MASARYKOVA UNIVERZITA BRNO

FILOZOFICKÁ FAKULTA

ÚSTAV GERMANISTIKY, NORDISTIKY A NEDERLANDISTIKY

Učitelství pro st řední školy

Der Krieg in den Werken von Heinrich Böll

MAGISTERSKÁ DIPLOMOVÁ PRÁCE

Vypracovala: Bc. Sylvie Gorková

Vedoucí práce: PhDr. Jaroslav Ková ř, CSc.

Brno 2011

Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und nur mit Hilfe der angegebenen Literatur verfasst habe.

......

2

An dieser Stelle möchte ich mich bei PhDr. Jaroslav Ková ř, CSc., für seine Hilfsbereitschaft bedanken.

3 Inhaltsverzeichnis :

1. Vorwort ...... 5

2. Was bedeutet der Krieg für die Menschheit...... 7

3. Krieg in der Literatur...... 8

3. 1. Krieg in der deutschen Literatur...... 12

4. Heinrich Böll...... 13

4.1. Heinrich Böll im Zweiten Weltkrieg...... 16

4.2. Heinrich Böll – der Heimkehrer...... 23

5. Nachkriegsliteratur...... 27

6. Die Werke von Heinrich Böll mit der Kriegsthematik...... 30

6.1. Problematik der Schuld bei Heinrich Böll………………………...33

7. Die Kurzgeschichte...... 35

7.1. Heinrich Bölls Kurzgeschichten...... 36

7.2. Kriegserzählungen von Heinrich Böll...... 38

7.3. Kurzgeschichten aus der Nachkriegszeit...... 41

8. Der Sammelband: Wanderer, kommst du nach Spa...... 44

8.1. Die Kurzgeschichte: Wanderer, kommst du nach Spa...... 45

8.1. Über die Brücke...... 48

8.2. Die Botschaft...... 50

9. Romane und grö βββere Erzählungen ...... 53

9.1. Der Zug war pünktlich...... 54

9.2. Wo warst du, Adam?………………………………………………60

9.3. Der Engel schwieg...... 69

10. Zusammenfassung...... 72

11. Literaturverzeichnis...... 73

4 1. Vorwort

Als Thema für meine Magisterarbeit habe ich den Krieg in den Werken von Heinrich Böll ausgewählt. Das Kriegsthema war in der Literatur sehr oft und auch heute ist es aktuell. Auch jetzt in diesem Moment verläuft irgendwo in der Welt ein Krieg, oder es gibt eine potentielle Gefahr der Entstehung eines Kriegskonfliktes. Aus diesem Grund war und ist diese Thematik in der Literatur sehr beliebt.

Während meiner Arbeit an der Magisterarbeit habe ich mit einer umfassenden Menge an fremdsprachigen Materialien gearbeitet, die dieses Thema betreffen. Mit ihrer Hilfe habe ich eine Magisterarbeit geschrieben, die sich mit der Kriegsthematik in den Werken von Heinrich Böll beschäftigt.

Am Anfang meiner Arbeit richte ich meine Aufmerksamkeit auf die Übersicht der Weltkriegsliteratur und auch auf eine kurze Übersicht der deutschsprachigen Kriegsliteratur. Es handelt sich um die ältesten germanisch-deutschen Dichtung bis zur Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Werke mit der Kriegsthematik reichen also aus den Zeiten der Heldenlieder und Epen (Hildebrand, Nibelungen) bis hin zu den Werken von E. M. Remarque, Bertolt Brecht, usw.

Dann gebe ich einen kurzen Überblick über den Autor Heinrich Böll. Große Aufmerksamkeit widme ich dabei vor allem Bölls Leben während des Zweiten Weltkrieges und nach dem Zweiten Weltkrieg, weil diese zwei Lebensetappen sehr wichtig für sein späteres Werk sind. Als Soldat erlebte er nämlich den ganzen Zweiten Weltkrieg und seine eigenen Erfahrungen benutzte er in seinen Erzählungen und Romanen.

Der weitere Teil der Arbeit konzentriert sich auf die Nachkriegsliteratur, deren Zweck und Sinn es vor allem war, die Wirklichkeit des Krieges zu zeigen. Andere Bezeichnungen dieser Literatur sind Trümmerliteratur oder auch Heimkehrerliteratur.

Der gro βe Teil der Arbeit befasst sich mit den Werken mit Kriegsthematik von Heinrich Böll. Zuerst widme ich mich seinen Kurzgeschichten. Es handelt sich um

5 die Kriegserzählungen und auch um die Kurzgeschichten aus der Nachkriegszeit. Dann analysiere ich einige Erzählungen aus dem Sammelband Wanderer, kommst du nach Spa... , es sind z. B. „Die Botschaft“ oder „Über die Brücke“.

Der letzte Teil ist den Romanen und grö βeren Erzählungen von Heinrich Böll gewidmet. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, die Problematik des Krieges in seinen Werken Der Engel schwieg , Wo warst du, Adam? und Der Zug war pünktlich zu analysieren.

6 2. Was bedeutet der Krieg für die Menschheit?

Die Kriege waren hier immer, sie sind so alt wie die Menschheit selbst. Der Krieg entdeckt die dunkelsten Seiten der Menschheit wie Brutalität und Gnadenlosigkeit. Es gab kaum ein Moment in der Geschichte, in dem nicht irgendwo auf der Erde ein Krieg geführt wurde. Auch jetzt verläuft bestimmt irgendwo in der Welt ein Krieg. Jeder Krieg beginnt immer im Kopf des Menschen, wird also von Menschen verursacht und auch ausgeführt. Trotzdem liegt es nicht in der Menschennatur, Kriege zu führen.

Jeder Krieg hat sowohl negative Folgen für die Menschheit als auch eine wichtige historische Bedeutung. Durch die Revolutionskriege wurden die demokratischen Gedanken in Europa verbreitet, durch die Bauernkriege der Protestantismus. Der Zweite Weltkrieg hat das Aufstreben des Faschismus in der Welt stark zurück gedrängt. Vor allem bedeutet aber jeder Krieg für die Menschheit viel Leiden, Pein, Trauer und auch Tod. Millionen Menschen verlieren ihr Leben, Hab und Gut und oft auch ihre Heimat. Der Krieg verursacht auch Zusammenbruch der Wirtschaft der betroffenen Länder.

Der Krieg verändert immer das Leben der Menschen, aber leider nur negativ. Der Krieg verändert grundsätzlich seine Werte. Vor allem für die Soldaten und für die direkten Teilnehmer des Krieges ist es sehr schwer. Sie müssen sich an die Brutalität des Krieges gewöhnen.

Die Ursachen des Krieges sind unterschiedlich, sehr oft beginnt ein Krieg aus politisch motivierten Gründen, oftmals sind die Gründe noch schlechter, z. B. die Zerstörung oder die Gewalt.

Die Kriege spielen also eine sehr wichtige Rolle in der Weltgeschichte. Deshalb wurden sie zu einem wichtigen Bestandteil der Literatur. Die meisten Bücher mit der Kriegsthematik sind gegen den Krieg gerichtet.

7 3. Krieg in der Literatur

Neben Liebe ist der Krieg eines von den häufigsten Themen in der Literatur. In der deutschen Literatur war dieses Thema aktuell vor allem nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg.

Gegenstand des Themas ist, was die Zivilisation bedroht: einerseits, der Rückfall ins Barbarische, andererseits, die Absolutsetzung willkürlicher Ansprüche gegen das Rechtsempfinden, die gesellschaftliche Konvention oder gesetzliche Schranken. Das Thema bedingt eine funktionale Bezogenheit der Figuren auf aggressives Handeln . 1

In der Literatur gibt es verschiedene Formen, in denen der Krieg auftaucht – Romane, Dramen, sogar Sonette. Dieses Thema ist also nicht gattungsspezifisch und hat einen internationalen Charakter. Man kann es in jeder nationalen Literatur finden.

Die Kriegsthemen arbeiten oft mit Begriffen wie Vaterlandsliebe, Mut, Stolz, Kampfgeist, Sieg oder Kriegsniederlage, Verrat, Kameradschaft, Treue, Hass und Rache, Trauer, Tod, Abscheu und Ablehnung des Tötens und Mordens, Sehnsucht nach der Heimat und hauptsächlich mit der Sehnsucht nach Frieden.

Außerdem enthüllen die Texte eine Faszination mit Urinstinkten, eine Freude an Unmoral und Unvernunft und ein stark ausgeprägtes Interesse an der Panikbereitschaft des Menschen. In der Charakterisierung aggressiver Personen zeichnen sich neben tiefsinnigen psychologischen Erörterungen stark schematisierende Tendenzen ab. 2

Das Thema des Krieges war schon in der Antike beliebt. Einen wichtigen Inhalt der griechischen Sagen bildet der Trojanische Krieg, der zehn Jahre dauerte. Sehr

1 Daemrich, Horst. Daemrich, Ingrid. Themen und Motive in der Literatur. FranckeVerlag, Tübingen, 1987. S. 17-19 2 Ebenda.

8 wichtig und bekannt sind die Kriegsdichtungen Ilias und Odyssee von Homer, die einen Abschnitt des trojanischen Krieges schildern .

Weiter ist für die europäische Geschichte der Zeitraum des Römischen Reiches wichtig. Die Punischen Kriege waren eine Serie von drei großen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Römischen Republik und Karthago. Auch viele römische Dichter beschäftigten sich mit diesem Thema. Nach zahlreichen Kriegen wurde Rom zum Weltreich.

Ein wichtiger Umbruch in der Geschichte Deutschlands war der Drei βigjähriger Krieg. Dieser Krieg dauerte von 1618 bis 1648. Es war eine der größten Katastrophen der europäischen Geschichte . Es war ein Religionskrieg zwischen Protestanten und Katholiken. Am Ende des Krieges war Deutschland ruiniert, die Bevölkerung von 17 Millionen auf 8 Millionen Menschen gesunken.

Den Drei βigjährigen Krieg behandelt z. B. ein Sonnet von Andreas Gryphius mit den Namen Tränen des Vaterlandes :

Die Türme stehn in Glutt, die Kirch ist umgekehret. Das Rathhauß ligt im Grauß, die Starcken sind zerhaun, Die Jungfern sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun, Ist Feuer, Pest, und Tod, der Hertz und Geist durchfähret .3

Das Leben im Drei βigjährigen Krieg beschrieb in seinen Schelmenromanen Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Er zeigte die Zerstörung des Landes und die Verrohung der Sitten. Sein bedeutendstes Werk ist der Roman Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch .

Der siebenjährige Krieg dauerte sieben Jahre, von 1756 bis 1763. Auf der einen Seite kämpften Preu βen, Gro βbritannien und Portugal, auf der anderen Seite Österreich, Frankreich und Russland. Weitere kleine Staaten waren beteiligt.

3 http://www.bhak-bludenz.ac.at/literatur/barock/gryphius.asp

9 Die Kriegsliteratur wurde vor allem zuerst von dem Ersten und dann von dem Zweiten Weltkrieg beeinflusst . Der Erste Weltkrieg dauerte von 1914 bis 1918 und wurde als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ genannt. Der Krieg begann am 28. Juni 1914 durch das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand.

Der Zweite Weltkrieg dauerte von 1939 bis 1945 und stellt den bislang größten Konflikt in der Menschheitsgeschichte dar. Der Zweite Weltkrieg hat mehr Leid über die Menschheit gebracht als jedes anderes Ereignis des 20. Jahrhunderts. Während des Zweiten Weltkriegs fielen mehr Soldaten, wurden mehr unbeteiligte Menschen umgebracht, mehr Städte und Dörfer vernichtet als in allen anderen Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts insgesamt. Rund 60 Millionen Menschen kamen ums Leben. Der Kriegsverlauf des Zweiten Weltkriegs ist durch den Einsatz hochentwickelter Kriegstechnik bestimmt. Vor allem das Flächenbombardement der Luftstreitkräfte forderte enorme Verluste in der Zivilbevölkerung.

Der Zweite Weltkrieg begann in Europa vom Deutschen Reich am 1. September 1939 durch den Angriff der Deutschen auf Polen. England und Frankreich erklärten am 3. September 1939 Deutschland den Krieg. Polen wurde jedoch in kürzester Zeit besiegt, die Wehrmacht führte nämlich den Krieg in Polen vom ersten Tag an mit grausamer Härte. Der Krieg weitete sich im Jahre 1940 auf Nord- und Westeuropa aus.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1941 erreichten Hitlers militärische Erfolge ihren Höhenpunkt. Bis Anfang Dezember 1941 war fast das ganze Kontinentaleuropa in der Hand der Deutschen bzw. ihrer Verbündeten. Später war aber klar, da β der Krieg noch weitere dreieinhalb Jahre dauern sollte. Die deutschen Armeen verlieren nämlich im Januar 1942 in Ru βland viele Soldaten und die Kriegserklärung an die USA brachte einen starken Gegner auf den Plan.

Die Vereinigten Staaten traten in den Zweiten Weltkrieg nach dem Angriff auf Pearl Harbor auf Hawaii am 7. Dezember 1941 ein. Es war der Angriff der Kaiserlich Japanischen Marineluftstreitkräfte.

10 Für diese Zeit sind auch die Luftangriffe auf deutsche Städte typisch. Es begannen auch die Terroraktionen der Luftwaffe gegen englische Industriezentren wie Coventry, Antwort war der Angriff auf Westdeutschland.

Der Wendepunkt im Krieg wurde der Jahreswechsel 1942/1943. Mit der Niederlage der Deutschen in Stalingrad, in Nordafrika, der Japaner im See-Luft- Krieg und Landung der Alliierten in Marokko und Algerien begann der Untergang der Achsenmächte. Die Alliierten wurden vom europäischen Widerstand unterstützt, in dem Kommunisten oft führenden Anteil hatten.

Der Zweite Weltkrieg endete mit der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 in Europa, am 2. September desselben Jahres in Asien.

Der Zweite Weltkrieg beeinflusste die Literatur in der ganzen Welt. So entstehen die Bücher wie Sophies Entscheidung von William Styron, Schindlers Liste von Thomas Michael Keneally, Wie ich den Krieg gewann von Patrick Rayn, Catch-22 von Joseph Heller über die Absurdität des Krieges und die Dummheit der Militär- Maschinerie und viele andere Bücher.

11 3.1. Der Krieg in der deutschen Literatur

In der deutschen Literatur erschien das Kriegsthema zum ersten Mal in den nordischen Sagen, wie das Nibelungenlied ist. Das Nibelungenlied ist wahrscheinlich kurz vor 1204 in Passau entstanden. Der Autor ist unbekannt, er verarbeitet mündlich tradierte Vorstufen zu einem Buchepos. Aus diesem Epos spricht Kriegslust und die kriegerische Begeisterung der Helden.

Die deutschen Werke mit der Kriegsthematik reichen also von den Heldenliedern und Epen über Grimmelshausens Simplizissimus , Schillers Wallenstein, Kaisers Bürger von Calais bis zu Remarques Im Westen nichts Neues , Bölls Wanderer kommst du nach Spa..., Borcherts Draußen vor der Tür , Brechts Mutter Courage und Christa Wolfs Kassandra.

Zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern, die über den Krieg schrieben, gehört vor allem Erich Maria Remarque. Seine Werke Im Westen nichts Neues und Drei Kameraden gehören zu den meistgelesenen Büchern. In seinen Büchern verarbeitete er neben eigenen Erfahrungen aus dem ersten Weltkrieg vorwiegend die Erzählungen verwundeter Soldaten. Seine realistische Darstellung des Krieges ist unglaublich.

Zu den bedeutendsten Dramatikern der Emigration gehört vor allem Bertolt Brecht. Sein episches Drama Mutter Courage und ihre Kinder handelt von der Zerstörungskraft des Krieges.

Einen gro βen Erfolg hatte Wolfgang Borchert mit seinem Heimkehrerdrama Draußen vor der Tür. Es ist ein Antikriegsdrama mit expressionistischen Zügen.

12 4. Heinrich Böll

Heinrich Böll war einer der erfolgreichsten und international bekanntesten deutschen Nachkriegsautoren, Prosaiker, Hörspiel- und Fernsehspielautor, Essayist und Übersetzer. Er gehört zu den meistgelesenen Autoren seiner Zeit.

Böll wurde am 21. Dezember 1917 als sechstes Kind des Schreinermeisters und Holzbildhauers Viktor Böll in Köln geboren. Das Jahr 1917 war das schlimmste Hungerjahr des Ersten Weltkriegs. In seiner kleinbürgerlichen Familie waren die katholische Religion und die Ablehnung des Nationalsozialismus selbstverständlich. Dieses Milieu beeinflusste seine Ansichten, die später in seinen Büchern Ausdruck fanden. Der Glaube spielt für Heinrich Böll eine ähnliche Rolle wie für die Figuren in seinen Werken, z. B. für Ilona und Feinhals im Roman Wo warst du, Adam?. Der nicht kirchliche Katholizismus stellt für den Autor einen Gegenpol zur nationalsozialistischen Ideologie dar. Er gibt ihm auch die Hoffnung für besseres Leben nach dem Krieg. Familienloyalität als Freiheitsform wird ein Faktor seines utopischen Denkens.

