ENZENSBERGERS FRÜHE POLITISCHE LYRIK

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Elvis RROJI

am Institut für Germanistik

Begutachter Em.Univ.-Prof. Dr.phil. Hans Helmut Hiebel

Graz, 2010

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis ...... 1 1 Einleitung ...... 3 1.1 Biografie ...... 3 1.2 Der geschichtliche und politische Hintergrund ...... 6 1.3 Die schwierige Näherung an Enzensbergers Werk...... 18 2 verteidigung der wölfe ...... 26 2.1 sozialpartner in der rüstungsindustrie ...... 27 2.2 konjunktur ...... 33 2.3 verteidigung der wölfe gegen die lämmer...... 39 3 landessprache...... 51 3.1 landessprache...... 52 3.2 an alle fernsprechteilnehmer...... 66 3.3 gedicht für die gedichte nicht lesen ...... 72 4 blindenschrift...... 75 4.1 abendnachrichten ...... 76 4.2 zweifel...... 80 4.3 countdown...... 84 5 Zusammenfassung...... 87 Literaturverzeichnis...... 90 Internetquellen...... 93

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„Unsichtbar wird der Wahnsinn, wenn er genügend große Ausmaße ange- nommen hat.“ Bertolt Brecht

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1 Einleitung

1.1 Biografie

Hans Magnus Enzensberger ist neben der wichtigste Repräsen- tant der in den 1960er Jahren wieder aufkeimenden engagierten Lyrik. En- zensberger hält seine Biografie für unwichtig, dennoch ist sie sehr aussage- kräftig, vor allem seine Kindheit und Jugendzeit im Dritten Reich, während des 2. Weltkrieges, an dem er 1944/45 als Mitglied des Volkssturms teilge- nommen hat. Die Katastrophe des Weltkrieges und das Kriegsende im Mai 1945, vielfach als finis germaniae bezeichnet, prägten ihn in besonderer Wei- se. Die Biografie ist neben dem historischen Hintergrund für das Verständ- nis seiner Gedichte entscheidend. Ter-Nedden schreibt in seiner „Einführung in die literarische Hermeneutik“: „Texte ohne Kontext sind an sich ziemlich nichtssagend, wir müssen uns in die Werke des Autors, die Zeit einlesen, wenn wir Texte überhaupt sprechen machen wollen, verstehend machen wollen.“ 1 wurde am 11. November 1929 in Kauf- beuren im Allgäu geboren. Er wuchs in einer bürgerlichen Familie auf, der Vater war Ingenieur und Fernmeldespezialist. Die Familie Enzensberger ge- hörte zum höheren Kleinbürgertum, die Eltern lehnten den Nationalsozia- lismus ab, sie hielten Distanz zum Regime. Der Vater trat nur wegen besse- rer beruflicher Möglichkeiten 1934 der Partei bei. Hans Magnus wuchs mit drei jüngeren Brüdern auf, Christian Enzensberger ist Anglist und Ulrich Enzensberger war früher Mitglied der Kommune I 2. 1931 erfolgte der Umzug der Familie nach Nürnberg, in die spätere „Stadt der Reichsparteitage“. Dort

1 Gisbert Ter-Nedden: Einführung in die Theorie und Praxis der literarischen Hermeneutik. Leseübungen. Hagen 1987, S. 32. (= Lehrbrief der Fernuniversität Hagen 3731) 2 Die erste politisch motivierte Wohngemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland wurde am 12. Jänner 1967 in Berlin gegründet. 3

fanden von 1933 bis 1938 sämtliche Reichsparteitage der damals allein re- gierenden NSDAP statt. Die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs erlebte Hans Magnus Enzensberger als Volkssturm 3-Angehöriger. Zuvor war er Pimpf in der Hitlerjugend. Nach dem Krieg studierte er Literaturwissenschaft und Philosophie in Erlangen, Freiburg im Breisgau, Hamburg und an der Sorbonne in Paris. Während seines Studiums war er Stipendiat der Studienstiftung des deut- schen Volkes. Im Jahre 1955 promovierte er mit einer Arbeit über Clemens Brentanos Poetik. Bis 1957 arbeitete er als Hörfunkredakteur in Stuttgart und nahm an diversen Tagungen der Gruppe 47 teil. Von 1965 bis 1975 gab Enzensberger die Zeitschrift „Kursbuch“ heraus. Enzensberger hatte insbe- sondere damit, aber auch mit seinen anderen Werken großen Einfluss auf die Studentenbewegung im Jahr 1968. Von 1985 bis 2007 gab er die Buch- reihe „Die Andere Bibliothek“ heraus. Besonders in seinem Buch „Palaver“ (1970) setzt sich Enzensberger mit Medien, vor allem dem Fernsehen, auseinander. Er bezeichnet die elekt- ronischen Medien als Hauptinstrumente der „Bewusstseins-Industrie“, der er weitgehende Steuerungs- und Kontrollmacht über die spätindustrielle Ge- sellschaft zuschreibt. Enzensberger forderte in dem Text eine sozialistische Medientheorie, d. h. einen emanzipatorischen und emanzipativen Umgang mit den Medien. Probleme sah er im „repressiven Mediengebrauch“ (ein zent- ral gesteuertes Programm mit einem Sender und vielen Empfängern, der die Konsumenten passiv macht und entpolitisiert). Spezialisten produzieren den Inhalt, werden dabei jedoch durch Eigentümer oder eine Bürokratie kontrol- liert. Ein „emanzipatorischer Mediengebrauch“ dagegen würde jeden Emp- fänger zum Sender machen. Durch die Aufhebung der technischen Barrieren würden die Massen mobilisiert und politisch eingebunden. 4 Als Nullmedium bezeichnete Enzensberger das Fernsehen. 5 Im Jahre 1987 verwendete er die

3 Durch einen „Führererlass“ am 25. 9. 1944 einberufen, das letzte Aufgebot des Dritten Reiches, alle 16 bis 60jährigen wehrfähigen Männer wurden zum Kriegsdienst eingezogen. 4 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Palaver. Politische Überlegungen (1967-1973). Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1974, S. 111. 5 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 98. 4

Begriffe „Ossi“ und „Wessi“ in dem Prosaband „Ach, Europa! Wahrnehmun- gen aus sieben Ländern“. 6 In einem fiktiven Reisebericht durch das Europa im Jahre 2006 beschreibt er in einem Kapitel ein friedlich wiedervereinigtes Deutschland, in dem sich aber „Ossis“ und „Wessis“ weiterhin feindlich ge- genüberstehen. 7 In seinem Buch „Schreckens Männer“ beschäftigt er sich mit dem islamistischen Terror. Er beschreibt islamistische Suizidattentäter, die sich wie Sieger gebärdeten, aber tatsächlich radikale Verlierer seien. Er beschreibt die arabische Welt als eine Zivilisation, die im 12./13. Jahrhun- dert den Europäern weit überlegen gewesen, heute aber relativ unproduktiv sei. Das produziere Minderwertigkeitskomplexe, die ihrerseits Wut erzeug- ten. Die Schreckens Männer seien jedoch nicht in der Lage, die Wurzel ihrer Schwierigkeiten in den Unzulänglichkeiten ihrer Gesellschaften zu suchen. Stattdessen projizierten sie ihren Hass und ihre Aggressionen in die westli- che Welt, insbesondere die USA und die Juden und konstruierten Verschwö- rungstheorien, die beweisen sollen, dass sie die Opfer eines Masterplans der Ausbeutung seien.

6 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Ach, Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. 7 Vgl. Ebda, S. 472. 5

1.2 Der geschichtliche und politische Hintergrund

Obgleich Enzensberger politisch keinem der beiden verfestigten Lager der Nachkriegszeit direkt zuzuordnen ist, kann keinerlei Zweifel daran bestehen, dass seine Literatur zutiefst politisch ist. Sein gesellschaftliches Engagement entspricht der Auffassung, die unter den Achtundsechzigern Furore machte, nämlich, dass der Künstler in der Gesellschaft engagiert zu sein habe. Um seine Gedichte analysieren zu können, ist es daher unabdingbar, den gesell- schaftspolitischen Rahmen der Bundesrepublik Deutschland und in der ganzen Welt in den fünfziger und sechziger Jahren darzustellen: Die großen Debatten der ersten beiden Jahrzehnte der Bundesrepublik bilden den Rahmen für die politische Literatur Enzensbergers. In ihr spiegeln sich die Themen der Zeit - das Verhältnis zwischen dem herrschenden bürgerlich- kapitalistischen Establishment und der Arbeiterschaft unter den neuen Be- dingungen der sozialen Marktwirtschaft, das Verhältnis des Westens zum Osten, der Anspruch des Westens auf individuelle Freiheit und deren massi- ve Einschränkung durch den konservativen bürgerlichen Moralkodex der Adenauerzeit, der Konflikt zwischen „Nie wieder Krieg!“ und der Wiederbe- waffnung Deutschlands. Die genauere Positionierung Enzensbergers wird bei der genaueren Analyse ausgewählter Gedichte noch detaillierter anzusprechen sein, soviel jedoch vorweg: Enzensbergers Welt- und Gesellschaftsbild gehören weder dem linken noch dem rechten Spektrum an, jedoch vertritt er Positionen, die sich vom politischen Kurs der SPD oder kommunistischer Kreise klar ab- grenzten. Was Enzensberger von marxistischer Agitprop oder linientreuen „Parteisoldaten“ unterschied, war, dass er die Arbeiterschicht keineswegs idealisierte, sondern im Gegenteil deren materialistische, strukturkonserva- tive, ja spießige Weltsicht und die – in seinen Augen kleinmütigen – Träume von geregelten Arbeitszeiten und einem eigenen Schrebergarten anstelle ei- ner großen gesellschaftlichen Umgestaltung anprangerte. Enzensberger wur- 6

de zu einem unbequemen Mahner im positivsten Sinne des Wortes. Die Iro- nie daran ist, dass der außerhalb aller Konventionen stehende Querdenker nun auf dem besten Weg ist, zu einem der großen Klassiker der politischen Lyrik des 20. Jahrhunderts zu werden.

Zentrale Themen des politischen und gesellschaftlichen Lebens

Die Gedichtbände „verteidigung der wölfe“, „landessprache“ und „blinden- schrift“ entstanden in der sogenannten Adenauerära (Bundeskanzler 1949 – 1963), die vor allem durch folgende Merkmale gekennzeichnet war: Verdrän- gung der NS-Zeit, das Wirtschaftswunder, die Heimatideologie, den Kalten Krieg und die Frage des Umgangs mit der Realität zweier deutscher Staaten, eine Fortschritts- und Technikskepsis, da die beiden Weltkriege und die Ent- stehung der Arbeiterschaft als politischer Machtfaktor die Schattenseiten der Industrialisierung aufzeigten. Schließlich gab es auch einen großen gesell- schaftlichen Skandal – die Ermordung der Prostituierten Rosemarie Nitribitt im Jahr 1957, worin auch die gesellschaftliche Elite Deutschlands involviert war. Honorige Bürger und ein Prostituiertenmord – ein Paradebeispiel kon- servativer Doppelmoral. Denn zu den gesellschaftlich-moralischen Grundfes- ten der Adenauerzeit gehörten ihr Aggressions- und ihr Sexualtabu. Schon diese kurze Auflistung deutet einige der inhärenten Widersprü- che der Ära Adenauer an: Welchen Sinn haben eine Heimatideologie und de- ren massenwirksame Umsetzung in Heimatfilmen etc., wenn Deutschland zweigeteilt ist und die Frontlinie des die Epoche bestimmenden Konflikts zwischen Kapitalismus und Sozialismus quer durch das eigene Land ver- läuft? Adenauer personifizierte für den Westen das andere, das bessere Deutschland. Er hatte niemals mit den Nationalsozialisten paktiert und wandte sich energisch gegen das fatale Erbe von nationalem Chauvinismus, deutscher Großmannssucht und aggressivem Imperialismus. Gleichzeitig wurde aber die NS-Vergangenheit nicht nur nicht aufgearbeitet, sondern ge- radezu totgeschwiegen. Deutschland leistete beispielsweise Reparationszah- lungen an Israel, gleichzeitig waren auch nach der Entnazifizierung führende 7

Amtsträger der Bundesrepublik, Richter, Ministerpräsidenten deutscher Bundesländer, hochrangige Bundeswehroffiziere und Universitätsprofesso- ren, teilweise durch ihre Mitwirkung am NS-Unrechtsregime massiv belastet, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Studentenbewegung der späten sechziger Jahre protestierte dagegen mit dem Slogan „Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren“.

Die Gründung von BRD und DDR

Doch beginnen wir am Anfang der deutschen Nachkriegsstaaten. 1949 wer- den zwei deutsche Staaten gegründet: die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und die Bundesrepublik Deutschland (BRD). Die drei Westmächte fördern in ihren Zonen den Aufbau einer parlamentarischen Demokratie. Die Sowjetunion ebnet der SED den Weg zu einer kommunistischen Diktatur. Nach ihrer Gründung werden beide deutschen Staaten Schritt für Schritt in die jeweiligen Machtblöcke integriert. Zunächst erfolgt die wirtschaftliche Einbindung in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) beziehungs- weise die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). 1955 wer- den die DDR in das östliche Militärbündnis des Warschauer Paktes und die Bundesrepublik in das westliche Militärbündnis der NATO als Mitglieder aufgenommen. Im Gegenzug erhalten beide deutschen Staaten weitgehend ihre Souveränität zurück. Mit der Nationalen Volksarmee und der Bundeswehr werden zwei deutsche Armeen gebildet, die einander am Eiser- nen Vorhang gegenüberstehen. Die deutsche Teilung vertiefte sich dadurch. Der politische Kurs der Bundesrepublik Deutschland wird maßgeblich durch deren ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer geprägt. Das von ihm verfolgte Konzept der politischen und wirtschaftlichen Westintegration wird bald von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt, und von den Nachfol- gern Adenauers fortgeführt. Die deutsch-französische Aussöhnung und die Verpflichtung zur Wiedergutmachung für die nationalsozialistischen Verbre- chen werden ebenfalls von Adenauer vorangetrieben. In der DDR ist der ei- gentliche Machthaber der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED, 8

Walter Ulbricht. Er treibt die Umgestaltung nach dem Vorbild der Sowjetuni- on voran und übernimmt nach und nach alle Schlüsselpositionen in Staat und Partei. Erst 1971 wird Ulbricht durch Erich Honecker abgelöst. Zur Ver- folgung von Regimegegnern wird 1950 das Ministerium für Staatssicherheit gegründet. An der Spitze der gefürchteten "Stasi" stand ab 1957 Erich Miel- ke. 8 Beeinflusst durch die jeweilige Besatzungsmacht, gehen beide deut- sche Staaten auch in der Wirtschaftspolitik von Anfang an unterschiedliche Wege. In der Bundesrepublik setzen sich die Befürworter einer sozial orien- tierten Marktwirtschaft durch. Die soziale Marktwirtschaft in Verbindung mit dem Marshallplan und einer weltweiten Hochkonjunktur verhilft zu ei- nem raschen Wiederaufbau. Das „Wirtschaftswunder“ hält bis Mitte der 60er Jahre an. Es trägt dazu bei, die Millionen Vertriebenen einzugliedern, die Wohnungsnot zu überwinden und fast Vollbeschäftigung zu erreichen. In der SBZ beginnt hingegen bereits 1945 der Aufbau einer sozialistischen Zentral- planwirtschaft. Diese und die Wiederaufrüstung verlangsamen den Wieder- aufbau in der DDR. Von Anfang an belastet auch die ständige Flucht von qualifizierten Arbeitskräften in den Westen die DDR-Wirtschaft. Die meisten Menschen fliehen über das noch offene West-Berlin. Durch den Bau der Ber- liner Mauer im August 1961 wird auch dieser Fluchtweg schließlich von der DDR geschlossen. Mit dem Mauerbau und der Kubakrise erreicht der Kalte Krieg seinen Höhe- und Wendepunkt. Eine deutsch-deutsche „Innenpolitik“ abseits der Weltpolitik ist in diesem Rahmen undenkbar. Bonn und Ostber- lin sind zu tief in den Kontext der weltpolitischen Arena eingebettet. 9 In der Außenpolitik 10 ist für Bonn neben den USA vor allem Frank- reich ein wichtiger politischer Partner. Die von Bundeskanzler Adenauer und dem französischen Staatspräsidenten de Gaulle betriebene Aussöhnung gip- felt 1963 im deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Bundeskanzler

8 Vgl. Lebendiges virtuelles Museum online. Online im Internet: URL: http://www.dhm.de/lemo/ [Stand: 2008-02-09] 9 Vgl. Ebda. 10 Vgl. Gregor Schöllgen: Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941-1991. München: Beck 1996, S. 57. (Im Folgenden zitiert als: Schöllgen, Geschichte der Weltpo- litik von Hitler bis Gorbatschow 1941-1991.) 9

Adenauer (1876 – 1964) prägt in den 50er Jahren die Innen- und Außenpoli- tik der Bundesrepublik und erlangt weltweite Anerkennung. In allen Krisen seit Beginn des Kalten Krieges steht Adenauer fest auf der Seite des Wes- tens. Die erste große militärische Auseinandersetzung der beiden Blöcke be- ginnt 1950 in Korea, als nordkoreanische Truppen die von der UN festgelegte Demarkationslinie überschreiten und innerhalb kürzester Zeit fast ganz Südkorea erobern. Unter der Führung der USA wird zum ersten (und bisher einzigen Mal) ein Krieg unter der Flagge der Vereinten Nationen geführt. Als sich nach raschen Anfangserfolgen der westlich dominierten Streitmacht der Zusammenbruch des Regimes von Kim Il-Sung andeutet, interveniert jedoch die Volksrepublik China. Nach 3 Jahren blutiger Kämpfe wird der status quo ante in einem Waffenstillstandsabkommen festgeschrieben. Die Unfähigkeit des Westens, im Koreakrieg zu siegen, zeigt drastisch, wie ausgeglichen das Machtverhältnis zwischen Ost und West zu Beginn des Kalten Kriegs war. Unter damaliger Perspektive erschien ein Triumph des Kommunismus als realistische Möglichkeit, was auch die heftigen ideologischen Auseinander- setzungen innerhalb des westlichen Lagers verständlicher macht. Während Frankreich und Großbritannien, die großen Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts, an Bedeutung verlieren und selbst militärisch ihre Besitzungen in Afrika und Asien nicht zu halten vermögen (Indien, Algerien, Indochina etc.), steigen die USA endgültig zur unangefochtenen Führungs- macht der westlichen Welt auf. Nicht nur militärisch, technologisch und wirtschaftlich, sondern auch kulturell erlangen die Vereinigten Staaten eine Dominanz, wie sie geschichtlich einzigartig ist. Insbesondere die Unterhal- tungskultur amerikanisiert sich immer stärker, was gerade bei den kulturel- len Eliten Europas verbreitet auf Unbehagen stößt – ein Trend, der zum Teil bis heute anhält. Einen wichtigen Erfolg verzeichnen die USA unter John F. Kennedy gegen die UdSSR in der Kubakrise 1962. Washington verhindert die Statio- nierung sowjetischer Atomraketen auf der Insel, pokert allerdings extrem hoch und bringt die Welt an den Rand eines Atomkriegs. Konfrontiert mit der erstmaligen unmittelbaren Bedrohung der Auslöschung der Menschheit findet ein Wandel in der Politik mit Auswirkungen auf Gesellschaft und Kul- 10

tur statt. Der Prozess der Entspannung beginnt, wenn auch mit vielen Rückschlägen. Der Staatsmann Adenauer steht nach dem Gewinn der abso- luten Mehrheit bei der Bundestagswahl 1957 auf dem Höhepunkt seiner Macht. Sein Rücktritt 1963 markiert das Ende einer Epoche. In der DDR be- stimmt Walter Ulbricht bis 1971 das politische und kulturelle Leben. Nahezu unangefochten übersteht er die durch die Entstalinisierung 1956 ausgelöste Krise im Ostblock, in deren Verlauf es zu Aufständen in Polen und Ungarn kommt. 11 Beide wurden jedoch brutal niedergeschlagen.

Die Wirtschaft: Kollektivlohn statt Weltrevolution

Die wirtschaftliche und soziale Stabilisierung der Bundesrepublik Deutsch- land schreitet in den 50er Jahren rasch voran. Die Produktions- und Ex- portdaten steigen rasant. Die Arbeitslosenquote sinkt 1961 auf unter 1 %. Der gewaltige wirtschaftliche Aufschwung, der vor allem dem Ausland als ein "Wirtschaftswunder" erscheint, ermöglicht den Aufbau zahlreicher sozialer Sicherungen. 12 Auch in der DDR stabilisiert sich in der zweiten Hälfte der 50er Jahre die Wirtschaftslage. Trotz unbestreitbarer Erfolge bleibt die Wirtschaft aber das Sorgenkind der DDR-Regierung. Der 1956 mit großem Optimismus in Kraft gesetzte 2. Fünfjahrplan muss schon 1959 abgebro- chen werden. Die wirtschaftlichen Probleme sowie die Zwangskollektivierun- gen in der Landwirtschaft und im Handwerk lassen die Flüchtlingszahlen wieder dramatisch ansteigen. Die offene Grenze in Berlin wird daher für die DDR-Regierung zunehmend untragbar. Durch den Bau der Mauer am 13. August 1961 riegelt das SED-Regime West-Berlin hermetisch ab. Sämtliche Verkehrsverbindungen zwischen beiden Stadthälften werden über Nacht un- terbrochen. Der Mauerbau zementiert auch die deutsche Teilung. Da jedoch

11 Vgl. Lebendiges virtuelles Museum online. Online im Internet: URL: http://www.dhm.de/lemo/ [Stand: 2008-02-09] 12 Vgl. Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: von der Grün- dung bis zur Gegenwart. München, Beck 1999, S. 156 ff. (Im Folgenden zitiert als: Gör- temaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland) 11

der völkerrechtliche Status von West-Berlin nicht berührt wird, beschränken sich die Westmächte auf wirkungslose Proteste. Der Mauerbau war nur der Schlusspunkt in einer Entwicklung, die sich schon in den späten vierziger Jahren immer deutlicher abzeichnete: zwei deutsche Staaten, zwei miteinander konkurrierende Systeme. Die BRD legte mit der Einführung der D-Mark die Grundlage für das Wirtschaftswun- der. Mit dem Wiedererstarken der Industriemacht Deutschland waren es nicht mehr Soldatenstiefel, die Machtanspruch und Selbstbewusstsein der Deutschen repräsentierten, sondern die härteste Währung der westlichen Welt und millionenfach exportierte Produkte mit dem Siegel „Made in Ger- many“. Kennzeichnend für die Wirtschaftspolitik Adenauers und Erhardts war die Erkenntnis, dass die Geister von Klassenkampf, Massenstreiks und Re- volution, die die Weimarer Republik ausgezehrt hatten, nur durch einen großen gesellschaftlichen Kompromiss zu bändigen sein würden. So ent- stand das Konzept der sozialen Marktwirtschaft und der Sozialpartner- schaft. 13 So groß die Animositäten zwischen Adenauer und den führenden Vertretern der Sozialdemokraten auch waren, der erzkonservative Kanzler begriff, dass nur ein groß angelegter gesellschaftlicher Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern eine dauerhafte Befriedung der innenpoliti- schen Lage herbeiführen würde können. Die Einbindung der Arbeiterschaft in die Lohngestaltung, die Beteiligung der breiten Massen am Wirtschafts- wunder nahm linksrevolutionären Bewegungen den Wind aus den Segeln. Der Traum des deutschen Arbeiters war fortan nicht mehr die Weltrevolution und der Sturz der Bourgeoisie, sondern der eigene Fernseher, die größere Wohnung, das Familienauto und der Italienurlaub. 14 Die SPD schwor am Reformparteitag von Bad Godesberg ihrem revolu- tionären Elan der Vergangenheit ab, die Arbeiterschaft wurde vom Träger der Veränderung zu einem strukturkonservativen Faktor. Linksrevolutionäre Elemente wurden weitestgehend gezähmt, ihr kümmerlicher Rest führte in der Roten Armee Fraktion (RAF) einen vom Mainstream der Gesellschaft total

13 Vgl. Ebda, S. 152 ff. 14 Vgl. Ebda, S. 172 ff. 12

isolierten, brutalen Kampf gegen Windmühlen. Linksorientierte Intellektuelle standen vor einem Dilemma. Enzensberger warnte davor, dass die Arbeiter der Rüstungsfabriken genau diejenigen Waffen produzierten, mit denen sie später abgeschlachtet werden würden, da sich an den grundlegenden Ver- hältnissen von Macht, Kapital und Herrschaftsmonopol nichts geändert hät- te. Der einzige Unterschied zur Rüstung vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg war aus der Sicht linksorientierter Intellektueller, dass die Arbeiter bei diesem Selbstmord auf Raten nun die 40-Stunden-Woche, großzügige Abgeltungen für Überstunden und Wochenendarbeit bekamen.

