Der Autor

Guildo Horn, Musiker, Entertainer und Bühnenstar, wurde 1963 als Horst Köhler in Trier geboren. Sein Weg führte ihn aber nicht etwa in die Politik, sondern gemeinsam mit seiner Band, den Orthopädischen Strümpfen, gera- dewegs auf den »Schlager-Olymp«. Von seinen Fans nur »Meister« genannt, sorgte Guildo Horns Teilnahme am Grand Prix d‘Eurovision de la Chanson 1998 bundesweit für Euphorie und Schlagzeilen. Viele Ehrungen und Preise für sein musikalisches Schaffen folgten, darunter ein Bambi, die , der VIVA-Komet und der Echo-Award. Weniger bekannt ist, dass der Diplom-Pädagoge vor seinem Durchbruch als Künstler viele Jahre bei der Lebenshilfe e.V. Trier gearbeitet hat. Hier lei- tete er nicht nur zahlreiche Musik- und Theaterprojekte, sondern fand auch persönliche Erfüllung in der Arbeit mit geistig behinderten Menschen. Da ihn sein ursprünglicher »Auftrag« nie wirklich losließ, entwickelte Guildo Horn gemeinsam mit Frank Elstner das Talkformat »Guildo und seine Gäste«. Da- mit gelang es ihm als Erster in der europäischen TV-Landschaft, Menschen mit geistiger Behinderung einem großen Publikum nahe zu bringen. 2006 feierte die Sendung im SWR-Fernsehen Premiere, mittlerweile geht sie bereits in die 4. Staffel. Locker, unverkrampft und stets auf Augenhöhe spricht Guildo Horn mit den eigentlichen Helden der Show über die unterschiedlichsten Themen und macht dabei auch vor Tabubrüchen nicht halt. Die Sendung er- hielt 2006 den Paralympic Media Award und war im darauffolgenden Jahr für den Grimme-Preis nominiert. Sie wurde außerdem mit dem Medienpreis Bob- by der Bundesvereinigung Lebenshilfe ausgezeichnet. Guildo Horn lebt in der Nähe von Köln im Bergischen Land. Guildo Horn DoppelIch Die andere Seite des Horst Köhler

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1. Auflage Copyright © 2008 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Konturdesign GmbH, Bielefeld Umschlagmotiv: © Holger Hill, Stuttgart Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-579-06990-6 www.gtvh.de Inhalt

Appetithäppchen 7

Die Bobby-Verleihung: Ulm im September 2007 9

Mein Abitur: Trier, im Jahre 1984 14

Mein Auszug 22

Mein erster Tag in der WfB 26

Herr Lanser 35

Der Abend danach 43

Der Tag nach dem Abend danach 50

Musik liegt in der Luft 63

Nach drei Wochen Praktikum 69

Das wackere Eierlikörchen 90

Mein Silvester 1984 92

Alles hat ein Ende … 95

Deep Orffle 99

Mein Dienst fürs Vaterland 101

Zurück in der WfB 105

Ralf Fischer 108

Trojanisches Pferd sucht Zivildienststelle 111

 Die letzten Wochen in der WfB 114

Das Sportfest zum Abschied 116

Zivildienstjahre sind keine Herrenjahre 121

Arbeitslos im Herbst/Winter 1985/86: Der Mensch ist eine Pflanze 128

Heissa, dann ist Weihnachtstag 137

Der Schlager in mir 149

Der Abend mit Frank Elstner. Unsere Talkshow: »Guildo und seine Gäste« 182

Nachwort: Berlin, 50 Jahre Lebenshilfe 189

 Appetithäppchen

Nach einem Interview in der Chrismon über meine Talksendung »Guildo und seine Gäste« sowie mein Engagement für und mit geistig Behinderten erhielt ich plötzlich und unerwartet elektro- nische Post von einem Verlagsmenschen mit der Anfrage, ob ich mir vorstellen könnte, ein Buch zum selbigen Thema zu schrei- ben. Kurzum: Wir trafen uns in einem Café am Siegburger Bahn- hof. Er erklärte mir, dass er von Haus aus Theologe sei, und legte, wie zur Beglaubigung, zwei gerade in Köln beim Saturn erwor- bene Heavy Metal CDs auf den von Zitronenröllchen verklebten Tisch. Was für ein seltsamer Kauz, dachte ich erfreut und ver- sprach, baldigst ein paar Zeilen für den schrägen Herrn zu Papier zu bringen. Da saß ich also nun in meiner Denkblase. Wie bringst du etwas aufs Papier, was sich eigentlich mit Worten nicht beschreiben lässt? Etwas, dessen Qualität eben nicht im Zählbaren, sondern im Fühlbaren liegt. Obendrein ist ja so ziemlich alles, was sich mit dem Themenbereich »geistig Behinderte und Konsorten« be- schäftigt, eh mit größter Vorsicht anzupacken. Darf man das, klingt da immer mit. Ganz normal über etwas sprechen, was von der Gesellschaft als unnormal definiert worden ist? Trifft mich da nicht irgendein Bannstrahl? Dabei machen sich die Behinder- ten selbst darüber die wenigsten Gedanken. Die wollen nur so sein dürfen, wie sie sind. Mit Recht. Heutzutage ist in sämtlichen Bereichen der Behindertenarbeit ein zunehmendes Selbstbewusstsein zu beobachten, getreu dem Motto: »Nicht normal zu sein ist ganz normal«. Im Laufe der Jahre habe ich viele tolle Menschen kennen ler- nen dürfen, die mit größter Begeisterung ihrer Arbeit in den ver- schiedensten Behinderteneinrichtungen und Verbänden nachge- hen. Sie tun dies nicht ausschließlich aus karitativen Erwägungen. Sie tun es vor allem für sich selbst, weil sie wissen, welch große