Ein besonders guter Schüler war er nicht, wiederholte auch an dem Gymnasium eine Klasse . Im Jahre 1937 legte er sein Abitur ab und begann eine Lehre als Buchhändler in Bonn, die er im Jahr darauf abbricht. Im Sommersemester 1939 schreibt sich er für Germanistik und klassische Philologie an der Universität Köln ein . Der Kriegsausbruch zerstört seinen Studienplan, im Herbst 1939 erhält er die Einberufung zum Militärdienst.

Sonst war die Postkarte ganz normal, sie war an mich adressiert, und auf der Rückseite stand: „Herrn Bruno Schneider! Sie haben sich am 5.8.39 in der Schlieffen-Kaserne in Adenbrück zu einer achtwöchigen Übung einzufinden.“ 4

Von 1939 bis 1945 war Böll Soldat im Weltkrieg. Er leistet den Kriegsdienst in Frankreich, in Rumänien, in der Sowjetunion, in Ungarn und auch im Rheinland.

4 Heinrich Böll : Leben & Werk. Stadt Köln/ Heinrich-Böll-Stiftung e.V. 1995. S. 7.

13 Heinrich Böll selbst beschränkte seine wirkliche Kriegserfahrung auf weniger als vier Wochen. Das sind drei Wochen auf der Krim im November/Dezember 1943 und zwei Tage in Rumänien im Mai 1944. Es gefiel ihm nicht, da β er die meiste Zeit des Krieges an der Front nicht verbrachte.

Es ist wirklich ein ganz phantastisch sonderbarer Krieg, wir Soldaten sitzen hier fast wie im Frieden, sind braun und gesund, und Ihr hungert zu Hause und erlebt den Krieg in der schrecklichsten Weise, im Keller... 5

Kurz vor Kriegsende entfernte er sich von der Truppe und versteckte sich bei seiner Frau Annemarie. Aus Angst vor Entdeckung kehrte er mit gefälschten Papieren in die Wehrmacht zurück und geriet in Kriegsgefangenschaft, aus der er im September 45 entlassen wird. Während des Krieges schrieb Böll fast täglich Briefe, die überwiegend an Annemarie Cech gerichtet sind, aber auch an die Familie und Freunde.

Nach Krieg und Gefangenschaft kehrte Böll 1945 in seine völlig zerstörte Heimatstadt Köln zurück.

Während des Krieges starben bei insgesamt 262 Bombenangriffen auf Köln mindestens 20 000 Menschen. Köln war eine der am meisten zerstörten Städte Deutschlands. Fast die Hälfte der fast 70 000 Gebäude der Vorkriegszeit wurde zu 60 bis 100 % zerstört. 6

Er hatte also erlebt, wie sein Heimatland in einem Inferno aus Tod, Zerstörung, Ha β und Blut untergegangen war. Seine Lebenserfahrungen aus dieser Zeit haben aus ihm einen engagierten Streiter für Frieden und einen mutigen Verteidiger der Menschenrechte gemacht. Er war ein großer Europäer.

An die verzweifelte Situation im Jahre 1945 hat er in einem von seinen letzten Interviews erinnert.

Es war kein schöner Zustand, ein Deutscher zu sein. Es war so ungefähr die verächtlichste Bezeichnung: deutsch.“Mehr als viele wissen oder wahrhaben vollen hat er dafür getan, da β

5 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band I. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 359. 6 Heinrich Böll : Leben & Werk. Stadt Köln/ Heinrich-Böll-Stiftung e.V. 1995. S. 11

14 die Deutschen wieder einen respektierten Platz in der europäischen Völkerfamilie einnehmen können . 7

Während eines Fronturlaubs 1942 heiratete Böll Annemarie Cech , die er bereits gekannt hatte. Ihr erster Sohn Christoph starb noch in seinem Geburtsjahr 1945. Die Söhne Raimund, René und Vincent kamen 1947, 1948 und 1950 zur Welt.

Danach studierte er Germanistik. Im November 1946 beginnt er mit regelmä βiger schriftstellerischer Arbeit. Er war Mitglied der ,,Gruppe 47“ und Präsident des internationalen P. E. N.-Clubs. Er erhielt für sein Schaffen mehrere Literaturpreise, 1972 erhielt den Nobelpreis für Literatur. Er ist der erste deutsche Träger des Nobelpreises für Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Heinrich Böll ist in Langenbroich am 16. Juli 1985 gestorben.

7 Heinrich Böll : Leben & Werk. Stadt Köln/ Heinrich-Böll-Stiftung e.V. 1995. S. 3.

15 4.1. Heinrich Böll im Zweiten Weltkrieg

Der Schriftsteller hat als Gefreiter der deutschen Wehrmacht an dem ganzen Zweiten Weltkrieg bis zur Kapitulation der Deutschen 1945 teilgenommen. Während des Krieges war er in verschiedenen Kasernen und Einrichtungen in Deutschland. Er kämpfte an Kriegsschauplätzen durch ganz Europa, in Polen, Ungarn, Russland, Rumänien und Frankreich. Da β er den Krieg überlebte, war natürlich nicht selbstverständlich. Er wurde mehrfach verwundet .

Die Postkarte mit dem Gestellungsbefehl bekam er am 27. August 1939. Als der Krieg begann, war er noch keine 22 Jahre alt.

In dieser Stunde „feiere“ ich den historischen Augenblick, wo ich vor einem Jahr, am letzten schönen Sonntag im August 39, zum Kaffee meinen Gestellungsbefehl bekam; (….). 8

Drei Tage später war er zur Ausbildung in einer Kaserne in Osnabrück, wo ihn am 1. September der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überraschte. Hier verbrachte er fast zehn Monate. In diesen Monaten bestand seine Tätigkeit aus Kasernendienst und Arbeitsdienst (die Arbeiten wie Waggons mit Heuballen beladen, Pferdeställe ausmisten). Er gehört also zu den „unsoldatischen“ Männern der Kompanie. Aus dieser Epoche existieren 46 Briefe. Es ist relativ wenig, vielleicht weil er öfter Urlaub hatte und nach Hause fahren durfte. Briefe aus diesem Zeitabschnitt sind am meisten an Eltern und Geschwister gerichtet. Nur am 13. Februar 1940 dankt er im Brief dem Fräulein Annemarie Cech für Ihre Büchersendung. Interessant ist auch seine Sucht nach Pervitin. Auch die ganze Familie war pervitinsüchtig, bis diese Droge rezeptpflichtig wurde.

Der Dienst ist stramm, und Ihr mü βt verstehen, wenn ich späterhin nur alle 2-4 Tage schreibe. Heute schreibe ich hauptsächlich um Perviti n! 9

8 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band I. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 104. 9 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band I. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 22.

16 Erst im Juni 1940 kommt Heinrich Böll von Osnabrück weg, sein weiteres Ziel ist Bromberg in Polen. Diese Stadt gehörte bis 1918 zum Deutschen Reich. Am Anfang des Zweiten Weltkriegs war der Schauplatz sowohl polnischer als auch deutscher Vergeltungsaktionen. Die im Bromberg lebenden Deutschen wurden von Polen ermordet, weil sie verdächtigt wurden mit den deutschen Truppen zu paktieren. Diese diente als Vorwand für die Erschie βung polnischer Geiseln am 10. September 1939.

Nach etwa einem Monat wurde er nach Westen abkommandiert. Das Ziel war Frankreich, es war kleine französische Stadt. Hier blieb er nur drei Wochen, weil er wegen eines schlimmen Ruhranfalls ins Lazarett in Dury bei Amiens transportiert wurde.

Liebe Eltern und Geschwister! Nach hundertfünfzehnstündiger Fahrt sind wir gestern an unserem vorläufigen Bestimmungsort angekommen; von einem kleinen französischen Städtchen aus sind wir dann in der glühenden Sommersonne noch etwa zehn Kilometer in ein kleines Dorfmarschiert, mit dem verfluchten Tornister auf dem Rücken. (...... ) Es ist ja auch unglaublich, was wir allein in den kurzen Stunden, die wir nun nur tagsüber gefahren sind, an Verwüstungen und Zerstörungen gesehen haben; (….). 10

Böll selbst bagatellisiert die Krankheit in den Briefen, es existieren die Texte, die darauf hinweisen, da β diese Krankheit schwer für ihn war.

Ich bin jetzt schon in den fünften Woche im Lazarett und schon sechs Wochen krank, fühle mich aber jetzt wieder vollkommen gesund; doch die Ärzte sind mit Ruhrkranken äu βerst vorsichtig . 11

Dann war er wieder in Deutschland. Er war mehr als anderthalb Jahre lang in verschiedenen Kasernen im Köln und Umgebung. Er durfte nicht zurück in die aktive Armee, solange die Infektionsgefahr dauerte.

Am 1. September 1941 wurde er zum Gefreiten befördert. In dieser Zeit begann sich auch seine Beziehung zu Annemarie Cech zu vertiefen. Von allen Briefen, die

10 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band I. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 92-93 11 Ebenda. S. 118.

17 er während eines Jahrs schrieb, gehörte die gro βe Mehrheit Annemarie. Er heiratete sie während eines Fronturlaubs im März 1942.

Ende April 1942 kam Heinrich Böll in Köln zu einer neuen Einheit. Die Zahl der Briefe aus dieser Zeit ist groß. Zunächst war Böll in Flandern, andere Aufenthaltsorte waren Lumbres, Dohem, Pihem und kleine Dörfer südlich von Saint-Omer, wo er etwa sechs Wochen verbrachte. Damals wurde er Gruppenführer.

Nun habe ich heute Morgen zum ersten Mal eine Gruppe kommandiert und unterrichtet; ich wei β nicht, irgendwie fühle ich mich unglücklich nach dieser Schreierei, und heiser; ach, es ist fast so, als ob ich mich selbst verlassen hätte, ein ganz anderer geworden wäre; es ist nicht beglückend, diese Gruppenführerei, und ich bin auch noch sehr unsicher, aber vielleicht gibt sich das alles noch so, da β es mich glücklicher macht. 12

Dann wurde seine Einheit an den Ärmelkanal verlegt, drei Monate verbrachte er an den Küstenecke zwischen Calais und Boulogne. Er war jetzt nur einfacher Gewehrschütze, was für ihn besser war. Für ihn war es relativ glückliche Phase im Krieg. Seine Aufgabe war auf Fliegerposten zu stehen und mit dem Fernglas die Bucht beobachten. Bei gutem Wetter beobachte er auch die Kreidefelsen und Häuser von Dover, vor allem faszinierte ihn das Meer.

(….), und rechts die gro βe Wissant-Bucht, die 10 Kilometer breit ist; diese ganzen 10 Kilometer kann ich wunderbar mit meinem Fernglas absuchen, jede Kleinigkeit kann ich beobachten. Ein ganz besonderes Vergnügen ist es auch, drüben die Küste ins Glas zu nehmen; England, England; (…). 13

Dann wurde er zu einer bodenständigen Einheit versetzt und wurde wieder Gruppenführer. Er musste wieder Proviant, Holz, Fahrzeuge auftreiben. Das bedeutete für ihn Fahrten mit dem Fahrrad durch die Hügellandschaft und auch Kontakt mit der französischen Bevölkerung. Eine groβe Enttäuschung war für ihn die Ablehnung eines sechsmonatigen Studienurlaubsgesuchs.

12 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band I. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 325. 13 Ebenda. S. 420.

18 Am 23. November 1942 ging er zurück ans Meer, für einen Monat nach Saint- Valery-sur-Somme. Er arbeitete als Dolmetscher und Mitarbeiter in der Ortskommandantur. Er konnte mit einem anderen Kameraden in der Kommandantur wohnen. Er mu βte wieder Proviant beschaffen, musste sich in allen umliegenden Dörfern auskennen, war auch zuständig für die Quartiere.

Vom 26. Dezember 1942 bis zum 12. Januar 1943 hatte er den lang erwarteten Urlaub. Er war in Köln, wo auch die Hochzeit mit Annemarie verlief.

Nach dem Urlaub war er einige Zeit in Tully, etwa fünfzehn Kilometer südwestlich von Saint-Valery-sur-Somme. Er hatte Glück. Wenn er nach Tully nur einen Tag früher angekommen wäre, wäre er mit anderen nach Russland versetzt worden. Am Ende des Januars musste er nach Amiens ins Lazarett. Er hatte Augen- und Kopfbeschwerden. Hier blieb er drei Woche wegen gründlicher Untersuchung. Am 19. Februar war er wieder gesund. Von jeglichem Dienst wurde er befreit. Der Arzt schickte ihn sogar für zwei Tage nach Paris um Noten zu kaufen.

Fünf Tage später kam er zur Standortkommandantur in dem Badeort Le Tréport in Frankreich. Hier sollte er die nächsten drei Monate verbringen. In den Briefen aus dieser Zeit erwähnt er sehr oft die Bücher.

Ein sehr lockendes, wenn auch nicht sehr qualitatives Buch habe ich mir aus den Geheimbeständen des Buchhändlers geholt, jetzt am späten Abend, es ist Stefan Zweig: „Amok“; ich verspreche mir nicht viel davon, ich würde eigentlich fast lieber die dritte Lektüre von den „Marmorklippen“ beendigen, aber dieser Repräsentant der „14 Jahre“ lockt mir sehr. 14

Er beginnt auch eigene literarische Versuche zu schreiben. In Le Tréport ist positiv, da β hier keine Gewaltmärsche sind. Heinrich Böll arbeitet im Büro mit geordneten Stunden. Tagsüber hatte er viel Arbeit, er bediente drei Telefone, wurde wieder Dolmetscher und Schreibkraft bei der Kontrolle der zivilen Arbeitskräfte usw. Am Abend hatte er frei. Wieder pflegte er den Kontakt mit Franzosen. An diesem Ort

14 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band I. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 664.

19 schien der Krieg weit weg zu sein. Im März hatte er weitere Möglichkeit nach Paris zu fahren. Er hatte dort eine Dolmetscherprüfung, wo er nur „in der untersten Stufe als Sprachkundiger“ bestand. Deshalb nahm er nach der Rückkehr nach Le Treport beim Hausmeister die Stunden. Später meldete sich auch zu einem Französisch- Kursus.

Am 26. Mai 1943 musste Böll zurück zu seiner Kompanie in Tully gehen. Hier finden wieder die Übungen – auch nachts – und andere soldatische Aktionen statt. Jeden Abend war auch der politische Unterricht. Nach einem Monat kam jedoch der Urlaubschein und er fuhr in Richtung Köln.

Er hatte Glück, da β die Eltern nicht mehr in Köln lebten. Von Angriff auf Köln im Mai 1942 fanden sie eine Unterkunft im Hotel „Zu den vier Winden“, etwa 50 Kilometer südlich von Köln. Später schloss sich ihnen auch Annemarie an. Am 29. Juni 1943 wurde nämlich Köln durch britische und amerikanische Flächenbombardements fast zerstört. Dabei wurde der Kölner Dom schwer beschädigt.

Seine Kompanie wurde inzwischen wieder an die Kanalküste verlegt, Mittelpunkt war der kleine Badeort Cayeux. In dieser Zeit war auch die Kriegsatmosphäre intensiver als ein Jahr vorher. Die Luftangriffe auf die deutschen Städte waren verschärft. Heinrich Böll war aber vom Krieg weit entfernt.

Es ist zwar Krieg auch bei uns, aber wir spüren ihn nur in zermürbendem Warten und Müdigkeit. Aber es ist Krieg. Wirklich... 15

Im August 1943 wurde er nach Ru βland verlegt. Der Zug wurde von französischen Partisanen gesprengt, und Böll wurde leicht verwundet.

Erst im Oktober 1943 wurde Böll einer anderen Einheit zugeteilt, die nach Ru βland bald ziehen sollte. Er hatte die Möglichkeit in Frankreich zu bleiben, er wünschte sich aber die wirkliche Fronterlebnisse erleben. Die Reise war lang. Eines der möglichen Ziele war die Stadt Kiew. Sie wurde nach heftigen Kämpfen am 6. November von den Deutschen geräumt. Schlie βlich flug er nach Krim. Das war

15 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band II. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 867.

20 vermutlich Böll erstes Erlebnis des Fliegens. Die Halbinsel Krim wurde im Zweiten Weltkrieg nach heftigen Kämpfen um Sewastopol von 1941 bis 1944 durch die deutsche Wehrmacht besetzt. Die ersten Erfahrungen des Kampfes auf der Krim dauern über drei Wochen.

Niemals kann eine solch irrsinnige Feuertaufe, wie sie uns gleich fünf Minuten nach unserem Eintreffen in der vordersten Linie empfing, spurlos an einem Menschen vorübergehen; in diesen Tagen der absoluten Gefahr, des absoluten Schreckens. Dir werde ich es erzählen können, was es bedeutet, eine Kette russischer Panzer auf sich zurollen zu sehen und im Loch zu bleiben, was es bedeutet, mit Feuer und Stahl buchstäblich zugedeckt zu werden. 16

Am 2. Dezember wurde er verwundet. Es handelte sich um eine Kopfverletzung. Er war glücklich, da β er von der Krim weg ist. Dann verbrachte er drei Monate in verschiedenen Lazaretten, zuerst in Odessa. Sogar musste er wegen Probleme mit den Nerven zur neurologischen Untersuchung. Es ist nicht klar, ob sich um eine Simulation handelte oder ob es Folge der Kopfverletzung war.

Dann verbrachte er etwa einen Monat in Stanislau in Galizien, etwa 100 Kilometer südlich von Lemberg/Lvov. Hier waren für Böll am schlimmsten die Schwierigkeiten mit Post. Die Ungewiss βheit, ob die Lieben zu Hause noch leben, war für ihn schrecklich.