Die Deutschlandpolitik Adenauers 15

Die deutsche Teilung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte bis zu den Ostabkommen unter Willy Brandt die dominierende Frage schlechthin in der deutschen Außenpolitik bleiben. Die Sowjetunion erkannte den strategi- schen Nachteil, den der sich ankündigende NATO-Beitritt des bei Weitem größeren und bevölkerungsreicheren Teils Deutschlands für den Warschauer Pakt mit sich ziehen würde. Aus diesem Grund machte Moskau in den soge- nannten Stalinnoten 1952 Angebote, die auf ein wiedervereinigtes, jedoch politisch wie militärisch neutrales Deutschland abzielten. Adenauer lehnte diese Offerten rundweg ab. Er sah die Zukunft Deutschlands politisch und militärisch einzig und allein in der Verankerung im westlichen Bündnissys- tem. Nach dem Aggressionskrieg des Nationalsozialismus und den unvor- stellbaren Verbrechen des Hitlerregimes war sich Adenauer bewusst, dass Deutschland sich das Vertrauen der westlichen Welt erst wieder mühsam erarbeiten musste. Der Kontext des Kalten Krieges bot hier die Möglichkeit, angesichts eines gemeinsamen militärischen und ideologischen Gegners die- sen Prozess zu beschleunigen. Dazu war es jedoch nötig, die Bundesrepublik als unverbrüchlichen Alliierten der Westmächte zu etablieren und den

15 Vgl. Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941-1991, S. 83. 13

durchaus attraktiven Angeboten Stalins hinsichtlich einer möglichen Wie- dervereinigung zu widerstehen. Der Preis, die Rückendeckung des Westens durch Experimente eines „dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Kom- munismus mit unklarem Ausgang zu verlieren, war dem überzeugt bürger- lich-konservativen Adenauer zu hoch. Als Alternative vertrat er die soge- nannte Magnet-Theorie. Der kometenhafte Aufschwung der westdeutschen Wirtschaft sowie Freiheit und Wohlstand in der Bundesrepublik würden, so die These, eine so große Anziehung auf die Bevölkerung der DDR ausüben, dass mittel- bis langfristig die Wiedervereinigung zu den Konditionen des Westens erfolgen würde. In historischer Perspektive sollte Adenauer mit sei- ner Magnet-Theorie recht behalten. Es war genau die Aussicht auf Freiheit und Wohlstand, die im Sommer 1989 zuerst zur „Abstimmung mit den Fü- ßen“, also der erneuten Massenflucht von DDR-Bürgern in den Westen, in der Folge aber auch zur Protestbewegung in Leipzig und schließlich zum Fall der Mauer führten. Diese Entwicklung war jedoch erst in der Folge der Ent- spannungspolitik, des KSZE-Prozesses und der Reformen Gorbatschows in der Sowjetunion möglich. In einem anderen geopolitischen Kontext war Ade- nauer ein strikter Gegner der Annäherung zwischen Ost und West. Er mach- te die Hallstein-Doktrin zur Grundlage der deutschen Außenpolitik. Sie be- sagte, dass die Bundesrepublik den Anspruch stellte, allein das deutsche Volk international zu vertreten. Die DDR wurde diplomatisch nicht nur nicht anerkannt, die BRD brach auch die Beziehungen zu jedem anderen Staat ab, der die Regierung in Ostberlin anerkannte. Erst Willy Brandt setzte diesem außenpolitischen Dogmatismus durch die Ostverträge, die diplomatische Anerkennung der DDR und die Aussöhnung mit Polen ein Ende. Der Kalte Krieg dauerte zwar an und durchlebte Phasen der Entspannung (das Helsin- kiprotokoll 1975) und der erneuten Verschlechterung der Beziehungen (etwa nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan oder der nuklearen Nach- rüstung infolge des Doppelbeschlusses 1979 ff.)

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Die deutsche Wiederbewaffnung – Angst vor den Geistern der Vergan- genheit 16

Die Planungen und Vorbereitungen für die Aufstellung von Bundeswehr und NVA reichen bis zum Beginn der 50er Jahre zurück. In der Bundesrepublik befasst sich seit Oktober 1950 die „Dienststelle Blank“ – die von Theodor Blank geführte Vorgängerinstitution des Bundesverteidigungsministeriums - mit allen Fragen der Wiederbewaffnung. 1951 wird mit dem Bundesgrenzschutz (BGS) eine militärisch aufgebaute Sonderpolizei des Bundes geschaffen. Fast die Hälfte aller BGS-Angehörigen tritt dann 1956 der Bundeswehr bei. Der Aufbau der Bundeswehr, deren Friedensstärke 495.000 Mann beträgt, wird 1965 abgeschlossen. In der SBZ setzt die Aufstellung bewaffneter Einheiten schon 1948 ein. Ab 1952 beginnt der Aufbau der über 70.000 Mann starken Kasernierten Volkspolizei (KVP). Nach der Entstehung der Nationalen Volksarmee wird die KVP geschlossen in die NVA überführt. Die Friedensstärke von 90.000 Mann wird schon bald erreicht. Nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1962 kann die NVA dann ausgebaut werden. Ihre Friedensstärke wird auf etwa 170.000 Mann erhöht. Der Umgang mit den historisch belasteten deutschen Militärtraditio- nen ist in beiden deutschen Staaten sehr unterschiedlich. Während die Bundeswehr bemüht ist, sich deutlich von Wehrmacht und Reichswehr abzugrenzen, übernimmt die Nationale Volksarmee einige Elemente wie etwa Uniform und Paraden. 17 Daneben fungierten zwei hochrangige Generäle der NS-Wehrmacht Generalfeldmarschall Erich von Manstein (1887 – 1973), bis März 1944 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, und Generalleutnant Adolf Heusinger (1897 – 1982), Chef der Planungsabteilung im Oberkom- mando der Wehrmacht, als Berater bzw. Mitarbeiter beim Aufbau der Bun- deswehr. Heusinger war auch beim Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 einer der Verletzten. Von 1957 bis 1961 war er erster Generalinspek-

16 Vgl. Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 294 ff. 17 Vgl. Lebendiges virtuelles Museum online. Online im Internet: URL: http://www.dhm.de/lemo/ [Stand: 2008-02-09] 15

teur der Bundeswehr, zuvor war er Leiter der militärischen Abteilung im Amt Blank. Von Manstein war nach Kriegsende einige Zeit interniert, wurde mehrmals angeklagt und erst 1953 endgültig aus der Haft entlassen. Die Wiederbewaffnung kann in der Bundesrepublik nur gegen heftige innenpoli- tische Proteste durchgesetzt werden. In der DDR kommt es dagegen zu kei- nen öffentlichen Diskussionen. Bis zum Mauerbau 1961 äußert sich die all- gemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung daher in erster Linie durch die Flucht in den Westen. 18 Am 2. Jänner 1956 rücken in Andernach, Nörvenich und Wilhelmsha- ven die ersten Soldaten der Bundeswehr ein. Unter diesen Freiwilligen befin- den sich viele Angehörige des Bundesgrenzschutzes. Die allgemeine Wehr- pflicht wird erst im Juli 1956 durch den Bundestag beschlossen. Erster Ver- teidigungsminister ist Theodor Blank. Nach den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit ist die Suche nach gültigen Traditionen für die Soldaten der Bundeswehr oft problematisch. Als Symbol der Bundeswehr wird 1956 das Eiserne Kreuz eingeführt 19 → das Zeichen preußisch-deutscher Militärtradi- tion.

Der politische und gesellschaftliche Aufbruch der späten sechziger Jah- re

Nach dem Ende der Ära Adenauer wandelt sich das politische und kulturelle Klima in der Bundesrepublik. Vor allem von der studierenden Jugend und den Intellektuellen werden die herrschenden Traditionen und Werte infrage gestellt. Die Bundestagswahl 1969 macht den Stimmungsumschwung deut- lich. Erstmals gelingt es der SPD, mehr als 40 % der Stimmen zu gewinnen und zusammen mit der FDP die Regierung zu übernehmen. Die sozialliberale Koalition mit Willy Brandt und Walter Scheel an der Spitze ergänzt mit ihrer Ostpolitik die Politik der Westintegration Adenauers. Im Rahmen einer welt- weiten Entspannungspolitik ist die Regierung Brandt/Scheel bereit, die nach

18 Ebda. 19 Ebda. 16

dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstandenen Grenzen anzuerkennen und Gewaltverzichtsverträge abzuschließen. Verbunden mit der Ostpolitik ist auch die Normalisierung der Beziehungen beider deutscher Staaten zuein- ander. Mit dem Grundlagenvertrag wird die Basis für ein geregeltes Neben- einander gelegt.

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1.3 Die schwierige Näherung an Enzensbergers Werk

Der Begriff „politische Lyrik“ ist weder eine Erfindung der bürgerlichen Lite- raturwissenschaft noch ein bloßer Gegenbegriff zur „reinen“ Lyrik, sondern er bezeichnet eine bestimmte Gruppe poetischer Texte, deren specifica diffe- rencia in der politischen Thematik liegen wie die religiöser Lyrik in der religi- ösen oder erotischer in der erotischen. Begriffe wie politische, religiöse oder erotische Dichtung signalisieren primär nichts anderes als bestimmte au- ßerästhetische Intentionen, die sich ihrerseits auf bestimmte Interessen zu- rückführen lassen. Es geht dieser Art von Dichtung nicht um die Autonomie ästhetischer Reizwerte, sondern um die Zweckdienlichkeit ästhetischer Mit- tel für spezifische Intentionen, nicht um Intentionswerte, sondern um inten- dierte Werte. Solche Texte wählen deshalb ihre ästhetischen Mittel nach der Maßgabe ihrer Zweckdienlichkeit aus, ihre Struktur wird also durch den In- tentionsgegenstand bestimmt und sie haben von Anfang an Gebrauchswert- charakter. 20 Genau diese immanente Zweckdienlichkeit der politischen Lyrik macht eine Herangehensweise erforderlich, die über diejenige der „klassischen“ textimmanenten Interpretation hinausgeht. Da politische Lyrik nicht dem Grundsatz des l`art pour l´art folgt, muss der außerliterarische Kontext der politischen Hintergründe der behandelten Themen sowie die Kommunikati- onssituation zwischen Autor und Leser näher betrachtet werden. Die ästhe- tischen Mittel, die der Autor einsetzt, werden hierauf zu betrachten und in- nerhalb der beiden Pole von literarischer Form und gesellschaftlicher Wir- kung zu verorten sein. Dieter Lamping unterscheidet in “Wir leben in einer politischen Welt. Lyrik und Politik seit 1945“ zwischen drei Formen der politischen Lyrik. Die Poesie der großen Politik behandelt ihm zufolge die einschneidenden Ereig-

20 Vgl. Walter Hinderer: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Stuttgart: Reclam 1978, S. 24. 18

nisse der Weltgeschichte, etwa den Atombombenabwurf auf Hiroshima oder das Attentat auf John F. Kennedy. Davon unterscheidet er die Poesie des Unpolitischen, also die Betrachtung gesellschaftlicher Vorgänge abseits der Vorgänge innerhalb der politischen Landschaft im engeren Sinne. Hier wird die genaue Unterscheidung bereits schwieriger, denn was dezidiert politisch und was rein privat ist, bleibt letztendlich eine Frage der Definition und des Zeitgeistes. Die Französische Revolution und in jüngerer Zeit auch die 68er- Bewegung forderten, dass auch das Private politisch sein müsse. Im Bieder- meier war hingegen die Abgrenzung dieser beiden Sphären besonders stark. 21 Die dritte und letzte Kategorie nach Lamping ist die politisch-kritische Poesie. Anders als die Poesie der großen Politik setzt sie sich zum Ziel, auf das Bewusstsein der Menschen dezidiert verändernd einzugreifen. Es han- delt sich nicht primär um eine literarische Verarbeitung des bereits Gesche- henen, sondern um einen konkreten Beitrag zur aktuellen Debatte, wenn auch in Form von Lyrik. 22 Enzensbergers Lyrik steht insgesamt der dritten der genannten Kate- gorien am nächsten, wenngleich er auch immer wieder den unpolitischen Bereich in seine Betrachtungen einbezieht und gerade dessen unpolitische, distanziert-desinteressierte Position scharf angreift. Das Paradebeispiel dafür ist das weiter unten interpretierte Gedicht „verteidigung der wölfe“. 23 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Enzensberger selbst zum Objekt mannigfaltiger Studien des universitären Germanistikbetriebes ge- worden ist, hat er doch in der Zeitschrift „German Quarterly“ genau diesen in den schärfsten Worten gebrandmarkt. Unter dem Titel „Bescheidener Vor- schlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie“ 24 kritisiert er die Fixierung der Interpreten auf die „richtige“ Interpretation und geißelt

21 Vgl. Dieter Lamping: Wir leben in einer politischen Welt. Lyrik und Politik seit 1945. Göt- tingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 28. 22 Vgl. Ebda, S. 28-29. 23 Vgl. Ebda. 24 Hans Magnus Enzensberger: Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie. In: German Quarterley 49/1976, S. 430. Zitiert in: Gisbert Ter- Nedden: Einführung in die Theorie und Praxis der literarische Hermeneutik. Leseübun- gen. Hagen 1987, S. 21-23. (= Lehrbrief der Fernuniversität Hagen 3731) 19

den Schulunterricht, der ihm zufolge auf genau diese angelegt sei. Kern des Problems sei diese idée fixe, von der er schreibt:

An dieser Wahnvorstellung wird mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit festgehal- ten, obwohl ihre logische Inkonsistenz und ihre empirische Unhaltbarkeit auf der Hand liegen. Wenn zehn Leute einen literarischen Text lesen, kommt es zu zehn verschiedenen Lektüren. Das weiß doch jeder. In den Akt des Lesens gehen zahllos viele Faktoren ein, die vollkommen unkontrollierbar sind: die soziale und psychische Geschichte des Lesers, seine Erwartungen und Inte- ressen, seine augenblickliche Verfassung, die Situation, in der er liest – Fak- toren, die nicht nur absolut sind, daß so etwas wie Lektüre zustande kom- men kann. Das Resultat ist mithin durch den Text nicht determiniert und nicht determinierbar. Der Leser hat in diesem Sinn immer recht, und es kann ihm niemand die Freiheit nehmen, von einem Text Gebrauch zu ma- chen, der ihm paßt. Zu dieser Freiheit gehört es, hin- und herzublättern, ganze Passagen zu überspringen, Sätze gegen den Strich zu lesen, sie mißzuverstehen, sie umzumodeln, sie fortzuspinnen und auszuschmücken mit allen möglichen Assoziationen, Schlüsse aus dem Text zu ziehen, von denen der Text nichts weiß, sich über ihn zu ärgern, sich über ihn zu freuen, ihn zu vergessen, ihn zu plagiieren und das Buch, worin e steht, zu einem beliebigen Zeitpunkt in die Ecke zu werfen. Die Lektüre ist ein anarchischer Akt. Die Interpretation, besonders die einzig richtige, ist dazu da, diesen Akt zu vereiteln. 25

Diese scharfe Abrechnung mit wissenschaftlichen Interpretationsmethoden kommt angesichts der politischen Überzeugungen des Autors und der in seinen Werken vertretenen Auffassungen keineswegs überraschend. Den- noch macht es nachdenklich, wie man sich den Gedichten Enzensbergers nähern soll, wenn er selbst jegliche Form der Interpretation in den schärfs- ten Tönen verwirft. Meine persönliche Näherung an das Schaffen des Autors orientiert sich daher an Ter-Neddens Plädoyer zur „Rettung“ der Interpretati- on, konkret an einer philologischen Herangehensweise, die ohne Anspruch auf Alleingültigkeit oder Vollständigkeit versucht, die Hintergründe der Ge-

25 Ebda, S. 21. 20

dichte zu erhellen und stilistische Mittel des Autors sichtbar zu machen, so- dass der Leser diese besser nachvollziehen kann. Was der Leser danach mit den Gedichten anfängt, bleibt ihm überlassen. Der kulturelle und soziale Kontext beeinflusst sowohl Sender als auch Empfänger, wobei festzuhalten ist, dass dieser für die beiden keineswegs ein und derselbe sein muss. Erstens sind die Gesellschaft und die von ihr pro- duzierte Kultur zu vielschichtig und milieuabhängig, um die gleiche Wirkung zu entfalten oder auch nur in gleicher Weise als Hintergrund zu dienen. Zweitens ist der soziale Kontext des Autors zwar ein fester Bestandteil seiner Inspiration, die Zielgruppe der Lyrik weicht jedoch oft von der intendierten stark ab. Gerade im so heftig kritisierten bürgerlichen Milieu wurde Enzens- berger oft stärker rezipiert – wenn auch oft wenig freundlich – als in den bil- dungsferneren Schichten der Arbeiter. Der für diese Arbeit wichtigste Aspekt ist das Verhältnis zwischen Wirklichkeitsbezug und Semantik bzw. Ästhetik. Enzensberger selbst räumt der Poesie eine wichtige internationale Rol- le ein. In „Museum der modernen Poesie“ geht er gar so weit, die Poesie als Weltsprache der Gegenwart zu bezeichnen. 26 Lamping kritisiert diese Vision als zu schwammig und tatsächlich ging Enzensberger auch in späteren Wer- ken nicht genauer darauf ein, worin die genaue Natur dieser lingua franca bestehe. 27 Abseits vom Pathos des engagierten Literaten wäre es wohl tref- fender, anstatt von einer Weltsprache der Poesie von einem grenzübergrei- fenden Diskurs intellektueller Eliten zu sprechen, die einander tatsächlich auf mannigfaltige Weise beeinflussten. In Anbetracht von Enzensbergers po- litischer Einstellung und seiner gesellschaftspolitischen Orientierung hätte es wohl kaum seinem Selbstbild entsprochen, gerade ihn diesem Elitendis- kurs zuzurechnen. Aufgrund dieses Verständnisses von politisch engagierter Lyrik wurde Enzensberger zu einem der ersten literarischen Kritiker der verknöchert- autoritären Gesellschafts- und Machtstrukturen unter Konrad Adenauer.

26 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Museum der modernen Poesie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1960, S. 13. 27 Vgl. Dieter Lamping: Literatur und Theorie. Über poetologische Probleme der Moderne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 70. 21

Während Günter Eich und Karl Krolow noch die Phase der Verheerungen des Zweiten Weltkrieges und den schwierigen Wiederaufbau - Stichwort Trümmerlyrik - behandelten, wurde Enzensberger zu einem der Vorreiter einer Generation von Dichtern, die durch ihr Schaffen und ihre Öffentlich- keitspräsenz die revolutionäre Bewegung des Jahres 1968 wesentlich vorbe- reiteten und mitinitiierten.

Die Entstellung als zentrale Technik in Enzensbergers Gedichten

Doch nun zur literaturwissenschaftlichen Schlüsselfrage dieses Kapitels: Wie geht Enzensberger vor, um seine Botschaft in künstlerische Werke umzuset- zen? Schon auf den ersten Blick auf die Gedichte Enzensbergers fällt deren ungewöhnliche Metrik sowie ihr unkonventioneller Sprachgebrauch auf. En- zensberger steht in einer langen Reihe politisch engagierter Lyriker im deut- schen Sprachraum, doch die große Leistung, das innovativste Moment in seinem Werk, ist die Technik der Entstellung. Dabei reißt er Wörter aus dem üblichen Zusammenhang, wandelt Formeln und Redensarten ab, um ihnen neue Bedeutungsdimensionen zu entlocken.

