nicht dem freien kunft die Entscheidung über die Berührung unserer Si- Spiel des Marktes überlassen. Ebenso wenig können wir, cherheitsinteressen vorhersehbarer macht. wenn deutsche Sicherheitsinteressen betroffen sind, dem Nach der öffentlichen Anhörung vor dem Wirt- Verkauf ganzer Rüstungsunternehmen tatenlos zusehen. schaftsausschuss am Montag letzter Woche wurde die Mit dem Hinweis auf Arbeitsplätze und Technologie Frage diskutiert, ob statt des Genehmigungsvorbehalts fordert die deutsche Industrie von der Bundesregierung eine Mitteilungspflicht mit Widerrufsvorbehalt für alle oftmals industriepolitische Entscheidungen – überspitzt Beteiligten besser wäre. Abgesehen davon, dass die Vor- gesagt: „Buy German“ oder „Buy European“. Wenn wir schläge einzelner Industrievertreter reichlich spät vorge- legt wurden, lautet die Antwort: nein. durch – auch – industriepolitisch motivierte Beschaffun- gen mit staatlichen Mitteln diesen Bereich unterstützen, Die betroffene Rüstungsindustrie steht auf dem dann erwächst daraus auch eine Verpflichtung anders- Standpunkt, dass eine Mitteilungspflicht die Interessen herum. Mit Planwirtschaft oder nationalem Alleingang der Regierung im selben Maße schützt wie der vorgese- haben die neuen Regelungen schon deshalb nichts zuhene Genehmigungsvorbehalt. Dies ist aber nicht der 9880 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Fall. Die Mitteilungspflicht hätte die Regierung im Der von der Bundesregierung vorgelegte und dennoch (C) Zweifelsfall in eine juristisch unsicherere Situation ge- heute unverändert zu beratende Gesetzentwurf wurde bracht. Ich habe vollstes Verständnis, dass die Industrie von den Sachverständigen nahezu einmütig als unzurei- versucht hat, den Gesetzesentwurf abzumildern, da sie chend, unverhältnismäßig und nicht zielführend bewer- jede potentielle Einmischung des Staates in die unter- tet. Deshalb haben wir Liberale Lernbereitschaft seitens nehmerische Freiheit verhindern möchte. Ein umso grö- der Bundesregierung vorausgesetzt und erwartet, dass ßeres Kompliment ist dafür jenen zu machen, die – im der Gesetzentwurf überarbeitet würde und insbesondere Gegensatz zur anfänglichen Taktik des BDI – bis zuletzt die beiden strittigen Punkte des Genehmigungsvorbehal- versucht hatten, sich konstruktiv einzubringen. Die Koa- tes und des Anwendungsbereiches milder und weniger lition musste in dieser Frage aber eindeutig bleiben. eingriffsintensiv ausgestaltet würden. Diese Hoffnung wurde jedoch enttäuscht, was wohl in erster Linie der Die entscheidende Frage – da sind wir uns wohl alle mir völlig unverständlichen Haltung der Grünen in die- einig – ist, ob ein Unternehmensverkauf tatsächlich un- ser Frage geschuldet ist. Offenkundig bestimmen in der sere Sicherheitsinteressen beeinträchtigt. Wenn nein,Bundesregierung nach der Abdankung von Bundeskanz- wird die Genehmigung auch erteilt werden, wenn ja, darf ler Schröder als Parteivorsitzenden die Grünen mittler- die Beschränkung keinen unnötigen juristischen Unwäg- weile die Richtlinien der Politik, wie in der Zuwande- barkeiten unterworfen sein. Die entscheidende Fragerungsfrage so auch hier. wird die Genehmigungspraxis sein, nicht die juristische Konstruktion des Beteiligungsverfahrens. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal kurz darstellen, welche beiden Punkte im vorliegenden Ge- Auch wenn die Industrie der Meinung ist, die Mit-setzentwurf von der Fraktion der FDP – und, soweit ich teilungspflicht wäre verhältnismäßiger: Schon alleinesehe, auch von der CDU/CSU – im Besonderen kritisiert durch die Möglichkeit, die Genehmigung unter Auflagen werden und den Ausschlag für unsere Ablehnung geben: zu erteilen, würde dem Ministerium ein wichtiges Instru- Investitionen ausländischer Investoren in deutsche ment fehlen, um gerade eine verhältnismäßige Entschei- Wehrtechnikunternehmen werden durch das vorlie- dung zu treffen. Die Ansicht, bei einer Mitteilungspflicht gende Gesetz unverhältnismäßig erschwert. Die Ausfuhr würde man sich im Vorfeld schon einvernehmlich eini- technologischer Industrieprodukte deutscher Unterneh- gen, hat den Reiz, dass sie praktisch vielleicht funktio- men außerhalb des engen Kreises der Produzenten von nieren würde. Im Zweifel begeben wir uns aber wieder Kriegswaffen wird weiter behindert. in juristisch turbulentes Fahrwasser. In dieser Hinsicht waren auch die Stellungnahmen durch das BMWA und Gegen den ausdrücklichen Rat der Experten hält die AA eindeutig. Wobei auch bei einem Verfahren mit Ge- Bundesregierung an der Einführung eines Genehmi- (B) nehmigungsvorbehalt den Betroffenen keineswegs ge- gungsvorbehaltes fest und entscheidet sich damit gegen (D) nommen ist, sich auch in Zukunft weiter vorher mit den das weniger eingriffsintensive, aber ebenso wirksame In- Ministerien an einen Tisch zu setzten – hierzu kann ich strument der Meldepflicht mit Einspruchsmöglichkeit. nur weiterhin ermutigen. Bundeswehr und deutsch-euro- Diese Meldepflicht erfüllt in der Praxis den gleichen päische Rüstungsindustrie werden auch in Zukunft gut Zweck, schafft weniger Unsicherheit und ist vor allem zusammenarbeiten, da bin ich mir sicher. die unbürokratischere Lösung. In der Regel werden sich ausländische Investoren ohnehin um das Wohlwollen der Bundesregierung im Falle von Beteiligungen oder gar Gudrun Kopp (FDP): Das grundsätzliche Ziel des Übernahmen deutscher Unternehmen bemühen, da die vorliegenden Gesetzes, nämlich wehrtechnische Kernfä- öffentliche Hand – sprich die Bundeswehr – in den meis- higkeiten und Kompetenzen in Deutschland zu erhalten, ten Fällen einen maßgeblichen Großkunden derartiger war im Verlauf der parlamentarischen Beratungen nie Betriebe darstellt. Insofern liegt es in ihrem ureigensten strittig. Im Interesse unserer Sicherheit und der damitInteresse, keine verdeckten oder unfreundlichen Über- verbundenen Arbeitsplätze im Rüstungssektor gab und nahmen gegen den Willen der Regierung durchzusetzen. gibt es fraktionsübergreifende Übereinstimmung, dass es Im Übrigen ist völlig unklar, wie Sie eigentlich bei grö- hier bestimmter Vorkehrungen bedarf, um zu vermeiden, ßeren börsennotierten Unternehmen feststellen wollen dass technologisches Know-how, das häufig nur durch bzw. wie diese selbst feststellen können, ob ein ausländi- die Bereitstellung öffentlicher Mittel im Rahmen derscher Investor die Genehmigungsschwelle von 25 Pro- Rüstungsbeschaffung der Streitkräfte erworben werden zent überschritten hat. Deshalb ist der hier von Ihnen konnte, ins Ausland abwandert. vorgesehene Genehmigungsvorbehalt schlicht unsinnig. Dass dieser von allen Fraktionen getragene Grund- Was die Ausweitung des Gesetzes auf Unternehmen, satzkonsens von der Bundesregierung nunmehr aufge- die nicht nur reine Kriegswaffen, sondern auch Rüs- kündigt wurde, ist sehr bedauerlich. Die Bundesregie- tungsgüter im weiteren Sinne herstellen, angeht, so er- rung hatte im Verlauf der Beratungen den Eindruckscheint uns Ihr Beharren auf der ursprünglichen Rege- vermittelt, dass sie durchaus zu Änderungen ihres Ge- lung nachgerade fatal. Es ist völlig unverhältnismäßig, setzentwurfs bereit gewesen wäre, um diesen Konsens dass Sie jetzt über die reinen Kriegswaffen hinaus auch zu erhalten. Nicht zuletzt deshalb wurde ja schließlich andere Unternehmen mit einbeziehen. Da hilft uns auch auch die Anhörung im Wirtschaftsausschuss durchge- keine Protokollnotiz aus dem Wirtschaftsausschuss, mit führt. Dass Ergebnis dieser Anhörung war dabei mehr der Sie die betroffenen Unternehmen beruhigen wollen, als eindeutig: der Verordnungsgeber würde schon eine verträgliche Lö- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9881

(A) sung herbeiführen. Wenn das so klar ist, dann schreiben reicht bei weitem nicht, um Versprechen aus den rot-grü- (C) Sie es doch in das Gesetz! nen Koalitionsvereinbarungen einzulösen. Und es reicht schon gar nicht, um alle Rüstungsexporte strengen Kon- Zu unserem Bedauern also müssen wir als FDP-Frak- trollen zu unterwerfen, sie einzuschränken und letztlich tion im Deutschen Bundestag das vorliegende Gesetz ab- abzuschaffen. lehnen. Dies ist schade, weil in dieser wirtschafts- und sicherheitspolitisch sensiblen Frage ein überfraktioneller Konsens wünschenswert und auch erreichbar gewesen Dr. Ditmar Staffelt (Parl. Staatssekretär beim Bun- wäre. Offenkundig aber ist dies am gegenwärtigen Zu- desminister für Wirtschaft und Arbeit): Mit dem vorlie- stand der Koalition gescheitert. genden Entwurf eines 11. Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes und der Außenwirtschaftsver- ordnung verfolgt die Bundesregierung das Ziel, die Petra Pau (fraktionslos): Das Außenwirtschafts- nationalen Sicherheitsinteressen und die internationale gesetz soll geändert werden. Vereinfacht gesagt, soll der Handlungsfähigkeit Deutschlands im Rüstungsbereich Verkauf deutscher Rüstungsunternehmen erschwert wer- zu stärken. den. Ausländische Käufer brauchen künftig eine zusätz- liche Genehmigung und die deutsche Regierung erhält Mit der Einführung der Genehmigungspflicht für den ein Vetorecht, wenn eigene Interessen betroffen werden. ausländischen Erwerb von deutschen Unternehmen, die Dem kann die PDS grundsätzlich zustimmen, auch wenn Kriegswaffen oder Kryptosysteme Herstellen, wird si- der Teufel wie immer im Detail steckt. Aber da wir ge- chergestellt, dass eine staatliche Einflussnahme und da- gen Rüstungsexporte sind, sind wir natürlich auch gegen mit eine notwendige politische Reaktionsmöglichkeit den Export von Rüstungsexporteuren. Also befürworten besteht, wenn wesentliche Sicherheitsinteressen oder die wir alles, was Rüstungsexporte erschweren oder hem- militärische Sicherheitsvorsorge beeinträchtigt werden. men könnte. Durch die Neuregelung werden die sicherheitspoliti- schen Ziele, insbesondere die sicherheits- und verteidi- Eine andere, aber zwingend folgende Frage ist, ob das gungspolitische Kooperationsfähigkeit Deutschlands im modifizierte Gesetz wirklich dazu beiträgt, Rüstungs- EG- und NATO- Bereich und die Versorgungssicherheit exporte zu beschränken, mehr noch, ob die Beschrän- der Streitkräfte, gestärkt. Zugleich wird die Koopera- kung von Rüstungsexporten mit diesem Gesetz wirklich tionsfähigkeit der deutschen wehrtechnischen Industrie beabsichtigt wird. Die großen Rüstungsunternehmenunterstützt. sind längst internationalisiert. Sie entziehen sich ver- meintlich deutschen Interessen und liegen auch außer Um auf sicherheitspolitischem Terrain international Reichweite dieses Gesetzes. National kontrolliert wer- eine Rolle spielen zu können, muss Deutschland in der (B) den nur die Heeresausrüster, Teile des MarinesektorsLage sein, eigenes wehrtechnisches Potenzial als „Mit- (D) und ein kleiner Teil der Luft- und Raumfahrtindustrie. gift“ einzubringen. Deutschland muss über quantitativ und qualitativ hochwertige Rüstungskapazitäten und Das ist mehr als nichts, aber es wirft die nächste Frage technologische Fähigkeiten verfügen, um als gleichbe- auf: Warum wird der Begriff „militärische Sicherheit“ so rechtigter Partner an der Gestaltung und Umsetzung ei- eng, materiell definiert? Warum umfasst er nicht ebenso ner Rüstungszusammenarbeit im Rahmen der europäi- Patente oder Kapazitäten für biologische Waffen? Man schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mitwirken kann doch nicht ernsthaft ständig große Gefahren be-zu können. Durch einen sonst möglichen Ausverkauf der schwören und, wenn es wirklich ernst wird, deutschen den wehrtechnischen Industrie würde der interna- Schwanz einziehen. Besonders glaubwürdig ist dastionale Stellenwert Deutschlands im militärischen und nicht. Ich glaube übrigens auch nicht, dass das unterneh- sicherheitspolitischen Bereich in hohem Maße beein- mensfreundliche Wirtschaftsministerium wirklich einträchtigt. guter Feuermelder ist, wenn es darum geht, Unterneh- mensinteressen zurückzudrängen. Mit der vorgesehenen Gesetzesänderung werden die Handlungs- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Sie wissen sicher, dass esauch andere Interpretatio- Rüstungs- und Kryptoindustrie einerseits und nationale nen über den Sinn und Zweck dieses Gesetzes gibt.Sicherheitsinteressen andererseits ausgewogen berück- Demnach geht es nicht darum, Rüstungsexporte wirklich sichtigt. Zudem wird ein Handlungsrahmen geschaffen, zu begrenzen. Es geht darum, einen Fuß in der Tür zu der in vielen anderen Ländern – etwa USA, Frankreich, haben, falls sich Rüstungsgrößen an „deutschen Interes- Großbritannien und Spanien – bereits geltendes Recht sen“ vorbei formieren. Das hätte sogar eine innere Lo- ist. Wir begeben uns in diesem Bereich also lediglich auf gik. Die EU soll hochgerüstet werden. Das ist Programm das Niveau der in den befreundeten Ländern – USA, und soll sogar als Pflichtaufgabe in die EU-Verfassung. Großbritannien, Frankreich und Spanien – existierenden Ergo gibt es genügend deutsche Unternehmen, die daran Instrumente. mitverdienen wollen, und es gibt ein deutsches Interesse, dabei zu sein. Das ist nicht unser Interesse, nicht das der Es sind folgende Regelungen vorgesehen: Erweite- PDS. Aber genau diese Annahme lässt der vorliegende rung des Sicherheitsbegriffs im Außenwirtschaftsgesetz Gesetzentwurf zu. sowie Schaffung einer Ermächtigung zur Einführung ei- nes Genehmigungsvorbehalts für die Übernahme von Das vorliegende Gesetz kann also bestenfalls ein Auf- deutschen Rüstungs- bzw. Kryptounternehmen durch takt für weit reichende Veränderungen des Außenwirt- Ausländer. Erfasst von der Regelung wird der Erwerb schafts- und Kriegswaffenkontrollgesetzes sein. Esvon in Deutschland ansässigen Unternehmen, die 9882 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Kriegswaffen nach der Kriegswaffenliste oder Güter der kommunikation und Informationstechnologie auf der Ta- (C) sensitiven Regierungskommunikation – Kryptosysteme – gesordnung des Deutschen Bundestages. entwickeln oder herstellen, durch im Ausland ansässige Unternehmen. Eine Genehmigung ist erforderlich, wenn Spam ist mehr als unerwünschte Werbe-E-Mails. das ausländische Unternehmen nach dem Kauf mindes- Spam-E-Mails sind oft auch noch Träger von Viren, tens 25 Prozent der Stimmrechte erhält. Würmern, Dialern und Trojanern. Spam wird zuneh- mend zur Bedrohung für die Wissensgesellschaft. Um den beteiligten Unternehmen schnellstmöglich Rechtssicherheit zu geben, gilt der Erwerb als geneh- Deswegen ist Spam zu Recht ein Thema für den migt, wenn binnen eines Monats keine anderweitige Ent- Deutschen Bundestag. Da sind wir uns mit CDU/CSU scheidung getroffen wird. Die Genehmigung muss beim als heutigem Antragsteller einig. Die Zahlen beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit beantragt Thema Spam sind bedrückend, die ungebrochene Dyna- werden. Das Ministerium entscheidet im Einvernehmen mik des Problems alarmierend. Waren 2001 weltweit nur mit dem Auswärtigen Amt und dem BMVg. Für dencirca 7 Prozent der E-Mails Spam, sind es 2004 schon Kryptobereich entscheidet zusätzlich das BMI. gut 50 Prozent. Und für 2006 rechnen Experten damit, dass wenigstens zweidrittel aller E-Mails weltweit Spam Zum Anwendungsbereich der Genehmigungspflicht sind. Die Zahlen für Deutschland sind – wenn überhaupt möchte ich Folgendes klarstellen: Die gesetzliche Er- – nur unmerklich besser. mächtigungsgrundlage im Außenwirtschaftsgesetz erfasst auch Unternehmen, die keine Kriegswaffen, sondern Gut 20 Prozent aller Spam-E-Mails sind nicht nur läs- sonstige Rüstungsgüter herstellen. Von dieser weiter ge- tig, sondern enthalten bereits Viren, Würmer, Trojaner henden Ermächtigungsgrundlage wird in der Ausfüllungs- und Dialer. Damit werden Millionen PCs und die Da- vorschrift der Außenwirtschaftsverordnung nur für Unter- teien darauf gefährdet. nehmen Gebrauch gemacht, die Kriegswaffen herstellen. Spam wirbt für illegale Inhalte wie zum Beispiel Ket- Die weiter gehende Ermächtigungsgrundlage ist erforder- tenbriefe. Pornographische und andere jugendgefähr- lich, um in Zukunft gegebenenfalls möglichst rasch durch dende Inhalte werden von den Spammern automatisiert eine Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf ver- und ohne Unterscheidung des Empfängers verschickt, änderte sicherheitspolitische Rahmenbedingungen reagie- auch Kinder sehen sie. Spammer verdienen nach Schät- ren zu können. zungen von Experten schon über 5 Milliarden Euro jähr- lich mit ihren illegalen Aktivitäten. Manche Massen- Eine mögliche Erweiterung des Anwendungsbe- Spammer sind längst zu Millionären auf Kosten von reichs der Genehmigungspflicht wird jedoch nur zielge- Millionen geworden. Alle durch Spam verursachten richtet unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeits- Kosten zusammengerechnet liegen wohl schon bei über (B) grundsatzes und der Belange der Wirtschaft erfolgen. (D) 20 Milliarden Euro. Alleine in Europa, und das jährlich. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit hat hierzu eine Aber diese dramatischen Zahlen alleine beschreiben das entsprechende Protokollerklärung abgegeben, die neben Problem Spam nur zum Teil. Wie sieht die Praxis an den den Sicherheitsinteressen auch das technologische Ni- PCs aus? veau der Produkte und ihren Anteil an der Gesamtpro- duktion der betroffenen Unternehmen angemessen be- In Unternehmen sinkt die Produktivität durch die rücksichtigt. Unternehmen, die Dual-Use-ProdukteÜberflutung der E-Mail-Postfächer. Die Dialer, Viren, herstellen, sind von der Gesetzesänderung nicht betrof- Würmer und Trojaner im Spam verseuchen Millionen fen. PCs im Land. Viele Privatleute und Kleinunternehmen sind mit den Folgen von Viren- und Würmerbefall Ihrer Mit dem Entwurf setzt sich die Bundesregierung da- PCs durch verseuchte Spamvöllig überfordert. Men- für ein, eine konkurrenzfähige und starke deutsche Rüs- schen mit geringer Nutzung des Internet finden fast nur tungsindustrie zu erhalten, die den Kern einer eng ver- noch Spam in ihren Postfächern. Viele Spam-Filter sper- netzten europäischen Verteidigungsindustrie zusammen ren in der Hitze des Gefechts auch einmal wichtige seri- mit anderen europäischen Partner bilden kann. öse E-Mails. Und zuletzt, mir aber auch am wichtigsten: Die Kin- Anlage 7 der, deren Medienkompetenz wir auch an den PCs för- dern wollen, werden mit jugendgefährdenden Inhalten Zu Protokoll gegebene Reden und verseuchten Spam überflutet. zur Beratung des Antrags: Spam effektiv be- Alles das führt zu einem sinkenden Vertrauen in die kämpfen (Tagesordnungspunkt 16) elektronischen Medien. Über die Hälfte der Menschen befürchtet schon, am PC ausspioniert zu werden. Viele Ulrich Kelber (SPD): Selten beschäftigt sich der misstrauen zunehmend der Sicherheit elektronischer Deutsche Bundestag mit Themen der Telekommunika- Kommunikation überhaupt. tion und Informationstechnologie. Viel zu selten ange- sichts der Wichtigkeit dieser Branchen und dieser Tech- Spam ist damit ein direkter Angriff auf die Wissens- nologien für unsere Gesellschaft und Wirtschaft. gesellschaft, auf E-Learning, E-Business und E-Govern- ment. Wir müssen diesen Angriff ernst nehmen. Er trifft Mit dem Antrag von CDU/CSU zu Spam steht heute mitten ins Herz vieler Innovationen unserer Gesell- aber wieder einmal ein Thema aus dem Bereich Tele-schaft. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9883