Heute habe ich wieder keine Post gehabt von Dir, und wei β doch, da β sie unterwegs ist, vielleicht hast Du auch nicht mehr geschrieben, weil Du mich schon entlassen wähntest, aber das glaube ich nicht, ach, Du schreibst mir gewi β. Es geht ja fast allen so, da β sie keine Post bekommen, wahrscheinlich wegen der gro βen Schneemengen. 17

Erst am Ende des Januars bekam ein Telegramm. Es war das erste Lebenszeichen seit dem 20. Oktober. Er arbeitete hier im Büro. Abends ging er ins Kino.

Auf dem Weg nach Saint-Avold traf er sich ohne Erlaubnis mit Annemarie in Köln. Hier verbrachte er mit ihr vier Tage. Der offizielle Urlaub begann am 10. März, und dauerte sechs Wochen. Das Leben in der Kaserne in Saint-Avold war für Heinrich Böll sehr schlecht.

16 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band II. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 954 – 955. 17 Ebenda. S. 1005-1006.

21 Das Leben in der Kaserne ist wirklich eine andauernde, unsagbare Qual. Es ist ganz real viel schlimmer als drau βen an der Front; es lä βt sich eben nur deshalb ertragen, weil man die Hoffnung auf Urlaub hat und die Gewi βheit, da β man mit denen, die man liebt, schneller und sicherer zusammenkommen kann auf irgendeine Weise. 18

Am 17. Mai fuhr Heinrich Böll zusammen mit 41 Soldaten in einem Wagon wieder an die Front. Das Ziel war zuerst nicht klar. Spät war klar, da β es Rumänien ist. In der Nähe der alten moldawischen Hauptstadt Iasi erlebte Heinrich Böll das zweite Kriegserlebnis. Dieses war von nur kurzer Dauer. Es dauerte etwa zwei Tage. Am 31. Mai 1944 lag er in einem Wald und wartete auf den Befehl zum Angriff, später wurde er von Granatsplittern im Rücken verwundet. Einige Zeit verbrachte er wieder in verschiedenen Lazaretten. Erst am 31. Juli wurde er entlassen.

Die letzten neun Monate des Zweiten Krieges war Heinrich Böll in Deutschland. Die Briefe aus dieser Zeit sind wenig informativ. Er war mit seiner Familie und Frau im Kontakt, musste er nicht die Briefe so oft schreiben. Mit Hilfe von gefälschten Verlegungspapieren gelang es ihm, statt an die Front nach Rumänien, nach Metz zu reisen. Auch lebte er mit gefälschtem Attest einige Monate mit seiner Familie in einem Behelfsheim unweit von Köln. In dieser Zeit lebte er in ständiger Angst, deshalb meldete er sich Anfang 1945 wieder bei der Truppe. Das gelang ihm ohne Aufsehen. Dann hatte er wieder Urlaub, den er selbst bis 25.3 verlängerte. Er hoffte auf „die Befreiung“ von den Amerikanern, es erfüllte sich aber nicht. Deshalb musste er sich wieder bei der Truppe zurückmelden.

Am 9. April 1945 wurde er zweieinhalb Kilometer nordwestlich von Denklingen durch die Amerikaner gefangengenommen. Nach Übergabe an die Briten und dann an die Belgier wurde er im September entlassen.

Au βer seiner Mutter, die im November 1944 nach einem Bombenangriff an Herzversagen starb, überlebte seine Familie den Krieg.

18 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band II. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 1007.

22 4.2. Heinrich Böll – der Heimkehrer

Das Kriegsende erlebt Böll in Ne βhoven, wo er sich zunächst als Deserteur bei seiner Frau versteckt hält. Aus Angst vor Erschie βung kehrte er Ende Februar 1945 in die deutsche Armee zurück. Kurz darauf gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Im September wird schon entlassen. Im Jahr 1945 war sein Sohn Christoph geboren.

Als H. Böll heimkehrte, war er fast schon 28 Jahre alt. Er war einer der vierhunderttausend überlebenden Einwohner von Köln. Fast sieben, das Leben prägende frühe Jahre, hatte er im Krieg verbracht. Er war Soldat nicht aus freiem Willen, sondern unter Zwang gewesen. Der Krieg hatte ihn zu einem Gegner aller Kriege werden lassen.

Aber die Wunden des Krieges bleiben, sie sind so absolut und unheilbar fast wie die ewig blutenden Wunden Christi, da doch eben alle Wunden der Menschheit die Wunden Christi sind (….) 19

Bis zu den Krieg hatte Böll nur eine Lebensspanne erlebt, die glücklich war und das war seine Kindheit. Seine Jugend war von der Weltwirtschaftskrise beeinflusst und als Heranwachsender hatte er den Terror des Naziregiments erlebt. Später wurde er zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und dann in die Wehrmacht.

Er hatte sich als Soldat so gequält, weil er unfrei war, von Angst bedroht und vor allem ohne die Möglichkeit, eigenes Leben zu finden. Jetzt war er Niemand, er hatte keine Ausbildung, keinen Beruf, aber hatte Frau und Kind.

Heinrich und Annemarie Böll blieben nicht lang in Ne βhoven. Sie kehrten nach Köln zurück, obwohl die Stadt völlig in Trümmern lag. Von allen Häusern in Köln waren nur dreihundert Häuser unbeschädigt geblieben. Der Kanalisation, Wassereinleitungen, Gasleitungen, der elektrischen Stromanlagen waren auch völlig zerstört.

19 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band II. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 1092.

23 Verwundet, verdreckt, deprimiert und zornig kehrt er mit achtundzwanzig Jahren 1945 aus der Gefangenschaft in sein zu drei Vierteln zerstörtes unheimlich stilles, staubiges Köln zurück. 30 000 von den früher 800 000 Einwohnern waren übriggeblieben und hausten in Ruinen und Kellern. 20

Bald kam das weitere Unglück. Am 14. Oktober 45 starb der Sohn Christoph, er hatte den Brechdurchfall nicht überstanden.

Das Leben nach dem Krieg in Köln war schwierig. Der Plan, den er mit Kunz sich in der Kriegsgefangenschaft ausgedacht hatte, gemeinsam eine Buchhandlung zu gründen, war angesichts der Nachkriegsrealität nicht möglich und deshalb bald vergessen. Er musste sich um die Familie kümmern, die Erfahrungen auf den Schwarzmärkten in Ru βland wurden ihm nützlich. Er schrieb sich sogar erneut an der Kölner Universität ein, um eine Lebensmittelkarte zu erhalten. Auch arbeitete er als Hilfsarbeiter in der elterlichen Schreinerwerkstatt, die sein Bruder Alois weiterführte.

Der Heimkehrer H. Böll brachte sich ganz langsam ins Leben zurück wie andere Deutsche. Es war aber etwas, was ihn unterschiedet: er war ein Schriftsteller. Das zeigte im Krieg in seinen Briefen an Eltern und Annemarie.

Mein Überdru β am Kasernenleben hat nun seinen Höhepunkt erreicht; bei der nächsten Gelegenheit melde ich mich freiwillig weg, gleich wohin; ich bin bestimmt alles andere als ein Held oder ein Draufgänger, aber dauernd in der Urbrutstätte des Unteroffiziersgeistes, in der Kaserne, ist es nicht zu ertragen (……) 21

Während langer Nachkriegsjahre wu βten dies nur seine Frau und wenige andere Freunde. Selbst Böll fühlte sich aber chancenlos. Seine Frau Annemarie war allerdings von seiner Begabung überzeugt, ebenso sein Freund Kunz.. Die ersten Veröffentlichungen änderten es nicht. Wichtig war, dass Böll sein Thema gefunden hatte. Es war der Krieg.

20 Jens, Walter. Küng, Heins. Anwälte der Humanität. Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Böll. Kindler. München. 1989. S. 144. 21 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band I. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 75.

24 Es war das gro βe, von den Deutschen nur langsam und widerwillig angenommene Thema der Epoche: die noch immer unerkannte, schon wieder verdrängte, übertünchte, beschönigte Realität des Krieges, deren Erleben Böll einen fundamentalen Ha β auf den Krieg eingegeben hatte, sowie die düsteren Schatten, die der Krieg mit Entbehrungen, Not und Armut noch lange über die Menschen in ihren Trümmern warf. 22

Die ersten Werken Bölls spiegeln die materiellen Entbehrungen und Gefahren der Nachkriegszeit. Heinrich Böll beschreibt mehr als das Kampfgeschehen die Wunden, die der Krieg schlug.

Nicht um die Ursachen des Krieges ging es ihm in seinen Erzählungen (wie hätte er das alles in dieser Situation analysieren sollen?), sondern um dessen Folgen. Nicht die Kriegshelden beschrieb er, sondern ausschließlich die Kriegsopfer: nicht die kämpfenden Heroen, sondern die leidenden Menschen in Lazaretten, in Zügen, auf dem Weg von der Front und zur Front, in Bahnhöfen, bei Heimaturlaub…Antihelden, Minihelden, die kleinen Leute eben. 23

Heinrich Böll beschrieb auch den allgegenwärtigen Tod, den Hunger und den Schwarzmarkt.

Das andere war das Erlebnis des Krieges als eines gro βen und unsauberen Geschäfts. Oft hat Böll der ungeheuren Schwarzmarkt-Erfahrung gedacht, die er im Krieg von Westfrankreich bis Mittelru βlund gesammelt habe. In diesem Licht erschien ihm dann der Zigarettenschmuggel mit holländischer Ware, an dem er sich als Gymnasiast beteiligt hatte, als frühe Übung bzw. Schulung, die ihm später auf vielen Schwarzmärkten Europas nützlich gewesen sei. 24

Der Held ist in den Werken von Heinrich Böll kein Held im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser Mensch ist mit dem Krieg nicht einverstanden, er erfüllt die Befehle und sucht, wie man sich dem Krieg widersetzen kann. Keiner von Bölls „Helden“ lebt in gesicherten Verhältnissen. Der Lebenswille ist einziges Ziel.

22 Jens, Walter. Küng, Heins. Anwälte der Humanität. Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Böll. Kindler. München. 1989.. S. 126. 23 Ebenda. S. 244. 24 Schröter, Klaus. Heinrich Böll mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. Reinbek bei Hamburg. 1967. S. 53.

25 Bölls Erfahrungen in Nachkriegszeit sind auch spannungsreich und widersprüchlich.

Aber das Leben in einer zerstörten Stadt, einer total zerstörten Stadt, hatten natürlich nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch Reize. Es war sehr still, es war wunderbar ruhig. Wir haben die üblichen Schwarzmarkterfahrungen gemacht, die üblichen Versorgungsschwierigkeiten, die im Jahre 47 besonders hart waren, und die üblichen Diebstähle begangen. Ich habe sie begangen, das hatte ich ja im Krieg gelernt, damit wir nicht erfroren und nicht verhungerten . 25

25 Schröter, Klaus. Heinrich Böll mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. Reinbek bei Hamburg. 1967. S. 57-58.

26 5. Nachkriegsliteratur

Die Bücher mit der Kriegsthematik erschienen in Deutschland nicht gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern mit einer bestimmten Verspätung von drei bis vier Jahren. Manche Autoren waren unter Druck der schlechten Erlebnisse, wurden durch die Erfahrungen an der Front und in der Kriegsgefangenschaft traumatisiert. Sie brauchten also zuerst Zeit, neues Leben zu beginnen und waren also nicht im Stande, etwas zu schreiben.

Der Zweck und Sinn dieser Literatur war vor allem, die Wirklichkeit des Krieges zu zeigen. Das bedeutet, dass die Nachkriegsliteratur vor allem für nachfolgende Generationen bestimmt ist.

Für manche von diesen Autoren war der Krieg die einzige Lebenserfahrung. Sehr wichtig war die Frage der Schuld und Verantwortung des deutschen Volkes für die Schrecken des Krieges. Zu ihnen gehört auch H. Böll, weiter W. Borchert und H. W. Richter. Die Autoren schrieben also vor allem über den Faschismus und über Erlebnisse der letzten Kriegsjahre.

Ein typisches Beispiel für diese neue Form ist Gedicht von Günter Eichs, das hei βt „Inventur “. Das Gedicht wurde von Eichs Erfahrungen in einem Kriegsgefangenenlager inspiriert. Typisch ist auch eines der bekanntesten Dramen der Nachkriegszeit von Wolfgang Borchert. Dieses Drama hei βt Der Drau βen vor der Tür und es handelt von einem Frontheimkehrer. Sehr wichtig ist natürlich das Werk von Heinrich Böll, in dem die Erlebnisse von Soldaten im Zentrum stehen, z. B. seine frühe Erzählung Der Zug war pünktlich .

Die Autoren nach dem Krieg werden in drei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe bilden die Schriftsteller, die während des Krieges in der inneren Emigration gelebt hatten. Die zweite die Autoren, die emigriert waren, und erst nach 1945 nach Deutschland zurückkamen. Zu der dritten Gruppe gehört die junge Generation an. Diese Generation wurde vor allem durch Heinrich Böll repräsentiert. Im Westen war diese Gruppe als Trümmerliteratur und Stunde Null bezeichnet.

27 Im Jahre 1952 äu βerte sich Heinrich Böll in seinem Essay „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ über diese Namengebung.

Der Name Homer ist der gesamten abendländischen Bildungswelt unverdächtig: Homer ist der Stammvater europäischer Epik, aber Homer erzählt vom Trojanischen Krieg, von der Zerstörung Trojas und von der Heimkehr des Odysseus – Kriegs-, Trümmer- und Heimkehrerliteratur-, wir haben keinen Grund, uns dieser Bezeichnung zu schämen. 26

Im Jahre 1949 entstanden in Deutschland zwei Staaten mit unterschiedlichen politischen Systemen – die BRD und die DDR. Infolge dieser Verteilung vertieften sich die Unterschiede in der Entwicklung der Literatur . Die DDR war ein kommunistischer Staat, deshalb war auch die Literatur zentralistisch organisiert . Die Themen waren die Auseinandersetzung mit Krieg und Faschismus, die Darstellung von Arbeitsprozessen, ein neuer Held war der Arbeiter. Die Literatur in der DDR sollte zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft beitragen. Die BDR-Literatur zeigte vor allem die Kriegs- und vor allem Nachkriegsrealität dar. Manche von Autoren waren von der Gesellschaftsentwicklung enttäuscht. Viele von ihnen waren Mitglieder der ,,Gruppe 47“.

Die „Gruppe 47“ ist eine der bedeutendsten deutschen Autorenvereinigung nach dem Jahr 1945. Es soll dazu dienen, die Wiederkehr des Faschismus zu verhindern . Die Gruppe ging aus dem kleinen Redaktionsteam der Zeitschrift Der Ruf in München hervor . Die Gruppe war im zweiten Nachkriegsjahr von Hans Werner Richter und Alfred Andersch gegründet. Beide waren Antifaschisten, die schon in amerikanischer Gefangenschaft ihre Gedanken diskutieren. Nach dem Krieg hatten sie diese Gedanken in der Zeitschrift Der Ruf, Blätter der jungen Generation veröffentlicht.

Der Ruf wurde 1947 von der amerikanischen Militärverwaltung vorübergehend eingestellt. Die beiden Herausgeber, Hans Werner Richter und Alfred Andersch, wurden entlassen. Die Zeitschrift erschien dann weiter unter neuer Herausgeberschaft bis 1948 in München, bis 1949 in Mannheim. (Der neue

26 Heinrich Böll. Leben & Werk . Heinrich-Böll-Stiftung. Köln. 1995. S. 13.

28 Herausgeber war dann der Publizist Erich Kuby.) Im Juli 1947 trafen sich ehemalige Autoren von Der Ruf . Sie mochten eine neue literarische Zeitschrift mit dem Namen Der Skorpion zu gründen. Dieser Plan wurde ebenfalls als zu nihilistisch von der US-Militärregierung untersagt. Diese führte zum Plan eine Gruppe zu finden und so entstand die Gruppe mit dem Namen „Gruppe 47“. Dieser Zusammenschluss von Autoren – später auch von Literaturkritiken, trafen sich dann regelmä βig auf Einladung Richters zu einer mehrtägigen Versammlung, um dort ihre neuen, unveröffentlichten Texte vorzustellen und gegenseitig zu kritisieren.

Die Autoren, die die westdeutsche Nachkriegsliteratur bestimmten, gehörten der Gruppe 47 an. Es waren z. B. Siegfried Lenz, Günter Grass, Ilse Aichinger, Günter Eich, , , , , , Wolfdietrich Schnurre oder . Die wichtige Figur war Heinrich Böll, der ihr als Gründungsmitglied bis zu ihrer Auflösung 1967 angehörte. Und für seine Satire Die schwarzen Schafe erhielte er den Preis der Gruppe.

Hans Werner Richter formulierte im Jahre 1962 diese Ziele der Gruppe : a) demokratische Elitenbildung auf dem Gebiet der Literatur und der Publizistik;

b) die praktisch angewandte Methode der Demokratie einem Kreis von Individualisten immer wieder zu demonstrieren mit der Hoffnung der Fernwirkung...;

c) beide Ziele zu erreichen; ohne Programm, ohne Verein, ohne Organisation und ohne irgendeinem kollektive Denken Vorschub zu leisten. 27

Das literarische Leben der Bundesrepublik ist von dieser Gruppe bis in die 60er Jahre beeinflusst. Seit 1950 wurde der Preis der Gruppe 47 verliehen. Der Preis avancierte sehr bald zu einem der renommiertesten Literaturpreise der Bundesrepublik.