 Qualität in unseren betreuten Mitbürgerinnen und Mitbürgern schlummert und weil es riesigen Spaß macht, mit ihnen zusam- men zu sein. Der Umgang ist meist von Humor geprägt. Es darf gelacht werden. Miteinander. Auf Augenhöhe. Dem Vorbild meiner »behinderten Lehrmeister« folgend be- schloss ich nicht weiter darüber zu grübeln, was ich denn nun sagen darf und was nicht, und einfach drauflos zu schreiben. Hier ist nun das Ergebnis: die Geschichte meiner Geschichte, oder besser gesagt, die Geschichte meiner Reise zum Planeten der Freude. Sämtliche Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen waren nicht zu vermeiden, sind aber rein zufällig.

 Die Bobby-Verleihung: Ulm im September 2007

»… lieber Guildo Horn!« Was? Das bin ja ich! Hatte das für ’nen Moment glatt wieder mal vergessen. Tja, meine lieben Brüder und Schwestern, das klingt vielleicht etwas seltsam, aber ich vergesse irgendwie stän- dig, wer ich bin, wenn ich nicht gerade auf einer Bühne stehe oder eine Kamera vor der Nase hab. Ein Taxifahrer verbringt sein gan- zes Leben auch nicht in dem ständigen Bewusstsein, beruflich ein Taxi zu steuern. Und ich steuere beruflich ein Horn. Sofort habe ich mich wieder super im Griff, mein Hirn erhebt sich, und ganz hornig schaue ich dem wortgewandten Laudator auf den geübten Mund. Aus selbigem sprudeln wundersame Worte, die mich als Christoph Columbus der Behindertenarbeit preisen. Als einen, »… der über den Tellerrand hinausblickt und nach stürmischer Fahrt am Ende eine neue Welt entdeckt …« Schluck! Das klingt verdammt noch mal nach Weitsicht und Vor- bild … Und ich bin der, dem diese Worte gelten? Da drängen sich mir gleich ein, vielleicht gar zwei Fragen auf. Erstens, das meint der nicht ernst. Ein kurzer Kontrollblick: Doch, er meint es ernst! Also zweitens, meint er jetzt mich als mich, als Horn, oder eher mich als mich mich, den es wie gesagt ja auch noch gibt, also den, der das Horn dann beruflich steuert, wenn er nicht gerade vom Horn gesteuert wird. Noch Fragen, Kienzle? Vegetative Errötung meinerseits und die Gewissheit, dass mich diese ehrlich gemeinten Worte an einer Stelle treffen, die defini- tiv zu meinen weichsten zählt. Mehr als mir lieb ist, packt es mich unvermittelt und ein paar Tränen wollen sich den Ausgang aus meinem Herzen bahnen. So bist du nicht, Horst! Keine Tränen … Du bist doch: »Der mit dem Horn tanzt.« Hart, aber fair mit dem Hemd aus der Hose. ’ne klassische »10«.

 Einer, der den Ball antizipiert. Lothar Matthäus hätte auch nie geweint … aber, der hätte den Kontext wohl auch nicht verstan- den. Außerdem: Die Sache, für die mich Herr Antretter, Vorsitzen- der der Bundesvereinigung der Lebenshilfe e. V., heute mit dem Medienpreis »Bobby« auszeichnen möchte, liegt mir verdammt noch mal am Herzen. Mehr als alles, was ich beruflich je auf die Beine gestellt habe. Seit vielen Jahren arbeite ich nun mit geistig und mehrfach behinderten Menschen zusammen. Obwohl ich das nie als Arbeit verstanden habe. Umgang mit geistig Behinderten? Das muss aber schwer sein! Bitte? So hab ich das eigentlich noch nie gesehen. Für mich war und ist das immer so ’ne Art von Hobby gewesen. Die wundersame Begegnung mit der Vierten Art. Endlich nor- male Menschen! Ich meine nicht das normal, das man normaler- weise als normal bezeichnet. Eher das normal durch die Horn- brille. Ich empfinde es als großes Geschenk, auf authentische Men- schen zu treffen. Persönlichkeiten, die, wenn auch aufgrund ihres intellektuellen Defizits, einfach so sind, wie sie sind. Eins zu Eins. Das ist Qualität. Das macht mich an. Das tut gut! Man trifft so selten welche. Kurzum: Für mich ist dieser Umgang eher eine Art Erholung. Eine spacige Aufladestation. Mein Charakterkopf dreht sich und ich blicke in die Runde. Eine Menge Leute hier. Festlicher Rahmen. Irgendwie war ich innerlich darauf gar nicht so recht vorbereitet. Mein Mund, tro- cken wie die Wüste Gobi. Erstmal ein tiefer Schluck von dem leckeren Weißwein. Langer, nachhaltiger Abgang am Gaumen. Direkt neben mir meine Managerin Silke. Seit mehr als einem Jahrzehnt beschäftigen wir uns gemeinsam mit unserem Horn. Über die Arbeit sind wir auch privat dicke Freunde geworden.

