mmm.verdi.de E 2814 Jahrgang 68 MENSCHEN MACHEN Streikwirkungen MEDIEN Kino und Rundfunk Australien Medienpolitisches ver.di-Magazin Dez. 2019 Nr. 4 Zensur und Proteste

Publikumsdialog Einander zuhören INHALT

IM FOKUS PUBLIKUMSDIALOG PORTRÄT MEDIENWIRTSCHAFT TARIFE UND HONORARE

6 EINANDER ZUHÖREN 4 BERUF 20 NEUES LEBEN IM 28 HOHES GUT Von Kathrin Gerlof DATENJOURNALIST: ALTEN FUNKHAUS RICHTIG NUTZEN MARCO LEHNER Standort für Unternehmen Nur ein Viertel der 8 VERTRAUENSBILDENDE Die Mischung ist das aus der Medien- Redakteur*innen bei der MASSNAHMEN Spannende und Kulturbranche MAZ erfasst die Arbeitszeit Für ein interessiertes, gebildetes und offenes 29 STREIKWIRKUNGEN Publikum MEINUNG Erste Ergebnisse des Tarifkampfes im 12 LESERFOREN UND öffentlich-rechtlichen BILDUNGSPROJEKTE 5 1 CENT Rundfunk

Braunschweiger Zeitung ÜBER DEM DURST Besser W. Foto: setzt auf Transparenz 30 DU: MAXI MENÜ und Dialog mit ihrer ICH: HUNGERLOHN Leserschaft BERUF INTERNATIONAL Kinobeschäftigte erstreiken bessere Arbeitsbedingungen 18 SCHON ENTDECKT? 22 „DEUTSCHE KATAPULT KURZ-SCHLÜSSE“ Über den Umgang der österreichischen

Foto: F. Kleinschmidt F. Foto: MEDIENPOLITIK Regierung mit den Medien

14 DIE ENTFREMDUNG 24 MEDIENZENSUR L. Hansen Foto: STOPPEN – ABER WIE? 19 TROPFEN AUF IN AUSTRALIEN DEN HEISSEN STEIN Nachrichtensperren 30 IMPRESSUM 16 STARKE PERFORMANCE Zuschüsse für den und Razzien führen zu ARD erreicht mit Zeitungsvertrieb bei kollektiven Protesten Interaktionen in sozialen fehlendem Gesamtkonzept VER.DI UNTERWEGS Medien mehr junge Leute 27 AKTION FÜR VIER REPORTER*INNEN IN BURUNDI 31 JOURNALISMUSTAG AM Recherchereise endete 25. JANUAR 2020 im Gefängnis Eine Frage der Haltung

31 PRESSEAUSWEIS 2020 Titelbild ONLINE Anträge abgeben Petra Dreßler M

(inspiriert von Immer aktuell informiert. Shutterstock / Kubko) Alle 14 Tage per Newsletter die neuesten Beiträge im Überblick. >> mmm.verdi.de

2 M 4.2019 XXXXXXXXXXXXXXX XXXXXXXXXXXXXXX Karikatur: Stephan Roth Stephan Karikatur:

Konstruktiver Dialog mit dem Publikum

Vertrauensverlust, Glaubwürdigkeitskrise, Entfremdung – Schlagwörter für die aktuelle Zustands­ beschreibung der klassischen Medien im Verhältnis zu ihrem Publikum. Da beruhigt es auch nicht, wenn aktuelle Studien belegen, dass weiterhin 44 Prozent der Deutschen den etablierten Medien

Foto: Christian v. Polentz v. Christian Foto: in wichtigen Fragen vertrauen, stetig weniger dagegen Social Media und Internetquellen. Ausge­ hend davon, dass kritischer Qualitätsjournalismus grundlegender Bestandteil einer funktionieren­ den Demokratie ist, kann die grassierende Medienskepsis nur schädlich sein – für das Gemeinwesen und nicht zuletzt für die Medien selbst. Deshalb geht „M Menschen Machen Medien 4 / 2019“ konstruk­ tiv der Frage nach, inwieweit klassische Medien diesen Missstand erkannt haben und auf welche Weise sie ihr Publikum vermehrt ansprechen und mitnehmen (Fokus S. 6 bis 18). Dabei ist M auf jede Menge noch zu diskutierende Fragen sowie auf interessante neue Dialogformate jenseits von „Leserbriefen“ und Ombudsleuten gestoßen.

Das zu Ende gehende Jahr war geprägt durch harte Tarifauseinandersetzungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und in der Kinobranche. Neun Monate währt der Kampf der Beschäftigten der ARD und von Deutschlandradio. Tausende beteiligten sich an bundesweiten Streiks und bewirkten Programmausfälle in TV und Hörfunk. Die ersten drei erfolgreichen Tarifergebnisse waren Anfang Dezember unterschrifts­ reif (S.29). Das ZDF und beginnen Anfang 2020 mit den Tarifverhandlungen. Bei den Kinoketten CineStar und CinemaxX führte viele Streikaktionen zu deutlichen Gehaltserhöhungen (S. 30 / 31).

Einen kritischen Blick richtet M auf den Umgang deutscher Medien mit dem Wahlerfolg von Sebastian Kurz in Österreich. Vernachlässigt werden dessen Verstöße gegen die Pressefreiheit (S.22 / 23). In Austra­ lien erschienen an einem Tag im Oktober alle großen Tageszeitungen mit geschwärzten Titelseiten – ein Protest gegen inzwischen alltägliche Nachrichtensperren durch die Politik und immer mehr Razzien in Medienhäusern (S. 24 bis 27).

Die nächste gedruckte M erscheint im März 2020. Bis dahin hat M Online jede Menge Lesestoff, etwa un­ ser Forum: „Medien und AfD“. Was auf die Ohren gibt’s beim M-Podcast! „Hinschauen, weghören, ein­ stehen? Alles eine Frage der Haltung“ debattiert dann der 33. Journalismustag am 25. Januar in . Bis dahin: Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Karin Wenk, verantwortliche Redakteurin

4.2019 M 3 PORTRÄT

Beruf Datenjournalist: Marco Lehner

Die Mischung ist das Spannende privat Foto:

n diesen Tagen geht es bei ich etwas Objektives, Handfestes. Darauf kann ganzen Tag am PC zu sitzen.“ Die Daten seien Marco Lehner um Fußball, ich in der Berichterstattung aufbauen“, sagt die Grundlage für ein Thema. Doch sie müss­ I genauer: um Fußball-Fans. Er er im Gespräch mit M. ten auch eingeordnet werden. Interviews füh­ macht ein Praktikum beim ren, mit den Menschen ins Gespräch kom­ Interaktiv-Team der Funke- Während seines Bachelorstudiums hat er erst­ men – auch das kann zur Arbeit von Daten­ Zentralredaktion. Das Team erstellt derzeit mals mitbekommen, „dass es so etwas wie journalist*innen gehören. Außerdem sei es eine Übersicht über die Wohnorte von ­Datenjournalismus gibt“. Zu diesem Zeit­ eine Herausforderung, ein datenlastiges Schalke-Fans. Lehner hat dafür vom Verein punkt studierte er Technikjournalismus / Tech­ Thema so zu vermitteln, dass die Menschen eine Liste mit den Mitgliedern pro Postleit­ nik-PR in Nürnberg. Informatik war ein Be­ es auch verstehen. Dabei sei Kreativität ge­ zahl bekommen. Seine Aufgabe ist es, die Liste reich, der ihn schon immer interessiert hatte, fragt. Die Mischung dieser unterschiedlichen so aufzubereiten, dass die Entwickler und und er suchte nach einem Weg, dieses Inte­ Aufgaben macht den Beruf für Lehner so ­Designer im Team damit arbeiten können. resse mit Journalismus zu verbinden. Doch spannend. Dazu recherchiert er die Einwohnerzahlen ei­ im Studium ging es eher um Fachwissen in nes Postleitzahlgebiets und rechnet aus, wie Maschinenbau oder Chemie, die Informatik Ein Datenprojekt, das ihn besonders beein­ hoch der Prozentsatz der Schalker in diesem kam ihm zu kurz. druckt hat, sind die Veröffentlichungen zu Bereich ist. den Panama Papers, an denen Journalist*in­ Also bildete er sich neben dem Studium nen weltweit beteiligt waren. Ihre Enthüllun­ Marco Lehner ist Datenjournalist. Ein Beruf, ­weiter, belegte Online-Kurse zur explorativen gen sind für Lehner ein strahlendes Beispiel den es noch gar nicht so lange gibt, der sich Datenanalyse und zur Anwendung von R, ei­ für die Verbindung aus Datenjournalismus aber in den vergangenen Jahren auch in ner Programmiersprache für statistische Be­ und investigativer Arbeit. Deutschland immer stärker etabliert hat. rechnungen und Grafiken, die er auch jetzt Zahlreiche Medienhäuser leisten sich mittler­ für das Fußball-Projekt nutzt. Mittlerweile Nach seinem Praktikum geht es für ihn erst weile eigene Daten-Teams und aufwendige studiert er in Bamberg „Computing in the mal zurück an die Uni. Und zu einem Projekt Projekte. Bevor er zu Funke Interaktiv kam, Humanities“, ein Masterstudiengang, der sich namens Hedwig, an dem er derzeit mit drei absolvierte der 28jährige ein Praktikum beim an Absolvent*innen aus den Geistes- und Freund*innen tüftelt. Die Software soll dabei datenjournalistischen Team des Bayerischen Humanwissenschaften richtet und Inhalte im helfen, sich in Online-Archiven umfassend Rundfunks, wo er unter anderem in ein Bereich Informatik und Angewandte Informa­ über ein Thema zu informieren. Die Ziel­ Crowd­sourcing-Projekt zu Wahlplakaten in tik vermittelt. gruppe: Journalist*innen. Auch hier sucht Bayern eingebunden war. Lehner also wieder die Verbindung zwischen Ein Informatik-Fan als Journalist – inwiefern Informatik und Journalismus. Als Datenjournalist, sagt Lehner, könne er trifft das Klischee des Nerds zu, der sich am sich die Daten, die er für ein Thema braucht, liebsten in seinen Daten vergräbt? „Ich sehe Übrigens: Die höchste Dichte an Schalke-Fans selbst besorgen. Er müsse sich nicht auf An­ mich nicht als Nerd“, sagt Lehner. „Ich finde hat – wenig überraschend – Gelsenkirchen. gaben von anderen verlassen. „Damit habe es schön, nicht darauf festgelegt zu sein, den Sarah Schaefer ‹‹

4 M 4.2019 MEINUNG 1 Cent über dem Durst

er Rundfunkbeitrag soll steigen: nach Empfeh­ Ob das in Zeiten von Fake News, Hetze im Internet lung der Finanzkommission KEF um 86 Cent. und zunehmenden Angriffen auf den öffentlich-recht­ D Was zunächst viel klingt, ist in Wahrheit aber lichen Rundfunk sowie die Pressefreiheit – insbeson­ das Einfrieren des Beitrags – mit Folgen für dere vom rechten Rand – die richtige Antwort ist, darf die Sender und ihre Beschäftigten. Und was bezweifelt werden. Es sind gerade die Öffentlich- will eigentlich die Politik? Rechtlichen, die aufgrund ihrer Finanzierung durch die Allgemeinheit für journalistische Unabhängigkeit 17,50 Euro zahlen die Bürgerinnen und Bürger derzeit stehen. Doch die Politik hat in den letzten Jahren ein im Monat für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. klares Bekenntnis vermissen und sich stattdessen von Mit der neuen Beitragsperiode, die 2021 beginnt, sol­ der AfD treiben lassen. Die Partei ist erklärter Gegner len es nach den Vorstellungen der Kommission zur Er­ von ARD und ZDF. In ihrem Grundsatzprogramm for­ mittlung des Finanzbedarfs (KEF) 18,36 Euro sein. Das dert sie die Abschaffung der „Zwangsfinanzierung“ klingt wie ein kräftiger Schluck aus der Pulle, ist aber und die Umwandlung in ein verschlüsseltes Bezahl­ de facto nicht mehr als bisher. Denn die Sender finan­ fernsehen, frech etikettiert als „Bürgerrundfunk“. zieren sich heute aus den 17,50 Euro sowie weiteren Denn was in Wahrheit übrigbliebe, wäre ein bedeu­ 85 Cent aus Rücklagen, die im Zuge der Umstellung tungsloser Nischenfunk – das Gegenteil eines relevan­ auf den „Haushaltsbeitrag“ angespart wurden und die ten meinungsbildenden Angebots. bis Ende nächsten Jahres aufgebraucht sind. Man muss kein Mathegenie sein, um zu sehen, dass die Kommis­ Erstaunlicherweise prescht nun jemand nach vorn, sion den Sendern damit in Wahrheit nur einen Cent von dem es am wenigsten zu erwarten war. Der baye­ mehr im Monat zubilligt. rische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Mar­ kus Söder erklärte im Anschluss an die Ministerpräsi­ Für die Anstalten aber zählt jeder Cent. Denn Pro­ dentenkonferenz Anfang Dezember in Berlin, dass der Stephan Kolbe gramm und Mitarbeitende kosten. Christoph Schmitz, öffentlich-rechtliche Rundfunk demokratiestabilisie­ ist Koordinator für ver.di-Bundesvorstand und Bundesfachbereichsleiter rend sei und man ihm diesen Grundauftrag nicht Medienpolitik beim Medien, Kunst und Industrie, kritisierte deshalb den durch die Hintertür der Finanzierung nehmen dürfe. ver.di-Bundesvorstand KEF-Vorschlag: „Die Sender stehen vor gewaltigen He­ Der KEF-Vorschlag „bedeutet für viele Anstalten, ob­ sowie freier Redakteur. rausforderungen, etwa durch die Digitalisierung wohl es scheinbar mehr ist, dass es ein Minus gibt.“ und die sich verändernde Mediennutzung. Ein ein­ Die CSU hatte unter seinem Vorgänger Horst Seeho­ gefrorener Beitrag raubt ihnen ihre dringend not­ fer noch die Zusammenlegung von ARD und ZDF ge­ wendigen Entwicklungsmöglichkeiten.“ Die KEF- fordert. Bleibt deshalb nur zu hoffen, dass alle Länder Empfehlung sei enttäuschend. Viele Anstalten begreifen, dass die Sender ihrem Auftrag nur nach­ kämpften schon jetzt mit Personalabbau, Beschäf­ kommen können, wenn sie dafür ordentlich finan­ tigte arbeiteten an der Grenze der Belastbarkeit. ziert werden. Im März wollen die Länderchefinnen Dieser Zustand würde sich verschärfen, auch Ein­ und -chefs eine Entscheidung treffen. Danach geht

Foto: Martha Richards Richards Martha Foto: schnitte ins Programm seien denkbar geworden. der Vorschlag in alle 16 Landtage. ‹‹

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Medien sind mit einer Vertrauenskrise konfrontiert, bei der die klassische Rollenverteilung zwischen Sender und Empfänger nicht mehr funktioniert. Vor allem klassische Medien haben Nachholbedarf, wenn es darum geht, Nutzer*in­ nen anzusprechen und mitzunehmen. Neue Formen des Dialogs sind deshalb ent­ standen. Sie eröffnen Chancen und zugleich müssen Fragen beantwortet werden, die sich vorher nicht gestellt haben. So ist das, wenn alle versuchen, mit allen zu reden.

Einander zuhören

Von Kathrin Gerlof

s ist nicht die vornehmste Aufgabe der Redaktionen, Die Massenmedien aber sind in der Krise und weil sie mit jenen zu reden, für die sie journalistische Pro­ in der Krise sind, stellt sich die Frage, ob ihr Rollen­ dukte machen. Die vornehmste Aufgabe der Redak­ verständnis ein anderes werden muss. Vor allem aber, tionen ist kritischer Journalismus, der als eine wich­ ob das Verhältnis zwischen jenen, die uns die Welt tige und notwendige Voraussetzung für ein demo­ journalistisch aufbereiten, und jenen, die sich mit E kratisches Gemeinwesen gelten kann. Es wäre Augen­ Hilfe dieser Informationen die Welt erklären und eine wischerei zu leugnen, dass dabei die Rollenverteilung Meinung bilden, ein anderes werden sollte. Paterna­ grundsätzlich auf Sendende und Empfangende fest­ lismus und schwarze Pädagogik gelten nicht mehr als gelegt ist. Journalismus funktioniert so, daran ändern Mittel der Wahl. Und was ein Leitmedium ist (auch auch die vermeintlich oder wirklich dialogischen For­ wenn mit dem Begriff noch allzu gern gearbeitet wird), mate erst einmal nichts. Und auch nicht die Binsen­ bestimmen nicht mehr jene, die Zeitung produzieren weisheit, dass niemand nur sendet oder nur empfängt, oder Nachrichtensendungen machen. sondern immer von Wechselwirkungen auszugehen ist. Längst sind die Zeiten vorbei, da die Grundversorgung Jedoch gründet eine deliberative Demokratie (Joseph mit und die Einordnung und Aufbereitung von Infor­ M. Bessette, Jürgen Habermas) wesentlich auf öffent­ mationen wesentlich den klassisch journalistischen lichem Diskurs. Diskurs aber, das lernen wir sehr Medien oblag. Inzwischen kann jede und jeder senden I Im Jahr 2018 früh, setzt darauf, dass beide oder alle Seiten und empfangen. Es gilt nicht mehr, dass die morgend­ äußerten 43 Prozent zu Wort kommen und einander zuhören. liche Zeitungslektüre und die abendliche Tagesschau Der öffentliche Diskurs ist in der Krise – den Informationsstand bestimmen und die Meinungs­ der Befragten die nicht erst seit, aber verstärkt durch sozi­ bildung prägen. Information, Aufklärung, Aufdecken Überzeugung, dass almediale Öffentlichkeiten, bei denen von Missständen, Kontrolle und Einordnung politi­ die Medien die wir es uns zu einfach machten, über­ schen und ökonomischen Handelns, die Welt ins setzten wir sie nur mit „Soziale Me­ Wohnzimmer bringen und erfassbar machen, meine gesellschaftlichen dien“. Der Journalist und Blogger Sa­ Zeitung, mein , meine Abendschau – das ist vor­ Zustände ganz an­ scha Lobo schreibt sogar vom „Ende bei. Oder mindestens ganz anders. ders darstellen, als der Gesellschaft“. Meint, wie wir sie kennen, denn nun existiere eine „neue, Die Krise schlägt sich ökonomisch nieder in sinken­ es die Bürgerinnen ­digital, sozial vernetzte Öffentlichkeit, die den Auflagenzahlen und Quoten. Und sie ist eine kul­ und Bürger in ihrem anders funk­tioniert als die massenmedial turelle Krise, die weit verbreitet und vereinfacht mit eigenen Umfeld geprägte Öffentlichkeit des 20. Jahrhun­ „Medienskepsis“ übersetzt wird. Das Vertrauen in die derts“. Eine Welt, in der galt, was der Gesell­ Medien ist gesunken und den Verlust hebt nicht auf, wahrnehmen. schaftstheoretiker Niklas Luhmann mit dem Satz dass dieses Vertrauen in der jüngeren Vergangenheit beschrieb: „Was wir über die Welt wissen, wissen wir wieder ein wenig stieg. Schließlich war es zuvor ziem­ aus den Massenmedien.“ – Waren das Zeiten, mag da lich im Keller und von da bis hoch aufs Dach ist es ein manch einer denken. weiter Weg.

