Titel 37 Sekunden Schicksal Was passierte in der Nacht des 14. , in der die „“ zu einem Mythos wurde? Neue Theorien legen nahe, dass eine seltene astronomische Konstellation und ein optischer Effekt zu dem Unglück führten. Von Clemens Höges

„Titanic“-Wrack, U-Boot (Gemälde von Ken Marschall)

58 der spiegel 13/2012 chicksal ist nur ein Wort dafür, dass man nicht weiß, warum etwas pas - Ssiert und wann eigentlich alles bereit ist für die Tragödie. Und natürlich konnte William McMaster Murdoch in jener Nacht vor 100 Jahren nicht wissen, dass sich sogar Mond und Sonne gegen ihn ge - dreht hatten. Der Erste Offizier der „Titanic“ war ein brillanter Nautiker, mit einem kühlen Kopf und einem erstklassigen Auge für Distan - zen, Geschwindigkeiten und Winkel. Am 14. April gegen 23.30 Uhr Bordzeit stand er auf der Brücke, er hatte in diesen Stun - den das Kommando über das gewaltigste Schiff der Welt, über die größte Maschine, die Menschen bis dahin erschaffen hatten: 269 Meter lang und „praktisch unsinkbar“, wie damals Experten schrieben. Die „Titanic“ sollte das berühmteste Schiff aller Zeiten werden, ihre Jungfern - fahrt eine Legende: Mit gut 21 Knoten rauschte sie über den Atlantik, fast Höchstgeschwindigkeit, der Kapitän hatte es so befohlen. Das Licht auf Brücke und Vorschiff war ausgeschaltet, Murdoch starrte nach vorn in die Schwärze der Neumondnacht. Am 4. Januar war der Mond der Erde so nahe gekommen wie seit rund 1400 Jahren nicht mehr. Zudem standen Sonne, Erde und Mond genau in einer Linie. Die Kon - stellation habe die „Gezeitenkraft maxi - miert“, sagt Donald Olson, Professor für Astrophysik an der Texas State University. Normalerweise bleiben viele jener Eis - berge, die im Winter von den Gletschern Grönlands abbrechen, in den flachen Ge - wässern vor Neufundland und Labrador stecken. Auf dem Meeresgrund dort kann man die Furchen erkennen, die sie ziehen. Viele kommen erst wieder frei, wenn sie abschmelzen oder zerbrechen. Aber im Frühjahr 1912, so die Theorie, die Olson und sein Team jetzt in der April- Ausgabe der US-Zeitschrift „Sky & Teles - cope“ publizieren, hoben wohl außeror - dentlich starke Gezeiten auch riesige Bro - cken über die Untiefen. Deshalb hätten mehr und viel größere Eisberge viel wei - ter nach Süden treiben können als sonst. Auf rund 42 Grad nördlicher Breite kreuzten viele in jener Nacht den Kurs, den Murdoch auf der Brücke der „Titanic“ hielt. Das Schicksal ließ ihm dann noch 37 Sekunden. Zu wenig, um die Jahrhun - dertkatastrophe zu verhindern. Wie konnte es so kommen? Die ver - sunkenen Geheimnisse der „Titanic“ fas - zinieren Wissenschaftler seit Jahrzehnten. Aber jetzt lösen die Forscher Stück um Stück jene Rätsel, die noch geblieben wa - ren: Amerikanische Experten haben zum Jahrestag die entscheidenden Minuten rekonstruiert, Metallurgen fanden heraus, L

L dass Rumpfnieten aus zu sprödem Mate - A H C

S rial mit Schuld am Untergang seien. R A M

Die Smithsonian Institu tion in Washing - N E

K ton veröffentlichte vor wenigen Tagen Tei - der spiegel 13/2012 59 Verwundbarer Koloss Längsschnitt durch die „Titanic“

Rettungsboote g S I L L E

X A M

Turbine Dampfmaschinen Kohlebunker

le einer Untersuchung, die etwas gespens - Trotz alledem sind über die „Titanic“ Film der Kino-Geschichte, weltweit neu tisch anmutet: Danach könnte ein seltenes bislang mehr als 3000 Bücher erschienen, anlaufen, diesmal in 3-D-Technik. optisches Phänomen – die sogenannte mindestens zehn Spielfilme gibt es, un - In den USA, England und Irland sind Super-Refraktion – den Eisberg beinahe zählige Dokumentationen. „Titanic“-Ge - Gedenkfeiern geplant, große Kreuzfahrt - unsichtbar gemacht haben. Und das sellschaften in Großbritannien, den USA schiffe werden „Titanic“-Freaks an die amerikanische Meeresforschungsinstitut oder sogar der Schweiz bringen Fachzeit - Stelle des Untergangs bringen. Serviert Woods Hole hat in einer mehrere Millio - schriften heraus. wird abends das letzte Menü, das es in nen Dollar teuren Operation das Wrack Zum Jahrestag werden Fernsehstationen der ersten Klasse gab: Austern, Filet Mi - so präzise vermessen, wie das bislang un - in 86 Ländern eine neue britische Serie gnon, Gänseleberpastete. Und die Firma möglich war. über die „Titanic“ ausstrahlen. Am 5. April Deep Ocean Expeditions will mindestens Denn der Untergang der „Titanic“ be - wird James Camerons Kino-Klassiker „Ti - 80 besonders harte Fans mit U-Booten schäftigt die Menschen bis heute wie kein tanic“, einst der teuerste und erfolgreichste zum Wrack bringen. 60 000 Dollar kostet anderes Unglück, obwohl es in den 100 ein Ticket für den Trip in die Tiefe. Jahren seither unendlich viel Leid gab. Die „Titanic“ sei „das ultimative Sym - Obwohl Millionen Menschen in zwei bol des Desasters“, sagt der irische Mari - Weltkriegen und im Holocaust starben, ne-Historiker Michael McCaughan. Eine obwohl die Raumfähre „Challenger“ aus - Schlüssel-Ikone der Kultur sei sie „und einanderflog und die Havarien von eine der großen Metaphern unserer Zeit“. Tschernobyl und Fukushima die moderne Sie habe den „Hochmut der Menschen“ Technik in Frage stellten. entlarvt, die glaubten, mit Technik könn - Auch in der Geschichte der Seefahrt gab ten sie die Natur unterwerfen. es schlimmere Katastrophen: 1987 kamen Und die „Titanic“ war eine Welt für fast 4400 Menschen beim Untergang der sich, sie trug Glanz und Elend der Mensch - philippinischen Fähre „Do ña Paz“ um. heit, auf ihren Decks verteilten sich die Rund 1500 Menschen ertranken in jenen sterbende europäische Feudalgesellschaft knapp drei Stunden, in denen die „Titanic“ und der aufstrebende amerikanische Ka - sank, ungefähr 700 überlebten. Aber in die - pitalismus wie im wahren Leben: Oben sen Stunden entstand der Mythos „Titanic“. in der ersten Klasse reisten einige der Dabei wäre die „Titanic“ nicht einmal Der Kapitän reichsten Männer ihrer Zeit, unten im lange das größte Schiff der Welt geblie - Edward John Smith Rumpf bitterarme Auswanderer mit nichts ben: Fünf Wochen nach ihrem Untergang ignorierte Eiswarnungen und ließ die als der Hoffnung auf eine Zukunft. lief in Hamburg die viel größere „Impe - „Titanic“ viel zu schnell fahren. Er ging mit In den zwei Stunden und 40 Minuten rator“ vom Stapel. ihr unter. dieser Tragödie entfalteten die Menschen