(A) CDU/CSU und SPD sind sich in der Beschreibung Die Einschätzung, ob weitere gesetzliche Maßnah-(C) des Problems einig. men notwendig sind, sind in der Fachwelt geteilt. Selbst die großen Internetprovider in Deutschland streiten sich Wir sind uns auch einig,dass Spam ein Thema für in dieser Frage. Innerhalb einer Woche habe ich von den Deutschen Bundestag und die Deutsche Bundesre- zwei solchen Unternehmen genau entgegengesetzte Stel- gierung zu sein hat, aber mit ihrem Antrag heute haben lungnahmen erhalten. Das macht es der Politik nicht ge- Sie es sich dann doch ein bisschen zu einfach gemacht, rade leichter, die richtigen Entscheidungen zu treffen. meine Damen und Herren von der Opposition. Diese Kritik müssen Sie sich gefallen lassen. Eines ist klar: Gesetze alleine können gegen die Spam-Flut nichts ausrichten. Sicherlich ist es besonders Sie haben nur einen Teil der notwendigen weiteren wichtig, die technologischen Maßnahmen gegen Spam Maßnahmen angesprochen, Sie haben sich nicht um die zu verbessern. Wir erwarten hier von den großen Hard- Umsetzung von Vorschlägen gekümmert, sondern nur ei- warefirmen, den großen Softwarehäusern und den Inter- nen allgemeinen Forderungskatalog aufgeschrieben. netprovidern zügige weitere Aktivitäten. Drei ihrer fünf Forderungen sind längst Realität, sie Sicherlich müssen die E-Mail-Nutzer verantwor- betreffen die internationale Kooperation und die Zusam- tungsvoller und informierter mit dem Medium umgehen. menarbeit mit der IT-Wirtschaft. Die beiden anderen be- Wer zum Beispiel seine E-Mail-Adresse für jedes kleine schreiben durchaus richtige Elemente für weitere gesetz- Gewinnspiel hinterlässt, muss sich nachher nicht über liche Maßnahmen, bleiben aber bruchstückhaft. die Spams an diese E-Mail-Adresse wundern. Wo ist denn ein Gesetzentwurf der Opposition für die Sicherlich müssen vor allem die nationalen Maßnah- nationalen Maßnahmen, die die Opposition jetzt fordert? men international besser abgestimmt werden. Für Spams Diese Mühen einer konkreten Umsetzung muss man sich gibt es keine Grenzen. Die Verfolgung der Spammer darf schon machen, wenn man sich nicht dem Verdacht aus- also auch nicht an den Grenzen eines Staates enden. setzen will, nur in Schlagzeilen zu denken, statt sich um die Lösung des Problems zu kümmern. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir auch wei- tere gesetzliche Schritte gegen Spam benötigen, gerade Deswegen lehnen wir den Antrag von CDU/CSU auch in Deutschland als einem der großen Telekommu- heute ab. Wir sind aber bereit zur gemeinsamen Arbeit nikations- und Informationstechnologiemärkte. Nur wer an konkreten Verbesserungen, die den Menschen wirk- national handelt, kann internationale Kooperationen ein- lich Hilfe bringen. fordern. Erste Vorschläge sind in der Koalition bereits in der Ich bin fest davon überzeugt, dass wir vor allem die (B) Beratung. Darauf werde ich noch eingehen. (D) Massen-Spammer strafrechtlich verfolgen oder zumin- Die EU-Kommission hat mit der Richtlinie zum Da- dest mit hohen Bußgeldern konfrontieren müssen. Das tenschutz bei der elektronischen Kommunikation alleRisiko für Spammer muss merklich steigen. Mitgliedstaaten aufgefordert, die Rechtswidrigkeit von Sie haben Anfang März in den Medien verfolgen kön- Spam gesetzlich klar zu regeln. Bis dahin hatte sich nen, dass einige SPD-Abgeordnete deswegen SPD-in- Rechtswidrigkeit von Spam aus verschiedenen Urteilen tern einen konkreten Gesetzentwurf eingebracht haben, deutscher Gerichte seit den 70er-Jahren ergeben. Jetzt der genau dies regeln soll. Dieser Gesetzesentwurf wird stellen wir die Definition von Spam auf eine gesetzliche nun zwischen den Berichterstattern und den Arbeits- Grundlage. gruppen diskutiert. Man muss da gar kein Versteckspiel Der Aufforderung der EU-Kommission kommtbetreiben, es gibt noch wichtige Fragen zu klären und es Deutschland durch die Novelle des Gesetzes gegen den gibt auch unterschiedliche Ansichten zum Thema! unlauteren Wettbewerb nach. In Zukunft hat jede Bürge- rin und jeder Bürger einen Unterlassungsanspruch gegen Einige fragen, ob man nicht zunächst abwarten sollte, Spam, können Unternehmen gegen Wettbewerber vorge- ob die Novelle des Gesetzes gegen den unlauteren Wett- hen, die Spam nutzen, können Gewinne durch Spam ein- bewerb nicht erfolgreich genug ist in der Bekämpfung gezogen werden etc. von Spam. Es ist noch nicht klar, wo ein neues Gesetz rechtstechnisch am besten implementiert werden könnte. Es gibt also schon jetzt durchaus konkrete Schritte ge- gen Spam in Deutschland von Seiten des Gesetzgebers. Zu Recht wollen einige klären, ob die vorgesehenen Und auch viele Provider handeln auf der technischenStrafen verhältnismäßig sind. Man muss sich fragen las- Ebene gegen Spam. sen, welche Behörden haben denn das richtige Know- how für die Verfolgung der Spammer. Dies und vieles Die entscheidende Frage für den Deutschen Bundes- anderes mehr ist zu bedenken, wenn es zu einem hand- tag als Gesetzgeber ist jetzt: Reichen diese ersten Maß- werklich guten und effektiven Gesetz kommen soll. nahmen gegen Spam? Sie sehen, dass ist ein bisschen mehr Arbeit, als ein- Die EU-Kommission hat im Januar alle Mitgliedstaa- fach nur einen Forderungskatalog in die Debatte einzu- ten aufgefordert, zusätzliche Schritte gegen Spam zu un- bringen. Nur solche konkreten Beratungen, nur entspre- ternehmen. Dabei ist insbesondere auch die Möglichkeit chende konkrete Beschlüsse helfen den Menschen benannt worden, Spammer mit Bußgeldern zu belegen wirklich. Alles andere wäre weiße Salbe gegen eine oder sogar strafrechtlich zu verfolgen. akute Bedrohung wie Spam. 9884 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Wie sehen aus Sicht eines Befürworters zusätzlicher Dies hat die Bundesregierung ignoriert, mit dem Er- (C) gesetzlicher Regelungen, wie ich es bin, notwendigefolg, dass sich unsere Vorhersage bestätigt hat und nun Elemente eines solchen Anti-Spam-Gesetzes aus? 0137er-Nummern und andere die meisten Gefahren für die Verbraucher darstellen. Diese Erfahrung sollten wir Dazu drei Beispiele: Schon der erste Versuch vonfür die Zukunft nutzen. Massen-Spam muss zu einer empfindlichen Strafe füh- ren. Die großen Provider werden helfen, die Massen- Wir haben deshalb in unserem Antrag vorgestellt, Spammer zu identifizieren. Einige sind uns ja schonwelches Maßnahmenbündel wir benötigen, um die Be- heute bekannt. Internationale Zusammenarbeit wird den kämpfung von Spams effektiv anzugehen. Wir müssen Druck weiter verstärken. die Regelungen, die mit der Bekämpfung von unlauteren Machenschaften im Zusammenhang stehen, auch im Zu- Wer sich durch falsche IP-Adressen und Header ver- sammenhang mit dem Gesetz gegen den Unlauteren steckt, mit irreführenden Betreff-Zeilen trickst oderWettbewerb (DWG) sehen, das vor Ostern in zweiter fremde Rechner für Spam nutzt, muss bestraft werden. und dritter Lesung verabschiedet wurde. Das Sammeln von E-Mail-Adressen durch so genannte „Ernte-Programme“ oder durch Ausprobieren von Buch- Hier hat man zwar das unverlangte Zusenden von stabenkombinationen sollte illegal werden. Diese beiden Spams als unzumutbare Belästigung und damit als un- Methoden wird für kein seriöses Geschäftsmodell benö- lauteres und verbotenes Wettbewerbsverhalten aufge- tigt. nommen. Dies entspricht auch dem gerade veröffentlich- ten Urteil des BGH – 11. März 2004 Az. I ZR 81/01 –, Spam ist für die Wissensgesellschaft wie eine Pest- der damit die unerwünschte Spam-Werbung der uner- epedemie. Wir brauchen das Zusammenspiel von verant- wünschten Telefon-Werbung gleichgestellt hat. Beides wortungsbewussten Nutzern, aktiver IT-Wirtschaft und ist aus Sicht der Verbraucher zu begrüßen. konsequenter Gesetzgebung, um diese Pest einzudäm- Aus der Unlauterkeit des unerwünschten Spammings men. folgt ein Unterlassungsanspruch. Zusätzlich ist ein Ge- Erste gesetzliche und technische Maßnahmen sind er- winnabschöpfungsanspruch eingeführt worden. Aber folgt. Ich bin fest davon überzeugt, dass weitere Schritte wie sieht es in der Durchsetzung aus? des Gesetzgebers notwendig sind, diese sollten im Deut- Die Voraussetzungen des Gewinnabschöpfungsan- schen Bundestag mit großer Mehrheit erfolgen. spruchs sind so streng – zulasten einer Vielzahl von Ab- nehmern –, dass es schwierig werden wird, diesen Ge- winnabschöpfungsanspruch mit Leben zu erfüllen. Ursula Heinen (CDU/CSU): Seit mehreren Jahren (B) wachsen die technischen Möglichkeiten zur Kommuni- Das Problem der Rechtsdurchsetzung fängt aber(D) kation enorm. Gerade das Internet bietet uns erhebliche meist schon früher an. Denn die Verbraucher, die Privat- Arbeitsvereinfachungen und Informationsmöglichkeiten personen, werden den möglichen Beklagten gar nicht an. Besonders in unserem Beruf wissen wir dies alle zu ausfindig machen können. Denn sehr häufig verstecken schätzen. sich die Spammer hinter gefälschten oder nicht existen- ten IP – oder Absenderadressen. Anmerkung: IP bedeu- Doch gleichzeitig wachsen die Probleme wegen zu- tet Internetprotokoll, das sind die 9 bis 10-stelligen Zah- nehmenden Missbrauchs, Betrügereien etc. an. Im letz- lenkombinationen, unter denen jede E-Mail-Adresse ten Jahr haben wir uns ausführlich mit den so genannten gespeichert ist. Dialern beschäftigt, den Mehrwertdiensterufnummern, dann mit unerbetener Telefonwerbung, mit der unerbete- Vor diesen Schwierigkeiten stehen Verbraucherver- nen Zusendung von sms – ein Thema, das wir im Übri- bände schon jetzt, wenn sie Unterlassungsklagen aus gen auch noch einmal beraten müssen! – und nun mittechnisch weniger komplizierten Bereichen, beispiels- den unerbeten zugesandten Mails, den Spams. Hunderte weise einem unlauteren Gewinnspiel, durchsetzen wol- von Spam-Mails erreichen uns tagtäglich. Nach einem len. Schwierigkeiten schon beim Ausfindigmachen des Wochenende sind das auf meiner E-Mail-Adresse mon- Absenders ergeben sich gerade dann, wenn Anbieter aus tags morgens fast 80 Prozent. dem Ausland unlauter agieren. Und wir müssen feststellen: Es handelt sich für den Die Verbraucher bzw. klagebefugten Verbraucherver- Gesetzgeber um eine komplizierte Materie, denn der ra- bände stehen im Ergebnis häufig mit leeren Händen da. sante technische Fortschritt lässt sich kaum in den lang- Das gute Recht des Verbrauchers ist dann nicht oder nur wierigen parlamentarischen Prozess einspeisen. Zudem mit extrem hohen Aufwand – der auch kostet – durch- müsste der Gesetzgeber immer einen Schritt schneller setzbar. sein bzw. weiter denken als diejenige, die wie hier beim Nicht durchgesetztes Recht ist aber wenig wert und Internet betrügen wollen. wäre schließlich auch für das Internet selbst als Platt- form für Handel und Kommunikation schädlich. Das In- An dieser Stelle möchte ich an das Gesetz zur Be- ternet lebt vom Vertrauen der Menschen. Wenn dieses kämpfung des Missbrauchs mit 0900er- und 0190er- Vertrauen verspielt wird, nimmt ein vielversprechender Nummern erinnern. Wir haben von Anfang an gesagt, Wirtschaftszweig Schaden. dass eine gesetzliche Vorgabe alle Mehrwertdiensteruf- nummern erfassen müsste, um nicht eine Gefahr der Ver- Weil wir meinen, dass das Internet als Plattform für lagerung des Missbrauchs hervorzurufen. Wirtschaft wie für Verbraucher unvermindert zur Verfü- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9885

