Cityspot

SMARTE KULTURHAUPTSTADT IN STARKER FRAUENHAND

Die Hauptstadt Estlands besticht nicht nur mit ihrem sehr gut erhaltenen mittelalterlichen Stadtkern, mit vielen romantischen Plätzen und gemütli­ chen Cáfes, sondern auch mit ihrer dynamischen zeitgenössischen Kunst­ szene. In den letzten Jahren entwickelte sich die hochtechnisierte Smart City am finnischen Meerbusen zu einem kulturellen Hotspot im Norden Europas. Beherrscht wird die Szene von jungen selbstbewussten Frauen, die mit ihrer kommunikativen Art für einen internationalen Austausch sorgen.

FIONA LIEWEHR

ARVO PÄRT CENTRE | © Tõnu Tunnel

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Das Licht des Nordens ist sprichwörtlich, und es trägt tatsächlich dazu bei, dass man die Stadt mit ihren rund 430.000 Einwohnern be- reits beim Ankommen als weitläufig und beruhi- gend empfindet, zugleich aber auch als lebendig und weltoffen. Das mag auch an seiner Küstenla- ge zwischen dem Golf von Finnland und der Bal- tischen See liegen, die Tallinn seit Jahrhunderten zu einem bedeutenden Industrie-, Handels- und Finanzzentrum macht. Nur 80 Kilometer von , rund 320 Kilometer von St. Petersburg und 380 Kilometer von entfernt, pflegt Estland einen regen Austausch mit diesen Städten, stand es doch im Laufe seiner Geschichte unter der wechselnden Herrschaft jener Länder. Die zum Großteil junge Bevölkerung spricht perfekt Englisch, Finnisch, Russisch, oft aber auch Deutsch, da der Deutsche Orden im Mittelalter und der frühen Neuzeit über mehr als zwei Jahr- hunderte bedeutende Handelsrechte und Privi- legien innehatte. Im Zweiten Weltkrieg wurden alle baltischen Staaten Teil der Sowjetunion, 1991 wurde Estland nach dem Moskauer Putsch unab- hängige Republik. Heute ist Tallinn, gemessen an den Einwohnern, die Stadt mit der höchsten An- zahl an Start-Up-Unternehmen in Europa, Ge- burtsstadt von Hochtechnologieunternehmen wie Skype und Transferwise und Sitz der europäischen IT-Behörde. Neben der Hightech- und Digitalisie- rungsoffensive scheinen es vor allem die Kunst und die Kultur zu sein, die maßgeblich zum Selbstbe- wusstsein und zur Identitätsbildung der noch jun- gen Republik beitragen. Im Jahr 2011 war die Stadt gemeinsam mit Turku in Finnland Europäische Kulturhauptstadt. Infol- gedessen wurde die Innenstadt, die mit ihren pit- toresken mittelalterlichen Häuserzeilen und ih- ren aufwendig geschnitzten Holztoren in ihrer Gesamtheit zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, gefühlvoll restauriert. Tanz, Musik und Chor- gesang haben in Tallin eine besondere Bedeutung. Alle fünf Jahre findet ein Musik- und Tanzfesti- val statt, das bis zu 30.000 internationale Sänger aus der ganzen Welt zusammenbringt und über 200.000 Besucher anzieht. Der zeitgenössische Komponist klassischer und religiöser Musik Arvo Pärt gehört zu den meistgespielten der Welt und hat etwas außerhalb von Tallinn sein eigenes Mu- sikarchiv und Research Center errichtet. Die bil- dende Kunst-Szene ist jung, kompakt und vielfäl- tig. Neben dem KUMU Art Museum, dem größten estnischen Museum, der Tallinn Art Hall, der Kunsthalle der Stadt, und dem EKKM, dem Mu- seum für zeitgenössische Kunst, hat vor allem das kürzlich eröffnete KAI Art Center, das direkt am Noblessner Hafen in einer ehemaligen Schiffs- werft errichtet wurde, der Kunstszene erneut einen Schub in Richtung Zukunft gegeben.