60 der spiegel 13/2012

Krähennest

R großes Treppenhaus Brücke

Squash- Court

K Kesselraum bei der Kollision beschädigter Schiffsbereich

an Bord ihre Charaktere, als hätte ein winzigen U-Booten auf 3800 Meter Tiefe sammen, Träger schaffen Sack um Sack Profi das Drehbuch geschrieben: Feiglin - ab, der Bug der „Titanic“ ragt dort so ge - in die Bunker der „Titanic“. Zugleich ver - ge versuchten sich in Sicherheit zu brin - rade hoch wie damals, am 8. April an der suchen Hunderte Besatzungsmitglieder, gen, und Menschen, von denen man es Pier in . sich auf dem neuen Schiff zurechtzu finden. vielleicht nicht erwartet hätte, zeigten Klar zum Ablegen ist sie an jenem Tag Kapitän Edward John Smith ist noch Größe. Sinnlos, aber immerhin. noch nicht. Ihre 29 Dampfkessel können an Land, William Murdoch hat also das Manche Szenen wurden zu Arabesken 46 000 PS auf die Wellen der drei Propeller Kommando, ein zierlicher Mann, ernst der Geschichte: Kapitän Smith soll seine wuchten. Dafür müssen die Heizer 850 und ruhig. Leute vor dem Untergang ermahnt haben: Tonnen Kohle pro Tag in die Öfen schau - Im Trubel von Southampton setzt Mur - „Be british, boys, be british.“ Der ameri - feln. Aber in England streiken die Berg - doch sich hin und schreibt an seine kanische Multimillionär und Playboy Ben - arbeiter. Mühsam kaufen White-Star-Mit - Schwester: „Meine liebe Peg, ich verbrin - jamin Guggenheim ging in den Tod mit arbeiter auf anderen Schiffen Kohle zu - ge all die Zeit damit, Männer für die Ar - den Worten: „Wir haben uns bestens an - beit zu finden, auch wenn wir Überstun - gezogen und sind bereit unterzugehen den bezahlen müssen. Aber jetzt sind wir wie Gentlemen.“ fast fertig für die Reise.“ Und der Immobilien-Magnat John Ja - Murdoch schreibt auch darüber, dass cob Astor, nach heutigen Werten wohl die White-Star-Manager unbedingt noch einige Milliarden Dollar schwer, soll an einmal die Offiziersstellen umbesetzen der Bar gespottet haben: „Ich habe Eis wollen. Er ahnt nicht, welche Folgen das bestellt, aber das jetzt ist lächerlich.“ haben wird. Denn der bisherige Zweite In den Originalquellen findet sich das Offizier lässt die beiden Fern - Zitat nicht, aber als sicher gilt, dass Astor gläser wegschließen, die die Matrosen auf nicht nur seiner jungen, schwangeren See im Ausguck tragen sollen. Das gehört D L I B

Frau, sondern auch einem Auswanderer- zu seinen Pflichten, die Gläser sind teuer N I E

kind in ein Rettungsboot half. Dann steck - T und wichtig, sie dürfen auf keinen Fall S L L

te er sich an Deck eine Zigarette an und U im Chaos vor dem Ablegen verschwin - wartete mit seinem Airedale-Terrier Kitty den. Sie landen in einem Schrank in auf das Ende. Blairs Kajüte. Die „Titanic“ stehe für „Liebe, Tod“ Der Erste Offizier Als die Manager entscheiden, dass Blair und „all das Wichtige, mit dem wir uns William McMaster Murdoch nicht mehr gebraucht wird, schreibt der auseinandersetzen müssen“, sagt Regis - versuchte ein verzweifeltes Ausweich - eine Postkarte an seine Schwägerin: „Ich seur Cameron (siehe Interview Seite 64). manöver – und hätte den Eisberg wohl fürchte, ich werde hier Platz machen müs - 33-mal tauchten er und seine Crew in besser frontal gerammt. sen. Dies ist ein großartiges Schiff. Ich

der spiegel 13/2012 61 S E G A M I

Y T T E G

/

S I R R O M

L U A P

D I V A D Treppenaufgang der ersten Klasse*: „Ich habe Eis bestellt, aber das jetzt ist lächerlich“ bin sehr enttäuscht, dass ich die erste Rei - Liftboys fahren mit ihren Fahrstühlen auf vor New York zirkelte – manchmal nur se nicht mitmachen kann.“ und ab, auf den Böden liegen feine Tep - mit ein paar Fuß Wasser zwischen dem Es ist ziemlich hektisch, als er von Bord piche, in Ecken stehen Statuen. Schuh - Schiff und den Sandbänken.“ geht. Wahrscheinlich vergisst er es ein - putzer, Stewards und Bademeister küm - Smith lässt seine Crew antreten, dann fach: Auf jeden Fall sagt Blair weder Mur - mern sich um die feineren Passagiere, ein gibt es eine kurze Einweisung in die Ret - doch noch seinem Nachfolger Charles Trompeter bläst zum Essen mit der Me - tungsboote. Der erste Designer der „Ti - Lightoller, wo die Ferngläser liegen. lodie des Stücks „The Roast Beef of Old tanic“ hatte 48 Stück eingeplant, genug Schicksal. England“. Plätze für alle 2200 Menschen an Bord. Lightoller ist 38, ein erfahrener See - Jessop, eines von neun Kindern armer Doch der Vorstand der mann, ein Abenteurer. Er hat schon nach irischer Auswanderer, geht all die be - entschied, die „Titanic“ sei sicher, so viele Gold gegraben am Klondike, er war rühmten Namen auf der Passagierliste Boote würden nur die Promenadendecks Cowboy in Kanada, jetzt ist er für die durch, und sie staunt, als John Jacob As - für die Passagiere versperren. 16 feste Ret - Gläser zuständig, neben vielem anderen. tor IV seine neue Frau an Bord bringt, tungsboote und 4 Faltboote mussten rei - „Ich war absolut vertraut mit so ziemlich jünger als sein Sohn aus erster Ehe. Seit chen. Neumodische Korkwesten hatten jeder Art Schiff“, wird er später schrei - Monaten schrieben die Zeitungen schon die Manager immerhin noch für alle an ben, „aber ich brauchte 14 Tage, um si - über den Skandal in höchsten Kreisen, Bord gekauft, sinnlos, denn im Nord - cher von einem Trakt in einen anderen und natürlich las Jessop solche Sachen: atlantik tötet die Kälte des Wassers in - zu finden. Es gab zum Beispiel eine ge - „Aber statt der strahlenden Dame meiner nerhalb von Minuten. waltige Gangway-Tür an Steuerbord ach - Träume sah ich eine blasse Frau mit trau - Kurz nach dem Appell fährt ein Chauf - tern, groß genug, um mit einer Pferde - rigem Gesicht im Arm ihres Gatten. Und feur eine Daimler-Limousine an die „Ti - kutsche durchzufahren. Aber drei Offi - es dämmerte mir, dass aller Reichtum der tanic“ heran. Ein feiner Herr steigt aus, ziere versuchten einen ganzen Tag lang, Welt innere Zufriedenheit nicht ersetzen mit einem Schnurrbart wie Kaiser Wil - sie zu finden.“ kann.“ helm: Joseph Bruce Ismay wird vielen spä - Staunend wandert auch Am 10. April, es ist ein Mittwoch, soll ter als der Schurke der Tragödie gelten. durch die Gänge, eine der 18 Stewardes - es losgehen. Am Morgen kommt Kapitän Ismay hat die Reederei White Star von sen an Bord, sie soll Damen der oberen Smith an Bord, groß, mit weißem Bart, seinem Vater übernommen und dann an Decks bedienen. Jessop ist 24 Jahre alt, der erfahrenste Kommandant der Reede - den amerikanischen Eisenbahn-Magnaten sie liebt das Leben auf Schiffen, die weite rei. Dies soll sein letzter Törn vor dem und Bankier John Pierpont („J. P.“) Mor - Welt. Sie ist wohl auch ein wenig schlicht, Ruhestand werden. gan verkauft. Ismay ist noch Vorstands - die Schule musste sie abbrechen, und sie „Jeder Offizier würde sich die Ohren chef, er hat eine der beiden besten Suiten findet alles hinreißend: die Holzschnitze - abschneiden lassen, um einmal unter ihm auf der „Titanic“ für sich reserviert. reien überall, den Luxus. Über dem gro - fahren zu dürfen“, wird Lightoller später Der Reeder bringt nur einen Sekretär ßen Treppenhaus wölbt sich ein Glasdach, sagen. „Man lernte schon, wenn man nur und einen Diener mit, angeblich winkt zusah, wie er ein Schiff mit voller Kraft er seiner Frau und den Kindern nicht ein - * Nachbau in einer Ausstellung in San Francisco 2006. voraus durch die vertrackten Fahrwasser mal mehr hinterher, als der Daimler wie -

62 der spiegel 13/2012 theken an, es gibt einen Squash-Platz, ein Schwimmbad, ein Türkisches Bad, einen Fitnessraum. Darin stehen auch ein elek - trisches Pferd und ein elektrisches Kamel, für den Fall, dass Passagiere der ersten Klasse nicht auf ihren täglichen Ausritt verzichten wollen. Zwei Pressefotografen kommen in den