27 Heinrich Böll. Leben & Werk . Heinrich-Böll-Stiftung. Köln. 1995. S. 19.

29 6. Die Werke von Heinrich Böll mit der Kriegsthematik

Auch in Bölls Versehrten-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur ist, so hörten wir, viel die Rede von der Angst, von der Verzweiflung und dem Nicht-se ßhaft-Sein des Menschen, von der Unmenschlichkeit des Krieges, der Unentrinnbarkeit des Todes, der Armut und Verlorenheit der Nachkriegszeit, von der Lächerlichkeit der kriegführenden Männer und der Tapferkeit der Frauen . 28

Heinrich Böll benutzte in seinen frühen Erzählungen und Werken viele seiner Erlebnisse der Soldatenzeit und des Krieges.

Er begann mit regelmä βiger schriftstellerischer Arbeit im November 1946. Ohne viel Hoffnung, da β ihm ein Leben als Schriftsteller möglich sein könnte, begann er Erzählungen, Romane wie Kreuz ohne Liebe , Der Engel schwieg schreiben. Beide Romane hatten damals keine Verleger gefunden.

„Die Schreibmaschine war fast hei β“, schreibt Böll in einem Brief vom 24.Mai 1948 an Kunz. Seit Sonntag habe ich eine neue Novelle angefangen, die mindestens wieder 80 Seiten haben wird. In zwei Tagen habe ich fünfzig Seiten hingewichst, und meine Frau findet, da βes das Beste und auch Interessanteste ist, was ich bisher geschrieben habe. 29

Böll erlebte das Grauen des Zweiten Weltkrieges als Soldat während der ganzen Länge des Krieges. Durch seine Stationen als Soldat im Westen und im Osten, das Leben in der Kaserne, im Lazarett, an der Front, und später auch in der Gefangenschaft hat Böll die Brutalität, das Sterben im Krieg, die physischen wie psychischen Verwundungen der Menschen miterlebt. Diese Erlebnisse und Beobachtungen verarbeitet er literarisch, um die Schuld zu benennen und die Wirklichkeit des Krieges zu zeigen.

28 Jens, Walter. Küng, Heins. Anwälte der Humanität. Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Böll. Kindler. München. 1989. S. 29 Vormweg, Heinrich. Der andere deutsche Heinrich Böll. Eine Biographie. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2000 . S. 117.

30 Über seine Gedanken, die er im Krieg hatte, können wir von den Briefen aus dem Krieg an seine Familie und seine Verlobte, spätere Ehefrau Annemarie, erfahren.

Ich habe hier sehr viele Bücher über den Krieg gelesen, von Binding, von Wiechert, Beumelburg, und auch von Jünger ein tolles Buch: In Stahlgewittern, ein genaues Tagebuch aller 4 Weltkriegsjahre, die Jünger ununterbrochen an der Westfront im furchtbarsten Feuer erlebt hat, immer im Brennpunkt der Front. Dieses Buch möchte ich wirklich besitzen, weil es das Buch eines Infanteristen ist, real und nüchtern, erfüllt von der Leidenschaft eines Mannes, der alles sieht und alles auch mit Leidenschaft und Härte erlebt. Alle diese Bücher waren irgendwie erfüllt vom Leid am Krieg und auch von der elementaren Lust des Mannes am Kampf, aber keiner hat doch diese absolute leidenschaftliche Klarheit Jüngers, die alles Elementare gleich erkennt und zu ordnen versteht. Aber keiner, auch Jünger nicht, hat das Leid des Krieges so erlebt wie Ernst Wiechert, dessen Kriegsbuch mir am meisten nahe kommt. 30

Im Jahre 1952 veröffentlichte Böll sein Bekenntnis zur Trümmerliteratur.

Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation nach 1945 hat man als Trümmerliteratur bezeichnet, man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Ma βe verletzt, auch Kinder. (….) 31

Heinrich Böll schildert die Aussichtslosigkeit der Situation der ganzen Generation jünger Männer, die direkt aus der Schule in den Zweiten Weltkrieg geschickt wurden. Diese jungen Leute haben alle Ideale im Grauen des Krieges verloren.

Am deutlichsten tönt die Klage und Anklage der verzweifelten Jugend im Buch Wanderer, kommst du nach Spa... . Die Helden von Bölls frühen Geschichten haben etwas gemeinsam: sie sind passiv. Sie sind völlig machtlos gegenüber den Kräften gegenüber.

30 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band II. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 1091 – 1092. 31 Heinrich Böll. Leben & Werk . Heinrich-Böll-Stiftung. Köln. 1995. S. 13.

31 Eine der wenigen Ausnahmen ist die ungarische Lehrerin Ilona im Roman Wo warst du, Adam? . Ihr gelingt es, die Passivität zu überwinden, indem sie die Menschen auffordert, sich im Diesseits zu bewähren.

Mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftig er sich in den Werken: Wanderer, kommst du nach Spa… , Der Engel schwieg , Der Zug war pünktlich und in seinem ersten Roman Wo warst du Adam? .

Auch in Bölls Versehrten-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur ist, so hörten wir, viel die Rede von der Angst, von der Verzweiflung und dem Nicht-se βhaft-Sein des Menschen, von der Unmenschlichkeit des Krieges, der Unentrinnbarkeit des Todes, der Armut und Verlorenheit der Nachkriegszeit, von der Lächerlichkeit der kriegführenden Männer und der Tapferkeit der Frauen. 32

32 Walter Jens, Hans Küng: Anwälte der Humanität. Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Böll. S. 253

32 6.1. Problematik der Schuld bei Heinrich Böll

Bei Böll spielte die Problematik der Schuld die Vorrangigkeit, weil er an der Zerstörung und Vernichtung des Krieges selbst teilnahm. In den Werken beschäftigt er sich nicht mit der Schuld des Einzelnen, er stellt vor allem die Frage, was der Krieg für die ganze Nation bedeutet. Das Schreiben gibt ihm die Möglichkeit, mit dieser Schuld zu beschäftigen.

In seinen Kurzgeschichten gibt es keine ideologische Verarbeitung des Kriegserlebnisses. Heinrich Böll zeigte seinen Helden in elementaren menschlichen Situationen. Es ist z. B. der Augenglick des Todes, hier hat der Krieg keinen Sinn, er ist nur Zerstörer des Lebens. Diese elementaren Situationen werden dadurch betont, dass Böll die Sinneswahrnehmungen seiner Figuren präzis und detailliert schildert. Er beschreibt uns alles, was der Soldat hört, was er sieht und was ihm durch den Kopf geht.

Die Frage nach der Schuld ist unüberhörbar im Titel seines ersten Romans Wo warst du Adam. In diesem Werk bezeichnet er den Krieg als Krankheit, er benutzt ein Zitat aus Antoine de Saint Exuperys Roman Flug nach Arras: Der Krieg ist eine Krankheit. Wie ein Typhus. Die Hauptgründe dieser negativen Einstellung gegen den Krieg liegen in Bölls plebejisch-katholischer Gläubigkeit. Die Atmosphäre, in der er heranwuchs, war nämlich durch humanistisches Denken, Friedensliebe und Abwehrstellung gegen die Bindung des offiziellen Klerus an die herrschenden Kräfte gekennzeichnet. Die Familie war für Heinrich Böll sehr wichtig und diese enge Verbundenheit mit ihr verursachte, da β Böll vom Nationalsozialismus unbeeinflusst blieb. Diese Objektivität blieb ihm gleich sogar in der Zeit, in der Hitler unter den jungen Leuten immer mehr Anhänger hatte.

Das prägende Thema in seinen früheren Werken ist der Aspekt der Sinnlosigkeit und Absurdität des Krieges. Sinnlos und absurd war für ihn die Verschwendung an Material, an Zeit und vor allem an Menschenleben. Im Roman Wo warst du Adam ? ist sinnlos das militärische Handeln aus der Perspektive einer Wirtin.

33 Diese ersten Soldaten waren nicht lange geblieben, vier Monate, dann waren mehrere gekommen, die ein halbes Jahr blieben, wieder andere fast ein Jahr, und dann wurden sie regelmäßig alle halbe Jahre abgelöst, und es kamen manche wieder, die früher schon bei ihr gewesen waren, und sie taten alle dasselbe, drei Jahre lang: herumlungern, Bier trinken, Karten spielen und oben auf dem Dach hocken oder drüben auf der Wiese und im Wald sinnlos mit ihren Gewehren auf dem Rücken herumspazieren. 33

33 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo_warst_du_Adam.pdf. S. 57.

34 7. Die Kurzgeschichte

Die Schriftsteller der jungen Generation endeckten eine neue Gattung, die Kurzgeschichte, die zur repräsentativen literarischen Form der Nachkriegszeit wurde. Das Wort Kurzgeschichte ist eine Lehnübersetzung des amerikanischen Begriffs „short story“. Die Dominanz der Novelle in der deutschen Literatur verhinderte eine frühe Entwicklung der Kurzgeschichte. Erst nach dem zweiten Weltkrieg kam die richtige Zeit für die Kurzgeschichte und die jungen Autoren lie βen sich von Hemingway beeinflussen. Für viele Autoren waren sie ein Mittel der Beschreibung ihrer Kriegserlebnisse. Diese kurze Gattung diente auch zur Entwicklung der Sprache in den Nachkriegsjahren.

In der Nachkriegszeit schrieben viele Autoren unter Zeitdruck. Die Schriftsteller veröffentlichten ihre Kurzgeschichten in Zeitschriften und Sammelbänden. Für die Verbreitung der Kurzgeschichte war sehr wichtig die Gruppe 47, in diese Gruppe gehörten die Autoren, die bekannte Kurzgeschichten schrieben.

Die bedeutenden Kurzgeschichten in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg waren von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Elisabeth Langgässer, Alfred Andersch, Siegfried Lenz und Gabriele Wohmann.

Für die Kurzgeschichte waren typisch folgende Elemente: Rätselcharakter des Titels, die Zahl der Personen beschränkt sich auf 2-3, knapper Erzählstil, kurze Dialoge, parataktischer Satzbau, direkter Einstieg in das Geschehen , der Schluss oder eine Pointe bleibt meistens offen.

35 7.1. Heinrich Bölls Kurzgeschichten

Die Kurzgeschichte war die erste literarische Form, in der Böll publizierte und Erfolge erzielte. Im März 1947 verschickt Böll seine ersten Kurzgeschichten an verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Bis in die späten fünfziger Jahre blieben die Kurzgeschichten für Böll beliebteste literarische Ausdrucksform. Die erste Sammlung erschien im Jahre 1950 unter dem Titel Wanderer, kommst du nach Spa.... Dann folgten weitere Sammlungen.

In der Form sind Bölls Kurzgeschichten ebenfalls sehr vielfältig. Böll vermeidet den Eindruck des Stereotypen. Vor allem dominieren die Ich-Erzählungen.

Es gibt nicht die Kurzgeschichte. Jede hat ihre eigenen Gesetze [...]. Ich glaube, daß sie im eigentlichen Sinn des Wortes modern, das heißt gegenwärtig ist, intensiv, straff. Sie duldet nicht die geringste Nachlässigkeit, und sie bleibt für mich die reizvollste Prosaform, weil sie auch am wenigsten schablonisierbar ist. Vielleicht auch, weil mich das Problem 'Zeit' sehr beschäftigt, und eine Kurzgeschichte alle Elemente der Zeit enthält: Ewigkeit, Augenblick, Jahrhundert. Es ist ein ganz verhängnisvoller Irrtum, wenn etwa ein Redakteur zu einem Autor sagt: Schreiben Sie uns doch mal eine Kurzgeschichte. Sie können das doch...Es kann Jahre dauern, ehe ich mit einer Kurzgeschichte zu Rande komme, das heißt, ehe ich sie hinschreiben kann [...]. 34

In den Kurzgeschichten beschreibt Heinrich Böll seine eigenen persönlichen Eindrücke und Gefühle, er vermittelt dem Leser, dass es sich um ein persönliches Schicksal handelt. Häufig treten die Dialoge auf, und die in der Alltagssprache sind.

„Ich bitte dich, wo wir uns schon so lange kennen. Fünfzehn Jahre.“ „Ja, ja, wir sind jetzt drei βig, immerhin… kein Grund…“ „Hör auf, ich bitte dich. Ja, wir sind jetzt drei βig. So alt wie die russische Revolution…“ „So alt wie der dreck und der Hunger…“ „So alt … so alt wie der Krieg…“ „Ein bi βchen jünger.....“ „Du hast recht, wir sind furchtbar jung. „ Sie lachte. 35

34 Bienek, Horst. Werkstattgespräche mit Schriftstellern. Taschenbuch Verlag. München. 1965. S. 170. 35 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967. S. 83.

36 Die Kurzgeschichten von Heinrich Böll werden nicht nur von der amerikanischen Autoren der Kurzgeschichten beeinflusst (vor allem Faulkner, und O. Henry, dessen Texte er übersetzt hat), sondern auch von der deutschen Autoren wie Kleist, Hebel, Storm, Hebel und Brecht.

In Bölls gesamtem Erzählwerk erscheinen wiederkehrende Leitmotive, „Ding- Symbole“, wie der Tabak, eine Tasse Kaffee und das Brot. Einerseits sind es reale Lebensmittel, also Überlebens-Mittel in der Zeit des Hungers, anderseits aber Symbole der Menschlichkeit. Vor allem das Brot hat die gro βe symbolische Bedeutung in den Nachkriegsliteratur.

Thematisch kann man Bölls Kurzgeschichten in vier Gruppen einteilen. Zwischen 1947 und 1951 schrieb er Soldaten- und Kriegserzählungen, in denen sich vor allem um menschliche Schicksale handelte. In gleicher Zeit schrieb er auch Texte über die Nachkriegsituation und Folgen des Krieges, also sogenannte Geschichte der Trümmerliteratur. Dritte Gruppe bilden die moralisch oder religiös- ethisch betonten Kurzerzählungen aus den fünfzigern Jahren. Und die letzte Gruppe sind schlie βlich die satirischen und ironischen Kurzgeschichten.

37 7.2. Kriegserzählungen von Heinrich Böll

Die Kriegserzählungen von Heinrich Böll sind eigentlich „ Anti- Kriegserzählungen“. Sie stellen den Krieg als etwas Unmenschliches dar. Sie zeigen wie brutal und sinnlos der Krieg ist. In seinen Kriegserzählungen handelt sich um bestimmte typische Situationen, die Heinrich Böll als Soldat im Krieg erlebte.

Böll erste Kriegserzählung hei βt „Aus der Vorzeit ". Es ist eigentlich der Teil einer längeren Erzählung "Vor der Eskaladierwand". Der Titel, den die Zeitungsredaktion wählte, gefiel Heinrich Böll nicht. Diese Erzählung spiegelt die starke Abneigung des Autors gegen die Einübung in soldatische Kommandostrukturen.

Eine der ältesten Kampferzählungen ist „Der Angriff “, in der Autor den Tod eines unerfahrenen Soldaten während des Sturmangriffs vor Angst an Herzversagen schildert. Die ähnliche Thematik hat auch der Text „Ein unbekannter Soldat “.

Seine eigenen Erfahrungen des Flugs von Odessa zur Krim benutzte Böll in der Geschichte „Damals in Odessa “.

Damals in Odessa war es sehr kalt. Wir fuhren jeden Morgen mit gro βen rappelnden Lastwagen über das Kopfsteinpflaster zum Flugplatz, warteten frierend auf die gro βen grauen Vögel, die über das Startfeld rollten, aber an den beiden ersten Tagen, wenn wir gerade beim Einsteigen waren, kam der Befehl, da β kein Flugwetter sei, die Nebel über dem Schwarzen Meer zu dicht oder die Wolken zu tief, und wir stiegen wieder in die gro βen rappelnden Lastwagen und fuhren über das Kopfsteinpflaster in die Kaserne zurück. 36

Die Geschichte erzählt über drei jungen Kameraden, die das Leben genie βen, bevor sie an die Front gehen, von der sie –wie sie wissen – niemals zurückkehren.

Von ähnlicher Thematik ist die Geschichte „Aufenthalt in X “. Hier schildert der Autor die Fluchtversuche einzelner Soldaten in Kneipen und auch zu Mädchen vor dem Weggang an die Front.

36 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967. S. 38.

38 Irgendwo trank ich besseren Wein, blickte verloren in ein ernstes Frauengesicht hinter der Theke, roch etwas wie Essig aus einer Küchentür, bezahlte und verschwand wieder in der Dämmerung. „ Dieses Leben“, dachte ich, „ ist nicht mein Leben. Ich mu β dieses Leben spielen, und ich spiele es schlecht“. 37

Ein anderes Thema bilden die Beziehungen zwischen den Soldaten und der Zivilbevölkerung. Zu dieser Gruppe gehört z. B. die Geschichte „Auch Kinder sind Zivilisten “. Hier wird die Geschichte eines verwunderten Soldaten geschildert. Der Soldat befindet sich in einem Lazarett. Dort besucht ihn ein kleines russisches Mädchen, das Kuchen verkauft. Dieser Besuch bedeutet für den Soldaten einen kurzen Lichtblick im Alltag des Krieges. Der Titel hat die Symbolik. In der Kaserne war das Verbot eines Kontaktes mit Zivilisten. Der Titel zeigt also die Inhumanität dieses Verbotes.