10 Wir sind so ’ne Art altes Ehepaar. Jeder weiß gleich, was der an- dere denkt oder fühlt, ohne dass wir reden müssen. Ich bin nicht allein. Guck mal an, die Silke endergriffen? So etwas spüre ich am Eigenurin. Sie zwinkert mir wässrig zu, ich feucht zurück. Ja, auch für Silke ist heute ein besonderer Tag. Ihre erste Begegnung mit behinderten Menschen war 1999. Natürlich hatte sie Angst. So geht‘s doch jedem, der erstmal nicht weiß, was ihn bei Behinderten erwartet. Wie soll ich mich verhalten? Was soll ich sagen? Muss ich da Rücksicht nehmen? Bis hin zu: Beißen die? »Vertrau mir, das wird dir gefallen! Die rocken! Sei einfach so behindert, wie du bist«, hab ich damals zu ihr gesagt. Begleitet von Neugier und einem mulmigen Gefühl folgte Silke mir dann auf einen Antrittsbesuch bei Tabuwta. Was? Ihr kennt meine Lieblingsband Tabuwta noch nicht? Oh sorry! Ich plappere hier so fröhlich drauf los und vergesse, dass ich erstmal ein paar Dinge erklären sollte. Nachdem ich Deutschland beim Grand Prix d‘Eurovision de la Chanson vertreten durfte – das war irgendwann Ende des letzten Jahrtausends –, wurde ich mit Fanpost förmlich zugedonnert und wusste zeitweise gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Da erreichte mich plötzlich dieses merkwürdige Päckchen von der Lebenshilfe Werkstätte Nordhorn. Inhalt: eine CD und ein Brief. »Lieber Guildo Horn, bitte hilf uns! Wir sind die Band Tabuwta und auch wir wollen Deutschland eurovisionsmäßig vertreten!« Grandiose Idee! Ein Segen für den Wettbewerb! Neugierig habe ich mir die beiliegende CD sofort zu Gemüte geführt. Was war das? Ein Genesiscover zum Opening! »I can dance« – gespielt von einer Lebenshilfeband! Hier war es das Mottolied »Tabuwta«. Ganz großes Damentennis! Rotzfrech und selbstbewusst! Das klang überhaupt nicht nach: Wir sind behindert und arbeiten uns an Orff’schem Schulwerk und Moeck Blockflöten ab. Nein, da

11 spielte eine echte Band. Die Texte waren mal ernst, mal gewürzt mit einer feinen Prise Humor. Ich war völlig aus dem Häuschen und hab sofort in der Werkstätte für Behinderte Nordhorn ange- rufen. Zufälligerweise probte die Band auch gerade. Ich wurde durchgestellt. Ein großes Hallo vor Ort. Nur Dagmar, die auch heute immer etwas besonnener erscheint, sah die Zukunft schon voraus: »Ich will nicht weltberühmt werden.« Tja, so haben wir uns kennen gelernt, vor nun fast zehn Jahren. Silke war vom folgenden Zusammentreffen mit Tabuwta komplett geflashed und hat in der anschließenden Woche von nichts an- derem mehr geredet. Heute hat sie alle Ängste verloren und wir freuen uns gemeinsam immer wieder aufs Neue, zu unseren au- ßerirdisch Irdischen zu reisen. Wahrhaftige Menschen sind eben extrem anziehend. Sprach ich eben noch von meiner Lieblingsband Tabuwta? Gleich mir gegenüber am runden Tisch sitzt Carlos Baroso, der Leadsänger der Band. Also praktisch »Mr. Tabuwta« himself. Ger- manys next top Superstar. Ich hab keine Ahnung, wie alt Carlos eigentlich ist, aber das tut auch nichts zur Sache. Er ist geboren für die Bühne mit dem implementierten Hang zur Selbstdarstel- lung. Gib mir ein Mikro und ich mach den Saal klar. Carlos ist halb Portugiese, halb Deutscher und das Schicksal hat ihm in Form von Conterganpillen kräftig einen eingeschenkt. Keine Arme, aber dafür nur ein Bein. Glück gehabt! Das muss man erstmal wegstecken. Er tut es, wie ich finde, mit Bravour. Ich habe ihn noch nie jammern oder mit seinem Schicksal hadern gehört. Respekt! Unvergessen einer seiner letzten Titel: »Hier kommt Carlos B. mit dem elften Zeh.« Humor hat er. Fast britisch. Stän- dig ziehen wir uns gegenseitig auf und dann fallen wir uns wieder in die langen und kurzen Arme. So ist das halt unter Musikerkol- legen. In meiner Talkshow »Guildo und seine Gäste« zieht er einmal völlig platt über die Frauen her: »Alles ein Volk, gibt man ihnen den kleinen Finger, nehmen sie direkt den ganzen Arm.«