6 M 4.2019 Foto: Isabela Pacini Foto:

Eine*r von vieren in Deutschland hält der Mainzer Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Art der Reprä­ Leserkonferenz im Spiegel- Langzeitstudie „Medienvertrauen“ aus dem Jahr 2018 sentation ein entscheidender Faktor für die Glaubwür­ Verlag 2018 (s.S. 11) zufolge Medien für nicht vertrauenswürdig und be­ digkeit der Medien ist.“ zichtigt sie der gezielten Manipulation. 16 Prozent glauben, dass die Medien sie systematisch belügen, 27 Von Entfremdung ist also die Rede und einem daraus Prozent sagen, „die Medien haben den Kontakt zu erwachsenden Glaubwürdigkeitsverlust. Heißt auch, Menschen wie mir verloren“. 43 Prozent der Befrag­ was jetzt getan wird, beruht auf dem Eingeständnis ei­ ten äußerten die Überzeugung, dass die Medien die nes Versäumnisses, einer Unterlassung. Denn Entfrem­ gesellschaftlichen Zustände ganz anders darstellen, als dung ist fast immer die Angelegenheit mindestens es die Bürgerinnen und Bürger in ihrem eigenen Um­ zweier Seiten. Wenn „Menschen ungehört bleiben“, feld wahrnehmen. Angebracht erscheine deshalb die ist das eine kritische Bestandsaufnahme, die tatsäch­ Forderung, heißt es in der Mainzer Langzeitstudie, dass lich zwingt, was man tut, zu überdenken und das Ko­ die Medien die Lebenswelt ihres Publikums nicht aus ordinatensystem zu prüfen, in dem bislang Journalis­ den Augen verlieren dürfen. Was im Umkehrschluss mus stattgefunden hat. Das Koordinatensystem sagt: heißt, dass sie es in weiten Teilen bereits getan haben. Journalismus hat seine Deutungs- und Erklärungsho­ heit verloren. Er muss sie sich teilen mit anderen. Und genau da beginnt etwas, das wir als einen Ver­ such der Medienmacher*innen beschreiben können, „Beim direkten Vergleich zwischen einer gedruck­ sich den Lebenswelten ihres Publikums anzunähern. ten Zeitung und dem, was auf Facebook und Dialogische Formate entstehen, Einladungen werden anderen sozialen Netzwerken stattfindet“, ausgesprochen, Leserkonferenzen abgehalten, Kom­ schrieb Sascha Lobo in Blätter, wirke die Me­ mentarspalten geöffnet, Begegnungen organisiert, dienlandschaft als „gefühlsblinder, kalter, 16 Prozent Community-Redaktionen verstärkt, Arbeitsweisen ge­ durchregulierter Monolith“. Information sei glauben, dass ändert. Und so werden am Ende auch Erwartungen nur ein Beiprodukt sozialer Gefühlsmedien, geweckt. Von denen man noch gar nicht oder nur ein „bei denen nicht zentral ist, ob sie journa­ die Medien sie wenig weiß, worin sie eigentlich bestehen. In der Spra­ listischen Kriterien folgen oder nicht oder systematisch che des Marktes ließe sich sagen: Es werden Bedürf­ nur so halb oder nur so tun als ob“. Es scheine, belügen. nisse produziert. Und es ist nicht klar, ob diese Bedürf­ als sei das Bild der Gesellschaft, das in den so­ nisse auch befriedigt werden können. Aber das Risiko zialen Medien gezeichnet werde, näher an der gilt es wohl einzugehen. Wirklichkeit, als das massenmedial vermittelte. Und der österreichische Journalist Armin Wolf be­ Die stellvertretende Chefredakteurin Zeit Online Ham­ fand – in Blätter: „Das traditionelle Geschäftsmodell burg, Maria Exner sagte dazu auf dem Herbstforum professioneller Medien – wir verkaufen unsere Inhalte der Initiative Qualität 2019: „Wir brauchen also auch an unser Publikum und unser Publikum an Werbekun­ mehr Dialog, um Menschen eine Stimme zu geben, den – wurde durch die Digitalisierung bis an die Gren­ die sonst ungehört blieben. Das ist kein Selbstzweck. zen seiner Tragfähigkeit disruptiert (…).“ »

4.2019 M 7 XXXXXXXXXXXXXXXIM FOKUS

In der Krise, die alle – die Optimisten und die Pessi­ höhung dessen, was da jetzt passiert und getan wird, mistinnen – dem Journalismus bescheinigen, geht richtete allerdings großen Schaden an. man neue Wege. Einer davon ist der Versuch, sich mit den „Kunden“ ins Benehmen zu setzen. Nicht durch In feiner Ironie nennt Zeit Online ihren Transparenz­ Werbeaktionen und Abogeschenke, sondern in direk­ blog „Glashaus“. Das ist gut, denn im Glashaus sitzen tem Austausch. „Wer bist du“, fragen die Medien, jene, die „klassische“ Medien machen, als vierte Ge­ nachdem sie viel zu lange behauptet haben, genau walt gelten und vierte Gewalt bleiben sollten, zugleich dies sehr gut zu wissen. Das ist gut. Auch wenn dahin­ aber zum großen Teil unter Bedingungen arbeiten, die gestellt bleiben muss, ob aus der Not geborene Zuwen­ es nicht einfach machen, Qualitätsjournalismus zu dung wahrer Neugier und echtem Interesse entspringt liefern. Das Wettrennen um Geschwindigkeit und Ex­ oder eben eine Notlösung ist. Diese Frage ließe sich klusivität, sinkende Einnahmen aus Abonnements nur beantworten, arbeitete man mit Unterstellungen. und Werbung erhöhen nicht nur den Druck, sondern „Wer bist du“, nehmen auch allen jene Zeit, die notwendig ist, sich fragen die Medien, Setzt man wahres Interesse und echte Neugier voraus, mit den Lebenswelten derer, für die man Medien bleibt trotzdem die Frage, ob Journalismus besser wer­ macht, zu befassen. nachdem sie viel zu den kann durch Leserkonferenzen und Leser-Work­ lange behauptet shops und Algorithmen, mit deren Hilfe Menschen, Daran werden die nun betriebenen, vertrauensbilden­ haben, genau dies die verschiedener Meinung sind, paarweise zusam­ den Maßnahmen erst einmal grundsätzlich nichts än­ mengebracht werden und miteinander reden. Gefolgt dern. Denn wir müssen davon ausgehen, dass die sehr gut zu wissen. von den Fragen, ob hier Erwartungen geweckt werden, Menschen, die sich darauf einlassen und daran betei­ die nicht erfüllbar sind, und ob dadurch korrumpie­ ligen, nicht unbedingt jene sind, die sich mit Begrif­ rende Beziehungen entstehen, die der Unabhängig­ fen wie „Lügenpresse“ die Welt erklären. Eine Leser­ keit des Journalismus mehr schaden als nützen. konferenz muss – und das ist kein Vorwurf – eine ge­ wissermaßen elitäre Veranstaltung bleiben. Aus ihr Lässt sich der Verlust der Deutungshoheit professio­ Schlussfolgerungen zu ziehen oder Erkenntnisse zu neller Medien dadurch wettmachen, dass sie sich und formulieren, wie es wohl jenen gehen mag, die resig­ ihre Arbeitsweise jenen, für die sie gemacht werden, niert, desinteressiert, längst entfremdet sind, wäre fa­ erklären? Nein. Aber das ist kein Grund, sich nicht zu tal. Insofern bleibt die vornehmste Aufgabe des Jour­ erklären und nicht ins Gespräch zu kommen und nalismus, dem Ideal zu folgen, Fackel der Aufklärung nicht zuzuhören und daraus im besten Fall Schluss­ zu sein, Missstände zu thematisieren, die Demokratie folgerungen für die eigene Arbeit zu treffen. Eine Über­ zu stärken, Informationen zu liefern. ‹‹

Vertrauensbildende Maßnahmen Für ein interessiertes, gebildetes und offenes Publikum

er aktuelle Befund über die gegenwär­ Medienskepsis ist weit verbreitet, lange stetig gewach­ tige Situation klingt ambivalent: sen, in jüngerer Zeit aber wieder zugunsten größeren I Insgesamt D Gleichzeitig wachsen Vertrauen und Vertrauens in journalistische Medien kleiner gewor­ sind es weiterhin Misstrauen in die und gegenüber den den. Radio schlägt Presse und Presse schlägt Fernse­ Medien. Was nur die Fortsetzung ei­ hen, was das Vertrauen anbelangt. Die »Lügenpresse«- 44 Prozent der ner Spaltung der Gesellschaft beschreibt, Debatte ist immer noch virulent, aber nicht mehr so Deutschen, die den die sich in Wahlergebnissen genauso laut, wie sie noch vor kurzem war. Insgesamt sind es etablierten Medien niederschlägt, wie in rüderen Umgangs­ weiterhin 44 Prozent der Deutschen, die den etablier­ formen in jenen Medien, deren Beiwort ten Medien in wichtigen Fragen vertrauen. Gleichzei­ in wichtigen Fragen sozial wir nie hinterfragt haben und das tig wächst die pauschale Kritik (»die lügen alle«, »die vertrauen. im Englischen auch einfach nur „gesel­ berichten nicht über meine Alltagsprobleme«, »die lig“ bedeuten kann. Was es viel besser trifft. sind abgehoben und interessieren sich nicht für Nun scheint es für die Frage zu spät zu sein. mich«). Zugleich sinkt das Vertrauen in Social Media Social Media schlägt Journalismus? Aber so ein­ und Internetquellen stetig. Datenskandale bei Face­ fach ist die Sache nicht. book, Fake News, die über das Internet verbreitet wer­

8 M 4.2019 PUBLIKUMSDIALOG

den und zu Monstrositäten anwachsen, Bots, die uns erfunden wurden, wie zum Beispiel die Leserkonferen­ Meinungsbildung vorgaukeln, schüren Misstrauen ge­ zen des Magazins Spiegel, nicht eher exklusive denn genüber Online-Angeboten. Nur 21 Prozent der Be­ inklusive Formen des Dialogs gepflegt werden. fragten vertrauen laut der Langzeitstudie „Medienver­ trauen“ einer Mainzer Forschungsgruppe den Nach­ Bereits vor der Bundestagswahl 2017 wurde in der Re­ richten auf den Seiten der Suchmaschinen, gerade mal daktion von Zeit Online die Idee für eine Aktion gebo­ vier Prozent denen in sozialen Netzwerken. ren, die unter dem Namen „Deutschland spricht“ seit­ dem – ja und doch – Furore macht. Ein Kind des digi­ Aber so einfach, dass sinkendes Vertrauen hier stei­ talen Zeitalters, könnte man sagen, denn nur mit Hilfe gendes Vertrauen in klassische Medien und gar eines eigens entwickelten Algorithmus ist es möglich die Rückkehr zu ihnen bedeutet, ist die Welt geworden, deutschlandweit Gegensatzpaare zusam­ schon lange nicht mehr. Die Medien, das Nur 21 Prozent menzubringen. Dabei handelt sich um Men­ schätzen viele Journalist*innen selbstkri­ der Befragten ver­ schen, die bei der Beantwortung vorher fest­ tisch ein, haben ihren Teil dazu beigetra­ gelegter Fragen, die es mit Ja oder Nein zu gen, dass es so gekommen ist. Allzu oft trauen den Nach­ beantworten gilt, sehr unterschiedlicher, schlagen sich ökonomischer Druck und richten auf den eben gegensätzlicher Meinung sind. die Neigung, der Geschwindigkeit Vor­ Seiten der Such­ rang vor solider Recherche zu geben, nie­ Was digital evaluiert ist, mündet später in der in nicht ausreichenden journalisti­ maschinen, gerade ein analoges Vier-Augen-Gespräch, so die schen Standards. mal vier Prozent Menschen wollen. 12.000 nahmen an der denen in sozialen ersten Runde, dieses Projekts teil, das in die­ Die Erkenntnis, dass mehr Transparenz und sem Jahr mit dem Grimme Online Award aus­ mehr Dialog­ gebraucht werden, teilen viele. Was Netzwerken. gezeichnet wurde. Ein Jahr später waren es schon nicht heißt, dass es in der Vergangenheit weder das 28.000. Verglichen mit der Bevölkerungszahl nicht eine noch das andere gab. Seit jeher werden Briefe von viel, aber doch beachtlich angesichts der Tat­sache, Leser*innen gelesen, beantwortet und veröffentlicht, dass die Bereitschaft, sich auf die Argumente eines gibt es im Hörfunk Formate, bei denen Hörer*innen Gegenüber einzulassen, in den Jahren zuvor eklatant explizit auf­gefordert sind, mitzudiskutieren, werden gesunken ist, wie der Verhaltensökonom Arnim Falk Fernsehreporter*innen­ öffentlich-rechtlich, aber auch feststellt, der das Projekt von Zeit Online wissenschaft­ privat losgeschickt, um vor Ort Meinungen einzusam­ lich begleitet hat. Das hat damit zu tun, dass der in­ meln. Kommentarspalten gibt es nicht erst seit haltlichen Auseinandersetzung vielfach eine emotio­ gestern und die Online-Redaktionen vieler Medien nale Polarisierung hinzugefügt wird, die es oft unmög­ stecken Zeit, Kraft und Geld in die Pflege dieser Art lich macht, sich aufeinander einzulassen. der Kommunikation. In diesem Jahr diskutierten im Rahmen von „Deutsch­ Nicht erst seit, aber doch verstärkt durch das Entste­ land spricht“ 7.000 Paare, sechs Medienpartner hen hybrider Öffentlichkeiten, durch einen eklatanten beteiligten­ sich an der Zeit Online-Aktion, darunter die Rechtsruck und einen Zustand, in dem wir in Informa­ Berliner Zeitung, die Sächsische Zeitung, die FAZ, die tionen zu ertrinken scheinen, aber nach Wissen evangelische Zeitung chrismon. hungern, wie der US-amerikanische Zukunfts­ forscher John Naisbitt es formuliert haben Der Erfolg von „Deutschland spricht“ soll, machen sich Medien auf, der ver­ zeigt, dass dieser Dialog möglich änderten Rollenverteilung zwischen ist. Zugleich stellen sich zwei Sendern und Empfängern neue wichtige Fragen: Vernachläs­ dialogische Formate an die Seite sigen Medien dadurch ih­ zu stellen. ren eigentlichen,­ demo­ kratischen Auftrag? Optimistisch ließe sich sa­ gen: Das Zeitalter des Mit­ Und: Werden auf die­ einanderredens und Einan­ sem Weg tatsächlich derzuhörens scheint ange­ jene erreicht, die sich brochen. Weniger optimis­ abgewendet haben tisch betrachtet muss und in ihrer Filterblase zumindest die Frage gestellt stecken? Auch wenn werden, ob sich der Journa­ viele Beteiligte und En­ lismus damit noch mehr als gagierte die erste Frage bisher zum Animateur einer mit „Nein“ beantworten, opaken Öffentlichkeit macht, mit der Antwort auf die die sich nicht mehr einfach in zweite Frage ist es schwieri­

Zielgruppen sortieren lässt. Und ger. Als sich die beiden Kom­ Christiane Pfohlmann/toonpool.com Karikatur: die Frage, ob mit den Formaten, die munikationsexperten Wolf- »

4.2019 M 9 IM FOKUS

orothea Heintze, Redakteurin bei chrismon, D das monatlich erscheint, sieht bei „Deutschland spricht“ einen konstruktiven Ansatz: Für uns bei chrismon war konstruktiver Journalismus schon zu einer Zeit wichtig, als es diesen Begriff, so wie er heute diskutiert und benutzt wird, noch gar nicht gab. Deshalb kann es nicht verwun- dern, dass wir uns bei einem Projekt wie „Deutschland spricht“ en- gagieren – denn es gilt: Menschen miteinander ins Gespräch zu brin- gen. Es ist ein großartiges Projekt und verdient allerhöchsten Respekt. Grundsätzlich habe ich aber die Erfahrung gemacht, dass die wenigen Menschen, die sich aus dem konservativen, rechten oder national-rechten Lager angemeldet haben, am Ende doch „geknif- fen“ haben. So trafen dann eben oft Leute aufeinander, die nicht wirklich gestritten haben. Da war der eine für autofreie Städte, der andere hatte zwei PKWs in der Garage und wollte kein Tempolimit, aber man traf sich konstruktiv in der Mitte.

Also ist die größte Fragestellung für die nächsten Male: Wie kriegt man die, die wirklich ganz anderer Meinung sind, zum Mitmachen? Wir müssen uns mit Leuten auseinandersetzen, von denen wir frü- her noch gesagt haben: „Mit so einem rede ich nicht.“ Das war falsch. Ich sehe bei allen Journalisten und Medien in Deutschland eine klare Mitverantwortung an der Fake-News-Diskussion und freue mich da- her über diese Möglichkeit, da was zu verbessern. Eine Grenze gibt es: Ich rede nicht mit bekennenden Nazis. Das sind Gesetzesbrecher und die gehören nicht auf eine Bühne, sondern sollten angezeigt

werden. Online Zeit Fotos:

Beim nächsten Mal könnte der Kreis der Medien größer gezogen wer- Impressionen von Z2X 2019 den. Fernsehen, Radio, ginge alles… Und warum nicht auch Bild oder Junge Freiheit mit einbeziehen? Ja, es kann sein, dass die Rechten versuchen, den Diskurs zu kapern, aber dieses Risiko müssen wir ein- die Erfahrungen aus den Diskussionen Eingang in die beziehen. „Deutschland spricht“ gibt die Möglichkeit, auszuprobie- Berichterstattung über junge Menschen. Z2X fand ren. Wir werden gern wieder mitmachen. 2019 zum vierten Mal statt. Parallel entstand der Glas­ haus-Blog auf Zeit Online, ein Transparenzblog, der sich unter anderem mit der Frage auseinandersetzt, ob sich die Rolle des Gastgebers solcher Diskussionsforen mit der des Journalisten verträgt. » gang Storz und Hansjürgen Arlt 2016 im Auftrag der Otto Brenner Stiftung in einer Studie mit dem Die Grenze ist nicht einfach zu ziehen und deshalb Titel „Journalist oder Animateur – ein Beruf im Um­ muss ihr Verlauf immer wieder neu geprüft werden. bruch“ mit der Frage befassten, ob sich der Journalis­ Denn es kann weder darum gehen, zu fraternisieren, mus von seinem eigentlichen Auftrag weg- und unter indem dem Leser oder der Leserin zu Munde geschrie­ ökonomischem Druck hinbewege zu einem Anima­ ben wird, noch darum, den Eindruck zu erwecken, dass teur für ein möglichst großes Publikum, kamen sie zu die vornehmste Aufgabe klassischen Journalismus einem bedenklichen Ergebnis. Die notwendige Grenze (auch in modernen Medienformaten), zu recherchie­ zwischen Journalismus und Nicht-Journalismus werde ren, Informationen aufbereiten, der Wahrheit so nahe viel zu oft nicht gezogen. wie möglich zu kommen, gesellschaftliche Wirklich­ keit zu beschreiben und eine Faktenbasis zu schaffen, Genau darüber wird gegenwärtig diskutiert und diese zugunsten anbiedernden Dialogs vernachlässigt wird. Diskussion ist spannend, so wie auch die Formate viel­ fältig sind. Zeit Online hatte bereits 2016 mit dem For­ Die Veranstaltungsreihe „Auf ein Bier mit der SZ“ (Süd- mat Z2X interessante Erfahrungen gemacht. Es war deutsche Zeitung) sei dazu gedacht, erklärte die dama­ der 20. Geburtstags dieser Online-Ausgabe und Men­ lige Online-Chefredakteurin Julia Bönisch in einem schen zwischen 20 und 29 Jahre alt waren aufgefor­ Interview, aus der Filterblase rauszukommen und zu­ dert, sich bei Interesse für Diskussionen und Austausch zuhören. Über die Gründe, warum man überhaupt in zu registrieren. 5.000 taten das, 600 wurden eingela­ die Filterblase geraten ist, muss viel und viel ausführ­ den, in Berlin über Möglichkeiten zu diskutieren, die licher geredet werden. Die Leser*innen werden den Welt zu verbessern. Seitdem, sagt Maria Exner, fänden Journalismus nicht retten, das muss er selbst tun. Aber

10 M 4.2019 PUBLIKUMSDIALOG

us der Redaktion des Spiegel erhielt M auf Anfrage zum Leserdialog dieses Statement: Wir wollen A Spiegel-Journalismus erlebbar machen und zeigen, wie die Redaktionen des Spiegel arbeiten, was uns ausmacht und wer die Menschen hinter den Nach- richten und den großen Reportagen sind. Gleichzeitig bekommen wir über den Kontakt zu unseren Leserinnen und Lesern immer wieder wertvolle Anregungen für Recherchen. Für alle Medien ist es in Zei- ten von Lügenpresse-Vorwürfen und Fake-News-Rufen ausgespro- chen wichtig, die Arbeitsweisen der Redaktion mit Veranstaltungen wie beispielweise der Leserkonferenz zu präsentieren. Im Dialog mit- einander gelingt es, voneinander zu lernen und Verständnis für An- sichten und Arbeitsweisen zu entwickeln, Vertrauen aufzubauen.