C Fitnessraum, als Beesley gerade auf ei - I S H I P B A R nem neumodischen Fahrradtrainer stram - R O G C / O E

E pelt. Deshalb wird es später ein Foto von T G I

H L A

W diesem unauffälligen Mann in mittleren

N H O I Krähennest am Mast Maschinenteil auf der Brücke P T L Jahren geben, der da ein wenig lächerlich A A R N wirkt. Mittags legt die „Titanic“ ab, der Sog ihres riesigen Rumpfes reißt einen ande - ren Dampfer von der Pier los. Vor dem französischen Cherbourg ankert sie noch einmal kurz, auch vor Queenstown in Ir - land, sie ist zu groß für die Häfen, Bar - kassen bringen neue Passagiere. In Cher - bourg steigt ein Deutscher zu, 20 Jahre alt, elegant, mit wachen Augen, schma - lem Mund, die schwarzen Haare kämmt er sich mit Pomade zurück. Baron Alfred von Drachstedt nennt er sich. Doch die S

E Identität ist falsch, echt ist die Pistole in G A M

I seinem Gepäck.

P D

D Alfred Nourney heißt er wirklich, er

/

S P S kommt aus Köln und hat sich in Paris ge - A E

R /

P

Badewanne in einer Kabine A Leuchter im Treppenhaus rade neue Arbeitskleidung gekauft: feine A A P O I N S Sachen, Spazierstöcke, einen Federhalter, ein wenig Schmuck. So etwas ist wichtig für Drachstedt, und der Aufpreis für sein der von der Pier rollt – so ergriffen ist er In der Erzählung rammte die erfunde - Ticket erster Klasse ist sein Einsatz in ei - offenbar von seinem neuen Schiff. Die ne „Titan“ schließlich zwischen Amerika nem großen Spiel. An keinem anderen vier riesigen Schornsteine der „Titanic“ und England einen Eisberg und sank. Ort der Welt sitzen so viele reiche Män - überragen die Häuser der Stadt. Die mo - 1500 Menschen ertranken – in einer Nacht ner so nahe beieinander wie auf der dernen Dampfmaschinen brauchen zwar im April. „Futility“ hieß das Buch: Sinn - „Titanic“. Und Drachstedt ist professio - nur drei, aber die Schiffe der Konkurrenz - losigkeit. neller Glücksspieler. linie Cunard haben vier. Also ließen Is - Aus dem Frühstücksraum seines Hotels Schon seit Southampton sind die 19- mays Leute noch eine Attrappe hinten - kann der Londoner Wissenschaftslehrer jährige Helen Newsom aus New York und dran stellen. am Tag der Abreise ihre Mutter an Bord. Die Mutter hat ihre Drei fast identische Schiffe hatten sie die Schornsteine der „Titanic“ sehen. Sei - Tochter auf eine Tour durch Europa mit - 1907 bei der Belfaster Werft Harland & ne Frau ist im Vorjahr gestorben, er sucht genommen, damit sie einen Mann ver - Wolff in Auftrag gegeben. Die Neubauten Ablenkung. Er hat zweite Klasse gebucht, gisst, sie hält Helen noch für ein Kind. sollten mit ihrem Luxus alles übertrump - schlendert aber nun über das ganze Schiff. heißt dieser Mann, ein Jurist fen, was auf der profitablen Nordatlantik - Er schaut sich die Salons und die Biblio - und Tennisspieler: Er nahm am Davis- route fuhr, danach sollten auch die Na - Cup 1907 teil und in Wimbledon im sel - men klingen: Das erste Schiff, rund 15 ben Jahr. Zen timeter kürzer als die „Titanic“, tauf - Behr hatte noch nebenbei Geschäft- ten Ismays Manager „Olympic“. Das liches auf dem alten Kontinent zu erledi - dritte Schiff, noch im Bau, sollte „Gigan - gen, und so folgte er den beiden nach tic“ heißen. Nach der Katastrophe lief es Europa. Irgendwie schafft Helen es gegen dann aber doch als „Britannic“ vom Ende ihrer Reise – so heißt es zumindest Stapel. in einer Biografie –, ihm ein Telegramm Und vielleicht war es auch keine schö - an die Berliner Dependance der Firma ne Idee, das mittlere Schiff „Titanic“ zu seines Vaters zu schicken, ohne dass ihre nennen. Denn 14 Jahre zuvor war ein Mutter das merkt: „Sailing home from D L I B

kurzer Roman über ein Schiff namens England on Titanic’s Maiden Voyage.“ N I E

„Titan“ erschienen. Die „Titan“ in die- T Behr eilt nach Cherbourg, da kann er die S L L

sem Buch war das größte und luxuriö - U Barkasse zur „Titanic“ noch erwischen. seste Schiff der Welt. Sie galt als un- Er trägt einen Diamantring seiner Mutter sinkbar, hatte wasserdichte Schotten, drei bei sich, sein Vater hat ihm den zuge - Propeller und zwei Masten und konnte Der Passagier steckt. rund 3000 Passagiere aufnehmen – wie Lawrence Beesley Nachdem die „Titanic“ in Queenstown die „Titanic“. Und auc h di e Buch- konnte in ein Rettungsboot klettern die Anker gelichtet hat, lassen die Offi - „Titan“ gehörte einer Reederei aus Liver - und überlebte. Der Lehrer protokollierte ziere sie zum ersten Mal richtig laufen, pool. die Katastrophe präzise. hinaus auf den offenen Atlantik. Lightol -

der spiegel 13/2012 63 Titel „Es geht um Liebe und Tod“ Regisseur James Cameron über die Faszination der „Titanic“ P A

/

X O F

Y R U T N E C

Szene aus dem Kinofilm „Titanic“ mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet, 1997 H T 0 2

SPIEGEL: Herr Cameron, gemeinsam mit wir nachher wieder auf unserem Mut - passiert das Unvorstellbare, das alles Ihrer Crew sind Sie mehr als 30-mal mit terschiff waren, setzte ich mich hin und geht quasi unter. Auch heute gibt es Un - U-Booten zur „Titanic“ hinunterge - weinte. Alles, was ich über die Dramen denkbares. Einen Atomkrieg zum Bei - taucht. Warum? an Bord wusste, kam da hoch. All die spiel. Die „Titanic“ zeigt: Unvorstellba - Cameron: Wir haben unter anderem für Männer zum Beispiel, die sich opferten, res passiert doch. den Dokumentarfilm „Die Geister der die zurücktraten von den Rettungsboo - SPIEGEL: Das belegen andere Unglücke Titanic“ gedreht, und wir wollten her - ten und wussten, dass sie ihre Frauen auch. Warum fasziniert ausgerechnet ausfinden, was da unten ist. Aber vor und Kinder nie wiedersehen würden. dieses Schiff die Menschen nach einem allem ist es faszinierend: wie eine Welt - SPIEGEL: Und was bedeutet das heute Jahrhundert immer noch? raum-Mission, und wir waren die Astro - noch für Sie, für uns? Cameron: Weil die „Titanic“ immer eine nauten, Hightech um uns herum. Und Cameron: Der Untergang hat den Men - Metapher sein wird. Da war die erste dann taucht plötzlich die „Titanic“ aus schen damals gezeigt, wer sie sind: Klasse, die zweite, die dritte und dann dem Dunkel auf wie aus einer Jenseits- Wuchsen sie in der Tragödie, oder rann - die Crew. Wir hatten also Oberschicht, Welt, man kann sie besuchen, aber man ten sie schreiend davon? Oder zogen sie Mittelstand, Unterschicht und die Regie - kann nicht bleiben. Sie sieht aus wie ein sich Frauenkleider an, um sich zu ret - rung. Die Regierung wird von den Mäch - verwunschenes Schloss. Ich habe ver - ten? Wir haben es leichter, wir haben tigen beeinflusst – hier war das Bruce sucht, Emotionen auszuschalten. Aber 100 Jahre Abstand. Aber jeder kann sich Ismay, der Reeder der „Titanic“. Dann es ist sehr emotional. fragen: Wie und wer bin ich eigentlich? fahren diese Leute viel zu schnell und SPIEGEL: Emotionen? Während Sie ein - So etwas macht die Geschichte der „Ti - zocken ganz lässig mit dem Leben der gezwängt in einem kleinen U-Boot ho - tanic“ groß. Menschen. Und als sie den Eisberg vor cken, 3800 Meter unter der Wasserober - SPIEGEL: Es hat weitaus schlimmere Kata - Augen haben, ist es zu spät. So ist das fläche, und nicht wissen, ob Sie es wie - strophen gegeben, mit viel mehr Opfern. jetzt mit dem Klimawandel. Ich bin ge - der nach oben schaffen? Cameron: Es geht nicht um Zahlen. Es rade auf Guam, ich tauche da zur tiefs - Cameron: Oh ja, an einem Tag hatten wir geht um die Hybris der Besitzer des ten Stelle der Erde hinunter, im Maria - ein technisches Problem, und wir setzten Schiffes, es geht auch um die Zeit da - nengraben. Vor zwei Tagen hat mir der auf dem Deck der „Titanic“ auf. Auf ein - mals, eine sehr optimistische Zeit: Flug - Präsident von Mikronesien erzählt, wie mal wurde mir klar, das war die Stelle, zeuge wurden gebaut, die Menschen hat - sein Land schrumpft, das sind ja nur an der die Musiker der Bordkapelle spiel - ten elektrisches Licht, vieles sah nach ganz flache Atolle hier. ten, als das Wasser sie holte. Und wo einer großartigen Zukunft aus, dafür SPIEGEL: Sollten Sie nicht lieber darüber die Passagiere zu den Booten liefen. Als stand die „Titanic“. Und dann plötzlich Filme drehen?

