SWR2 Musikstunde Henryk Szeryng – Weltbürger und Weltklasse-Geiger (4)

Von Jörg Lengersdorf

Sendung vom: 19. August 2021 (Erstsendung 20. September 2018) Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2018

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Anfang der 50er Jahre macht ein Landsmann von Henryk Szeryng in Mexico City Station. Der polnische Pianist Artur Rubinstein. Rubinstein gilt bis heute auch wegen seiner launigen Memoiren als der Inbegriff des hypertalentierten Sonnyboys, der lieber Wein, Kaviar, Zigarren und Liebschaften frönt, als zu viel zu üben. Dennoch hat auch Rubinstein schon ein paar pianistische Krisen hinter sich, als er Anfang der 50er Jahre durch Südamerika tourt. Die neuen Perfektionisten des Musikbetriebs, haben eine neue Mode technischer Makellosigkeit etabliert. Besonders die Begegnung mit dem jüngeren Vladimir Horowitz muss Altmeister Rubinstein geradezu schockiert haben. Angeblich ist es Rubinsteins Ehefrau, die ihn schließlich auf den Pfad der Tugend führt und eine gewisse Regelmäßigkeit in seine Übe-Routinen bringt. Aber gerade wegen seiner antimechanischen Nonchalance, wegen einer damals schon irgendwie aus der Zeit gefallenen Attitüde des genießerischen Grandseigneurs, gilt Artur Rubinstein nicht wenigen Klavierfreunden als bester Chopin Spieler seiner Zeit. Im Sommer 1950 sitzt also einer der letzten echten Romantiker auf der Bühne, als der 31jährige Henryk Szeryng im Publikum gebannt jene Musik verfolgt, die ihm im Kleinkindalter auch seine Mutter schon vorgespielt hat. Rubinstein spielt Chopin, und für Szeryngs Karriere rötet sich ein neuer Morgen.

Musik 1 Frederic Chopin: Klavierkonzert Nr. 2 (3.23) Artur Rubinstein (Klavier) The Philadelphia Orchestra Leitung: Eugene Ormandy

Artur Rubinstein in einem seiner pianistischen Schlachtrösser, Chopins zweitem Klavierkonzert.

Im Sommer 1950 sitzt Szeryng hingerissen im Publikum in Mexico City. Vielleicht überfällt ihn angesichts der Chopinschen Musik Heimweh. Rubinstein ist bereits in seinen 60ern, Szeryng Anfang 30. Dennoch dürften sich beide habituell nicht ganz unähnlich sein. Beide sind weltläufig, vielsprachig, elegant, haben phänomenale Gedächtnisse und beherrschen äußerst charmante Konversation. In einem Punkt unterscheiden sie sich dennoch. Über weite Strecken seines Virtuosen Lebens sind Rubinstein falsche Töne verhältnismäßig egal, Szeryng dürfte dagegen kaum je welche

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öffentlich gespielt haben. Zudem kultviert Rubinstein die eher geigenfeindliche Legende, er habe als Kleinkind eine Violine, die ihm seine Eltern geschenkt hätten, wütend zertrümmert, weil er lieber Klavier spielen wollte. Henryk Szeryng kennt die Geschichte von der zertrümmerten Geige vielleicht gar nicht, er fasst sich jedenfalls ein Herz. Nach dem Konzert wagt er sich in Rubinsteins Garderobe und gesteht dem noch verschwitzten Rubinstein: „Nie zuvor habe ich Chopin so spielen gehört… Ihr Spiel erinnert mich an das … meiner Mutter…“. Das sagt Szeryng ernsthaft zu Rubinstein, vermutlich auf polnisch, und der überlegt sicher, ob er das jetzt für eine völlige Unverschämtheit halten soll, oder ob er das schräge Kompliment einfach weglächelt. Rubinstein entscheidet sich für Zweiteres, und lädt Szeryng, der sich als Musiker vorstellt, tatsächlich am nächsten Tag zu sich aufs Hotelzimmer ein. Szeryng wittert seine Chance, er bringt seine Geige mit…

Musik 2 J.S. Bach: Fuga aus der Sonate für Violine solo g-Moll (5.47) Henryk Szeryng (Violine)

Henryk Szeryng mit der Fuge aus Bachs g-Moll Solosonate.