Bisher haben wir eine Leserkonferenz veranstaltet. Eingeladen wur- den alle Spiegel-Leser, die auf den Beitrag „Die Wut der klugen Köpfe“ (24.02.2018) von Isabell Hülsen einen Leserbrief geschrieben hatten. dass Medien mit Formaten wie „Deutschland spricht“ Insgesamt gab es 2.500 Zuschriften. In diesem Jahr war eine Fortset- Möglichkeiten eröffnen, die in weiten Teilen verküm­ zung der Leserkonferenzen geplant, die Aufarbeitung des Relotius- merte Kultur des Dialogs zu verbessern, ist begrüßens­ Skandals hat diese Planung allerdings hinfällig gemacht. Wenn wert. Zugleich werden so dringend benötigte Ressour­ dieser Prozess abgeschlossen ist, sollen die Leserkonferenzen fort- cen verbraucht. gesetzt werden.

In jüngerer Zeit ist viel von „konstruktivem Journalis­ Der Spiegel hat alle Kraft darein gesteckt, die Ursachen des Relotius- mus“ die Rede, im Zuge neuer Dialogformen wird hier Skandals ausfindig zu machen, die eigenen Arbeitsweisen und Stan- diskutiert, ob es nicht eine Unwucht in der Bericht­ dards zu prüfen und zu überarbeiten. Zugleich waren und sind wir erstattung gibt, was die schlechten und die guten im Dialog mit unseren Lesern, gerade mit den kritischen. Dazu nut- Nachrichten anbelangt. Ob diese Unwucht nicht zur zen wir verschiedene Kanäle, die dem Leserdialog dienen, beispiels- Entfremdung zwischen Journalist*innen und Rezi­ weise den Kundenservice oder Social Media. Die direkte Resonanz pient*innen beiträgt. von Leserinnen und Lesern auf die Enthüllungen war in der Breite eher gering. Für ein umfassendes Bild zum Einfluss des Falls haben wir unter anderem unsere regelmäßige Vertriebsmarktforschung zur Copypreis-Akzeptanz um spezielle Fragestellungen zu Relotius er- weitert. Hier sehen wir, dass der Fall etwa ein Drittel der Leser er- usanne Lenz, Redakteurin im Ressort Feuilleton der schreckt hat – doch sie zollen Respekt dafür, wie der Spiegel damit Berliner Zeitung: Ich war bei einem der Gespräche umgeht. Bei ihnen ist die Loyalität sogar leicht gestiegen. Ein weite- S zweier Menschen, die über den Algorithmus als Ge- res Drittel stellt uns jetzt auf den Prüfstand und will in Zukunft se- sprächspaar zusammengefunden wurden, dabei. hen, dass wir daraus gelernt haben. Das übrige Drittel der Befragten Mehr als drei Stunden hat es gedauert, und es war hat von dem Thema kaum etwas mitbekommen. regelrecht beglückend, den beiden zuzuhören. Im August 2017 haben wir die Backstage ins Leben gerufen, um un- „Deutschland spricht“ ist ein gutes Projekt, weil Menschen mit des- sere Arbeit transparenter zu machen und ausführlicher zu erklären, sen Hilfe sozusagen die „Blase“ verlassen können. In der Anonymität wie wir mit Quellen umgehen und Fakten prüfen, wie wir unseren ist es einfach, sich im Ton zu vergreifen. Vor allem aber produziert Journalismus finanzieren und für die Sicherheit der Daten unserer die oft verkürzte Kommunikation in sozialen Netzwerken Missver- Nutzer sorgen. Uns war wichtig, diese Aspekte in diversen Formaten ständnisse. Das ist mir bei dem Gespräch dieser beiden Menschen auszuleuchten, die wir auf der Seite an unterschiedlichen Stellen über die Frage, ob die Alten auf Kosten der Jungen leben, noch kla- einbinden können – jeweils genau dort, wo sich unsere Nutzerinnen rer geworden. Sie waren gegensätzlicher Meinung, aber sie sind auch und Nutzer diese Fragen stellen. von ganz unterschiedlichen Prämissen ausgegangen. Während die eine darüber redete, dass sie ausreichend und viel gearbeitet und nicht das Gefühl habe, bald durch ihre Rentenbezüge auf Kosten an- derer zu leben, hatte der andere im Sinn, dass ältere Generationen zu sorglos mit unserem Ökosystem umgehen und den Jungen da- Wolfgang Storz sagt: „Die Entfremdung basiert auf durch Lasten aufbürden. So etwas lässt sich in einem direkten Ge- dem Gefühl und dem Erleben des Publikums: Die be­ spräch klarstellen und dann auch ausdiskutieren. Und so entsteht handeln die Themen und Probleme, die meinen All­ Verständnis füreinander – die Grundvoraussetzung für zivilisierten tag prägen, gar nicht oder nicht konkret genug. Und Streit und faire Kommunikation, finde ich. das auch noch in einer Sprache, die ich nur schwer verstehe.“ Ein verständlicheres Angebot und die Frage nach den Themen, die die Menschen wirklich be- »

4.2019 M 11 IM FOKUS

schäftigen – über aufgesetzte dialogische Formate, die zur Stärkung der gesellschaftlichen Mitte. Weil das al­ kampagnenartig gefahren werden hinaus –, trüge weit­ leinige Recht zur Verbreitung von Nachrichten schon aus mehr dazu bei, dass Entfremdung abgebaut und lange nicht mehr bei den Medien läge. Bindung hergestellt werde. Mehr jedenfalls, als wenn diese Formen in bloßer und damit letztlich folgenlo­ Die Stärkung der gesellschaftlichen Mitte in einer Zeit, ser Debatte und Mitsprache mündeten und sich bei­ da fast alle von sich behaupten, Mitte zu sein, ist eine spielsweise an dem Spektrum der Themen, die der schwammige Angelegenheit. Nicht schwammig, statt­ Journalismus regelmäßig bearbeite, nichts ändere. Ob dessen wichtiger denn je ist, dass kritischer Journalis­ die Qualität des Journalismus besser wird, indem er mus eine wesentliche Voraussetzung für eine funkti­ sich dem – bislang eher aus ökonomischen und Mar­ onierendes demokratisches Gemeinwesen ist. Dafür, ketinggründen wohlausgeforschten Leser – durch di­ dass er das sein, bleiben oder wieder besser werden alogische Formate zuwendet, kann heute noch nicht kann, braucht er ein interessiertes, gebildetes und of­ gesagt werden. Maria Exner von Zeit Online ist zuver­ fenes Publikum, das er nicht als Ansammlung passi­ sichtlich. „Deutschland spricht“ leiste einen Beitrag ver Konsument*innen versteht. Kathrin Gerlof ‹‹

Wortmeldung während eines Leserforums, Oktober 2019, im BZV-Medienhaus in Braunschweig.

Leserforen Kleinschmidt Florian Foto: und Bildungsprojekte

Braunschweiger Zeitung setzt auf Transparenz und Dialog mit ihrer Leserschaft

ine starke Präsenz in der Region, die Weisen mit den Redakteur*innen und sogleich der ge­ auf Dialog mit den Bürgerinnen und samten regionalen Öffentlichkeit in Kontakt treten. E Bürgern fußt – das ist das Rezept der Braunschweiger Zeitung gegen den Die Braunschweiger Zeitung verfügt über eine breit auf­ ­anhaltenden Vertrauensverlust, un­ gestellte Online-Präsenz mit verschiedenen Portalen. ter dem der deutsche Journalismus leidet. Die Tages­ Ihre Social-Media-Abteilung baut sie zurzeit weiter aus, zeitung, die in Niedersachsens zweitgrößter Stadt er­ um die Online-Kommunikation mit den Leserinnen scheint und die umliegende Region mit Großstädten und Lesern zu fördern. Über das Portal Alarm38.de wie Wolfsburg und Salzgitter abdeckt, entwickelte dazu etwa können Bürger ihre „Aufreger“ im Alltag mit ei­ das Konzept der Bürgerzeitung. Die Leserschaft wird nem Foto veröffentlichen – etwa wenn es um Miss­ dabei nicht bloß als Abnehmer betrachtet, sondern stände auf öffentlichen Straßen geht. Die Lokalredak­ als Partner. „Unser Produkt wird durch die Teilnahme tionen greifen diese Aufreger dann auf, haken bei zu­ der Leser besser“, stellt Chefredakteur Armin Maus ständigen Ämtern und Behörden nach und publizie­ fest. Leserinnen und Leser können auf verschiedene ren das Ergebnis. Oder einfacher gesagt: Die Zeitung

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kümmert sich. Auch über Facebook und Instagram die Redakteure öffentlicher Kritik stellen. Ihre Beiträge wird der Echtzeitaustausch mit den Leserinnen und werden nicht zuletzt mittels Grundregeln des Presse­ Lesern unterstützt. Dort können sie miteinander in kodex objektiv evaluiert. Mit dieser Form der Trans­ Dialog treten. parenz schafft es die Braunschweiger Zeitung zuneh­ mend, das Vertrauen ihrer Leserschaft in den Journa­ Doch vor allem mittels einer Varietät von öffentlichen lismus und die dahinterstehenden Journalist*innen Veranstaltungen sucht die Braunschweiger Zeitung Kon­ zu stärken. Zudem können die Leserinnen und Leser takt zu ihren Lesern. Dorf- und Stadtteilabende fin­ durch die entstehende Diskussion besser nachvollzie­ den an wechselnden Orten statt und bilden das Ge­ hen, wie Journalist*innen arbeiten. schehen in der Nachbarschaft ab, während die Leser­ foren nach gezielter Themenauswahl organisiert wer­ „Braunschweiger des Jahres“ den. Dabei wurde etwa ein Forum zum Gedenken der für ehrenamtliches Engagement Braunschweiger Bombardierung vor 75 Jahren veran­ staltet, bei der ein Zeitzeuge über seine Erlebnisse be­ Und auch durch die Vergabe von Preisen wird das Ver­ richtete. Auch behandelten die Foren schon aktuelle hältnis von der Leserschaft zu ihrer Tageszeitung Themen wie Hasskommentare und Pöbeleien im In­ ­bestärkt: So vergibt die Braunschweiger Zeitung den ternet – und wie mit ihnen umgegangen werden sollte, Preis „Braunschweiger des Jahres“ und ehrt mit dem auch seitens der Redaktion. Und der politische Aus­ „Gemeinsam-Preis“ ehrenamtliches Engagement von tausch vor Wahlterminen findet in den Foren eben­ Bürger*innen in der Region. An den Standorten ande­ falls regelmäßig statt. Die Leserforen sind flexible For­ rer Lokalredaktionen werden entsprechend weitere mate: Die Teilnehmerzahl kann zwischen 50 und 9000 Ehrenamts-Preise vergeben – stets öffentlichkeitswirk­ Teilnehmern variieren. Sie orientieren sich am Inter­ sam in festlichem Rahmen. esse der Leserschaft und an Gelegenheiten, bekannte Persönlichkeiten zum Dialog einzuladen. Nicht zuletzt werden Bildungsprojekte angeboten, durch welche die Braunschweiger Zeitung insbesondere Die wohl prägnanteste Strategie der Braunschweiger in Kontakt mit jüngeren Menschen in der Region tritt. Zeitung, die Bindung zur Leserschaft durch Transpa­ Im Rahmen des Medien- und Bildungsprojekts „Zu­ renz zu verbessern, ist der Ombudsrat. Er wurde 2009 kunft bilden“ können Auszubildende völlig anderer ins Leben gerufen und soll als „Anwalt der Leserinnen Berufsfelder an verschiedenen Workshops teilnehmen, Chefredakteur Armin Maus und Leser“ fungieren: Möchte jemand einen Artikel, lernen dabei etwa das Fotografieren und blicken hin­ (l.) im Gespräch mit David einen Meinungsbeitrag oder den Umgang der Redak­ ter die Kulissen des Medienunternehmens. Ein medi­ Mache, stellv. Chefredak- tion mit einem bestimmten Thema kritisieren, kann enpädagogisches Programm begleitet die jungen Men­ teur und redaktionsinter- diese Person dem Ombudsrat per E-Mail oder Brief schen. Und im Rahmen des Medienprojekts „Media­ nem Ombudsrat, sowie der eine Beschwerde schicken. Diese wird dann von einer campus“ werden Lehrkräfte der dritten bis zwölften redaktionsexternen ­redaktionsinternen Person, zurzeit der stellvertretende Klassen darin unterstützt, Medienkompetenz im Un­ Ombudsrätin Tilla Seffer- Chefredakteur David Mache, und einer redaktions­- terricht zu lehren. Gassel (August 2018). externen, derzeit Tilla Scheffer-Gassel, geprüft. Letz­ tere ist langjährige Vizepräsidentin des Amtsgerichts Chefredakteur Armin Maus betont, dass die Braun- Braunschweig. Das Wichtig­ schweiger Zeitung sich als Dienstleister der Leserinnen und Leser sieht: „Wir wollen sowohl Stimme als auch Marktplatz der Region sein“, erklärt er. „Mit uns kön­ nen die Bürger ihre eigenen Themen in die Öffent­ lichkeit bringen.“ Seine Beobachtung: In der Region Braunschweig herrsche eine gute Diskussionskultur.

Den Vertrauensverlust in den bundesdeutschen Jour­ nalismus versteht die Braunschweiger Zeitung als An­ trieb, noch besser zu werden. Die Redaktion will Transparenz und Kompetenz beweisen. „Wir setzen uns hohe Maßstäbe“, betont Armin Maus. „Es ist ein Privileg, in Deutschland als Journalist frei arbeiten zu

Foto: Philipp Ziebart Foto: können. Und wir haben die Verpflichtung, es auch gut zu machen.“ Die Vertrauenskrise rufe zwar prob­ lematische Pauschalurteile gegen Medien hervor, aber ste vorweg: Jede Beschwer­de erhält eine Antwort. Ent­ rege die Journalisten auch an, konsequent an sich zu scheiden die zwei Mitglieder des Ombudsrates, dass die arbeiten. „Als Informationsmedium müssen wir offen Kritik für die breite Leserschaft relevant ist, erschei­ sein, jeweils beide Seiten zeigen und das bestmögliche nen der originale Artikel mitsamt der Beschwerde, ei­ journalistische Ergebnis erzielen“, so der Chefredak­ ner Antwort des Verfassers und die Auseinanderset­ teur. Dazu gehöre auch, die Lebenssicht der Bürgerin­ zung des Ombudsrates mit der Kritik in der Tageszei­ nen und Bürger in der Region an sich heranzulassen. tung. Die Leserschaft kann so mitverfolgen, wie sich Sophie Isabell Bremer ‹‹

4.2019 M 13 IM FOKUS Die Entfremdung stoppen –

aber wie? Waren es 2017 noch 18 Prozent, so stimmten ein Jahr erschiedene Studien wie unter anderem die Bewegen sollte sich auch Mainzer Langzeitstudie „Medienver­ später bereits 27 die Politik: Die Medienbil­ V trauen“ zeigen ein zwiespältiges Verhält­ Prozent der Befrag­ dung in den Schulen ist, nis von Medien und ihrem Publikum: ten der Aussage zu: allen Sonntagsreden zum Während das Vertrauen zunimmt, wächst Trotz, eine Katastrophe. zugleich die Entfremdung – und zwar rasant. Waren es 2017 „Die Medien haben Sie muss stärker werden. noch 18 Prozent, so stimmten ein Jahr später bereits 27 Pro­ den Kontakt zu Und sie muss stärker als bis­ zent der Befragten der Aussage zu: „Die Medien haben den Menschen wie mir her den Journalismus in den Kontakt zu Menschen wie mir verloren.“ Doch zeigen die Er­ Mittelpunkt rücken. Das Wis­ gebnisse der Mainzer Befragung auch: Je mehr die Menschen über verloren.“ sen über den Journalismus muss Medien wissen, desto mehr vertrauen sie ihnen. wachsen. Die Lektüre einer (digita­ len) Zeitung sollte in jeder Schule Stan­ Sind dialogische Formate wie Leserkonferenzen also die richtige Ant­ dard sein. Das Lesen einer Zeitung könnte zur wort auf die Entfremdung? dauerhaften Hausaufgabe werden. Absurd? Ja, wa­ Oder erreicht man damit ohnehin nur diejenigen Leser*innen mit rum denn? Weil so eine „Lese-Pflicht“ eher abschreckend wirken fundierter und differenzierter Medienkritik? würde? Da wäre die Pädagogik gefragt! Das Argument einer Abschre­ Und was kann noch getan werden, um das Vertrauen in die Medien ckung hat uns ja auch nicht gehindert, Goethe und Schiller oder die und deren Glaubwürdigkeit (wieder) zu stärken? binomischen Formeln zur Pflicht zu machen. Wir haben vier Journalist*innen und Medienwissen­ schaftler*in­ nen gefragt. Luise Strothmann, Tanjev Schultz, war Vize-Chefin der taz am Wochenende und ist seit 2019 verant- wortlich für die Produktentwicklung der taz im Netz: Professor für Journalis- mus an der Johannes Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und überzeugt da­ Gutenberg-Universität von, dass Journalist*innen von Biobäuer*innen lernen können. Mainz und einer der Viele Menschen sind bereit, mehr für ein Ei zu bezahlen, dass Autoren der Mainzer nicht in einem Käfig gelegt wurde, seit sie wissen, dass Ei nicht Langzeitstudie „Medien- gleich Ei ist. Wenn wir es als Teil unserer Arbeit verstehen, zu vertrauen“: vermitteln, wie unabhängiger Journalismus entsteht, werden auch mehr Menschen bereit sein, uns darin zu unterstützen. Dialog-Formate sind in je­ Dass viele Leute nicht wissen, wie Journalist*innen arbeiten, ist dem Falle gut, auch wenn sie kein Problem von Bildung. Wir machen es Menschen nicht leicht, nur bestimmte Gruppen erreichen. etwas darüber zu erfahren. Lange galt es als selbstbespiegelnd, Re­

Manche Menschen sind nur schwer JS Mainz Foto: cherchewege in einem Artikel transparent zu machen. oder gar nicht mehr zu gewinnen, es kommt für die Medien aber gerade darauf an, die konstruktiv Kritischen Natürlich ist es schwer, elegante Metho­ nicht zu verlieren. Dialog-Offensiven müssen nachhaltig sein. Wer den zu finden, Quellenlagen und sie nur als PR-Strohfeuer nutzt, steht bald im Dunkeln da. Deshalb Arbeitsweise in Texten zu ver­ reicht es nicht, auf ein paar große Kampagnen zu setzen. Der Journa­ deutlichen, ohne sie kompli­ lismus muss auch im Alltag beweisen, dass er nicht abgehoben ist. zierter zu machen und ohne Journalist*innen unnötig Doch welche Redaktion hat noch die Ressourcen, dass sie ihre Leute in den Vordergrund zu wirklich ausschwärmen lässt? Tauchen Journalistinnen und Jour­ spielen. Aber ich glaube, nalisten überhaupt noch auf, wenn der Gemeinderat tagt oder eine dass die Arbeit am Ver­ Schule ihr Fest feiert? Alle sprechen vom Zuhören. Aber gibt es trauen keine ist, die wir jenseits spezieller Formate im journalistischen Betrieb überhaupt in monatliche Veranstal­ noch Zeit zum Zuhören? Die Zeit, sich auf Menschen einzulassen, tungen delegieren kön­ ohne dass schon die Richtung einer Recherche feststeht? Und die nen und dann beruhigt Zeit und den Mut, das Gleis zu verlassen, auf dem eine Redaktion weitertippen. Sie betrifft un­ unterwegs ist? ser tägliches Tun.