„Die Poetik hat nichts mehr mit der aufklärerischen Sprachverwendung, der es um die logozentrische Fixierung der Bedeutungen (der Signifikate) durch die Zeichenkörper (die Signifikanten) ging, zu tun. […] Viele Verfahren der modernen Lyrik sind als Mittel der „Verfremdung“ zu verstehen, mit deren Hilfe Sprache und Bewußtsein aus Lethargie und Trott gerissen werden können. Enzensbergers Begriff der ‚Entstellung‘ könnte im Rahmen einer systematischen und detaillierten Poetik unschwer als Parallele dieses Beg- riffes der ‚Verfremdung‘ gefaßt bzw. ihm als einem Oberbegriff zugeordnet werden.“ 28

28 Hans Helmut Hiebel: Das Spektrum der modernen Poesie II. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 390. (Im Folgenden zitiert als: Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II.) 22

1955 promovierte Enzensberger über die Poetik von Clemens Brentano, und darin ist ein wichtiger Schlüssel nicht nur zum Verständnis seiner Auffas- sung von Lyrik zu finden, sondern auch ein „Manifest“ der technischen und stilistischen Mittel, derer sich der Autor in der Folge so oft bedienen sollte. Die Entstellung betrifft aber nicht nur Wörter als Grundbaustein eines Tex- tes, sondern auch Sprichwörter, Formeln, Floskeln, Namen und Zitate. Zu- dem unterstreicht Enzensberger die Wichtigkeit der Mehrdeutigkeit, da diese – analog zu seiner Kritik an der „richtigen“ Interpretation, das Wort in Schwebe hält und eine Vielzahl von Bedeutungen und Möglichkeiten eröff- net, die erst im Leser ihre Festlegung erfahren und im Idealfall bei diesem zu Reflexion und Assoziation führen. 29 Geradezu ein Leitsatz für die Lyrikauf- fassung Enzensbergers ist eine Stelle bei Brentano, die Enzensberger zitiert:

Einzelne tiefsinnige Naturen mögen wie versiegelte Brunnen in jeder Zeit ste- he, aber sie handeln mit Arkanis, und der Zirkelabschnitt, den sie über ihre Mitwelt aufsprengen lassen, ist nur Sehern und Mystikern und unschuldigen Kindern erquicklich […]. 30

Enzensberger sieht sich als Verfechter einer moderneren Poetik, für die die Entstellung zum Kern- und Angelpunkt wird. Zudem lassen sich in Enzens- bergers Lyrik weitere Elemente ausmachen, die ihn zu einem Vorreiter der modernen Lyrik seiner Zeit machen: „Der syntaktische Choc, die Bildver- dichtung, die Animation, die unverbundene Reihung, die grammatische Ent- stellung, die Identifikation, die entstellte Redensart und viele andere entstel- lende Verfahren sind zu weitverbreiteten poetischen Mitteln geworden.“ 31

Montage und Ambiguität; Brechung und Umfunktionierung des Reimes; Dis- sonanz und Absurdität; Dialektik von Wucherung und Reduktion; Verfrem- dung und Mathematisierung; Langverstechnik; unregelmäßige Rhythmen; Anspielung und Verdunkelung; Wechsel der Tonfälle; harte Fügung; Erfin-

29 Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 390. 30 Brentano zitiert in: Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 390. 31 Enzensberger zitiert in: Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 390. 23

dung neuartiger metaphorischer Mechanismen; und Erprobung neuartiger syntaktischer Verfahren. 32

Das Ziel der Entstellung ist es jedoch keineswegs, dem Leser das Verständ- nis der Botschaft zu erschweren. Dieter Lamping beschreibt Enzensbergers Technik wie folgt: „Und wie Brecht hat auch Enzensberger schließlich die Verfremdung als eine Entstellung zur Kenntlichkeit begriffen, als aufkläre- risch gemeinte Entstellung einer verstellten Wirklichkeit.“ 33 Einerseits wird also das Lesepublikum aus der Bequemlichkeit be- kannter Lese- und Versmuster herausgerissen, andererseits aber auch auf inhaltlicher Ebene durch die Verfremdungsefekte der Entstellung die dichte- rische Wahrheit, so zumindest die Intention Enzensbergers, klarer gemacht. Schon die beinahe Deckungsgleichheit der Begriffe „Verfremdung“ und „Ent- stellung“ werfen die Frage auf, inwieweit Enzensberger als Erbe Brechts zu sehen ist. Lamping verneint trotz der technischen Parallelen zwischen den beiden eine derartige Sichtweise. Lamping sieht bei allen Unterschieden als den eigentlichen Vorläufer Enzensbergers. Zentral für die- se Argumentation ist der Einsatz der Montagetechnik, etwa im Gedicht „Bildzeitung“ oder in dem Band „Mausoleum“. Der Unterschied zwischen der Bennschen und der Enzensbergerschen Montage sei Lamping zufolge aller- dings, dass die Technik bei Enzensberger keine ästhetizistische Funktion habe. Die freien Verse Enzensbergers ließen dies auch gar nicht zu. Für En- zensberger, so Lamping weiter, diene die Montage dazu, die Unordnung der Dinge zu enthüllen, womit sie zu einem Mittel von Verfremdung und Entstel- lung werde. 34 Lamping fasst den Schritt, den Enzensberger weg von Benn und Brecht getan hat und der ihn zu mehr als einem bloßen Epigonen der beiden macht, folgendermaßen zusammen:

32 Ebda. 33 Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 251. 34 Ebda, S. 252. 24

Es ist allerdings mehr als die Montage-Technik, die Enzensberger von Brecht, und mehr als die Verfremdung, die ihn von Benn trennt. Von dem Ansinnen Benns unterscheidet ihn die grundsätzlich politische Intention seiner Ge- dichte, ihr radikaldemokratisch-aufklärerischer Impetus. Von dem Aufklärer Brecht unterscheidet ihn, zumindest anfangs, mehr noch als der an Benn er- innernde rhetorische Aufwand, der so etwas wie Lakonie und Schlichtheit gar nicht aufkommen läßt, die ganz unweise und unfreundliche, politische und ideologisch perspektivenlose Haltung des Zorns, der nicht zuletzt da von Brecht geachtete Proletariat trift, auf das Enzensberger seine Hoffnungen nie gesetzt hat. Er ist eher – darin wieder Benn näher – ein Anwalt des Kleinbür- gertums, dem alles Elitäre genauso fremd ist wie alles Volkstümliche und der im Zweifel das Raffinierte vorzieht. Seine Grundhaltung ist, wie schon seine spannungsreiche Orientierung an Brecht wie an Benn erkennen läßt, das teils didaktische, teils ironisch-ambivalente Sowohl-Als-Auch, das ihn als en- gagierten Skeptiker und desillusionierten Aufklärer ausweist. 35

Mit anderen Worten: Bereits die technische Gestaltung, bereits die Stilmittel, mittels derer Enzensberger seine Botschaft in Poesie packt, verweist auf sei- ne politische Orientierung. Einerseits kritisiert er im Stile der Linken das Großbürgertum, die Machthaber und die Wirtschaftseliten, andererseits ist ihm aber die naive Verklärung des Proletariats als Heilsbringer in einer neu- en Epoche völlig fremd. Enzensberger ist ein Außenseiter und fand somit nur folgerichtig auch eine ganz individuelle poetische Ausdrucksform, um diese Position in Gedichte zu fassen. In den folgenden Interpretationen von Enzensbergers Gedichten wird genau von diesen Mechanismen ausführlicher die Rede sein – nicht zuletzt, um auch eine genauere stilistische Verortung Enzensbergers innerhalb der literarischen Landschaft des deutschsprachigen Raums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ermöglichen.

35 Ebda. 25

2 verteidigung der wölfe

Enzensberger schreibt als „angry young man“ (Angry young man: Aus der englischen Literatur der 1950er Jahre übernommener Begriff, gemeint ist die Szene um die englischen Autoren John Osborne, dessen Stück „Look Back in Anger“ gab der ganzen Bewegung ihren Namen. Kingsley Amis und Harold Pinter mit einem zeitdiagnostischen Zweck. Die aufwärtsstrebende Mittel- schichtversion des so genannten proletarischen Halbstarken. 36 ) Bis ins Alter herauf bleibt diese Bezeichnung an Enzensberger haften. Als zorniger junger Mann schreibt er gegen das Establishment, den Militarismus, Herrschaft und Gewalt, ökonomische Ausbeutung, Manipulation (vor allem durch die Medien), soziale und politische Gedanken- und Gedächtnislosigkeit, Oppor- tunismus und Konsumideologie 37 . Dies kommt vor allem im „bösen“ Gedicht „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ von 1957 zum Ausdruck. En- zensbergers Biograf Jörg Lau kommentierte dessen Wirkung auf den Medien- betrieb und die öffentliche Meinung wie folgt: „Dieser junge Mann weiß, wie die Dinge laufen. Er kennt sich aus in der „verwalteten Welt“ und ihren Insti- tutionen zur Bewusstseinslenkung. Genau daher erzielen seine medienkriti- schen Analysen - über die Wochenschau, den Spiegel, die FAZ -, mit denen er bald den Betrieb aufmischen wird, ihre ungeheuer zielgenaue Wirkung.“ 38 Geradezu euphorisch über diese neue Stimme des Widerspruchs und des Protests war der Journalist Alfred Andersch: „Endlich, endlich ist unter uns der zornige junge Mann erschienen, der junge Mann, der seine Worte nicht auf die Waagschale legt, es sei denn auf die der poetischen Qualität. Es gibt glückliche Länder, in denen er in Rudeln auftritt, […] Bei uns gibt es nur

36 Vgl. Jörg Lau: Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben. Berlin: Alexander Fest 1999, S. 49. 37 Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 395. 38 Jörg Lau: Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben. Berlin: Alexander Fest 1999, S. 41. 26

einen. Immerhin: Dieser eine hat geschrieben, was es in Deutschland seit Brecht nicht mehr gegeben hat: das große politische Gedicht.“ 39

2.1 sozialpartner in der rüstungsindustrie

ein anblick zum zähneknirschen sind die fetten eber auf den terrassen teurer hotels, auf den golfplätzen sich erholend von mast und diebstahl, die lieblinge gottes.

schwerer bist du zu ertragen, niemand im windigen trenchcoat, bohrer, kleinbürger, büttel, assessor, stift, trister dein gelbes gesicht:

verdorben, jeder nasführung aus- geliefert, ein hut voll mutlosen winds, eigener handschellen schmied, geburtshelfer eigenen tods, konditor des gifts, das dir selbst wird gelegt werden. freilich versprechen dir viele, abzuschaffen den mord, gegen ihn zu feld zu ziehn fordern dich auf die mörder. nicht die untat wird die partie verlieren: du: sie wechselt nur die farben im schminktopf: das blut der opfer bleibt schwarz. 40

39 Alfred Andersch: I (in Worten: ein) zorniger junger Mann. In: Der Zorn altert die Ironie ist unsterblich. Über Hans Magnus Enzensberger. Hrsg. von Wieland Rainer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 13-17. 40 Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 84. (Im Folgenden zitiert als: Enzensberger, verteidigung der wölfe) 27

Die Sozialpartnerschaft ist ein politischer Vertrag zwischen zwei Klassen der Gesellschaft, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Von dieser spricht Enzensberger in seiner Lyrik und in seinen kritischen Essays. Die Gesell- schaftsklassen sollen im Rahmen der Sozialpartnerschaft zusammenarbeiten und in Krisenzeiten zusammenhalten. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen partnerschaftlich handeln, „konzertierte Aktion“41 anstreben, wie es später im Jahr 1967 hieß, die Spielregeln in der Rüstungsindustrie harmonisieren. Damit wird diese Konstruktion, sozialpartnerschaftlich an die mit der Rüs- tungsindustrie und der Kriegsvorbereitung gekoppelt. Die Industriellen rufen die Arbeitnehmer indirekt auf, nicht nur in der Produktion von Konsumgü- tern, sondern auch bei der Herstellung von Waffen, die sie selbst eines Tages treffen werden, mitzumachen. Die Welt stand damals immer wieder vor der Gefahr eines Krieges zwischen Ost und West. Die Furcht des Lyrikers war nicht paranoid, sondern eher eine allgemein verbreitete Befürchtung in die- sen Zeiten, die von Enzensberger früh geahnt und formuliert wurde. Um sie aus der Sicht eines Politikers zu bewältigen, müsste man sich an einem Tisch zusammensetzen und diskutieren. Die erste Strophe zeigt den Zorn des lyrischen Ichs über die Lebenswei- se der Oberschicht, der Herrschenden, der Eber und Wölfe. Diese Verse sind voll Hass und mit den negativsten Attributen für die Reichen gefüllt. “die fet- ten eber”, die Reichen also, logieren in teuren Hotels und spielen Golf. Das Golfspiel muss hier als Symbol für die reiche Oberschicht herhalten. Der Diebstahl setzt voraus, dass es hier Diebe gibt, und andere, die bestohlen werden. Anhand eindrucksvoller Bilder wie teuerer Hotels zeichnet Enzens- berger die Kluft zwischen der Klasse der Privilegierten und derjenigen der Ausgebeuteten. Das Zähneknirschen an und für sich ist die extremste Reak- tion eines Beobachters wie Enzensberger. Die Abneigung, die er für diese Ge- sellschaftsklasse empfindet, steigert sich in ein Crescendo, wenn er die Sub- stantiva “mast” und “diebstahl” verwendet. Die Oberschicht, die die politische Macht und viele andere Bereiche des Lebens in der Hand hat, hat sogar den

41 Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 401. 28

Segen der Kirche. 42 Die Koalition aus Thron und Altar funktioniert – wenn auch in leicht abgeänderter Form – wie in den Jahrhunderten zuvor. Wir tref- fen auch in anderen Werken auf Symbole des traditionellen, strukturkonser- vativen Machtapparats, etwa, wenn sich in „utopia“ die Päpste von der Last ihres getragenen, würdevollen Auftretens befreien, indem sie aus den Dach- luken zwitschern. Man kann dies sogar als Zeichen totaler Resignation vor anscheinend unveränderbaren Zuständen sehen. Enzensberger bringt somit seine subjektive Haltung dem Kapitalismus gegenüber zum Ausdruck. „schwerer bist du zu ertragen“, also schwerer noch als die fetten Eber auf den Terrassen teureren Hotels. An dieser Stelle wird unverblümt emotio- nal gesprochen. Enzensberger übt Kritik an den kleinen Leuten. Da wird mit einer Tendenz zum Umgangssprachlichen, Wütenden und Schimpfenden ge- sprochen, zähneknirschend und im Stil eines Pamphlets, wenn Enzensber- ger etwa von „fetten eber“ spricht. Der Durchschnittsbürger ist ein Niemand gegenüber dem Mächtigen und dem Reichen. Jetzt sind diese schwerer zu ertragen noch als die Kapitalisten. Diese Haltung findet sich in dem ganzen Band und in der Lyrik Enzensbergers bis in die 80er Jahre hinein, immer wieder reitet er Angriffe auf die Lohnabhängigen, auf die passiven Unter- und Mittelschichten. Die Zeichnung der Mittelschicht ergänzt Enzensbergers hässliches, abwertendes und desillusionierendes Gemälde der Gesellschaft. Auffallend ist, dass lediglich in einer der vier Strophen des Gedichtes die Reichen be- schimpft werden. Die anderen drei richten sich an die Mittelschicht, als wür- de Enzensberger damit auch noch die Letzten aus dem Winterschlaf aufzu- wecken versuchen. Enzensberger greift die Mittelschicht und die Arbeiter scharf an. Er gibt ihnen sogar die Schuld an diesen, seiner Meinung nach miserablen Zuständen in der deutschen und der westlichen Gesellschaft im Allgemeinen. Warum attackiert Enzensberger die Unterschichten, die ihm angesichts seiner politischen Orientierung doch eigentlich sympathisch sein müssten? Es geht um das Moment der Ehrlichkeit und der Selbstbestim- mung. Die „kapitalistischen Raubtiere“ sind in ihrer Verrohtheit zumindest

42 Vgl. Ebda, S. 399. 29

selbstbestimmt und zielstrebig. Die Unterschichten dagegen werden in ihrem Opportunismus und Mitläufertum, ihrer Konsumergebenheit immer wieder zur Zielscheibe Enzensbergers. Diese Sozialpartnerschaft bildet laut Enzens- berger eine 'Nasführung', was eine Verfremdung der Redewendung „an der Nase herumführen“ ist. Die Wendung „eigener handschellen schmied“ ist eine Verfremdung des Sprichwortes „seines eigenen Glückes Schmied sein“. Diese Manipulation, diese Korruption der Unterlegenen und der Leibeigenen ist schon hier satirisch zugespitzt dargestellt. Aber wenn das auf das Gebiet der Rüstungsindustrie verlagert wird und dann noch dazu die Furcht, die Angst vor einem weiteren Krieg oder Weltkrieg hinzukommt, dann ist das Chaos vorprogrammiert. Deswegen wird die Sozialpartnerschaft als so böse und kri- tisch gesehen, sodass Enzensberger sagt: du bist „der konditor des gifts, das dir selbst wird gelegt werden“ . Die Mittelschicht produziert die Waffen, die eines Tages gegen sie selbst gerichtet werden. Enzensberger formuliert seine Gedanken immer so, als sei es gewiss, dass der Weltkrieg, der Atomkrieg, kommen würde. Es sind nie Sätze im Kon- junktiv oder Befürchtungen, sondern immer apodiktische Prophezeiungen. Eine Art Selbstgewissheit, dass es wieder so schlimm kommen wird, dass ein weiterer Weltkrieg unmittelbar bevorsteht. Aber das ist fiktional gemeint, das sind keine wissenschaftlichen Prognosen, sondern literarische, fiktionale Prophezeiungen, die man auch als Warnungen lesen kann. Jürgen H. Peter- sen fasst das Verhältnis zwischen der Realität und der Wahrheit des Dichters treffend zusammen, wenn er meint: „Doch wenn die Dichtung auch richtige Daten und empirisch nachweisbare Fakten präsentiert, so geht es ihr doch nicht um die Mitteilung solcher Tatsachen.“ 43 Man muss nicht unterstellen, dass der Autor hundertprozentig überzeugt war, dass es zum Dritten Welt- krieg kommen würde. Die parabolische Anrede mit Du oder Ihr bedeutet , dass die von ihm ausgewählte Menge der Mitläufer der Opportunisten direkt angesprochen wird.

43 Jürgen H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. Berlin: Schmidt 1996, S. 17. 30

„geburtshelfer eigenen tods “. Die Waffenproduzenten bzw. deren Angestellte und Arbeiter helfen dabei mit, den eigenen Tod zu ermöglichen. Da erscheint die andere Seite der Medaille, dass nämlich Rüstung und Waffen sich eines Tages gegen den Produzenten selber richten werden. Die Waffen werden ent- weder von der Polizei oder vom Militär verwendet - und gerichtet werden diese Waffen gegen diejenigen, die sie auch produziert haben. Das ist mit anderen Worten der Klassenkampf innerhalb der Gesellschaft oder der Krieg gegen andere Völker. Dann sind es nicht unbedingt die selbst produzierten Waffen, die sich gegen die Produzenten richten, sondern die Waffen, die auch in an- deren Ländern produziert worden sind. Ziel seiner Kritik sind nicht allein die deutschen Arbeiter, sondern auch ihre Kollegen auf der ganzen Welt. Diese Arbeiter sind korrumpiert, “verdorben” und “jeder nasführung ausgeliefert” – Enzensberger geht mit seinen Gedanken sogar weiter, wenn er den Vertreter der Mittelschicht als “einen hut voll mutlosen winds” bezeichnet. Die Kamp- feslust der Arbeiter scheint somit verloren zu sein. Der Arbeiterklasse wird der Selbstmord vorausgesagt. Diese Vorwürfe sind Anspielungen auf die So- zialpartnerschaft, die Enzensberger als Kollaboration mit dem Todfeind sieht. Das Einrücken ins Militär sei der Befehl der Mörder, der politischen Eliten. Die Herrschaftselite verspricht, den Krieg durch Krieg abzuschaffen – ein Paradox. Durch den Krieg wollen die Herrschenden den Frieden errei- chen. Die meisten deutschen Politiker bemühten sich nach 1945, einen dau- erhaften Frieden zu sichern. Aber durch Aufrüstung wird nicht der dauerhaf- te Friede erreicht, sondern genau das Gegenteil. Sie fordern die Mittelschicht auf, in den Krieg zu ziehen. Der Osten rüstet, die DDR inklusive. Die Eliten der BRD konterten, sie müssten auch rüsten und müssten notfalls gegen den Imperialismus des Ostens kämpfen. Aber mit dieser absurden Logik wird der Krieg nur fortgesetzt. Um den Krieg abzuschaffen, müssen wir Krieg führen. „Mord“ und „Mörder“ scheinen in diesem Gedicht Enzensbergers die häufigs- ten Wörter zu sein. Die Kapitalisten, die Reichen, sind die Mörder. Sie haben das Geld, die Macht und beherrschen die Kunst der politischen Betäubung ihrer natürlichen Gegner, der Arbeiter. Enzensbergers Andeutungen, dass der Flirt mit dem Kapitalismus zum Krieg führt, in dem die einzigen Verlierer eben die Arbeiter sein werden, haben Geschichte. Im Zweiten Weltkrieg war 31

der wahre Verlierer das Volk. Es war nicht aufgeklärt und wachsam genug, um die Gefahr noch im Keim zu erkennen und zu ersticken. Die Parteien, die Machthaber, die Herrschaftselite, sie wechseln nur die Farbe im Schminktopf, die Larve und die Tarnung, aber sie bleiben gleich wie zuvor. Ob die Mächtigen sich einmal braun und dann nach 1945 schwarz schminken, symbolische Farben für die Konservativen, 44 das ist im Grunde genommen unwichtig. Wichtig ist, dass der Rest unverändert bleibt. Das Blut der Opfer bleibt schwarz, d. h. es ändert sich nichts, und „dich gibt’s zu oft“ 45 . Der in der zweiten Person Singular angesprochene Leser wird also ent- individualisiert. Es ist nicht nur das abstrakt anmutende Proletariat, das sein Blut vergießen wird, sondern der Leser selbst wird ebenso in die Masse derer einbezogen, die dem Untergang, einem grausamen Tod, geweiht sind. Die schwarze Farbe steht symbolisch für die Niederlage, den Tod, die Katast- rophe. Das Schicksal der Eliten wird nicht direkt angesprochen, wahrschein- lich impliziert Enzensberger aber, dass die Reichen und Mächtigen auch die- se Katastrophe heil überstehen würden, ganz im Gegensatz zu den Untätigen. Die Resignation der Letzteren macht dies das System der Sozialpartnerschaft möglich. Hier äußert sich Enzensbergers Geschichtspessimismus, die Vor- stellung, dass sich zyklisch immer wieder Dasselbe wiederholt. Die Phase der früheren Gedichte des zornigen jungen Mannes ist voller Aggressivität und umgangssprachlicher Ausdrücke. Ihr Ton, diese Mischung aus Kulturpessimismus und sozialkritischer Betrachtung der Gesellschaft und die neuen Töne der Beatgeneration der 50er Jahre in den USA sind der deutschen Literatur neu. 46

44 Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 400. 45 Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 77. 46 Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 395. 32

2.2 konjunktur

ihr glaubt zu essen aber das ist kein fleisch womit sie euch füttern das ist köder, das schmeckt süß (vielleicht vergessen die angler die schnur, vielleicht haben sie ein gelübde getan, in zukunft zu fasten?)

der haken schmeckt nicht nach biscuit er schmeckt nach blut er reißt euch aus der lauen brühe: wie kalt ist die luft an der beresina! ihr werdet euch wälzen auf einem fremden sand einem fremden eis: grönland, nevada, fest- krallen sich eure glieder im fell der nubischen wüste.

sorgt euch nicht! gutes gedächtnis ziert die angler, alte erfahrung. sie tragen zu euch die liebe des metzgers zu seiner sau…

sie sitzen geduldig am rhein, am potomac, an der beresina, an den flüssen der welt. sie weiden euch. Sie warten.

ihr schlagt auch das gebiß in die hälse. euch vor dem hunger fürchtend kämpft ihr um den tödlichen köder. 47

Konjunktur bezeichnet im Wirtschaftsleben eigentlich das Auf und Ab von Wirtschaftswachstum, Rezession, Depression und erneuter Hochkonjunktur. Bei Enzensbergers „konjunktur“ wird ein Zusammenhang zwischen Wirt- schaft, Rüstungsindustrie, Militär und Kriegsgefahr hergestellt.

47 Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 86. 33

Wieder spricht Enzensberger den Leser mit Du an, eine Anrede, die er eigent- lich als opportunistisch verachtet. Das wird 10 Jahre lang so bleiben, später richtet er sich dann mit mehr Toleranz an die Mittelschicht und die Oppor- tunisten, aber am Anfang ist er noch voll Wut. Es werden Leute angespro- chen, die seine Gedichte wohl nicht lesen werden, also die Kleinbürger, Mit- läufer, die Mittelschicht, teils auch die Arbeiterschicht. Das spiegelt eine Veränderung der sozialen Lage Deutschlands wider. Von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verschiebt sich diese Gesellschaftsstruktur in Rich- tung einer nivellierten Mittelstandgesellschaft. 48 Das Fleisch ist Symbol oder Metonymie für die Konsumgesellschaft. Dies entspricht dem Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Das sieht er als betörend oder bestechend. „Die Oberen versprechen – du wirst reich sein“49 und „sie essen einen ahnungslosen fasan gefüllt mit paradiesischen äpfeln“ 50 , aber „sie essen giftige tomaten“ 51 . Das sind Köder, um die Leute für die Politik der Oberschichten zu gewinnen, für den Anschluss an den Westen, für die Teilung Deutschlands, für den Anti- kommunismus und die Kriegsvorbereitung. Der Wohlstand der Mittelschicht hat laut Enzensberger auch eine Kehrseite. Er ist eine Falle, in welcher die Arbeiter gefangen sind. Der Wohlstand ist schuld daran, dass die Letzteren (Arbeiter, Mittelschicht) schlafen und zulassen, dass die Reichen schalten und walten, wie es ihnen passt. Es ist ein schwerer Vorwurf, den er der Mit- telschicht macht, indem er sie mit einem Fisch vergleicht. Die Arbeiter sind ohne Selbstbewusstsein und ihnen fehlt die Übersicht über das Ganze. Die Frage, die in Klammer gestellt wird, scheint die Illusion der Mittelschicht zu sein, dass alles gut gehen wird. Mithilfe des Wirtschaftswunders werden die Leute eingefangen, halten den Köder für Biskuit, für eine Süßspeise, aber im Grunde schmeckt der Haken, mit dem sie eingefangen werden, nach Blut und Tod, „nach atomarem dreck“ 52 .

