M e i s t e r k o n z e r t

Sonntag, 4. Mai 2014, 18.00 Uhr, Fiskina Fischen Hungarian Chamber Orchestra Sasha Rozhdestvensky Violine Programm:

Johann Sebastian Bach Violinkonzert E-Dur, BWV 1042 (ca 1738) Bartholdy Sinfonie für Streicher Nr. 3, e-moll (1821) Violinkonzert d-moll (1822) Peter Iljitsch Tschaikowsky Souvenir de Florence, d-moll, op.70 (1890/1892)

53 Große Geiger, wie oder der legendäre Ivry In der aktuellen Saison wird Sasha Rozhdestvensky u.a. in Gitlis, äußerten sich enthusiastisch über den russischen München, bei den Festspielen `Europäische Wochen Passau’ Geigenvirtuosen Sasha Rozdestwensky. Voll des Lobes und dem Mondsee-Festival auftreten. würdigten sie seine Musikalität sowie sein intelligentes und sensibles Spiel. Aufnahmen mit Schostakowitschs 1. Violinkonzert und dem Wir hörten ihn erstmals 2010 mit dem Ensemble Ambar. Violinkonzert von Alexander Glazunov wurden von ihm mit Zusammen mit drei kolumbianischen Musikern spielte er der State Symphony Capella of Russia unter Leitung von Gen- damals mitreißende lateinamerikanische Musik in der Fiskina. nady Rozhdestvensky eingespielt. Zahlreiche weitere Aufnah- men für die Plattenfirmen Thesis und Chandos liegen vor, u.a. Sasha Rozhdestvensky studierte am Moskauer und am Pariser mit der Königlichen Stockholmer Philharmonie das Concerto Konservatorium sowie am Royal College of Music in London. Grosso Nr. 6, das für ihn und die Pianistin Inzwischen trat er mit international führenden Orchestern auf, Viktoria Postnikowa komponiert hat. Der Künstler engagiert wie Boston Symphony Orchestra, Yomiuri Nippon Symphony sich für zeitgenössische Musik und pflegt den Kontakt zu be- Orchestra, Israel Philharmonic Orchestra, Orchestre Philhar- deutenden Komponisten wie Sofia Gubaidulina und Giya monique de Radio France, Residenzorchester Den Haag, Lon- Kancheli. don Symphony Orchestra, Tonhalle Orchester Zürich, Filarmonica della Scala und Chamber Orchestra of Europe. In Zuletzt erschienen sämtliche Werke für Violine und Klavier Deutschland konzertierte er u.a. mit dem Orchester der Bay- (Josiane Marfurt) von Tschaikowsky bei Delos. Das Musik- erischen Staatsoper, den Bamberger Symphonikern, dem magazin crescendo urteilte: Diese Aufnahme sollte in keinem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, der Dresdner Philhar- tschaikowskyphilen Plattenschrank fehlen.“ Des weiteren er- monie, den Nürnberger Philharmonikern und mit dem Sin- schienen bei PragaDigitals sämtliche Werke von Ravel. fonieorchester Wuppertal. Jüngste Engagements führten ihn Roszdestvensky spielt mehrere Violinen, darunter eine Guaneri u.a. zum Sydney Symphony Orchestra unter Vladimir Ashke- del Gesu und eine Stradivari, eine Leihgabe der Stradivari- nazy mit Schostakowitschs 1. Violinkonzert und zum Singa- Gesellschaft, zu deren Sonderbeauftragtem er jüngst ernannt pore Symphony Orchestra. Sasha Rozhdestvensky musizierte wurde. mit Dirigenten wie Yuri Bashmet, Jean Claude Casadesus, Valery Gergiev, Jansug Kakhidze, Gabriel Chmura, Louis Lan- Das im Oktober 2011 gegründete Ungarische Kammerorchester grée, George Pehlivanyan, Gennadi Rozhdestvensky und setzt sich aus den renommiertesten Musikerinnen und Musik- Vladimir Spivakov. Zu seinen Kammermusikpartnern zählen ern der jungen Generation Ungarns zusammen. Sie sehen ihre u.a. Gary Hoffman, Steven Isserlis, Christian Ivaldi, Josiane Aufgabe in der Pflege der ungarischen Streichertradition und Marfurt, Viktoria Postnikova und Michael Rudy. der Verbreitung der ungarischen Musik im In- wie im Ausland. Zahlreiche seiner Mitglieder geben bereits heute ihre Sasha Rozhdestvensky gastierte bei Festivals wie BBC Proms, Fähigkeiten und ihr Wissen durch Dozententätigkeiten an un- Tanglewood, Lockenhaus, Ravinia, Flanders, Gstaad, Istanbul, terschiedlichen Konservatorien und Musikuniversitäten weiter. Florida, La Coruña, Montreux sowie beim Schleswig-Holstein Gründer und Mitglied des Orchesters ist Béla Bánfalvi, der u.a. Musik Festival und wiederholt beim Rheingau Musik Festival. langjähriges Mitglied im international renommierten Bartók Er musizierte auf bedeutenden Konzertpodien wie der Carnegie Streichquartett war. Hall, der Royal Albert Hall, der Barbican und der Royal Festi- Der uns bereits bestens bekannte Kristóf Baráti, Preisträger des val Hall in London, des Concertgebouw Amsterdam, der internationalen `Paganini Wettbewerbs’ in Moskau und des Berliner Philharmonie, der Suntory Hall Tokyo, der Salle Queen-Elisabeth-Wettbewerbs in Brüssel, versteht sich als kün- Pleyel, der Salle Gaveau und des Theatre du Chatelet Paris, des stlerischer Leiter des Orchesters. Als herausragender Solist Mann Auditorium Tel-Aviv und an der Mailänder Scala. konzertiert er neben seinen zahlreichen internationalen