64 der spiegel 13/2012 ler: „Wir bewunderten sie für die Art, wie Ismay hat dagegen kaum eine Chance. sie sich benahm, weil überhaupt keine Vi - Aber die Cunard-Dampfer laufen rau, Cameron: Als die Terroristen des 11. Sep - brationen zu spüren waren, weil sie ruhig und er glaubt, dass die Reichen lieber ein tember an die 3000 Menschen umbrach - blieb, obwohl wir die Geschwindigkeit paar Stunden später ankommen, als fünf ten, tauchte ich gerade zur „Titanic“. immer weiter erhöhten.“ Tage lang über die Reling zu spucken. Ich kam erst zwölf Stunden danach zum Nach 1920 sollte das Gerücht auftau - Deshalb werden seine drei Schiffe vor Mutterschiff zurück und war wohl der chen, Reeder Ismay und Kapitän Smith allem bequem gebaut, auch wenn die Cu - letzte Mensch der westlichen Hemisphä - hätten die „Titanic“ mit Volldampf ins nard-Liner unter allen Bedingungen min - re, der davon erfuhr. Ich dachte mir, wie - Eis geprügelt, um sich das sogenannte destens zehn Prozent schneller sind. so tauchen wir in die Vergangenheit, Blaue Band zu holen, den Preis für die Am Freitag und am Samstag läuft das wenn gerade wieder Geschichte ge - schnellste Atlantikreise. Leben ruhig auf der „Titanic“. Stewardess macht wird? Tage später erkannte ich, „Nichts dieser Art“, so Lightoller, „wir Violet Jessop freundet sich mit dem Bord - dass die „Titanic“ uns eine Art Vergrö - haben es nicht darauf angelegt, eine Re - arzt an, einem alten Zausel aus Irland, ßerungsglas gab, um auch dieses neue kordpassage zu schaffen.“ Das könnten der nie geheiratet hat, aber nun seine Ka - Desaster zu interpretieren, die Gefühle sie auch gar nicht. In Queenstown wirft jüte mit Fotos der schönsten Frauen der von Verlust und Wut. Filme geben uns Murdoch, der Erste Offizier, noch einen Welt vollhängt. Karl Behr, der verliebte Wimbledon- Spieler, schafft es ein paarmal, seine He - len abzupassen. An einem der Tage will er ihr den Diamantring geben, aber sie lehnt ab, vorerst. Lehrer Beesley steht an Deck und ver - sucht „die allgemeinen Bewegungen des Schiffes durch die Wellen“ zu analysieren. Oft beobachtet er von oben die erstaun - lich fröhlichen Auswanderer aus der drit - ten Klasse, die aufs Heck dürfen, wenn sie mal den Himmel sehen wollen. Doch am Sonntag, es ist der 14. April, das Wetter ruhig, merkt Beesley, dass der Fahrtwind an Deck eiskalt wird. Die meis - E C

A ten Passagiere verziehen sich nach drin - F

O T

nen. Der Lehrer geht in die Bibliothek, E C A

F der hagere Bibliothekar verteilt Formu - /

Filmemacher Cameron (l.)* D S

F lare, „für Besucher der Vereinigten Staa - P A

C ten, Dampfschiff Titanic, Nr. 31444, D“. Violet Jessop zittert im Schiff: „Es war die Gelegenheit, Gefühle auszuloten. kurzen Brief an seine Eltern ein: „Es läuft eine Nacht fürs Bett, für Wärme, für Warum schauen sich Leute die „Titanic“ alles ganz ordentlich jetzt“, schreibt er, kuschelige Gedanken an zu Hause und an? Auch damit sie weinen können. Ver - „aber wegen des Kohlenarbeiterstreiks einen Kamin“, notiert sie. lust ist ein Teil des Lebens, es geht um werden wir nur 19 oder 20 Knoten fahren In einer Kammer zwölf Meter hinter Liebe und Tod und darum, dass Liebe können.“ Die White-Star-Leute konnten der Brücke hämmern die beiden Funker durch den Tod erst definiert wird. Um nicht genug Kohle zusammenkaufen, um Jack Phillips und auf die all das Wichtige, mit dem wir uns ausein- die Bunker der „Titanic“ zu füllen. Morsetaste ein. Phillips ist 25 Jahre alt, andersetzen müssen. Aber der Verdacht auf ein Rennen lag Bride 21, Jungs mit glatten Gesichtern. SPIEGEL: Hat die „Titanic“ noch Geheim - nahe. Denn die Atlantikreisen sind ein Der Morsefunk ist noch ziemlich neu, nisse? großes Geschäft, ständig pendeln Schiffe Hightech. Der Italiener Guglielmo Mar - Cameron: Überall sind diese kleinen Ge - zwischen den USA und Europa hin und coni gehörte zu den Erfindern, erst elf heimnisse: Ich konnte zum Beispiel mei - her, an Bord Geschäftsleute und Post - Jahre zuvor hatte es ein gemorstes „S“ nen Roboter in den Funkraum hinein - säcke, auch die „Titanic“ fährt als Royal über den Atlantik geschafft. Der spätere manövrieren, wir sahen die Stellung der Mail Ship (RMS). Viel Geld bringen die Nobelpreisträger Marconi hatte schon Schalter, wir sahen, dass die Funker Auswanderer in der dritten Klasse ein, 1897 ein Start-up gegründet, die Marconi Jack Phillips und Harold Bride versucht deren Kajüten weit unten im Schiff liegen. Company. haben, ihre Anlage zu justieren, als alles Deshalb werden auf der „Titanic“ vor al - Phillips und Bride sind seine Angestell - zusammenbrach. Bride überlebte ja, lem Auswanderer ertrinken. ten, nicht die der Reederei. Sie sollen vor Phillips Leiche wurde nie gefunden. Fünf Tage ungefähr dauern die Reisen allem mit den privaten Telegrammen der Bride sagte, Phillips habe noch gefunkt, normalerweise, besonders erbittert kämp - Passagiere Geld verdienen. Doch gegen als er ihn das letzte Mal sah. Und der fen zwei Firmen um Marktanteile: die Cu - neun Uhr morgens empfangen sie Signale Roboter zeigte uns, dass Phillips das Ge - nard-Linie und Ismays White Star. Doch eines anderen Schiffes, eine Eiswarnung. rät ausgeschaltet hat. Offenbar hat er seit J. P. Morgan White Star gekauft hat, Kapitän Smith lässt die Meldung auf der versucht rauszukommen, aber wahr - wird es hart für Ismay. Sein neuer Chef Brücke aufhängen. scheinlich war es zu spät. Die „Titanic“ Morgan will den Atlantikverkehr mög - Um 13.42 Uhr kommt vom White-Star- gibt ihre Geheimnisse nur sehr langsam lichst komplett unter seine Kontrolle brin - Dampfer „Baltic“ die nächste Eiswar - preis. gen, die britische Regierung fürchtet den nung, konkreter: Ein griechischer Damp - Amerikaner, sie hält dagegen und subven - fer habe Eisberge und Treibeis gesichtet, * Mit dem Schauspieler Bill Paxton im U-Boot auf tioniert Cunard. Mit Staatshilfe lässt sich nicht weit weg von der „Titanic“. Smith dem Weg zur „Titanic“ 2003. die Reederei um 1907 zwei neue Schiffe nimmt die Meldung und zeigt sie kurz bauen: die RMS „Lusitania“ und die RMS danach Ismay auf dem Promenadendeck, „Mauretania“. Sie sind schlank und schnell. der steckt den Zettel ein. Smith unter -