48 Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 403. 49 Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 80. 50 Ebda, S. 20. 51 Ebda, S. 35. 52 Ebda, S. 81. 34

An der Beresina wurde Napoleon in Russland geschlagen. Hier finden wir ers- te Hinweise auf den Krieg. Das zielt auf die Sowjetunion und den Ostblock. Mit „Grönland, Nevada, Nubische Wüste“ wird angesprochen, dass die Kriegsschauplätze nicht unmittelbar jene Länder sind, die Krieg führen, son- dern ein globalisierter Krieg auch außerhalb der Kernländer der Blöcke eine Spur der Verwüstung hinterlassen wird. Berühmte Schlachten zwischen Montgomery und Rommel wurden auf Wüstensand ausgetragen. In Nevada wurden zahlreiche Atomtests durchgeführt. So erscheint die Welt nach einem Atomkrieg „wie ein unbewohnter stern / riecht die erde“ 53 . Und in Grönland war eine große Militärbasis während des Zweiten Weltkrieges. Darauf spielt der Lyriker also an, darauf, dass die zum Kriegsdienst Verpflichteten auch in die Wüste verschickt werden können, wo sie dann den Krieg auszufechten haben. Und aus welcher Bevölkerungsgruppe werden die Soldaten rekrutiert? Natürlich aus der Schicht, die Enzensberger hier anspricht, der Mittel- und Arbeiterschicht. Die Oberschicht stellt die Politiker im Hintergrund, die gar nicht an die Front gehen wie die Generäle, die zurückhaltend im Hintergrund der Front bleiben. Enzensberger wird mit diesen Versen etwas konkreter, mit der Erwähnung von Ländern, in denen früher Kriege stattgefunden haben. Die Geschichte ist der beste Lehrer und er erwähnt sie gezielt als Warnung an die Arbeiterklasse und Mittelschicht. Ihnen wird es so gehen, wie ihren Vorfahren, wenn sie wie diese handeln. Die Vorfahren haben nicht den Mut gehabt, sich gegen die Kriegstreiber zu erheben, sondern sind kopflos ins Feld gegen die Arbeiter anderer Länder gezogen. Hätten sie das nicht getan, gäbe es diesen Schrecken namens Krieg vielleicht nicht mehr. Die Arbeiter haben nie dazu gelernt, und das vergessen die Reichen nicht. Sie wissen aus Erfahrung, dass sie mit den Arbeitern all das tun können, was sie im Laufe der Geschichte immer getan haben. „sorgt euch nicht! gutes gedächtnis /ziert die angler, alte erfahrung. /sie tragen zu euch die liebe /des metzgers zu seiner sau…“54 Es ist sehr viel Ironie in dem Satz über die Angler, die nicht mehr angeln wollen und ein Ge- lübde abgelegt haben, zu fasten. Das Fasten soll die Illusionen derjenigen

53 Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 12. 54 Ebda, S. 86. 35

vertreten, die meinen, es werde schon gut gehen. Diese Illusionen sollen als solche entlarvt werden. „sorgt euch nicht“ heißt, ihr kommt schon dran, ihr werdet schon eingezogen, ihr werdet schon noch in den Krieg geschickt, „sorgt euch nicht“, denn ein gutes Gedächtnis ziert die Angler. Also die Hoch- gestellten, die Oberen, die Oberschicht, die Drahtzieher in der Politik, im Mili- tär und in der Industrie haben ein gutes Gedächtnis, sie wissen schon, wie es ablaufen wird, sie wissen, wie man angelt, sie wissen, wie man das Volk ma- nipuliert, wie man es einfängt, wie man zum Menschenfischer wird. „alte er- fahrung ziert sie“ - sie haben langjährige Erfahrung auf diesem Gebiet. „sie tragen zu euch die liebe des metzgers zu seiner sau“ - sie tun lieb und gebär- den sich freundschaftlich dem Volk gegenüber, aber das ist die Freundlich- keit des Metzgers, der sein Fleisch heranzüchtet. Ein Motiv, das wir schon von den Sozialpartnern kennen. „konditoren des gifts, das dir selbst wird ge- legt werden“ zeigt den gleichen Gedankengang. Das Volk wird dazu überlistet, etwas zu tun, das es selbst ins Unglück stürzen wird. Die Flüsse Rhein mit der damaligen Hauptstadt Bonn, der Potomac mit Washington und die Beresina in Weißrussland, wo sich 1812 die Armee Na- poleons unter schweren Verlusten zurückziehen musste - all diese Namen sind mit der blutigen Geschichte der Menschheit verbunden. Um seiner Kri- tik und seinem Ärger ein Standbein zu geben, verbindet Enzensberger seine Mahnungen mit der vagen Hoffnung, dass die Arbeiter vielleicht doch noch zu räsonieren anfangen könnten. Aber Resignation und Pessimismus kenn- zeichnen die beiden Gedichte Enzensbergers. Er selbst glaubt nicht an eine revolutionäre Arbeiterklasse. Er beschäftigt sich sogar mehr mit den Reichen. „zu unterrichten ist vom sichern endsieg der metzger/und in der herstellung von kadavern die jugend.“ 55 Sein Ziel ist es nicht, an die Reichen zu appellie- ren, sondern eher durch Kritik das Selbstbewusstsein der Arbeiter zu we- cken. Der Rhein kommt hier vor, da der Autor selbst in Deutschland lebt - und dort in Bonn sitzen geduldig die Metzger. Letztendlich liegt Deutschland inmitten Europas zwischen Ost und West. Deutschland wird als Beispiel des Kalten Krieges genommen. Beresina kennen wir als Anspielung auf den Ost-

55 Ebda, S. 68. 36

block bzw. die Sowjetunion in diesen letzten 50 Jahren. Am Potomac liegt Washington, da sind wir beim Westen und damit beim Ost-West Konflikt, beim Kalten Krieg gelandet, der mehrfach in einen wirklichen Weltkrieg und Atomkrieg auszuarten drohte. Der Aufstand in Ungarn hätte 1956 dazu füh- ren können. 56 Dann der Prager Frühling; der Aufstand der Tschechoslowaken gegen die Sowjetunion, der von Sowjetpanzern niedergeschlagen wurde, wo- bei man nicht wusste, ob eventuell der Westen eingreifen würde. 57 Und dann die große Krise von 1962, als Castro auf Kuba Atomraketen aus Russland stationieren wollte. Damals haben die USA protestiert und ein amerikani- scher Militärschlag stand unmittelbar bevor. 58 Dies waren prägende Ereig- nisse vor, während und nachdem Enzensberger diese Gedichte abgefasst hat, die so deutlich von Kriegsangst geprägt sind. Es wird auch auf den Krieg innerhalb der Bevölkerung angespielt. Das hat mit der Konkurrenz im Wirtschaftsleben zu tun. Es ist kein Frontenkrieg, sondern ein Krieg einer Gesellschaft gegen sich selbst. Man fürchtet den Hunger und die Mitglieder der Gesellschaft kämpfen miteinander ums Über- leben. „ihr schlagt euch das gebiß in die hälse“. In diesem Konkurrenzkampf der Angst vor dem Hunger kämpft ihr um den tödlichen Köder. Das ist auch die Pointe, ähnlich zugespitzt wie bei den Sozialpartnern. Sie kämpfen er- barmungslos um den Köder. Im Gedicht „an einen mann in der trambahn“ wird dieser Gedanke des Brudermords unter den Verarmten und Entrechte- ten noch zugespitzt: „du wirst bald ermordet von einem mann der dir gleicht.“ 59 Das ist die Hochkonjunktur, der Wirtschaftsboom, und dieser bringt laut dem lyrischen Ich den Tod und den Krieg. Der Konkurrenzkampf wird vom Hunger getrieben. „euch vor dem hunger fürchtend“. Die Konsum- gesellschaft, die Wohlstandsgesellschaft, das Nachkriegswirtschaftswunder werden hier als durch die Angst vor dem Hunger motiviert entlarvt, den man im Zweiten Weltkrieg erlebt hat, vor dem man in den Konsum flieht.

56 Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 398. 57 Vgl. Ebda. 58 Vgl. Ebda. 59 Ebda, S. 78. 37

Man kann die ersten Zeilen ohne große Verrenkungen als ideologiekritische Wendung gegen die Konsumgesellschaft lesen, den Schluss als ein Panora- ma der allseitigen Bedrohung im Kalten Krieg. 60

60 Jörg Lau: Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben. Berlin: Alexander Fest 1999, S. 55. 38

2.3 verteidigung der wölfe gegen die lämmer.

soll der geier vergissmeinicht fressen? was verlangt ihr vom schakal, dass er sich häute, vom wolf? soll er sich selber ziehen die zähne? was gefällt euch nicht an politruks und an päpsten, was guckt ihr blöd aus der wäsche auf den verlogenen bildschirm?

wer näht denn dem general den blutstreif an seine hose? wer zerlegt vor dem wucherer den kapaun? wer hängt sich stolz das blechkreuz vor den knurrenden nabel? wer nimmt das trinkgeld, den silberling, den schweigepfennig? es gibt viel bestohlene, wenig diebe; wer applaudiert ihnen denn, wer steckt die abzeichen an, wer lechzt nach der lüge?

seht in den spiegel: feig, scheuend die mühsal der wahrheit, dem lernen abgeneigt, das denken überantwortend den wölfen, der nasenring euer teuerster schmuck, keine täuschung zu dumm, kein trost zu billig, jede erpressung ist für euch noch zu milde.

ihr lämmer, schwestern sind, mit euch verglichen, die krähen: ihr blendet einer den anderen. brüderlichkeit herrscht unter den wölfen: sie gehen in rudeln.

gelobt sein die räuber: ihr, einladend zur vergewaltigung, werft euch aufs faule bett des gehorsams. winselnd noch lügt ihr, zerrissen wollt ihr werden. ihr ändert die welt nicht. 61

61 Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 90. 39

Dieses Gedicht zählt zur so genannten engagierten Lyrik, also zur direkt ein- greifenden, unmittelbaren und politisch engagierten Lyrik, die vor allem in den 1960er Jahren wieder stark hervortrat und in den 60er und 70er Jahren sehr bedeutend wurde. 62 In den 1950er Jahren schrieb Enzensberger „Es ist der politische Auftrag eines Gedichtes, jeden politischen Auftrag zu verwei- gern und für alle zu sprechen“ 63 . Er sagt selbst dazu:

„Das ist eine Naivität insofern, als man einen solchen Satz nicht einlösen kann. Man kann nie für alle sprechen. Wenn ich diesen Satz heute zu unter- suchen hätte, würde ich eher seinen zweiten Teil kritisieren, weil er leicht zu einer populistischen Verfälschung führt und zu Illusionen über die Reichwei- te der literarischen Arbeit. Aber den Vorsatz, den Vorsatz würde ich nach wie vor verteidigen.“ 64

Dieses Gedicht bildet den Schluss von Enzensbergers erstem Lyrikband. Es fällt unter die Kategorie der „17 bösen Gedichte“, daneben gibt es in diesem Band auch 19 freundliche und 21 traurige. Sie sind von durchgehender Kleinschreibung und sparsamer Verwendung von Interpunktion gekenn- zeichnet. Hier treibt Enzensberger seine gesellschaftskritische Satire auf die Spitze. Es besteht aus 40 Versen in fünf Strophen, reimlos und in freien Metren verfasst. In den ersten beiden Strophen finden sich vor allem rhetori- sche Fragen, zur 3. Strophe hin erfolgt eine Zäsur, das Gedicht geht in be- schreibende Sätze über. Durch seine rhetorischen Fragen spricht Enzens- berger den Leser direkt an. Er deckt dabei schonungslos die gesellschaftliche Situation mit all ihren Tabus auf. Mit seinen Vorwürfen nimmt er sich kein Blatt vor den Mund. Inhaltlich stechen die zahllosen Bezüge Enzensbergers auf die literari- sche Tradition, von der Bibel angefangen bis hin zu Fabeln, ins Auge. Kon- sequent seinem weiter oben zitierten Diktum von den Quellen der Entstel- lung folgend, kombiniert er blumige Vergleiche aus der Welt der Fabel zu neuen Bildern. Der Geier etwa, von dem nicht erwartet werden kann, dass er

62 Vgl. Hiebel, Moderne Poesie II, S. 389. 63 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Einzelheiten II. Poesie und Politik. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, S. 136. 64 Ebda, S. 192f. 40

ein Vergissmeinnicht fresse, wobei der Name der Blume Assoziationen zur ahistorischen Denkweise und dem fehlenden politischen Bewusstsein der Unterschicht weckt. Auch das Bild vom Schakal und Wolf nimmt Anleihe bei den Fabeln La Fontaines, doch wird das zeitgenössische Element der sowje- tischen Politruks gleich im Anschluss darauf eingeführt, um die blumige Bil- derkette wieder aufzusprengen. Das Gedicht ist sehr provokant und aggressiv, das lyrische Ich spricht den Leser direkt an. Dadurch fühlt man sich ins Geschehen eingebunden. Die Vorwürfe, die Enzensberger im Gedicht macht, sind hinter Metaphern, Redewendungen und Ausdrücken versteckt. Enzensberger verwendet auch in anderen Gedichten Metaphern aus der Tierwelt bzw. politisch- geschichtliche Begriffe, die eindeutig einer Weltanschauung zuordenbar sind (Politruk für Kommunismus, General für Militarismus etc.) Es handelt sich eher um allgemeine Aussagen über eine bestimmte Gesellschaftsgruppe und es erfolgt aber keine Kritik an irgendeinem namentlich genannten Indivi- duum. In erster Linie wird das kollektive Verhalten kritisiert. Der Titel thematisiert bereits die Hauptaussage dieses Gedichts, es klingt widersinnig, die Wölfe gegen die Lämmer zu verteidigen. Enzensberger meint damit, dass die Masse der Gesellschaft (Arbeiter, Kleinbürger etc.) selbst schuld an ihrer Opferrolle gegenüber den Mächtigen ist. Enzensberger verwendet dafür bewusst Tiermetaphern, hinter denen sich die Protagonisten des Gedichtes verbergen. Die Gleichgültigkeit der Masse ermöglicht erst die Ausbeutung durch die Obrigkeit. Mit den Ausgebeuteten meint Enzensber- ger, wie bereits erwähnt, vor allem die Arbeiter und Kleinbürger. Bereits im Nationalsozialismus sind beide Gruppen eine gesellschaftliche Allianz einge- gangen. Im Gegensatz dazu hat sich die Oberschicht einer solchen Nivellie- rung entzogen, die Oberschicht ist in sehr starkem Maß bevorteilt. Dieses ironische Gedicht Enzensbergers nimmt die Wölfe aber nur zum Schein ge- gen die Lämmer in Schutz. Enzensberger spricht die herrschende Klasse nicht wirklich von ihrer Schuld an den herrschenden Zuständen frei. Bei den Lämmern kritisiert er nicht das Kleinbürgertum oder die Arbeiterschaft, sondern deren Gleichgültigkeit bzw. Blauäugigkeit, er prangert also aus-

41

schließlich ihr Verhalten an und nicht sie selbst als Klasse. Bei den Herr- schern kritisiert er die Klasse ebenso wie deren Verhaltensweisen. Die Bewegung der zornigen jungen Männer will eine andere Gesell- schaft, sie selbst wissen aber nur zu genau, dass sich die Gesellschaft nicht ändern lässt. Sie tragen eine Gesinnung zur Schau, zerstören diese aber selbst auch wieder. Alles Thesenhafte erscheint in ironisierter Gestalt. En- zensberger greift die Welt an, glaubt aber nicht an den Erfolg seines An- griffs 65 , dies kommt vor allem in der letzten Strophe des Gedichts zum Aus- druck. Alles Zeitgenössische wird parodiert. Eine leitende, die Welt ausle- gende Idee kristallisiert sich nicht heraus. 66 Diese Gedichte Enzensbergers wurden von der Allgemeinheit kaum gelesen, sie erreichten nur eine kleine Gruppe Auserwählter. Die Allgemeinheit las zur damaligen Zeit fast keine politische Lyrik. Es gab also kaum einen Widerhall bei den eigentlich ange- sprochenen Gesellschaftsgruppen. 67 Der erste Satz der ersten Strophe ist eine rhetorische Frage. Enzens- berger verbindet den kadaverfressenden Geier mit der lieblichen Blume, dem gefühlsbeladenen, romantischen Vergissmeinnicht. Er meint mit dem Geier die Obrigkeit, die die Masse der Gesellschaft fressen, also „fressen“ im Sinne von „ausnützen“. Er setzt wiederum mit Fragen fort, um die Gleichgültigkeit der Masse zu demonstrieren. Er nimmt dazu sehr einprägsame Beispiele wie den Schakal, der sich selbst häutet und den Wolf, der sich selbst die Zähne ziehen solle. Geier, Schakal und Wolf stehen sinnbildlich für die Ober- schicht, also die Beherrscher. Enzensberger meint damit wiederum die voll- kommene Arglosigkeit der Masse. Im nächsten Satz fragt Enzensberger, was der Masse nicht an den Po- litikern und an den Päpsten gefällt, gemeint sind damit die kirchlichen und weltlichen Autoritäten. Enzensberger verwendet dafür bewusst einen poli- tisch-militärischen Begriff wie Politruk. Politruk war ein politischer Führer in

65 Vgl. Hans Egon Holthusen: Die Zornigen, die Gesellschaft und das Glück. In: Schickel, Joachim (Hrsg.): Über Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 64. (=edition suhrkamp 403) 66 Vgl. Ebda, S. 65. 67 Ludwig Büttner: Von Benn zu Enzensberger. Eine Einführung in die zeitgenössische deutsche Lyrik. Nürnberg: Hans Carl 1972, S. 134. 42

einer sowjetischen Truppe, dieser überwachte vor allem, dass die Führung der Roten Armee mit den Prinzipien der KPdSU übereinstimmten. Vergleich- bar damit wäre im Dritten Reich der nationalsozialistische Führungsoffizier, geschaffen durch einen „Führererlass“ vom 22. 12. 1943. Dieser war für die Schulung der Soldaten in der nationalsozialistischen Weltanschauung ver- antwortlich. In eine Reihe mit diesen stellt Enzensberger auch die „Armeebi- schöfe“, die Geistlichen, die statt christlicher Nächstenliebe den Krieg recht- fertigen. Da er diesen spezifisch sowjetischen Begriff verwendet, kritisiert er damit auch indirekt den Kommunismus und damit vor allem die Eingriffe der Obrigkeit auch in militärisch-weltanschauliche Bereiche. Die weitverbreitete Redewendung des „blöd aus der Wäsche Gu- ckens“ 68 weist auf die vollkommen unvorbereitete Gesellschaft hin (Wehr- pflicht-Bundeswehr, Wiederaufrüstung), die nach den vollendeten Tatsachen ihre vollkommene Blauäugigkeit überhaupt erst erkennt. Mit dem verlogenen Bildschirm meint Enzensberger die Massenmedien, die Informationen vom Staat dosiert und gesteuert an die Gesellschaft verabreichen, verlogen sind die Informationen, da sie unaufrichtig sind. Tatsächlich wurde der deut- schen Bevölkerung die Wiederaufrüstung verschwiegen, bis sie vor vollende- te Tatsachen gestellt wurde. Die Masse nimmt die Informationen kritiklos auf und hinterfragt sie, wenn überhaupt, erst dann, wenn die Dinge bereits ihren Lauf genommen haben. Die Masse lässt sich von den staatlich vorge- gebenen Informationen leiten. Klar zu erkennen sind hier wieder Parallelen zum Nationalsozialismus, wo durch Propaganda und Gleichschaltung die öffentliche Meinung in Deutschland ausschließlich im nationalsozialisti- schen Sinne gesteuert wurde. Bis zum April 1945 wurde offiziell vom bevor- stehenden „Endsieg“ gesprochen. Nach dem Tode des amerikanischen Präsi- denten Roosevelt am 12. April 1945 glaubte Adolf Hitler noch an das Zerbre- chen der alliierten Koalition gegen Deutschland und an einen möglichen deutschen Sieg. Die zweite Strophe wechselt vom allgemeinen Bild der mächtigen Raubtiere auf Opfersuche zu deren Mittel, dem Militär. Das Blechkreuz, das

68 Ebda, S. 90. 43

sich der Soldat stolz vor den knurrenden Nabel hängt, ist ein Verweis auf das Eiserne Kreuz, eine der höchsten Auszeichnungen des „Kadavergehor- sams“ der Wehrmacht. Aus Eisen wird wertloses Blech, das den Träger der Auszeichnung nur davon ablenken soll, dass er Spielball in einem viel größe- ren Kontext ist, dass sein Bauernopfer den Eliten der Mächtigen nichts be- deutet, während er Hunger und körperliche Auszehrung erleidet. Die zweite Strophe beginnt wiederum mit einer Frage, die thematisiert, dass sich die Masse dem zunehmend offenkundig werdenden Militarismus beugt, ohne ihn zu hinterfragen; die Masse ist es, die dem General, den Blutstreif an die Hose näht, sie fördert bzw. ermöglicht dadurch erst den Mi- litarismus. Enzensberger spielt damit auch auf die vollkommene Obrigkeits- hörigkeit, vor allem im Nationalsozialismus, an, wo Millionen Soldaten voll- kommen sinnlos in den Tod geschickt wurden. Der Fahneneid verpflichtete die Soldaten zu unbedingtem Gehorsam gegenüber der Staatsführung. Die Problematik des Eides auf Hitler kommt auch sehr deutlich bei den Beteilig- ten auf das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 zum Ausdruck. Viele Soldaten bzw. Offiziere sahen sich durch den Eid daran gehindert, etwas gegen den Nationalsozialismus oder Hitler zu unternehmen. Im nächsten Satz, wieder- um eine Frage, beschreibt Enzensberger, dass die Masse ihre Leistungen vor allem für die politischen, wirtschaftlichen, mitunter auch kirchlichen Wür- denträger darbietet, dem Wucherer zerlegt sie den Kapaun. In ihrer Ordens- gier ist die ausgehungerte Masse „mit dem knurrenden Nabel“ 69 bereit, alle Opfer bis in den Tod auf sich zu nehmen (es gab auch posthume Verleihun- gen des EK II. und I. Klasse, sowie des Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes). Die Anordnung der Wörter weist bereits das erste Merkmal der Ent- stellung auf. Die direkte Adressierung des Publikums wäre dazu angetan, jeweils eine neue Zeile einzuläuten, doch Enzensberger stellt die Wörter „wer“ und „ihr“ an das Ende der Verszeilen. Dies zerrüttet den ohnehin nicht fließenden Rhythmus der Strophen noch weiter. Gerade dieser Bruch mit den Lesegewohnheiten des Publikums lässt den Appellcharakter der Verse deutlicher hervortreten, obwohl die Frage- und Anredepronomen ganz am