54 Auftritten immer wieder zusammen mit dem Ungarischen Kammerorchester und verleiht diesem Orchester eine beson- dere Note. Aufgrund seiner erstklassigen Qualität folgte das Ungarische Kammerorchester bereits kurze Zeit nach seiner Gründung zahlreichen Einladungen in das In- und Ausland. Es spielte in der Béla Bartók National Concert Hall in Budapest, in der Is Sanat Hall in Istanbul, im KKL in Luzern, und im Mai 2014 unternimmt das Orchester eine große Deutschland- Tournee, bei der sich Kristóf Baráti und Sasha Rozhdestvensky als Solisten abwechseln.

Zum Programm

Ich freue mich sehr, daß das E-Dur-Violinkonzert von (1685 – 1750), BWV 1042, nach vierzehn Jahren erstmals wieder in unserer Konzertreihe erklingt. Die Violinkonzerte entstanden, wie der größte Teil seiner In- strumentalsmusik, in den Jahren 1715-17 in Köthen. Bach kam nie nach Italien, aber durch genaues Studium der Konzerte von Antonio Vivaldi eignete er sich den italienischen Concerto-Typus an. Dieser zeichnet sich durch strenge Sym- metrie zwischen dem Orchester-Tutti und den Concertino-Ab- schnitten des Soloinstruments aus. Aber Bach beschränkte sich natürlich nicht auf das Formale und Virtuose, sondern schuf durch die Verflechtung der thematischen Gegensätze und durch seine motivische Erfindungskraft zeitlose Meisterwerke in dieser Gattung. Zwischen den kraftvollen und tänzerischen Ecksätzen stehen in den Violinkonzerten langsame Sätze, „liedhaft ausschwingend und von überirdischer Ruhe“ ( 1* , S.77). Das Adagio im E-Dur-Violinkonzert ist eine Ciacone, auch Chaconne genannt. Dieser alte italienische oder spanische Tanz in langsamem Dreiviertel- oder Viervierteltakt besteht aus einem `basso ostinato´ von acht Takten mit meist vielen Leider blieben uns von den Violinkonzerten Bachs nur die aus Variationen. Philipp Spitta schreibt in seiner Bach-Biographie dem Nachlaß seines Sohnes Carl Philipp Emanuel erhalten. zu dem langsamen Satz des E-Dur-Konzerts: „Das Bassthema Der `Erbteil´ Friedemann Bachs ging verloren. Immerhin sind wandelt nicht nur frei durch die Tonarten, sondern wird auch uns von den verlorenen Violinkonzerten zumindest drei in taktweise zerlegt und ausgesponnen; oft schweigt es ganz, um Klavierübertragungen erhalten geblieben. dann mit nur wenigen Noten sofort wieder die Überzeugung wach zu rufen, daß in ihm trotz alledem der Schwerpunkt des ganzen Stückes beruht.“(*2, S.799)

