DEUTSCHLAND

Akten der ehemaligen DDR-Staatssicherheit: 2019 wurden 56.000 Anträge auf Akteneinsicht gestellt. Akteneinsicht und Rekonstruktion

Auch 30 Jahre nach dem Ende der DDR nehmen Opfer der Einsicht in ihre Akten. Bis 2021 soll das Stasi-Unterlagen-Archiv Teil des deutschen Bundesarchivs werden.

or 30 Jahren wurde das Ministeri- des verbliebenen Stasi-Materials wurde renzierten Bild“: Nicht alle Vorgänge um für Staatssicherheit in der 1990 von der Bundesregierung ein Son- vor 30 Jahren seien auf Vertuschungs- VDeutschen Demokratischen Repu- derbeauftragter eingesetzt, der mit Ver- absichten des MfS-Apparats zurückzu- blik (DDR) aufgelöst; wenige Monate abschiedung des Stasi-Unterlagen-Ge- führen gewesen, vielmehr hätten sich später, am 3. Oktober 1990, war die setzes Ende 1991 zum ersten Bundesbe- die routinemäßige Beseitigung von in- DDR durch die deutsche Wiedervereini- auftragten für die Unterlagen des ternem Verwaltungsschriftgut und nicht gung Geschichte. Die Zeichen des Um- Staatssicherheitsdienstes der ehemali- mehr aktuellem, unbedeutendem Mate- bruchs und Zusammenbruchs waren gen DDR (BStU) wurde: Es handelte rial zur Lagerraumgewinnung mit der schon im Herbst 1989, spätestens mit sich um , der von 2012 Vernichtung von Akten vermischt, die dem „Mauerfall“ am 9. November bis 2017 deutscher Bundespräsident der Anpassung an die neuen Begeben- 1989, immer stärker geworden. Die war. folgte Gauck heiten, aber vor allem der Vertuschung Staatssicherheit („Stasi“ bzw. „MfS“) nach. 2011 wurde Roland Jahn Bundes- von kompromittierenden und illegalen begann ab Anfang November in größe- beauftragter. Rund 1.400 Mitarbeiterin- Aktivitäten und dem Schutz von Quel- rem Umfang Akten zu vernichten. An- nen und Mitarbeiter sind bei der Bun- len dienen sollten. Anfangs wurden vie- fänglich wurden vor allem in den Kreis- desbehörde an zwölf Standorten in den le Akten mit Reißwölfen beseitigt, mit dienststellen Unterlagen zerstört, später östlichen Bundesländern und zwei zunehmender Menge des Materials und in allen Dienststellen der „Stasi“. In der Standorten in Berlin tätig. Die Behörde der Überlastung der Reißwölfe nur MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg besteht aus den Abteilungen AR (Archi- mehr händisch zerrissen. Die stärksten wurden die Vernichtungen sogar noch ve), AU (Auskunft), BF (Bildung und Verluste sollen bei den dezentralen fortgesetzt, als im Dezember 1989 ei- Forschung), R (Regionale Aufgaben), „Speichern“ der operativen Dienstein- gentlich ein offizieller Vernichtungs- ZV (Zentral- und Verwaltungsaufga- heiten zu verzeichnen gewesen sein. stopp erlassen worden war. In der Folge ben) und der Führungsebene. Dort wurde vor allem Material aus Per- besetzten Bürgerkomitees Stasi-Dienst- sonenermittlungen aller Art abgelegt, stellen, um ein weiteres Beseitigen von Eine Studie des Bundesbeauftragten das große Teile der Bevölkerung und Unterlagen zu verhindern. für die Stasi-Unterlagen, die im Jänner deren Überwachung betraf. 2020 erschienen ist, hat den Versuch Rund 40 Prozent dieser Ablagen sind Rund 99 Kilometer Schriftgut, 41 unternommen, die Verluste in den laut den Autoren fast vollständig verlo- Millionen Karteikarten, 1,7 Millionen Kernbereichen der Stasi-Aktenüberlie- ren gegangen, 30 Prozent wurden „er-

Fotos (Negative, Positive, Dias ohne ferung zwischen Ende 1989 und Anfang heblich dezimiert“. Die Verluste von ENDA Kontext, etc.), 27.600 Tondokumente 1990 genauer zu bestimmen und einzu- Akten, die vor November 1989 in der W

und 2.800 Filme und Videos sind bis grenzen. Roger Engelmann, Christian zentralen Registratur-Abteilung XII ar- REGOR heute erhalten geblieben. Zur Aufbe- Halbrock und Frank Joestel berichten in chiviert worden waren, sind laut BStU- : G OTOS wahrung, Sichtung und Aufarbeitung ihrer Untersuchung von einem „diffe- Studie minimal. Hingegen wurden etwa F

84 ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 3-4/20 REKONSTRUKTION VON STASI-AKTEN

10 bis 20 Prozent jener Akten, die sich noch in der Hand der Ermittler befan- den, vernichtet. Viele davon betrafen Vorgänge zu „inoffiziellen Mitarbei- tern“, die ihr Umfeld im Auftrag der Stasi bespitzelten und deren Identitäten streng geschützt wurde.