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INSTITUTIONEN

KAI ART CENTER

Das neue Zentrum für zeitgenössische Kunst bildet das Herzstück eines ehemaligen Industriegebietes direkt am Noblessner Hafen nördlich des Stadt- zentrums. Die estnischen Architekten KAOS und HGA haben es in einer revitalisierten Schiffswerft errichtet. Das historische Ensemble aus Backstein und Betongebäuden wurde Anfang des 20. Jahr- hunderts von den St. Petersburger Ölindustriellen Emanuel Nobel, dem Neffen von Alfred Nobel, und Arthur Lessner entwickelt und stieg zur wichtigsten Produktions­stätte für U-Boote im zaristischen Russ- land auf. Die Werft war auch zu Zeiten der Sowjet- union in Betrieb; nach der Unabhängigkeit Estlands reduzierte sich die Produktion der Schiffe auf die Hälfte, viele Gebäude wurden aber bis vor Kurzem als Reparaturwerkstätte genützt. Heute hat sich das Areal zu einem hochtechnologischen Kreativviertel entwickelt, das seinen rohen industriellen Charme durch seine teils noch erhaltenen Schiffsbauma- schinen bewahrt hat. Neben dem Kai Art Center mit seiner 420 Quadratmeter großen lichtdurchfluteten Ausstellungshalle, seinem modernen Auditorium und Kinosaal, befinden sich im Noblessner Quartier auch Cafés, Restaurants, loftartige Appartements und Gemeinschaftsbüros für Kreativ­unternehmer. An den Piers liegen historische Museumsschiffe, die kos- tenlos besucht werden können. Das Kai Art Center wird von einem Team von rund zehn jungen Frauen geleitet; dessen Direktorin Karin Laansoo zielt darauf ab, die zeitgenössische Kunstszene Estlands im In- und Ausland zu etablieren und zu vernetzen. Neben einem internationalen Residency-Programm für Kunst- und Kulturschaffende liegt ein weiterer Schwerpunkt auf Kunstvermittlung und dem Aufbau wissenschaftlicher Ausbildungsprogramme.

KAI.CENTER

KAI ART CENTER | Performance Raphaele Shirley, 100 Pink Smoke Candles (twice), zur Eröffnung im September 2019 | Courtesy Kai Art Center, Tallinn, Foto: Johan Pajupuu

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KAI ART CENTER | Courtesy Kai Art Center, Tallinn, Foto: Aron Urb