14 M 4.2019 PUBLIKUMSDIALOG

Dennoch können wir dem Dialog natürlich auch Formen geben. Prof. Dr. Wiebke Loosen, Dass kann ein Schulprojekt sein, eine Netflix-Dokuserie, die die Senior Researcher Journalis- Arbeit von Journalist*innen begleitet, eine Crowd-Recherche, eine musforschung am Leibniz- Instagram-Story. Aber gerade bei Schulbesuchen gilt: Es geht nicht Institut für Medienfor- nur darum, sich zu erklären. Zu senden. Lasst uns zuhören! Ich hoffe schung | Hans-Bredow- sehr darauf, dass der Journalismus in den kommenden Jahren von Institut (HBI) und der radikalen Nutzer*innen-Zentriertheit des Digitalen profitiert. Wir Professorin an der bei der taz haben uns kürzlich gefragt, warum wir eigentlich immer Universität Hamburg: Journalist*innen einladen, um unsere Zeitung oder unsere Webseite zu kritisieren. Seitdem kommen regelmäßig Leser*innen, um uns In der Journalismus-Publi­ ihre Meinung sagen. Und wir versuchen dabei verschiedene Per­ kums-Beziehung hat man spektiven abzubilden. Ich habe zu Beginn geschrieben, dass ich mit Verständigungsproble­ Bauerntochter bin. Viele meiner Kolleg*innen sind weiße Lehrer­ men zu kämpfen und mitunter­ kinder. Eine einzige Kollegin ist Tochter einer auch mit mangelnder gegenseiti­ Putzfrau. Wenn Journalismus weniger eli­ ger Wertschätzung für die Leistungen tär werden will, dann ist ein guter Weg des anderen – und sie muss unter sich wan­ dahin, bei der Diversität der Men­ delnden Medien- und Kommunikationsbedingungen ständig neu

schen anzufangen, die in den Re­ austariert werden. Dialogische Formate wie Leserkonferenzen sind HBI Foto: daktionen arbeiten. ein Mittel dafür und stehen insofern für eine neue Entwicklungs­ stufe in der Journalismus-Publikums-Beziehung. Sie stellen eine In­ teraktionsbeziehung unter den Bedingungen von Anwesenheit dar, Dr. Uwe Krüger, die in der Form im Journalismus eine vergleichsweise neue Praxis darstellt und von allen Beteiligten erst gelernt werden muss. Und Forschungskoordinator sie sind vor dem Hintergrund eines grundlegenden Wandels der Be­ des Zentrums Journalismus ziehung zwischen Journalismus und (seinem) Publikum zu sehen. und Demokratie der Universität Leipzig und Autor des Buches Seit ich mich in meiner Forschung mit der Transformation dieser „Mainstream – Warum wir den Beziehung beschäftige, denke und beobachte ich sie mehr und mehr Medien nicht mehr trauen“ als soziale Beziehung. Dann wird deutlich, dass „die Größe Publi­ (C.H.Beck 2016): kum“ sich für Journalist*innen mehr und mehr verflüssigt hat, sich ein Medium z. B. oft mit unterschiedlichen Erwartungen seiner Nut­ Aus meiner Sicht gründet die Entfremdung größerer Teile der Bevöl­ zer*innen etwa auf Facebook und der Leser*innen der Printausgabe kerung von den etablierten Medien auf Repräsentationsdefiziten. konfrontiert sieht. Auch sind in Teilen des Publikums die Erwartun­ Im Subtext der Berichterstattung dominieren häufig bestimmte gen an Transparenz und Dialogorientierung gestiegen, gleichzeitig

Foto: Bernd Roeder Foto: Werte und Perspektiven, die sich keines bevölkerungsweiten Kon­ haben Journalist*innen aber auch oft die Tendenz, den Partizipati­ senses erfreuen, z.B. liberal-kosmopolitische Werte und ein west- onswillen ihres Publikums zu überschätzen. In der täglichen jour­ zentrischer Blick auf das außenpolitische Geschehen. Zudem haben nalistischen Arbeit zeigt sich das daran, dass Journalist*innen oft die eingespielten Selektions- und Produktionsroutinen großer Re­ sehr unmittelbar mit allen möglichen Formen von nicht immer will­ daktionen und auch deren Abhängigkeit von der PR ressourcenstar­ kommenen Publikumsreaktionen und Kritik konfrontiert sind und ker Institutionen aus Politik und Wirtschaft zur Folge, dass in der auch, dass Produkte nicht nur ‚abgeliefert‘ werden, sondern mitun­ laufenden Berichterstattung vor allem der Eliten-Diskurs abgebildet ter auch kommuniziert werden muss, wie und unter welchen Bedin­ wird. Was an der gesellschaftlichen Basis läuft und was Menschen gungen sie entstanden sind. denken, die keine Kommunikationsprofis sind oder haben, bleibt so häufig unterbelichtet. Viele Journalist*innen versuchen, all diese Ebenen der Publikums­ beziehung in ihrer Arbeit „mitzudenken“ – das habe ich in meiner Dagegen helfen in erster Linie nicht Dialogformate, Leserkonferen­ empirischen Forschung immer wieder beobachten können. Zum Teil zen und Transparenzoffensiven, sondern Recherche und Reportage, leiden sie dabei an etwas, was man als eine „multiple Publikumsstö­ Wertepluralismus und Meinungsvielfalt. Die vielen parallel laufen­ rung“ bezeichnen könnte, die sich einerseits aus den als widerstrei­ den Diskurse in einer heterogenen Bevölkerung gilt es abzubilden, tend wahrgenommenen Publikumserwartungen ergibt und ande­ zu kuratieren und zu moderieren. Ein ständiger Abgleich zwischen rerseits aus ihren journalistisch-professionellen Rollenselbsterwar­ den Perspektiven von „oben“ (Eliten) und „unten“ (Nicht-Eliten) tungen. sowie von Perspektiven verschiedener Milieus (etwa: konservativ- kleinbürgerlicher vs. progressiv-postmaterialistischer) muss zum Pro­ Eine Besonderheit der Journalismus-Publikum-Beziehung ist, dass gramm des Journalismus gehören. Für solche Perspektivwechsel hilf­ sie nur einseitig aufgekündigt werden kann: Journalismus braucht reich ist übrigens das Konzept der Gewaltfreien Kommunikation (s)ein Publikum und muss sich deswegen um eine neue Beziehungs­ nach Marshall Rosenberg, das in Konfliktfällen empfiehlt, die Posi­ kultur und ein Austarieren all dieser z. T. widersprüchlichen Erwar­ tionen der Konfliktparteien aufzusplitten in die jeweiligen (1) Wahr­ tungen bemühen. Gleichzeitig gehört eine gewisse Distanz gegen­ nehmungen, (2) Gefühle, (3) Bedürfnisse und (4) Bitten der Betei­ über Publikumserwartungen zur journalistisch-professionellen DNA: ligten. In unserer vielfach gespaltenen Gegenwartsgesellschaft kön­ andernfalls lässt sich kaum ein Angebot machen, das an alle adres­ nen Journalistinnen und Journalisten, die verständigungsorientiert siert ist und gerade deswegen nicht jedem gefallen darf.

Foto: privat/Luise Strothmann Foto: berichten wollen, von diesem Konzept viel lernen. Es fragte: Monique Hofmann ‹‹

4.2019 M 15 IM FOKUS Starke Performance ARD erreicht mit Interaktionen in sozialen Medien mehr junge Leute

icht erst seit dem durchschlagenden Dabei sei tagesschau.de nicht so abhängig von Klicks Erfolg von Rezos „Zerstörung der wie ihr früheres Medium, erläuterte sie unlängst auf N CDU“ basteln die meisten Medien an dem Berliner Forum der Initiative Qualität im Journa­ journalistischen Formaten auf den lismus, in der sich auch die dju in ver.di engagiert. Social-Media-Plattformen. Auch die Themen könnten also nicht nach Klickverdacht, sondern öffentlich-rechtlichen Anstalten versuchen, den Ge­ nach journalistischer Relevanz ausgewählt werden. nerationenabriss durch Dialogformate und originel­ Das Publikum von „Tagesschau“ und tagesschau.de les Bespielen von Facebook, Twitter und Instagram zu sei „völlig verschieden“, die Nutzer*innen des Online- stoppen. Teilweise mit beachtlichem Erfolg. Auftritts seien im Schnitt 20 Jahre jünger als die des linearen Programms. Kaum zu glauben: Die vermeintlich alte Tante „Tages­ schau“ erreichte im Oktober 2019 Platz 1 in den sozia­ Derbe Sprüche und Kraftausdrücke len Medien. „Vor allem aufgrund seiner starken Per­ formance auf Instagram“ habe sich an die Unabhängig vom Alter der Zuschauer*innen sind Spitze des sozialen Rankings setzen können, noch vor allerdings die Shitstorms, die sich regelmäßig bei Bild und dem ZDF, bilanzierten die Medienforscher politischen Reizthemen über das journalistische Per­ von Storyclash. Insgesamt erzielte demnach das Erste sonal der ARD ergießen. Speziell mit seinen Postings rund 9,7 Millionen Interaktionen, wenn also Likes, Shares und Kommentare, davon allein 6,9 Millionen auf Instagram.

Demnächst könnten es noch mehr werden. Dann, wenn zu Facebook, Instagram, Twit­ ter und YouTube auch noch die Interaktio­ nen auf Tik Tok gerechnet werden. Tik Tok ist eine Kurzvideo-App, mit der die „Tagesschau“ nicht nur humoristische Filmchen, sondern

„auch journalistische Inhalte für eine junge

Foto: NDR/Thomas Pritschet NDR/Thomas Foto: Zielgruppe“ verbreiten will, wie Marcus Born­ Sachs WDR/Herby Foto: heim, Erster Chefredakteur von ARD-aktuell, zum Start am 20. November per Pressemittei­ lung verkündete. „Gemeinsam mit der Commu­ Georg Restle, Anja Reschke nity“ wolle man herausfinden, wie solche Inhalte am und Dunya Hayali sind oft Ziel besten aufbereitet werden könnten. Was der ARD- von „Hatern“ Mann dabei schamhaft verschwieg: Bei Tik Tok han­ Juliane Leopold, seit Oktober delt es sich um eine chinesische Plattform, die seit ge­ 2019 Chefredakteurin raumer Zeit im Ruf steht, Inhalte zu zensieren. Laut es um Migration oder die AfD Digitales bei der ARD und Guardian sind Themen wie Homosexualität, Alkohol geht, schwillt dem Wutbürger Leiterin von tagesschau.de und Nacktheit tabu. Und beim Stichwort „Hongkong“ gern der Kamm. Dann werden wirft Tik Tok Videos über Kulinarisches und Musik schon mal derbe Sprüche ge­

aus, nicht dagegen Infos über die massiven Proteste postet wie „Wenn dein Vater Pietschmann ZDF/Svea Foto: gegen das Pekinger Regime. Die Tagesschau stehe „für ein Gummi benutzt hätte, gäb’s unabhängigen Journalismus“, verteidigte sich Born­ jetzt ein Arschloch weniger“. Andere Zeitgenossen be­ heim gegenüber Bild. Und: „Sollten wir hier Beein­ gnügen sich mit Kraftausdrücken wie „arrogante trächtigungen feststellen, werden wir reagieren.“ Fresse“, „Volksverräter“, „Verbrecher“. Gerade profi­ lierte meinungsstarke Journalist*innen wie „Monitor“- Um die „Generation Z“ zu adressieren, haben die Moderator Georg Restle – er bekam sogar Mord­ ARD-Oberen Juliane Leopold mit an Bord genom­ drohungen – Anja Reschke oder Dunya Hayali werden men. Die 36jährige ist seit Anfang Oktober Chef­ regelmäßig auf unflätige Weise im Netz beschimpft. redakteurin Digitales bei ARD-aktuell und wie bis­ her Leiterin des Online-Angebots „tagesschau.de“. Mit der Aktion „Sag’s mir ins Gesicht!“ startete die „Ta­ Die frühere Redakteurin von BuzzFeed hält die gesschau“ 2017 einen vielbeachteten Versuch, die

Foto: NDR/Caroline Pitzke NDR/Caroline Foto: Präsenz des Ersten auf allen digitalen Ausspielka­ rüde „Diskussionskultur“ im Netz zu verbessern und nälen für zwingend erforderlich. ihre Spitzenleute aus der Rolle der angefeindeten Op­

16 M 4.2019 PUBLIKUMSDIALOG

fer in die Offensive zu bringen. Auf ARD-Seite betei­ Das Video-Tagebuch der Protagonistin nimmt sie mit ligten sich Kai Gniffke, Anja Reschke und Isabel auf eine Zeitreise vom 19. Oktober bis zum 9. Novem­ Schayani. Dazu wurden auf dem Facebook-Account ber. Dabei werden Original-Szenen der historischen Augmented Reality: der „Tagessschau“ die an sie gerichteten Hasskommen­ „Tagesschau“ von damals mit einer modernen Erzähl­ Virtuelles Einreißen des „an- tare gesammelt. Anschließend forderten die Betroffe­ weise im digitalen Medium verbunden. „70 Prozent tifaschistischen Schutzwalls“ nen die Hater auf, sich ihnen in einem Skype-Video­ unserer Abonnent*innen bei Instagram sind jünger bei Throw Back 89 gespräch zu stellen, das live auf Facebook übertragen als 35 Jahre“, so Bornheim, „die wenigsten haben also wurde. Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten. eigene Erinnerungen an den Mauerfall“. Zehn Minuten vor Sendungsbeginn warteten schon Dass das Kalkül der Social-Media-Re­ Tausende in der Chatline. daktion aufging, zeigt eine Rezension des 24jährigen Ole-Jonathan Gömmel auf „Bento“. Er habe bei DDR-Geschich­ ten in der Vergangenheit oft abgeschal­ tet, da er das Thema „mit langweiligen Unterrichtsstunden und vollgekritzel­ ten Geschichtsbüchern“ assoziiert habe. „Mit der Instagram-Story fand ich einen neuen Zugang.“

Garniert wurde „Throwback89“ mit

weiteren Inhalten auf diversen sozialen Foto: WDR/Annika Fußwinkel WDR/Annika Foto:

Foto: SWR/NDR/Sker Freist SWR/NDR/Sker Foto: Netzwerken. Snapchat-Nutzer*innen, die das Brandenburger Tor Anfang No­ Kai Gniffke, Isabel Schayani vember mit der Technologie „Landmarker Lens“ und Anja Reschke trafen Zuschauer auf facebook bei fotografierten, genossen ein Augmented-Reality- „Sag‘s mir ins Gesicht!“ Erlebnis: Das Bauwerk erschien wie mit Mauerstü­

cken und Stacheldraht zugebaut. Per Fingertipp auf flyp.tv Screenshot: dem Smartphone bot sich die Möglichkeit, Die zugeschalteten Gesprächspartner – ausnahmslos den „antifaschistischen Schutzwall“ vir­ Männer – benahmen sich dann allerdings recht zivi­ tuell einzureißen. Modernste Technolo­ lisiert, formulierten ruhig ihre Ansichten oder stellten gie im Dienst eines „persönlichen Eintau­ Fragen. Ein Beleg dafür, dass der Hass vorzugsweise im chens in die Geschichte“, begeistert sich Schutz der Anonymität stattfindet. Die Fragen kreisten Andreas Lützkendorf, Leiter Strategie & In­ um die Ukraine, um Trump und darum, ob die ARD novation von ARD-aktuell. An der Aktion „regierungsgesteuert“ sei. Für den Sender sei es darum des Social-Media-Teams und des Innovati­ gegangen, „dass wir keine Mimosen sind“, resümierte onslabors der „tagesschau“ waren auch die Kai Gniffke nach dem Experiment. Man habe Dialog­ Webvideo-Unit des NDR und die Redaktion bereitschaft gezeigt und zugleich kommuniziert: „Wir von „“ beteiligt. Die Inhalte akzeptieren diese Hass­attacken nicht länger!“ sind unter „throwback89.de“ weiterhin ver­ fügbar. „Das Problem liegt nicht in der Etablierung neuer Plattformen, wir schwimmen gerade in innovativen Netzwerke als Verjüngungskur Medien“, bekannte unlängst Pulitzerpreisträgerin und Trainerin von Nachwuchsjournalisten Ann Marie Li­ Auch im Medium Hörfunk gehört der Dialog auf pinski in der Neuen Zürcher Zeitung. Problematisch sei sozialen Netzwerken längst zum Tagesgeschäft. „Wir eher, „dass wir nicht genügend Expertise haben, um produzieren und verbreiten nicht nur Inhalte, son­ diese Plattformen mit gutem Journalismus zu füllen“. dern verstehen uns auch als Feedback-Kanal zur Kom­ Gemessen an diesem Anspruch ist der ARD-Tages­ munikation mit dem Publikum“, sagt Torben Walec­ schau pünktlich zum 30. Jahrestag des Mauerfalls ein zek, derzeit vertretungsweise Online-Chef bei Deutsch­ großer Wurf gelungen. landfunk Kultur. Die Postings auf Facebook, Instagram­ und Twitter werden viel kommentiert – mal gehen ein

Das Format „throwback89“ ist laut ARD-aktuell-Chef paar Dutzend, manchmal auch Tausende Reaktionen Marcus Bornheim der Versuch, für die Generation der von Hörer*innen ein. Besonders viel Traffic erzeugen (instagram) tagesschau Screenshots: Vorwende-Geborenen einen Anreiz zu schaffen, „sich gesellschaftliche Reizthemen: Rechtsextremismus und näher mit dem beginnenden Ende der deutsch-deut­ Flüchtlingspolitik, der Umgang mit der AfD, Gender­ Instagram: Weniger lesen, schen Teilung zu beschäftigen“. Wie wäre es wohl ge­ fragen. Betreut wird Social Media von einem Pool schnelle Information mittels wesen, wenn es zur Wendezeit schon soziale Medien Freier Mitarbeiter*innen, werktags sind in der Regel Bildern gegeben hätte? Auf dem Instagram-Kanal der „Tages­ vier im Einsatz. Soziale Netzwerke wirken im DLF Kul­ schau“ erfahren die Nutzer*innen, wie die fiktive tur wie eine Verjüngungskur. Im linearen Programm 17jährige Nora Sommerfeld aus Rostock die bewegen­ liegt der Altersdurchschnitt der Hörerschaft bei Mitte den Ereignisse Ende 1989 erlebte. 50, auf Facebook eher bei Mitte 30. »

4.2019 M 17 IM FOKUS

Schon entdeckt? Noch jünger – eher Mitte 20 bis Mitte 30 – ist das Pu­ blikum auf Instagram. Was einen stärkeren Zuschnitt Engagierte Medien abseits auf die spezifischen Interessen dieser Klientel erfor­ des Mainstreams gibt es dert. „Auf Instagram können wir nicht unbedingt mit zunehmend mehr. Sie sind dem Thema Rückenschmerzen punkten“, sagt Walec­ hochinteressant, aber oft zek, beim Deutschlandradio im Bereich Audience wenig bekannt. Development normalerweise zuständig für Plattform- Strategien. Dort gehe es eher um jugendaffine The­ Deshalb stellt M in jeder men: „Klimawandel, Nachhaltigkeit, Geschlechter­ gedruckten Ausgabe und auf identität – aber auch klassische Hochkultur findet M Online einige davon vor. durchaus Anklang.“ Ob auch ein Bespielen des Shoo­ ting Star Tik Tok infrage komme, werde „intern noch diskutiert“.