In einigen Geschichten lä βt Heinrich Böll die Soldaten vor dem Tod die längere Gespräche führen. Typisch ist die Geschichte „Wiedersehen in der Allee “. Der Erzähler befindet sich mit seinem Leutnant, der Hecker genannt wird, in einem Bunker an der Front und sie erzählen ihre Erinnerungen. Der Leutnant will seine Mädchen besuchen und rennt also aus dem Bunker. Er wird aber von einem Scharfschützen getötet.

Sehr interessant ist die Kriegserzählung mit dem Name „Wir Besenbinder “. Es handelt sich um eine Ich-Erzählung. Die Hauptfigur ist ein Schüler, der gro βe Probleme mit Mathematik hat. Er wird deshalb vom Lehrer immer als Besenbinder bezeichnet. Zwei Monate nachdem wurde der Schüler zum Wehrdienst einberufen. Auf dem Flugzeug in Odessa beobachtete er den wirklichen Besenbinder bei der Arbeit.

Kaum zwei Monate später hockte ich auf dem Flugplatz von Odessa in tiefem Schlamm über meinem Tornister und sah einem wirklichen Besenbinder zu, dem ersten, den ich je sah... 38

37 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967S. 96-97. 38 Ebenda. S. 147.

39 In dieser Geschichte sind drei Zeitebenen: die Schulerinnerungen (das Versagen in Mathematik, Spott des Lehrers), Erzählgegenwart (Beobachtung eines Besenbinders in Odessa) und die Zukunft (Absturz des brennenden Flugzeugs). Diese drei Ebenen hängen miteinander zusammen.

Die unwahrscheinliche Wirkung der Geschichte verursacht Erzählen der Ereignisse bis in den eigenen Tod durch einen Ich-Erzähler. Das kann man in mehreren Kurzgeschichten von Heinrich Böll finden.

Die bekannteste Bölls Kriegsgeschichte ist „Wanderer, kommst du nach Spa ...“.

40 7.3. Kurzgeschichten aus der Nachkriegszeit

Heinrich Böll schrieb Kurzgeschichten nicht nur über Kriegsgeschehnisse sondern auch über Ereignisse der Nachkriegszeit. Die Themen sind ein bisschen anders. Es handelt sich vor allem um die Problematik der Heimkehrer, ihre Einordnung in die Gesellschaft, in die Berufswelt und in Ehebeziehungen und die damit verbundenen Probleme.

Zu den Kurzgeschichten aus der Nachkriegszeit von Heinrich Böll gehört auch „Die Botschaft “. Diese Geschichte galt lange Zeit als ältester publizierter Text von Böll, bis noch frühere Texte entdeckt wurden. In dieser Kurzgeschichte geht es um die Überbringung einer Todesnachricht an die Frau eines verstorbenen Kameraden des Erzählers.

Sehr typisch ist die Heimkehrergeschichte. Die Kurzgeschichte „Abschied“ berichtet über Trennung des Erzählers von seiner Geliebten Charlotte, die nach Schweden reist, um dort einen anderen zu heiraten. Auch im „Abschied“ ist ein der charakteristischen Mittel Bölls Kurzgeschichte, er steigt ohne Vorgeschichte gleich in das Thema ein. Der Leser wei β nicht, wie es nach der Abreise von Charlotte weitergeht.

Ein weiteres sehr häufiges Thema ist der Schwarzmarkt, der den heimkehrenden Soldaten eine Möglichkeit zum Überleben bot. Mit dieser Problematik beschäftigt sich Heinrich Böll in der Kurzgeschichte „Kumpel mit dem langen Haar “. Es ist Geschichte über den Händler, der auf der Flucht eine Partnerin findet.

„Du,“ stotterte er, „du…musst verduften…sie haben deine Bude untersucht und den Koks gefunden…Mensch!“ Er verschluckte sich fast. Ich klopfte ihm beruhigend auf die Schulte und gab ihm zwanzig Mark. „Es ist gut, sagte ich- und er trollte davon.“ 39

39 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967. S. 15.

41 Über den Schwarzmarkt schreibt er auch in der Geschichte „Geschäft ist Geschäft“. Es ist eine melancholische Erzählung eines Heimkehrers.

Die Kurzgeschichte „Der Mann mit den Messern“ behandelt das Problem der beruflichen Neuanfänge der Soldaten nach dem Krieg. Der Ich-Erzähler ist ein Oberleutnant der Wehrmacht, der nach dem Krieg verschiedene Gelegenarbeiten hat. Er sucht seinen ehemaligen Freund, den Unteroffizier Jupp. Jupp tritt im Varieté "Sieben Mühlen" als Messerwerfer auf. Die dreizehn Messer, mit denen er arbeitet, sind die Erbschaft von Eltern, die bei einem Fliegerangriff starben. Eines Abends fehlt die attraktive Frau, an der Jupp knapp vorbeiwerfen kann. Jupp überredet also den Erzähler zur Mitarbeit. Das Debüt der zwei Kameraden hat ein Erfolg und Oberleutnant gewinnt nicht nur neue Arbeit aber auch den Kameraden zurück .

In einigen Kurzgeschichten wollte Heinrich Böll zeigen, dass auch im Krieg etwas Unverändertes sein konnte. In der Geschichte „Über die Brücke“ beobachtet der Erzähler die Frau und dann die Tochter regelmä βig bei der gleichen Arbeit. Und in der Geschichte „Die Dachrinne“ dient als Symbol der Unveränderlichkeit die schiefe Dachrinne.

Sehr emotional ist die Kurzgeschichte mit dem Namen „Lohengrins Tod “. Der Autor zeigt hier die leibliche und seelische Not der Kinder in der Nachkriegszeit. Diese Geschichte erzählt über den schwer verletzten Jungen, der sich um seine jüngeren Geschwister sorgt. Der Junge stirbt am Ende.

„Wei β deine Mutter Bescheid?“ fragte die Nonne. „Ist tot.“ Die Schwester wagte nicht, nach dem Vater zu fragen. „Wen mu β man benachrichtigen?“ „Meinen älteren Bruder, aber der ist jetzt nicht zu Hause. Doch die Kleinen mü βten es wissen, die sind jetzt allein. „ „Welche Kleinen denn?“ „Hans und Adolf, die warten ja, bis ich das Essen machen komme.“ 40

40 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967. S. 160.

42

Mit diesem Thema beschäftigt sich Heinrich Böll auch in anderen Kurzgeschichten: „Der Tod der Elsa Baskoleit“ oder „Am Ufer“. Der Geschichte „Am Ufer“ ist über die Verantwortung eines Junges für seine Familie. Dieser Junge hat die Lebensmittelkarten verloren. Aus Verzweiflung will er sich ertränken. Am Ende wird von amerikanischen Soldaten gerettet.

Die anderen Kurzgeschichten aus dieser Zeit sind: „Steh auf, steh doch auf“, „Der Geschmack des Brotes“, „Der Wellenreiter“, „Ein Hemd aus Seide“, „Wiedersehen mit dem Dorf“, „Ich kann sie nicht vergessen“, „Die Postkarte“ und viele andere.

43 8. Der Sammelband: Wanderer, kommst du nach Spa...

Wanderer, kommst du nach Spa.. . ist eine Kurzgeschichte von Böll und zugleich ein Titel für seinen ersten Sammelband mit Erzählungen. Er wählte sie als Titel aus, weil er von der besonderen Qualität überzeugt war.

Das Buch erschien nach längerer Vorbereitungszeit Ende Oktober 1950 im Opladener Middelhauve-Verlag. Der Verkaufserfolg des Bandes war gro β. Für den Autor bedeutete es einen lang ersehnten Durchbruch. Der Sammelband enthält die Erzählungen wie „Über die Brücke“, „Kumpel mit dem langen Haar“, „Der Mann mit den Messern“, „Die Botschaft“, „Aufenthalt in X“, „In der Finsternis“ und viele anderen. Der Sammelband enthält 25 Kurzgeschichten, die zum Besten der deutschen Nachkriegsliteratur gehören.

Auf ersten Blick haben alle Erzählungen Krieg oder unmittelbare Nachkriegszeit zum Thema. Ein zweiter Blick zeigte mehr: es ist vor allem Kriegserlebnis, worum in diesem Sammelband geht. Für Heinrich Böll war hauptsächlich wichtig, Krieg und Nachkriegszeit so zu beschreiben, wie sie in Wirklichkeit waren.

44 8.1. Die Kurzgeschichte Wanderer, kommst du nach Spa...

Die Geschichte „Wanderer, kommst du nach Spa...“ wurde durch die nachdrückliche Sprache und Symbolik sowie die Thematik zu einer der beliebtesten Erzählungen der Nachkriegszeit. Sie ist die bekannteste und am häufigsten interpretierte Kriegsgeschichte von Heinrich Böll.

In der Geschichte wird aus der Perspektive eines durch den Krieg schwer verwunderten jungen Soldaten dessen Einlieferung in eine Schule geschildert, die als Lazarett im Krieg dient. Der Soldat wird auf einer Bahre durch die Flure in einen Klassenraum, der als Operationsaal funktioniert, getragen. Zum Schluss der Geschichte, im Zeichensaal der Schule findet er schließlich einen eindeutigen Beweis, dass es sich um seine Schule handelt. Durch die Ich-Form wirkt die Geschichte sehr real und glaubwürdig

Ich kenne meine Handschrift: es ist schlimmer, als wenn man sich im Spiegel sieht, viel deutlicher, und ich hatte keine Möglichkeit, die Identität meiner Handschrift zu bezweifeln. (….)Da stand er noch, der Spruch, den wir damals hatten schreiben müssen, in diesem verzweifelten Leben, das erst drei Monate zurücklag: Wanderer, kommst du nach Spa... 41

Der Vers auf der Schultafel, den Böll als Titel für seine Erzählung und zugleich für seinen Sammelband benutzte, ist der Anfang eines Epitaphs in Form eines Distichons von Simonides von Keos (ein griechischer Dichter). Im deutschsprachigen Raum wurde es bekannt durch die Nachdichtung Friedrich Schillers in Der Spaziergang (1795).

„Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl .“ 42

Dieser Spruch bezieht sich auf die heroische Schlacht der Spartaner unter König Leonidas gegen die Perser unter Xerxes bei den Thermopylen im Jahre 480 v. Chr.

41 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967. S. 55. 42 http://www.nzz.ch/2004/02/21/li/article97RZO.html

45 Das Grabepigramm für die gefallenen Spartiaten reflektiert propagiertes Staats- und Erziehungsideal. Der Mythos tauchte seit 1941 in verschiedenen Agitationsschriften der Nationalsozialisten auf und wurde von Hermann Göring im Völkischen Beobachter vom 2. Februar 1943 publiziert. Durch die Modifikation des Schiller- Zitats parallelisierte Göring die heldenhafte Opferbereitschaft der Spartaner für ihr Vaterland mit der Vaterlandsliebe der deutschen Soldaten bei ihrem uneigennützigen Verteidigungskampft gegen die Russen in der Schlacht von Stalingrad. Wenn klar war, dass die Schlacht für die deutsche Truppe verloren ist, wurde diese Rede von Göring über den Rundfunk an die kämpfenden Soldaten übermittelt, um sie auf ihren „Heldentot“ vorzubereiten.

Die Schlu βsequenz der Schiller-Übersetzung „wie das Gesetz es befahl“ taucht auch in verschiedenen Werkzusammenhängen auf. Er diente ihm wiederholt zur Evokation deutscher Befehlsideologie.

Den Weg der Soldaten in den Tod säumt der Autor mit musealen Requisiten ein. Auf den Fluren des Gymnasiums sind in scheinbar zufälliger Reihung ein Bild des Dornausziehers, eine Nachbildung des Parthenonfrieses in Gips und der griechische Hoplit.

Weiter in der Erzählung folgen anderen Schulrequisiten. Erneut tauchen mythologische und historische Figuren auf – von der Hermessäule bis drei Büsten von Ceasar, Cicero Marc Aurel. Die Mischung der Merkmalen aus dem preu βischen, antiken und nazistischen Stoff hatte einen Zweck die Aspekte der nationalsozialistischen Ideologie hervorzuheben.

(….); es konnte doch nicht wahr sein, da β ich vor drei Monaten noch hier gesessen, Vasen gezeichnet und Schriften gemalt hatte, da β ich in den Pausen hinuntergegangen war mit meinem Marmeladenbutterbrot, vorbei an Nietzsche, Hermes, Togo, Caesar, Cicero, Marc Aurel, ganz langsam bis in den Flur unten, wo die Medea hing, dann zum Hausmeister, zu Birgeler, um Milch zu trinken, Milch in diesem dämmerigen kleinen Stübchen, wo man es auch riskieren konnte, eine Zigarette zu rauchen, obwohl es verboten war. 43

43 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967.S. 54.

46 Die Geschichte endet mit der Szene, in der der Soldat in dem Feuerwehrmann seinen alten Hausmeister gesehat hat. Dieser Mann hat ihm immer Milch gegeben und hat ihn bei sich oft rauschen lassen.

(…..); er hielt mich an den Schultern fest, und ich roch nur den brandigen, schmutzigen Geruch seiner verschmierten Uniform, sah nur sein müdes, trauriges Gesicht, und nun erkannte ich ihn: es war Birgeler. „Milch“, sagte ich leise… 44

Diese Erzählung wirkt so stark dank der Konfrontation des Schwerverwundeten mit seiner Bildungswelt, die bis jetzt geführt hat.

44 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967.S. 56.

47 8.2. Über die Brücke

Diese Geschichte hatte Böll im Jahre 1947 geschrieben. Erste Veröffentlichung folgte später. Nach zahlreichen Ablehnungen und Terminverzögerungen gelang erst mit einer Sendung von Radio am 2. Januar 1950. Die Reaktionen waren unterschiedlich.

Während sich die anderen Texte auf Teilnahme der Männer am Zweiten Weltkrieg beziehen, werden in dieser Erzählung Verhaltensmuster aus der Vor – und Nachkriegszeit konfrontiert. Diese Zeitabschnitte werden im Text nicht erwähnt, sondern durch Metaphern verschlüsselt. Die Brücke ist ein Symbol.

Denn vor wenigen Tagen fuhren wir über jene Brücke, die einst stark und breit war, eisern wie die Brust Bismarcks auf zahlreichen Denkmälern, unerschütterlich wie die Dienstvorschriften; es war eine breite, viergleisige Brücke über den Rhein, (….). 45

Die Brücke repräsentiert hier einen vergangenen Zeitraum, der durch die Hinweise auf die Reichstradition und auf Militär charakterisiert wird.

Zurückliegende Ereignisse in der Geschichte werden aus der Retrospektive geschildert. Sie wiederholen sich am Ende fast identisch und der Schilderung der Erzählgegenwart erst ihre Bedeutung geben.

Der Erzähler beobachtet die Hausfrau und später die ihr in den Bewegungen fast völlig gleichende Tochter bei dem Putzen. Dieses Putzen stellt in der Geschichte eine Verhaltenskontinuität dar. Die Erzählung „Über die Brücke“ widmet sich dem Thema eines zwanghaft regelmä βig gestalteten Alltags, sowohl in der Nazizeit als auch nach dem Krieg. Das symbolisiert die mechanisch putzende Tochter, sie verkörpert die nach dem Krieg verbreitete Ignoranz von Deutschen gegenüber dem Erlebten.

45 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967. S. 7 .

48 Immer sah ich die Frau: einen mageren Nacken, an dem ich die Mutter des Mädchens erkannte, und dieses Hin- und Herbewegen des Scheuerlappens, diese typische Bewegung beim Putzen. 46

Auch in dieser Erzählung ist das bei Böll verwendete Motiv des Zugfahrens, es ist eine Metapher für Rast – und Heimatlosigkeit. Die Angst vor dem Verlust des Bodenkontakts des Erzählers bei der Brückenüberquerung steht in Kontrast zu der Stabilität und Ordnung des Hauses. Obwohl das Haus sauber ist, wirkt auf den Erzähler eher unfreundlich und ungastlich.

Das Haus sah gar nicht so aus, als ob viel dort schmutzig gemacht würde; auch nicht, als ob dort viele Gäste ein- und ausgingen. Es sah fast ungastlich aus, dieses Haus, obwohl es sauber war. Es war ein sauberes und doch unfreundliches Haus. 47

46 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967. S. 8. 47 Ebenda. S. 9.

49 8.3. Die Botschaft

„ Die Botschaft “ ist die Heimkehrgeschichte. Heinrich Böll hat sie im Frühjahr 1947 geschrieben. Die Erzählung wurde mit zwei weiteren Texten an die Zeitschrift Das Karussell geschickt, wo sie im August 1947 erschien. Ein weiterer Druck erfolgte am 24. Oktober 1953 in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung . Sie galt lange Zeit als ältester publizierter Tex von Heinrich Böll. Sie erzählt über die Überbringung einer Todesnachricht von dem Erzähler an die Frau eines verstorbenen Kriegskameraden.

Als der Soldat diese schlimme Nachricht überbringt, bemerkt er, da β sie schon längst einen anderen Mann gefunden hat. Er versucht dies zu verstehen, wünscht ihr aber in diesem Moment den Tod.

Die Botschaft ist ein Andenken an alle Soldaten, die ihre Freundinnen, ihre Frauen im Krieg verloren haben und auch an die, die die schreckliche Nachricht über Tod seiner Kriegskameraden den wartenden Müttern oder Frauen überbringen sollten.