(A) gung stehen sollte, fordern wir die Bundesregierung zu Spam-Mails erfordern entweder kostenträchtige Ab-(C) folgenden rechtlichen Verbesserungen auf: Die Verwen- wehrmaßnahmen oder absorbieren die ebenfalls teure dung nicht existenter oder verfälschter IP- oder Absen- Arbeitszeit der Mitarbeiter. Die Zahlen sind erschre- derangaben soll eine Ordnungswidrigkeit darstellen und ckend: Die EU-Kommission nimmt für 2002 einen Pro- mit Bußgeld bewehrt werden. Dieser Ordnungswidrig- duktivitätsverlust von 2,5 Milliarden Euro an. Das sind keitstatbestand soll auch die Beworbenen erfassen. Soll 2,5 Milliarden Euro, die Innovation und Fortschritt feh- heißen: Lässt sich der Absender nicht ausfindig machen, len. so kann auch der Hersteller des beworbenen Produktes Darüber hinaus schädigen Spammer insbesondere die haftbar gemacht werden. Internetserviceprovider, die ihren Kunden jederzeit den Wir meinen, dass die Einführung einer AndrohungVersand oder Empfang von E-Mails ermöglichen müs- von Bußgeld dringend notwendig ist, um den Miss-sen. Diese Unternehmen werden durch die Spammer brauch einzudämmen. Zivilrechtliche Regelungen allein dazu gezwungen, eine Infrastruktur vorzuhalten, die der reichen nicht, dies habe ich gerade ausgeführt. Wir wür- Welle des elektronischen Mülls gewachsen ist. Sie wer- den uns damit in die Reihe mit Italien, Dänemark oder den also gezwungen, teureInvestitionen vorzunehmen, Österreich stellen und damit die Front der aktiv gegen um ihren Kunden Botschaften zu übermitteln, die diese Spam angehenden Länder verstärken. gar nicht haben wollen. Investieren sie aber nicht, ver- stopft Spam ihre Infrastruktur und sie können die Leis- Diese Regelungen können damit letztlich zu deutlich tungen für ihre Kunden nicht erbringen – und dies nur mehr Transparenz führen. Denn nur hohe Bußgelderwegen der Aktivitäten einiger krimineller Spammer. werden Spammer vom Verfälschen und Verstecken und Die wahrscheinlich gefährlichste Folge aber ist der damit vom Handeln selbst abhalten können. Verlust der Nutzer in die Vertrauenswürdigkeit des Me- Bundesverbraucherministerin Künast ist sonst immer diums. Es besteht die Gefahr, dass E-Mails nur noch als bestrebt, die Verbraucher vor möglichst vielem zu schüt- Verbreiter obskurer Angebote, als Werbung für angeb- zen. Sie ist auch regelmäßg bestrebt, möglichst viellich erotische Produkte und Dienstleistungen oder als Transparenz herbeizuführen. Sie hat deshalb zum Bei- Plattform für die Anbahnung betrügerischer Geschäfte spiel in der Gentechnik hohe Bußgelder für Verstöße ge- wahrgenommen werden. Die Folge ist, dass private oder gen die Kennzeichnungspflich bei Lebensmitteln festge- dienstliche E-Mails in der Masse der Spam-Mails gar legt. nicht mehr wahrgenommen werden. Am Ende dieser Entwicklung werden wichtige Nachrichten auf anderen Hier geht es auch um einen Bereich, der für die Ver- Wegen als der elektronischen Post verschickt. Dadurch braucher im Alltag von hoher Bedeutung ist. Hier könnte verlöre die E-Mail als schnelles und preiswertes welt- (B) Frau Künast ihr Initiativrecht endlich einmal nutzen. Die weites Kommunikationsmittel – und damit auch als Trei- (D) Verbraucher würden es ihr danken, mehr als manch an- ber für die Wirtschaft – an Bedeutung. Spam erweist sich dere Aktion. auch unter diesem Aspekt als Hemmschuh der Innova- tion. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Elektronischer Wirtschaftliche Entwicklung setzt vernünftige Rah- Werbemüll belästigt die Verbraucher und schädigt die menbedingungen voraus. Dazu gehört auch ein energi- Wirtschaft. Diese Erkenntnis ist nicht neu. sches Vorgehen gegen Spam. Es sollte klar sein, dass hier Handlungsbedarf besteht: Die Bundesregierung hat die UWG-Novelle leider Die Zahl der unverlangt zugesandten Werbe-E-Mailsnicht genutzt, um Spam effektiv zu bekämpfen. Im Ge- wächst derzeit exponentiell. Im Jahr 2000 waren Schät- gensatz zu anderen europäischen Ländern hat die Bun- zungen zufolge lediglich circa acht Prozent aller Mails desregierung bisher keinerlei straf- oder ordnungsrecht- unverlangte Werbe-Mails, Ende 2002 ging man vonliche Maßnahmen gegen Spam ergriffen. Sie beschränkt 40 Prozent aus, derzeit ist mehr als jede zweite Mailsich darauf, im UWG Art. 13 der Richtlinie 2002/58/EG Spam. Täglich sind dies 13 Milliarden Mails. Dies wären umzusetzen. für jeden 13 Milliarden Gründe, gegen dieses Unwesen Demnach ist die Werbung mittels E-Mail nur in zwei vorzugehen. Die Bundesregierung tut nichts. Fällen zulässig: Grundsätzlich muss der Empfänger vor- Dabei wächst der Druck täglich: Die Zahl der ver-her sein Einverständnis erklärt haben. Im Interesse der schickten Spam-Mails verdoppelt sich alle 18 Monate. Pflege bestehender Geschäftsbeziehungen dürfen Unter- Inzwischen gibt es sogar Schätzungen, wonach Anfang nehmen ihre Kunden informieren. Alle anderen Werbe- 2005 bereits bis zu 90 Prozent aller E-Mails Spam sein E-Mails sind unzulässig. Dies ist zu begrüßen. werden. Ohne Gegenmaßnahmen würde die Kommuni- Weniger erfreulich ist, dass es keine geeignete Sank- kation via E-Mail gefährdet. Amerikanische Studien be- tionsmöglichkeit gibt. BGB und UWG sehen lediglich legen inzwischen, dass sich das Nutzerverhalten zu än- zivilrechtliche Maßnahmen wie Schadensersatz, Ge- dern beginnt: Die Menschen nutzen E-Mails weniger, winnabschöpfung und Klage auf Unterlassung vor. weil sie sich von der Werbeflut überrollt fühlen. DerDiese Ansprüche sind bei Spam aber nur theoretisch Müll diskreditiert das Medium. durchsetzbar: Mit der Zahl der verschickten Spam-Mails steigen Sehr viele kommerzielle Spammer verstecken sich auch die Schäden bei Unternehmen, Bildungseinrichtun- hinter gefälschten oder nicht existenten IP- oder Absen- gen, gemeinnützigen Organisationen und Behörden.deradressen. Sie können in der Regel von Privatleuten 9886 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) nicht oder nicht mit einem vertretbaren Kostenaufwand bestimmten Ländern ausgehen. Falsch ist dagegen die(C) ermittelt werden. Praktische Auswirkungen auf die Be- Annahme, dass sich die Urheber dieser Spam-Mails dort kämpfung von Spam hat dies alles nicht. aufhielten: Mehr als drei Viertel der Urheber halten sich Schätzungen zufolge in den Vereinigten Staaten von Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Amerika auf. Zwei oder drei der 50 größten Spammer vertritt die Auffassung, dass es keinen Königsweg bei residieren in der Bundesrepublik. Ebenso unzutreffend der Abwehr von Spam gibt. Sie fordert daher ein Bündel ist auch die Vorstellung, man habe es mit einer Unzahl von Maßnahmen, die zusammen geeignet sind, diesem weltweit tätiger Profi-Spammer zu tun, gegen die ein Missstand zu begegnen. Kampf von vornherein sinnlos sei: 90 Prozent des welt- Erstens. Wer Werbe-E-Mails mit nicht existenten IP- weiten Spams kommen von weniger als 200 Personen. oder Absenderangaben oder sonstigen Header-Manipu- Der Kampf gegen Spam ist ein Kampf, der durch inter- lationen ohne vorherige Einwilligung der Empfängernationale Übereinkommen erst möglich wird. verschickt, muss bußgeldpflichtig werden. Wir wollen nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Gegen Perso- Viertens. In Ergänzung des Opportunitätsprinzips for- nen oder Unternehmen, die – aus welchen Gründen auch dern wir, dass in Zusammenarbeit mit den Internet-Ser- immer – mit offenem Visier spammen, müssen wir nicht vice-Providern eine zentrale Melde- und Beschwerde- das Ordnungswidrigkeitenrecht einsetzen. In diesen Fäl- stelle eingerichtet wird, damit gegen Spam-Attacken len ist der Absender ja erkennbar, sodass die zivilrechtli- gebündelt und unverzüglich vorgegangen und diese chen Ansprüche nicht ins Leere laufen. Hier reichen die schnellstmöglich sanktioniert werden können. Regelungen im BGB und UWG aus. Das Ordnungswid- Auf diese Weise wird eine effektive Zusammenarbeit rigkeitenrecht soll nur gegen diejenigen Spammer einge- zwischen staatlichen Stellen und der interessierten Pri- setzt werden, die durch die oben angesprochenen Mani- vatwirtschaft zum Nutzen der Bürger und Unternehmen pulationen ihre kriminelle Energie zutage treten lassen. etabliert. Für eine Qualifikation als OrdnungswidrigkeitFünftens. Wir fordern ferner, dass die Bundesregie- spricht, dass die verfolgende Behörde nicht durch das rung in Zusammenarbeit mit der IT-Wirtschaft Unter- Legalitätsprinzip – wie bei Straftaten – verpflichtet ist, nehmen und Verbraucher über den Umgang mit Spam- jeder einzelnen Straftat nachzugehen, sondern in eige- Mails, Schutzsoftware und Filtertechniken informiert. nem Ermessen entscheiden kann, ob und wie sie vorgeht. Wir sind der festen Überzeugung, dass Hilfe zur Selbst- Man stelle sich nur vor, die Staatsanwaltschaft müsste hilfe eine entscheidende Voraussetzung für den Sieg gegen jeden Spammer, der ihr angezeigt wird, erst ein über Spam ist. Verfahren eröffnen und dann in den meisten Fällen wie- (B) der einstellen. Solch eine kafkaeske Bürokratie wollen Die Erfüllung dieser Forderungen wird uns bei der(D) wir nicht. Bewältigung des Spam-Problems einen großen Schritt weiterbringen. Mehr staatliche Einmischung lehnen wir Die verfolgende Behörde soll selbstständig und ohne aus grundsätzlichen Erwägungen ab: Die grundsätzliche formales