55 56 Es folgen im Programm zwei Werke, die Felix Mendelssohn 1820er Jahren.Von 1819 bis 1826 waren Fanny und Felix Bartholdy (1809 – 1847) seinem Jugendfreund Eduard Rietz Mendelssohn Bartholdy Schüler von Carl Zelter. Seit 1819 be- widmete und die sicher im häuslichen Kreis zum ersten Mal suchten die Geschwister die Freitagsmusiken der Berliner Sin- aufgeführt wurden. gakademie, die Zelter leitete. Zunächst sang Felix im Alt und Zunächst hören Sie die dritte Streichersinfonie in e-moll aus ab 1824 im Tenor und lernte so die musikalische Literatur des dem Jahr 1821. Die zwölf Streichersinfonien zählen zu den 17. und 18. Jahrhunderts kennen. Aber auch in der eigenen herausragenden Leistungen Mendelssohns in den frühen Familie wurden die hochbegabten Kinder früh auf die Werke Bachs und seiner Söhne aufmerksam gemacht. „Die Großtante, Sara Levy, war Schülerin von Wilhelm Friedemann Bach. Sie spielte und sammelte Musik von Johann Sebastian Bach und trug damit zur Rezeption seiner Werke in den Berliner Salons des frühen 19.Jahrhunderts bei. Die Großmutter Bella Salomon schenkte dem vierzehnjährigen Felix 1823 oder 1824 eine kopierte Partitur der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach und legte damit den Grundstein für die Aufführung des Werkes 1829.“ (*4, S.1543/I)

Im Theorieunterricht von Carl Friedrich Zelter spielten die Werke von Carl Philipp Emanuel Bach eine große Rolle, denn der Nachlaß des 1788 verstorbenen Bachsohnes mit den weit- gehend noch unpublizierten Sinfonien befand sich zum Teil in der Hand Zelters oder des königlichen Bibliothekars Georg Pölchau. In seiner Mendelssohn-Biographie geht Arnd Richter (*5, S.365 ff.) ausführlich auf diese Einflüsse ein. Demnach griff Zelter zunächst auf die Sammlung der `Geistlichen Lieder’ und `Oden’ Christian Fürchtegott Gellerts zurück, die C.Ph.E. Bach 1757/58 vertont hatte und „ihn schlagartig zu einem der angesehensten Liedkomponisten in Deutschland gemacht hat- ten“. (*5, S.365) Als Abschlußarbeit im vierstimmigen Chorsatz stellte Zelter seinem kleinen Schüler die Aufgabe, einige der Oden Gellerts zu vertonen. Arndt zeigt an Hand der Melodieführung und Tonart auf, „daß C.Ph.E. Bach dabei Pate gestanden hat...auch liegt die Vermutung nicht fern, daß die Sinfonien des Bach-Sohnes Felix Mendelssohns erste Berührung mit sinfonischer Orchesterliteratur dargestellt haben, daß demnach keine Vorgaben Zelters zur Auseinander- setzung mit diesen Werken führten, sondern daß es eine Affinität des jungen Musikers zu dieser Musik gegeben hat, Der Zwölfjährige. Gemälde von Karl Begas, 1821. Ehem. Berlin, Ermeler die umso größer war, als die vorgefundene Besetzung den Re- Haus. alisierungsmöglichkeiten der eigenen, nach diesem Vorbild angefertigten Kompositionen im elterlichen Hause sehr entge- gen kam. Es ist allerdings beileibe nicht allein die Satzstruktur,

57 die das Vorbild der Sinfonien Bachs erkennbar werden läßt. Zum Gedenken an den Jugendfreund schrieb Mendelssohn Auch die Themengestaltung ist sehr ähnlich. Auffällig ist, daß einen langsamen Satz für sein Streichquintett op. 18 und be- Felix Mendelssohn die Kopfsätze seiner Streichersinfonien, zu- dachte die Violinstimme mit sehr hohen exponierten Stellen, mindest was die ersten sechs betrifft, häufig im unisono be- ähnlich dem Streicheroktett, dessen erste Violinstimme Rietz ginnen läßt. Die Themen sind dabei von großer Dynamik immer gespielt hatte. gekennzeichnet, die durch kleingliedrige Rhythmen, extremen Ambitus auf knappem Raum und den raschen Wechsel zwis- In einer Fassung für Streichorchester hören Sie zum Abschluß chen Dreiklangs- und Skalenmelodik entsteht. Exakt diesen des Konzerts noch das Sextett Souvenir de Florence in d-moll, Thementypus findet man auch bei Carl Philipp Emanuel Bach, op. 70 von Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840 – 1893). 1889 wie ein Vergleich der Kopfsatzthemen in Bachs A-Dur- floh Tschaikowky vor den Erpressungsversuchen seiner Frau Flötenkonzert, Wq.168, und der zweiten Streichsinfonie in D- nach Florenz und war diesmal ziemlich enttäuscht von der Dur von Felix Mendelssohn zeigt.“(*5, S.365)