Bemerkenswert ist in dieser Erzählung auch der Eingangsatz. Er ist an einen nicht weiter genannten Adressaten gerichtet.

Kennen Sie jene Drecknester, wo man sich vergebens fragt, warum die Eisenbahn dort eine Station eingerichtet hat; wo die Unendlichkeit über ein paar schmutzigen Häusern und einer halbverfallen Fabrik erstarrt scheint; (….). 48

Auch in einigen weiteren Geschichten aus dem Frühwerk wie „Über die Brücke “ stellt Heinrich Böll eine Beziehung zwischen Erzähler und Leser her. Keine ist jedoch so unvermittelt wie diese. Die Drastik des Wortes „Drecknester“ vorzeichnet, da β die Erzählung von einer realen Situation ausgeht.

48 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967. S. 87.

50 „Die Botschaft“ ist eine Doppelerzählung. Sie wird sowohl vom als auch durch den Erzähler erzählt. Er selbst hat seine Geschichte, trotzdem steht im Mittelpunkt der Erzählung ein anderes Schicksal. Auch der Titel ist mehrdeutig. Vor allem ist diese Botschaft eine Nachricht vom Tode, zuerst von einem Einzeltod, aber wahrscheinlich vom Tod überhaupt. Auch die Beschreibung des Dorfes macht auf den allgegenwärtigen Tod aufmerksam.

Ich ging auf die finstere Mauer zu, denn ich fürchtete mich, an eins dieser Totenhäuser zu klopfen. (….), dann begann ein flaches, grauschwarzes Feld mit einem kaum sichtbaren grünen Schimmer, das irgendwo mit dem grauen himmelhohen Horizont zusammenlief, und ich hatte das schreckliche Gefühl, am Ende der Welt wie vor einem unendlichen Abgrund zu stehen, (….). 49

In der Heimkehrliteratur ist das Thema der ehelichen Treue bzw. Untreue sehr wichtig. In dieser Geschichte eher Untreue. Vor dem Anklopfen hört der Soldat ein Frauenlachen und er wei β, dass sie nicht allein ist.

Als ich dann die Hand heben wollen, um zu klopfen, hörte ich drinnen ein girrendes Frauenlachen; dieses rätselhafte Lachen, das ungreifbar ist und je nach unserer Stimmung uns erleichtert oder uns das Herz zuschnürt. Jedenfalls konnte so nur eine Frau lachen, die nicht allein war...(…..). 50

Der Soldat hat eine Vision, wie er sich die Frau vorstellt. Diese Vorstellung wird von der realen Welt verdrängt.

.... und ich sah eine blonde, rosige Frau, die auf mich wirkte wie eins jener unbeschreiblichen Lichter, die die düsteren Bilder Rembrandts erhellen bis in den letzten Winkel. Golden-rötlich brannte sie wie ein Licht vor mir auf in dieser Ewigkeit von Grau und Schwarz. (...), aber als ich meine Soldatenmütze abgenommen und mit heiserer Stimme gesagt Hatt: „′n Abend“ , löste sich der Krampft des Schreckens aus diesem merkwürdig formlosen Gesicht, (…). 51

Der neue Mann dieser Frau ist ein Schwarzmarkthändler, wie der Leser nach den im Text erwähnten sehr guten Zigaretten vermuten kann. Er wirkt hier sehr negativ,

49 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967. S. 87-88. 50 Ebenda. S. 89 51 Ebenda. S. 89.

51 obwohl in anderen Texten von Heinrich Böll ein Schwarzmarkt positiv abgebildet ist.

Die Frau fühlt, da β sie schuldbewusst ist. Sie erwartet das Urteil des Richters. Der Richter kann der Erzähler oder selbst der Leser sein. Es folgt die Pointe, die für die Kurzgeschichte charakterisch ist. Der Richter wird zum Gerichteten.

(…): „ich wu βte es, ich wu βte es, als ich ihn damals – es ist fast drei Jahre her – zum Bahnhof brachte“, und dann setzte sie ganz leise hinzu: „Verachten Sie mich nicht.“ Ich erschrak vor diesen Worten bis ins Herz – mein Gott, sah ich denn wie ein Richter aus? 52

Das Ende ist spiegelbildlich zum Beginn gebaut, der Weg zurück zum Bahnhof ist wieder durch die Todeslandschaft. In der Wartehalle des Bahnhofs wird die reale Ebene wieder erreicht, hier ist der Hunger der Nachkriegsjahren zu spüren.

Am Ende ist auch wieder das Motiv der Eisenbahn. Für Böll ist er oft ein Symbol für Faschismus und Bürokratie. Das Symbol wird hier durch den Mann mit der roten Mütze und die Verspätung des Zugs verkörpert.

Aber dann wurde die Tür jäh aufgerissen, und der Mann mit der roten Mütze, diensteifrigen Gesichts, schrie, als ob er es in die Wartehalle eines gro βen Bahnhofs rufen müsse: „Personenzug nach Köln fünfundzwanzig Minuten Verspätung!“ Da war mir, als sei ich für mein ganzes Leben in Gefangenschaft geraten. 53

Dieser Satz stellt eigentlich die Bedeutung der ganzen Erzählung dar. Es ist eigentlich Bölls Botschaft. Der Titel hat also programmatischen Charakter.

Da wu βte ich, da β der Krieg niemals zu Ende sein würde, niemals, solange noch irgendwo eine Wunde blutete, die er geschlagen hat . 54

52 Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967. S. 91. 53 Ebenda. S. 92 54 Ebenda. S. 90.

52 9. Romane und grö βββere Erzählungen

Heinrich Böll versuchte in der frühen Nachkriegszeit nicht nur Kurzgeschichten zu schreiben, sondern auch Romane. Das wissen wir erst aus späteren Veröffentlichungen (z.B. Der Engel schwieg im Jahre 1992). Schon vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb er Romane, die er jedoch teilweise im Krieg verbrannte.

Schon von Anfang an galt seine literarische Hauptneigung dem Roman, der für ihn die literarische Gro βform war. Trotzdem schrieb er zuerst die Kurzgeschichten. Der Grund war klar, in den literarischen Anfängen brauchte er Geld, um sich und seine Familie durchbringen zu können.

Wie andere Gattungsbegriffe ist Bölls Romanbegriff nicht genau festgelegt. So entstehen unter den Romanen die wichtigsten Unterschiede, die vor allem Qualität und Quantität der Werke betreffen. So schwankt die Zuordnung von einigen Texten zu Novellen oder Erzählungen.

Dieses Kapitel der Arbeit widmet sich den Romanen von Heinrich Böll, deren Thema der Krieg ist. Es handelt sich also um Romane Der Zug war pünktlich , Wo warst du Adam? und Der Engel schwieg .

53 9.1. Der Zug war pünktlich

Der Zug war pünktlich ist eine Erzählung, entstanden 1948, veröffentlicht 1949, ursprünglicher Titel: Zwischen Lemberg und Czernowitz . Mit der Erzählung Der Zug war pünktlich hatte Böll 1949 seine erste Buchveröffentlichung. In dieser Zeit begann er zwar bereits grö βere Projekte schreiben, so die Romane Kreuz ohne Liebe (1946) und kurz danach Der Engel schwieg (1949). Erst mit dem Roman Der Zug war pünktlich tat er den gro βen entscheidenden Schritt für seine Einreihung als literarischer Autor: die Buchveröffentlichung. Der zweite Schritt war die Einladung zur Gruppe 47 und der Gruppenpreis im Jahr 1951.

Dieses Buch steht im veröffentlichten Werk von Heinrich Böll an einer Schnittstelle zu den späteren Romanen Wo warst du, Adam?, Und sagte kein einziges Wort und Haus ohne Hüter . Der Zug war pünktlich als Erzählung übertrifft die anderen Erzählungen von Heinrich Böll und nähert sich den Romanen an.

Die Erzählung Der Zug war pünktlich knüpft im Titel an die Eisenbahnsymbolik an. Die Bahnhöfe, durch die der Zug durchfährt, dienen als Symbol der Passivität. Bei Böll sind es Wartesäle, wo so viel verlorene Zeit verbracht wird. Nicht nur der Aufenthalt im Wartesaal, aber auch die unfreiwilligen, oft mit ungewissem Ziel unternommenen Fahrten in Krankentransporten, Militärzügen sind Ausdruck einer absurden Situation.

Der Zug stellt das unausweichliche Schicksal dar, der Zug des Schicksals ist pünktlich und erreicht sein Ziel wie im Fahrplan vorgesehen. Statt auszusteigen aus diesem Zug, zählt Andreas die Stunden, die ihm bis zu seinem Tod bleiben.

Für diese Novelle benutzte Heinrich Böll eigene Erfahrungen im Osten. Im Brief aus Stanislau berichtet er über die Zugverbindungen, was für Willi „tolle Dinge“ sind.

Ich habe ganz tolle Dinge gehört. Von hier fährt mittags um 2:15 ein D-Zug nach Deutschland, der am andern Tag schon um die Mittagszeit in ist; (…..). 55

55 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band II. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 1001.

54 In diesem Werk Der Zug war pünktlich schrieb er über einen Soldaten, der Andreas hei βt. Die Geschichte beginnt auf dem Bahnhof in einer Stadt im Ruhrgebiet. Zum Ende seines Urlaubs verabschiedet Andreas von seinem Freund, einem Kaplan. Er sucht sich einen Platz im Fronturlauberzug, der ihn an die Ostfront zurückbringen soll. Er fährt drei Tage und drei Nächte 1943 zurück an die Ostfront. Er hat eine Ahnung, dass er bald sterben wird, irgendwo zwischen Lemberg und Czernowitz. Im Zug Andreas erinnert sich an seinen Freund Paul, den Pfarrer der für ihn die Messe liest. Er erinnert sich auch an eine Französin, in deren Augen er nur für Bruchteile einer Sekunde blicken konnte.

Ach, ist es so schändlich, wenn ich gerne gewusst hätte, welche Stirn zu diesen Augen gehörte, welcher Mund und welche Brust und welche Hände? Ach, wäre es zuviel gewesen, wenn ich hätte erfahren dürfen, welches Herz dazugehörte, ein Mädchenherz vielleicht; wenn ich den Mund , der zu diesen Augen gehörte, einmal hätte küssen dürfen, bevor sie mich ins nächste Nest warfen, wo man mir plötzlich das Bein einfach unter dem Leib wegschlug. 56

Diese Erinnerungen stellen im Buch die Hoffnung auf Glück, Frieden und Heimat dar. Das kontrastiert mit dem Grauen und Sinnlosigkeit des Krieges, was der Autor auch in früheren Kurzgeschichten zeigte.

In dem Roman Der Zug ist pünktlich gilt es, da β die idyllisch-utopischen Elemente innerhalb der Handlung breiter entfaltet werden. Das verursacht die erweiterte Erzählform. Die Begegnung mi einem französischen Mädchen an der Westfront ist Verbindungspunkt von Andreas Erinnerung und gleichzeitig Vorzeichen auf die zufällige Begegnung mit Olina. Von Olina hört er zum ersten Mal den Namen Stryi, und ist ihm gleich klar: In Stryi wird es sein .

Sie ist immer mehr erstaunt. „Stryj“, sagt sie. Stryj? Welch seltsamer Name, denkt Andreas, ich muß ihn auf der Karte übersehen haben. Um Gottes willen, ich muß noch für die Juden von Stryj beten. Hoffentlich sind noch Juden in Stryj … Stryj … das wird es also sein, er wird vor Stryj sterben … nicht einmal Stanislau, nicht einmal Kolomea und lange, lange

56 Böll, Heinrich. Der Zug war pünktlich. Deutscher Taschenbuch Verlag. München. 2006. S. 35-36 .

55 nicht Czernowitz. Stryj! Das ist es! Vielleicht ist es gar nicht auf der Karte drauf, die Willi gehört hat … 57

Die Liebe zwischen ihnen gibt neue Hoffnung für einen neuen Anfang. Die Liebe hilft den Menschen alle Schwierigkeiten des Krieges zu überwinden. Sie stellt Lebenswillen dar. Andreas verbringt mit Olina die Nacht, von der er wei β, da β sie seine letzte sein wird, in einem Bordell. Die kleine polnische Bar, wo sie die Nacht verbringen wird zum Schutzraum. In diesem Raum ist möglich, was von der Realität des Kriegs sonst unterdrückt wird. Die Musik stellt hier ein Mittel dar, in dem sie Gemeinsamkeit artikulieren können. Diese Idylle ist nur vorübergehend. Olinas Hoffnung auf Rettung erweist sich sehr schnell als illusionär. Heinrich Böll zeigt, dass Liebe nicht möglich ist, wo die Welt von der Gewalt bestimmt ist.

Er denkt an seine früheren Verwundungen, und er hasst alle, die den Krieg als eine Selbstverständlichkeit empfinden oder die, die diesem Krieg etwas Gutes abgewinnen können.

Seine Reise beginnt kurz vor Dortmund, durchquert Deutschland, Polen Richtung Schwarzes Meer, sie endet in Strij, nähe Lwow (Lemberg), heute Ukraine. Diese Fahrt bringt ihn immer näher an die Front und den Tod. Im Zug trifft er auf zwei weitere Soldaten, den Unrasierten und den Blonden. Der unrasierte Soldat hei βt Willi und ist Unteroffizier. Er ist unglücklich, er entdeckte den Ehebruch seiner Frau. Der Blonde ist geschlechtskrank. Er wurde von einem homosexuellen Wachtmeister mi βhandelt. Die Verzweiflung und Perspektivlosigkeit der beiden Männer spiegelt seine eigene Befindlichkeit wider.

Auf einen Vorschlag des Unrasierten ändern Andreas und der Blonde die vorgeschriebene Reise ab. Im Lemberg besuchen sie ein Bordell. Hier lernt Andreas die Olina kennen, sie verlieben sich. Olina ist aus Warschau, ist ehemalige Musikstudentin. Sie ist Prostituierte und informiert die Partisanen über die deutschen Truppenbewegungen. Der Schluss endet tragisch, aber nicht ganz

57 Böll, Heinrich. Der Zug war pünktlich. Deutscher Taschenbuch Verlag. München. 2006. S. 96.

56 unerwartet. Olina, Andreas, der Blonde, Willi und zwei Militärs sitzen in einem Auto, das einen Unfall erleidet.

Die Handlung folgt dem Weg des Soldaten Andreas von seiner Abfahrt in einer Stadt nach Lemberg und einem Ort vor dem Dorf Stryj an der polnisch–galizischen Grenze, wo ihn der Tod erwartet. Die Fahrt dauert von Mittwoch oder Donnerstag bis Sonntagmorgen. Mit der Annäherung an den Todesort und Todeszeitpunkt verlangsamt sich die Bewegung der Hauptfigur bis zu ihrer völligen Bewegungslosigkeit im Schluss. Die Zahl der Personen ist klein. Das Fahrpersonal besteht aus den beiden Soldaten, dem Willi, und dem Blonden, Siebental, sowie der polnischen Prostituierten und Widerstandkämpferin Olina. Von den übrigen Figuren ist der wichtigste noch Paul, von dem sich Andreas am Anfang verabschiedet.

Die Struktur der Geschichte ist zweigeteilt. Die Isolation der Zugabteile steht die Behaglichkeit von Olinas Zimmer gegenüber. Der Krieg findet nur in den Köpfen der Figuren statt, erst am Schlu β der Geschichte erschien ein Schrecken des Krieges.

Das wichtige Thema der Erzählung ist Todesgewi βheit der Hauptperson.

Heinrich Böll beschrieb in diesem Buch die alltäglichen Probleme der einfachen Soldaten. Im diesem Buch gibt es keine dramatischen Kriegsszenen und wilde Schlachten. Der Autor schildert alles sehr persönlich, mit großer Emotionalität.

Die Erzählhandlung ist personal und beschränkt sich vor allem auf die Schilderung der Gedanken, Empfindungen, Erinnerungen und Wahrnehmungen der Hauptperson. Die Sprechparte der anderen Figuren wird nie aus deren Perspektive mit Informationen über Gedanken und Empfindungen ergänzt.

Heinrich Böll zeigt in diesem Werk die Unvermeidlichkeit des Schicksals auf. Der Soldat wei β die ganze Zeit des Krieges, dass er sterben wird. Er kann es nicht beeinflussen. Der Autor beschreibt, wie ein Soldat während der ganzen Länge des Krieges seinem Schicksal wider steht.

Der Zug war pünktlich ist also zwar eine „Anklage gegen den Krieg“, aber keineswegs eine „Geschichte über das sinnlose Sterben“ 58

58 Wagener, Hans. Von Böll bis Buchheim: Deutsche Kriegsproza nach 1945. Amsterdam – Atlanta, GA. 1997. S. 101.

57

Die Schauplätze sind vom Krieg geprägt. Die Zerstörung und Krieg prägen alle Plätze der Erzählung im Zugabteil, im Haus, in dem sie essen, und auch im Bordell. Im Buch existiert nur die militärische Gesellschaft, als ob die normale, zivile Gesellschaft nicht existiert hätte. Dem friedlichen Leben einspricht nur die Zehntelsekunde, in der Andreas in die Augen eines Mädchens in Frankreich blickt.