Verfahren entscheiden können, gegen wen sie Möglichkeit der freien Kommunikation per E-Mail muss tätig wird. gewährleistet bleiben; der Versand oder Empfang von E- Zweitens. Wir fordern, dass auch derjenige, der für Mails darf nicht durch Überregulierung erschwert wer- sich durch Spam werben lässt, bußgeldpflichtig wird. den. Wir dürfen auch nicht die Innovationskraft der Hier obliegt den Behörden bzw. Gerichten die im Einzel- Wirtschaft unterschätzen, die diesem Übel auch bald mit fall sicher nicht leichte Unterscheidung zwischen denje- wirksamen Gegenmaßnahmen begegnen wird. nigen, die willentlich Spam als Werbemedium nutzen, deren Erzeugnisse ohne ihren Willen beworben werden, Die Politik muss aber auf jeden Fall eines tun – end- um das Unternehmen zu diskreditieren. § 8 II UWGlich anfangen! zeigt, dass dies durchaus möglich ist. Drittens. Die Bundesrepublik muss endlich eine Vor- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der reiterrolle bei der Eindämmung von Spam auf internatio- Antrag der Union zur Bekämpfung von Spam ist recht- naler Ebene durch Förderung multilateraler Abkommen lich bedenklich und heuchlerisch. Ich bestreite, dass die einnehmen. Uns ist völlig klar, dass ein Anti-Spam-Ge- Union hier den ernsthaften Willen hat, das Spam- setz, das sich auf die Bundesrepublik beschränkt, allein Problem, das ein zutiefst wirtschaftliches ist, effektiv zu dem weltweiten Spam-Phänomen wenig entgegensetzen bekämpfen. Angesichts von Poduktivitätsverlusten al- kann. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass auch wirlein in den Unternehmen von 11,5 Milliarden US-Dollar Teil einer internationalen Koalition gegen Spam werden pro Jahr in den USA und der Europäischen Union geht müssen. Niemand kann auf internationaler Ebene glaub- es hier nicht mehr um Kavaliersdelikte oder lästige Post, würdig gegen Spam vorgehen, wenn er auf nationaler sondern um erhebliche finanzielle Schäden bei Verbrau- Ebene in Tatenlosigkeit verharrt. chern und Unternehmen. Oft wird gesagt, dass man gegen Spam sowieso nichts Der Antrag der Union empfiehlt nun Maßnahmen, die machen könne, weil die Werbe-E-Mails aus Ländern kä- unzureichend und rechtlich bedenklich sind. Im Forde- men, die sich bisher nicht als besonders kooperativ er- rungskatalog heißt es unter 2.: ordnungsrechtliche Ver- wiesen hätten. Dies ist richtig und falsch zugleich. Rich- antwortung und Bußgeldpflicht auch für den Beworbe- tig ist, dass die Mails vorrangig von Servern nen. aus Diese Forderung ist rechtsstaatlich völlig unhaltbar. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9887

(A) Die Verhängung eines Bußgeldes ist nur zulässig bei ei- rechtliche Maßnahmen zu fordern, wenn durch ein euro- (C) genem Handeln oder bei Verletzung einer Handlungs- paweit akzeptiertes Opt-in-Verfahren und die Gewinnab- pflicht. Nach dem, was die Union hier fordert, wärenschöpfung das Problem in seinem wirtschaftlichen Kern Bußgeldverfahren zulasten von Dritten denkbar. Das getroffen werden kann, ist mir unverständlich. Das ent- heißt: Unbeteiligte, die ohne ihr Wissen als Anbieter der spricht nicht gerade der Vorstellung einer unbürokrati- beworbenen Ware benannt werden, müssten mit einem schen und sparsamen Regierungsführung. Bußgeld rechnen. Hintergrund ist wohl die nicht von der Hand zu weisende Vermutung, dass der Beworbene mit Wir wollen aber noch mehr erreichen, nämlich dass dem Werber in Verbindung steht oder sogar identisch ist, das Versenden von Werbe-Spam als unlautere Wettbe- da anderenfalls das Handeln des Werbers nicht sinnvoll werbshandlung nicht nur untersagt, sondern zusätzlich erscheint. mit einem Bußgeld belegt werden kann, damit auch klar wird, dass Spam ein schlechtes Geschäft ist. Eine ent- So einfach und auf der Grundlage reiner Vermutung sprechende Ergänzung im Teledienstegesetz wird von können wir aber nicht sanktionieren, auch wenn die der Bundesregierung derzeit erarbeitet. Wir würden es Union dies zur neuen Maxime erheben sollte, siehe Zu- hierbei begrüßen, wenn die in Internetangelegenheiten wanderungsrecht. Die Position der Grünen ist: Im Rah- erfahrene Regulierungsbehörde für Telekommunikation men eines rechtsstaatlichen Verfahrens soll die Abschie- und Post hier die Zuständigkeit als Verfolgungsbehörde bung in diesen besonderen Fällen und auf der Grundlage erhielte. einer tatsachengestützten, gerichtlich überprüfbaren Ge- fahrenprognose beschleunigt und vereinfacht werden. Auch der Vorschlag aus der SPD, einen Straftatbe- stand für kriminelle Verschleierungstechniken wie Än- Statt einzelne Details herauszuheben und dafür un- derung der Adresszeilen oder die Nutzung fremder Com- taugliche Lösungen vorzuschlagen brauchen wir einen puter für den Spamversand einzuführen, halte ich für Instrumentenmix. Wir brauchen staatliche, gesetzliche prüfungswürdig. Wichtig ist jedoch vor allem, dass die Maßnahmen, die verbesserten technischen Filter der In- erzielten Unrechtsgewinne nicht mehr beim Unterneh- ternetwirtschaft und die Aufklärung der Verbraucher men verbleiben dürfen und – da stimme ich der Union in Richtung eines sorgsamen Umgangs mit der eige- ausnahmsweise einmal zu – dass wir international koor- nen E-Mail-Adresse. Hier ist immer noch der beste Tipp, diniert vorgehen; denn das Internet kennt keine Landes- auf keinen Fall auf Spam zu antworten und für private grenzen. Die ersten Schritte auf europäischer Ebene ist E-Mails eine gesonderte Adresse zu verwenden. die Bundesregierung mit der Umsetzung der Daten- schutz-Richtlinie bereits gegangen. Unsere UWG-Novelle sieht in § 7 UWG-E ein aus- drückliches Verbot der unverlangten Zusendung elektro- (B) nischer Werbebotschaften vor, es sei denn, der Adressat Gudrun Kopp (FDP): Es steht außer Frage, dass der (D) hat eingewilligt. Das ist das so genannte Opt-in-Verfah- Gegenstand des heutigen Antrags von CDU und CSU ren. Außerdem soll die Möglichkeit einer Gewinnab-jede Beachtung verdient. Die extreme Zunahme von schöpfung eingeführt werden, § 10 UWG-E. Damit wird Spam-Mails via Internet ist in der Tat ein ernstes Pro- dem Versender der wirtschaftliche Anreiz für seineblem. Jeder Abgeordnete dieses Hauses wird dies nach- Tätigkeit genommen. vollziehen können, wenn er sich nur einmal jeden Mor- gen den Posteingang seines E-Mail-Accounts ansieht. Solange Spam sich lohnt, wird das Problem auch wei- Gut die Hälfte aller eingehenden Mails enthält Werbung terhin aktuell bleiben. Die Kosten für das Versenden sind für Medikamente, pornographische Produkte oder Ähn- so minimal, das Spamming ein sicheres Geschäft ist.liches. Dies ist nicht nur meist ärgerlich, es bindet auch Dreh- und Angelpunkt sind dabei Adressen. Die Urheber die wertvolle Zeit unserer Mitarbeiter. Experten gehen von Spams durchforsten Newsgroups, Homepages oder von gut 30 Minuten täglich aufgewendeter Arbeitszeit E-Mail-Verzeichnisse und legen sich Adressdatenbanken für die Bearbeitung von Spam-Mails aus. Insofern sind an. EU-Kommissar Erkki Liikanen hat Anfang des Jah- die Schätzungen, wonach den Unternehmen in der EU res berichtet, dass ihm elektronische Versandprogramme 2002 allein durch Spam ein Produktivitätsverlust von mit 450 Millionen elektronischen Adressen schon für 2,5 Milliarden Euro entstanden ist, durchaus glaubwür- 99 Dollar angeboten wurden. dig und unterstreichen die Bedeutung des Problems. Nun ist es ungeheuerlich, dass die Union das Opt-in- Aus diesem Grunde stimme ich auch mit der Pro- Verfahren und die Gewinnabschöpfung, beides effiziente blembeschreibung des vorliegenden Antrags absolut und unbürokratische Maßnahmen zur Bekämpfung von überein und erkenne an, dass die grundlegende Zielset- Werbe-Spam, im Bundesrat blockieren und mit der For- zung richtig und berechtigt ist. Jedoch bezweifle ich, ob derung nach Streichung dieser Maßnahmen morgen den die hier vorgeschlagenen dirigistischen und bürokrati- Vermittlungsausschuss anrufen will. Auch im Telekom- schen Instrumente tauglich und angemessen sind, das munikationsgesetz fordern die Unionsländer das Opt- Problem Spam wirklich in den Griff zu bekommen. out-Verfahren bei der Revers-Suche, also der Suche und damit natürlich der Verwendung für geschäftliche Zwe- Wenn Sie hier, liebe Kollegen und Kolleginnen von cke von Adressen, die aufGrundlage der Telefonnum- der CDU/CSU-Fraktion die Bundesregierung auffor- mer ermittelt werden. Das nenne ich heuchlerisch. dern, international eine Vorreiterrolle bei der Eindäm- mung von Spam einzunehmen und insbesondere multila- Vielleicht weiß ja auch die eine Hand nicht, was die terale Abkommen zu fördern, dann finden Sie uns an andere tut. Aber hier kostspielige straf- und ordnungs- Ihrer Seite. Denn dies ist doch der Kern des Problems. 