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TALLINN ART HALL

Die Kunsthalle Tallinn wurde 1934 vom Architekten TALLINN ART HALL und Möbeldesigner Edgar Johann Kuusik am Freiheits- Ausstellungsansicht »The Baltic Triennial 13«, platz gebaut und betreibt neben der Art Hall auch die 2018 und Außenansicht Art Hall Gallery und die Stadtgalerie. Der Schwerpunkt © Karel Koplimets, Tallinn Art Hall des Ausstellungsprogramms liegt in der Zusam- menstellung von Gruppenausstellungen lokaler und internationaler Künstler, die sich mit gesellschaftspoli- E K K M – tischen Fragestellungen auseinandersetzen. 2018 war die Kunsthalle Tallinn, neben dem Contemporary Art CONTEMPORARY ART Center in Vilnius und dem Contemporary Art Center in MUSEUM OF , Schauplatz der von Vincent Honoré kuratierten In der Nähe des Hafens, gleich neben dem Ort, wo Triennale. Regelmäßig finden Performances, Konzerte 1979 eine Szene aus Andrei Tarkowskis legendä- und Talks statt. Im Keller des Gebäudes ist der KUKU rem Science-Fiction-Film »Stalker« gedreht wurde, Club, eine kleine schummrige Bar, daneben Philly befindet sich das EKKM – das Museum für zeitgenös- Joe’s Jazz Club, der als Treffpunkt der heimischen sische Kunst Estlands. Ebenso ungewöhnlich wie sein Jazz-Szene gilt. Im Gebäude der Kunsthalle Tallinn Gebäude – der bunt angemalte, heruntergekommene hat auch das Center for Contempo- Rohbetonbau eines ehemaligen Heizwerks – ist die rary Arts (CCA) seinen Sitz. Diese Entstehungsgeschichte des Museums. Als eine von kritische Diskursplattform hat sich Künstlern, Kuratoren und Studenten 2006 gegründete auf das Aufspüren von aktuellen Non-Profit-Initiative bewegt sich das EKKM heute Tendenzen der visuellen Kultur und zwischen offizieller, staatlicher Institution und selbst- deren Vermittlung in der Gesellschaft verwaltetem Off-Space. Mit viel persönlichem Einsatz spezialisiert. Das CCA wird von werden hier von April bis Dezember experimentelle der Künstlerin und Kuratorin Maria Ausstellungsformate entwickelt, die teilweise vor Ort Arusoo geleitet und versteht sich als produziert und von alternativen Vermittlungskonzepten Vernetzungsplattform der zeitgenössi- begleitet werden. Einmal jährlich wird mit dem Köler schen Kunstszene Estlands mit inter- Kunstpreis ein Stipendium an einen vom Publikum no- nationalen Kooperationspartnern. Das minierten Künstler vergeben; die Preisverleihung wird Center for Contemporary Arts ist der von einem Konzert einer lokalen Band begleitet. Das Kommissär des Estnischen Pavillons Museum betreibt ein selbstorganisiertes kleines Cáfe; auf der Biennale von Venedig. in der angrenzenden Garage befindet sich der Lugemik Bookshop, der vom Grafik Designer Indrek Sirkel und WWW.KUNSTIHOONE.EE der Künstlerin Anu Vahtra 2010 gegründet wurde und WWW.CCA.EE sich in enger Zusammenarbeit mit Künstlern, Autoren und Designern auf die Publikation von Kunstbüchern und Editionen spezialisiert hat.

WWW.EKKM.EE

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KUMU

Das KUMU Art Museum ist das größte Museum Estlands und eines der größten Museen Nord­ europas. Bereits kurz nach der Unabhängig- keit Estlands 1991 geplant, war es zunächst in einem temporären Gebäude in der Altstadt untergebracht. 1994 gewann der junge finnische Architekt Pekka Vapaavuori einen international ausgeschriebenen Wettbewerb; die Umsetzung des Entwurfs erfolgte jedoch erst 2006. Während der langen Entwicklungsphase änderte sich auch die konzeptionelle Ausrichtung des Museums, wobei der ursprüngliche Plan, eine Nationalga- lerie zu errichten, verworfen wurde. Heute sind Teile der 60.000 Werke umfassenden Sammlung estnischer Kunst ab dem frühen 18. Jahrhundert in wechselnden Präsentationen zu sehen, eine Etage wird regelmäßig mit Ausstellungen zeitge- nössischer nationaler wie internationaler Kunst bespielt. Das KUMU Art Museum umfasst insge- samt 25.000 Quadratmeter. Sein geschwungenes Atrium durchzieht das lichtdurchflutete sieben- stöckige Gebäude aus Dolomitgestein, Holz und Kupfer – Materialien, die in der lokalen Bautraditi- on verankert sind. Der Standort des Museums am Rande des unvollendet gebliebenen Parks, von Peter dem Großen errichtet und an der Stadt- grenze Tallinns gelegen, kann als Symbol für den schwierigen Aufbruch des Landes aus der rus- sischen Vorherrschaft hin zur selbstbewussten modernen Kulturnation gelesen werden.