12 Worauf ich: »Das sieht man ja bei Dir«, kontere. Wir beide sinken brüllend vor Lachen vom Tisch. Der Senderredakteur war scho- ckiert. Aber das geht, wenn man auf Augenhöhe kämpft. Neben Carlos sitzt Hans Jürgen, der als relaxter Betreuer und Gitarrist zusammen mit Musiktherapeut Eddi Schmidt die Ge- schicke der Nordhorner Band begleitet, ohne dabei jemals den Eindruck eines Ordnungshüters zu machen. Wir drei sollen gleich im Anschluss an die Rede ein wenig miteinander talken und dann vor den geladenen Gästen musizieren, denn das ist es vor allem, was uns über die Jahre zusammengeschmiedet hat. Die Begegnung mit Tabuwta hatte mich damals auf dem rich- tigen Fuß erwischt. Lange Jahre hatte ich in der Lebenshilfe Trier als Musiklehrer gearbeitet und den Job leider wegen meiner ­unerwarteten Hornkarriere schweren Herzens aufgeben müs- sen. Mit meiner Band bin ich dann jahrelang durch sämtliche Clubs der Republik getourt, hatte viel Spaß und auch der Erfolg ließ sich sehen. Doch Karriere hin, Karriere her. Im Musik- und Medien- geschäft hast du es zum Großteil mit einer Armee von Egonauten, Profilneurotikern, ewig Lustigen oder Speichelleckern zu tun. Obwohl es immer alles nach: »Hey, das ist doch Rock ’n’ Roll! Wir sind cool drauf. Du, da hängt mein Herz dran« klingt, geht es letzten Endes nur um die Kohle und nicht ums Herzblut eines Musikers. Vielleicht ist ja generell Aufrichtigkeit und Verbind- lichkeit, egal in welchem Berufszweig, zu viel verlangt. Arbeitest du im Bankgewerbe, ist es von Anfang an klar, dass es nur um Ertragssteigerung geht. Ein enthusiastischer Musiker jedoch ist erst mal vor den Kopf geschlagen, wenn er realisiert, dass es im Musikgeschäft auf dasselbe hinausläuft. Das ist zwar auch o. k., nervt aber auf Dauer. Als ich dieses Tabuwtapäckchen bekam, wurde mir schlagartig klar, was ich in den vergangenen Jahren schmerzlich vermisst hatte. Den Umgang mit diesen ganz besonders menschlichen

13 Menschen. Authentizität in ganzer Konsequenz. Dabei bin ich damals nach meinem Abitur nur zur Werkstätte für Behinderte in Trier gekommen, weil ich absolut null Plan hatte, was ich sonst mit meinem Leben anstellen sollte. Meine Mutter fährt dort seit Jahrzehnten einen Lebenshilfebus, und so entschied ich mich zur Orientierung, oder besser zur Überbrückung meiner Orientierungslosigkeit für ein freiwilliges soziales Jahr in dieser Behinderten-Einrichtung.

Mein Abitur: Trier, im Jahre 1984

Aber nun erstmal der Reihe nach. Wir schreiben das Jahr 1984. Dies ist die Geschichte vom kleinen Horst, der auszog, sein Leben zu leben. Unerwartet stehe ich plötzlich da mit diesem offiziellen Lappen in der Hand. Abgestempelt und verbrieft: Hochschulreife! Ein Siegesschrei. Endlich Weltmeister! Ich bin Rocky in Rocky 1. Gab’s Rocky damals überhaupt schon? Nein? Na gut, dann hab ich sein Herannahen bei der Zeugnisübergabe wohl spirituell vor- hergesehen: »Adrian!« Mein Abitur! Mein eigenes kleines Abitur! Jesus lebt! Eine Lücke im deutschen Bildungssystem. Hand aufs Herz: Ich hatte das nie für möglich gehalten. Niemand hatte das! Vielleicht eine! Die zauberhafte Wehrhafte! Meine Mutter! Die Plätzchenbäckerin! Frau Nussecke! Aber die gibt die Hoffnung eh nie auf. Meine Beute: eine glatte 3,6 auf der nach unten offenen Rich- terskala. Die entscheidende Hürde im Fotofinish gemeistert, vol- ler Geschmeidigkeit und Eleganz. Na ja? Bis auf das zweite Schul- jahr bei Frau Holzbauer war ich nie jemandem als guter oder gar begabter Schüler aufgefallen. Vielleicht habe ich dafür stets zu viel nachgedacht. Ein guter Schüler aber sollte nicht allzu viel