Mit Beginn des Unterrichts bei Zelter im Jahr 1819, fing Felix zur Überraschung seiner Eltern auch noch an, Geige zu spielen. Zunächst unterrichtete ihn ab Mai 1819 der Berliner Hofdiri- gent und Komponist Carl Wilhelm Henning. Schon 1820 folgte als Geigenlehrer Eduard Rietz (1802 – 1832), der ein Schüler Pierre Rodes (Anm. s.a. Text z. Konzert 2) war und den die Mendelssohns schon 1816 kennengelernt hatten. Bald nach Beginn des Unterrichts bei Rietz spielte Felix mit ihm bereits Streichquartette und begann auch sofort Kompositionen für die Geige zu schreiben. Nach kleinen Stücken für Geige und Klavier folgten eine Violinsonate in F-Dur und umfangreichere Kammermusikwerke. 1822 komponierte Mendelssohn das dreisätzige Violinkonzert in d-Moll für den Freund und Lehrer. Eine Besonderheit der Komposition ist der Attacca-Übergang vom zweiten zum dritten Satz. „Von dem Werk existieren zwei autographe Fassungen, deren erste die ersten beiden Sätze überliefert, während die zweite alle drei Sätze beinhaltet.“ (*3, S.123) Die zweite, revidierte Fassung nimmt die Anregungen von Eduard Rietz auf. „Die Handschriften gingen durch einige berühmte Musikerhände: Felix` Witwe Cécile verschenkte 1853 die erste Fassung an den Geiger Ferdinand David; Yehudi Menuhin veröffentlichte 1952 die erste Ausgabe der Komposition und war auch Besitzer des Autographs. 1890 war die zweite Fassung zunächst im Besitz Clara Schumanns, bevor sie in den Berliner Mendelssohn- Nachlass einging.“ (*3, S. 123). Am 3. Februar 1832, an seinem Geburtstag, erfuhr Mendelssohn in Paris vom Tod seines Freundes und Geigen- lehrers Eduard Rietz, der dreißigjährig an Tuberkulose starb.