KUMU ART MUSEUM KUMU.EKM.EE Foto: Arne Maasik

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RUND UM TALLINN

ARVO PÄRT CENTRE | © Tõnu Tunnel

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GALERIEN & KÜNSTLER

Vor 10 Jahren gründete die Künstlerin und Grafikdesignerin Olga Temnikova mit dem Krea­ tivunternehmer und Filmproduzenten Indrek Kasela ihre international agierende Galerie Temnikova & Kasela. Der Schwerpunkt liegt in der Vermittlung von etablierten und aufstreben- den Künstlern aus den Baltischen Republiken, Finnland und Russland. Die zwischen Wien und Tallinn lebende Kris Lemsalu (*1985) wurde ARVO PÄRT CENTRE etwa durch ihre surreal anmutenden Keramiks- kulpturen, überbordenden Installationen und Ein Ausflug in das 35 Kilometer von Tallinn rituell-skulpturalen Performances international entfernt gelegene Arvo Pärt Centre auf der bekannt. 2019 hat sie Estland auf der Biennale Halbinsel Laulasmaa ist ein Highlight für jeden in Venedig vertreten. Die Galerie repräsentiert Estlandreisenden. Entlang der sanften, in atem- darüber hinaus den estnischen Maler, Video- beraubendes Licht getauchten Küstenlandschaft und Performancekünstler Jan Toomik (*1961), des Golfs von Finnland gelangt man in einen den Pionier auf dem Gebiet der in kleinen Wald aus hochgewachsenen Pinien, Estland Kaarel Kurismaa (*1939), die junge voll von Blaubeeren und Pilzen am Rand des Multimediakünstlerin Flo Kasearu (*1985), die Dorfes Lohusalu. Nach einem kurzen Spazier- ihr gesamtes Haus in ein eigenes Museum ver- gang durch den verwunschenen Wald erreicht wandelt hat, oder Merike Estna (*1980), die vor man das persönliche Archiv- und Research allem für ihre starkfarbigen, von idiosynkrati- Center des estnischen Komponisten Arvo Pärt schem Humor durchzogenen Malereien bekannt (*1935). Er gilt durch die aus der Verbindung ist. Temnikova & Kasela nehmen regelmäßig an von Klang, Stille und Literatur inspirierten Messen wie Frieze London, Art Basel, Armory Werke als einer der weltweit wichtigsten Show New York, Paris International oder Komponisten klassischer und religiöser Musik. viennacontemporary teil. Olga Temnikova und Das Arvo Pärt Centre vereint das Archiv des Indrek Kasela sind sehr engagierte Netzwerker, Komponisten seiner originalen Manuskripte die sich bemühen, die internationale Kunst­ und Druckwerke mit einem Informations- und szene nach Tallinn zu bringen und langfristige Musikcenter. Es besteht aus einem 150 Plätze Kooperationen zu entwickeln. fassenden Konzertsaal, einer Bibliothek mit offenem Kamin, einem Videoraum und einem gemütlichen Cáfe mit eigener Kinderecke. Das niedrige, langgestreckte Gebäude, das 2014 von TEMNIKOVA.EE den spanischen Architekten Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano entworfen wurde, steht in perfekter Harmonie mit der es umgeben- den Waldlichtung. Inspiriert von der Stille und Geometrie von Arvo Pärts Musik öffnet sich der sanft geschwungene Bau aus Beton, Holz und Glas mit mehreren Innenhöfen zur Landschaft hin. Angegliedert befindet sich ein Aussichts­ turm aus Stahl, von dessen Plateau sich ein fantastischer Rundumblick auf den Pinienwald und die dahinter liegende ruhige Meeresküste bietet. Durch die Bibliothek erreicht man eine kleine, im griechischen Stil errichtete Kapelle, die dem russisch-orthodoxen Mönch Siluan von Athos und dem Archimandrit1 Sophroni Sacharow gewidmet ist. Das Arvo Pärt Centre ist ein Ort der Ruhe und Einkehr und bietet allen, die an der Musik und Gedankenwelt des Komponisten interessiert sind, eine Reihe von Möglichkeiten, seine Musik zu hören und ein tieferes Verständnis für seine Musiktheorie und Philosophie zu erlangen. Es wird empfohlen, WWW.ARVOPART.EE die Öffnungszeiten zu beachten, Gruppen von 1 Archimandrit: bezeichnet den Vorsteher eines Klosters in mehr als zehn Personen werden gebeten, sich den orthodoxen Kirchen, in den altorientalischen Kirchen FLO KASEARU MAJAMUUSEUM vor dem Besuch anzumelden. und in den katholischen Ostkirchen, vergleichbar mit dem Flo Kasearu House Museum Abt eines römisch-katholischen Klosters. Courtesy Flo Kasearu, Foto: Henna Mikilä

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