der spiegel 13/2012 65 Titel nimmt nichts. Noch ist die Sicht gut, er fühlt sich wohl sicher. Kleine Eisberge kann die „Titanic“ beiseiteschieben, gro - ße schaffen es selten bis hierher. Am Abend macht Bride Pause, Phillips muss allein einen Stapel von Privattele - grammen durchmorsen. Um 21.40 Uhr funkt das Frachtschiff „Mesaba“: „Sich - teten starkes Packeis und zahlreiche gro - ße Eisberge, auch Treibeis.“ Und die Me - saba gibt die Position durch: Das Eis trei - be bei 42 Grad Nord, 49 Grad West. Phillips versteht wenig von Koordina - ten. Er weiß wohl nicht, dass die „Titanic“ genau auf dieses Seegebiet zuhält. Und er ist zu beschäftigt, den Funkspruch je - mandem zu geben. Lightoller wird später behaupten, Phillips habe ihm gesagt, er habe die Nachricht unter einen Briefbe - schwerer gesteckt. „Hätten Kapitän Smith oder ich von dieser Gefahr gehört und nicht sofort die Fahrt reduziert oder gestoppt, hätten wir kriminell fahrlässig gehandelt“, so Lightoller. Aber die Wahrheit ist: Schon nach den anderen Warnungen hätte Smith bei Dunkelheit beidrehen oder wenigstens viel langsamer fahren müssen. Der Atlantik sei jetzt glatt „wie Glas“, so Lightoller. Oft entdecken Matrosen nachts nicht den Eisberg, sondern nur die Gischt der Wellen, die sich an ihm brechen. Aber da sind keine Wellen in dieser Nacht. Um 22 Uhr übernimmt Murdoch das Kommando auf der Brücke. Lightoller wünscht ihm viel Spaß bei seiner Wache. Ab und zu schaut der Kapitän vorbei. Na - türlich dürfte Murdoch aufstoppen oder „Hätten Sie den Eisberg mit einem nicht aber hinten oder seitlich. Dieser den Kurs ändern, wenn er eine akute Ge - Fernglas früher gesehen?“ Dunst, von dem die beiden später erzäh - fahr sieht. Sonst aber nicht. Und Murdoch Fleet: „Sicherlich.“ len werden, passt ganz gut zu einem kann ja kaum über den Bug des eigenen „Also waren die Ferngläser Ihrer Mei - optischen Phänomen: Eine sogenannte Schiffes hinaussehen. nung nach der Unterschied zwischen Super-Refraktion könnte den Eisberg na - Zur selben Zeit klettern die Matrosen Sicherheit und Katastrophe?“ hezu unsichtbar gemacht haben, so der und durch Fleet: „Ja.“ britische „Titanic“-Experte Tim Maltin, den hohlen Mast auf dem Vorschiff in das Aber so eindeutig ist das nicht, auch dessen Theorie die Smithsonian Institu- sogenannte Krähennest, eine Kanzel weil nach 23 Uhr so etwas wie Dunst auf - tion veröffentlicht. Maltin stützt sich vor hoch oben für die Männer, die Ausschau zieht. Es ist ein gespenstischer Dunst, er allem auf Logbücher anderer Schiffe, die halten sollen. Die White-Star-Linie heuert liegt immer nur genau vor Lee und Fleet, an dem Tag in der Nähe waren und Selt - Ausguckmänner mit guten Augen extra sames berichteten. an, sie haben nur zweimal je zwei Stun - In jener Nacht fuhr die „Titanic“ vom den Dienst pro Tag. warmen Golfstrom in die eiskalte Labra - Ein Eisberg kann schwarz aussehen dor-Strömung. Die Luft wurde unten im - oder blau, schmutziggrau oder weiß, er mer kälter, darüber lag warme Luft, In - ist wie ein getarntes Raubtier, das auf version nennt sich dieser Effekt. Luft - Beute wartet. schichten brechen das Licht, das ist heute Der Fahrtwind bläst Fleet und Lee ins gut erforscht. Und dann erscheint über Gesicht: rund 21 Knoten, fast 40 Stunden - dem wirklichen Horizont ein zweiter Ho - kilometer, die gefühlte Temperatur liegt rizont. Die Schicht dazwischen kann die - bei minus sieben Grad. Ihre Augen müssen sig wirken – ein optischer Effekt, das D L I B tränen. Ihre Ferngläser liegen irgendwo Gegenteil einer Fata Morgana: Lee und N I E auf diesem Riesenschiff, niemand weiß wo. T Fleet können nicht sehen, was doch da S L L

Praktisch blind also jagt die „Titanic“ U ist. Wenn in dieser Nacht wirklich Super- in ein Eisfeld hinein. Smiths Befehl gilt, Refraktion herrschte, wie Maltin glaubt, aber dieser Befehl ist Wahnsinn. dann starren die beiden auf den falschen In Untersuchungsausschüssen in Lon - Der Zweite Offizier Horizont. don und New York wird es später um den Charles Herbert Lightoller Kurz vor 23.40 Uhr sieht Fleet „ein strittigen Punkt gehen, ob Ferngläser ge - war ein Ex-Cowboy und Abenteurer. schwarzes Objekt“ genau voraus, ganz holfen hätten. In werden sie Fleet Die „Titanic“ zog ihn hinunter – nah. Ein Eisberg. Er schlägt die Glocke fragen: doch im letzten Moment hatte er Glück. im Krähennest dreimal. Dann greift er