14 denken. Reproduzieren heißt die Parole. Seit ich jedoch denken kann, habe ich immer alles 1.000-mal hinterfragt. Und so be- haupte ich hier, dass mich das Nachdenken über dieses System »Schule« bereits in früher Adoleszenz zum wehrhaften Gesell- schaftskritiker und Staatsrechtler geformt hat. Im Deutschen Grundgesetz steht: Alle Menschen sind gleich! Jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Warum sollte ich mir dann von dieser verklemmten Pfeife da vorne vorschreiben lassen, was ich für richtig und was ich für falsch zu halten habe? Zu Hause bei uns zählten immer die besseren Argumente. Doch das war hier ohne Frage nicht gefragt. Wenn man, so wie ich, ohne Vater aufgewachsen ist, hat man eh ein mittelschweres Problem, implantierte Autoritäten anzuerkennen. Es sei denn, sie verdienen sich den Respekt redlich. Bestand ein Lehrer diese mei- ne hochwertige Qualitätsprüfung, leistete ich den Treueschwur und war fortan bereit, für ihn durchs Feuer zu gehen, das heißt Belohnung durch ehrlichen Schülerfleiß und Adelung durch mei- ne höchstpersönliche Mitarbeit! Die Lehrer liebten oder hassten mich. Meistens Zweiteres. Einen Mittelweg hat es bei mir bis heu- te noch nie gegeben. Mein Vater starb während meines ersten Schuljahres 1970 im Alter von 36 nach einer harmlosen Blind- darm-OP. Mein Stiefvater verabschiedete sich 1978 nach einem kurzen, aber intensiven Ausflug ins blühende Land des Streukrebses in die ewigen Jagdgründe. So wuchs ich, der spätere Christoph Columbus, mit Mutter, Omas, Schwester, Cousine, Tanten und Tantestanten ummantelt von einer gesegneten Quantität Weiblichkeit in Trier an der schö- nen Mosel auf. Familienintern nannten mich die Damen wegen meines damaligen Igelschopfes »das Samtköpfchen«. Dieser Name ist das wortgewordene »Guantanamo Bay« und gehört de- finitiv in den Folterkatalog von Amnesty International. Wider Erwarten habe ich die Schmach überlebt. Ja, sie machte mich eher

15 stärker. Wie in diesem Cowboysong: »A boy named Sue«. Das Auge des Tigers. Samtköpfchen now. Der Samtländer … Fußball, das war mein Leben. Aber mit 13 wurde ich Schlag- zeuger. Meine Mission: Kräftig draufhauen und den Laden hinten zu- sammenhalten. Meine erste Band: »Crash and Company«, meine Helden: Ian Paice, John Bonham, die Beatles und Genossen. Mein Traum: später einmal in schicken Tonstudios Schallplat- ten aufnehmen und viele davon verkaufen. Mir ging es da weniger um dieses: Sex and drugs and Rock ’n’ Roll. Ich wollte handwerklich brillante Musik abliefern: »Du, der Horst hat ein Hammer Timing.« Deshalb habe ich die Stones auch nie gemocht. Oder richtiger: nie wahrgenommen. Was für eine wunderbare Vorstellung: von der Musik leben können. Ist das nicht der Traum eines jeden Burschen, der mit 13 seine erste Band gründet und von seinen »Erziehungsweibern« zu Hause Samtköpfchen genannt wird? Aber eben ein Traum. Ist ja noch eine Weile hin, bis die finale Entscheidung gefällt werden muss. Irgendwie schaff ich mich eh durchs Leben. Dessen war ich mir bewusst. Ich war zwar das S. Köpfchen, der jüngste Spross der Familie, aber immerhin der einzige Stammhalter. Der kleine Mann für zwischendurch. Wie dem auch sei: Seit frühester Jugend wusste ich mich immer gut durchzuschlagen. Lebenspraktisch nennt man das. Woher ich das konnte, keine Ahnung, aber so etwas lernt man definitiv in keiner Schule. Warum eigentlich nicht? Bringt uns doch mal lie- ber bei, wie man sein Leben gestaltet, wie man z. B. eine Steuer- erklärung erstellt, was ich bis heute noch nicht kapiert hab, anstatt uns mit irgendwelchen zweiten und dritten Binomischen Formeln zu bewerfen. Für was waren oder sind die überhaupt nütze? Hat mir noch nie jemand plausibel erklären können. Das ist die frühe Verdummung der an die Macht strebenden Jugend.

16 Oder Tangenten, Sekanten und so ein Kram …? In Wirklich- keit gibt’s die überhaupt nicht. Reine Erfindung zu disziplina- rischen Zwecken. Später willst du dir ein Haus kaufen, und da du nicht genug Knete hast, bist du darauf angewiesen, dir Geld von einem Kreditinstitut zu borgen. Weißt du, wie das geht? Nö! Aber A Quadrat plus 2 AB mal C Quadrat??? Oder wie ging das noch mal? Die wollen gar nicht, dass du das je erfährst. Tick, Trick und Track, die Donald Duck Neffen trugen mal aus ihrem schlauen Pfadfinderbuch des Fähn- lein Fieselschweif den Oberspruch vor: »Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir.« Wie weise! Danke Tick, Trick und auch dir sei Dank, lieber Track. Danke Fähnlein Fieselschweif. Damit kann ich was anfan- gen. Damit lässt es sich arbeiten. Gelesen und für richtig befun- den. Weil mir also die Schule zu wenig Hilfestellung fürs wirkliche Leben bot, musste ich das wohl selber in die Hand nehmen. Also habe ich mir mit 13 Jahren, das war 1976, meinen ersten Job ge- sucht. Bei Edeka Krebs, das ist der kleine Tante-Emma-Laden bei uns an der Ecke zum Moselstadion. Von mir »die Mohrenkopf­ oase« oder »Zur fröhlichen Wassereisapokalypse« getauft. Nachdem ich meinen langjährigen Fußballtrainer Paul in einem Vieraugengespräch davon unterrichtet hatte, dass ich doch lieber Rockstar werden wollte, statt in der Bundesliga Karriere zu machen, hatte ich also alle Brücken zum bundesdeutschen Sport­ establishment abgebrochen. Die Würfel waren gefallen. Als Nächstes benötigte ich nun das passende Startkapital für mein neues eigenes kleines Leben. Also bin ich am nächsten Tag rüber zu Herrn Krebs, der mich vom Einkaufen her kannte und fragte, ob er mir eben ein paar hundert Mark für mein erstes Schlagzeug leihen könnte. Ich hatte mich Hals über Kopf in dieses urtümliche Instrument mit blauen Sternchen verliebt, das ich unlängst in diesem coolen, verrauchten Musikladen entdeckt hatte. Um das