Im Hotelzimmer in Mexico bittet Rubinstein seinen jungen Bewunderer zunächst darum, Auszüge aus Bachs Solorepertoire vorzutragen, denn schließlich muss der Klavierstar erst einmal wissen, ob der Mann etwas kann. Die Messlatte liegt hoch. Was Szeryng sicher weiß ist, dass Artur Rubinstein öfters mit dem unangefochten größten Geiger der damaligen Gegenwart kammermusiziert: mit Geigengott Jascha Heifetz. Rubinstein und Heifetz hassen sich privat, verdienen aber als Konzertgespann eine Menge Schmerzensgeld, für die von beiden als unerträglich geschilderten Proben. Rubinstein hat also in geigerischer Hinsicht fast unerreichbare Maßstäbe im Ohr, was Perfektion und edlen Klang angeht. Heifetz beherrscht sicher Stücke, in denen ihm niemand das Wasser reichen kann. Aber im Bachspiel ist es nun einmal Szeryng, der, zwar noch unentdeckt, aber zweifellos mit viel Selbstbewusstsein, die Standards für die nächsten Generationen setzt. So reine in Marmor gemeißelte Akkorde ohne jeden Makel dürfte auch der vielgereiste Rubinstein noch nie gehört haben. Szeryng hat die erste Runde im privaten Probespiel überstanden, mit Bravour. Auch Rubinstein ist klar: wer so Bach spielt, wird auch im Rest des Repertoires wenig Probleme haben, schwerer wird es nicht.

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Also setzt sich Rubinstein ans Klavier, fragt: was spielen wir? Szeryng antwortet sinngemäß: egal, ich kann alles.

Musik 3 : Rondo aus: Sonate F-Dur op. 24 (6.22) Artur Rubinstein (Klavier) Henryk Szeryng (Violine)

Artur Rubinstein und Henryk Szeryng 1959 in einer der schönsten Aufnahmen, die sie zusammen eingespielt haben, im Finale von Beethovens „Frühlingssonate“.

Diese warm leuchtende Einspielung wirkt ewig frisch und hat auch im 21. Jhd. nichts von ihrem Referenzcharakter verloren. Wer sich näher mit der Discografie der Beethoven Sonaten für Violine und Klavier beschäftigt, kommt daran bis heute nicht vorbei. Ein paar Stunden musizieren also Szeryng und Rubinstein gemeinsam, angeblich im Hotelzimmer, so wird es jedenfalls erzählt. Und danach spricht Rubinstein jenen Satz, dessen Folgen Henryk Szeryngs Leben für immer in andere Bahnen lenken: „Sie müssen mehr konzertieren – auf allen großen Bühnen der Welt“.

Das ist vielleicht eine Meinung, die Szeryng teilt, schließlich ist er ja Anfang 30 und es ist höchste Zeit, dass die Karriere mal Fahrt aufnimmt. Aber nach verheerendem Weltkrieg und verwüsteter europäischer Kulturlandschaft gibt es nur einen Ort, von dem man wirklich die Bühnen aus erobern kann: die USA. Die sind fest in der Hand etablierter Stars, und wer mittun möchte, muss vom legendären Impresario vertreten werden. Die Liste von Huroks Stars liest sich wie ein Who is Who der Kulturszene. Normalerweise würde Hurok sich für einen unbekannten polnischen Emigranten mit angestaubten Wunderkind-Referenzen nicht sonderlich interessieren. Amerika ist voll mit geflüchteten Ex Wunderkindern aus Osteuropa. Aber Artur Rubinstein hat beste Verbindungen. Er ruft Hurok persönlich an, und der tut, was er kann: Künstler an ein riesiges Publikum bringen.

Im Oktober ist Szeryng schon in Rubinsteins Haus in Los Angeles. Man unterhält sich über Kunst und Philosophie, und probt mit den berühmtesten Kollegen der Musikwelt.

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Musik 4 : Klaviertrio Nr. 1 d-Moll, Langsamer Satz (5.47) Henryk Szeryng (Violine) (Violoncello) Artur Rubinstein (Klavier)

Henryk Szeryng, Cellist Pierre Fournier und Artur Rubinstein in Robert Schumanns d-Moll Trio.