Wie wichtig auch die Senderhierarchen mittlerweile den Dialog mit der Hörerschaft finden, belegt zum Bei­ spiel ein Chat, dem sich DLF-Chefredakteurin Birgit KATAPULT nennt sich selbst „Deutschlands erstes Magazin für Wentzien unlängst auf Facebook stellte. Dabei musste Kartografik und Sozialwissenschaft“. Was im Titel einigermaßen trocken da- sie sich mit manchem Vorurteil auseinandersetzen. herkommt, entpuppt sich bei näherem Studium als vergnügliche Lektüre für Meinten einige User, der DLF berichte einseitig und alle Zeitgenossen, die sich für intelligent aufbereitete Statistiken zu wähle zu viele Interviewpartner aus dem linken Spek­ sozialwissenschaftlichen­ Fragestellungen interessieren. Katapult verzichtet trum aus, monierten andere, die AfD komme zu häu­ auf Fotos, sondern arbeitet ausschließlich mit Statistiken und Grafiken. fig zu Wort. „Wir halten partizipative Sendeformate für wichtig“, antwortete Wentzien auf die Frage nach Die Titelstory des aktuellen Heftes: „Esst Mehlwürmer!“ misst und vergleicht einer Vorauswahl bei Hörerbeiträgen. Die Erfahrung, den Wasserverbrauch, die Landnutzung, den essbaren Anteil und sowie den wie breit das Meinungsspektrum sei, schütze vor Fil­ Eisen-Magnesium-Calcium-Gehalt von Rind, Hund, Schwein und – Mehlwurm. terblasen-Effekten. Im Übrigen seien die Modera­ Die daraus folgende gastronomische Empfehlung dürfte allerdings nicht tor*innen des Senders „versiert genug, um den Unter­ ­jedem schmecken. Am Beispiel von Landkarten belegt das Magazin, wie schied zwischen unkonventionellen Meinungen und ­gelegentlich – zum Beispiel in der Terrorberichterstattung – eine politische etwa Verschwörungstheorien zu markieren“. Stimmung manipuliert werden kann. Auch, dass Umfragen gelegentlich in die Irre führen, wird nachgewiesen: Etwa die unhinterfragte These vom linksgrün Mittags live dabei beim dominierten deutschen Journalismus. Und wer in Nr. 13 die Titelgeschichte Deutschlandfunk Kultur zum anhaltenden Auflagen-Crash der Bild-Zeitung samt Interview mit „Bild- blog“-Chefredakteur Moritz Tschermak liest, versteht vielleicht eher, was hin- Sendungen mit Hörerbeteiligung gibt es beim Kölner ter dem aktuellen Sparkurs des Springer-Konzerns steckt. DLF einige, vor allem in Form klassischer Call-Ins in den Vormittagsmagazinen. Den direkten Kontakt mit Gegen alle aktuellen Trends erscheint Katapult gedruckt, nicht als E-Paper. dem Publikum suchen dagegen die Macher von „Stu­ „Gedrucktes entschleunigt!“ lautet ein Motto der Redaktion. „Naturwissen- dio 9 – Der Tag“ beim Berliner Schwestersender DLF schaftler haben keine Probleme, ihre Texte mit tollen Fotos auszustatten“, er- Kultur. Bis zu 17 Gäste erhalten seit September 2019 läutert Chefredakteur und Geschäftsführer Benjamin Fredrich. In den Sozial- einmal wöchentlich in der Mittagssendung von 12:05 wissenschaften sei das schwerer und werde daher auch kaum gemacht. – 13 Uhr die Möglichkeit, „bei Rotlicht“ live dabei zu Katapult begreife sich als eine Art „Geo der Sozialwissenschaft“. sein – inklusive der Chance, mit Moderator und Stu­ diogast ins Gespräch zu kommen. „Uns gibt das die Kernzielgruppe sind laut Media-Daten „Bildungsbürger in wirtschaftlich bes- Möglichkeit, unsere Arbeit transparent zu machen“, ser gestellten Verhältnissen“, darunter Multiplikatoren wie Lehrer*innen, Wis- sagt Korbinian Frenzel, einer der Moderatoren von senschaftler*innen, Journalist*innen. Das vierteljährlich gedruckte Magazin Studio 9, und die Hörer*innen können „einen Blick erscheint seit 2016 im unabhängigen Katapult Verlag in Greifswald. Es ist rund hinter die Kulissen werfen“. 100 Seiten stark und hat eine aktuelle Druckauflage von 50.000 Exemplaren, davon gut 18.000 Abos. Das Einzelheft kostet 5,80 Euro, das Jahresabo 19,80 Gleich in eine der ersten Sendungen platzte plötzlich Euro. Sechzehn Mitarbeiter zählt die Redaktion. Alle – außer dem Program- per breaking news die Ansage vom Tod Jacques Chi­ mierer – beziehen ein Einheitsgehalt von 2.250 Euro brutto. Die Finanzierung racs. Frenzel: „Da bekam das Live-Publikum einen Ein­ basiert auf Aboeinnahmen und Spenden, Anzeigen sind eher dünn gesät. druck davon, wie Nachrichten entstehen und verar­ beitet werden.“ Da zunächst nur eine Quelle vorlag, Die Leser*innen dürften Freude nicht nur an ernsthafter Wissenschaft haben, musste der Sachverhalt erst gecheckt, Kontakt zum sondern auch an dosiert eingestreuten Quatsch-Grafiken. Es gibt nur ein‘ Rudi Korrespondenten in Paris aufgenommen werden, etc. Völler? Irrtum. Nach Katapult-Recherchen leben in Deutschland mindestens „Für uns Radiomacher war es spannend zu erleben, vier. Und was steckt wohl hinter der Aussage: „Alle Rom führen nach Wege“? wie interessiert die anwesenden Hörer*innen diesen Auflösung auf Seite 4 des aktuellen Hefts! Günter Herkel ‹‹ Prozess verfolgt haben.“ Günter Herkel ‹‹

18 M 4.2019 MEDIENPOLITIK Tropfen auf den heißen Stein Zuschüsse für den Zeitungsvertrieb bei fehlendem Gesamtkonzept

er Bund will den Vertrieb von Mehrwertsteuersatzes auf digitale Pressepro­ licher Mittel gleich“, so Röper. Er plädiert für Tageszeitungen ab 2020 mit dukte beschlossen. E-Paper, Apps, Websites eine „Einzelfallprüfung des jeweiligen Be­ D 40 Millionen Euro bezu­ und Datenbanken werden voraussichtlich ab darfs“. Zudem müsse die Förderung „an jour­ schussen. Den Verlegern ist 2020 statt mit 19 nur noch mit sieben Pro­ nalistische Leistungen“ und an die „Einhal­ das zu wenig. In den Par­ zent veranlagt. tung von Sozialstandards wie Tarifverträge teien ist das Meinungsbild gespalten. Die Zeit­ und Ausbildung“ gekoppelt werden. schriftenverlage fühlen sich benachteiligt. Während die CDU/CSU die Förderung als Hil­ Und ein Bremer Politiker möchte das Volk festellung für die Verlage bei der digitalen Aufsehen erregte in diesem Zusammenhang über staatliche Pressesubventionen mitbe­ Transformation und als Kompensation für die ein Vorschlag des Bremer Bürgermeisters An­ stimmen lassen. Mehrkosten durch den Mindestlohn begrüßt, dreas Bovenschulte. Der SPD-Mann regte bemängelte die SPD-Fraktion das geringe Vo­ Ende November an, die Bevölkerung per Ab­ Nach den Plänen der Großen Koalition wer­ lumen. Er hätte einen „niedrigen dreistelligen stimmung darüber mitentscheiden zu lassen, den bundesdeutsche Zeitungsverlage dem­ Millionenbetrag“ bevorzugt, sagte der medi­ welche Medien Gelder aus einem noch zu nächst erstmals direkte staatliche Förderung enpolitische Sprecher, Martin Rabanus. Zu­ schaffenden Subventionstopf bekommen sol­ für ihre Zustellkosten erhalten. Einem ent­ gleich mahnt er zu Vorsicht, da die Subventi­ len. Je nach Abstimmungsergebnis könnten sprechenden Antrag hat der Haushaltsaus­ onierung journalistischer Produkte „immer dann Subventionen an die einzelnen Bewer­ schuss im Bundestag Mitte November zuge­ ein zweischneidiges Schwert“ sei. Es gelte, die ber verteilt werden. Neben regionalen und lo­ stimmt. Bis zur Vorlage eines Gesamtkonzepts „Balance zwischen journalistisch-redaktionel­ kalen Zeitungsverlagen könnten, so schlug durch das Bundesarbeitsministerium steht die ler Unabhängigkeit“ und der „Notwendigkeit Bovenschulte im Gespräch mit auf fünf Jahre begrenzte Subvention aller­ der Verbreitung dieser Presseerzeugnisse, vor vor, „auch Startups und neue Medien“ auf An­ dings unter einem Sperrvorbehalt. allem in der Fläche“ zu finden. trag zum Zuge kommen. Vorteil: „Es würden

Kaum beschlossen, meldeten die Zeitungsver­ leger Verbesserungsbedarf an. Eine so geringe 40 Millionen Förderung allenfalls Tropfen auf den Förderung löse „kein einziges Problem“, klagte heißen Stein … oder Verschwendung öffentlicher Mittel? BDZV-Hauptgeschäftsführer Dietmar Wolff. Die Subvention entspreche pro ausgeliefertem Zeitungsexemplar weniger als einem Cent. Auch Doris Achelwilm, medienpolitische die grundsätzlich in der Bevölkerung vorhan­ Dem stünden durchschnittliche Vertriebskos­ Sprecherin der Linken-Fraktion, betrachtet denen Präferenzen zum Ausdruck gebracht.“ ten von 52 Cent pro ausgetragener Zeitung die 40 Millionen Förderung allenfalls als Zugleich wäre es „ein sehr staatsferner Weg gegenüber. Laut BDZV-Branchenbericht sind „Tropfen auf den heißen Stein, der die Dyna­ der Verteilung von Fördermitteln“. wegen des Mindestlohns jährliche Mehrkos­ mik steigender Kosten und sinkender Werbe­ ten für die Verlage von rund 400 Millionen einnahmen ein bisschen dämpft“. Die Sub­ In der Öffentlichkeit stieß der Vorschlag über­ Euro aufgeführt. Was Rückschlüsse darauf zu­ ventionierung nach dem „Modell Gieß­ wiegend auf Skepsis. Eine „staatliche Förde­ lässt, wie schlecht die Verlage bislang die Zu­ kanne“ sorge „weder für flächendeckenden rung von redaktionellen Inhalten“ sei „nicht steller entlohnt haben. Bisher hatten die Ver­ Lokaljournalismus im ländlichen Raum noch zielführend“, begründete der BDZV seine Ab­ leger direkte staatliche Subventionen stets ve­ für allgemeine Vielfaltssicherung“. Es fehle sage. Auch David Koopmann von der Bremer hement abgelehnt. ein Gesamtkonzept, „das Ziele transparent Tageszeitungen AG sagte im Deutschland­ formuliert, den gesellschaftlichen Nutzen der funk, ein solcher Schritt würde „die Unabhän­ Protest gab es auch aus der Ecke der Zeitschrif­ Maßnahme darlegt und Subventionen an Be­ gigkeit der freien Presse gefährden“. Grund­ tenverlage. Allerdings aus verbandsegoisti­ dingungen (z.B. Zustell-Aufwand und Förder­ sätzlich aufgeschlossen gegenüber plebiszi­ schen Gründen. Die Einführung einer „selek­ bedarf) knüpft“. tären Elementen bei der Presseförderung tiven Presseförderung“, so das VDZ-Präsi­ äußerte sich dagegen Cornelia Berger, Ge­ dium, wäre eine „falsche und gefährliche Wei­ In die gleiche Kerbe schlägt auch Horst Röper, schäftsführerin der dju in ver.di. Allerdings chenstellung“. Um die Zustellung aller Chef des Dortmunder Medienforschungsins­ hält sie eine direkte Volksbefragung wegen ei­ Presseprodukte, inklusive der regionalen Ta­ tituts Formatt. Auch er hält den vorgesehe­ nes möglichen „Masse-statt-Klasse-Effekts“ geszeitungen zu sichern, sei die „neutrale nen Fördertopf für „viel zu klein“. Die Kosten nicht für das geeignete Mittel. Sinnvoller er­ Presseförderung“ der richtige Weg. Schließ­ für die Zustellung seien je nach Auflage in den scheint ihr, „sowas wie einen repräsentativen lich würden auch andere staatliche Wohlta­ einzelnen Teilgebieten sehr unterschiedlich. Bevölkerungsdurschnitt auszuwählen, der ten – etwa die reduzierte Mehrwertsteuer oder „In den Städten sind sie geringer als auf dem entsprechende Entscheidungen trifft“. Dafür die Erleichterung von Verlagskooperationen Land, insbesondere in bevölkerungsarmen gelte es, „Qualitätskriterien zu entwickeln und – „Zeitungen und Zeitschriften gleicherma­ Gegenden.“ Die Fördermittel sollten daher allen Beteiligten Mut zu machen, sich für sol­ ßen zugutekommen“. Erst kürzlich hatte der nicht mit der Gießkanne ausgeschüttet wer­ che Experimente zu öffnen“. Bundestag die Ausdehnung des ermäßigten den. „Das käme einer Verschwendung öffent­ Günter Herkel ‹‹

4.2019 M 19 MEDIENWIRTSCHAFT Neues Leben im alten Funkhaus

Standort für Unternehmen aus der Medien- und Kulturbranche

ine DDR-weit bekannte Adresse lau­ Ziel des neuen Betreibers Uwe Fabich ist es, hier im tete einst: 1160 Berlin, Nalepastraße ehemaligen zentralen DDR-Funkhaus eine Kreativ- E 18-50 – Sitz des DDR-Rundfunks von Stadt für Musik, Kunst, Kultur und Mode zu entwickeln. 1952 bis zur Abwicklung Ende 1991 Auch Messen und Ausstellungen haben bereits statt­ laut Einigungsvertrag. Seither ent­ gefunden. Es gibt noch viel Platz für junge Unterneh­ wickelte sich das Areal mit seinen teils denkmalge­ men. Erst kürzlich ist eine US-amerikanische Firma schützten Gebäuden zu einem Standort für Unterneh­ aus Boston mit 100 Mitarbeiter*innen eingezogen, die men aus der Medien- und Kulturbranche, für Musik­ 3D-Drucker entwickelt und vertreibt. Als eine zusätz­ events, als Kulisse für Filmproduktionen. liche Veranstaltungsstätte wurde die ehemalige Kfz- Halle um- und ausgebaut, die nun für über 9.000 Be­ Nach der Abwicklung des DDR-Rundfunks stand das sucher Platz bietet, zu Konzerten fast aller Genres – Gelände zunächst in Verwaltung der Neuen Bundes­ außer Schlagermusik – für junge (und auch interessierte länder, die nun die Erben waren. Lange Zeit war nicht ältere) Leute in der so genannten Shed-Halle, deren Be­ klar, was damit geschehen soll. Nach langen Quere­ zeichnung sich von der Dachkonstruktion her ableitet. len wurden das Gelände und die Bauten unter dubio­ Zudem steht seit einiger Zeit eine zweite große Veran­ sen, weil schwer durchschaubaren Umständen mehr­ staltungslocation neben dem ehemaligen Rundfunk­ fach geteilt und verkauft, so dass nur noch die vier gelände bereit: Die einstige Turbinenhalle des auch ursprünglichen Gebäude, die der Architekt Franz Ehr­ unter Denkmalschutz stehenden Kraftwerks Rummels­ lich konzipiert hatte, übrigblieben und heute als burg. Dieses Areal bildet nun zusammen mit der in Gründungsareal des DDR-Rundfunks wegen seiner der Nachbarschaft befindlichen Fahrgast-Reederei Rie­ Einmaligkeit unter Denkmalschutz stehen. del einen Gesamtkomplex, der sich in den nächsten Jahren zu einer großen Berliner Eventstätte entwickeln­ Seit 1993 zogen neue Mieter ein: Kleine Medien-­ soll. A lle Events, … Unternehmen, Künstler, Musiker, Handwerker. Platz gab es genug. Produzenten mieteten die zwei Hörspiel­ Für Interessierte lohnt ein Blick in die Geschichte des Programme, studios und die ehemaligen Sende- und Aufnahme­ Funkhauses Nalepastraße. Mit der Wende existierten mehr Informationen studios. Im zweitgrößten Sendesaal agierte über zehn in Berlin drei große Sendeanstalten. Da gab es bereits können nachgelesen werden: Jahre das Filmorchester Babelsberg. Filmproduktions­ seit 1931 das „“ in der Masuren­ www.funkhaus-berlin.net firmen wurden zudem auf die Baulichkeiten und Au­ allee, die „Radio Stunde Berlin“. Das Gebäude gegen­ ßenflächen aufmerksam. Es entstanden dort Teile von über dem Berliner Funkturm galt bei der Inbetrieb­ Fernseh- und Kinofilmen wie „Unsere Mütter, unsere nahme als das modernste Funkhaus Europas, in dem Väter“ (ZDF), „George“ – ein Spielfilm über den deut­ dann wenig später die Nazis das Sagen hatten. Sie be­ schen Schauspieler Heinrich George mit dessen Sohn kamen damit ein Instrument in die Hand, dass sie ei­ Götz George in der Hauptrolle, „Weißensee“ (ARD), „Ballon“ (Spielfilm von Bully Herbig), um nur einige zu nennen. Dazu kamen US-amerikanische Produkti­ onen. Ambitioniert übernahm der israelisch-nieder­ ländische Investor Albert Ben David 2007 den Funk­ haus-Komplex, um ein Medienzentrum zu gestalten, was ihm offenbar nicht gelang.

Nach einem erneuten Besitzerwechsel 2017 kam wei­ teres Leben in das Areal. So hat seit gut zwei Jahren eine private Musikschule in zwei Stockwerken des ehe­ maligen Redaktionshauses ihren Sitz. Nahezu 600 Stu­ denten sind derzeit eingeschrieben. In Ein-, Zwei- und Dreijahreslehrgängen können sie die Sparten Kreative Musikproduktion, Tontechnik, Musik-Technologie und auch Sommerkurse belegen. Englisch ist die Um­ gangssprache.

20 M 4.2019 MEDIENWIRTSCHAFT

nerseits massiv für die ideologische Beeinflussung und Als im September 1952 der Sendebetrieb im neuen Kriegsvorbereitung einsetzten. Andererseits gaukelten Funkhaus in der Nalepastraße mit anfangs drei Voll­ sie mit Unterhaltungsprogrammen eine heile Welt vor programmen begann, war zunächst das Redaktions- – bis zum bitteren Ende. und Sendegebäude fertiggestellt, um- und ausgebaut aus einer nicht mehr genutzten Holzverarbeitungs­ Wenige Tage nach Kriegsende nahmen Antifaschisten fabrik (Block A genannt). Die für ein Rundfunkzent­ und andere demokratisch gesinnte Kräfte unter der rum notwendigen Aufnahmeräume für Musik und Regie sowjetischer Presseoffiziere den Sendebetrieb künstlerisches Wort wurden bis 1956 errichtet (Block wieder auf. Die Alliierten hatten festgelegt, dass die B) und zwei Funktionsgebäude wie Mehrzwecksaal, Rundfunkversorgung der nördlichen Sowjetischen Be­ Garagen und Werkstätten, Sozialeinrichtungen sowie satzungszone und Gesamtberlins aus dem „Haus des weitere Redaktionsräume (Block C und D). Die Lei­ Rundfunks“ zu erfolgen habe. Allerdings lag es im Bri­ tung hatte der Architekt Franz Ehrlich (1907 – 1984) tischen Sektor der geteilten Stadt; kam dann später an im Zusammenwirken mit dem Postingenieur Gerhard ostdeutsche Behörden und 1949 in Verwaltung der Probst, der für den technischen Ausbau verantwort­ DDR. Mit anderen Worten: Zwei ostdeutsche Radio­ lich war. programme wurden aus West-Berlin gesendet! Franz Ehrlich hatte am Bauhaus Dessau Innenarchi­ Dass dies nicht lange gut gehen würde, war mit Be­ tektur studiert. Einige seiner Lehrer waren Paul Klee, ginn des Kalten Krieges abzusehen. Die Westberliner Walter Gropius, Mies van der Rohe und Wassili Kan­ Seite versuchte immer wieder mit unterschiedlichen dinsky. Als er 1949/50 von der DDR-Regierung den Aktivitäten, die Sendetätigkeit zu stören. Schließlich Auftrag zum Aus- bzw. Neubau des Funkhauses bekam, riegelten britische Truppen das Sendegebäude ab, so hatte er schwere Jahre hinter sich. Als Mitglied der dass der DDR-Rundfunk nach mehrtägiger Blockade KPD seit Anfang der 30er Jahre ging er nach der Macht­ Westberlin verließ. Unterdessen war ohnehin ein neu­ übernahme der Nazis in den antifaschistischen Wider­ ­es Sendezentrum in Ost-Berlin im Bau, zu dem sich die stand in Leipzig. Es folgten Verhaftung, Gefängnis, KZ junge DDR-Regierung entschlossen hatte – in der Na­ Buchenwald und schließlich das Strafbataillon 999. lepastraße. In das „Haus des Rundfunks“ zog 1954 der Nach der Kriegsgefangenschaft stellte er sein Können neu gegründete Sender Freies Berlin (SFB) ein. Er sollte in den Dienst des Wiederaufbaus. Die DDR-Oberen ein Gegenpol zu den Ost-Berliner Programmen sein. wollten ein Rundfunkzentrum nach sowjetisch-sozia­ listischem Realismus errichtet wissen. Dem verwei­ Ein anderer Konkurrent war bereits 1946 entstanden. gerte sich Franz Ehrlich und schuf ein Ensemble im Schon frühzeitig hatte sich die amerikanische Besat­ Stil der Weimarer Zwischenkriegszeit, das in vielen De­ zungsmacht entschlossen, ein von amerikanischen tails Bauhausmoderne ausstrahlt. Behörden finanziertes deutschsprachiges Ra­ dioprogramm zu gründen: den Rund­ So entstand ein Komplex, der fast einmalig ist und funk im amerikanischen Sektor heute mit Recht unter Denkmalschutz steht. Die ins­ (RIAS). Er zog in ein zum gesamt vier Gebäude sind mit brückenartigen Über­ Funkhaus umgebau­ gängen, auf Rundsäulen stehend, verbunden. Das wür­ tes Verwaltungsge­ felartige Musik-Produktionszentrum (Block B) umfasst bäude am heutigen vier unterschiedlich große Aufnahmesäle, die jeweils Hans-Rosenthal-Platz. für eine spezielle Musikgattung eingerichtet sind: Sin­ Im Zuge der Umgestal­ fonik, Unterhaltungs- und Tanzmusik, Kammermusik tung der Öffentlich- und Jazz. Dazu kommen noch zwei Hörspielstudios. rechtlichen Rundfunk­ Das Gebäude war ausschließlich der Produktion von landschaft in der Nach­ Musik vorbehalten. Öffentliche Veranstaltungen wa­ wendezeit formierte ren nicht vorgesehen. sich 1994 dort das Deutschlandradio. Glanzstück ist der Saal 1 mit seiner exzellenten, inzwi­ schen weltbekannten Akustik, 900 qm Grundfläche und einer Höhe von 28 – 35 Meter. Hier und in den anderen Aufnahmesälen musizierten und produzier­ ten einst die rundfunkeigenen Klangkörper und wei­ tere renommierte Orchester der DDR. Und auch in der Nachwendezeit waren bekannte Orchester Gast im Funkhaus Berlin, wie die offizielle Bezeichnung seit 1991 lautet. So zum Beispiel die Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim, die Deutsche Kammerphil­ harmonie Bremen, das Norddeutsche Jugend-Sinfo­ nie-Orchester oder der Pianist Lang Lang sowie be­