Das Religiöse hält sich im ganzen Buch im Hintergrund. In der Erzählung Der Zug war pünktlich ist es der Kaplan, der ihn auf den Zug begleitet. Andreas erinnert sich während der Reise oft, dass er mehr beten sollte. Die Religion ist für Leute eine Hoffnung auf bessere Zeiten. Es ist auch Hoffnung, dass nach dem Tod ein anderes Leben ist.

Der Roman wird vorwiegend aus der Perspektive des Andreas geschildert. Nur am Anfang ist die Stimme eines au βentstehendes Erzählers und auch in der Schlu βszene wechseln Gedanken von Andreas mit denen Olinas ab.

Das Buch zeigt dem Leser die zerstörende Wirkung des Krieges. Es ist eine Geschichte vom sinnlosen Sterben und eine Anklage gegen den Krieg.

„Der Zug war pünktlich“ kann als radikale Abrechnung mit dem Krieg bezeichnet werden, die sich besonders deutlich in den Einstellungen der Figur Andreas manifestiert. (….) Der Krieg wird als monströser Verwaltungsapparat und perfides Räderwerk dargestellt, bei dem kein Eingreifen, kein Widerstand möglich ist, dem einfachen Landser bleibt nur die Möglichkeit, wie ein Opferlamm zur Schlachtbank geführt zu werden. 59

Eine klare Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern kann der Leser in Einzelfällen sehen, etwa in der Szene, in der mehrere SS- Einheiten an die Front geschickt werden. Diese Szene verweist auf die nach dem Krieg gestellte Frage, ob die deutschen Soldaten an Kriegsverbrechen schuldig sind. Die Transportzüge mit SS- Soldaten im Buch deuten an, dass diejenigen, die vorbeifahren, sich in Kämpfen schuldig machen, die anderen, die im Zug sitzen, sind unschuldig.

59 Körtels, Sebastian. Krieg und Soldatenfiguren in der Nachkriegsprosa Heinrich Bölls. GRIN. Verlag für akademische Texte. 2006. S. 52.

58

Heinrich Böll beachtet in der Erzählung nicht die politischen und historischen Ursachen des Krieges. Er beschreibt den Krieg getrennt von den Ursachen. Positiv kann man werten, dass der Autor in Andeutungen den Holocaust in die Erzählung integriert.

Die Sinnlosigkeit des Krieges wird durch den absurden und sinnlosen Tod der Hauptfigur gezeigt, denn es war schon von vorne herein klar, dass der Krieg nichts Positives bringt.

...Aber nun fährt eine unsichtbare Riesenhand über dieses sanft kriechende Auto, ein furchtbares stilles Wehen, und in diese Stille hinein fragt Willi mit seiner trockenen Stimme: „Wohin kutschierst du nun eigentlich, Kumpel?“ „Nach Stryj!“ sagt eine wesenlose Stimme. Und dann wird der Wagon zersägt, von zwei rasenden Messern, die knirschen vor wildem Hass, eins rast von vorne und das andere von hinten in den metallenen Leib, der sich aufbäumt und dreht, erfüllt vom Angstschrei seiner Insassen... In der folgenden Stille ist nichts mehr zu hören, als das inbrünstige Fressen der Flammen. 60

60 Böll, Heinrich. Der Zug war pünktlich. Deutscher Taschenbuch Verlag.München.1972. S. 123.

59 9.2. Wo warst du Adam?

Mit Wo warst du, Adam? veröffentlichte Böll im Jahre 1951 seinen ersten Roman, der den Krieg thematisiert und vor allem auf seine Sinnlosigkeit abhebt. Es handelt sich gar nicht um einen Roman in eigentlichem Sinne, sondern um eine Sammlung von Kurzgeschichten. Der Roman besteht aus neun voneinander unabhängigen Kurzgeschichten. Diese Einschätzung ist sinnvoll, als jedes der neun Kapitel eine Handlung zu Ende erzählt und somit jedes Kapitel isoliert stehen könnte. Gemeinsames Thema der Episoden ist der Krieg, wie er meisten vor dem Tode erlebt wird.

Manche dieser Kurzgeschichten hat Böll auch einzeln veröffentlicht, so etwa das achte Kapitel „Die Brücke in Berczaba“ liegt in einer Hörspielfassung. Der einzige Faden, der sich durch das Buch zieht, sind die einigen Personen. Die wichtigste Figur ist Leutnant Feinhals, der im Roman am häufigsten vorkommt. Er ist kein Held im traditionellen Sinn. Er ist auch der, der am längsten überlebt. Dem Leser wird eine Art Déjà-vu-Erlebnis ermöglicht, weil einzelne Personen in verschiedenen erzählten Episoden auftauchen. Neben dem Szenen- und Figurenwechsel ist in diesem Buch auch der Motivwechsel, der dem Roman den Charakter eines Montageromans verleiht.

Die Schauplätze wechseln mit fast jedem Kapitel. Die Richtung wird schon auf der ersten Seite bestimmt. In diesem Satz wird festgelegt, dass die Bewegung nach Westen den Zusammenbruch der Ostfront zeigt.

„(…) und dann zeigte eine aufwirbelnde wei βe Staubwolke an, da β der General nach Westen fuhr, dorthin, wo die Sonne schon ziemlich niedrig stand, (…).“ 61

Die niedrigstehende Sonne hat auch sein Sinn in diesem Satz. Sie symbolisiert schwindende Kraft der deutschen Armee und auch den nahenden Niedergang der Nationalsozialismus. Dieser Hintergrund bestimmt die Stimmung des ganzen Buchs, ist Voraussetzung dafür, dass alle militärischen Aktionen im Roman automatisch als sinnlos erscheinen müssen. Die erwähnten und angedeuteten Orte sind: Rumänien

61 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo_warst_du_Adam.pdf S. 2.

60 im Jahre 1944 ist Schauplatz der ersten beiden Kapitel, die Kapitel drei bis sieben spielen in Ungarn ab. Das achte Kapitel spielt sich in einem Dorf in Slowakei ab. Die erzählte Zeit in erwähnten Kapiteln ist ungefähr vom Sommer bis Spätherbst 1944. Im letzten Kapitel wird der räumlich und zeitlich grö βte Sprung gemacht. Die Kurzgeschichte spielt im Frühjahr 1945 nach dem Einmarsch der amerikanischen Armee im Rheinland, also unmittelbar vor der Kapitulation.

Auch in diesem Roman benutzt Heinrich Böll viele Motive aus seinen eigenen Erfahrungen. In dem ersten Kapitel beobachten der General und der Oberst mit dem Fernglas die Umgebung. Das gleiche machte auch Böll.

Glaubst du, da β es ein Vergnügen ist, mit dem Glas weit aufs Meer hinauszuschauen, obwohl man dort „nur Wasser“ sieht? Man spürt ein wunderbares Gefühl der Ferne, eine unsagbare Wonne. 62

Weitere Motive sind z.B. die Abscheu gegen Uniformen und Orden, das Lyzeum in Debrecen, der Markt in Szentes mit Zirkus und auch benutzt oft die Begriffe wie „Verwaltungsapparat“ des Krieges und „Kriegskrankheit“.

In diesem Roman schildert Heinrich Böll den Krieg als eine Krankheit. Aus dem Roman „Flug nach Arras“ von Antoine de Saint-Exupéry zitiert er:

„(…..) - aber der Krieg ist kein richtiges Abenteuer, er ist nur Abenteuer-Ersatz. Der Krieg ist eine Krankheit. Wie der Typhus.“ 63

Mit der Wahl dieses Zitats erreichte Böll eine Anspielung auf zwei Autoren, Ernst Jünger und Erich Maria Remarque. Jünger beschreibt nämlich den Krieg als Abenteuer. Er meint, dass Krieg eine Lockung für jeden Soldaten über der Drohung eines möglichen Todes im Krieg ist. Remarque dagegen beschreibt den Krieg als Krankheit wie Krebs, Tuberkulose, Grippe und Ruhr. Der Krieg im Roman Wo warst du Adam ist entsprechend dem Saint-Exupéry-Zitat und widersprechend Jüngers Auffassung. Ein Krieg ist alles andere als ein Abenteuer, dafür kann man

62 Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band II. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001. S. 915. 63 Ebenda.

61 ihn mit einer kollektiven Krankheit mit verschiedenen Symptomen vergleichen. Das zeigt sich an den Schauplätzen und in den Eigenschaften einzelner Personen. In drei Kapiteln ist der Schauplatz Lazarett oder eine Krankensammelstation und viele Figuren werden verwundet, getötet oder sind krank. Besonders deutlich wird die Darstellungsweise Krieg als Krankheit bei dem General gezeigt.

Zuerst ging ein großes, gelbes, tragisches Gesicht an ihnen vorbei, das war der General. Der General sah müde aus. Hastig trug er seinen Kopf mit den bläulichen Tränensäcken, denselben Malariaaugen und dem schlaffen, dünnlippigen Mund eines Mannes, der Pech hat, an den tausend Männern vorbei. 64

Das Zentralthema ist wieder die Sinnlosigkeit des Krieges. Das Thema ist, in verschiedenen Variationen, in fast allen Episoden . Die gro βe Sinnlosigkeit des Krieges bietet das achte Kapitel. Es ist eine Geschichte eines Wachkommandos bei einer Brücke, die von Partisanen gesprengt und von den Deutschen wieder aufgebaut wird, um gleich wieder vor den anrückenden Russen gesprengt zu werden. Dieses Kapitel wird aus der Perspektive der Gasthauswirtin Frau Susan erzählt.

Wahrscheinlich bestand der Krieg daraus, daß die Männer nichts taten als die Zeit stehlen und viel Geld dafür bekamen, daß sie nachts alle Jahre einmal irrtümlich auf Wild schossen und auf eine arme Frau, die den Arzt zu ihrem Kind holen wollte; widerwärtig und lächerlich war es, daß diese Männer faulenzen mussten, während sie vor Arbeit nicht aus noch ein wußte. 65

Auch der letzte Gedanke der Hauptfigur Feinhals äu βert der Widersinn des ganzen Krieges. In dieser Szene besteht die Sinnlosigkeit darin, dass Deutschland vor der Kapitulation steht. Trotzdem wird er auf der Schwelle seines Elternhauses von einer Granate getroffen.

64 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo_warst_du_Adam.pdf . S. 1. 65 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo_warst_du_Adam.pdf. S. 59

62 (....) im ganzen Dorf bellten die Hunde, und er hörte das wilde Flügelschlagen der Hühner und Enten in Heusers Stall - auch die Kühe brüllten dumpf in manchen Ställen, und er dachte: Sinnlos, wie sinnlos. 66

An der Figur des Gefreiten Feinhals zeigt Heinrich Böll wieder eine Teilnahmslosigkeit deutscher Wehrmachtssoldaten. In erstem Kapitel erfährt man von seiner Verletzung in einem Kampf. Dann wird er in ein Lazarett gebracht. Nach seiner Gesundung geht er nicht an die Front, sondern arbeitet er im Verwaltungsstab einer Krankenstation und später in einer ungarischen Krankensammelstelle. Erst später wird er wieder in die Schlacht geschickt. Nach einer erneuten Verletzung bleibt er beim Brückenbaukommando in Berczaba, wo der Aufenthalt von unproduktivem Beobachten der Umgebung geprägt ist. Die letzte Station seines Lebens ist das Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Dort ist von einer Granate getroffen. Wie Andreas im Roman Der Zug war pünktlich ist der Soldat Feinhals völlig unbewaffnet, sogar in Kampfsituationen. Sein Dasein ist von Passivität geprägt.

Das wichtigste Thema ist die Judenverfolgung, die hier einen breiten Platz einnimmt. Das siebte Kapitel in diesem Roman ist von gro βer Bedeutung für die Nachkriegsliteratur, bringt eine der ersten Darstellungen eines Vernichtungslagers im deutschen Roman der Nachkriegszeit. In diesem Kapitel werden auch diejenigen vorgestellt, die für Deportation zuständig sind. Am Anfang des Kapitels schildert der Autor einen Transport von 67 Juden aus einer ungarischen Stadt. Diese Fahrt durch das nächtliche Ungarn ist nur die Fortsetzung der Geschichte, die im fünften Kapitel beginnt. Feinhals verliebt sich nämlich in diesem Kapitel in eine der Lehrerinnen. Sie hei βt Ilona, ist eine Jüdin, die zum Katholizismus konvertiert. Sie war sogar katholische Nonne, sie kehrte aber wieder ins weltliche Leben zurück. Sie wünschte sich nämlich, Kinder später zu haben.

Er hatte sie vor drei Tagen in diesem Zimmer entdeckt und war jeden Tag stundenlang bei ihr gewesen, aber noch nie war sie in seine Nähe gekommen: sie schien Angst vor ihm zu

66 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo warst_du_Adam.pdf. S. 76.

63 haben. Sie war sehr fromm, sehr unschuldig und klug, er hatte schon viel mit ihr gesprochen, und erspürte, daß sie Sympathien für ihn hatte- (….) 67

Er begleitet sie später zum Ghetto, wo seine Familie lebt. Er selbst wartet auf sie in einem Lokal. Er kann also nicht verhindern, dass Olina mit anderen Juden in einem grünen Möbelwagen abtransportiert wird. Feinhals denkt über die Desertion nach. Er hat nämlich den Marschbefehl, sich an einer Sammelstelle zu melden, stattdessen sitzt er in der Kneipe und wartet auf eine Jüdin. Die angedeutete Desertion entsteht nicht aus seiner absichtlicher Entscheidung, sonder aus Passivität des Wartens. Die initiierte Tat wird unterbrochen. Feinhals wird nämlich mit anderen Soldaten an die Front gebracht. Diesmal handelt es sich um einen roten Möbelwagen. Diese Farbe des Möbelwagens hat auch eine tiefere Bedeutung. Grün deutet auf Transzendenz, sondern rot auf Krieg, Gewalt, Tod und das Unmoralische.

Die wichtigsten Rassegedanken und die Ideologie des Nationalsozialismus werden in der Nebeneinanderstellung der Jüdin Ilona und des KZ- Kommandanten Filskeit geführt. Der Führer Filskeit ist flei βig, ehrgeizig und vom Rassegedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung überzeugt. Er ist zudem ein gro βer Liebhaber der Musik, vor allem der Chormusik. Früher leitete er einige Chöre und schrieb sogar eine Schrift. Diese Arbeit beschäftigte sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Chor und Rasse.

(…….) wenn er zu Hause war, widmete er sich der Chorliteratur und allen Schriften über den Rassegedanken, die er bekommen konnte. Das Ergebnis dieses langen und eingehenden Studiums war eine eigene Schrift, die er »Wechselbeziehung zwischen Chor und Rasse« nannte . 68

Er ist stark überzeugt, dass die Musik die spezifische Kunst der Germanen ist und ihre Schönheit im Widerspruch zu einer minderen Rasse wie der des Judentums stehen muss.

Sie sang schön, und sie wußte nicht, daß sie lächelte, trotz der Angst, die langsam höher stieg und ihr wie zum Erbrechen im Hals saß ... 69

67 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo warst_du_Adam.pdf. S. 32. 68 Ebenda. S. 51. 69 Ebenda. S. 55 .

64

Beim Erkennen des eigenen Irrglaubens wird er wütend. Im Wutanfall erschie βt er Ilona. Die übrigen Häftlinge lässt er gleich töten. Durch den wunderschönen Gesang einer Jüdin wird ihm die Absurdität der NS- Ideologie vorgeführt.

Struktureller und thematischer Kern des Romans sind die Kapitolen 5,6 und 7. Hier trifft der Soldat Feinhals auf die Lehrerin Ilona, eine katholische Jüdin. Das Verhalten beider Personen wird von der Spannung von Liebesbegegnung und äu βerer Bedrohung bestimmt.

„wozu küssen?“ sagte sie leise; sie sah ihn traurig an, und er hatte Angst, sie würde weinen. „Ich habe Angst vor der Liebe“. „Warum?“ fragte er leise. „Weil es sie nicht gibt – nur für Augenblicke.“ „Viel mehr als ein paar Augenblicke werden wir nicht haben“, sagte er leise. Er setzte seine Tasche auf die Erde, nahm ihr das Paket aus der Hand und umarmte sie. 70

Fast genau in der Mitte des Buchs ist eine Szene voller Zärtlichkeit, an deren Ende es Feinhals gelingt, mit Ilona ein Treffen zu arrangieren. Das Treffen wird vom Krieg vereitelt. Diese Szene spielt sich in einer Krankensammelstelle in Ungarn ab. Der deutsche Soldat Feinhals steckt Fähnchen in eine Landkarte, um die gegenwärtige Front zu bezeichnen, dabei ist von der ungarischen Lehrerin Ilona beobachtet.

„Ist es nicht ein wunderbares Spiel?“ fragte sie leise. „Ja, sagte sie, schrecklich – es ist alles so – sagen Sie es – so – wie Relief.“ „Plastisch meinen Sie,“ sagte er. „Jaja, sagte sie lebhaft, sehr plastisch – man sieht wie in ein Zimmer hinein.“ 71

Die Worte „sehr plastisch“ wiederholen sich am Schluss des darauffolgenden Kapitels, jedoch in ganz anderem Zusammenhang. Es ist in der Situation, als Oberleutnant Greck unter Beschu β mit heruntergezogener Hose eine Kolik hat.

70 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo warst_du_Adam.pdf. S. 36. 71 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo warst_du_Adam.pdf. S. 33.