Auch die Aufnahmen dieser drei Herren werden Renner auf dem Plattenmarkt, nicht zuletzt, weil besonders Szeryngs Spiel so ungeheuer lyrisch atmet, obwohl Rubinsteins Klavierspiel sich manchmal zu laut in den Vordergrund drängt. Später wird Rubinstein, der ja auch Pianist im sogenannten „Million Dollar Trio“ mit Jascha Heifetz und Gregor Piatigorsky ist, diese neue Kammermusikerfahrung mit Henryk Szeryng noch für ein paar Seitenhiebe auf den verhassten Heifetz nutzen. In seiner Autobiografie erwähnt Rubinstein, dass er einige der Stücke ja auch schon mit Heifetz aufgenommen habe. Er bemerkt ziemlich lakonisch, dass die späteren Aufnahmen mit Szeryng endlich gelungen seien.

Überhaupt taucht der Name Szeryng in Rubinsteins ziemlich umfangreichen Memoiren tatsächlich nur auf zwei Seiten auf, und da eben vor allem, um gegen Heifetz zu sticheln. Rubinsteins Egozentrik lässt sogar einen Geiger wie Szeryng zur Quasi-Fußnote werden, aber das kann Szeryng bald egal sein. Er wird jedenfalls die Geschichte, wie Rubinstein ihn im Hotelzimmer entdeckt hat, lebenslang erzählen, tatsächlich verdankt er dem polnischen Pianisten ja durchaus, dass er Anfang dreißig plötzlich zum Star wird. Aber Szeryng emanzipiert sich auch sofort vom Mentor. Der polnische Jude Rubinstein hat während des Krieges geschworen, nie wieder auf deutschem Boden zu konzertieren. Viele große Musiker folgen Rubinsteins Vorbild. Henryk Szeryng aber ringt sich 1954 zu einer ersten Deutschland-Tournee durch. Im Nachkriegsdortmund spielt Szeryng mangels Konzertsaal Mozarts A-Dur Konzert… im Kino…

Musik 5 W.A. Mozart: Alla Turca aus dem Violinkonzert A-Dur KV 219 (5.16) Henryk Szeryng (Violine) New Philharmonia Orchestra Leitung: Alexander Gibson

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Fast lakonisch der Schluss, jeder Ton dennoch bis ins letzte veredelt, und in den schroffen alla Turca Passagen platzt diese Aufnahme dann auch noch vor praller Energie. Auch Mitte des letzten Jahrhunderts konnte Mozart schon irrsinnig aufregend sein. In jenen Aufnahmen, denen man heute oft völlig zu Unrecht etwas bieder Verstaubtes andichtet.

Dennoch wurzelt Szeryngs Mozartspiel hörbar in einer Ära, die zu Lebzeiten Szeryngs denn auch zu Ende geht. Seine großen Mentoren sind tot. Der erste Förderer, Bronislaw Huberman, ist im Schweizer Exil verstorben. Lehrer ist in den Wirren der Flucht einem Herzinfarkt erlegen. Und der väterliche Freund Jaques Thibaud wird 1953 von Szeryng persönlich zum Pariser Flughafen Les Invalides gebracht, bevor er in eine Maschine nach Vietnam steigt. Es ist die letzte Umarmung zum Abschied, das Flugzeug stürzt ab, keiner der Insassen überlebt. Szeryng indes wird immer mehr zum Angehörigen der konzertierenden Jetset Klasse, auf wechselnden Kontinenten gleichermaßen zu Haus. Holland, Mexiko, Schweiz, Kanada, alles steht in kurzer Folge 1955 auf dem Tourneeplan. Ausgerechnet während Herbst und Winter gibt es eine Höllentour durch kanadische Provinzen. Szeryng und Pianist Charles Reiner geben mitunter zwei Konzerte täglich in eiskalten Konzertsälen. Sie picknicken bei Schneestürmen im Auto und verflüssigen Kälte sowie Verpflegung mit Rotwein. Das wäre nicht weiter bemerkenswert. Es gibt unzählige, sicher ebenso minimalkomfortablen Reisen durch andere Länder. Aber es ist die erste und einzige Erwähnung von Alkohol in Szeryngs kurzer biografischer Skizze, die seine Ehefrau später veröffentlichen lässt.