69 Ebda. 44

Ende stehen. Die wiederholte Verwendung des in dieser Form eher unge- wöhnlichen Partizips Präsens – „scheuend“, „überantwortend“, „einladend“ – tut ein Übriges. Der Rhythmus der Zeilen entfernt sich von den Lesege- wohnheiten des Publikums und macht die Sprache in ihrer Zerhacktheit so noch eindringlicher. Auch der plötzliche Wechsel zwischen rhetorischen Fra- gen (1. und 2. Strophe) und über den Zeilenumbruch laufenden Aussagesät- zen (3.-5 Strophe) verändert die Melodie des Gedichts. Funktional jedoch dienen beide rhetorische Formen der Anklage des Lesepublikums. Eine grausame Bildersprache (erpressung, vergewaltigung, zerrissen), quer durch die Strophen laufende, fragmentierte Sätze – all das trägt dazu bei, den Zorn und die Frustration Enzensbergers zu vermitteln. Die „verteidigung der wölfe gegen die lämmer“ ist kein anmutiges Gedicht, das durch Sprache und Klang innere Harmonie vermittelt, sondern ein resignatives Zorngedicht. Auch das Bild des vor dem Wucherer zerlegten Kapauns ist sehr ein- drucksvoll. Spontan assoziiert man damit die entsprechende Szene aus Ber- tolt Brechts Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“70 . Aufgrund der welt- anschaulichen Nähe Brechts zu Enzensberger und der vehement vorgetrage- nen Antikriegsbotschaft des Werks liegt die Vermutung nahe, dass sich En- zensberger hier von Brecht hat inspirieren lassen. In der nächsten Frage geht Enzensberger darauf ein, dass die Masse sich mit einem Trinkgeld, einem Silberling bzw. einem Schweigepfennig, alles sehr gering an Wert, zufriedengibt. Sie lässt sich ökonomisch von der Obrig- keit ausbeuten. Für einen scheinbaren finanziellen Vorteil gibt die Masse ihre hehren Werte und Prinzipien auf. Enzensberger spielt mit der Erwäh- nung des Silberlings auch auf die im Neuen Testament enthaltene Erzählung vom Verrat des Judas an Jesus für 30 Silberlinge an. Judas endete später durch Suizid, ein bezeichnendes Ende, wenn man sich und seine Prinzipien für Geld oder materielle Sicherheit verkauft. Hier gibt es eine Parallele zum Ende des Gedichts, der Suizid ist vergleichbar mit der Zeile „zerrissen wollt ihr werden“ 71 , also dem Tod als das Ende. Im nächsten Satz wird die Aus-

70 Vgl. Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjähri- gen Krieg. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 20. 71 Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 91. 45

beutung klar, es gibt viele Bestohlene aber nur wenig Diebe. Die Masse ar- beitet für das Wohlergehen von einigen wenigen Menschen, wie es vor allem in der feudalen Gesellschaft war; dies setzt sich durch alle Zeiten hin fort. Im folgenden Satz kommt Enzensberger wieder auf die Kernaussage zurück, dass die Masse an ihrer Situation selbst schuld ist, sie ist es, die der Obrig- keit applaudiert und sie aufgrund ihres Ranges respektiert. Der Applaus kennzeichnet, dass die Masse die Anordnungen der Obrigkeit nicht nur an- standslos, sondern sogar wohlwollend annimmt. Es wird offenbar, dass die Masse sich selbst täuscht und sich mit der von der Obrigkeit vorgegebenen Ordnung völlig identifiziert, Enzensberger rekurriert damit auch auf die ma- nipulierten Medien, die eine heile Welt vermitteln sollen. Das Trinkgeld wird zum Silberling, dem Judaslohn des Verräters an der eigenen Sache. Genau dieses fehlende Bewusstsein wird in der Folge zum Kern von Enzensbergers Klage. Der Applaus und die Ehrung der Volksverführer, die Sucht des kleinen Mannes nach der bequemen Lüge führen dazu, dass der Spiegel zu Beginn der dritten Strophe nur einen Feigling zu zeigen vermag. Hier nun spricht Enzensberger in assoziativer Anlehnung an Kants berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ das Grundübel der Gesellschaft an. Die Scheu vor der Mühsal der Wahrheit, die das Heraustreten aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit vereitelt: „dem lernen abgeneigt, das denken überantwortend den wölfen“. Der Nasenring des Zirkusbären, der diesen zu hilflosen Sklaven des Dompteurs macht, wird in den Augen Enzensbergers zum teuersten Schmuck der Masse. Mit anderen Worten: Was die Unterschicht als Wert, Besitz und Ehre betrachtet, birgt in sich bereits den Keim der Verelendung, der Versklavung und des Untergangs, konkreter ausgesprochen im Gedicht über die Rüstungsindustrie. Dankbar und glücklich, Arbeit zu haben, ge- täuscht durch die Wohltaten von Arbeitnehmerschutz und Sozialversiche- rung arbeiten die Menschen an den Waffen, die sie dereinst selbst in den Tod reißen werden.

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In der 3. Strophe soll sich die Masse endlich selbst erkennen „seht in den spiegel“72 . Sie erträgt kaum die Wahrheit und viel wird sich auch nicht än- dern, „dem lernen abgeneigt“ 73 . Sie hat ihr Denken völlig den Wölfen über- antwortet. Dies erinnert an Kants berühmtes Zitat von der Aufklärung als der Befreiung von der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Genau jene Abnei- gung der Unterschichten, sich weiterzubilden und den eigenen Verstand zu gebrauchen identifiziert Enzensberger als zentrale Ursache der katastropha- len Lage. Die Obrigkeit führt die Masse an der Nase herum, der Nasenring symbolisiert eine Auszeichnung dieser Gleichgültigkeit der Masse, „er ist ihr teuerster Schmuck“ 74 . Das hier gezeichnete Bild widerspricht dem sozialisti- schen Ideal der revolutionären Arbeiterklasse diametral. Für Enzensberger ist die Masse nicht der Hort des Fortschritts, der nur auf die Person eines Spartakus wartet, sondern sie trägt das Emblem ihres Sklavendaseins auch noch stolz zur Schau. Alles, was die Obrigkeit mit der Masse macht, ist ihr recht, nichts ist ihr zu dumm, keine Vertröstung zu billig, die Masse glaubt alles, was vorgegeben ist und auch jede denkbare Erpressung ist für die Masse noch zu milde, sie willigt sofort, ohne es zu hinterfragen, in alles ein. Auch wenn Enzensberger nicht konkret darauf eingeht, welche Täuschungen er meint, so erinnern diese Zeilen an die hefige Kritik an der Bild-Zeitung, die von linksgerichteten Intellektuellen jener Zeit vorgetragen wurde. Es be- darf keines großen gedanklichen Sprungs, um die Lügen als dicke Schlagzei- len zu imaginieren. Die Erpressungen dagegen deuten auf die durch die Poli- tik so oft bemühte „Macht des Faktischen“, „Sachzwänge“ und fehlende Al- ternativen. Dies betraf sowohl die konfrontative Außenpolitik der fünfziger Jahre (die Ostpolitik Willy Brandts begann erst 12 Jahre später) als auch die innenpolitischen „Notwendigkeiten“, seien sie wirtschaftlicher (Lohnab- schlüsse, Arbeitszeiten) oder politischer Natur, wenn zur Einheit angesichts der Bedrohung aus dem Osten aufgerufen wurde. Der billige Trost, der über die Düsternis der Lage hinwegtäuschte, fand sich jeden Monat auf den Lohnzetteln der Arbeitnehmer.

72 Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 90. 73 Ebda. 74 Ebda. 47

In der 4. Strophe verwendet Enzensberger wiederum die Tiermetaphorik. Wahre Solidarität herrscht demgegenüber nur unter den Eliten, die – hier wechselt Enzensberger wieder in die Bildersprache des Lehrgedichts – Schwestern sind im Geiste. Der Rudelinstinkt verbindet die Machthaber, auch wenn sie auf verfeindeten Seiten stehen, denn instinktiv wissen sie, dass nichts so sehr die pauperisierten Massen vereint als ein bedrohlicher Feind von außen, obgleich die Lämmer den Feind an ihrer Spitze doch viel mehr fürchten sollten. Die Lämmer sind untereinander völlig unsolidarisch, jeder lebt für sich, im Vergleich dazu sind die Krähen wie Schwestern, das kommt sehr gut im Sprichwort „eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“ zum Ausdruck. Die Krähen verhalten sich gegenüber äußeren Gefah- ren, trotz aller Streitlust, solidarisch. Jeder blendet den anderen – bei den Lämmern ist jeder sich selbst der Nächste -, die anderen werden getäuscht; in Krisensituationen wird auf die anderen völlig vergessen. Dem stellt En- zensberger die Brüderlichkeit der Wölfe, der Obrigkeit, gegenüber; diese ist solidarisch untereinander, „sie gehen in rudeln“ 75 . Solidarisch sind sie vor allem im Ausnützen der anderen. Die Mächtigen sind solidarisch, wenn es - im Gegensatz zu den Beherrschten - um die Aufrechterhaltung der Macht- strukturen geht. Sie sind ein einheitlicher Block, der geschlossen auftritt. Durch dieses geschlossene Auftreten ist diese Gruppe unangreifbar. Brüder- lichkeit bezeichnet die höchste Form der Solidarität. In der 5. Strophe lobt Enzensberger die Räuber, die so klug sind, die Gleichgültigkeit der Masse, der Lämmer, zu ihren Gunsten auszunutzen. Die Masse fordert das Ausnützen durch ihr Verhalten regelrecht heraus: „einla- dend zur vergewaltigung“ 76 . Die Masse stützt sich wieder auf die für sie ein- fache Verhaltensweise des Gehorsams. Enzensberger hält eine zornige Schmährede auf die Untugend der Lämmer. Er beschreibt das mit dem fau- len Bett des Gehorsams, es ist einfach, sich darauf zurückzuziehen. „Faul“ meint aber auch noch die morschen, zerbrechenden Grundsätze dieser Ge- sellschaft. Alle Grundsätze dieser Gesellschaft stehen auf tönernen Füßen;

75 Ebda, S. 91. 76 Ebda. 48

„winselnd noch lügt ihr“ 77 heißt, dass die Gesellschaft noch im Untergang, im Winseln, sich der Selbsttäuschung hingibt. Die Masse möchte bis zum Äußersten gehen, sie will zerrissen werden. Enzensberger zieht daraus das Resümee, dass sie damit die Welt nicht ändert, also ihr Verhalten des Aus- gebeutet-Werdens durch die Obrigkeit und der völligen Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Das entspricht sehr genau der damaligen politischen Tendenz der Adenauer-Ära, der Restauration. Die Masse hat nie an Auflehnung gegen die Obrigkeit gedacht und die politische Entwicklung durch ihr passives Verhalten auch noch gefördert. Hier kann man eine klare Parallele zum Nationalsozialismus erkennen, das deutsche Volk folgte Hitler bzw. dem Nationalsozialismus bis zum bitteren Ende in seiner großen Mehrheit, die weitaus überwiegende Mehrheit der Be- völkerung stellte den nationalsozialistischen Staat nicht infrage. Widerstand kam nur von einer kleinen Minderheit, vor allem von Christen, Kommunis- ten, Intellektuellen und erklärten Humanisten. Mit dem Zerrissen-Werden lässt sich eine Parallele zum so genannten „Heldentod“ vieler deutscher Sol- daten herstellen, die großteils im sinnlos gewordenen Kampf ihr Leben verlo- ren. Nicht wenige deutsche Soldaten gingen mehr oder weniger stolz in den Heldentod „für Führer und Volk“, um eine zeitgemäße Formulierung zu ver- wenden. Im letzten Satz kommt sehr deutlich zum Ausdruck, dass sich die Welt nicht ändern wird. Es bleibt alles beim Alten. Die Strukturen sind die gleichen wie im Dritten Reich, auch die Personen wurden aus diesem über- nommen, es ändert sich nichts – es herrscht Restauration, die alte Ordnung wird wieder hergestellt. Vor allem in der letzten Strophe tritt sehr deutlich Enzensbergers Erfahrung der Katastrophe, wie er sie im zitierten Interview darstellt, zutage. Diese Erfahrung hat ihn und zum großen Teil auch seine Lyrik am nachhaltigsten geprägt. Es erscheint in dieser Hinsicht interessant, wie er sich als Deutscher selbst sieht, darüber schreibt Enzensberger: „Daß ich ein Deutscher bin, diesen Umstand werde ich akzeptieren, wo es möglich ist, und ignorieren, wo es nötig ist.“ 78

77 Ebda. 78 Hans Magnus Enzensberger: Deutschland, Deutschland unter anderm. Äußerungen zur Politik. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 13. (= edition suhrkamp 203) 49

Die „Publikumsbeschimpfungen“ Enzensbergers erreichen in der letzten Strophe ihren Höhepunkt, wenn er die Räuber preist, die das winselnde, elende Volk auch noch dazu einlädt, mit ihm zu machen, was ihnen beliebt. Das faule Bett des Gehorsams deutet das Leichentuch schon an, das auf den Armen wartet, der winselnd – das verächtliche Lexikon der treuherzigen, un- terwürfigen, stumpf gehorsamen Hunde - seinem Untergang entgegenhe- chelt. Das bedrückende Fazit: Ihr ändert die Welt nicht! Während die „klas- sische“ Linke, insbesondere die Kommunisten, in ihrer Lyrik positive Bilder von Hoffnung und Aufbau sowie der Vision einer besseren Gesellschaft ver- mitteln, zeigt sich auch hier, dass Enzensberger den etablierten Kräften des Parteienspektrums fern steht. Die „verteidigung der wölfe gegen die lämmer“ enthält keine positive Vision, ja nicht einmal einen direkten Appell an die Leserschaft, die beschriebenen und in den Augen des Autors fatalen Verhal- tensweisen zu korrigieren. Rhetorische Fragen werden mit Aussagesätzen beantwortet, Ausrufezeichen und direkte Appelle fehlen vollkommen. „ihr ändert die Welt nicht“ ist die Quintessenz eines linksorientierten Kulturpes- simismus. Das Proletariat wird hier nicht im marxistischen Sinne zum Trä- ger einer neuen, perfekten Weltordnung, sondern es hat gerade jene messia- nische Erlöserfunktion, jenen säkularisierten Heilsgedanken ad absurdum geführt. Wenn es eine Wende zum Besseren geben könnte, so würde diese, hier zeigt sich noch die ideologische Heimat des Autors, doch von der breiten Masse der Arbeiterschaft kommen. Indes: Jede Hoffnung darauf scheint ver- loren. Ob Enzensberger dies auch geschrieben hätte, hätte er erahnen kön- nen, was nur wenige Jahre darauf rund um das Jahr 1968 geschah? „En- zensbergers Zorn ist demnach weniger Zorn über Mißstände als Zorn über die Ausweglosigkeit.“ 79

79 Henning Falkenstein: Köpfe des XX. Jahrhunderts. Hans Magnus Enzensberger. Bd. 86. Berlin: Colloquium 1977, S. 32. 50

3 landessprache

Im Jahr 1960 veröffentlichte Enzensberger seinen zweiten Gedichtband, de den Titel „landessprache“ trägt. Die Weltsicht der hier gesammelen Gediche ist düster. Enzensbeger zeichnet das Bild einer von autoritären Strukturen durchwucherten Welt, das von immer neuen Schrecken der Technik, immer neuen Möglichkeiten des industriellen Massenmords und der Manipulation der arglosen, desinteressierten Massen geprägt ist. Hans Helmut Hiebel be- zeichnet den Grundton dieser Werke als „Wutrausch“, das Grundmotiv der Werke sei Klage und Anklage. 80 An dieser Stelle werden – stellvertretend für den gesamten Band – drei Gedichte ausführlicher interpretiert: „landessprache“, „an alle fernsprech- teilnehmer“ und „gedicht für die gedichte nicht lesen“. Das Motiv hierfür war, dass diese drei Werke besonders repräsentativ für Thematik und Stil des gesamten Bandes sind. „landessprache“ ist eine nachdenklich gehaltene, höchst kritische Reflexion der Lage Deutschlands, wobei Enzensberger mit sich selbst hadert, inwieweit er sich diesem Land zugehörig fühlen kann bzw. will. „an alle fernsprechteilnehmer“ drückt die Furcht vor den unsicht- baren, anonymen und gleichzeitig existenzbedrohlichen Erscheinungen von Technik und Gesellschaft Mitte des 20. Jahrhunderts aus und steht bei- spielhaft für die Zukunftsangst des Autors. „gedicht für die gedichte nicht lesen“ steht für den zitierten „Wutrausch“ Enzensbergers. Wütend, klagend und zugleich hilflos schreit der Autor dabei seine Abscheu und Verzweiflung heraus. Er will im Sinne eines engagierten Poeten die Welt verändern, die Massen aus ihrer Verblendung und Passivität reißen, doch aufgrund genau jener Verblendung und Passivität wird er, das weiß Enzensberger nur zu gut, weder sein Zielpublikum noch sein Ziel jeweils erreichen.

80 Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 404. 51

3.1 landessprache

was habe ich hier verloren, in diesem land, dahin mich gebracht haben meine älteren durch arglosigkeit? eingeboren, doch ungetrost, abwesend bin ich hier, ansässig im gemütlichen elend, in der netten zufriedenen grube.

was habe ich hier? und was ich hier zu suchen, in dieser schlachtschüssel, diesem schlaraffenland, wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts, wo der überdruß ins bestickte hungertuch beißt, wo in den delikateßgeschäften die armut, kreidebleich, mit erstickter stimme aus dem schlagrahm röchelt und ruft: es geht aufwärts! wo eine gewinnspanne weit von den armen reichen die reichen armen vor begeisterung ihre kinostühle zerschmettern, da geht es aufwärts von fall zu fall, wo die zahlungsbilanz hosianna und alles was recht ist singt und ruft: das ist nicht genug, daß da die freizeit spurt und gas gibt und hinhaut, das ist das kleinere übel, das ist nur die hälfte, das macht nichts, das ist nicht genug, daß die tarifpartner durch die straßen irren und mit geballten fäusten frohlocken und singen und sagen:

hier geht es aufwärts, hier ist gut sein, wo es rückwärts aufwärts geht, hier schießt der leitende herr den leitenden herrn mit dem gesangbuch ab, hier heißt es unerbittlich nett zueinander sein,

und das ist das kleinere übel, das wundert mich nicht, das nehmen die käufer in kauf, hier, wo eine hand die andere kauft, hand aufs herz, hier sind wir zuhaus,

hier laßt uns hütten bauen, auf diesen arischen schrotthaufen, 52

auf diesem krächzenden parkplatz, wo aus den ruinen ruinen sprossen, nagelneu, ruinen auf vorrat, auf raten, auf abruf, auf wiederruf: hiersein ist herrlich, wo dem verbrauchten verbraucher, und das ist das kleinere übel, die haare ausfallen, wo er sein erfolgreiches haupt verhüllt mit wellpappe und cellophan, wo er abwesend aus der grube ruft: hier laßt uns hütten bauen, in dieser mördergrube, wo der kalender sich selber abreißt vor ohnmacht und hast, wo die vergangenheit in den müllschluckenrn schwelt und die zukunft mit falschen zähnen knirscht, das kommt davon, daß es aufwärts geht, da tun wir fleckenwasser drauf, das ist hier so üblich, das wundert mich nicht, goldrichtig liegen wir hier, wo das positive zum höchstkurs notiert, die handelskammern decken sich damit ein und bahren es auf unter panzerglas, wo wir uns finden wohl unter blinden, in den schau-, kauf-, und zeughäusern, und das ist nicht alles, das ist nur die hälfte, das ist die tiefgefrorene wildnis, das ist die erfolgreiche raserei, das tanzt im notdürftigen nerz, auf zerbrochenen knien, im ewigen frühling der amnesie, das ist ein anderes land als andere länder, das reut mich, und daß es mich reut, das ist das kleinere übel, denn das ist wahr, was seine opfer, ganz gewöhnliche tote leute, aus der erde rufen, etwas laut- und erfolgloses, das an das schalldichte pflaster dringt von unten, und es beschlägt, daß es dunkel wird, fleckig, naß, bis eine lache, eine ganz gewöhnliche lache es überschwemmt, und den butzemann überschwemmt, das löweneckerchen, das allerleirauh, und die schöne rapunzel, die sind nicht mehr hier, und es gibt keine städte mehr, und keine fische, die sind erstickt in dieser lache, wie meine brüder, die tadel- und hilflosen pendler, 53

wie sie mich reuen, die frommen gerichtsvollzieher, die gasmänner, wie sie waten zuhauf, mit ihren plombierzangen, wie sie stapfen, in ihren abwesenden stiefeln, durchs bodenlose, die gloriole vorschriftsmäßig tief im genick: ja wären`s leute wie andere leute, wär es ein ganz gewöhnliches, ein andres als dieses nacht- und nebelland, von abwesenden überfüllt, die wer sie sind nicht wissen noch wissen wollen, die in dieses land geraten sind auf der flucht vor diesem land und werden flüchtig sein bis zur grube: wärs anders, wär ihm zu helfen, wäre rat und genugtuung hier, wär es nicht dieses brache, mundtote feindesland! was habe ich hier verloren, was suche ich und stochre in diesem unzuständigen knäuel von nahkampfspangen, genußscheinen, gamsbären, schlußverkäufen, und finde nichts als chronische, chronologisch geordnete turnhallen und sachbearbeiter für die menschlichkeit in den kasernen für die kasernen für die kasernen: was soll ich hier? und was soll ich sagen? in welcher sprache? und wem? da tut mir die wahl weh wie ein messerstich, das schreit und so weiter mit kleinen schreien zum himmel und gibt sich für größer aus als es ist, aber es ist nicht ganz, es ist nur die himmelschreiende hälfte, es ist noch nicht genug: denn dieses land, vor hunger rasend, zerrauft sich sorgfältig mit eigenen händen, dieses land ist von sich selber geschieden, ein aufgetrenntes, inwendig geschiedenes herz, unsinnig tickend, eine bombe aus fleisch, eine nasse, abwesende wunde: deutschland, mein land, unheilig herz der völker, ziemlich verrufen, von fall zu fall, unter allen gewöhnlichen leuten: meine zwei länder und ich, wir sind geschiedene leute, und doch bin ich inständiger hier, in asche und sack, und frage mich: was habe ich hier verloren?

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das habe ich hier verloren, was auf meiner zunge schwebt, etwas andres, das ganze, das furchtlos scherzt mit der ganzen welt und nicht in dieser lache ertrinkt,

verloren an dieses fremde, geschiedne geröchel, das gepreßte geröchel im neuen deutschland, das frankfurter allgeneine geröchel (und das ist das kleinere übel), ein mundtotes würgen, das nichts von sich weiß,

von dem ich nichts wissen will, musterland, mördergrube, in die ich herzlich geworfen bin bei halbwegs lebendigem leib, da bleibe ich jetzt, ich hadere aber ich weiche nicht, da bleibe ich eine zeitlang, bis ich von hinnen fahre zu den anderen leuten, und ruhe aus, in einem ganz gewöhnlichen land, hier nicht, nicht hier. 81

1. Strophe

Ein Gedicht über die Sprache eines Landes, ein Gedicht über die Sprache Deutschlands, d. h. aber auch über ein geteiltes Land. Wie wird die Sprache dieses Landes geschildert? „hier geht aufwärts/hier laßt uns hütten bauen“: Enzensberger greift Floskeln des Alltags und der Mediensprache – beispiels- weise zum Aufbau und Wirtschaftsaufschwung - auf, die er dann aber ent- stellt oder verfremdet. Hier beispielsweise durch die Kombination von Fort- schrittsrhetorik -„aufwärts“- mit biblischen Elementen, dem Errichten von Hütten. Meistens in einer Weise, dass sie lächerlich gemacht werden. „einge- boren, ungetrost, abwesend, ansässig, im gemütlichen elend, in der netten, zufriedenen grube“, beschreibt er den Zustand der Arbeiterklasse. Es muss nicht nur Ironie und Satire sein, die am Werk sind, sondern man kann mit diesen Entstellungen auch den Sinn mancher Worte wieder an die etymolo- gische Wurzel heranführen, wie bei der Verfremdung von „Eltern“ zu „Älte- ren“.