17 ganze zurückzuzahlen, könne er, Herr Krebs, mir gleich einen Job geben. Warum auch immer? Er gab mir das Darlehen und meinen ersten Job. Herr Krebs ist einer der wenigen Menschen, dem ich seinen christlichen Glauben abnahm. Das Ganze war der Beginn einer blühenden Zusammenarbeit zwischen den Krebsens und mir. Die Geschäfte florierten. Fast drei Jahre lang hab ich jeden Tag zwei, drei Stunden Kisten ge- stapelt und Lebensmittel an Senioren ausgeliefert. Eine verdammt noch mal schweißtreibende Angelegenheit zusätzlich zu meiner Schule und meinen Bandproben. Für ein allerdings übergeord- netes Ziel. Das Schlagzeug gehörte nach ein paar Monaten mir allein. Die Krebsens waren wirklich gute Menschen und sind es, glau- be ich bis heute geblieben. Als Dank für das Vertrauen habe ich Herrn Krebs Jahre später meine Märklin-H0-Eisenbahn-Samm- lung überlassen. Zum Vorzugspreis, versteht sich! Zurück zur Abiturübergabe: Wie vor den Kopf geschlagen, hielt ich also nun mein Abiturzeugnis in Händen und war mir der finalen Bedeutung dieses Großereignisses schmerzhaft be- wusst. Ich stand vor der bislang tiefgreifendsten Herausforderung meines Lebens. Bis hierhin, das war noch alles Kindergeburtstag, doch nun musste die Berufsweiche in die richtige Stellung ge- bracht werden. Musiker, Testpilot, Löwenbändiger, Lokführer, Astronaut, Priester, Obdachloser, vom Teufel Besessener … Um- schlag 1, 2 oder 3? Letzte Chance vorbei. Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht … Nun gut, es gibt Menschen, die meisten von ihnen hießen da- mals Dirk, die schon im Vorschulalter wissen, welchen Beruf sie später ausüben, welche Besoldungsstufe sie mit 54 erreicht haben werden. Sie wissen genau, dass ihre zukünftig römisch-katholisch angetraute Ehefrau Birgit heißen und schätzungsweise blond, mindestens aber blondiert sein wird. Mit ebendieser blonden oder blondierten Birgit, die sie nach dem zweiten Beziehungsjahr

18 Biggy nennen, werden sie statistisch gesehen 2,35 Kinder namens Karsten und Michaela haben. Und diese Kinder werden dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genauso Holzköp- fe und Langweiler werden wie ihre Eltern. Welch hoffnungsvolle Aussicht. Zu dieser vorausplanenden Spezies habe ich nie gezählt. Nicht nur, weil diese Denke völliger Schwachsinn ist. Nicht nur, weil ich für solche zeitraubenden strategischen Überlegungen schon damals zu faul war. Nein! Seit ich mit sieben Jahren den plötzlichen Tod meines geliebten Vaters miterleben musste, hegte ich die vage Vermutung, dass der Mensch sich und die Bedeutung seiner Existenz völlig überbe- wertet. In unserem Kosmos, so brummte es damals in meinem kleinen Samtschädel, gibt es Milliarden und Abermilliarden von Möglichkeiten und Zufällen und Unabwägbarkeiten. Was weiß der Hund? Wie kann man da allen Ernstes auf die glorreiche Idee kommen, irgendetwas auf diesem Planeten wirklich zu begreifen, geschweige denn planen, festhalten oder in die Zukunft vorher- sagen zu können? Diesen Planeten hatten weise Köpfe vor noch nicht allzu langer Zeit gar für eine Scheibe gehalten. Ich erstellte mir eine interne Liste der dämlichsten Aussagen der Welt. Here they are:

1. Das ist so, weil! 2. Genau aus diesem Grunde! 3. So und nicht anders! 4. Ich habe es verstanden.

Was ist wie? Wie wird’s gemacht? Kannst du übers Wasser laufen? Ich nicht und noch keiner vor mir! Im Gegenzug erstellte ich ebenfalls eine Liste von in meinen Augen klugen und weisen Aussagen. Hier ein paar Beispiele für extrem gute Aussagen:

19 1. Das Runde muss ins Eckige. 2. Ein Armbruch ist kein Beinbruch. 3. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. 4. Alle Wege führen nach Rom. 5. Keine Ahnung.