Foto: Wolfhard Besser, bearbeitet von Petra Dreßler Petra von bearbeitet Besser, Wolfhard Foto: kannte Musiker und Sänger aus der heiteren Muse. Wolfhard Besser ‹‹

4.2019 M 21 INTERNATIONAL Foto: APA/Hans Klaus Techt APA/Hans Foto: „Deutsche Kurz-Schlüsse“ Über den Umgang der österreichischen Regierung mit den Medien

ie deutschen Medien haben für die Union. Kurz verkörpere den „neuen der Zutritt zum einem Hintergrundgespräch­ den Wahlerfolg des alten und Politikertyp des ,Politikunternehmers‘ derzeit mit Parteichef Sebastian verweigert. Die Par­ D vermutlich auch neuen öster­ am erfolgreichsten, auch weil er nach allen tei gab sich keine Mühe, ihre Vorgehensweise reichischen Bundeskanzler Richtungen offen ist“, schreibt der Leiter des zu verschleiern. Falter-Chefredakteur Florian Sebastian Kurz (ÖVP) über Berliner Büros des „Zukunftsinstituts“, Daniel Klenk schrieb auf Twitter, sein Medium sei Gebühr gefeiert. Bild fragte noch am Wahl­ Dettling, in einem Gastbeitrag für den Tages- „gezielt nicht eingeladen“ gewesen. Dies habe abend erwartungsvoll: „Kann die CDU den spiegel. Ulrich Reitz beklagt in seiner Kolumne ein ÖVP-Mitarbeiter Tóth gegenüber bestä­ Erfolg von Sebastian Kurz kopieren?“ Der für den Focus, dass in Deutschland „Popula­ tigt. ÖVP-Generalsekretär Karl Nehammer Münchner Merkur machte auf mit „Lektion aus rität allzu oft als Populismus“ verunglimpft ­erklärte daraufhin: „Wir kriminalisieren nicht Wien: Wahlsieger Kurz blamiert CDU und werde. „Politiker, die auf die Stimmungen in den Falter, sondern jene, die uns professionell CSU“ und der Cicero sah „Ein Signal – auch der Bevölkerung achten und deren Bedürfnis von außen gehackt und angegriffen haben für Deutschland“. Sogar der ARD-Presseclub nach Sicherheit und Ordnung bedienen, gel­ und somit auch unsere Demokratie angrei­ stimmte in den Chor ein. Anfang Oktober ten schnell als rechtsradikal“. Um diese These fen!“. Ein bisschen Trump muss sein. fragte Jörg Schönenborn: „Kann die deutsche zu untermauern, holt er den Chefredakteur Politik möglicherweise­ von Sebastian Kurz der Neuen Zürcher Zeitung, Eric Gujer, als neu­ Anlass für das Hintergrundgespräch waren Re­ lernen?“ tralen Kronzeugen mit ins Boot, der schließ­ cherchen des Falter. Das Blatt hatte darüber lich den „anderen Blick“ auf Deutschland hat. berichtet, dass die ÖVP hoch verschuldet sei Kritische Stimmen wie in der Süddeutschen „Konservativ sein ist in Deutschland eine und eine geheime Buchhaltung führe, durch Zeitung, die in dem 33-Jährigen ein „Falsches ­Vorstufe von Extremismus geworden“, wird die über der Wahlkampfkostenobergrenze Vorbild“ sieht, sind eher die Ausnahmen. Gujer zitiert. Kritik? Fehlanzeige. liegende Wahlwerbeausgaben verschleiert Nicht selten wird Kritik an Kurz als „unan­ worden seien. „Die Belege der Buchhaltung ständig“ empfunden, wie etwa im Interview Verstöße gegen Pressefreiheit wurden uns von einem Whistleblower ano­ mit dem heute journal: „An Peinlichkeit man­ nym zugeschickt und wir haben sie überprüft gelte es von Seiten Klebers jedenfalls nicht“ In allen Artikeln wird vor allem ein Aspekt und das, was im Interesse der Öffentlichkeit machte sich der Merkur den Shitstorm der Zu­ ausgespart: Der Umgang der Regierung Kurz ist, auch öffentlich gemacht“, sagt Falter-­ schauer zu eigen, die sich darüber beschwert mit den Medien. Laut „Reporter ohne Gren­ Redakteurin Nina Horaczek, Mitautorin des hatten, dass Claus Kleber sich zu sehr auf die zen“ ist Österreich im Ranking der Presse­ Dossiers. Die ÖVP wies diese Darstellung als gescheiterte Koalition mit der rechts­ freiheit während der Kanzlerschaft von falsch zurück und erklärte, dass das Falter-­ populistischen FPÖ versteift hätte. Die Welt Sebastian Kurz um mehrere Plätze abge­ Dossier zwar echte aber auch verfälschte nannte die Kritik am ÖVP-Chef: „Deutsche rutscht. Die Verstöße sind dabei zahlreich. So ­Unterlagen enthalte. „Bis jetzt hat die ÖVP Kurz-Schlüsse“. Sebastian Kurz gilt vielen als wurde der Redakteurin der Wiener Wochen­ keine Beweise für ihre Behauptung geliefert“, Vorbild für Deutschland und hier vor allem zeitung Falter, Barbara Tóth, im Wahlkampf sagt Nina Horaczek.

22 M 4.2019 INTERNATIONAL

Der Falter war allerdings nicht das einzige Me­ durch eine parlamentarische Anfrage öffent­ vatjet zu steigen und davon zu fliegen. Die dium, das nicht erwünscht war. Auch Fern­ lich. Die Ministerien der Regierung haben im Geschichte wurde vom Falter aufgedeckt, dem sehsender wie „Puls 4“ und andere Wochen­ Jahr 2018 für Werbe- und PR-Ausgaben rund Wahlvolk war es egal. zeitungen oder Magazine mussten draußen 45 Millionen Euro ausgegeben. Das ist dop­ bleiben. „Die Tendenz hat sich unter der tür­ pelt so viel wie die Vorgänger-Regierung. Die Bilder auf Instagram kommen dabei meist kis-blauen Regierung verstärkt“, erkärt Eva Nimmt man Inserate der staatlichen Bahn ohne Textbotschaften aus, die wenigen Worte, Linsinger, Ressortleiterin Politik beim Maga­ und der staatlichen Strassengesellschaft, die die er wählt, sind wohlüberlegt. „Kurz hat be­ zin Profil. So wurden etwa zu den Hinter­ vom Infrastrukturministerium vergeben wer­ stimmte Satzbausteine, die er er wiederholt grundgesprächen zur umstrittenen Reform den, sind es sogar 200 Millionen. Aber: Kriti­ und die auch von den Menschen wiederer­ der Krankenkassen ebenfalls nur ausgewählte schen Medien wurden die Inserate massiv ge­ kannt werden. Er inszeniert sich als volks­ Tageszeitungen eingeladen. Unter anderem strichen, dem Falter zum Beispiel um 79 Pro­ naher Kämpfer gegen das Wiener Establish­ wurde der Standard ausgeschlossen, weil er kri­ zent – dafür profitierten rechte Magazine wie ment“, erklärt Eva Linsinger. Nach dem Ende tisch über die Reform berichtet hatte. der Wochenblick, ein Blatt, das der FPÖ und der Minderheitsregierung im Frühjahr postete auch der „Identitären Bewegung“ nahesteht. Kurz auf „facebook“ pathetisch: „Das Parla­ Kontrolle von Inhalten ment hat bestimmt. Das Volk wird im Sep­ Die Regierung Kurz beschäftigte zudem eine tember entscheiden. Kann ich auf deine Linsinger erlebt, dass Blätter wie die Neue Kro- Rekordzahl an Presse-, Social-Media- und PR- ­Unterstützung zählen?“ nen-Zeitung oder auflagenstarke Gratis-Zeitun­ Leuten – ein Stab, größer als jede Redaktion. gen wie heute oder oe24 von der türkis-blauen Den Medien wurden immer häufiger Infor­ Auch der ehemalige Koalitionspartner FPÖ Regierung massiv bevorzugt würden. Oe24 mationspakete angeboten, die teils ungeprüft profitierte von der Medienpolitik: So hat Kurz betreibt sogar einen eigenen TV-Kanal, wo es veröffentlicht wurden. „Den Redaktionen während seiner Amtszeit das Vorgehen des In­ regelmäßig lockere Gesprächsrunden mit Re­ sollte dadurch nur vordergründig die Arbeit nenministeriums unter Heribert Kickl (FPÖ) gierungsvertretern gibt, bei denen sie sicher erleichtert werden. Ziel ist es, die Berichter­ billigend in Kauf genommen. Dessen Mitar­ vor kritischen Nachfragen sein können. „Re­ stattung zu steuern”, so Linsinger. Im Fall der beiter hatte die Polizeidienststellen angewie­ gierungsmitglieder sind dort fast mehrmals bereits erwähnten Reform der Krankenkassen sen, die Kommunikation mit missliebigen wöchentlich zu Wort gekommen, während führte diese zu einer Rüge des Presserats. Das Medien wie Standard, Kurier oder Falter „auf Qualitätsmedien oder der ORF lange warten Selbstkontrollorgan der österreichischen das nötigste (rechtlich vorgesehene) Maß zu mussten oder einfach ignoriert wurden.“ Der Presse, sah sich zu einer ungewöhnlichen beschränken und ihnen nicht noch Zuckerln Politikwissenschaftler Fritz Plasser bezeich­ „Grundsatzerklärung“ genötigt und mahnte wie beispielsweise Exklusivbegleitungen zu er­ nete Österreich in einem Zeit-Interview ent­ Ende August 2018 die Medien zum „sorgfäl­ möglichen“, außer es sei eine „neutrale oder sprechend als „Boulevard-Demokratie“. tigen Re-Check von Informationen, die von gar positive Berichterstattung im Vorhinein Regierungsseite kommen“. garantiert“. Kurz sagte darauf zwar, dass die „Kurz und seine Partei versuchen, die Art und „Einschränkung von Pressefreiheit nicht ak­ Inhalte der medialen Berichterstattung durch „Die türkis-blaue Regierung hat das Prinzip zeptabel“ sei, Kickl durfte dennoch im Amt Message Control zu kontrollieren“, sagt Fal- Message Control etabliert. Das ging auch des­ bleiben. Eine strategische Entscheidung. ter-Redakteurin Horaczek. Direkte Anfragen halb, weil die FPÖ seit einem Jahrzehnt sehr seitens der Medien an Fachpolitiker oder Mi­ erfolgreich ein eigenes Medienimperium Den „Kurier“ auf Linie bringen nister seien unter Kurz nur schwer möglich betreibt, FPÖ und Sebastian Kurz auf Social gewesen. Und Sebastian Kurz schwebt eh über Media, Facebook, Whatsapp direkt kommu­ Der ehemalige Chef des Kurier, Helmut Brand­ Allem. „Seit seinem Amtsantritt 2017 haben nizieren, ohne auf lästige Fragen von lästigen stätter, beschreibt Sebastian Kurz in seinem wir mehrfach versucht, ein Interview mit ihm Journalistinnen und Journalisten antworten Buch „Kurz & Kickl – Ihr Spiel mit Macht und zu bekommen, vergeblich. Die Begründung zu müssen“, sagt Eva Linsinger. Dies wirkte Angst“ als Machtmenschen. Der Versuch, hieß immer: Aus Termingründen sei das der­ sich auch auf die Inszenierung aus. Während kritische Medien von Informationen abzu­ zeit nicht machbar“, sagt Horaczek. Kurz im Wahlkampf 2017 vor allem durch schneiden, sei für Kurz nicht ungelegen ge­ sein “hartes Durchgreifen” in der Migrations­ kommen. „Ein klares Ziel war die Schaffung Auch finanziell hat die Regierung Kurz ver­ politik gepunktet hat, spielten Inhalte in der einer der ÖVP noch freundlicheren Medien­ sucht, Einfluss zu nehmen. Eine Vorgehens­ jüngsten Kampagne keine entscheidende landschaft. So hörte ich bald aus der Umge­ weise, die sich zwar bereits unter der Regie­ Rolle mehr. Es passte nicht mehr zu seiner bung von Kurz, jetzt müsse ‚der Kurier auf rung von Werner Faymann (SPÖ) etabliert Inszenierung als Polit Pop-Star, der auf Insta­ Linie gebracht werden‘.“ hatte und von Kurz aber perfektioniert wurde. gram und Co setzt. „In Österreich spielen Regierungsinserate eine Dazu passt, dass der Immobilien-Spekulant größere Rolle als in anderen Ländern. Es ist Um sich ins rechte Bild zu setzen, ließ sich René Benko sich beim Kurier eingekauft hat. ein Tauschgeschäft: freundliche Berichterstat­ Kurz im Wahlkampf dabei ablichten, wie er Benko gilt als Vertrauter von Kurz. Sein Signa tung gegen Inserate“, sagt Eva Linsinger. Ein ein Segensgebet des evangelikalen Predigers Konzern übernahm 24,22 Prozent am Kurier Grund sei die niedrige Presseförderung, deren Ben Fitzgerald in der ausverkauften Wiener und 24,5 Prozent an der Kronen-Zeitung. Letz­ Gesamtetat bei etwa neun Millionen Euro Stadthalle entgegennahm und teilte die Bil­ tere hat, anders als der Kurier, Sebastian Kurz liegt, wodurch die Abhängigkeit von anderen der anschließend auf seinem Profil. Am Flug­ im Wahlkampf massiv unterstützt. Und schon Einnahmequellen steige. hafen ließ sich der 1,90-Meter große Politiker vor zwei Jahren titelte das Boulevard-Blatt dabei fotografieren, wie er seinen Körper in schlicht und einfach in fetten Lettern: „KURZ“. Das ganze Ausmaß von PR- und Inserate-Aus­ die engen Sitze der Economy-Class zwängt, Bild, Merkur und Co hätten es nicht besser for­ gaben der schwarzblauen Regierung wurde um nach Ende der Fotosession in einen Pri­ mulieren können. Holger Pauler ‹‹

4.2019 M 23 INTERNATIONAL Collage: Einige Titelseiten vom 21. Oktober 2019/M/Petra Dreßler 2019/M/Petra Titelseiten21. Oktober Einige vom Collage: Medienzensur in Australien

Nachrichtensperren und Razzien führen zu kollektiven Protesten

ie haben das Recht zu erfahren, was Die New York Times bezeichnete Australien in diesem die von Ihnen gewählte Regierung in Zusammenhang als „die wohl geheimnisumwittertste S Ihrem Namen tut“. So kommentierte Demokratie der Welt“. die australische Gewerkschaft „Me­ dia Entertainment and Arts Alliance“ Öffentlich-rechtliche ABC eine kollektive Protestaktion der Medienbranche: Am als unpatriotisch gegeißelt 21. Oktober erschienen alle großen Zeitungen mit ge­ schwärzten Titelseiten und -fotos. TV-Spots machten Es gibt noch weitere Themen, über die Journalist*in­ auf Beschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit nen in Down Under nach dem Willen der rechtspo­ aufmerksam. Denn in Australien werden Journalisten pulistischen Regierungskoalition nicht berichten dür­ zunehmend kriminalisiert. fen. Der beschleunigte Verfall der Presse- und Mei­ ehr Info nungsfreiheit fußt in erster Linie auf einem Regie­ M zur Aktion Nachrichtensperren gehören inzwischen zum Alltag rungs- und einem politischen Richtungswechsel. 2013 der Medien in Australien. Journalist*innen sollen über gelangte der Rechtspopulist Tony Abbott in das Amt Einzelereignisse oder komplexe Themen nicht berich­ des Premierministers. Abbott ist Einfädler der von den https://yourrighttoknow. ten, weil diese von Regierung oder Gerichten als ge­ Vereinten Nationen inzwischen scharf kritisierten com.au/media-freedom/ heim eingestuft werden. Staatliche Einrichtungen hal­ „stop the boats“-Politik, die für Bootsflüchtlinge, die ten Informationen zurück. So zum Beispiel im August nach Australien wollen, langjährige Lageraufenthalte 2018, beim Gerichtsprozess in Melbourne gegen Kar­ auf Pazifikinseln vorsieht. Als die öffentlich-rechtliche dinal George Pell, den früheren Finanzchef des Vati­ ABC über Misshandlungen von Asylsuchenden durch kan. Auch deutsche Journalist*innen sollten sich an australische Grenzbeamte berichtete, geißelte Abbott eine vom Richter Peter Kidd verhängte Nachrichten­ den Sender als „unpatriotisch“, die ABC vertrete „aus­ sperre halten. Weltweit sollten Journalist*innen bis ländische Interessen“. Er habe ein Problem mit Jour­ zur Urteilsverkündung im Februar 2019 so tun, als nalisten, fügte Abbott hinzu, „die ihr eigenes Land kri­ gäbe es nichts zu berichten. Und das, obwohl Pell be­ tisieren“. Seither darf – unter Androhung von mehr­ reits im Dezember 2018 wegen Kindesmissbrauchs jährigen Gefängnisstrafen für Journalist*innen – über von einem Geschworenengericht einstimmig schul­ Maßnahmen mit militärischen Schnellbooten auf dem dig gesprochen worden war. Indischen Ozean und aus australischen Flüchtlingsla­ gern im Südpazifik nicht mehr berichtet werden. Da sich mehrere australische Medien nicht an das Ver­ bot hielten, erhob die Staatsanwaltschaft im April Auch der regierungskritische Privatsender „Seven“ sah 2019 Anklage gegen 23 Journalist*innen und 13 Me­ sich mit einem kraftstrotzenden Auftritt der Staats­ dienhäuser des Landes. Den Journalist*innen drohen macht konfrontiert. Ein Exklusiv-Interview mit einer bei einem Schuldspruch bis zu fünf Jahre Gefängnis. verurteilten Drogenschmugglerin, die nach neun Jah­