81 Hans Magnus Enzensberger: Landessprache. Gedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 7-12. 55

„was habe ich hier? Und was habe ich hier zu suchen“ Die Krise des lyri- schen Ich, dessen Entfremdung von seiner Heimat, lassen es an die Emigra- tion denken, sei es die äußere oder die innere. Durch den inhaltlichen Zu- sammenhang mit dieser Zeit des Wirtschaftswunders und der Verdrängung der faschistischen Vergangenheit wird klar, dass dieses Ich auch etwas ver- loren hat: die Unschuld, die Einheit des Landes. Auch durch die Verdrän- gung des Faschismus ist etwas verloren gegangen. Enzensberger macht die Generation seiner Eltern für diesen Zustand verantwortlich.“ dahin mich ge- bracht haben meine älteren“, „ meine älteren durch arglosigkeit“ ( sie wußten nicht was sie taten) Er bezeichnet sich als Eingeborenen, ein Wort, das ansonsten dem hochmütig-herablassenden Vokabular westlicher Expeditionen vorbehalten war, die in fernen Ländern „Wilde“ beobachteten. Das „gemütliche Elend“ ist als resignative Kritik an der Naivität der Gesellschaft zu werten, die in En- zensbergers Augen den schönen Schein genießt und in der Folge die darun- ter liegenden Probleme weder erkennt noch in Angriff nimmt. Die Strophe findet ihren Höhepunkt im Wort „Grube“, das düstere Assoziationen wach- ruft, etwa die Pestgruben des Mittelalters. Enzensberger fühlt sich bedrückt und beinahe physisch begraben, während seine Zeitgenossen, wie in der Le- gende vom lieben Augustin, gar nicht erkennen, dass sie inmitten von Fäul- nis und Gestank unterzugehen drohen.

2. Strophe

„was habe ich hier?/und was habe ich hier zu suchen.“ Die Anaphern am Anfang der Strophen kommen nie zu einem epischen Ruhepunkt, sondern Enzensberger steigert sie wie in liturgischen Gesängen. Man kann es mit Geheul vergleichen, weil es nicht ein lobender, frommer Gesang ist, sondern genau das Gegenteil, weil das vom Krieg bedrohte Land beklagt wird, das sich durch den Konsum bestechen lässt. Das Schlaraffenland ist die Wohlstandsgesellschaft, es geht nur um materielle Güter und nicht um moralischen oder geistigen Fortschritt. In ei- ne Schlachtschüssel kommt normalerweise das Fleisch eines geschlachteten 56

Schweins, aber andererseits spielt das Wort auf die Schlachten und das Schlachten der Weltkriege an. „wo es aufwärts geht aber nicht vorwärts“ Eine Paradoxie und gleich- zeitig eine Wiederholung. Die fortschrittstrunkene Gesellschaft verwendet im übertragenen Sinne „vorwärts“ und „aufwärts“ als Synonyme. Es geht jedoch nicht wirklich vorwärts, sondern nur scheinbar aufwärts. Technischer Fort- schritt, Konsum, aber kein moralischer Fortschritt. Es wird nicht expliziert, sondern nur impliziert. Es ist ein Wesensmerkmal der Lyrik, dass sie sich oft auf Andeutungen beschränkt. „wo der überdruß ins bestickte hungertuch beißt“ ist ein Oxymoron. „überdruß“ - wir haben schon genug Konsumgüter und trotzdem beißen wir ins Hungertuch, nämlich geistig, weil wir von diesen nicht substanziellen, materiellen Gütern nicht wirklich etwas haben. Welche Armut kann es in Delikatessgeschäften geben? Wohl nicht Armut in materieller Hinsicht. „wo eine gewinnspanne weit von den armen reichen/die reichen ar- men/vor begeisterung ihre kinostühle zerschmettern“ Diese Gewinnspanne hält die armen Reichen und reichen Armen auseinander. Wer sind die armen Reichen, reichen Armen? Ein bewusst unklar gehaltenes Wortspiel. Die ar- men Reichen, das müssen die geistig Armen sein, die materiell reich sind. Die reichen Armen müssen die Unterschichten sein, die aber in dieser neuen Wohlstandsgesellschaft im Vergleich zu früher relativ reich sind, da sie mit bescheidenem Wohlstand gefügig gemacht wurden. Was machen die reichen Armen, die Unterschichten? Sie zerschmettern vor Begeisterung ihre Kino- stühle. In den 50er 60er Jahren gab es Konzerte, bei denen Jugendliche der- art in Ekstase gerieten, dass sie dort alles zerschmettert haben. Gemeint ist die geistig beschränkte Begeisterung der Unterschichten, wenn sie populäre Musik hören. Alles wird vernichtet. Diese Angst vor den ungestümen Ener- gien der Massen, wenn sie in den „Urzustand“ des Pöbels zurückversetzt werden, sind eine der Quellen, die das 20. Jahrhundert so blutig werden lie- ßen. Enzensberger tritt für die Emanzipation der Unterschichten ein, gleich- zeitig ist er sich aber der Gefahren bewusst, die von den Volksmassen aus- gehen können. Kommunismus und Faschismus sorgten für einige ihrer

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schlimmsten Exzesse, indem sie die Aggressionen der Massen bündelten und auf eine bestimmte Gruppe von Opfern richteten. „da geht es aufwärts von Fall zu Fall“. Da geht es angeblich aufwärts, aber da ist auch ein Sturz nach dem anderen. Geschickt spielt Enzensberger mit der Doppeldeutigkeit des Wortes „Fall“, das sowohl „Situation“, Einzel- fall“ als auch „Absturz“ bedeutet. In diesem Kontext geht es um moralischen Fall und Verfall. Wieder eine Entstellung, Umfunktionierung, einer Rede- wendung.

3. Strophe

Die Steigerung, dass es nun sogar rückwärts aufwärts geht, unterstreicht Enzensbergers Kritik am wirtschaftlichen Fortschritt, der nicht mit morali- scher Besserung einhergeht. Der leitende Herr, der den leitenden Herren mit dem Gesangsbuch abschießt, ist eine Parabel auf die Ellbogengesellschaft der herrschenden Elite. Das Gesangbuch weckt Assoziationen an Kirche oder volkstümliche Gesangsvereine, die gemeinhin als Stützen des konserva- tiven Gesellschaftsmodells gesehen werden. Der „Kampf ums Dasein“ tobt jedoch auch in dieser feinen, formvollendeten Gesellschaft. Statt scharfer Munition wird nun lediglich das Mittel der Intrige eingesetzt, das „in uner- bittlicher Nettigkeit“ die Formen wahrt und dennoch den Gegner vernichtet.

4. Strophe

„und das ist das kleinere übel“. Was das größere Übel ist, wird nicht gesagt. Was von der Mehrheit der Zeitgenossen als positive Beruhigung der Lage wahrgenommen wurde, interpretiert Enzensberger nur als Scheinkompro- miss, als Korruption der Unterschichten durch die Verlockungen eines be- scheidenen Wohlstandes. Er sieht darin eben nur „das kleinere übel“, jedoch keine Lösung. Hier wäscht nicht eine Hand die andere, sondern kauft sie. „hand aufs herz, hier sind wir zuhause“ deutet die Identifikation des Autors und auch der Bevölkerung mit dem neuen Deutschland, der Bonner Repu-

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blik, an. Gleichzeitig kann dieses Gefühl der Heimeligkeit nicht über die Ge- fahr eines neuen, noch verheerenderen Kataklysmus hinwegtäuschen.

5. Strophe

Was ist geblieben vom Rassenwahn und dem Zweiten Weltkrieg? Ein ari- scher Schrotthaufen. Hier bricht sich der in der 4. Strophe angedeutete Zu- kunftspessimismus Enzensbergers endgültig Bahn. Er glaubt nicht an die Heilsversprechungen vom ewigen Frieden und dem Zusammenwachsen des (westlichen Teils des) Kontinents. In den Bauprojekten seiner Zeit sieht er lediglich Ruinen auf Vorrat, die zerschossenen Fassaden des Dritten Welt- kriegs. Besondere Beachtung verdient das Bild des Parkplatzes. Es symboli- siert die Hoffnungen der fünfziger Jahre. Nach dem trauten Eigenheim lech- zen die Unterschichten nach dem nächsten Symbol wirtschaftlichen Auf- stiegs und gesellschaftlichen Prestiges, dem eigenen Auto. Der Parkplatz wird zum Schrebergarten des Mobilitätsversprechens, drei bis fünf Quad- ratmeter, die der „kleine Mann“ zeitweilig für sich in Besitz nehmen kann. Enzensberger sieht in den Wohnbauprojekten seiner Zeit den Parkplatz für die Kriegsruinen der Zukunft, dessen Krächzen bereits als klanglicher Vor- bote auf das Zerbrechen von Beton und Zement im unbarmherzigen Sperr- feuer von Granaten und Raketen interpretiert werden kann.

6. Strophe

„hier sein ist herrlich“, so Enzensberger, doch seine Beschreibung der Ge- genwart ist ein Zerrbild der entstehenden Überflussgesellschaft. Wellpappe und Cellophan stehen für die Fassade von Wohlstand, die der Masse von den wirklich Reichen zugeteilt wird. Der Arbeiter schuftet, verbraucht sich und seine Lebensenergie, um seinen erarbeiteten Lohn als Konsument zurück in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen. Die Großindustriellen der Nachkriegs- zeit sind nicht wie die Sklavenhalter der Antike. Die Masse ist der Form nach frei und selbstbestimmt. Doch die industrielle Entwicklung nach den Kon- zepten Henry Fords sorgen dafür, dass die Besitzenden von der Heerschar 59

der Arbeitnehmer gleich doppelt profitieren: Zum Einen schafft sie den Mehrwert, der zum überwiegenden Teil in die Taschen der Unternehmer wandert, zum Anderen bezahlt sie mit dem dafür erhaltenen Obulus die Konsumgüter, die sie selbst produziert. Das oberflächliche Glück der Seg- nung durch immer mehr Symbole des Wohlstandes erstrahlt auf dem „er- folgreichen Haupt“ des Arbeiters. Gleichzeitig fallen ihm jedoch durch die Mühsal der Arbeit, durch Umweltgifte und die unaufhaltbar verstreichende Zeit bereits die Haare aus. Das Bild der ausfallenden Haare ruft auch die Folgen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki in Erinne- rung: als erstes Symptom des bereits feststehenden Strahlentods.

7. Strophe

Die Metapher des sich selbst abreißenden Kalenders verweist auf den un- aufhaltsamen Lauf der Dinge. Ein Tag vergeht wie der andere, das Indivi- duum funktioniert an seinem angestammten Platz, als Zahnrädchen der großen Maschinerie, die pausenlos Produkte „Made in “ ausspuckt. Der erneute Verweis auf die verdrängte Kriegsvergangenheit unterstreicht, dass Enzensberger die Kontinuität wirtschaftlicher und zum Teil auch politi- scher Eliten, den seiner Meinung nach halbherzig erfolgten Bruch mit dem Nationalsozialismus, nicht nur als Schande der Gegenwart, sondern auch als Bedrohung für die Zukunft sieht. Die Fischerkontroverse der sechziger Jahre zeigte die in Großindustrie und politischer Elite beheimateten struktu- rellen Ursachen für Deutschlands Weg in zwei Weltkriege auf. Anstatt nach diesen Menschheitskatastrophen jedoch einen vollkommenen Neuanfang zu wagen, verschönert die Gesellschaft die dunklen Schatten der unmittelbaren Vergangenheit nur oberflächlich, wie die viel zitierte schwäbische Hausfrau, mit Fleckenwasser. Fünf Jahre später entsteht in der Studentenbewegung der APO diese kritischen Revolte, die Revolte der Regimekritiker. Da spielt die Kritik der Verdrängung der Vergangenheit, neben dem Kampf gegen den Vietnamkrieg, die Hauptrolle.

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8. Strophe

Die Aktienkurse steigen, das wirtschaftliche Establishment sackt die Profite ein und schützt sich mit Panzerglas vor möglichen Schäden durch das spo- radische Aufbegehren derer, die durch ihrer Hände Arbeit die kolossalen Gewinne überhaupt erst möglich gemacht haben. „Panzerglas“ ist eine viel- schichtige Metapher. Es verspricht Transparenz, Klarheit, saubere Verhält- nisse. Die Gesellschaft wird ja pro forma von der Masse der Wähler regiert. Doch in Wirklichkeit bildet Panzerglas eine gläserne Mauer, die zwischen den Herrschenden und den breiten Massen steht.

9. Strophe

„wo wir uns finden wohl unter blinden“ verspottet das Pathos traditionell deutschen Liedgutes. Enzensberger sieht den Kern der zeitgenössischen Le- benskultur in den neu entstehenden Shoppingparadiesen, die er allerdings – getreu seiner Sichtweise der Verquickung von Konsumgüter- und Waffenin- dustrie -, unmittelbar neben die Zeughäuser platziert. Die „tiefgefrorene wildnis“ und der „notdürftige nerz“ nehmen Bezug auf die Lenkung des Stre- bens der Massen und ihrer urtümlichen Instinkte hin auf die Angebote und Ideale der Konsumgesellschaft. Die Raserei in dieser „zivilisierten“ Wildnis trägt nicht mehr die Züge von Revolte und Blutrausch, sondern befriedigt die Wünsche der Menschen durch ein üppiges Warenangebot. Der „ewige Früh- ling“ insinuiert Wohlbefinden, Aufbruch und Glücksgefühle, den Beginn ei- ner neuen Ära, doch es folgt die Verknüpfung mit der Amnesie, der Verges- senheit gegenüber dem Grauen der letzten beiden Jahrzehnte, dem nicht vollzogenen Bruch mit dem Ungeist des Faschismus. Die Masse tanzt im Konsumrausch und glaubt an das Versprechen von Wirtschaftswunder und Wohlstand für alle, doch ihre Knie sind noch zerbrochen von den Kämpfen und Erniedrigungen der Vergangenheit und ihrer untergeordneten Stellung in der Gegenwart.

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10.-11. Strophe

„das ist ein anderes land als andere länder“. Erstens das Land, dass den Ho- locaust zu verantworten hat und ein Land, das geteilt ist zwischen Ost und West. Die Opfer des Faschismus, der Kriege, des Holocaust, das sind ge- wöhnliche Leute, sie rufen noch immer, aber das, was sie sagen, wird in den Müllschlucker gesteckt. Die Skelette von Millionen Toten wurden notdürftig unter den Symbolen des deutschen Wiederaufstiegs verscharrt, unter As- phaltstraßen und Pflastersteinen. Der Butzemann, das Löweneckerchen, das Allerleirauch und die schöne Rapunzel sind Anspielungen auf die Romanti- ker, die Brüder Grimm, die Märchen gesammelt haben. Wofür stehen die Märchen? Für eine Zeit vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, vor der mo- dernen Zivilisation, eine romantische Welt, in der „alles irgendwie noch in Ordnung war“. Das Deutschtum der Brüder Grimm hatte nur wenig Natio- nalistisches an sich. Am Anfang des 19. Jahrhunderts hat Nationalismus etwas anderes bedeutet als am Anfang des 20. Jahrhundert. Nationalismus und Liberalismus waren fortschrittlich gewesen, das Parlament der Frank- furter Paulskirche hatte noch nichts von der plebejischen Mordlust der SA- Kommandos, die bereits in der Weimarer Republik auf den Straßen für Ge- walt und Schrecken sorgten. Moderne, Industrie und Asphalt haben die Ver- bindung zur Erde, zum natürlichen Ursprung der deutschen Nationalbewe- gung gekappt. Auf dem harten Straßenpflaster sammelt sich nun das Was- ser und durchdringt und erstickt alles, was früher langsam und harmonisch im Boden versickert wäre und das Grün der Pflanzen genährt hätte. Die 12. Strophe ist eine Anspielung auf die Nazi-Vergangenheit. Selbst Enzensberger nimmt Bezug auf seine „Brüder“ – die tadel- und hilflosen Pendler – die KZ-Sträflinge, die hingerichtet wurden. Auf der anderen Seite versucht er, diejenigen, die sich in ihrer Stellung lediglich als Vollzieher sa- hen – „die frommen gerichtsvollzieher, die gasmänner“ - der Befehle von „Oben“, in die Verantwortung zu nehmen. Bis hin zur Waldheim-Affäre 1986 lautete die Rechtfertigung so vieler, die eine Rolle im NS-Regime eingenom- men hatten, dass sie „nur ihre Pflicht getan“ hätten. Die preußischen Ideale 62

von Gehorsam und Pflichterfüllung hatten dazu geführt, dass selbst die verbrecherischsten Befehle unter strenger Beachtung von Form und Geset- zesparagrafen ausgeführt wurden, ohne Gedanken daran zu verschwenden, wie unethisch diese Handlungen waren. Die 13. Strophe schildert ein Land, welches seine Orientierung verlo- ren hat. Es herrschen Perspektivlosigkeit und Passivität. In Nacht und Nebel haben die Bürger vergessen, dass sie es sind, die letztendlich den Staat und die Gesellschaft bilden. Trotz ihrer physischen Präsenz sind sie geistig und moralisch abwesend. Dies sind Charakteristika des Gesellschaftslebens in der BRD nach dem Krieg, die Enzensberger von seinem Land entfremden. Strophe 14 drückt klar wie sonst kaum zuvor aus, dass für den Autor das Schweigen und die beklemmende geistige Brache Deutschland zum Feindesland machen. „wärs anders, wär ihm zu helfen“. Strophe 15 stellt die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Mitgliedschaft in der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit. Ein Land, in dem die Schatten der Vergangenheit ihre Spuren hinterlassen haben. Eine Konsum- gesellschaft, die sich nur um den materiellen Wohlstand kümmert. „was habe ich hier verloren, was suche ich hier“ Die Kaserne wird zum Sinnbild für seelenlose, bürokratisch geregelte Abläufe ohne Herz und Verstand. Unter all den Schlussverkäufen werden Menschlichkeit und Nächstenliebe den Sachverwaltern der Administration überlassen. Ob hier vielleicht auch der moderne Sozialstaat kritisiert wird, der den Einzelnen aus der Pflicht zum sozialen Engagement überlässt und stattdessen anonyme Zuwendungen an die Armen und hilflosen richtet, um das Gewissen der Masse zu beruhigen? Strophe 16 ist eine Selbstreflexion des Autors. Er will verstanden wer- den, aber er findet keinen Gleichgesinnten, der seine Sprache verstehen würde. Und trotzdem entscheidet er sich für die Fortführung dieser gesell- schaftskritischen Haltung auf poetischem Wege. Interessant ist die Formu- lierung von den „kleinen Schreien zum Himmel“, die sich aber für größer ausgeben als sie tatsächlich sind. Enzensberger erhebt sein Wehklagen gen Himmel, der Anflug von Selbstironie deutet jedoch an, dass er sich eher wohl

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seiner eigenen Zerrissenheit sowie seiner im gesamtgesellschaftlichen Kon- text eingeschränkten Bedeutung als „Mahner der Nation“ bewusst ist. Strophe 17 – die Wunde ist noch nicht geheilt – die Wunden aus der Nazizeit sind noch offen, weil sie, wie in der Strophen 13 und 14, noch nicht verarbeitet worden sind. Das Land hat sich in zwei Gruppen geteilt, und der Zusammenprall dieser beiden Gruppen ist eine Zeitbombe “aus fleisch“, die jederzeit zu explodieren droht. Enzensberger überdramatisiert die inneren Konflikte der deutschen Gesellschaft. Eineinhalb Jahrzehnte nach Kriegsen- de ist Deutschland keineswegs vor Hunger rasend. Dennoch ist das Wirt- schaftswunder der Zeit auch von der Angst genährt, dass die guten Jahre ein baldiges Ende finden könnten. Deutschland produzierte und exportierte sich ab jener Zeit geradezu zu Tode. Über der entstehenden Wohlstands- und Überflussgesellschaft hing aber stets das Damoklesschwert eines Drit- ten Weltkriegs zwischen Ost und West, in dem Deutschland unweigerlich zur zentralen Front geworden wäre. Trotzdem mutet die Evokation von Hunger und Selbstzerfleischung des Landes sehr, wenn nicht gar zu dramatisch an. Wahrscheinlich ist die Erinnerung an die teils bürgerkriegsähnlichen Ver- hältnisse in Weimar noch so frisch, dass auch der Autor der jungen Demo- kratie weniger Chancen einräumt, als sie verdiente. Strophe 18 verarbeitet die hymnisch klingende Überhöhung Deutsch- lands als „Herz der Völker“ über die Technik der Entstellung mit den negati- ven Bildern, die die jüngste Geschichte den Menschen in aller Welt unaus- löschlich ins Gedächtnis eingebrannt hat. Verrufen ist Enzensbergers Land, doch vielleicht stehen gerade die unvorstellbaren Exzesse der Barbarei, die diesem Deutschland auf dem Gewissen lasten, beispielhaft für die menschli- che Natur. Die Deutschen kommen nicht von einem anderen Stern, die un- erreichten Menschheitsverbrechen zweier Weltkriege exemplifizieren lediglich auf besonders schreckliche Weise die dunkle Seite der menschlichen Natur. Daher ist Deutschland nicht nur ein Extrem, sondern im düsteren Sinn auch eine Verkörperung dessen, was die dunkle Seite unserer Spezies aus- macht. Zumindest lässt die Formulierung vom unheiligen Herz der Völker diese Lesart zu.

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Strophe 19 unterstreicht erneut den Graben zwischen Enzensberger und seinen „beiden Heimatländern“. Inständig und innig dort, aber trotzdem die Frage, was er überhaupt an jenem Ort soll. Klarer lassen sich die Entfrem- dung und der emotionale Zwiespalt zwischen Selbstidentifikation mit seinem Land und Abscheu gegen viele von dessen zentralen Merkmalen kaum aus- drücken. Es handelt sich meiner Meinung nach um eine rhetorisch wie emo- tional besonders starke Passage des Gedichts, eine Schlüsselpassage hin- sichtlich des Selbstverständnisses des Autors. Der Kampf zwischen diesen beiden Teilen eines Landes demütigt den Autor derart, dass er sich selbst fragt, was der Grund ist, warum er dort verharrt. „das habe ich hier verloren“ - Die Antwort auf die repetitiv gestellte Grundfrage des Gedichts folgt in Strophe 20 und 21. Im „frankfurter allge- meinen geröchel“ drohen diejenigen Stimmen unterzugehen, die sich dem konservativen Mainstream (nicht nur in der F.A.Z.) jener Tage zu widersetzen suchen. In dieser gesellschaftlichen Atmosphäre fühlt sich Enzensberger nicht mehr wohl, er hat Probleme, sich selbst und seine Ideale darin wieder- zufinden. Auch die verstaubte Gesellschaftsordnung der Adenauerzeit ist, verglichen mit dem 3. Reich, nur das kleinere Übel, aber es trieb Enzensber- ger zuerst in die innere, dann in die äußere Emigration. Deutschland er- scheint ihm noch immer als Mördergrube. Er kämpft vorläufig weiter, erfüllt seine gesellschaftliche Mission, verabschiedet sich aber bereits innerlich von seiner geliebten und gleichzeitig ungeliebten Heimat und träumt vom Exil in einem „normaleren“ Land.