66 der spiegel 13/2012 tat, außer zu hoffen, es am Eisberg vor - beizuschaffen. Denn wenn er die „Tita - nic“ drehen würde, das wusste er, würde das empfindliche Heck ausscheren, eine vielleicht noch größere Gefahr. Vielleicht wäre es am besten gewesen, wenn er genau auf die Mitte des Eisbergs gezielt hätte. Vielleicht Hunderte Men - schen wären dann im Vorschiff zer - quetscht worden, gesunken wäre die „Titanic“ aber wohl nicht: Töte Hunderte, rette tausend – wie soll ein Mensch das entscheiden in 20 oder 30 Sekunden? Murdoch nimmt den Mittelweg, er fährt das eigentlich perfekte Ausweichmanö - ver: zieht die „Titanic“ im Zickzack kurz nach links, dann lässt er hart Gegenruder legen, um das Heck wieder vom Eis weg - zudrücken. In dem Moment aber rammt die „Tita - nic“ den Eisberg. Von oben stürzen Ton - nen von Eis auf die Decks. Unter Wasser reißen Stahlplatten auseinander wie Pap - pe, Spanten geben ächzend nach, das Wasser gurgelt in das Schiff, erst vorn, dann Sekunde um Sekunde immer weiter hinten, als die „Titanic“ am Eisberg ent - langschrammt. Kapitän Smith stürzt auf die Brücke. Aber die „Titanic“ ist so schwer, sie stoppt nicht hart, die Passagiere auf dem Schiff spüren fast nichts. Lehrer Beesley sitzt auf dem Bett in seiner Kabine, er merkt nur, dass sich die Matratze etwas „Titanic“-Abfahrt am 10. April 1912 in Southampton bewegt. Der falsche Baron Drachstedt hatte sich zum Dinner in seinen Frack geworfen, den Telefonhörer, der direkt mit der Brü - Um zwei Strich zu drehen, braucht sie ge - jetzt zockt er im Rauchsalon der ersten cke verbindet. „Was siehst du?“, fragt der nau 37 Sekunden. Der Eisberg sei also nur Klasse mit einem Pelzhändler und einem Sechste Offizier, der auf der Brücke zwi - noch 457 Meter weit weg gewesen, als Juwelier. Er fühlt einen leichten Ruck schen Telefon und Rudergänger Dienst Fleet ihn sah, überschlagen die Briten. nach links, mehr nicht, aber er wird un - tut. „Eisberg gerade voraus“, brüllt Fleet. Aber vielleicht ist die Wahrheit tragi - ruhig: „Ich wollte mal raus.“ „Danke“, sagt der Offizier. scher. Ein US-Expertenteam hat zum Jah - Es ist kalt an Deck, kein Mensch zu se - Fleet schaut wieder nach vorn, jetzt restag alle Zahlen durchkalkuliert, Tem - hen. Er geht nach vorn. Auf dem Vor - sieht er, wie groß dieser Eisberg ist. Un - po, Rudergröße, Drehgeschwindigkeit, es schiff sieht er Eisklötze, der Kölner denkt gefähr 20 Meter hoch, er überragt den sind komplizierte Diagramme. 20 bis eher sich: „Meinjeh, wat han die denn Eis je - Bug der „Titanic“. „Eine dunkle Masse, 30 Sekunden fehlen, das ist ihr Ergebnis. laden?“ die durch den Dunst kam“, so Lee, „mit Sekunden, in denen Murdoch wohl nichts In dem Moment kommen Kapitän einer weißen Spitze.“ Smith und zwei Männer aufgeregt von In diesen Sekunden gibt Murdoch den der Brücke. Sie laufen hinunter ins Schiff, Befehl, scharf nach links zu fahren, er Drachstedt hinterher, es ist erleuchtet un - reißt auch den Hebel des Maschinentele - ten, sie kommen aber nur bis zum Squash- grafen herum, aber das wird nicht mehr Court. „Auf dem Platz stand das Wasser viel helfen: Die Maschinisten brauchen schon einen halben Meter hoch“, so Nour - viele Sekunden, um die Dampfmaschinen ney alias Drachstedt. Smith habe sich um - zunächst zu stoppen und dann auf volle gedreht und durch ihn durchgeguckt, „völ - Kraft rückwärts zu schalten. Im selben lig geistesabwesend“. Moment legt Murdoch auch den Schalter Drachstedt geht zurück in den Rauch - für die Schotten um: Unter Deck fahren salon, er erzählt dem Juwelier und dem schwere Stahltüren zwischen den 16 Ab - Pelzhändler, was er gesehen hat. „Never teilungen herunter. mind“, sagt einer der beiden, die „Tita - Fleet sieht jetzt, wie die „Titanic“ unter nic“ sei ja unsinkbar. ihm abdreht, doch ein Koloss von 53 000 Doch einer der Männer, die mit Smith Tonnen dreht entsetzlich langsam. Um runtergingen, ist . Er zwei Strich – 22,5 Grad sind das – Die Stewardess weiß besser als jeder andere, dass die „Ti - schwenkt der Bug herum. Nicht genug. Violet Jessop tanic“ nicht unsinkbar ist, er hat sie kon - Die britische Untersuchungskommis - kümmerte sich um reiche Ladys. struiert. Andrews führt die sogenannte sion wird sich später Versuche mit dem Beim Untergang rannte sie Garantiegruppe der Werft Harland & Schwesterschiff „Olympic“ anschauen. noch einmal zurück ins Schiff. Wolff: acht Schiffsbauer, die dafür sorgen

der spiegel 13/2012 67 Titel

52° 51° 50° 49° 48° Mögliche GROSS- 60° Bewegung Start am 10. April BRITANNIEN des Eises 1912 gegen 12 Uhr „Californian“ (Ortszeit) in (Frachter) KANADA Southampton 42° „Titanic“ mit Ziel New York Eisfeld (letzte gemeldete Position) FRANK- Fundort „Titanic“-Wrack REICH

40° 41° „Carpathia“ (Passagierschiff) New York Atlantik USA Kollision der „Titanic“ 100 km mit einem Eisberg am 14. April 1912 um 23.40 Uhr (Bordzeit) 40° Standorte der Schiffe „Frankfurt“ (Passagier- zum Zeitpunkt der Die Unglücksfahrt der „Titanic“ dampfer) Kollision mit dem Eisberg sollen, dass nichts schiefgeht auf der Jung - meilen weit weg liegt der Frachter „Cali - Sie halten nur die hintersten Kessel weiter fernfahrt. fornian“ mit gestoppter Maschine im unter Dampf, denn die drehen die schwe - Er hat die „Titanic“ so entworfen, dass Treibeis. Nur hat sich der einzige Funker ren Generatoren für Funkgerät und Licht, 2 der 16 wasserdichten Abteilungen voll - gegen 23 Uhr schlafen gelegt. Etwa 50 sie betreiben die acht Lenzpumpen, die laufen dürfen. Deshalb wäre das Schiff Meilen weit weg fährt der Passagierdamp - pro Stunde etwa 1700 Tonnen Wasser vielleicht davongekommen, wenn Mur - fer „Carpathia“, Höchstgeschwindigkeit wegschaffen können. Sie halten die „Ti - doch den Eisberg frontal gerammt hätte. 14,5 Knoten, er könnte in etwa vier Stun - tanic“ also ein paar Minuten länger über Aber unten sieht Andrews nun, dass die den da sein. Wasser, kostbare Minuten. Und in abso - See jetzt in fünf Abteilungen strömt, Eine Viertelstunde nach Mitternacht luter Dunkelheit wäre es fast unmöglich, dann auch in die sechste. funkt Phillips das erste Signal, die Buch - die Rettungsboote zu beladen. Sechs Abteilungen sind zu viel. Das staben CQD und die Position – SOS hat Die Ingenieure und Heizer könnten Gewicht wird den Bug immer weiter hin - sich als eindeutiges Notsignal noch nicht fliehen, aber sie halten durch bis zuletzt, abdrücken, bis Wasser über die Schotten durchgesetzt, CQD heißt nur „Achtung, obwohl sie das Wasser kommen sehen. schwappt, durch Bullaugen und Luken in zuhören“. Hell erleuchtet wird die „Titanic“ unter - alle anderen Abteilungen fließt. Leben Das deutsche Passagierschiff „Frank - gehen. Und fast alle Maschinisten mit ihr. und Tod werden jetzt eine Frage von Ku - furt“ antwortet, dann meldet sich die Auf der „Carpathia“ lässt Kapitän Ar - bikmetern und Minuten, Andrews kann „Carpathia“. Phillips morst: „Kommt so - thur Rostron sofort den Kurs ändern. Er das berechnen. fort. Wir haben einen Berg gerammt.“ befiehlt äußerste Kraft voraus, er lässt Jahrzehntelang werden Experten glau - Der „Carpathia“-Funker morst zurück: alle Heizungen ausschalten: Jedes Quänt - ben, der Eisberg habe die „Titanic“ auf - „Soll ich das meinem Kapitän sagen? chen Dampf soll auf die Kolben der Ma - geschlitzt. Bis Sonaraufnahmen zeigen, Braucht ihr Hilfe?“ Phillips antwortet: schinen geleitet werden. Die „Carpathia“ dass er die Bordwand an mehreren Stel - „Ja, kommt schnell.“ beschleunigt auf 17,5 Knoten, dafür wur - len nur eingedrückt hatte. Stahlplatten An ein anders Schiff funkt er: „Wir sin - de sie nicht konstruiert, doch die Maschi - waren dort auseinandergerissen, wo Nie - ken. Ich kann nichts hören wegen des nen halten es aus. So schnell wie nie zu - ten sie zusammenhielten. Dampfes.“ In diesen Minuten lassen die vor rauscht sie mit schäumender Bug - 2008 untersuchte unter anderem ein Maschinisten mit mörderischem Pfeifen welle genau auf das Eisfeld zu. Metallfachmann vom amerikanischen Na - den Druck aus den vorderen Kesseln ab, Rostron hat 740 Passagiere an Bord. Er tional Institute of Standards and Techno - die „Titanic“ könnte sonst explodieren. weiß, was er riskiert. Er schickt mehrere logy die Nieten. Beim Bau hatten die Männer nach vorn und an die Seiten, um Werftmanager offenbar schwere Proble - Ausschau zu halten, er verstärkt den Aus - me, genug Nieten zu bekommen. Nur für guck im Krähennest. Die drei Bordärzte die Mitte des Rumpfes setzten sie Nieten sollen sich für die „Titanic“-Opfer bereit - aus zähem Stahl ein. In die Platten am machen, an die Gangways lässt er Strick - Bug schlugen sie Nieten aus sprödem leitern legen, die Kajüten der Crew wer - Eisen. den freigeräumt. Das Wasser strömt nun durch sechs Andere Schiffe melden sich, die „Bal - kleine Lecks in den Rumpf, alle zusam - tic“ funkt: „Wir kommen.“ Sie würde fast men nur rund 1,2 Quadratmeter groß. Als einen Tag brauchen. Die „Frankfurt“ liegt Konstrukteur Andrews mit seinen Berech - in der Gegend, wie nah genau, wird wohl nungen fertig ist, sagt er Smith, die „Tita - eines der letzten Rätsel der Unglücks - nic“ werde in etwa zwei Stunden sinken. nacht bleiben. Aber es gibt offenbar ein Und alle wissen, dass Bruce Ismays Leute Missverständnis zwischen den Funkern. viel zu wenig Rettungsboote eingeplant Irgendwann morst Phillips: „Du Idiot, haben. bleib dran, aber halte dich raus.“ Aber wenige Routen sind dichter be - Der Spieler Auf der „Titanic“ befiehlt Smith: „Frau - fahren als jene über den Nordatlantik. Alfred Nourney en und Kinder zuerst.“ In der ersten Klas - Etwa ein Dutzend Schiffe könnten der reiste unter falschem Namen, mit se geht der falsche Baron Drachstedt an „Titanic“ zu Hilfe kommen, doch nicht einer Pistole bewaffnet, und hatte es auf die Bar, er steckt sich eine Flasche Whis - alle haben schon Funk. Wohl rund 20 See - Millionäre abgesehen. ky und zwei Sandwiches unter den Frack.