Bereits in frühesten Jahren fühlte ich mich den alten griechischen Philosophen verbunden: Aristoteles, Sokrates, Platon, Astrid Lindgren, Günther Netzer und vor allem der kleine Däne Alan Simonson von Borussia Mönchengladbach. Das waren meine Helden! Mental schloss ich mich ihnen an und beschloss, dass ich definitiv nichts weiß. Ich meine in Anbetracht der Unendlichkeit des Alls. Wie un- bedeutend, klein und nichtig ist doch jeder einzelne von uns? Wie sehr neigen wir Menschen dazu, uns selber überzubewerten. Was bedeutet der Abschluss eines Bausparvertrags oder die Marke meines neuen Füllfederhalters? Pelikan, Lami, Geha, Scout … alles Zeitverschwendung. Ihr plant und morgen kann es hier komplett vorbei sein. Ihr seht, meine Planspiele kreisten bereits im Sandkasten um philosophische Kernthemen, den Kosmos, die Vergänglichkeit allen Seins und das gepflegte Flügelspiel mit pfeilschnellen Flan- kenläufen ohne das unnötige Klein-Klein am Mittelkreis. Wenn jetzt jemand genau aufgepasst hat, ist ihm bestimmt mein eigener Widerspruch aufgefallen?! Natürlich stolperte auch ich nicht völlig planlos durch mein Leben. Ich plante meine Mu- sikkarriere. Aber bei sich selber drückt man doch gerne immer mal wieder ein fettes Auge zu. Kurzum, ich gestehe! Bisweilen zappelte auch ich im Netz der Zukunftsplaner, wie ein nach Luft schnappender Fisch, denn »Wie finanziert man sich ein neues Schlagzeug?« ist schon extrem irdisch. Aber, wer will denn hier klein kariert werden? Noch irrte ich durch den Findungsdschungel meines künftigen

20 Tuns, als plötzlich und unvermittelt Folgendes passierte. Mutter offenbarte sich mir von einer bis dato verborgenen Seite. Sie wirkte derart zielgerichtet, dynamisch und agil, als sei sie just eben einem dieser Power Managementseminare entsprungen. Ich kenne jeden Wesenszug von meiner Erzeugerin wie aus dem FF, und es lag auf der Hand, dass sie irgendeinen Masterplan ver- folgte. Wie als Vorzeichen des Wandels begann sie auch noch, allmorgendliche Sporteinheiten in unserem rustikal eingerichte- ten Wohnzimmer abzuhalten. Die braunen Cordsofaelemente wurden dafür extra zur Seite geschoben. Dann war ihr Auftritt! Zu fetziger Motivationsmusik von Roger Whitaker, im schwarz- pinken Aerobic Dress, mit Stirnband und Beinstulpen und Schweißband wurde aus Mutti Jane Fonda. Bei mir schrillten sämtliche Alarmglocken! Gefahr im Verzug! Die Alte dreht durch! Irgendwas führte die gute Frau da im Schilde. Oder war sie klammheimlich an einen Kokaindealer geraten? Ihr neuerliches Verhalten jedenfalls ließ nichts Gutes erahnen. Genau wie ich hatte auch sie mit sieben Jahren ihren Vater verloren und bis dato bereits ihren zweiten geliebten Mann zu Grabe tragen müssen. So etwas zeigt Wirkung! Ich bewundere sie noch bis heute dafür, wie sie aus den Wirren und Unwägbar- keiten ihres Lebens die passenden Schlüsse gezogen hat. Meine Mutter machte sich normalerweise keinen unnötigen Stress. An- ders als alle Eltern, die ich kannte, war sie völlig flexibel. Mit ihr konnte ich ins Theater oder ins Punkkonzert gehen. Brachte ich 20 Leute mit nach Hause in unsere 70 Quadratmeter Bude, fand sie das toll! Sie schien alles zu genießen. Komplett frei von jed- weden Vorverurteilungen! Wenn du mal einen oder mehrere Menschen verloren hast, die dir wirklich am Herzen lagen, wenn dir das Schicksal mehrere fette Keulenschläge verpasst hat, dann relativiert sich vieles, vielleicht alles! Menschen, die das Leben durch das Stahlbad schickt, versinken entweder darin oder sie gehen gestärkt daraus hervor. Ebendiese Gestärkten halten sich

21 nicht mehr mit größeren Planungen, kleinen Zwistigkeiten oder Alltagsproblemchen auf. Sie leben einfach nur noch! Hauptsache: Man ist gesund und hat sich gern! Es ließ sich so was von angenehm und unaufgeregt mit meiner Mutter durchs Leben cruisen. Unser Familienmotto: Viel im Vor- aus planen bringt eh nix, weil an der nächsten Ecke wieder Einer umfallen könnte. Ganz nach Beckenbauers späterem Spruch: »Schau’n wer mal! Jetzt geht’s erst mal auf’n Platz und spuilts Fußball.« Gerade deshalb überraschte es mich nun kalt, mit welcher un- ablässigen Humorlosigkeit sie hier irgendeinen konspirativen Plan schmiedete. Jedenfalls hatte es bestimmt etwas mit dem na­ henden Ende meiner Schullaufbahn und dem »was dann« zu tun. Darüber war ich mir mittlerweile im Klaren. Wenn’s um uns Kin- der ging, konnte Mutti 3 Meter 80 groß werden. Und eines guten Tages eröffnete sie mir das Ergebnis ihrer Planungen: Läufer F6 nach G5. »Ich möchte gerne, dass du ein freiwilliges soziales Jahr in der Lebenshilfe Werkstatt machst. Das sollte nun erstmal deine Rich- tung sein. Ich halte das für den vernünftigsten Schritt für dich.« Uff, das saß! Vernünftig! Freiwilliges soziales Jahr! Freiwillig? Bitte unterschreiben sie hier! Recht deutlich! Mit vollem Na- men und Datum! »You’re in the army now.«