9888 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Es handelt sich bei Spam um ein Phänomen, das sichLehren gezogen und einschlägige EU-Richtlinien in na- (C) global niederschlägt. Die Verhängung von Bußgeldern tionales Recht umgesetzt. Um einmal die Dimension jedoch ist eben darum aber höchst problematisch. Man vergangener Seuchenzüge zu illustrieren: Allein in kann kein Problem mit internationalem HintergrundGroßbritannien wurden beim Ausbruch der Maul- und – und das trifft in diesem Bereich auf 80 bis 90 Prozent Klauenseuche im Jahre 2001 zehn Millionen Tiere getö- der Fälle zu – mit nationalen Rechtsänderungen bekämp- tet. fen. Vielmehr ist hier zumindest auf europäische Initiati- ven hinzuwirken. Das Tierseuchengesetz in seiner bisherigen Form zielte vor allem auf die Bekämpfung von Erkrankungen Im Besonderen aber kann ich Ihre Forderung nach ei- ab, die ausschließlich Tiere befallen können. Doch es ner neuen, zentralen Melde- und Beschwerdestelle nicht gibt verschiedene Krankheiten, die bei Tieren auftreten nachvollziehen, und sei diese auch in Kooperation mit und auch auf Menschen übertragen werden können, die der Wirtschaft beabsichtigt. Wir brauchen in Deutsch- so genannten Zoonosen. Die Bekämpfung dieser Zoono- land sicher keine zusätzlichen Bürokratien, die entspre- sen auch am lebenden Tier hat in den letzten Jahren chende Kosten nach sich ziehen. deutlich an Bedeutung gewonnen. Dieser Entwicklung Wir sind deshalb der Auffassung, dass das Problem trägt das neue Recht angemessen Rechnung. Um es kurz, Spam im Wege der Selbstbefassung der Industrie zu lö- aber nicht verkürzt zu sagen: Das neue Tierseuchenge- sen ist. Die FDP setzt hierbei insbesondere auf die zu- setz dient dem unmittelbaren Schutz der Bevölkerung sätzliche Installation von Spam-Filtern. Denn letzten En- vor Infektionen wie beispielsweise der Salmonellose. des haben wir es mit einem technischen Problem zu tun, Als positives Beispiel möchte ich in diesem Zusam- das auch eine technische Lösung erfordert. Es kann nicht menhang unseren nördlichen Nachbarn Dänemark an- Aufgabe des Staates sein, diese Schwierigkeiten zu be- führen: Durch ein umfassendes Überwachungs- und Sa- seitigen, hier muss die private Wirtschaft technische Lö- nierungsprogramm für Schweine haltende und sungen anbieten. Ich verweise in diesem Zusammenhang verarbeitende Betriebe ist es dort gelungen, die für den nur auf die Arbeit des eco-Forums des Verbandes derMenschen nicht ungefährliche Salmonellose effektiv zu deutschen Internetwirtschaft, das hierzu verschiedene bekämpfen. Die Zahl der jährlich erkrankten Bürger technische Lösungsansätze diskutiert hat. konnte durch das nationale Monitoring-Programm von Alles in allem also begrüßen wir, dass die Fraktion 3 800 auf 680 gesenkt werden – das entspricht einer Ab- der CDU/CSU das Problem Spam mit dem vorliegenden nahme von mehr als 80 Prozent. Antrag thematisiert hat und stimmen auch mit der grund- Wir haben die Voraussetzungen geschaffen, Tierseu- sätzlichen Zielsetzung überein. Womit wir jedoch nicht chen im Ausbruchsfall effektiv einzudämmen. Dem (B) übereinstimmen, sind die hier angedachten Instrumente. Bund, den Ländern sowie den Städten und Landkreisen (D) Wir als Liberale setzen verstärkt auf internationale Ko- wird durch das neue Tierseuchenrecht ein umfassendes operation und Abstimmung, um der lästigen Spamflut Instrumentarium an die Hand gegeben, im begründeten Herr zu werden. Nationale Lösungen durch Rechtsände- Verdachts- und im akuten Seuchenfalle schnell zu rea- rungen und die Schaffung weiterer Behörden jedoch leh- gieren. Die möglichen Sofortmaßnahmen reichen bis hin nen wir ab und können deshalb dem vorliegenden An- zu Eingriffen in elementare Grundrechte wie beispiels- trag nicht zustimmen. weise jenes der Freizügigkeit durch ein völliges Verbot des Personenverkehrs – völlig zu recht, wie ich hier aus- drücklich betonen möchte. Auch können Transportunter- Anlage 8 nehmen und Schlachthöfe in Zukunft von den Behörden Zu Protokoll gegebene Reden verpflichtet werden, sich an Maßnahmen zur Seuchenbe- kämpfung zu beteiligen. Ein behördlich angeordneter zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Ge- „stand-still“ kann zudem bereits dadurch in Kraft treten, setzes zur Änderung des Tierseuchengesetzes dass er im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlicht (Tagesordnungspunkt 18) wird – ein unnötiger Zeitverlust kann also vermieden werden. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Mit dem Begriff „Meilenstein“ sollte man vorsichtig sein – das gebietet Wie wir alle wissen, machen Tierseuchen nicht vor die sprachliche Sorgfalt ebenso wie die politische Red- Grenzen halt, dies gilt r fü Kreise und Bundesländer lichkeit. Doch im Falle des neuen Tierseuchengesetzes, ebenso wie für Staaten. Daher müssen möglichst rasch über das wir heute beraten, ist dieser Begriff durchaus die Voraussetzungen geschaffen werden für ein inte- nicht fehl am Platze: Wir haben unser nationales Tier- griertes Krisenmanagement. Analog zum „klassischen“ seuchenrecht auf den aktuellen Stand der Erkenntnis ge- Katastrophenschutz müssen grenzüberschreitend Pläne bracht und die Grundlagen für eine effiziente und umfas- entwickelt werden, wer im Krisenfalle wann und wo zu- sende Tierseuchenbekämpfung gelegt. sammentrifft, müssen Einsatzpläne für Polizei, Feuer- wehr und Technisches Hilfswerk erarbeitet werden. Der Ich denke, dass schon überzeugend dargelegt wurde, neu gefasste § 79 des Tierseuchengesetzes sieht vor, dass welche grundlegenden Defizite des bisher geltendennach Maßgabe europäischer Bestimmungen im Seuchen- Rechts beseitigt worden sind. Wir haben aus den leidvol- falle Bekämpfungszentren gebildet werden, um effizient len Erfahrungen vergangener Seuchenzüge wie jenen der reagieren zu können. Das Bundesministerium für Ver- Schweinepest und der Maul- und Klauenseuche unsere braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft wird er- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9889

(A) mächtigt, auf dem Verordnungswege das Nähere zur Unseren Antrag hatten wir damit begründet, dass ge- (C) Einrichtung dieser Zentren zu regeln. Ich möchte an die- rade bei hoch ansteckenden Tierseuchen das bisherige ser Stelle appellieren, dass man möglichst rasch von die- Tierseuchengesetz keine ausreichende Grundlage für ein ser Ermächtigung Gebrauch macht und so die Grundla- schnelles, länderübergreifendes Handeln bietet. Wir hiel- gen für eine reibungslose Zusammenarbeit ten es im deshalb unter anderem für notwendig, bei der Be- Krisenfalle schafft. kämpfung von Tierseuchen den Viehverkehr bundesweit einschränken zu können. Der außerlandwirtschaftliche Planung ist wichtig, doch sie ist nicht alles. DaherWirtschaftsgüter- und Personenverkehr in Vieh halten- halte ich es für dringend geboten, die entsprechendenden Betrieben sowie in Verdachtssperrbezirken, Sperrbe- Krisenpläne in umfassenden praktischen Übungen mit zirken und Beobachtungsgebieten sollte reglementiert allen Beteiligten zu erproben und zu evaluieren. Solche werden. Wir sahen Bedarf, Reinigungs- und Desinfek- Übungen dürfen ebenso wie die Seuchen nicht an Gren- tionsmaßnahmen an Flug- und Seehäfen sowie im sons- zen halt machen. Sie müssen, wo es die regionalen Ge- tigen Reiseverkehr anordnen zu können. gebenheiten nahe legen, Kreis-, Länder- und sogar Staatsgrenzen überschreitend durchgeführt werden. In Mit ebenjener Begründung möchte die Bundesregie- meinem Heimatland Niedersachsen hat es bereits im ver- rung jetzt das Tierseuchengesetz in ebenjenem Sinne än- gangenen Jahr eine zumindest Kreisgrenzen überschrei- dern und hat dazu im April 2004 den vorliegenden Ge- tende Übung gegeben. Ich appelliere an alle Verantwort- setzesentwurf eingebracht. Musste dieser Umweg, dieses lichen, solche praktische Erprobungen in Zukunft inSpielchen wirklich sein? vermehrtem Umfang durchzuführen. Mir, uns, geht es nicht um die Geltendmachung von Urheberrechten, obwohl das Urhebergesetz für einen so Lassen Sie mich abschließend noch eines anmerken: dreisten Fall der Verletzung geistigen Eigentums durch- Die Gefahr der überregionalen Ausbreitung von Tierseu- aus nennenswerte Sanktionen bereithält. chen ließe sich deutlich verringern, wenn Zahl und Um- fang von Tiertransporten über lange Distanzen deutlich Uns ging und geht es um die Sache. Es ging und geht vermindert würden. Zu meinem größten Bedauern sind darum, eine wirksamere Tierseuchenbekämpfung zu er- erst vor wenigen Tagen entsprechende Verhandlungen möglichen. Und diese duldete keinen Aufschub und auf europäischer Ebene gescheitert. Das bringt uns je- keine Verzögerung. Durch Ihre offensichtlich parteipoli- doch nicht davon ab, unsere Forderungen aufrecht zu er- tisch getragene Verweigerungshaltung haben Sie aber halten: Wir wollen und werden uns weiterhin dafür ein- eine solche Verzögerung zu verantworten. Dies ist au- setzen, dass die Transportzeiten EU-weit generellßerordentlich bedenklich, denn wie wir alle im letzten begrenzt werden. Ferner ist eine obligatorische tierärztli- Jahr erleben mussten, kann eine Seuche von einem Tag (B) che Untersuchung vor Langzeittransporten für uns un- auf den anderen ausbrechen. Es kann auf Stunden an-(D) verzichtbar. Auch bleibt unsere Forderung bestehen,kommen. dass die Exporterstattungen für lebende Tiere EU-weit Seuchen nehmen keine Rücksicht auf zögerliches Re- abgeschafft werden müssen. All dies wäre ein großergierungshandeln. Bei Seuchen geht es um mehr als um Fortschritt nicht nur für den Tierschutz, sondern auch für politisches Kalkül. Bei Seuchen geht es um Tiere, Be- die internationale Tierseuchenbekämpfung. triebe und Existenzen. Wir wissen darum. Wir stellen uns anders als die Regierungsfraktionen unserer Verant- Gitta Connemann (CDU/CSU): Von Johannwortung. Deshalb werden wir dem vorliegenden Antrag Wolfgang von Goethe stammt die Feststellung, „Daszustimmen. Außerordentliche geschieht nicht auf glattem, gewöhnli- Unsere Anstrengungen haben damit schließlich ge- chem Weg.“ Wie wahr, auch heute noch! fruchtet. Mit dem vorliegenden Gesetz werden unsere Vorstellungen von einem wirksameren Tierseuchen- Das Außerordentliche ist in diesem Fall die heutige schutz größtenteils umgesetzt. Der erste Schritt ist damit einstimmige Verabschiedung der Änderung des Tierseu- getan. chengesetzes. Leider ging auch sie nicht den glatten, ge- wöhnlichen, also den besten und kürzesten Weg, sondern Wir hoffen, dass die Damen und Herren von der Re- wurde von der Bundesregierung auf Umwege geschickt. gierungskoalition darüber den nächsten notwendigen Schritt nicht vergessen. Dieser besteht darin, sich stärker Bereits 2001 wurde die Bundesregierung vom Bun- als bisher in Brüssel für eine Politik der vorbeugenden desrat parteiübergreifend aufgefordert, die Lücken des Tierseuchenbekämpfung einzusetzen. Und dazu gehört Tierseuchenrechts kurzfristig zu schließen. Die Bundes- zwingend eine Änderung der Impfpolitik auf europäi- regierung reagierte nicht. scher Ebene. Hier besteht Handlungsbedarf und zwar jetzt. Es darf nicht der hoffentlich nie eintretende Mehrere Mahnungen des Bundesrates folgten. Dienächste Seuchenausbruch abgewartet werden. Bundesregierung reagierte nicht. Bislang gilt in Europa das Gebot der Nichtimpfungs- Daraufhin brachte die CDU/CSU-Fraktion im Junipolitik. Bislang wird also nur reagiert und im Fall eines 2003 einen entsprechenden Antrag in den DeutschenSeuchenausbruchs getötet. Zurzeit heißt das, Seuchenbe- Bundestag ein. Die Bundesregierung reagierte nicht,kämpfung durch Tötung verdächtiger und infizierter sondern ließ den Antrag mit den Stimmen ihrer Koali- Tiere. Es sollte aber heißen Seuchenvorbeugung durch tionsfraktionen ablehnen. Impfung. 