68 der spiegel 13/2012 Eisberg nahe der Untergangsstelle Abgerissene Farbe an der Seite

Kurz nach zwei Uhr kommt Kapitän Smith in den Funkraum. Die Signale, die Phillips und Bride senden, kommen auf den anderen Schiffen nur noch schwach an. Offenbar zerstört das Wasser die Elek - trik, die Stromspannung sinkt. Smith sagt: „Kommt Männer, ihr habt eure Pflicht ge - tan. Geht jetzt. Jetzt gilt: Jeder Mann für sich selbst.“ Phillips schaut nur kurz hoch, dann

O morst er weiter. Etwa zur selben Zeit T O F

R stürzt ein Mann in den Funkraum und E T N I versucht, Phillips die Schwimmweste zu /

S

N entreißen. Phillips und Bride schlagen ihn A V E

Y nieder und funken weiter. Der letzte R A

M Funkspruch der „Titanic“ ist auf keinem der anderen Schiffe mehr zu verstehen. Dann holt er aus seiner Kabine Schal, Die Stewardess Violet Jessop friert an Um 2.17 Uhr bricht der Kontakt plötzlich Mantel und Pistole. Deck, sie läuft nach unten, um sich eine ab, das Wasser erreicht die Funkerbude. Die meisten Passagiere bleiben ruhig, Decke zu holen – vorbei an den verlasse - Um diese Zeit verschwindet auch Ka - aber an manchen Stellen des Bootsdecks nen Kabinen all der prominenten Passa - pitän Smith. Konstrukteur Andrews setzt ist schon die Hölle los: „Ladys and chil - giere: „Juwelen glitzerten auf den Ti - sich in den Rauchsalon, er zieht seine dren first“, brüllen Offiziere. Drachstedt schen, silberne Schuhe lagen, wohin sie Schwimmweste aus, er wartet auf das findet irgendwie zu Rettungsboot 7, es jemand weggeschleudert hatte.“ Wieder Ende. Und gleich mehrere Leute in den hängt noch fast leer in seinen Davits, den an Deck schaut sie noch fasziniert zu, wie Booten sehen jetzt ein Getümmel auf kleinen Bootskränen, er klettert rein. galant John Jacob Astor IV seiner Frau Murdochs Steuerbordseite. Plötzlich habe Karl Behr lässt sein Gepäck in der Ka - in ein Boot hilft, dann rettet sie sich selbst Murdoch eine Pistole gezogen, er habe bine, er will zu Helen. Er findet sie vor in ein anderes. sie sich an den Kopf gehalten und abge - ihrer Kabine, sie gehen zum Bootsdeck, Helen Newsom und Karl Behr sehen, drückt. Lightoller wird Murdochs Witwe sie sehen White-Star-Chef Bruce Ismay, wie das Wasser auf einem Deck unter ih - später eine sanftere Version schildern: noch in seinen Pantoffeln. Sie hören die nen Menschen wegreißt. Ismay kümmert „Murdoch versuchte, das vordere Faltboot Bordkapelle spielen, die Musiker wollen sich um die Passagiere der ersten Klasse. ins Wasser zu lassen. Ich schaute auf ihn die Menschen beruhigen. Jemand drängt die Frauen, sofort ins Boot und seine Männer herunter. In diesem Behr und Newsom kommen zu Boot 7. zu steigen. Behr bleibt noch an Deck ste - Moment tauchte das Schiff, und wir wa - Helen findet, die Menschen da drin seien hen. Helen streckt ihre Hand aus, dann ren alle im Wasser.“ Murdochs Leiche mutig, weil sie sich in einem so kleinen klettert er auch hinein. wird nie gefunden. Boot rund 20 Meter bis zum Wasser her - Lehrer Beesley schafft es, Rettungsboot Der Sog der „Titanic“ zieht Lightoller unterlassen wollen. 13 zu erreichen. Er schaut zur „Titanic“ auf das Gitter eines Lüftungsschachts: Lightoller hat das Kommando über die zurück: „Niemand auf dem Schiff konnte Das Wasser „nagelte mich da fest, wäh - Boote an Backbord, Murdoch über die noch Zweifel an seinem Ende haben, und rend das Schiff unter die Oberfläche sank. an Steuerbord. Murdoch erlaubt, dass trotzdem zeigten die 1500 Passagiere und Ich kämpfte und trat, aber es war unmög - Boot 7 weggefiert wird. Die Männer an Besatzungsmitglieder keine Reaktion. lich wegzukommen.“ Er ertrank fast Bord sollen in die Nähe einer Gangway- Nicht ein Ton kam von ihnen, wie sie ru - schon, „als plötzlich eine enorme Druck - Tür rudern, um andere Passagiere aufzu - hig auf den Decks standen oder unter die - welle heißer Luft aus dem Schacht kam nehmen, wenn das Schiff weit genug ge - sen ihren Pflichten nachgingen.“ und mich an die Oberfläche schleuderte“ sunken ist. Ismay sagt Karl Behrs Gruppe, – wahrscheinlich war weit unten ein Kes - sie sollte sich bei Boot 5 bereitmachen. sel explodiert. Matrosen feuern weiße Raketen in den Lightoller schwimmt zu einem der Falt - Himmel. Erst nach der „Titanic“-Kata - boote, das kieloben im Wasser treibt. strophe werden rote Raketen als Not - Rund 30 andere, die um ihr Leben zeichen gelten. schwimmen, schaffen es bis dorthin, klet - Auf der „Californian“ sind die Raketen tern auf den umgedrehten Rumpf. zu sehen. Aber der Kapitän kann sich kei - Lightoller übernimmt das Kommando nen Reim darauf machen. Die Raketen und bringt sie durch die Nacht. scheinen kaum über den Horizont hinaus - Der falsche Baron Drachstedt sitzt in zukommen. Und es wirkt, als würde das seinem Rettungsboot und raucht in aller D L I B andere Schiff weiter weg fahren – wo - Ruhe eine Zigarette. Er sieht nicht einmal N I E möglich auch das ein Effekt der Super- T zur „Titanic“, bis ihn eine Frau anfasst: S L L