Aktenrekonstruktion. Bei der Aufar- beitung der Aktenbestände ist die Wie- derherstellung zerstörter Akten von gro- ßer Bedeutung. Neben dem händischen „Puzzeln“ von Aktenschnipseln wurde 2008 vom BStU in Kooperation mit ei- nem Technikpartner ein Projekt zur vir- tuellen Rekonstruktion eingescannter Aktenreste gestartet, das vor zwei Jah- ren vorerst gestoppt werden musste – die vom Fraunhofer Institut für Produk- tionsanlagen und Konstruktionstechnik entwickelte Software war zwar ausrei- Stasiaktenschnipsel in Säcken: Bisher wurde der Inhalt von 23 Säcken mit Hilfe chend leistungsfähig, für eine Massen- eines Computerprogramms rekonstruiert. verarbeitung fehlten aber geeignete Scanner. Ziel sei nun die Vorbereitung etwa Stasi-Vorgänge zur Bekämpfung steckt die Behörde des BStU viel Ener- eines neuen Vertrages, um das Zusam- der DDR-Opposition oder zur Spionage gie in den Ausbau der digitalen Präsenz. mensetzen von Aktenschnipseln am im „Westen“. Die Suchmöglichkeiten auf der Internet- Computer fortsetzen zu können. „Wir Seite www.bstu.de werden laufend er- geben nicht auf“, sagte Bundesbeauf- Reform der Archive. „Dem Zugang weitert: Unter anderem lassen sich in- tragter Roland Jahn gegenüber der dpa. zu den Stasi-Unterlagen als Errungen- zwischen Stasi-Publikationen, eine Da- „Die Stasi darf nicht im Nachhinein ent- schaft der friedlichen Revolution tenbank mit Berichten des MfS an die scheiden, was die Menschen lesen dür- 1989/1990 kommt wesentliche Bedeu- Staats- und Parteiführung und eine „Sta- fen und was nicht.“ tung für die Aufarbeitung der SED-Dik- si-Mediathek“ mit Audio- und Videoda- Durch wieder zusammengesetzte tatur zu“, heißt es in einem Gesetz, das teien online abrufen. Eine weitere Kate- Akteninhalte konnten Untaten der Stasi am 26. September 2019 vom gorie – die Suche nach Arbeiten der Ju- nachgewiesen, falsche Identitäten gelüf- beschlossen wurde. Die Stasi-Akten und ristischen Hochschule des MfS – ist in tet und Verbrecher der Strafjustiz über- alle übrigen Unterlagen, die in der Ob- Vorbereitung. „Archive müssen online antwortet werden. Auch Rehabilitie- hut des BStU stehen, werden zur Gänze präsent sein, nicht nur zum Bestander- rungsanträge von Opfern der kommu- in die Verantwortung des Bundesar- halt, sondern auch, um in der digitalen nistischen Staatspartei SED (Sozialisti- chivs übergeführt werden. Dort soll ein Informationswelt relevant zu bleiben“, sche Einheitspartei Deutschlands) Organisationsbereich für das Stasi-Un- betont Dagmar Hovestädt, Pressespre- konnten aufgrund der Forschungsergeb- terlagen-Archiv „unter herausgehobener cherin des BStU. Diese Zukunftsstrate- nisse erfolgreich gestellt werden. Von Leitung“ geschaffen werden. Roland gie werde als Teil des Bundesarchivs rund 16.000 Säcken Aktenresten wur- Jahn wird damit der letzte Bundesbeauf- langfristig besser gewährleistet werden den bislang circa 520 erschlossen; der tragte für die Stasi-Unterlagen sein. Sei- können. Inhalt von 23 Säcken wurde mit Hilfe ne – zweite – Amtszeit endet im Som- des Computers rekonstruiert. Jeder ist mer 2021. Stasi-Vergangenheit. Die Möglich- berechtigt, beim BStU in die Unterlagen Das Recht auf persönliche Aktenein- keit zur Überprüfung von bestimmten Einsicht zu nehmen, die das Ministeri- sicht gemäß Stasi-Unterlagen-Gesetz Personengruppen auf ihre frühere Stasi- um für Staatssicherheit über sie oder ihn wird weiterhin möglich sein, das zu- Tätigkeit wurde vom Bundestag bis 31. angelegt hat. 2018 wurden rund 45.000 künftig zum Bundesarchiv gehörende Dezember 2030 verlängert. Dies wurde Anträge zur persönlichen Akteneinsicht Archiv für Stasi-Unterlagen soll am im Gesetzesvorhaben damit begründet, gestellt, 2019 waren es etwa 56.000 An- ehemaligen Gelände des MfS in Berlin- dass „das gesellschaftliche Bedürfnis an träge: Seit Bestehen der Behörde hat Lichtenberg bleiben, wo ein Archivzen- der Überprüfung bestimmter Personen- diese über 3,2 Millionen Anträge zur trum geplant ist und auch die Bestände gruppen ungebrochen fortbesteht und persönlichen Akteneinsicht bearbeitet, anderer zentralen DDR-Behörden und - auch künftig andauern wird“. Auch 30 davon 2,1 Millionen für eine erste Ak- Massenorganisationen sowie das Archiv Jahre nach der „Wende“ werden weiter- teneinsicht. der SED untergebracht werden sollen. hin Überprüfungsanträge „in wesentli-

ENDA In Berlin und mehreren Außenstellen Die zwölf Außenstellen des BStU sollen chem Umfang“ gestellt, die zu Mittei-

W sind derzeit etwa 20 Mitarbeiterinnen als Beratungsstandorte erhalten bleiben, lungen über eine Tätigkeit für den

REGOR und Mitarbeiter weiter dabei, per Hand die Archiv-Standorte aber reduziert Staatssicherheitsdienst führen.

: G Reste zerrissener Akten zusammenzufü- werden – auf einen Standort pro östli- Gregor Wenda OTO F gen. Besonders im Fokus stehen derzeit ches Bundesland. Seit einigen Jahren www.bstu.de

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