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3.2 an alle fernsprechteilnehmer

etwas, das keine farbe hat, etwas, das nach nichts riecht, etwas zähes, trieft aus den verstärkerämtern, setzt sich fest in die nähte der zeit und der schuhe, etwas gedunsenes, kommt aus den kokereien, bläht wie eine fahle brise die dividenden und die blutigen segel der hospitäler, mischt sich klebrig in das getuschel um professuren und primgelder, rinnt, etwas zähes, davon der salm stirbt, in die flüsse, und sickert, farblos, und tötet den butt auf den bänken.

die minderzahl hat die mehrheit, die toten sind überstimmt.

in den staatsdruckereien rüstet das tückische blei auf, die ministerien mauscheln, nach phlox und erloschenen resolutionen riecht der august. das plenum ist leer. an den himmel darüber schreibt die radarspinne ihr zähes netz. die tanker auf ihren helligen wissen es schon, eh der lotse kommt, und der embryo weiß es dunke

in seinem warmen, zuckenden sarg:

es ist etwas in der luft, klebrig und zäh, etwas, das keine farbe hat (nur die jungen aktien spüren es nicht): gegen uns geht es, gegen den seestern und das getreide. und wir essen davon und verleiben uns ein etwas zähes, und schlafen im blühenden boom, im fühnfjahresplan, arglos schlafend im brennenden hemd, wie geiseln umziegelt von einem zähen, farblosen, einem gedunsenen schlund. 82

82 Hans Magnus Enzensberger: Landessprache. Gedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 26. 66

Schon dieser Ansatz „etwas, das keine farbe hat “ macht deutlich, dass es hier um etwas nicht näher Bestimmtes geht. Es ist keine Unfähigkeit des Autors, konkreter zu werden, sondern es geht darum, langsam die Bestim- mungen zu suchen und näher zu definieren. Es wird nie zu einer eindeuti- gen Bestimmtheit kommen, bis zum Ende des Textes. Eine diffuse Bedro- hung schwingt in dem Text mit: Kriegsgefahr und Radioaktivität sind damit gemeint, ebenso Umweltverschmutzung und eine drohende Atomkatastro- phe. Es werden keine klaren Ursachen, keine monokausalen Erklärungen für die drohende Gefahr genannt. Was sie ist, weiß der Autor selber nicht. Es ist etwas Zähes, etwas, das nach nichts riecht, etwas, das in den Verstärke- rämtern steckt, d. h. in Telefonverteilern, Telefonvermittlern, dem Telefon- netz. Was kann damit gemeint sein? Wird hier bereits der Überwachungs- staat und der „große lauschangriff“ (ein Wortungetüm der RAF) vorwegge- nommen? Sicher auch die politischen und wirtschaftlichen Vernetzungen, die über das Telefon laufen. Globalisierung, Modernisierung und Vernetzung werden zu jener Zeit primär durch Telefonleitungen Realität, doch die virtu- elle Welt bricht sich langsam ihre Bahn. Was am Telefon zwischen den Su- permächten, zwischen den Machthabern und Konzernbossen abgemacht wird, entzieht sich jeglicher Kontrolle durch die Öffentlichkeit, selbst wenn diese überhaupt den Versuch unternehmen würde, aus ihrem Dornröschen- schlaf zu erwachen und sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. Dann wird auf die Nähte der Zeit und der Schuhe eingegangen. Schu- he sind neutral, da lässt sich die Politik ganz schwer festmachen, aber auch da scheint dieses Etwas zu stecken, selbst im Belanglosen und Alltäglichen. „nähte der zeit“ ist gewissermaßen eine Allaussage. Im Verlauf der Chronolo- gie der Entwicklung steckt diese Gefahr. Interessant ist es, auf diese Kombi- nation zu verweisen. „nähte der zeit und der schuhe“ ist eine auffallende Konstruktion. Enzensberger hat selbst über dieses Gedicht einen Vortrag geschrieben und er hat darauf hingewiesen, dass er absichtlich Abstraktes und Konkretes miteinander verknüpft hat.

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„Das Vokabular lebt aus einer analogen Spannung, und zwar zwischen dem Einfachen und dem Speziellen, dem ganz Allgemeinen und dem höchst Be- sonderen, dem Elementaren und dem Technologischen; - also auf der einen Seite Etwas, zäh, Himmel, Sommer, Segel, Luft, Meer; auf der andern Seite Verstärkeramt, Radarspinne, Resolution, Sanatorium, Kokerei.“ 83

Man könnte es auch als Zeugma 84 betrachten. Diese Form von Zusammen- sperren von Heterogenen findet man in all diesen Gedichten bis zu den Ge- dichten aus der Gegenwart. „kommt aus den kokereien“: Die Koksherstellung und Kohleförderung verknüpft sich natürlich mit der Wirtschaft, mit der Energieproduktion. Die Dividenden verkoppeln das Ganze mit finanziellem Gewinn bei Spekulatio- nen, Aktienbesitz usw. Dann kommt der Bereich der Krankenhäuser: Auch da sieht der Autor dieses Etwas, dieses Zähe, die unbestimmte Gefahr. Krankheit, Tod, Blut passen zu Lebensgefahr, aber andererseits kann man schon kritisch fragen, was denn eine natürliche Erkrankung mit diesen sozi- alen und politischen Gefahren zu tun haben soll. Krankheiten sind ja nicht immer rein naturgegeben, der Tod ist nicht immer ein natürlicher, sondern oft produziert durch die schlimmen Bedingungen am Arbeitsplatz und natür- lich durch stressbedingte, psychosomatische Krankheiten. Das kann man auch damit assoziieren. Dann wäre die blutige Seele nicht einfach ein Pro- dukt natürlicher Erkrankungen, sondern auch gesellschaftlich verursacht. Dann ist von Getuschel, Professuren und Primgeldern die Rede. Getu- schel deutet an, dass Korruption im Spiel ist, dass Beziehungen statt Quali- tät im Vordergrund stehen, auch in diesem Bereich der sozialpolitischen Entscheidungen. „etwas zähes davon der salm stirbt“ Der Lachs in den Flüssen stirbt. Zu dieser Zeit war die Sorge um Artenvielfalt und die Bewahrung der Umwelt noch kein großes gesellschaftliches Thema. Die Schlagwörter „Bruder Baum“

83 Hans Magnus Enzensberger: Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts. Nachwort von Werner Weber. Frankfurt am Main. Suhrkamp 1962, S. 76. 84 Ein Zeugma verbindet zwei eigentlich nicht zusammengehörende Momente unter einem Dach oder irgendeinenem Sachzusammenhang, obwohl sie einander normalerweise wi- dersprechen würden. 68

und „Waldsterben“ rüttelten die Öffentlichkeit erst in den achtziger Jahren auf. Die Atomkatastrophen in Harrisburg und Tschernobyl erschütterten die Welt erst viele Jahre später. Doch die massive Reindustrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg forderte auch von der Natur große Opfer. Sowohl der kapitalistische Westen als auch der sozialistische Osten strebten nach Wachstum um jeden Preis. Das Wirtschaftswunder setzte sich Massenkon- sum und Umsatzsteigerungen zum Ziel. Was tat es da schon, wenn dem Wälder oder Flüsse zum Opfer fielen? Enzensberger widmet sich dieser The- matik bereits weit früher als der gesellschaftliche Mainstream. Damals gab es vor allem Diskussionen um die Atombombenversuche, bei denen große Mengen von radioaktiver Strahlung frei wurden. In den sechziger Jahren war dies noch das Territorium der Friedensbewegung, die Umweltschützer traten erst mit einigen Jahren Verspätung auf den Plan. In den siebziger Jahren bildete sich dann eine Allianz aus Friedensbewegung und Umweltorganisati- onen, die schließlich – wesentlich beschleunigt durch die Anti-AKW- Bewegung, in Europa die ersten Grünparteien bildeten. Erst im Lauf von vie- len Jahren kam es zur Begrenzung von Atomversuchen in Ost und West. Die Tests wurden zunächst unter die Erde verbannt, dann gänzlich eingestellt. Aber als dieses Gedicht veröffentlicht wurde, war dies noch ein strittiges Thema. „die minderzahl hat die mehrheit, die toten sind überstimmt“ Bei den Toten handelt es sich wahrscheinlich um die Opfer des Nationalsozialismus, die hier nichts mehr zu sagen haben und die vergessen oder verdrängt wer- den. Was bedeutet „die minderzahl hat die mehrheit“? Offenbar nicht wirkli- che Demokratie. Demokratie geht davon aus, dass die Mehrheit regiert. En- zensberger deutet hier entweder politische Manipulation an oder, dass die Wahlen dazu führen, dass nicht die Mehrheit des Volkes entscheidet, son- dern dass es durch Manipulation und Wahlbetrug dazu kommt, dass letzt- lich eine Clique, eine Minderheit, an die Macht kommt oder durch Lobbys in der Politik Entscheidungen getroffen werden, die nicht im Interesse der Mehrheit sind. Nicht die Mehrheit hat die Macht, sondern eine kleine Grup- pe.

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„in den staatsdruckereien rüstet das tückische blei auf“ Das tückische Blei wird einerseits in Gewehrkugeln verwendet, andererseits in den Druckereien der Zeit. Hier erfolgt eine Verknüpfung der beiden durch Assoziation. Der Eskalation der Worte folgt letztendlich der Krieg. Die Staatsdruckerei ist hier nicht nur die Institution, die offizielle Verlautbarungen und Schulbücher produziert, sondern der mediale Mainstream, der die Gesellschaft kontrol- liert. „die ministerien mauscheln“ Es wird nicht ehrlich und offen und rati- onal entschieden, sondern hinter den Kulissen gehandelt, in der Regierung selbst an obersten Spitze. „nach phlox, und erloschenen resolutionen riecht, der august“ Phlox ist eine Pflanze, wieder diese zeugmaartige Konstruktion. Konkretes und Abstraktes, Blumen und politische Resolution. „das plenum ist leer“ Plenum heißt die Vollversammlung des Parlaments. Der Parlamenta- rismus der damaligen Zeit übertrug gelegentlich Plenarsitzungen, die jedoch nur Beschlüsse absegneten, die in den Hinterzimmern der Ausschüsse längst gefallen waren. Die Plenarsitzungen waren und sind oft mäßig be- sucht, viele Parlamentarier glänzen durch Abwesenheit. „an den himmel darüber schreibt, die radarspinne ihr zähes netz“ Es wird das Bild des Netzes wieder aufgegriffen. Es deutete sich bereits mit den Verstärkerämtern an und taucht bei den Nähten der Zeit wieder auf. Immer neue analoge Bilder werden gesucht. Enzensberger schreibt, dass er bewusst diese Netzmetapher 85 verfolgt hat. Hier das militärische Radarnetz, zuvor das Telefonnetz. Dadurch wird die Verknüpfung zwischen der zivilen Infrastruk- tur, den Zentren der Macht und der düsteren Bedrohung durch den Krieg verstärkt. Es ist dieses undefinierte Etwas, das uns wie in einen Spinnennetz einfängt, und wir wissen nicht was die wirkliche Ursache ist. Wo ist der Schuldige, wo ist die Ursache? Es lässt sich nicht eindeutig finden. Brecht sagt da ganz offen, es seien die Kapitalisten. Bei Enzensberger wird es schwieriger, in dieser Vernetztheit den Schuldigen zu finden. Daher die Netzmetapher, die Radarmetapher. Hinzu kommen noch die Bilder des Mee-

85 Hans Magnus Enzensberger: Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts. Nachwort von Werner Weber. Frankfurt am Main. Suhrkamp 1962, S. 70. 70

res wie Tanker. Sie werden auch mit Radar gesteuert. „Es“ ist klebrig, zäh, hat keine Farbe, ist nicht fassbar, hörbar, sichtbar. Nur die jungen Aktien spüren es nicht. Warum spüren das die jungen Aktien nicht? Die, die von Optimismus getragen sind, weil ihre Aktien steigen, sie spüren nicht, dass da eine Gefahr lauert. Sie richtet sich gegen uns, gegen die Seesterne und das Getreide. Und wir essen davon. Gegen Menschen, aber auch gegen die ganze Natur. Die Tierwelt und sogar das Getreide sind bedroht. Wir schlafen, nehmen es nicht wahr, wir sind zu unpolitisch, begriffsstutzig dem ganzen Geschehen ausgeliefert. „und schlafen im blühenden boom, im fünfjahresplan“. Der Fünfjah- resplan wird dem Osten zugeordnet, also dem Kommunismus der gesteuer- ten Wirtschaft. Doch auch in der freien Marktwirtschaft und mitten im Boom der westlichen Wirtschaft gab es Elemente der Planung, Prognosen und Wachstumsziele. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs schläft die stumme Öffentlichkeit und merkt nicht, was auf sie zukommt. „arglos sind wir“, das ist natürlich als Schimpfwort gemeint. Keiner denkt kritisch über diese Situation nach. „ arglos schlafen im brennenden hemd. „wie geiseln umzingelt von einem zähen, farblos, einem gedunsenen schlund“. Der Schlund kann uns alle völlig verschlucken. Er hat verschiedene Methoden zu töten, ob Radioaktivität oder totalen Wirtschaftszusammenbruch oder ei- ne totale Umweltkatastrophe. Für das brennende Hemd gibt es in der Litera- turgeschichte ein paar Vorbilder, unter anderem hat die Geliebte des Hera- kles ihm ein brennendes Hemd überreicht, das tödlich war. Wir schlafen, das Hemd brennt und es wird uns völlig verbrennen, bis alles zugrunde geht, aber wir sind arglos, schlafen weiter und merken es gar nicht. Am Schluss wird vom Schlafenden gesprochen. Es gibt zahllose weite- re Formulierungen in diese Richtung, dass die Staatsbürger selber bewusst- los dahinvegetieren, „im ewigen frühling der ammnesie“86 heißt es an einer anderen Stelle, in diese Unbeschwingtheit des Nichtwissens und der Be- wusstlosigkeit.

86 Hans Magnus Enzensberger: Landessprache. Gedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 9. 71

3.3 gedicht für die gedichte nicht lesen

wer ruft mit abgerissenem mund aus der nebelkammer? Wer schwimmt, einen gummiring um den hals, durch diese kochende lache aus bockbier und blut? er ist es, für den ich dies in den staub ritze, er, der es nicht entziffert.

wer ist ganz begraben von zeitungen und von mist? wer hat uran im urin? wer ist in den zähen geifer der gremien eingenäht? wer ist beschissen von blei? siehe, er ists, im genick die antenne, der sprachlose fresser mit dem räudigen hirn.

was sind das für unbegreifliche ohren, von wüstem zuckerguß triefend, die sich in kurszettel wickeln und in den registraturen stapeln zu tauben mürrischen bündeln? geneigte, ohren verstörter verräter, zu denen rede ich kalt wie die nacht und beharrlich.

und das geheul, das meine worte verschlingt? es sind die amtlichen schmierigen adler, die orgeln durch den entgeisterten himmel, um uns zu behüten. von lebern, meiner und deiner, zehren sie, leser, der du nicht liest. 87

Es werden Leute angesprochen, die keine Gedichte lesen. Die Nebelkammer dient dazu, radioaktive Strahlungen nachzuweisen. Hier wird aber vielleicht auch auf die Gefahr der Gaskammern angespielt. Der Gummiring oder der

87 Hans Magnus Enzensberger: Landessprache. Gedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 31-32. 72

Schwimmring sollte Schutz gegen das kochende Bier und Blut bieten. Eine klare Anspielung auf politischen Populismus. Die Nationalsozialisten hatten es am besten verstanden, Politik im Bierzelt zu betreiben und die Massen aufzuhetzen, doch auch nach 1945 verschwand die Kombination aus leutse- ligem Volksfest und politischer Botschaft nicht aus der Politik. Man denke beispielsweise an den „Politischen Aschermittwoch“ der CSU. Charakteris- tisch hier wieder die negative Sicht der Rolle des „gemeinen Volkes“: Es be- kommt gratis Bockbier um zu jubeln, bezahlt in der Folge aber mit seinem Blut. Begraben von Zeitungen und Mist spielt auf die Meinungsfreiheit an, die zwar unzählige Tageszeitungen hervorgebracht hat, dadurch aber nicht unbedingt für mehr Aufklärung innerhalb der Gesellschaft sorgt. Die Ausei- nandersetzungen der Revolutionäre von 1968 und des Springerverlags exemplifizierten dieses Problem. Was nützt es in den Augen eines Intellektu- ellen wie Enzensberger, wenn die Bürger zwar frei wählen könnten, welches Blatt sie lesen, dann aber mehrheitlich zur Bild-Zeitung greifen? „wer hat uran im urin?“ Zu dem Zeitpunkt, als das Gedicht verfasst wurde, schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis dies auf jeden zutreffen würde. Die Tausenden Atomtests der Supermächte waren zu einer Alltäg- lichkeit geworden, oft waren sie gar keine wirklichen Tests mehr, sondern nur noch eine reine Machtdemonstration. Der radioaktive Staub hingegen, der in Kasachstan, Arizona oder dem Bikini-Atoll aufgewirbelt wurde, er- reichte innerhalb weniger Tage selbst den entferntesten Punkt der Erde. Sie können es nicht entziffern, weil sie von den Politikern an der Nase herumgeführt werden, „wer ist in den zähen geifer der gremien eingenäht?“. Mit „beschissen von blei“ werden wieder die Print-Medien bezeichnet. Sie werden durch Medien manipuliert, „im genick die antenne“. Ihr Gehirn ist von Räude befallen, d.h. sie werden durch die Zeitungen und Fernsehsender manipuliert. Was für Ohren sind diese, die nicht das richtige sondern nur gute Nachrichten hören wollen. Sie werden manipuliert durch Verlockungen, „von wüstem Zuckerguß triefend“. Sie schauen nur auf die wirtschaftlichen Daten, „die sich in kurszettel wickeln und in den registraturen stapeln zu tauben mürrischen bündeln?“ Die Leser machen sich nicht die Mühe, die wahre Botschaft zu entziffern. Die Botschaft richtet sich an diejenigen, die 73

keine Gedichte lesen. Das Problem liegt jedoch nicht nur im allgemeinen Desinteresse der Unterschicht begründet. Es handelt sich auch um eine scharfe Kritik an den Medien, die Enzensbergers Botschaft nicht in ihren Mainstream aufnehmen. Da ihm die Bleilettern der täglich konsumierten Massenmedien versperrt bleiben, kann er seine Anklage lediglich „in den staub ritzen“. Doch richtet sich die Wut des Autors nicht nur gegen die Presse, son- dern gegen das gesamte Establishment. Die Orgeln der Kirchen dröhnen die Menschen zu, Religion ist wieder zum Opium für das Volk geworden. Auch die Staatsmacht verteidigt wieder nur die Interessen der Besitzenden und wendet sich mit autoritärem Konservatismus gegen das Aufbegehren des Li- teraten. Zwar dröhnen aus dem Rundfunk keine Propagandalieder à la „Füh- rer befiehl, wir folgen Dir!“ mehr, doch ist Enzensberger nach wie vor ein de- klarierter Gegner der Staatsmacht. Es sind nicht mehr die aggressiven Paro- len von früher, die die Leute verdummen, sondern die Schönfärberei der Wachstums- und Wohlstandsrhetorik, die der „schmierige Wappenadler“ verkündet. Die Ausbeutung besteht laut Enzensberger nach wie vor, wenn sich das Establishment an den kleinen Leuten vergreift wie der Adler des griechischen Mythos, der dem angeketteten Prometheus jeden Tag ein Stück von dessen Leber fraß. Somit dominierten erneut Pessimismus, Empörung und Hoffnungslo- sigkeit dieses Gedicht. Enzensberger kann und will seine Wut und seine Ver- zweiflung über die Lage der Welt und der Bundesrepublik im Besonderen nicht in sich hineinfressen, ist sich aber schmerzlich bewusst, dass sein Ruf ungehört verhallt. Sein Zielpublikum weigert sich nämlich beharrlich, aus seiner wohligen Ignoranz, seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu er- wachen und die Augen für die wahren Probleme der Gesellschaft zu öffnen.

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4 blindenschrift

Im Jahr 1964 erschien unter dem Titel Blindenschrift Enzensbergers dritter Gedichtband. Seit „landessprache“ waren nur wenige Jahre vergangen, doch im Vergleich zu dem vorangegangenen Band hat sich der Ton des Autors ge- wandelt. Enzensberger verbrachte längere Zeit in Norwegen, eine Phase, die man als selbstgewähltes Exil bezeichnen kann, neben der Abschottung von der Heimat aber auch zu einer gewissen Beruhigung des Autors beigetragen hat. Die politische Botschaft und die Weltsicht Enzensbergers hat sich nicht geändert, doch ist er nicht mehr der angry young man, der seine Wut und seine Verzweiflung in die Welt hinausschreit. „abendnachrichten“, „zweifel“ und „countdown“ illustrieren diese Veränderung. „abendnachrichten“ be- schreibt entsetzt und bedrückt, wie in weiter Ferne Massaker, Kriege und schwerste Verbrechen begangen werden, während der westliche Medienkon- sument in seinem Luxus davon lediglich in den Radio-Nachrichten zu hören bekommt. „zweifel“ ist ein Schlüssel zum Selbstverständnis Enzensbergers in jenen Jahren. Er weiß, dass er seine Mission einer nonkonformistischen Weltveränderung nicht erreichen wird, gleichzeitig möchte er seinen zahlrei- chen Kritikern nicht den Gefallen tun, sich umzubringen. „countdown“ schließlich ist ein Warngedicht der ruhigen und reflektierenden Art. Enzens- berger entzieht sich dem propagandistischen Gebrüll des Kalten Krieges und verzichtet bewusst darauf, eigene ideologische Botschaften in die Welt zu tragen. Ihm geht es hier nicht um die Benennung von Schuldigen, sondern lediglich darum, innezuhalten und zu bedenken zu geben, wie einfach es ist, die Welt in einem nuklearen Holocaust untergehen zu lassen, der in Sekun- den all das vernichten kann, was unzählige Generationen im Lauf der Welt- geschichte aufgebaut haben. In der literaturwissenschaftlichen Debatte um „blindenschrift“ wurde heftig diskutiert, inwieweit Brecht und Benn auf Enzensberger gewirkt ha- ben. Der Autor selbst wies derartige Vermutungen zurück. Was sich jedoch

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ohne jeden Zweifel sagen lässt, ist, dass Enzensberger mit seinem neuen Gedichtband reifer, „erwachsener“ geworden ist. 88

4.1 abendnachrichten

massaker um eine handvoll reis, höre ich, für jeden an jedem tag eine handvoll reis: trommelfeuer auf dünnen hütten, undeutlich höre ich es, beim abendessen.

auf den glasierten ziegeln höre ich reiskörner tanzen, eine handvoll, beim abendessen, reiskörner auf meinem dach: den ersten märzregen, deutlich. 89

Immer wieder tauchte ein Ich auf und dieses Ich ist dem Autor sehr nahe, aber er ist doch nicht gleichzusetzen mit diesem Ich. Das Gedicht weist zahl- reiche Parallelen zum Leben Enzensbergers auf, der gewissermaßen freiwillig ins Exil gegangen ist. Er fürchtete wie viele Intellektuelle der 50er und 60er Jahre die Gefahr eines Weltkrieges, die Gefahr eines neuen Faschismus in Deutschland und deshalb ging er freiwillig fort. Von 1961-1964 hat er in Norwegen gelebt. Das hat auch auf die Lyrik abgefärbt, genauso wie Swend- borg auf Brecht abgefärbt hat. Die natürliche Umgebung bringt häusliche Elemente in die Poesie. Es kommt ein neuer Tonfall in die Lyrik, genauso wie bei Brecht. Es ist anzunehmen, dass Enzensberger bewusst eine Parallele gezogen hat:

88 Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie II, S. 440. 89 Hans Magnus Enzensberger: blindenschrift. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 11. 76

Was hier entsteht ist ohne zweifel ein politisches Gedicht. Aber was ist da- mit gesagt? Man kann sich fragen, ob ein Gedicht möglich ist, das politisch wäre und sonst nichts. Vermutlich ginge es an seinen propagandistischen Absicht zugrunde. Ich glaube, und unser Beispiel scheint mir recht zu ge- ben, daß die politische Poesie ihr Ziel verfehlt, wenn sie es direkt ansteuert. Die Politik muß gleichsam durch die Ritzen zwischen den Worten eindrin- gen, hinter dem Rücken des Autors, von selbst. Der gegenwärtige Text legt diese Vermutung nahe. 90