Mein Auszug

Kurz vor meinem Abitur erwischte mich der Drang nach dem »Duft der großen, weiten Welt«, und ich suchte mir meine erste eigene Wohnung. 50 Quadratmeter unterm Dach, gegenüber Aldi gleich neben dem Pornokino »Gloria«. Das Land der feuchten Sessel. Immer wenn ich Müll runter brachte, gesellte sich zu dem

22 süßlichen Geruch der überfüllten Mülltonne ein animalisches Großstöhnen, das sich den Weg durch die Seitentüren bahnte. Mit roten Ohren und pochendem Herzen trat ich den eiligen Rückweg zur Wohneinheit an. Mein plötzlicher Auszug hatte Mutter völlig überrollt. Als ich ihr meinen Entschluss eröffnete, weinte sie riesige Tränen, die ihr die Wimperntusche über die Wangen trieben. Das tat schon ver- dammt weh, aber es musste sein. Ich hatte mich mit ihrem neuen Partner, dem dritten nun, überhaupt nicht verstanden. Nur weil ich ein Gymnasium besuchte, glaubte er, ich hielt mich für was Besseres. Bei unserer ersten Begegnung, abends an der Garage meiner Mutter, dachte ich echt, mich trifft der Schlag. Ich kam gerade um die Ecke, da stand er neben ihr mit dem Rücken zu mir in der Dämmerung. Ich hätte schwören können, mein verstorbener Stiefvater sei wieder auferstanden. Ehrlich, blankes freudiges Ent- setzen. Ich, das fleischgewordene Fragezeichen. Dann machte Mutter uns miteinander bekannt. Ein Blick unter Herren und es war klar, dass wir beide gut miteinander konnten. »Ist das dein Moped hier?« Zu meinem 16. Geburtstag hatte mir meine Mutter eine signalrote Kreidler RMC mit kleinem Nummernschild ge- schenkt. Mein ganzer Stolz. Endlich wieder ein Mann in unseren Reihen! Und wie ich es liebte, meine Mutter wieder glücklich zu sehen. Doch die Freude währte nicht lange. Nach nicht mal einem Jahr entwickelte der »Neue« eine zunehmende Eifersucht auf die Zuneigung und Wärme, die meine Mutter ihren Kindern zukom- men ließ und aus anfänglicher Sympathie wurde unnütze Riva- lität. Du kannst doch niemals die Liebe einer Frau zu ihren Kin- dern mit der Liebe zu ihrem Partner vergleichen. »Wen hast du lieber, Dagmar und Horst, oder mich?« Sorry, aber irgendwie hatte er in seiner Entwicklung da wohl eine Abzweigung verpasst. Wenn wir uns in der Wohnung begegneten, spuckte er vor An- spannung in seine riesigen Hände. Er tat das wohl unbewusst als

23 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Guildo Horn Doppel-Ich Die andere Seite des Horst Köhler

Gebundenes Buch, Pappband, 192 Seiten, 13,5 x 21,5 cm ISBN: 978-3-579-06990-6

Gütersloher Verlagshaus

Erscheinungstermin: September 2008

»Die Bewohner des Planeten Mongo, das sollte ich am eigenen Leibe erfahren, haben die Gabe, uns Menschen die Pillen gegen die Traurigkeit vergessen zu lassen.«

- Wie aus Horst Köhler Guildo Horn wurde und was wir sonst noch alles nicht von ihm wissen - Ein unverkrampfter Blick in eine unbekannte, verblüffende Welt - Die Autobiographie des Guildo Horn - spannend, emotional und unterhaltsam

Guildo Horn ist nicht nur derjenige, der die Nussecke zu einem ungeahnten Bekanntheitsgrad brachte und den deutschen Schlager Mitte der 90er-Jahre aus seiner Totenstarre befreite. Er hat sich ebenso der Arbeit mir geistig behinderten Menschen verschrieben und auch auf den Höhepunkten seiner Karriere nie davon abgelassen. „Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust“, möchte man meinen. Diese jedenfalls liefern ausreichend Stoff für eine außergewöhnliche und faszinierende Biographie. Wer sonst als Guildo Horn selbst könnte davon erzählen, wie ihn die Arbeit mit behinderten Menschen geprägt hat und welche Erfahrungen daraus resultieren? Wer sonst könnte so respektlos über das Erwachsenwerden, das Sich-selbst-Finden und den Starrummel fabulieren wie der „Meister“ selbst? Guildo Horns Blick zurück und hinter die Kulissen des Showbiz bietet dem Leser eine Vielzahl erhellender bis entblößender Einblicke in ein Leben voller Tatendrang – absolut authentisch, herrlich vorwitzig und extrem selbstironisch. Eben typisch Guildo Horn.