9890 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Diese Forderung des Impfens statt Tötens wird von boten werden, wird und muss das auch für bestellte Tiere (C) der CDU/CSU-Fraktion bereits seit längerem erhoben. gelten. Die wissenschaftlichen Grundlagen dafür sind gegeben. Drittens: die Verhängung eines großräumigen kom- Die Europäische Kommission hat einen Test zugelas- pletten Stillstands, bis geklärt worden ist, wo eingeführte sen, mit dem es möglich ist, geimpfte von infiziertenTiere aus betroffenen Mitgliedsstaaten verblieben sind. Schweinen zu unterscheiden. Dem Einsatz von Marker- impfstoffen steht nichts mehr entgegen. Damit gibt es Kritisch hinterfragen muss ich allerdings folgende endlich ein Instrument, die klassische Schweinepest zu Punkte: bekämpfen, ohne zu töten. Im Gesetzentwurf wird die Definition von Tierseu- chen auf Krankheiten erweitert, die von den Tieren auf Zu einer Politik des Impfens statt Tötens gibt es keine den Menschen übertragen werden können, die so ge- Alternative. Eine Seuchenbekämpfung durch Tötung ist nannten Zoonosen. Das Tierseuchengesetz dient in erster nicht nur mit erheblichen wirtschaftlichen Einbußen für Linie der Tierseuchenbekämpfung und nicht der Verhin- die betroffenen Betriebe verbunden. Vielmehr ist sie aus derung der Krankheitsübertragung auf den Menschen. ethischer Sicht nicht tragbar. Denn Massenkeulungen Wird hier nicht zu weit gegriffen? Zoonosen nehmen bedeuten Leid insbesondere für die betroffenen Tiere. zwar zu, aber hinterfragt man, warum, erkennt man: Die Das Wohl der Tiere liegt uns am Herzen. Wenn es Ih- Gründe liegen nicht bei den Tieren, sondern sie treten vor nen genauso geht, dann lassen Sie uns den zweitenallem im nachgelagerten Bereich auf. Und Salmonellen Schritt zusammentun. Kämpfen Sie für eine Änderung haben gehäuft nach der Urlaubszeit „Saison“. der Impfpolitik und damit für die Tiere. Das Wissen um den sachgerechten Umgang mit fri- Dann wird zukünftig der Gesang der Studenten inschen und verarbeiteten Nahrungsmitteln nimmt weiter Auerbachs Keller wieder seine Berechtigung erhalten – ab. Auch mangelt es an Hygiene. Das sind Hauptgründe, ich zitiere erneut Goethe „Uns ist ganz kannibalischwarum jährlich über 70 000 Menschen in Deutschland wohl, als wie fünfhundert Säuen.“ an Salmonellose erkranken. Deshalb unterstütze ich die umfangreiche Initiative des DLV, dass Hauswirtschaft und Ernährung in den Lehrplänen der allgemeinbilden- Marlene Mortler (CDU/CSU): Heute diskutieren wir den Schulen verankert werden. in 2. und 3. Lesung den Gesetzentwurf zur Änderung des Tierseuchengesetzes. Die EU-Kommission äußert sich folgendermaßen: „Zoonosen sind bekanntlich schwer einzudämmen, da Zwei erfreuliche Nachrichten vorweg: Erstens. Meine eine gewisse Anzahl der betreffenden Mikroorganismen Rede ist kürzer. Zweitens. Es gibt Zustimmung der (B) überall vorkommt und nicht leicht aus der Lebensmittel- (D) CDU/CSU. Nur muss ich fragen: Hätten wir die vorge- kette auszuschließen ist.“ sehenen Änderungen nicht auch schneller haben kön- nen? Der Weg bis zur heutigen 2. und 3. Lesung war Zum anderen liegen entsprechende Richtlinien zur wirklich lang! Überwachung der Zoonosen von europäischer Seite be- reits vor. Experten meinen, diese würden nicht weit ge- Denn bereits im Juni 2003 hatten wir einen Antrag nug greifen. Und trotzdem stellt sich für mich in diesem eingebracht, der eine wirksamere Tierseuchenbekämp- Zusammenhang die Frage der Verhältnismäßigkeit in fung ermöglichen sollte. Dieser wurde von den Regie- zweierlei Hinsicht: rungsfraktionen Anfang Februar dieses Jahres abgelehnt. Keine acht Tage nach dieser Debatte brachte die Bundes- Zum einen: Wie wird die Öffentlichkeit reagieren, regierung dann ihren eigenen Entwurf zur Verschärfung wenn Salmonellen der Schweinepest oder MKS im des Tierseuchengesetzes in das Gesetzgebungsverfahren Sinne des neuen Gesetzes „gleichgestellt“ sind und dann ein. womöglich Bestände gekeult und ganze Gebiete zu Sperr- und Beobachtungsgebieten erklärt werden? Zum Besser gut kopiert, als schlecht selber gemacht, anderen: Wie stellt sich das Kosten-/Nutzenverhältnis könnte man zu Ihrem Gesetzesänderungsentwurf sagen. dar? Mir scheint, dass überhaupt zu wenig danach ge- Das heißt, Sie haben die wesentlichen Forderungen aus fragt wird und das Motto regiert: Jede neue Vorschrift ist unserem Antrag aufgenommen. Die Bundesregierung ist eine gute Vorschrift, koste es, was es wolle. bei diesem Gesetzentwurf also der Opposition und den unionsgeführten Bundesländern entgegengekommen. Um es bezüglich der Kosten deutlich zu sagen: Viele deutsche Landwirte kämpfen derzeit um ihre Existenz. Lassen Sie mich nur drei Punkte hervorheben, die ich Die Erzeugerpreise für Milch sind so niedrig wie 1977. ausdrücklich befürworte: Erstens: die Einschränkung des Verbringens von Tieren, die selbst nicht empfänglich Eine klare Regelung bezüglich einer zusätzlichen Er- sind, aber über deren Verbringen der Erreger verbreitet stattung der Kosten für Desinfektionsmaßnahmen wäre werden kann. Dies bedeutet erstens: Bricht in einem Ge- aus meiner Sicht sinnvoll gewesen. Hier haben die Län- biet die Geflügelpest aus, kann auch die Verbringungder mehrheitlich leider anders entschieden. von Schweinen aus diesem Gebiet eingeschränkt wer- den. Erfreulich anzumerken bleibt mir noch, dass es im Einvernehmen gelungen ist, klarzustellen, dass die Frist Zweitens: dass auch bestellte Tiere nicht mehr ver- für den Zeitrahmen zur Antragstellung auf Entschädi- bracht werden dürfen. Das heißt, wenn Viehmärkte ver- gung nicht mit dem Datum der Tötungsanordnung, son- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9891

(A) dern mit Datum der ersten Tötung beginnt. In besonders denken, so haben wir sicher auch viel Glück gehabt, aber (C) schlimmen Seuchenfällen wird diese Erleichterung mei- wir haben auch ein Krisenmanagement gehabt, das ef- nes Erachtens jedoch nicht ausreichen. fektiv, zuverlässig und schnell arbeitet und eine Ausbrei- tung in Deutschland verhindert hat. Wie zu Beginn meiner Rede geäußert, werden wir trotz einiger Bedenken dem Gesetzentwurf zustimmen. Die Opposition hat ja immer wieder vergeblich ver- sucht, den rot-grünen Regierungen, sei es in Düsseldorf Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- oder Berlin, Versäumnisse nachzuweisen. Ich erinnere NEN): Die Gesetzesnovelle, die wir heute Abend ver- nur an das Geschrei, das beim Auftreten der Geflügel- handeln, wird in der Öffentlichkeit wahrscheinlich nur pest in Deutschland gemacht wurde. Dilettantismus hat von wenigen wahrgenommen werden. Aber sie steht in Herr Carstensen von der CDU den Ministerinnen Künast einem Zusammenhang, der in den vergangenen Jahren und Höhn öffentlich, lauthals und unreflektiert, wie das die Landwirtschaft leider immer wieder in den Mittel- leider so seine Art ist, vorgeworfen. Und dann? Ange- punkt der öffentlichen Diskussion gerückt hat: Immer sichts des professionellen Vorgehens der Bundesregie- dann, wenn Tierseuchen um sich greifen und Bilder von rung und der Landesregierung Nordrhein-Westfalen der Tötung Tausender Tiere durch die Medien gehen,blieb der CDU/CSU am Ende nichts anderes übrig, als seien es die englischen Scheiterhaufen während derkleinlaut zuzugeben, dass hier besonnen, fachkundig und Maul- und Klauenseuche oder die Bilder von der Geflü- erfolgreich die Ausbreitung der Seuche verhindert wurde gelgrippe in Südostasien mit lebendigem Geflügel in zu- und von Dilettantismus keine Rede sein konnte. gebundenen Plastiksäcken, steht die Landwirtschaft lei- der im Mittelpunkt des medialen Interesses. Als es Anfang dieses Jahres scheinbare Unstimmig- keiten bei BSE-Tests gab, war es besonders die FDP, die Die Gefahr großer Tierseuchen hat vor allem durch ungetrübt von Sachkenntnis so lange Skandal schrie, bis den weltweiten Handel in den vergangenen Jahren stark sie es endlich auf die erste Seite der „Bild“-Zeitung ge- zugenommen. Internationale Organisationen wie dieschafft hatte. Nur eines ist Ihnen auch mithilfe der knapp FAO warnen vor der weltweiten Verbreitung gefährli- bekleideten Damen von Seite eins nicht gelungen: Der cher Tierseuchen. Immer schnellerer Transport, Touris- Bundesregierung Versäumnisse bei der BSE-Bekämp- mus, grenzenlose Mobilität, offene Grenzen, aber auch fung nachzuweisen. Der Vorfall hat vielmehr gezeigt, veränderte Klimabedingungen begünstigen die Ausbrei- dass unser Kontrollsystem äußerst zuverlässig arbeitet tung von Krankheitserregern. Infektionserreger können und jegliche Ungenauigkeiten sofort zu Tage fördert. heute innerhalb weniger Stunden von einem Kontinent zum anderen gelangen. Die Novelle des Tierseuchengesetzes, die wir heute beraten, war notwendig. Sie wird die Möglichkeiten der (B) Gefährdet sind nicht nur Schweine-, Rinder- und Hüh- (D) Seuchenbekämpfung noch einmal verbessern. nerbestände, sondern selbst die Bienen sind neuen Ge- fahren ausgesetzt. Dieses Beispiel ist schon sehr interes- In Zukunft sollen Ermächtigungen ermöglicht werden, sant. So ist der Hauptbienenschädling, die Varroa-Milbe, um erstens den Viehverkehr einschränken zu können, nicht bei uns heimisch, sondern eingeschleppt worden. zweitens den außerlandwirtschaftlichen Personen- und Die noch größere Gefahr, der Bienenstockkäfer, konnte Fahrzeugverkehr in den betroffenen Gebieten begrenzen bislang offenbar erfolgreich von Europa fern gehalten zu können, drittens Tiere und von ihnen stammende