58 Stadt, die er 1882 zuletzt besucht hatte. Er zog weiter nach hatte, ging er an die Komposition eines Streichsextetts und er- Rom, wo er sich wohlfühlte und innerhalb von vierundvierzig füllte damit ein Versprechen, das er der Petersburger Tagen seine neue Oper Pique Dame zu Papier brachte. Als er Gesellschaft für Kammermusik gegeben hatte. danach im Mai 1890 nach Rußland in sein Landhaus Frol- Zunächst ging die Arbeit nur sehr mühsam voran, da dieses owskoje zurückkehrte, begann er am 13. Juni mit der Arbeit Werk in technischer Hinsicht für Tschaikowski etwas völlig an Souvenir de Florence. Abschließend möchte ich seinen Neues war, obwohl er zuvor auch bereits andere Kammer- Freund Nicolai Kaschkin berichten lassen, der zur Zeit der musikwerke wie seine drei Streichquartette und das Klaviertrio Entstehung des Streichsextetts bei Tschaikowsky auf seinem komponiert hatte. Im Quartett stehen einer Viola und einem Landgut war: Violoncello zwei Violinen gegenüber, im Sextett allerdings der gleichen Zahl Violinen jeweils zwei der anderen Instrumente, „Im Sommer 1890 konnte ich fast zwei Monate hintereinander was zwar einerseits eine Verdichtung der mittleren und tiefen bei Tschaikowsky in Frolowskoje verbringen. Dieser Ort hatte Register ermöglicht, andererseits aber das Gleichgewicht zwis- bereits damals für Peter Iljitsch seinen anfänglichen Reiz ver- chen den höheren und tieferen Stimmen empfindlich stören loren, da die Besitzerin des Waldes diesen zum Holzeinschlag kann. Möglicherweise wäre es mit einem Oktett, d.h. einfach verkauft hatte und man ihn fast vollständig abholzte. Dennoch mit einer Verdopplung des Streichquartetts, für ihn war Frolowskoje seinem Bewohner wegen seiner einsamen leichter gewesen, denn das Verhältnis zwischen den oberen Stille noch lieb und teuer. Er dachte sogar daran, es zu kaufen, und tieferen Stimmen wäre wieder das übliche, d.h. hätte völlig aber das Landgut war allzu groß und es wäre notwendig gewe- dem im Quartett entsprochen. sen, sich um die Feldwirtschaft zu kümmern, was für Peter Iljitsch einfach undenkbar war, so daß er die Träume vom Kauf Ich war zu jener Zeit mit einer ziemlich umfangreichen Über- fahren lassen mußte. setzung beschäftigt und saß in dem Zimmer im oberen Stock- In der ersten Hälfte des Sommers waren außer mir noch werk, das auf den Park hinausgeht, während Peter Iljitsch Tschaikowskis Bruder Modest und Hermann Laroche in Frol- unten arbeitete. Von Zeit zu Zeit drangen vor dem Mittagessen owskoje bei dem Komponisten zu Gast. Da wir uns abends nun fragmentarische, auf dem Klavier nur mit Mühe zu greifende zu viert versammelten, widmeten wir uns nicht nur wie üblich Akkorde zu mir herauf: Das bedeutete, daß der Komponist mit- der Musik, dem Vorlesen und unseren Gesprächen, sondern unter Klangkombinationen überprüfte, die durch kontrapunk- manchmal auch dem Kartenspiel, dem Whist. Peter Iljitsch tische Verflechtungen entstanden waren. spielte gern drei Robber, aber dann ermüdete er in der Regel, Anfangs versprach das Sextett ein sehr schönes Werk zu wer- und wir legten die Karten beiseite. den. Ließ auch das erste Thema noch an irgendetwas in der Im Sommer waren Wald und Park von Pilzen förmlich übersät. Art von Reissiger denken (Anm.: deutscher Kapellmeister und In dieser Zeit sammelte Peter Iljitsch Pilze, anstatt wie gewöhn- Komponist, dessen Kompositionen einem eklektischen klas- lich nur einfach spazierenzugehen, er widmete sich dieser Pilz- sizistisch-romantischen Stil verpflichtet sind), so waren doch jagd sogar mit einer gewissen Leidenschaft und triumphierte, das zweite Thema und die gesamte Durchführung des ersten wenn er fast immer mehr Pilze als ich gefunden hatte... Satzes schon außerordentlich interessant. Als Peter Iljitsch be- Da Peter Iljitsch den Wald gut kannte, wußte er auch um die gann, am Sextett zu arbeiten, klagte er während des Essens oft pilzreicheren Stellen, zeigte sie aber niemandem und fürchtete darüber, wie schwer es ihm fiele, dieser Aufgabe Herr zu wer- sogar, man könne ihn verfolgen, so daß er absichtlich ver- den. Einige Tage später berichtete er, die Sache würde jetzt schiedene Umwege benutzte. besser gehen und sagte dann halb im Scherz, daß man anders In der Mitte des Sommer reisten Modest Iljitsch und Hermann als für Sextett auch kaum noch komponieren könne, - so daß Laroche nach Petersburg ab, und wir blieben beide allein die Aufgabe, für eine solche Instrumentenkombination zu zurück. Nachdem Peter Iljitsch die Arbeiten an der `Pique schreiben, völlig gelöst zu sein schien. Dame’ und die Korrekturen des Klavierauszugs abgeschlossen Doch es sollte sich erweisen, daß sich auch der erfahrendste