65 Sogar die Panzer zogen sich auf die Stra βe zurück und bewegten sich schlie βend zur Stadt hin, er hörte alles, es war sehr plastisch, und die Einkreisung des Dorfes stellte sich ihm deutlich dar . 72

Die Wiederholung der Wendung plastisch verweist auf den Realismusanspruch von Bölls Roman. Die Schilderung von Grecks Tod ist sehr hart, könnte drastischer nicht sein. Er wird schlie βlich in der Jauchegrube begraben. Zweitens weist die Wiederholung des Wortes plastisch auf die modernistische Montagetechnik hin. Die Montagetechnik, die Böll in seinem Roman verwendet, sich vor allem in wechselnden Erzählperspektiven und der Fragmentarisierung der Fabel niederschlägt. Sie dient dazu, den Krieg in seiner ganzen Destruktivität zu interpretieren.

Viele Personen aus diesem Roman, unter anderem Leutnant Brecht, der Soldat Feinhals, Oberst Bressen sind im Krieg mit dem christlichen Glauben konfrontiert. Die Religion stellt einen Gegenpol zur nationalsozialistischen Ideologie dar. Der Glaube ist stärker als der Nationalsozialismus. In dem Zweiten Weltkrieg bedeutet für viele Personen einen Halt. Im Roman Wo warst du , Adam? ist vor allem die Figur der Ilona von Glauben beeinflusst. Sie ist nicht passiv, sie gibt ihre Idee von Gott an den Soldaten Feinhals weiter. Liebe und Glaube stehen als Gegensatz zum Nationalsozialismus und dessen Barbarei. Die Religion ist für Leute eine Hoffnung auf besseres Leben nach dem Krieg.

Im traditionellen Sinne fehlt bei Böll das Motiv der Kameradschaft. Feinhals hilft zwar dem Kantinenwirt Finck, sein Wein im Koffer zu tragen, wenn sie unter Beschu β in Richtung Front gingen. Feinhals nimmt die Aufgabe auf sich über Fincks Tod seiner Familie zu sagen. Im letzten Moment bringt er es nicht übers Herz ihnen es erzählen.

Der Roman Wo warst du , Adam ? und die Erzählung Der Zug war pünktlich haben gemeinsam, dass beide ein tragisches Ende haben. Alle Hauptfiguren in den Werken sterben. Im Roman Wo warst du , Adam ? könnte man eine Reihe der Todesszenen sehen. In der 3. Episode wird der Sanitätsfeldwebel Schneider von

72 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo warst_du_Adam.pdf. S. 46.

66 einem explodierenden Blindgänger zerrissen. In der 6. Episode wird der Unteroffizier Finck, der als Kantinenwirt eines groβen Lazaretts bei Linz an der Donau im Krieg arbeitet, tödlich getroffen. Es war im Moment, als er Koffer voll Wein bei sich hatte.

Es gab einen ungeheuren Krach, als die Granate in Fincks Koffer schlug – der Deckel des Koffers, der absegelte, verursachte ein wildes Fauchen, schlug zwanzig Meter von ihnen entfernt gegen einen Baum, Scherben rasten wie ein Schwarm irrer Vögel durch die Luft, Feinhals fühlte, wie ihm der Wein in den Nacken spritzte (….). 73

Die Ilona – Figur

Ilona ist also eine zum Christentum konvertierte Jüdin. Sie ist die einzig Gläubige im Roman. Im Buch wird sie verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert. Dann wird von Filskeit, der Vorsteher des Lagers ist, erschossen. Auf dem Weg nach Konzentrationslager erinnert sie sich an ihre Zeit im Kloster.

Sie hatte sich ihr Leben ganz anders vorgestellt: mit dreiundzwanzig hatte sie ihr Staatsexamen gemacht, dann war sie ins Kloster gegangen – die Verwandten waren enttäuscht, aber billigten ihren Entschluß. 74

Am Ende wurde sie aber nicht Nonne. Sie hatte nämlich den Wunsch, zu heiraten und die Kinder zu haben. Trotzdem war ein Jahr im Kloster eine schöne Zeit in ihrem Leben. Dann unterrichtet sie unter anderem einen Kinderchor.

Ilona stellt hinsichtlich des Glaubens einen Gegenpol zur nationalsozialistischen Ideologie dar. Sie hat ihre eigene Art des Glaubens, in dem keine Rolle die Vertreter der Kirche spielen. Ihr Glaube ist das einzig menschlich Reale in der gro βen menschlichen Katastrophe. Im Gegenteil, ihr Freund und Soldat Feinhals ist passiv und enttäuscht von der angepa βten Selbstdarstellung der Kirche in den Kriegsverhältnissen. Er ist also ebenso katholisch wie der KZ-Kommandant Filskeit, Musikliebhaber und ein Organisator des Nazi-Musikbetriebs. Er hat seinen Glauben mehr oder weniger verloren. Ilona versucht also ihm ihre Art des Glaubens näher zu

73 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo_warst_du_Adam.pdf. S. 42. 74 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo_warst_du_Adam.pdf. S. 54.

67 bringen. Das gelingt ihr. Feinhals erkennt durch die Begegnung mit Ilona den „wahren“ Glauben, wie es Heinrich Böll nennt.

Er betete auch abends im Bett und dachte an die Gespräche, die er mit ihr gehabt hatte an den Tagen, bevor sie weg mußten — sie war immer rot geworden, und es schien ihr peinlich zu sein, daß er bei ihr im Zimmer war, zwischen ausgestopften Tieren, Gesteinsproben, Landkarten und hygienischen Wandtafeln. (.....) »Man muß beten, um Gott zu trösten«, hatte sie gesagt... 75

In diesem Buch ist also Religion ein wichtiges Thema. Viele Personen sind im Roman mit christlichen Glauben konfrontiert. Für sie ist der Glaube ein Halt in schlechten Zeiten. Es ist eigentlich eine Hoffnung. Am deutlichsten wird es durch die Figur der Ilona vertreten. Im Roman wird gezeigt, da β Liebe und Glaube den Gegensatz zum Nationalismus und dessen Barbarei bilden.

Der ganze Roman klingt pessimistisch aus. Positive Perspektive fehlt, die Lebenspläne anderer werden zerstört.

75 http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo_warst_du_Adam.pdf. S. 61.

68 9.3. Der Engel schwieg

Diesen Roman schrieb Heinrich Böll von 1949 bis1951, aber erschien erst im Jahre 1992, sieben Jahre nach Bölls Tod. Das Manuskript blieb also dreiundvierzig Jahre unveröffentlicht. Dieser Roman ist der einzige zum Abschlu β gelangte Versuch von Heinrich Böll, das Genre der Heimkehrer- und Trümmerliteratur im Rahmen der gro βen epischen Form zu verwirklichen. Es ist ein literarisches Dokument über deutsche Zustände im Mai 1945.

Der Roman spiegelt die Enttäuschung des Autors darüber, da β nach dem Krieg ein wirklicher Neuanfang verpa βt wurde. Die kritische Auseinandersetzung und die schonungslose Darstellung von Hunger und Elend tragen zweifellos dazu bei, da β die Bemühungen um eine Publikation des Romans im Sommer 1951 am Widerstand des Verlags Middelhauve gescheitert sind. Heinrich Böll hat einzelne Episoden extrahiert und separat zur Veröffentlichung angeboten (Der Engel, Die Postkarte, Der Geschmack des Brotes). Die Ablehnung des Romans verursachte die Verschleppung anderer Projekte, und vor allem das, da β Böll sich nach einem neuen Verleger umsieht. Sein neuer Verlag ist Kiepenheuer & Witsch, der ihm ein monatliches Fixum garantiert.

Der Roman beginnt am Tag des Waffenstillstands, am 8. Mai 1945 kehrt ein junger Soldat in seine zerbombte Heimatstadt zurück. Er sucht Brot, eine Bleibe und Menschen. Er findet Menschlichkeit, aber auch die Härte des Eigeninteresses. Die Handlung führt den Leser auf verschiedene Schauplätze einer in Trümmern liegenden Stadt (nie genannt, aber unverkennbar: Köln), in zerstörte Quartiere, Hospitäler und zerbombte Kirchen. Das Buch wird abwechselnd über Hans und Dr. Fischer erzählt, wobei die Passagen über Hans dominieren.

In der Figur des Deserteurs und Heimkehrers Hans Schnitzler spiegeln sich Bölls eigene Erfahrungen aus dem Krieg und Nachkriegszeit im zerstörten Köln wider.

Die Motive des möglichen Schicksals eines Deserteurs, der Heimkehr ohne Entlassungspapiere in die zerstörte Heimat, der Überbringung von Todesnachrichten an die Angehörigen von Kameraden, der Suche nach Brot und einer Bleibe, der Situation verlassener Soldatenbräute und lediger Mütter, des Überlebens durch Kohlenklau und

69 Schwarzmarkt fielen dem jungen Autor aus eigenen Erinnerungen und Zeitereignissen zu, die Leistung des Autors war es, sie aufzugreifen und zu einer Geschichte zu kombinieren. 76

Im Buch wird nichts vom Krieg erzählt, kaum vom äu βeren Ablauf der Nachkriegszeit. Es ist ein literarisches Dokument über deutsche Zustände im Mai 1945. Der Autor zeigt die Menschen dieser Zeit. In einer Liebesgeschichte erlebt man die Phrasenlosigkeit der heimkehrenden Generation. Diese Generation wusste, da β es keine Heimat auf dieser Welt gibt.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht Hans Schnitzler, er ist Deserteur, ohne Ausweispapiere. Er sucht nach einer neuen Identität. Er sollte wegen mehrerer Desertionen unter verschiedenen Namen erschossen werden. Ihm hilft der Feldwebel Willi Gompertz, weil er ihn entkommen lä βt. Er tauscht mit ihm Kleidung und auch Schicksal. Hans hat die Aufgabe, den Uniformrock mit eingenähtem Testament von Willi Gompertz seiner Frau zurückzugeben. Im Krankenhaus mit einer Engelsfigur bekommt er etwas zu essen und erfährt die Adresse von Frau Gompertz. Der Arzt gibt ihm falsche Papiere.

Diese Engelsfigur hat im Buch mehrere Funktionen. Der Engel stellt in der Erzählung die Religion der Armen, des niederen Klerus und vor allem der Sakramente dar. Die wichtigsten Sakramente in diesem Buch sind Zigaretten und Brot, Blut und in einem verschobenen Sinn auch Geld. Auch das, da β die Engelsfigur aus Gips ist, hat seine Bedeutung. Es zeigt auf die Korruptionsgeschichte des Christentums.

(…..), das erste Gesicht, das ihm in der Stadt begegnete: das steinerne Antlitz eines Engels, milde und schmerzlich lächelnd; Gesicht und Haar waren mit dichtem dunklem Staub bedeckt, und auch in den blinden Augenhöhlen hingen dunkle Flocken; er blies sie vorsichtig weg, fast liebevoll, nun selbst lächelnd,befreite das ganze milde Oval von Staub, und plötzlich sah er, da β das Lächeln aus Gips war. 77

76 Sowinski, Bernhard . Heinrich Böll. Realien zur Literatur. Verlag J.B. Metzler Stuttgart. Weimar.1993. S. 93. 77 Böll, Heinrich. Der Engel schwieg. Deutscher Taschenbuch Verlag. München. 1997. S. 5- 6.

70 Der seelisch ausgebrannte Heimkehrer Hans Schnitzler trifft Regina Unger, die durch den Tod ihres Kindes tief getroffen ist. Sie macht ihm Mut zum Leben und erlöst ihn aus seiner Lethargie. Sie lassen sich sogar durch einen Kaplan, der Hans zuvor geholfen hat, inoffiziell trauen.

Die Liebesgeschichte ist mit einem zweiten Handlungstrang verknüpft. Dr. Fischer personifiziert die Gegenkräfte. Der Engel schwieg enthält viele Themen und Motive, die der Autor in späteren Werken entfaltet. Es handelt sich z.B. um die verschärfte Kritik an der Entwicklung des bürgerlichen Nachkriegskatholizismus. Diese Problematik stellt im Roman die Person des Dr. Ficher dar.

Dies war Dr. Dr. Fischer, ein Kunde jener Buchhandlung, in der er gelernt hatte, den zu bedienen ihm einmal nur als fortgeschrittenen Lehrling erlaubt gewesen war, denn Fischer verstand etwas von Büchern, war Philologe, Jurist, Herausgeber einer Zeitschrift, hatte eine tiefe und nicht ganz unproduktive Neigung zur Goethologie und galt damals als der inoffizielle Berater seiner Eminenz des Kardinals in kulturellen Fragen – (….). 78

Heinrich Böll zeigt ihn als Egoisten, der den um Brot bettelnden Schnitzler abweist. Er unterschlägt ein Testament mit Geld für die Armen, um sich selbst zu bereichen.

Das zweite große Thema dieses Romans ist die Karitas. Elisabeth Gompertz ist die vermögende Spenderin, sie gibt ihr Geld für Brot für Arme aus. Sie kann sich gegen den reichen und herzlosen Dr. Fischer nicht behaupten. Sie wurde durch Dr. Fischer bedrängt, das Testament ihm zu geben oder zu vernichten. Frau Gompertz stirbt im Krankenhaus.

78 Böll, Heinrich. Der Engel schwieg. Deutscher Taschenbuch Verlag. München. 1997. S. 93-94.

71 9. Zusammenfassung

In meiner Arbeit habe ich mich vor allem dem Thema des Krieges im Werk von Heinrich Böll gewidmet. Am meisten haben mich einige Kurzgeschichten aus dem Sammelband Wanderer, kommst du nach Spa ... und drei Romane von Heinrich Böll interessiert – und zwar Der Zug war pünktlich , Wo warst du, Adam? und Der Engel schwieg .

Die Kurzgeschichte war die erste literarische Form, in der Böll publizierte und Erfolge erzielte. Er begann sie schreiben, um Geld zu verdienen. In seinen Kriegserzählungen und den Kurzgeschichten aus der Nachkriegszeit beschreibt er das Leben der Soldaten und den gewöhnlichen Menschen im Krieg und nach dem Krieg.

Die Bücher Der Zug war pünktlich , Wo warst du, Adam? und Der Engel schwieg haben auch das Thema des Krieges gemeinsam und zeigen, dass die Folgen des Krieges für die Menschen manchmal schlimmer sind, als der Krieg selbst. Seine Werke betonen vor allem die Absurdität und Sinnlosigkeit des Krieges. Diese word durch einen absurden und sinnlosen Tod der Hauptpersonen gezeigt.

Heinrich Böll war einer der bedeutendsten und bekanntesten Schriftsteller der Bundesrepublik Deutschland. Er gilt auch im Ausland als führender Repräsentant deutscher Nachkriegsliteratur. Er zeigte den Zweiten Weltkrieg, wie er wirklich war und wie er ihn selbst erlebte. Er war auch der erste Deutsche nach Thomas Mann, der den Nobelpreis erhalten hat. Es ist klar, daß Böll einen großen Einfluß auf die Literatur hatte.

72 11. Literaturverzeichnis

Primärliteratur :

1. Böll, Heinrich. Wanderer, kommst du nach Spa.... Erzählungen . Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. München. 1967.

2. Böll, Heinrich. Der Zug war pünktlich. Deutscher Taschenbuch Verlag. München. 1972.

3. Böll, Heinrich. Der Engel schwieg . Deutscher Taschenbuch Verlag. München. 1997.

4. Heinrich Böll. Leben & Werk. Heinrich-Böll-Stiftung. Köln. 1995.

5. Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band I . Mit einem Vorwort von Annemarie Böll und einem Nachwort von James H. Reid. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001

6. Böll, Heinrich. Briefe aus dem Krieg 1939-1945. Band II . Mit einem Vorwort von Annemarie Böll und einem Nachwort von James H. Reid. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2001

Sekundärliteratur :

1. Schröter, Klaus. Heinrich Böll mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. Reinbek bei Hamburg. 1967.

2. Heinrich Böll, Romane und Erzählungen: Interpretationen . Hrsg. Von Werner Bellmann. Philipp Reclam jun. Stuttgart. 2000.

3. Vormweg, Heinrich. Der andere deutsche Heinrich Böll . Eine Biographie. Kiepenheuer & Witsch. Köln. 2000.

4. Jens, Walter. Küng, Heins. Anwälte der Humanität. Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Böll. Kindler. München. 1989.

5. Sowinski, Bernhard . Heinrich Böll . Realien zur Literatur. Verlag J.B. Metzler Stuttgart. Weimar.1993.

73

6. Daemrich, Horst. Daemrich, Ingrid. Themen und Motive in der Literatur . FranckeVerlag, Tübingen, 1987.

7. Körtels, Sebastian. Krieg und Soldatenfiguren in der Nachkriegsprosa Heinrich Bölls. GRIN. Verlag für akademische Texte . 2006.

8. Bienek, Horst. Werkstattgespräche mit Schriftstellern . Taschenbuch Verlag. München. 1965.

9. Wagener, Hans. Von Böll bis Buchheim: Deutsche Kriegsproza nach 1945 . Amsterdam – Atlanta, GA. 1997.

Internetquellen:

1. http://www.booksbooksbooks.ru/download/Boell_Wo_warst_du_Adam.pdf 2. http://www.nzz.ch/2004/02/21/li/article97RZO.html 3. http://www.hum.uit.no/ger/kafka/Kurzgeschichte1.htm 4. http://www.bhak-bludenz.ac.at/literatur/barock/gryphius.asp

74