Er- werden. Wir haben, vor allem auf Druck der Bundesre- zeugnisse aus Seuchengebieten zu reglementieren und gierung, seit diesem Jahr ein EU-weites Importverbot für viertens Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen an Bienen, um die Einschleppung des Bienenstockkäfers den Außengrenzen anordnen zu können. über Importbienen zu verhindern. Außerdem wird das Tierseuchengesetz auf die Be- Das Tierseuchengeschehen der vergangenen Jahre, kämpfung von Zoonosen am lebenden Tier ausgeweitet angefangen bei der BSE-Krise über die Maul- und Klau- und Schafe und Ziegen werden in die Tierseuchenkasse enseuche in Großbritannien 2001, die Geflügelpest in einbezogen. Europa 2003 und schließlich die Geflügelgrippe in Süd- ostasien, stellt uns vor neue Herausforderungen. Wir Das sind notwendige Maßnahmen und es ist erfreu- müssen einerseits darüber nachdenken, wie wir die Ursa- lich, dass darüber zwischen Bundesregierung, Bundesrat chen wirksam bekämpfen, damit aus Tierkrankheiten gar und den Fraktionen im Bundestag offenbar Einigkeit be- nicht erst Seuchen werden. Zum Zweiten müssen wirsteht. wirksam die Ausbreitung bremsen und Einschleppung vermeiden. Es ist der Vorteil solcher eher unauffälliger Gesetze, dass sie sich nicht zum Populismus eignen. Allerdings Die Agrarpolitik von Rot-Grün hat diese neuen He- wäre es schön, wenn die Opposition auch bei zukünfti- rausforderungen von Anfang an offensiv angepackt, als gen Seuchenfällen etwas weniger aufgeregt und etwas andere noch meinten, man könne das eigene Bundesland mehr an der Sache orientiert mitarbeiten würde, als das einfach für BSE-frei erklären, um vor Seuchen verschont in der Vergangenheit häufig der Fall war. Ich denke, dass zu bleiben. ein solcher Umgang vor allem im Interesse der Betroffe- Wir haben heute ein System der Krisenintervention, nen wäre, für die solche Situationen äußerst schwierig das sich, denke ich, sehen lassen kann. Wenn wir an die sind und die verdient haben, dass wir sie mit parteipoliti- Maul- und Klauenseuche, wenn wir an die Geflügelpest schem Gezänk verschonen. 9892 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004

(A) Hans-Michael Goldmann (FDP): Die FDP begrüßt eingeführt worden sind, in denen zum Beispiel Maul-(C) den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung und Klauenseuche (MKS) aufgetreten ist, zu reglemen- des Tierseuchengesetzes. Er behebt einige Probleme, die tieren und Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen an sich durch unzureichende Ermächtigungen zur Bekämp- den Außengrenzen der Bundesrepublik Deutschland, an fung von Tierseuchen ergeben haben. Es ist unser aller Flug- und Schiffshäfen sowie bei bestimmten Fahrzeu- Anliegen den Schutz vor hoch ansteckenden Tierseu-gen (Tierkörperbeseitigungsanstalten-Fahrzeuge, Futter- chen so sicher wie möglich zu machen, um unübersehba- mitteltransportfahrzeuge, Milchfahrzeuge) anordnen zu ren Schaden von der Landwirtschaft fernzuhalten. können. Wir freuen uns, dass die Bundesregierung die inhaltli- Darüber hinaus hat die Bundesregierung Änderungs- chen Anregungen des Bundesrates weitgehend übernom- bedarf gesehen im Hinblick auf die Bekämpfung von bei men hat. Damit kommen wir zügig zu den notwendigen Tieren auftretenden und auf den Menschen übertragba- Verbesserungen. Insbesondere die Forderung des Bun- ren Krankheiten, den Zoonosen. desrates, die sachgerechte Lagerung von Futtermitteln Daher hat die Bundesregierung den Entwurf eines auch anordnen zu können, ist sehr sinnvoll. Dritten Gesetzes zur Änderung des Tierseuchengesetzes Die FDP-Bundestagsfraktion schließt sich in dereingebracht. Frage der Forderung des Bundesrates, in Art. 1 Nr. 59, Mit dem Änderungsgesetz werden unter anderem § 84 Tierseuchengesetz, zu streichen, grundsätzlich der Rechtsgrundlagen für ein „stand-still“ – bezogen auf ein Auffassung der Bundesregierung an. In der Tat gilt es, Land oder bezogen auf die gesamte Bundesrepublik – dem Bundesverfassungsgerichts-Urteil aus dem Jahrgeschaffen. Darüber hinaus will die Bundesregierung die 1999 Rechnung zu tragen. Esist auch nicht einsichtig, rechtliche Grundlage schaffen, um Tötungen empfängli- warum Verwaltungsvorschriften, die sich ausschließlich cher sowie solcher Tiere, die geeignet sind, eine Seuche an Behörden des Bundes richten, mit der Zustimmung zu verschleppen, anordnen zu können. des Bundesrates erlassen werden sollten. Mit dieser Erweiterung des Tierseuchengesetzes wäre Auch dem Wunsch des Bundesrates, eine Ermächti- es auch möglich, „Präventivtötungen“ anzuordnen, wenn gung zur Beauftragung Dritter zur Durchführung desdies erstens zum Schutz gegen die Ausbreitung einer Tierseuchengesetzes in das Tierseuchengesetz aufzuneh- Tierseuche, die ihrer Beschaffenheit nach eine größere men, kann sich die FDP nicht anschließen. Die Bundes- und allgemeinere Gefahr darstellt, oder zweitens zur Be- regierung hat Recht mit ihrer Feststellung, dass dies in seitigung von Infektionsherden erforderlich ist. Dabei die Organisationshoheit der Länder eingreifen würdekann die Tötungsanordnung der zuständigen Behörde und dass deshalb eine entsprechende Regelung den Lan- schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit kein blanker (B) (D) desparlamenten vorbehalten bleiben sollte. Mir ist nicht „Automatismus“ sein. Vielmehr hat die Behörde vor Er- klar, wieso hier auf einmal etwas zentral geregelt werden lass einer Tötungsanordnung im Rahmen ihres Ermes- soll, für das die Länder zuständig sind. sens die in Rede stehenden Rechtsgüter (zum Beispiel auch Tierschutzbelange) gegeneinander abzuwägen. Wir begrüßen auch, dass der Gesetzentwurf besseren Schutz lebender Tiere bei der Bekämpfung von auf den Im Einzelnen bedeutet das, nach Deutschland ver- Menschen übertragbaren Tierkrankheiten bietet. Bislang brachte Tiere und Erzeugnisse aus einem Mitgliedstaat ist das Tierseuchengesetz zu stark auf den Schutz deroder einem Drittland, in dem eine anzeigepflichtige Tier- Tierbestände ausgerichtet. seuche aufgetreten ist, zu reglementieren; den Personen- verkehr, und somit auch Veranstaltungen mit Personen Insgesamt wird es durch das Gesetz deutliche Verbes- (zum Beispiel Sport- oder Konzertveranstaltungen), die serungen bei hoch ansteckenden Tierseuchen geben, des- gegebenenfalls zur Seuchenverbreitung beitragen, in be- halb stimmt die FDP dem Gesetz zu. stimmten Gebieten zu verbieten oder zu beschränken; Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen unter ande- Dr. Gerald Thalheim (Parl. Staatsekretär bei der rem auch an Flughäfen oder Schiffshäfen durchführen zu Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und können. Landwirtschaft): Nach den bisherigen Erfahrungen im Als Veröffentlichungsmedium ist der elektronische Zusammenhang mit der Bekämpfung insbesondere hoch- Bundesanzeiger neu vorgesehen. Eine Veröffentlichung kontagiöser Tierseuchen haben wir festgestellt, dass das über Rundfunk und Fernsehen, begegnet rechtsstaatli- Tierseuchengesetz nicht unter allen Gesichtspunkten aus- chen Bedenken, weil sie die grundgesetzlich vorgesehe- reichende Ermächtigungen zum Erlass der notwendigen nen Rechtsschutzmöglichkeiten unzulässig einschränkt Maßregeln beinhaltet. Insbesondere fehlen Ermächtigun- und weil sich zudem die Frage stellt, wer die Gewähr für gen, um den Viehverkehr unter bestimmten Vorausset- die Richtigkeit der über Rundfunk/Fernsehen verbreite- zungen und für eine bestimmte Zeit bundesweit zu regle- ten „Anordnung“ übernehmen würde. mentieren, den außerlandwirtschaftlichen Personen- und Fahrzeugverkehr in Vieh haltenden Betrieben sowie in Weiterhin – und ich erinnere mich, dass dieser Punkt Verdachtssperrbezirken, Sperrbezirken und Beobach-in der Sitzung am 12. Februar 2004 etwas scherzhaft dis- tungsgebieten zu reglementieren, Tiere vorsorglich, auch kutiert wurde – wird die Umbenennung der bisherigen wenn sie als Seuchenüberträger fungieren, töten zu kön- Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere nen, Tiere und von ihnen stammende Erzeugnisse, die in „Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinsti- während der Inkubationszeit aus Ländern verbracht oder tut für Tiergesundheit“ gesetzlich verankert. Das Kolle- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 108. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. Mai 2004 9893

(A) gium der Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten Fachbereich der Bakteriologie (Entdeckung des Diph-(C) der Tiere (BFAV), Hauptsitz Insel Riems, hat in seiner therie-Erregers „Klebs-Loeffler Bakterie“). Daneben ist Sitzung vom 18. November 2002 die Umbenennung ein- der Name „Friedrich Loeffler“ auch im internationalen stimmig beschlossen. Die Einrichtung entstand im Jahr Bereich eng mit der Tierseuchenforschung verbunden. 1910, als Friedrich Loeffler seine Forschungsarbeiten an Insgesamt wird mit der Änderung des Tierseuchenge- dem Erregervirus der MKS auf die Insel Riems verlegte, um Virusverschleppungen zu vermeiden. Es entstand das setzes die Zielrichtung verfolgt, den für die Tierseuchen- bekämpfung zuständigen Behörden ein Instrumentarium weltweit älteste Virusforschungsinstitut. Der heutige an die Hand zu geben, das eine effektive Tierseuchenbe- Anstaltsteil auf Riems erhielt 1952 den Namen seines Gründers, nämlich „Friedrich-Loeffler-lnstitut Riems“. kämpfung ermöglicht. Das Tierseuchengesetz wird an die Realitäten des globalen Personen- und Güterverkehrs Nach der Wiedervereinigung wurde das „Friedrich- angepasst. Mit der Umbenennung des Instituts würdigen Loeffler-Institut Insel Riems“ Bestandteil der BFAV. wir die Leistungen der deutschen Virenforschung. Der Namensbestandteil „Friedrich Loeffler“ verkör- Gleichzeitig erhält das Institut mit dem international be- pert sowohl den Fachbereich der Virologie (durchkannten und anerkannten Namen Loefflers einen hohen Loefflers Entdeckung des MKS-Virus), als auch denIdentifikationswert.

(B) (D)

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