59 Musiker hinsichtlich des tatsächlichen Klanges, verglichen mit er schrieb damals an seinen inzwischen auch schon verstor- dem, was er auf dem Papier sieht, irren kann. Der erste Satz benen Bruder Konstantin Albrecht nach Moskau, dem Sextett des Sextetts mit dem zweiten Thema im Charakter einer großen gebühre unter allen Werken dieser Gattung der erste Platz. italienischen Kantilene stellte keine besonderen Danach wurde es still um das Sextett. In der Presse tauchte Schwierigkeiten dar, erinnerte allerdings in seiner Anlage eher nichts darüber auf und von der Aufführung in Petersburg war an ein sinfonisches als an ein kammermusikalisches Werk. In nichts zu erfahren. den folgenden Sätzen wollte der Komponist sich enger an den Als ich in den ersten Dezembertagen zur Premiere der `Pique Kammermusikstil halten und bemühte komplizierte kontra- Dame’ nach Petersburg kam, fragte ich Tschaikowski nach dem punktische Konstruktionen, die jedem Instrument völlige Selb- Schicksal seiner jüngsten Komposition und zu meiner Verwun- ständigkeit und Gleichwertigkeit gegenüber den anderen derung mußte ich von ihm hören, daß sie nichts tauge und gaben. Auf dem Papier und am Klavier konnte man sich über gründlich überarbeitet werden müsse. Es sei eingeräumt, daß diese Verflechtungen nur freuen, so interessant, schlank und der enttäuschte Komponist mit seiner Wortwahl etwas über- schön war das alles gelungen. zogen hatte, doch auf der Probe des Sextetts hatte es sich in Es ist allerdings fast unmöglich, ein solches Sextett allein auf der Tat gezeigt, daß vieles, was uns auf dem Papier beeindruckt dem Klavier zu spielen, und zwar nicht nur, wenn man es aus hatte, in der lebendigen Wiedergabe einfach unterging. der Partitur vom Blatt versucht, sondern es ist auch kaum Die Stimmenüberschneidungen bei Instrumenten mit gleichar- möglich, eine hinreichend befriedigende Übertragung für tiger Klangfarbe machten es unmöglich, der selbständigen Be- Klavier zu Papier zu bringen. Wir versuchten es mit Vier- wegung der Stimmen zu folgen, so daß diese nicht mehr händigspielen, und es ging bis zu einem gewissen Grade, ob- interessant waren und sich teilweise sogar eine unschöne wohl wir nur irgendwie durch die zwei sechsstimmigen Fugen Klangwirkung ergab. Als am meisten mißlungen erwies sich hindurchkamen, die uns übrigens beiden sehr gut gefielen. jene `Fuge mit dem doppelten Thema’, die uns zunächst am Besonders interessant erschien jene Fuge, in der die Instru- besten gefallen hatte – sie mußte völlig weggelassen und durch mente jeweils zu zweit das Thema unisono intonierten, sich einen anderen Satz ersetzt werden. Das Sextett wurde von aber dann sofort in zwei selbständige Stimmen teilten und Tschaikowski grundlegend umgearbeitet und in der jetzt somit das einfache Thema in ein doppeltes verwandelten. Diese gedruckt vorliegenden Fassung erst 1892 fertiggestellt.“ (*6 Fuge schien uns beiden außerordentlich gelungen. S.157ff) Das Sextett wurde schließlich fertig, und der Komponist war damit überaus zufrieden. Aus Vorsicht gab er es jedoch nicht sofort zum Druck, wie das bei ihm manchmal früher der Fall gewesen war, er wollte sein Werk erst einmal in der Wieder- gabe durch jene Instrumente hören, für die er es eigentlich *1: Johann Sebastian Bach: Martin Geck, rororo -Monographie 2004, geschrieben hatte. Das war umso leichter zu bewerkstelligen, *2: Philipp Spitta: Johann Sebastian Bach, *3: R. Larry Todd: Felix Mendelssohn Bartholdy, sein Leben, als Peter Iljitsch ohnehin im Herbst zur Uraufführung seiner seine Musik. Carus Verlag Stuttgart 2008 `Pique Dame’ nach Petersburg reisen mußte. Dort würde es *4: MGG, Personenteil Bd.11, S.1543/I, Felix Mendelssohn Bartholdy ganz einfach sein, eine Aufführung des Sextetts zu organ- *5: Arnd Richter: Mendelssohn – Leben,Werke,Dokumente, isieren. Die völlig fertige Partitur wurde nach Petersburg an Atlantis Musikbuch-Verlag 2000 *6: Nikolai Kaschkin: Meine Erinnerungen an Peter Tschaikowski, den Vorsitzenden der Gesellschaft für Kammermusik, den in- erschienen in Musik konkret 1, Verlag Ernst Kuhn, Berlin 1992 zwischen bereits verstorbenen Jewgeni Albrecht abgesandt, und zwar mit der Bitte, die Stimmen aus der Partitur heraus- schreiben zu lassen und das Sextett bis zur Ankunft des Kom- ponisten in Petersburg einzustudieren. Jewgeni Albrecht versetzte das Werk in helle Begeisterung, und

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