Refraktion. U „Schau, sie geht unter.“ Aus Angst vor Um 1.10 Uhr funkt Phillips: „Wir sin - dem Sog rudern die Menschen im Ret - ken. Bug voran.“ Eine Viertelstunde spä - tungsboot jetzt so weit weg wie möglich. ter: „Wir schicken die Frauen in die Boo - Der Schiffsarchitekt Dann hört Drachstedt etwas wie „einen te.“ Dann bittet er Rostron von der „Car - Thomas Andrews Sirenenton, den wir uns nicht erklären pathia“: „Komm so schnell wie möglich, hatte die „Titanic“ konstruiert. konnten“. Es sind die Schreie der viel - alter Mann. Unser Maschinenraum läuft Er war an Bord und berechnete, wann leicht tausend Menschen, die im eisigen voll.“ alle unter gehen würden. Wasser schwimmen. „Das war das

der spiegel 13/2012 69 X

O I D U T S / S I R A L O P „Titanic“-Heck in der Werft in : „Das ultimative Symbol des Desasters“

Schrecklichste“, wird er in den sechziger fuhr kurz nach der Mit zwei Jungs – seinem Sohn und ei - Jahren dem Süddeutschen Rundfunk sa - Katastrophe schon wieder zur See. 1929 nem Segelschüler – stach er in See. Deut - gen. „Das Einzige, was wir erwarteten, kaufte er eine verrottete Dampfbarkasse sche Flugzeuge beschossen sie und war - war, dass die möglichst schnell“ – in dem und ließ sie sich zur Yacht umbauen. 1939 fen Bomben, aber die Jungs und der alte Satz wird er eine lange Pause machen – spionierte er mit seiner „Sundowner“ für Mann kamen durch und holten immerhin „sterben. “ Am Schluss „rief nur noch die Navy Deutschlands Küste aus. Als dann 122 Soldaten aus dem Kessel. einer: ,Help, Help‘“. Aber „dat ging dann der Krieg ausbrach und die deutsche Wehr - Lightoller starb 1952, seine „Sundowner“ auch wech“, so der Kölner. macht alliierte Truppen bei Dünkirchen liegt heute im Hafen von Ramsgate, man Keines der weiter entfernten Boote einkesselte, bat ihn die Admiralität noch erkennt sie an diesem gerade aufragenden kommt den Menschen im Wasser zu Hilfe. einmal um die alte „Sundowner“. Für ein Bug, wie ihn auch die „Titanic“ hatte. Drachstedt: „Dann wären all die Hände Himmelfahrtskommando brauchte sie alles, Karl Behr und Helen heirateten elf Mo - an unser Boot gekommen und hätten uns was schwimmt: Marineleute sollten versu - nate nach der Katastrophe, die „New runtergerissen.“ In Rettungsboot 1 ver - chen, mit der „Sundowner“ nach Dünkir - York Times“ meldete: „Die Braut trug spricht Sir Cosmo Duff Gordon, der reiche chen vorzustoßen, um Soldaten zu retten. ein Hochzeitskleid aus weißem Satin, sie Mann einer berühmten Modeschöpferin, Lightoller war da schon 66. Aber er sagte, trug Maiglöckchen und weiße Orchi - sogar jedem Mann der Besatzung Geld – niemand außer ihm selbst fahre sein Schiff. deen.“ Behr quälte sich, wie so viele, jah - vielleicht als Dank, aber wohl eher, damit relang mit „survivor’s guilt“. Er fühlte sie nicht zu den Ertrinkenden rudern. sich schuldig, weil er noch da war und Drachstedt schießt in der Nacht ab und andere nicht. zu in die Luft, bis das Magazin seiner Pis - Seine Enkelin fand lange nach Behrs tole leer ist. Aber da ist kein Schiff, dessen Tod seine Tagebuch-Notizen, 185 Seiten. Mannschaft ihn hören könnte. Erst in den Bei Recherchen für ihr Buch über das frühen Morgenstunden tastet sich Kapitän Paar, „Starboard at midnight“, so schreibt Rostron mit seiner „Carpathia“ langsam sie, sei sie in einem Karton im Washing - heran, um keine Boote oder Menschen zu toner Nationalarchiv auf einen Zettel ge - D

überfahren. „Eine arme Seele neben mir, R stoßen, mit dem Behr damals Schadens - O F N die die ganze Nacht ihren Kopf zwischen A ersatz beantragte. Die White Star Line S

R ihren Armen hatte, schaute hoch“, so Vio - H sollte ihm unter anderem ersetzen: 3 An - E B

let Jessop: „Sie dachte, das ist die „Tita - N züge, 17 Hemden, 12 Taschentücher – und E L E nic“, die noch schwimmt. Sie dachte, sie H einen Diamantring. würde jetzt ihren Mann und ihre beiden Violet Jessop, die Stewardess, hat alle Söhne wiederbekommen.“ drei Schwesterschiffe überlebt: Zuerst ar - Rund 700 Überlebende aus den Booten Die Liebenden beitete sie auf der „Olympic“, als die mit nimmt Kapitän Rostron an Bord. Im Was - Karl Behr und Helen Newsom einem Kriegsschiff kollidierte und leck- ser finden seine Leute nur noch Tote. trafen sich immer wieder an Bord. Er schlug. Dann auf der „Titanic“. Im Ersten Dann dreht er ab und bringt die Men - hatte ihr einen Diamantring mitgebracht, Weltkrieg diente sie als Krankenschwes - schen nach New York. der mit dem Schiff unterging. ter auf der „Britannic“. Als die wohl von

70 der spiegel 13/2012 Titel

einer deutschen Seemine versenkt wurde, konnte Jessop in ein Rettungsboot sprin - gen. Aber das wurde in die Schiffsschrau - ben gezogen, die noch rotierten. Jessop sprang ins Wasser, sie brach sich den Schä - del, doch sie kam davon. Alfred Nourney, der falsche Baron Drachstedt, gab nach der „Titanic“ das Zocken auf und wurde ein braver Bürger. Lehrer Beesley schrieb das erste Buch über die Katastrophe, es erschien schon im Juni 1912. Und die „Titanic“ selbst? Stunden nach dem Untergang fotogra - fierten Seeleute eines anderen Schiffs nicht weit weg einen Eisberg, an dem sie einen langen Streifen abgerissener Farbe erkannten. Die „Titanic“ aber blieb jahr - zehntelang verschollen, der Atlantik ist dort 3800 Meter tief. Erst 1985 entdeckte der Wissenschaftler das Wrack. Das Schiff war beim Untergang in zwei große Teile zer - brochen, sie liegen nun 600 Meter weit auseinander. Der vordere Teil war 1985 noch gut erhalten. Inzwischen haben viele Expeditionen Fotos von morbider Schönheit gemacht. Da steht die Steuer - säule der „Titanic“ auf der Brücke – wo Murdoch sich entscheiden musste. Man sieht auch noch den Starthebel des elek - trischen Kamels im Sportstudio, wo Bees - ley auf dem Fahrrad strampelte. Und aus der Luke zum Krähennest hängt das Ka - bel zu dem Telefon, mit dem Fleet auf der Brücke anrief. Um das Wrack herum landeten Töpfe und Teller, Tresore, Koffer, Kinderpup - pen auf dem Grund. Und Schuhe. Ein Paar Schuhe sieht aus, als habe dort ein Toter gelegen. Nur der Mensch ist weg. „Die Geister der Titanic“ nannte James Cameron einen Dokumentarfilm über das Wrack. Im unwirklichen Licht der Schein - werfer, sei es ihm fast so vorgekommen, als wären sie noch da, die Menschen der „Titanic“, deren Leichen man nie fand: Murdoch, Smith, Phillips, Andrews. Stahl rostet langsam in der Tiefsee, weil das Wasser dort wenig Sauerstoff enthält. Aber es gibt Bakterien da unten, die Eisen zerfressen. Eine neue Art ent - deckten Forscher 2010 auf einem Wrack - teil der „Titanic“. Sie nannten die Mikro - be „ titanicae“. Die Bakterien haben die „Titanic“ mit bizarren braunen Zapfen überzogen. Schon 2003 zeigte eine Expedition, dass die kleinen Wesen sich schnell voranar - beiten. In fünf oder zehn Jahren werden wohl Schotten nachgeben, Decks werden einbrechen. Die Legende wird bleiben. Die „Titanic“ wird verschwinden, ein zweites Mal. ◆

Video: Christina Pohl über die letzte Überlebende der „Titanic“ Für Smartphone-Benutzer: Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“.

der spiegel 13/2012 71