Musik 6 : The Old Refrain (3.41) Henryk Szeryng (Violine) Charles Reiner (Klavier)

Henryk Szeryng und Pianist Charles Reiner in Fritz Kreislers “Old Refrain”. Selbstverständlich wäre der Rotweingenuss Szeryngs und Reiners auf der kanadischen Tournee nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht später immer wieder von Augenzeugen angeblich bemerkt worden wäre, dass Szeryng vor Auftritten regelmäßig einige Sherrys trinkt, andere sprechen von ganzen Spirituosenflaschen. Da Szeryngs Spiel in Aufnahmen, auch von live Konzerten, ausnahmslos ohne irgendwelche Makel ist, sind solche Anekdoten für den Hörer jedenfalls künstlerisch irrelevant, aber immerhin erzählt sogar Geigerkollege Daniel Hope in seinem Buch „Toi, Toi,Toi – Pannen und Katastrophen in der Musik“ jene Geschichte, nach der Szeryng zu einem Konzert mal 30 Minuten zu spät auf der Bühne erschienen sein

6 soll, trotz Aufbruch in Richtung Saal. Er habe sich unter Alkoholeinfluss verlaufen in den Hinterbühnengängen, erzählt Hope.

Ob es stimmt, dass Szeryng sich von nun an von Schülern gern wahlweise mit „Exzellenz“ oder „Maestro“ anreden lässt, und schrecklich böse werden kann, wenn er in diesem Sinne falsch adressiert wird? Auch das ist eines der Gerüchte, die man noch heute von alten Orchestermusikern erzählt bekommt, die Szeryng persönlich getroffen haben. Wofür immer Szeryng gefürchtet gewesen sein mag bei Studenten oder Kollegen, eine Sache wird übereinstimmend berichtet: er konnte ein ausgesprochen generöser Förderer sein, sowohl von Schülern, als auch von neuer Musik.

Henryk Szeryng führt viele Werke zur Welturaufführung, oft in Mexiko, aber auch in Europa. 1962 spielt er in das ihm gewidmete zweite Violinkonzert von zum ersten Mal…

Musik 8 Jean Martinon: Violinkonzert Nr. 2 (HS gewidmet) (2.49) Henryk Szeryng (Violine) Symphonieorchester des BR Leitung: Rafael Kubelik

Henryk Szeryng im Violinkonzert von Jean Martinon.

En Masse findet man in der Musikerwelt jene Erzählungen über Szeryng, die ihm zwar extreme Zuverlässigkeit in geigerischer Hinsicht bescheinigen, aber ebenso gewisse Temperamentsschwankungen im persönlichen Umgang mit Menschen. Allein: selbst auf diesem Feld dürfte Szeryng ein recht normales Exemplar von Künstlergenie sein. Kollegen sind jedenfalls nicht weniger schwierig. Anekdoten über den vermeintlich misanthropischen Heifetz, den irren Glenn Gould, den Choleriker Toscanini oder dessen folglich völlig neurotischen Schwiegersohn Horowitz kurbeln schließlich die Geldmaschine an. 1961 probt Henryk Szeryng also mit Dirigent George Szell und dem Cleveland Orchestra Brahms.

Ein anwesender Musiker erinnert sich später, wie Szeryng sich recht schulmeisterlich während der Probe über Tempi äußert, was Szell wenig witzig findet. Die Probe eskaliert, jedenfalls dirigiert Szell abends im Konzert derart unbarmherzige Tempi, dass Szeryng Mühe hat, mitzuhalten. Erstaunlicherweise erzählen andere Quellen die Geschichte mit genau

7 umgekehrten Vorzeichen, hier ist nicht Szeryng der gelackmeierte, sondern Szell gerät ins Schwitzen. In manchen Versionen wurde im katastrophalen Konzert auch nicht Brahms gegeben, sondern ein völlig anderes Stück… Vorsicht ist also geboten beim Weitererzählen. Aber wie gesagt: keine Künstlerlegende ohne allfällig schräge Anekdoten, das gilt auch für den äußerlich oft überkorrekt bis steif wirkenden Szeryng.

Musik 7 Peter Tschaikowsky: Letzter Satz aus dem Violinkonzert op. 35 (9.36) Henryk Szeryng (Violine) Boston Symphony Orchestra Leitung: Charles Munch

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