24 M 4.2019 INTERNATIONAL

ren Gefängnis in Indonesien nach Australien zurück­ nisse von ihr massiv ausgeweitet worden. Paul Farrell kehren durfte, reichte als Anlass für eine „beispiellose arbeitete 2016 investigativ für den britischen Guardian Durchsuchung eines Medienunternehmens“, wie es und berichtete über Versuche der Bundespolizei AFP, in einer Mitteilung des Senders hieß. Acht Stunden an Daten seiner Informanten zu gelangen. Mit dem lang durchsuchten Dutzendschaften der australischen Ausspähen journalistischer Quellen, „indem sie meine Bundespolizei Büros von „Seven“ in Sydney mit vor­ Telefon- und E-Mail-Daten abriefen“, schrieb Farrell gehaltenen Gewehren und Pistolen, um Festplatten im Guardian, hätten die Bundespolizisten „nicht ein­ und Dokumente zu beschlagnahmen. mal gegen Gesetze verstoßen“. Die Maßnahmen hat­ ten das Ziel, Whistleblower innerhalb der Regierung Zwar wurde Abbott 2015 von Parteifreunden gestürzt ausfindig zu machen, um peinliche Veröffentlichun­ und verlor 2019 auch sein Abgeordnetenmandat. gen zu verhindern. Derzeit muss sich der Whistleblo­ Doch seine unverhohlene Kriegserklärung an kritische wer Richard Boyle, ein früherer Mitarbeiter der aust­ Medien wirkt sich bis heute lähmend auf Arbeitsbeding­ ralischen Steuerbehörde ATO, vor Gericht verantwor­ ungen australischer Journalist*innen aus. Öffentlich ten. Boyle hatte rabiate Praktiken der ATO im Umgang mischte er sich wiederholt in redaktionelle Inhalte ein, mit Steuerzahlern öffentlich gemacht. Wenig später etwa indem er die ABC aufforderte, die Rubrik „Fak­ wurde er entlassen, die Bundespolizei durchstöberte ten Check“ aufzugeben und sich auf das Sammeln von Boyles Wohnung. Nachrichten zu konzentrieren. Auch Abbotts Nach­ folger drohen der ABC regelmäßig mit drastischen Mit­ In Australien ist es keine Seltenheit mehr, dass kriti­ telkürzungen – und setzen diese auch um. sche Zeitungsartikel von Regierungsmitgliedern an die AFP zur Untersuchung weitergeleitet werden, ergaben „Australia Network“, das australische Pendant zur Paul Farrells Recherchen in eigener Sache. Ein einzel­ Deutschen Welle, mit rund 150 Millionen Zuschau­ ner Artikel zu Bootsflüchtlingen habe einen 200 Sei­ er*innen in 46 Ländern, musste schon vor fünf Jah­ ten langen polizeilichen Untersuchungsbericht nach ren den Sendebetrieb einstellen. Mit den Worten, man sich gezogen. wolle einen Sender „mit einer positiveren Ausrich­ Kurz nach den Parlamentswahlen im Mai 2019 war es abermals die dem Innenministerium unterstellte Bun­ despolizei, die sich erneut die ABC vornahm. Diesmal mit der Befugnis, Recherchematerial „zu konfiszieren, zu löschen und zu manipulieren“, wie der Sender mit­ teilte. Bei der Razzia wurden auch Fingerabdrücke meh­ rerer Redakteure genommen. Anlass dieser Razzia war eine Dokumentation der ABC, die Kriegsgräuel aust­ ralischer Soldaten in Afghanistan aufgedeckt hatte.

Verhältnis von Medienschaffenden zur Regierung nachhaltig gestört Doch spätestens seit der jüngsten Durchsuchungswelle formiert sich Widerstand in Australiens Medienbran­ che. Inzwischen hat die Regierung selbst den ihr bis­

Foto: picture alliance / AP Photo alliance picture Foto: lang gewogenen Murdoch-Konzern gegen sich aufge­ bracht. An der Protestaktion „Your right to know“ am Hausdurchsuchung bei der 21. Oktober beteiligten sich auch zahlreiche Murdoch- Australian Cor- tung“, begründete die Regierung das Abschalten des Zeitungen, darunter das Flagschiff The Australian. poration (ABC) in Sydney Networks. Am Sparkurs und an Plänen der größten Re­ Auch Murdoch-Journalist*innen müssen mittlerweile durch die Australische Bun- gierungspartei, die ABC in einen Privatsender umzu­ mit unangekündigten Besuchen der AFP rechnen. So despolizei am 5. Juni 2019 wandeln, übte deren Geschäftsführerin Michelle Gu­ wurde im Juni die Wohnung der Journalistin Annika thrie im vorigen Jahr scharfe Kritik. Kurz darauf wurde Smethurst von Bundespolizisten durchkämmt. Smet­ Guthrie entlassen. Nachweislich auf Druck der Regie­ hurst hatte über Pläne des australischen Geheimdiens­ rung, wie ein Untersuchungsausschuss des australi­ tes berichtet, die Kommunikation von Privatleuten schen Parlaments inzwischen ermittelt hat. auszuspionieren. Chris Merritt, Gerichtsreporter des Australian, schrieb dazu: „Willkommen im modernen Geheimdienst und Polizei spähen Australien: Wir sind eine Nation, in der die Polizei journalistische Quellen aus Journalisten durchsucht, um Whistleblower innerhalb der Regierung ausfindig zu machen und Veröffent­ Printmedien, besonders aber investigative Journa­ lichungen zu bestrafen.“ list*innen, scheint Australiens rechtspopulistische Re­ gierung im trumpschen Sinne als „the enemy of the Das Verhältnis von Medien, Redakteuren, Bloggern people“ ausgemacht zu haben. Seit 2013 sind Befug­ und Whistleblowern zur Regierung ist nachhaltig »

4.2019 M 25 Foto: Rod Mcguirk/picture alliance/AP Photo alliance/AP Mcguirk/picture Rod Foto:

Journalistinnen und Journalisten protestieren mit geschwärzte Titelseiten vor dem Parlamentsgebäude der australischen Hauptstadt Canberra gestört. Unmut hat sich breitgemacht, insbesondere Fast zwei Dutzend Verlage, Fernseh- und Radiostatio­ seit 2018 ein sogenanntes Anti-Spionage-Gesetz in nen sowie zahlreiche Internetportale (siehe Kasten) Kraft trat, das tatsächlich aber nicht nur Terroristen, werfen der Regierung vor, zunehmend Geheimhaltung sondern auch Journalisten trifft. Laut Gesetz sollen in­ zu betreiben, Journalisten zu kriminalisieren und in­ vestigative Journalist*innen, die mit ihren Recherchen vestigative Recherchen zu unterbinden. Sie könnten den Themenkomplex „Nationale Sicherheit“ tangie­ ihrem Informationsauftrag nur noch bedingt nach­ ren, in Einzelfällen mit lebenslangen Haftstrafen ge­ kommen. Das australische Medienbündnis hat Forde­ ahndet werden. Journalist*innen machen sich straf­ rungen an die Regierung von Premierminister Morri­ bar, wenn sie Geheimdokumente veröffentlichen – son formuliert: oder auch nur besitzen. ■ Es solle ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der Aber was ist geheim? Laut der Gesetzesnovelle alles, Redaktionen und freien Journalisten die Möglichkeit was Australien „in einem schlechten Licht“ erschei­ gibt, Durchsuchungsbefehle der australischen Bundes­ nen lässt – womöglich also jede Form von Kritik, die polizei anzufechten. der Regierung missfällt. Zwar dürfe „im öffentlichen Interesse“ recherchiert werden, heißt es in einer Neu­ ■ Journalisten sollen von Anti-Terror-Gesetzen aus­ fassung des Gesetzes. Doch was soll das nun wiede­ genommen werden, insbesondere dann, wenn sie auf­ rum bedeuten? Selbst Juristen in Down Under kön­ grund investigativer Recherchearbeit mit Gefängnis­ nen derzeit nicht genau definieren, wann sich Jour­ strafen bedroht sind. Auch Whistleblower müssten nalisten strafbar machen. Justizminister Christian Por­ vor dem Zugriff der Bundespolizei geschützt werden. ter versuchte nun mit einer ironisch wirkenden Maßnahme zu besänftigen. Dass er sich dabei selbst ■ Ein Regelwerk soll freien Zugang zu Informationen zum obersten Kontrolleur der australischen Presse auf­ gewährleisten. Die sich ausweitende Praxis der Regie­ schwingt, begreift Porter offenbar als Entgegenkom­ rung, Dokumente als geheim einzustufen, müsse be­ men. Alle Durchsuchungsaktionen von Medienunter­ grenzt werden. nehmen und Journalisten müssten künftig von ihm persönlich genehmigt werden.

Medienbündnis fordert Pressefreiheit und Schutz ktion „Your right to know“ A Diese australischen Medien sind beteiligt: Premierminister Scott Morrison sagt, er respektiere die Pressefreiheit. Doch genau genommen gibt es diese Freiheit nicht. Jedenfalls nicht in Australien, das zu ■ Australian Associated Press (aap) ■ Australian Broadcasting Corporation (ABC) den wenigen Demokratien zählt, in denen Presse- und ■ Australian Community Media (acm) ■ Astra (australische Abonnement-Medien) Meinungsfreiheit nicht ausdrücklich in der Verfassung ■ Bauer Media Group (Zeitschriftenverlag) ■ Community Broadcasting Association verankert sind. Zwar hat das Land die UN-Charta zur of Australia (CBAA) ■ Commercial Radio Australia (Industrieverband) ■ Daily Mail Deklaration der Menschenrechte unterzeichnet. In der Australia (Boulevard-Zeitung) ■ free tv Australia (Industrieverband) ■ Media En- Erklärung von 1948 heißt es, jedermann habe das tertainment and Arts Alliance (Gewerkschaft) ■ News Corp Australia (rund 170 Zei- Recht auf freie Meinungsäußerung, auf freien Zugang tungen und Zeitschriften) ■ Nine Network (Fernseh-Network) ■ Prime Media sowie auf die Weitergabe von Informationen. Doch Group (Fernseh-Network) ■ SBS (Fernseh-Network) ■ Seven West Media (Fernse- weder Informations- noch Meinungsfreiheit würden hen, u.a. Seven Network) ■ Sky News Australia (Nachrichtensender) ■ Ten (Fern- in Australien noch ausreichend gewährleistet, kritisie­ seh-Network) ■ The Guardian (britische Tageszeitung) ■ WIN (Fernseh-Network) ren Medienhäuser.

26 M 4.2019 INTERNATIONAL

Repressalien auch gegen als freie Journalistin für die Deutsche Welle in Berlin ausländische Jorunalisten arbeitet, sollte Ende Oktober in Brisbane eine Rede zum Thema Meinungsfreiheit halten. Doch Mimi Auch für ausländische Journalisten wird es zuneh­ Mefo wurde ein Visum für die Einreise verweigert. Da­ mend ungemütlich in Australien, insbesondere bei Re­ ran änderte auch ein dringendes Schreiben der aust­ portagen zu Umweltthemen. Alle Korrespondenten ralischen „Media Entertainment and Arts Alliance“ an sollen sich neuerdings in ein Register von Personen den zuständigen Minister nichts – die Journalistin eintragen, „die für einen ausländischen Auftraggeber konnte nur per Video zu den Teilnehmer*innen einer arbeiten“. Im Juli 2019 wollte ein französisches Fern­ Konferenz der Griffith University sprechen. seh-Team Proteste am Rande der geplanten weltgröß­ ten Kohlemine „Carmichael“ des „Adani“-Rohstoff­ Kerry O`Brien, der bis 2015 die renommierte Doku­ konzerns filmen. Doch beim Versuch, Interviews zu mentationsreihe „Four Corners“ im australischen führen, erschien die Polizei. Die Journalisten wurden Fernsehen moderiert hat, sagte bei der Veranstaltung von Beamten in Handschellen abgeführt und auf der in Brisbane, es sei offensichtlich, dass die Regierung Ladefläche eines geschlossenen Kastenwagens zur von Premierminister Scott Morrison „freie Medien nächsten Wache gebracht. Diese konnten die Repor­ fürchte“ und deshalb einschränken wolle. Zahlreiche ter bald wieder verlassen – schließlich gab es auch kei­ Gesetze zur „Nationalen Sicherheit“ in Australien hät­ nen wirklichen Grund, sie festzuhalten. ten das Potential, sagte O´Brien, „die Demokratie zu untergraben“. Jörg Schmilewski aus Canberra ‹‹ Bei der Arbeit verhaftet oder „Einreise verweigert“ – so ergeht es ausländischen Journalist*innen in Aust­ ralien neuerdings. Die Kamerunerin Mimi Mefo, die

AKTION FÜR VIER REPORTER*INNEN IN BURUNDI Recherchereise endet im Gefängnis

ls aus der Provinz Bubanza im Nordwesten Burundis Iwacu zählt zu den wenigen unabhängigen Medien, die es in Bu- Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und einer rundi noch gibt. Seit Zuspitzung der politischen Krise im April A bewaffneten Gruppe gemeldet wurden, entschied die 2015 sahen sich immer mehr Journalist*innen gezwungen, ins Exil Redaktion des unabhängigen Nachrichtenportals Iwacu, zu gehen. Damals war Präsident Pierre Nkurunziza entgegen der der Sache vor Ort nachzugehen. Bevor Agnès Ndirubusa, Verfassung des Landes für eine dritte Amtsperiode angetreten. Christine Kamikazi, Egide Harerimana und Térence Mpozenzi mit Proteste dagegen wurden niedergeschlagen, Medien verwüstet ihrem Fahrer Adolphe Masabarakiza aufbrachen, informierten und geschlossen. Auch der Gründer von Iwacu, Antoine Kaburahe, sie – wie üblich – die Provinzbehörden über ihre Pläne. verließ im Dezember 2015 das Land. Harald Gesterkamp ‹‹

Was können Sie tun? Schreiben Sie an den burundischen Generalstaatsanwalt und for- dern Sie ihn auf, sämtliche Anklagepunkte gegen die vier Journa­ list*innen Agnès Ndirubusa, Christine Kamikazi, Egide Harerimana und Térence Mpozenzi sowie ihren Fahrer Adolphe Masabarakiza fallenzulassen. Dringen Sie darauf, dass Medienschaffende in Burundi ohne Druck der Behörden und der Sicherheitskräfte ih- Als die Journalist*innen am 22. Oktober 2019 in Bubanza anka- rem Beruf nachgehen können. men, erwarteten sie bereits Polizeikräfte. Umgehend wurden die fünf Männer und Frauen festgenommen, wenige Tage später ent- Schreiben Sie auf französisch oder deutsch an: schied ein Gericht, dass sie in Haft bleiben müssten. Noch am Generalstaatsanwalt selben Tag erfolgte die Anklage wegen angeblicher „Untergra- Sylvestre Nyandwi bung der Staatssicherheit“. Der Generalstaatsanwalt des ostafri­ Parquet général Senden Sie eine Kopie kanischen Staates erklärte zwar, die fünf seien nicht wegen ihrer B. P. 105 Ihres Schreibens an: journalistischen Tätigkeit, sondern allein wegen der Anklage- Bujumbura BOTSCHAFT DER REPUBLIK BURUNDI punkte festgesetzt worden. Doch die vage Anklage basiert allein BURUNDI I.E. Frau Else Nizigama Ntamagiro auf einer klassischen Aufgabe der Medien: einer Recherchereise Berliner Straße 36 mit dem Ziel, über aktuelle Ereignisse zu berichten. Amnesty In- 10715 Berlin ternational fordert deshalb die sofortige und bedingungslose Fax: (030) 234 567 20. E-Mail: Freilassung der Festgenommenen. [email protected] Aktion

4.2019 M 27 TARIFE UND HONORARE Hohes Gut richtig nutzen Nur ein Viertel der Redakteur*innen bei der MAZ erfasst die Arbeitszeit

ch mache das auch für mich, um gesund zu bleiben“, kommen, wenn sie die realen Zeiten eintragen. „Dagegen bekom­ sagt Helge Treichel. Der Lokalreporter der Märkischen men wir von Kolleginnen und Kollegen, die ihre Arbeitszeit erfas­ I Allgemeinen Zeitung in Prignitz-Ruppin weiß auch, sen, die Rückmeldung, dass sie bewusster mit der eigenen Arbeits­ was gern kolportiert wird: Die Online-Ausgabe sei zeit umgehen und auch Ausgleich erhalten“, sagt Karin Wagner. nie vollgeschrieben, das Internet kenne keinen Re­ Nachvollziehbare Probleme habe es bei Einzelnen gegeben, die daktionsschluss und die Konkurrenz schlafe nicht. Doch gerade des­ „hohe kumulierte Anfangsbestände“, also ein großes Überstunden­ halb möchte er möglichst viele seiner Redaktionskolleg*innen über­ polster, angesammelt hatten. „Da suchen wir mit der Geschäftslei­ zeugen, an der Erfassung der Arbeitszeit teilzunehmen. tung einen Kompromiss über eine vertretbare Ausgangsbasis und sinnvolle Zeiträume, in denen solche Rucksäcke abgebaut werden.“ Drei Viertel der etwa 80 Journalist*innen und Volontäre in Potsdam Dafür, dass viele bislang ihre Arbeitszeit nicht erfassen, sieht Wag­ und den drei Regionalverlagen füllen bisher die Excel-Tabellen, mit ner auch Vorgesetzte und letztlich die Geschäftsführung in der denen die geleistete Arbeit dokumentiert und Mehrarbeitsstunden Pflicht: „Solange man mir sagt, man werde keine Maßnahmen er­ summiert werden, nicht aus. Das ergab eine Auswertung des Be­ greifen, wenn jemand keine Meldung ausfüllt, sehe ich nicht, dass triebsrates – fünf Monate, nachdem zum 1. Juni eine zuvor über drei­ unser Arbeitgeber seinen gesetzlichen und betrieblichen Verpflich­ einhalb Jahre erstrittene Betriebsvereinbarung in Kraft getreten ist: tungen ernsthaft nachkommt.“ Dabei, so Wagner, erlaube die ex­ „Arbeitszeiterfassung – das Ende des Qualitätsjournalismus?“ fragte akte Dokumentation ja auch eine bessere Planbarkeit und die be­ die Interessenvertretung deshalb provokativ. deute mehr Stabilität für beide Seiten – Management und Beschäf­ tigte. „Journalisten müssen keineswegs rund um die Uhr arbeiten“, ist Be­ triebsratsvorsitzende Karin Wagner erst recht nach der Einführung Bei der Braunschweiger Zeitung, wo die Redakteur*innen seit fünf Jah­ mobiler Arbeit mit Reporter-Tools überzeugt. Doch der Zwischen­ ren ihre Arbeitszeit elektronisch erfassen, sieht man das genauso. stand in Sachen Arbeitszeiterfassung macht ihr Sorge. Betriebsratschef Jörg Brokmann schätzt die redaktio­ Was helfen die edelsten Rechte dem, der sie nicht nelle Arbeitserfassung als „großes Gut“, das hier­ handhaben kann, habe schon Jacob Grimm zulande bestenfalls in zehn Verlagen über­ gefragt. haupt gelte: „Die Potsdamer Chefredak­ tion könnte regelrecht damit werben.“ Dabei schien einfach, was schließlich Freilich könne es „ein bisschen dau­ im März 2019 in der Einigungsstelle ern“, bevor auch im Kultur- und festgeschrieben worden ist: Alle Re­ Sportressort der Sinn solcher Erfas­ dakteur*innen und Volontär*in­ sung eingesehen werde. Doch im nen dokumentieren künftig ihre Zuge digitaler Transformation in reale tägliche Arbeitszeit, samt den Medien sei Dokumentation Unterbrechungen und Überstun­ einfach wichtig, weil die Arbeits­ den. Das Urteil des Europäischen anforderungen für die Redak­ Gerichtshofs vom 14. Mai 2019, teur*innen „sonst gesundheitlich das Arbeitgeber verpflichtet, ein zu belastend“ werden. System zur Messung täglicher Ar­ beitszeit einzurichten, gab zusätzli­ Das meint auch Helge Treichel aus chen Rückenwind. Mit einer vom Be­ Oranienburg. „Wir Redakteure haben triebsrat zur Verfügung gestellten Excel- nicht nur die Möglichkeit, wir haben die Tabelle sollte die Erfassung „einfach zur Ge­ Pflicht, unsere Arbeitszeit auf ein gesundes wohnheit werden“. Mehrarbeit werde analog Maß zu begrenzen. Das sind wir uns selbst und zum geltenden Tarifvertrag für Redakteur*innen an unseren Familien schuldig.“ Tageszeitungen abgegolten: Wenn in den folgenden zwei Kalendermonaten kein Arbeitszeitausgleich erfolgt, entsteht ein Ver­ Dass sowohl Betriebsrat als auch die Geschäftsleitung auf die mo­ gütungsanspruch. natliche Auswertung schauen, hat für Karin Wagner „Einfluss auf die redaktionelle Aufgabenverteilung“. Selbst wenn mit zusätzlichen Tatsächlich konstatiert der Betriebsrat nun: Wenn nur wenige das Stellen akut nicht zu rechnen sei, zwinge das zu Umverteilung, zur Instrument der Arbeitszeiterfassung anwenden, entwickelt es nicht Beschäftigung von mehr Pauschalist*innen und Freien. Bei Vertre­ die erforderliche Wirkung. Das Ziel, das Arbeitsvolumen an die vor­ tungen für Langzeitkranke habe sich bereits etwas getan. Selbst aus Foto: Shutterstock/ImageFlow Foto: handenen personellen Ressourcen anzupassen, verpuffe. Manche dem Verlagsbereich habe sie inzwischen Resonanz erreicht, meint Redakteur*innen begründen ihre Ablehnung damit, dass die Arbeits­ die Betriebsratsvorsitzende noch. „Wir haben unsere Auswertungs­ aufgaben dadurch nicht geringer würden und Erfassung also nichts präsentation in alle Bereiche gesandt. Und die Excel-Tabellen kann nütze. Andere befürchten, dass sie Stress mit ihren Vorgesetzen be­ schließlich jeder ausfüllen.“ Helma Nehrlich ‹‹