Eine Passage, die auch wichtig für die Charakterisierung dieses Autors ist. Der zweite Punkt, der hier hineinspielt, ist wohl auch - speziell was Enzens- berger angeht, diese Absicht, polysemisch, vieldeutig-undeutlich, vernetzt zu sprechen, um sich dann eben nicht festlegen zu lassen. Einmal ist es über- haupt die Logik der Poesie, nicht zu Werbung zu geraten und nicht zu direk- ter Politik, zu Propaganda zu werden. Und zweitens ist es für Enzensberger offenbar so, dass er gern mit dieser Vieldeutigkeit spielt und Eindeutigkeit verabscheut. Enzensberger steht dem lyrischen Ich sehr nahe, zur damaligen Zeit bewohnte er tatsächlich in Tjöme ein einsames Haus. Der politische Aspekt des Gedichts fällt weniger schrill aus als in den ersten zwei Lyrikbänden mit ihrer aggressiven, wortreichen Rhetorik des angry young man. „Abendnachrichten“ besteht aus zwei Teilen, die parallel gearbeitet sind, um zwei Haltungen einander gegenüberzustellen. Man sieht die Paral- lelen „reis, reiskörner, eine hand voll, eine hand voll, abendessen, abendes- sen“ und halb parallel, halb antithetisch „undeutlich, deutlich“ in der zwei- ten Strophe. Was hört der Rundfunkempfänger? Er hört, dass es Massaker gibt um eine Handvoll Reis, darum, dass jedem Einzelnen wenigstens eine Handvoll Reis zur Verfügung stehen soll. Der Nachrichtenhörer hört das un- deutlich. Einmal kann man annehmen, dass das, was da geschildert wird, fern liegt. Der Empfang in der Ferne ist nicht sehr gut, der Empfang auf der einsamen Insel in Tjöme ist nicht zufriedenstellend, oder aber: Der Hörer ist selber gar nicht so interessiert daran, all das deutlich zu hören. Weshalb

90 Hans Magnus Enzensberger: Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts. Nachwort von Werner Weber. Frankfurt am Main. Suhrkamp 1962, S. 74-75. 77

nicht? Ihn interessiert mehr der erste Märzregen, von dem dann die zweite Strophe spricht. Das ist die idyllische Strophe, in der der erste Märzregen mit Reiskörnern verglichen wird, das Geräusch dieser Tropfen Reiskörner ist ein poetischer Vergleich. Und mit diesem Vergleich „trockener Reis“, „Regen“, „Reis“ stellt er die Beziehung zu den Reiskörnern her, um die in der ersten Strophe gekämpft wird. Nun hört er es deutlich, einmal, weil ihm das idylli- sche Bild näher steht und zweitens vielleicht auch deshalb, weil er aufgrund seiner positiven Assoziationen dem Gehörten mehr Aufmerksamkeit schenkt, während er von den bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen nur ungern hört. Es handelt sich offensichtlich um das Ich eines Bürgers oder Klein- bürgers, dem die eigene Haut näher ist als die fremde, dem das angenehme Leben wichtiger ist als der Krieg in der Ferne, der offenbar ein reichliches Abendessen genießen kann, während die anderen, von denen er hört, nicht einmal eine Handvoll Reis, eine Mahlzeit pro Tag erhalten. Wir wissen aber aus anderen Gedichten, dass Enzensberger die Kleinbürger und die Wohlstandsbürger massiv attackiert hat. Das sind die „dummen Lämmer“, die Mitläufer, die sich von den Wölfen ausbeuten lassen. Also stimmt das mit dem biografischen Ich nicht ganz. Der Kritiker der Kleinbürger schlüpft jetzt selbst in dessen Rolle und kritisiert indirekt die Passivität, das Desinteresse dieses Ichs, das hier zur Sprache kommt. Da klaffen das empirische und das lyrische Ich des Autors auseinander. Und doch hat diese Rolle, diese Maske etwas von dem Autor, ein wenig Selbstkritik schwingt auch mit. Das Ich hat zwei Gesichter. Es hat das Gesicht des empirischen Autors und es hat das Gesicht des lyrischen Ich, dass im diesem Fall eine Maske aufsetzt und seine Rolle spielt. Welche Massaker wohl in diesen „abendnachrichten“ gemeint sind? Entstanden sind sie 1963, im darauffolgenden Jahr wurden sie gedruckt. Da eskalierte der Vietnamkrieg. Aber natürlich gab es in der dritten Welt zahllo- se andere Auseinandersetzungen, etwa den Koreakrieg, Stellvertreterkriege zwischen Ost und West und Kolonialisten gegen Kolonisierte oder umge- kehrt. Und zur gleichen Zeit waren in Afrika zahllose Befreiungsbewegungen aktiv. Eine wichtige war diejenige im Kongo, die 1960 zur Unabhängigkeit 78

geführt hat. Die Kolonialheere waren die der Franzosen, der Portugiesen, der Spanier, später der Engländer, der Deutschen. Am Schluss stand sets ein Sieg der Befreiungsbewegungen. Das Gedicht ist in diesem Kontext zu se- hen, wenn auch der konkrete Kriegsschauplatz im Dunkeln bleibt, genauso wie im Text „an alle fernsprechteilnehmer“. Das ist poetologische oder auch politische Absicht. Enzensberger muss sich auch gar nicht festlegen, weil seiner Meinung nach sowieso alles zusammenhängt und eine Vielzahl an Faktoren am Werk ist. Also Unbestimmtheit, Vieldeutigkeit, das beabsichtigt auch Enzensberger als Poet und als Kritiker der Politik seiner Zeit.

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4.2 zweifel

bleibt es, im großen und ganzen, unetschieden auf immer und immer, das zeitliche spiel mit den weißen und schwarzen würfeln? bleibt es dabei: wenig verlorene sieger, viele verlorene verlierer?

ja, sagen meine feinde.

ich sage: fast alles, was ich sehe, könnte anders sein. Aber um welchen preis? die spuren des fortschritts sind blutig. sind es die spuren des fortschritts? meine wünsche sind einfach. Einfach unerfüllbar?

ja, sagen meine feinde.

die sekretärinnen sind am leben. die müllkutscher wissen von nichts. die forscher gehen ihren forschungen nach. die esser essen. gut so.

indessen frage ich mich: ist morgen auch noch ein tag? ist dies bett eine bahre? hat einer recht, oder nicht?

ist es erlaubt, auch an den zweifeln zu zweifeln? nein, euern ratschlag, mich auf aufzuhängen, so gut er gemeint ist, ich werde ihn nicht befolgen. morgen ist auch noch ein tag (wirklich), die augen aufzuschlagen und zu erblicken: etwas gutes, zu sagen: ich habe unrecht behalten.

süßer tag, an dem das selbstverständliche sich von selber versteht, im großen und ganzen! was für ein triumph, kassandra, eine zukunft zu schmecken, die dich widerlegte! etwas neues, das gut wäre. (das gute alte kennen wir schon …)

ich höre aufmerksam meinen feinden zu. wer sind meine feinde? die schwarzen nennen mich weiß, die weißen nennen mich schwarz. das höre ich gern. es könnte bedeuten: ich bin auf dem richtigen weg.

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(gibt es einen richtigen weg?)

ich beklage mich nicht. ich beklage die, denen mein zweifel gleichgültig ist. die haben andere sorgen.

meine feinde setzen mich in erstaunen. sie meinen es gut mit mir. dem wäre alles verziehen, der sich abfände mit sich und mit ihnen.

ein wenig vergeßlichkeit macht schon beliebt. ein einziges amen, gelichgültig auf welches credo, und ich säße gemütlich bei ihnen und könnte das zeitliche segnen, mich aufhängen, im großen und ganzen, getrost, und versöhnt, ohne zweifel, mit aller welt. 91

In den sechziger Jahren erlebten die Ideologien erneut einen großen Auf- schwung. Selten war auch in der Jugendkultur, im Engagement der Studen- tenbewegung etc. jeder Lebensbereich so stark vom Politischen durchdrun- gen. Eine Folge dieser Politisierung und auch des Kalten Kriegs war einer- seits, dass im Diskurs das Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien stark vertre- ten war, und zwar sowohl im Linken wie auch im rechten politischen Spekt- rum. Andererseits begann unter den Skeptikern der Relativismus zu erstar- ken. Wenn sich die beiden Seiten des ideologischen Grabens, links und rechts, Ost und West, so vehement und unerbittlich bekämpfen, kann es dann nicht sein, dass weder die einen, noch die anderen recht haben? Was wäre, wenn es „richtig“ und „falsch“ gar nicht gibt? Enzensberger war trotz seiner Gedichte aus dem Blickwinkel eines angry young man ein viel zu versierter Intellektueller, um sich blind in den ideologischen Diskurs einer Seite zu verrennen. Dennoch glaubte er an Idea- le, die er im Gedicht „Zweifel“ sowohl gegen die Ideologen als auch gegen die Skeptiker verteidigt.

91 Hans Magnus Enzensberger: blindenschrift. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 37- 39. 81

Die „Feinde“ der ersten Strophe, die Gut und Böse, Richtig und Falsch weni- ger als moralischen Imperativ, als als historisch notwendige, unabänderliche Komponenten verstehen, an denen man nichts ändern kann, distanzieren sich von gesellschaftlichem Engagement. Enzensberger will sich mit dieser fatalistischen Sichtweise nicht abfin- den, ist sich aber gleichzeitig der Gefahren bewusst, die der Fortschritt, der Kampf für eine bessere Welt mit sich bringt. Der Weg zur „perfekten Gesell- schaft“ ist mit Millionen Leichen gepflastert. Ist es das wert? Den Autor pla- gen Zweifel, ob seine grundsätzlich so einfachen Vorstellungen eines besse- ren, gerechteren Miteinanders überhaupt realisierbar sind. Sekretärinnen, Müllkutscher, Forscher – sie alle leben eine einfache, geradlinig aufgebaute Existenz: Arbeit und Feierabend, essen und schlafen. Damit sind sie weit von der Entfaltung ihres eigentlichen Potenzials entfernt, aber die meisten sind mit ihrem „Durchschnittsglück“ ganz zufrieden. Soll man sich damit zufrieden geben oder ist es nicht die Natur, das Schicksal des Menschen, stets nach Höherem zu streben? Der Volksmund sagt „Morgen ist auch noch ein Tag!“ Enzensberger ist sich dessen nicht sicher. Stillstand trägt bereits den Kern des Verfalls in sich. Daher die Frage, ob „dieses Bett eine Bahre“ ist. Obwohl das Gedicht „Zweifel“ heißt, hat der Autor seinen Glauben noch nicht vollständig verloren. Er zweifelt auch an den Zweiflern und sehnt sich nach dem Tag, an dem die Kassandra-Rufe, die ewigen Propheten des Unglücks, widerlegt werden, an dem sich erweist, dass auch Utopien mög- lich sind. Daher will Enzensberger auch den – ironisch als „gut gemeint“ be- titelten Rat seiner Gegner nicht befolgen, sich das Leben zu nehmen. Wer sind seine Feinde? Zu Beginn des Gedichts waren es die Skepti- ker, die Zweifler, jetzt deutet er an, dass er sich mit keiner Seite des ideologi- schen Grabens identifiziert und daher von beiden Anfeindungen erfährt. Daraus bezieht er – zumindest behauptet er dies – auch Selbstbestätigung, da ihm dies beweist, dass er sich in keine der beiden Extrempositionen ver- rannt haben kann. Enzensberger beharrt bei allen Zweifeln darauf, weiter Ideale zu ha- ben. Er könnte sich der Anerkennung eines gewichtigen Teils der Öffentlich- 82

keit und der Medien gewiss sein, würde er nur auf eine vorgegebene Linie einschwenken, ein Credo – egal, welches – herunterbeten und seinen Non- konformismus aufgeben. Doch genau das hat er nicht vor. Er bemitleidet stattdessen diejenigen, die ihre Ideale verloren und sich mit dem status quo abgefunden haben. Doch das wäre Enzensberger zu einfach. Dann, so sein Resümee, würden ihm zwar alle Zweifel und emotionalen Torturen erspart, doch dann wäre sein Leben tatsächlich sinnlos und er könnte sich aufhän- gen.

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4.3 countdown

hundet klafter tief in der erde hundert faden fief im meer zählt jener dort unsre sekunden von zehn bis null.

meine pfeife brennt eine halbe stunde wenn sie nicht ausgeht. mein kopf ist noch gut für ungefähr dreißig jahre. der nagel den ich in die wand schlage hält doppelt so lang. was ich hier schreibe vergilbt wenn es nicht feuer fängt ungelesen, vielleicht erst in sehr fernen zeiten. die steinerne schwelle verwittert nicht leicht.

länger als alles (abgesehen vom meer, von der erde, vom moos und gewissen himmelserscheinungen) am längsten dauert der mensch:

solang bis jener dort in der tiefe unsre sekunden gezählt hat von zehn bis null.

Das Gedicht „countdown“ kontextualisiert die Atomtests des Kalten Kriegs innerhalb der Zeitspannen, die ein menschliches Leben definieren. „hundert klafter tief in der erde; hundert faden tief im meer“ bezeichnet die Orte, an denen die Atombomben gezündet wurden. Die Tests fanden zuerst oberir- disch statt, wurden dann aber zur Reduktion des strahlenden Fallouts unter Wasser und unter die Erde verlegt. Selbst diese „Verbesserung“ vermag Enzensbergers Sicht auf das Thema Nuklearwaffen nicht zu mildern. Der Countdown zählt zwar die Sekunden 84

bis zur Explosion des Sprengkopfes, der Autor schreibt aber, dass „unsre sekunden“ von zehn bis null gezählt werden. In der zweiten Strophe setzt er die Sekunden bis zur Detonation in ein zeitliches Verhältnis zu denjenigen Fristen, die da menschliche Leben domi- nieren bzw. determinieren. „meine pfeife brennt eine halbe stunde, wenn sie nicht ausgeht“. Seine eigene Lebenszeit – im Gedicht gleichgesetzt mit der „Haltbarkeit“ seines Kopfes, schätzt Enzensberger auf noch etwa dreißig Jahre. Handfeste Schöpfungen der Menschen, Nägel in der Wand, Häuser etc. halten gar doppelt so lange und wirken über die begrenzte Lebensspan- ne des Menschen hinaus. Noch weiter in die Zukunft vermag da Schaffen des menschlichen Geistes zu reichen. Die Zeilen des Autors, sofern sie nicht Feuer fangen, sei es in einem Bibliotheksbrand oder im Hitzeblitz des nukle- aren Holocausts, können, wenn auch auf vergilbtem Papier, Jahrhunderte überdauern. Noch dauerhafter sind lediglich die Steine, die sich der Mensch Unter- tan gemacht hat. Die steinerne Schwelle des Hauses könnte Archäologen auch noch in Jahrtausenden Auskunft über das Leben in der – dann längst verloschenen – Zivilisation des 20. Jahrhunderts geben. „am längsten dauert der mensch“ bezieht sich also nicht auf die physische Lebenszeit von Geburt bis zum Tod, sondern auf die jene Jahrzehnte überdauernden Werke, deren Effekt auf die Zukunft nur von der ewigen Natur in den Schatten gestellt werden kann. Ein optimistischer Ausblick auf die Unsterblichkeit menschlichen Schaffens? Nein. Denn über jenen Gaben der handwerklichen und geistigen Kreativität des Menschen hängt das Damoklesschwert des Countdowns. Den Vierten Weltkrieg, so Einstein, würde die Menschheit wieder mit Stöcken und Steinen kämpfen 92 . Genau das befürchtet Enzensberger: All das Werk von Jahrtausenden, von unzähligen Kulturen, Völkern, Generationen voll Fleiß und Hoffnung, können in wenigen Momenten ausgelöscht werden. Noch sind es Atomtests, deren Sekunden unerbittlich bis null verrinnen, aber wofür wird den geprobt, wenn nicht für den Ernstfall? Die letzten bei-

92 Zitate zu Albert Einstein. Zum Krieg und der Atombombe. Online im Internet: URL: http://oliver-faulhaber.de/ [Stand 2010-10-22]. 85

den Zeilen der letzten Strophe schließen den Kreis zur ersten Strophe, keh- ren zurück zum bedeutungsschweren Warnruf „bis jener dort in der tiefe, unsre Sekunden gezählt hat, von zehn bis null.“ Im Vergleich zum angry young man früherer Gedichte ist „Countdown“ von Furcht und Resignation bestimmt. Die Zeilen sind weder ein polemischer Weckruf an die Unterschichten wie „Verteidigung der Wölfe“ noch werden die Urheber der Gefahr direkt gebrandmarkt. Enzensberger geht es nicht darum, die Schuld entweder auf Washington oder den Kreml zu schieben, klassen- immanente Kräfte für den drohenden Untergang der Menschheit verantwort- lich zu machen. Das Gedicht ist vielmehr durch Nachdenklichkeit bestimmt. Der unendliche Reichtum der Welt, das Potenzial ihrer Menschen, das Erbe von Generationen, all das steht auf dem Spiel, weil eine abstrakt- unheimliche Stimme es kaum erwarten kann, die Sekunden bis zum nächs- ten nuklearen Feuerball herunterzuzählen. Gerade indem Enzensberger Hintergründe, Urheber und Ursachen dieser Bedrohung verschweigt, entlarvt er die Absurdität des Rüstungs- wahns. Das Publikum in Ost und West wurde bereits seit zwei Jahrzehnten darauf eingeschworen, dass „die Verteidigung der freien Welt gegen die Rote Gefahr“ oder „die Verteidigung des Sozialismus vor den imperialistisch- faschistischen Ausbeutern des Kapitalismus“ Besitz und womöglich den Ein- satz der ultimativen Vernichtungswaffe notwendig machen könnten. Doch darum geht es hier gar nicht. Keine ideologischen Floskeln, keine Propagan- da, einfach nur ein nüchterner Vergleich zwischen dem, was ein Menschen- leben bedeutet, was ein Mensch schaffen und hinterlassen kann, und wie wenig es bedarf, um all dies in einer nuklearen Apokalypse für immer zu vernichten.

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5 Zusammenfassung

Hans Magnus Enzensberger steht mit seiner politischen Lyrik stellvertretend für die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik Deutschland. Die Themen je- ner Zeit waren auch die Enzensbergers, in einigen Aspekten war er seiner Zeit jedoch weit voraus. Enzensberger wurde im Jahr 1929 geboren und erlebte in seiner Kindheit und Jugend die Schrecken des Nationalsozialismus sowie des Zwei- ten Weltkriegs. Anders als für die Vertreter der Trümmerliteratur wurden diese Eindrücke nicht zum bestimmenden, ja einzigen Thema seines Schaf- fens, sondern zum Ausgangspunkt seiner politischen Lyrik. Nach der Apoka- lypse des Kriegs gab die Lage in Westdeutschland Hoffnung, zumindest an der Oberfläche. Der Wachstumsmotor lief, nach Jahren von Armut und Ent- behrung erreichten Millionen Deutsche zum ersten Mal einen bescheidenen Wohlstand. Doch über dieser scheinbaren Idylle hing das Damoklesschwert eines erneuten Weltkriegs und – zum ersten Mal in der Geschichte – die reale Möglichkeit, dass sich die Menschheit selbst vernichten könnte. Die Jahre des Kalten Kriegs und der deutschen Teilung waren zutiefst politisch. Auch Enzensberger erfuhr dadurch seine politische Sozialisierung. Mit der Linken verband ihn das Bewusstsein von den Gefahren, die die da- mals noch fehlende Aufarbeitung des Nationalsozialismus sowie die autoritä- ren Strukturen in Politik, Wirtschaft und Medienlandschaft mit sich brach- ten. Was Enzensberger von der Linken dagegen trennte, war seine Skepsis gegenüber einfachen Rezepten zur Schaffung einer besseren Welt. Sein ers- ter Gedichtband „verteidigung der wölfe“ strahlt Wut, Verzweiflung und Ra- dikalismus aus, ist aggressiv, provoziert. Trotzdem sinkt Enzensberger nie auf das Niveau der Agitprop, sondern seine Empörung über die Verkom- menheit der Gesellschaft weckt in ihm kreatives Potenzial. Er fordert nicht

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nur die Massen auf, aus der Enge der Konsumgesellschaft mit ihren Almo- sen der Reichen an die Arbeiterschaft auszubrechen. Der Dichter sprengt auch selbst die Grenzen des Üblichen, indem er traditionelle Versstrukturen missachtet, das Mittel der Entstellung zur Schöpfung einer neuen Sprache gebraucht und eine Bildersprache verwendet, die das Erwartete und Ge- wohnte hinter sich lässt. Dadurch wird Enzensberger zu einem der bedeu- tendsten Erneuerer der deutschsprachigen Dichtung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch auch sein jugendlicher Elan, seine aufgestaute Wut nehmen im Laufe der Jahre ab. Die in dieser Arbeit analysierten Texte stammen aus drei Gedichtsammlungen und illustrieren, wie sich Enzensberger vom empörten Radikalen, vom angry young man langsam zu einem reflektierenderen Mah- ner entwickelt, wenn sein aggressiver Grundton auch nicht verschwindet, sondern sich nur etwas mäßigt. „verteidigung der wölfe“ ist ein poetischer Wutschrei, „blindenschrift“ dagegen eine vorsichtigere Warnung an seine Le- ser vor dem, was über die scheinbare Idylle des Wirtschaftswunders herein- brechen kann, wenn die Menschen nicht wachsam sind. Im August 2010 kritisierte ein weiterer der ganz großen Schriftsteller jener Generation, nämlich Günther Grass, die heutigen Literaten dafür, dass sie zu wenig politisch seien. 93 In der Tat ist das Ausmaß der politischen Po- larisierung und des politischen Engagements der fünfziger und vor allem der sechziger Jahre heute kaum noch nachzuvollziehen. Enzensberger hat in gewisser Weise ein schweres Schicksal erlitten. Er, der eigentlich mit seinen Gedichten die Menschen aufrütteln wollte und einen Beitrag zur Verände- rung der Gesellschaft leisten wollte, ist zum literarischen Klassiker gewor- den, zu einem Teil des Bildungskanons des von ihm früher so verachteten Großbürgertums. Bleibt er einer breiteren Öffentlichkeit zumindest als Mah- ner, als moralische Autorität und „Gewissen der Nation“ in Erinnerung? Eine aktuelle Umfrage des Wochenmagazins „Der Spiegel“ verneint auch das. Nur

93 Günter Grass: Günter Grass hält jüngere Schriftsteller für zu unpolitisch. „Sollten nicht die Fehler der Weimarer Republik wiederholen“ – Vorerst keine Freigabe seiner Werke für elektronische Lesegeräte. Und Online im Internet: URL: http://derstandard.at/1281829267678/Guenter-Grass-haelt-juengere-Schriftsteller-fuer- zu-unpolitisch [Stand 2010-08-16]. 88

8% der Befragten nannten bei Persönlichkeiten mit moralischer Autorität Enzensbergers Namen. Zum Vergleich: Der TV-Moderator und Entertainer Stefan Raab, eine der Personifizierungen der „Spaßgesellschaft“, kam in der- selben Umfrage auf 20%. 94 Mit anderen Worten: Auch Enzensbergers Werk hat an Aktualität ein- gebüßt. Ein nuklearer Krieg scheint heute nur noch eine entfernte Gefahr, die heutige Jugend lernt über den Ost-West-Konflikt nur noch aus Ge- schichtsbüchern und auch das nachlassende Interesse für Politik im allge- meinen macht es jungen Menschen von heute schwer, sich in die Texte En- zensbergers hineinzuversetzen. Was bleibt, ist einerseits die sprachliche In- novation, die die Lektüre heute noch erfrischend macht, sowie die Notwen- digkeit, die eigene Gegenwart kritisch zu hinterfragen, Kritik zu üben und unbequeme Gedanken nicht zu verdrängen.

94 SPIEGEL-Umfrage. Das Helmut-Schmidt-Phänomen. Deutsches Gewissen. „Wer ist eine moralische Instanz für Deutschland?“ Und Online im Internet: URL: http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-58504-7.html [2010-08-24]. 89

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