28 M 4.2019 TARIFE UND HONORARE

M 03.2019 …

… Seite 30/31 berichtete ebenfalls über die Tarifaus-

Foto: ver.di Foto: einandersetzung. Aktuelles immer auf https://rundfunk.ver.di.de Streikwirkungen und https://mmm.verdi.de Erste Ergebnisse des Tarifkampfes im öffentlich-rechtlichen Rundfunk

ie Streiks und Aktionen der Beschäftigten des öffent­ an Sonn- und Feiertagen sowie mehr freie Tage. Auch die Vergütun­ lich-rechtlichen Rundfunks für deutliche Gehalts- gen der Chor- und Orchestermitglieder werden erhöht. Die Effektiv­ D und Honorarerhöhungen haben Wirkung entfaltet. honorare der arbeitnehmerähnlichen freien Mitarbeiter*innen stei­ Im NDR, MDR und SWR liegen Ergebnisse vor, die gen entsprechend der Gehaltsfestlegungen stufenweise. Weitere Ho­ auch im ver.di-Tarifausschuss Zustimmung fanden. norarleistungen werden im 12a Tarifvertrag (für arbeitnehmerähn­ Sie sind in Teilen unterschiedlich, jedoch in der Gesamtbetrachtung liche Freie) den tariflichen Steigerungen angepasst. Auch der aller jeweiligen Komponenten am Tarifabschluss des Öffentlichen Urlaubsanspruch wird ab dem kommenden Jahr erhöht. Dienstes orientiert. Hier eine Abkoppelung nicht zuzulassen, war und ist die zentrale Forderung der Gewerkschaften in der andauern­ Der SWR hat ein Tarifergebnis auf den „die Tarifverhandler*innen den Tarifauseinandersetzung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. von ver.di stolz sind“. Die linearen Erhöhungen für Feste und Freie Viele Rundfunkanstalten sind noch mittendrin in den Verhandlun­ belaufen sich auf insgesamt 6,2 Prozent. Für die vergangenen Mo­ gen. Einige wie der RBB laufen in die Zielgerade. Die Tarifverhand­ nate seit April gibt es Einmalzahlungen gestaffelt nach Vergütungs­ lungen des ZDF und der Deutschen Welle beginnen im Januar. gruppen zwischen 800 und 1800 Euro. Alle Freien erhalten 980 Euro, die Azubis 480 Euro. Das Auszubildendenentgelt wird ebenfalls er­ Das nun im NDR vorliegende Ergebnis mit einem Gesamtvolumen höht. Mit einer deutlichen Gehaltserhöhung kann auch das Vokal­ von 6,75 Prozent wird von ver.di nicht schlechter als das Volumen ensemble des SWR rechnen. Weitere Verbesserungen betreffen un­ im Öffentlichen Dienst bewertet, trotz der längeren Laufzeit. Sie soll ter anderem Urlaub, „Pflegetage“ und das von Sender finanzierte 36 Monate betragen, beginnend rückwirkend ab dem 1. April die­ Jobticket. Betriebsbedingte Kündigungen sind bis Ende2024 ausge­ ses Jahres. Festangestellte würden mehr freie Tage und einen An­ schlossen. Die Laufzeit des Tarifvertrages ist auf 33 Monate festgelegt. spruch auf fünf zusätzliche „Pflegetage“ erhalten. Für Azubis gibt es Mit Blick auf die sehr enge Abstimmung der Tarifverhandlungen in einen weiteren Urlaubstag sowie ab 2019 und in den folgenden zwei allen ARD-Anstalten durch ver.di heißt es im aktuellen Tarifinfo des Jahren jeweils 50 Euro monatlich mehr Vergütung. Bis zum 31. De­ SWR: „Ohne den Druck der von ver.di angestoßenen und im We­ zember 2024 sind betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen. sentlichen von den ver.di-Mitgliedern getragenen drei Streiks im Die Honorare der Freien sollen ab 1. Januar 2020 um 4,3 Prozent und SWR, ohne die Unterstützung durch die parallelen Streiks der ver. zum 1. April 2021 um 2,45 Prozent angehoben werden. Freie, die di-Mitglieder bei NDR, WDR, BR und anderen Anstalten wäre das 2019 Urlaubsentgelt in Anspruch nehmen, erhalten eine Einmal­ jetzt für den SWR erreichte Ergebnis so nicht zustande gekommen.“ zahlung von 1.300 Euro. Weitere positive Veränderungen betreffen die Rahmenverträge von Freien. Die Forderung nach Streichung des Erstmals kam es beim HR am 3. Dezember zu einem Warnstreik. 250 Urlaubsgeldes für neu Eingestellte konnte abgewehrt werden. Beschäftigte aus Redaktion, Technik und Verwaltung demonstrier­ ten am Verhandlungstag in Frankfurt am Main und Kassel für ein Der NDR gab im Frühjahr den Startschuss für die Tarifverhandlun­ verbessertes Angebot des Arbeitgebers. Sendeausfälle im Hörfunk gen in der ARD. Anfangs, am 5. April, lag das Angebot des NDR-Sen­ waren die Folge. Mitglieder des HR-Sinfonie Orchesters verließen ders dem Volumen nach etwa 50 Prozent unter dem des Öffentli­ vorzeitig die Proben, um sich dem Warnstreik anzuschließen. Eine chen Dienstes. In vier großen Streiks haben die Beschäftigten des Bläsergruppe aus dem Orchester zog lautstark an der Spitze eines De­ NDR ihre Forderungen in die Tarifrunde getragen, waren Teil der monstrationszuges durch den Sender. „Dafür, dass zum ersten Mal in insgesamt über die Monate bundesweit 3.000 Streikenden in ARD der Geschichte des Hessischen Rundfunks gestreikt wurde, sind wir und Deutschlandradio. Die Folge: verbesserte Angebote. „Streik mit der Beteiligung hoch zufrieden“, sagte Manfred Moos vom ver.di- wirkt!“, heißt es deshalb in ver.di-Flugblättern nicht nur beim NDR. Landesbezirk Hessen bei einer Streikversammlung in der Goldhalle des HR (s. Foto). Am 8. Januar 2020 wird weiter verhandelt. Auch im MDR liegt ein Tarifabschluss in greifbarer Nähe. Im vorlie­ genden Eckepunktepapier wird eine Laufzeit für den Honorar- und „Noch nie waren Streiks so nötig wie in diesem Jahr, um überhaupt Vergütungstarifvertrag von 33 Monaten vorgeschlagen. Feste Mit­ Tariferhöhungen zu erreichen“, sagt Matthias von Fintel, ver.di-Tarif­ arbeiter*innen erhalten bis zum Ende dieses Zeitraums insgesamt sekretär Bereich Medien. Dies sei bisher „eindrucksvoll gelungen, 6,2 Prozent mehr Gehalt und ab 2020 auch mehr Urlaubsgeld. Es mit tausenden Streikenden und deshalb auch für das Publikum er­ gibt ab dem nächsten Jahr unter anderem zusätzliche Zeitzuschläge kennbaren Programmausfällen“. Karin Wenk ‹‹

4.2019 M 29 TARIFE UND HONORARE

November 2019. Im November 2020 folgt dann eine zweite Tariferhöhung. Insgesamt liegen die Steigerun­ Du: Maxi Menü gen in allen Häusern und über alle Kategorien im Mit­ tel zwischen 2,9 und 4,4 Prozent. Noch besser sieht es für die CinemaxX-Beschäftigten aus. Auf deren Kon­ Ich: Hungerlohn ten trudeln nämlich noch im Dezember die Nachzah­ lungen der Tariferhöhungen rückwirkend bis zum Kinobeschäftigte erstreiken bessere Arbeitsbedingungen 1. Juli ein. Zusammen mit einer zweiten Erhöhungs­ stufe im Juli 2020 steigen die Gehälter um 6,6 bis 12,6 Prozent. Im Januar gibt es außerdem noch eine Ein­ ber ein außerplanmäßiges Geldge­ malzahlung von 240 Euro. Wichtig sei den ver.di-­ schenk ihres Arbeitgebers dürften sich Vertreter*innen in der Schlichtungskommission bei Ü zu Weihnachten die rund 3.000 Be­ CineStar neben den Entgeltsteigerungen auch die Ab­ schäftigten der Kinoketten CineStar sicherung der Beschäftigten durch geschlossene Tarif­ und CinemaxX freuen. Auch wenn Kundgebung in Hamburg verträge gewesen, hieß es in einer ver.di-Tarifinfo zum Geschenk bestimmt das falsche Wort ist. Immerhin vor dem CinemaxX-Verhand- Schlichtungsergebnis. Denn: Alle 55 CineStar-Kino­ haben sie dafür fast ein Jahr lang gekämpft, sich im lungsauftakt (Bild unten). center stehen kurz vor dem Verkauf an den britischen gesamten Bundesgebiet an unzähligen Streiks betei­ Kinobetreiber Vue International, der auch die Cine­ ligt. Die Lösung brachte in beiden Häusern letztlich Etwa 90 überwiegend junge maxX-Kinos betreibt. Nur das Bundeskartellamt muss eine Schlichtung. Kino-Beschäftigte aus ganz dem Deal noch zustimmen, die aktuelle Frist läuft bis Deutschland waren dem 31. Dezember. Nun gibt es für die CineStar-Mitarbeiter*innen rück­ ver.di-Aufruf gefolgt, um am wirkend zum 1. November eine erste Gehaltserhöhung 8. Februar 2019 zur Berlinale Fast ebenso lange, wie das bereits mehr als 12 Monate sowie eine Einmalzahlung von 250 Euro für die ent­ für existenzsichernde Löhne laufende Prüfverfahren des Kartellamts dauert, hatten gangenen Entgeltsteigerungen der Monate März bis zu demonstrieren (rechts). Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beider Kinoketten für ein Tarifergebnis gekämpft. Denn für sie ging es um viel. Wie in kaum einer anderen Branche arbeiten Beschäftigte im Kino-Business am Existenzminimum. Vor den nun erstrittenen Tariferhöhungen lag der Ein­ stiegslohn einer Servicekraft bei 9,19 Euro – und das ist gerade mal Mindestlohnniveau. Und weil man nach Berechnungen der Bundesregierung auf eine An­ frage der Linkspartei mindestens 12,63 Euro pro Stunde verdienen müsste, um nicht arm im Alter zu sein, arbeiteten die Kino-Beschäftigten geradewegs auf die Altersarmut zu, kritisierte ver.di anlässlich der Ber­ linale im Februar. Damals waren weit über 100 Kino- Beschäftigte einem ver.di-Aufruf gefolgt, um wenige Meter neben dem roten Teppich vor dem Berlinale-Pa­ last für existenzsichernde Löhne zu demonstrieren. Darunter auffallend viele junge Leute, die sich für den „Hungerlohn“ bei CinemaxX und CineStar das immer

Foto: Lars Hansen Lars Foto: teurer werdende Leben vor allem in Großstädten wie

Redaktion: träge stimmen nicht immer Gestaltung: Für Mitglieder der Medien- Weitere Publikationen: Impressum ver.di Bundesverwaltung mit der Meinung der Redak- Layout: Petra Dreßler, Fachgruppen ist die Menschen Machen Medien M Redaktion tion überein. vision-und-gestalt.de­ Bezugsgebühr­ im Mitglieds- Kunst und Kultur Online Medienpolitisches ver.di- Karin Wenk (verantwortlich) beitrag erhalten. https://kuk.verdi.de/ Magazin, erscheint im Jahr Paula-Thiede-Ufer 10 Anzeigen: Druck und Vertrieb: Jedes Heft kostet 9 Euro verantwortlich: mit vier gedruckten Ausga- 10179 Berlin ASK Agentur für Sales und Mohn Media (inklusive Mwst.). Valentin Döring ben, die jeweils ein Schwer- Tel: 030 / 69 56 23 26 Kommunikation GmbH, Carl-Bertelsmann-Straße ver.di-Mitglieder aus ande- Tel: 030/69 56 23 30 punktthema behandeln. Fax: 030 / 69 56 36 57 Bülowstr. 66, Hof D/ 161M, 33311 Gütersloh ren Fachgruppen können M „M Online“ berichtet aktuell [email protected] Eingang D1, 10783 Berlin, zu einem ermäßigten Preis „Druck + Papier“ aus der Medienbranche:­ [email protected] Fax 030/740 73 16 54 Abonnement: abonnieren. verantwortlich: https://mmm.verdi.de @Mx3_Online [email protected] Verlagsgesellschaft Andreas Fröhlich https://www.facebook.com/ W.E. Weinmann mbH, Redaktionsschluss M: Tel: 030/69 56 23 40 Herausgeber: menschenmachenmedien/ Ansprechpartnerin: Postfach 1207, M 04.2019: 25.11.2019 ver.di Bundesvorstand Simone Roch, Strategische 70773 Filderstadt M 01.2020: 28.02.2020 Frank Werneke, ver.di- Für unverlangt eingesandte Kommunikation Tel. 0711/700 15 30. Vorsitzender Artikel und Bilder übernimmt Tel. 030/740 73 16 32 Fax: 0711/700 15 10. International Standard Christoph Schmitz, die Redaktion keine Verant- Gültige Anzeigenpreisliste: service@verlag-wein- Serial Number Leiter Ressort 7 wortung. Gezeichnete Bei- Nr. 24 gültig ab 1.4.2019 mann.com ISSN-Nr.: 09 46 – 11 32

30 M 4.2019 VER.DI UNTERWEGS 33. JOURNALISMUSTAG

Hamburg oder Berlin nicht mehr leisten können. Gleichzeitig haben an jenem 25.01.2020 Wochenende in mehreren CinemaxX-Kinos bundesweit Warnstreiks begon­ nen, so etwa in Hamburg oder Offenbach. Wegen der ausbleibenden Annähe­ rung in den Tarifverhandlungen bei beiden Kinoketten setzte sich diese Streik­ bewegung in den folgenden Monaten fort und wurde kontinuierlich ausge­ weitet. „Gemeinsam mit den Kino-Beschäftigten befinden wir uns in einer grundlegenden Auseinandersetzung um existenzsichernde Löhne“, erklärte der damalige stellvertretende und heutige ver.di-Vorsitzende Frank Werneke im März kurz vor der fünften Verhandlungsrunde bei CinemaxX und der vierten Runde bei CineStar. Dem Krisenlamento der Kinobetreiber setzte der ver.di-Chef entgegen, dass es kontraproduktiv sei, den Druck auf dem Kino­ markt an die Beschäftigten weiterzureichen. Diese lebten in Sorge um steigende Mieten, Energie- und Fahrtkosten oder ganz allgemein ihre Zukunft.

Große öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Forderungen erhielten die Kino- Eine Frage Beschäftigen anlässlich ihrer Streiks zum Filmstart von „Avengers: Endgame“ Ende April. Über mehrere Tage legten damals bundesweit in 20 Kinos Mitar­ der Haltung beiterinnen und Mitarbeiter ihre Arbeit nieder. „Die Streiks müssen spürbar sein und Auswirkungen haben“, machte ver.di-Verhandlungsführer und Tarif­ inschauen, weghören, einste- sekretär Holm-Andreas Sieradzki deutlich. Betroffen waren vor allem die Ser­ hen? Alles eine Frage der Hal- vice-Bereiche wie Kasse und Gastronomie. Für die Kinobesucher*innen kam es H tung“ – mit der Bedrohung teilweise zu verlängerten Wartezeiten. Vor der sechsten Verhandlungsrunde von Journalist*innen, Hate mit CinemaxX kamen zudem in Hamburg gut 300 Beschäftigte aus CinemaxX- Speech, Wording und der Re- und CineStar-Kinos aus ganz Deutschland zu einer Demonstration zusammen. cherche am rechten Rand beschäftigt sich der „Großes Kino, kleiner Lohn“ war das Motto des Demonstrationszuges, bei dem 33. Journalismustag der ver.di am 25. Januar 2020 in Berlin. Außerdem wird die Frage ge- stellt, welche Rahmenbedingungen die Politik schaffen muss, um Journalismus mit Haltung zu ermöglichen und die Pressefreiheit zu schützen. Kann Konstruktiver Journalismus Vi- sionen und Lösungen bieten anstelle von Hys- terie und Skandalen? Und wo endet der Jour- nalismus und wo beginnt der Aktivismus? Programm und Anmeldung: https://dju.verdi. de/journalismustag/journalismustag-2020

Presseausweis 2020 Anträge abgeben Foto: Christian von Polentz Christian von Foto: ie Anträge für den Presseaus- die Kino-Streikenden auch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Com- weis 2020 liegen in diesem puter-Bild unterstützt wurden, die sich ebenfalls im Warnstreik befanden. Fest­ D Jahr nicht in unserem Print- gefahren waren die Tarifverhandlungen lange vor allem deshalb, weil die Magazin bei. Sie können un- Kinobetreiber kein Angebot vorlegten. Stattdessen trugen diese zur Eskalation ter https://dju.verdi.de/ser- der Auseinandersetzung bei, indem sie vorsorglich Streikbrecher anheuerten vice/presseausweis heruntergeladen und und diesen sogar mehr als 12 Euro Stundenlohn zahlten. Andere Kinobetrei­ ausgefüllt eingereicht werden. Das kann so- ber reagierten mit Aussperrungen. Die Streikenden erhielten keinen Lohn und bald wie möglich geschehen. Alle Informatio- durften das Haus nicht betreten. „Streikende durch eine Aussperrung von nen zum Presseausweis finden sich hier. Ver- ihrer Arbeit auszuschließen, ist eine vollkommen unangemessene und auch antwortlich für die Ausgabe sind nach wie vor unverhältnismäßige Reaktion auf den legitimen Kampf unserer Kolleginnen die ver.di-Landesbüros. Sie prüfen die Nach- und Kollegen für eine angemessene Bezahlung“, erklärte Sieradzki im Juli. weise der hauptberuflichen journalistischen Tätigkeit. Hauptberuflich tätig sind Journa- Beendet werden konnte dieser langwierige Konflikt nur durch eine Schlich­ list*innen, die ihren Lebensunterhalt überwie- tung. Ob damit Ruhe in die Branche kommt, wird sich im nächsten Jahr zei­ gend (mehr als 50 Prozent) aus der journalis- gen, wenn nach der dann hoffentlich abgeschlossenen Kartellamtsprüfung tischen Tätigkeit erzielen. höchstwahrscheinlich die Übernahme der CineStar-Kinos durch CinemaxX Adressen der Landesbezirke: ansteht. Monique Hofmann ‹‹ https://dju.verdi.de/service/ver-di-finden

4.2019 M 31 AUF DEINE INSTAGRAM STORY DROHT

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