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Sendung vom 30.12.2008, 20.15 Uhr

Dr. Vorsitzender Friedrich-Naumann-Stiftung im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-Forum. Unser heutiger Gast ist Dr. Wolfgang Gerhardt, Bundesvorsitzender der FDP in den Jahren 1995 bis 2001, Vorsitzender der FDP-Fraktion im Deutschen in den Jahren 1998 bis 2006 und seither Vorsitzender der "Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit". Ich freue mich, dass er hier ist! Herzlich willkommen, Herr Dr. Gerhardt! Gerhardt: Danke für die Einladung! Reuß: Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung – da möchte ich Sie ganz naiv fragen, welche Aufgabe Sie dort konkret haben? Wie sieht Ihr Tagesablauf aus? Gerhardt: Wir arbeiten viel im internationalen Bereich: Unsere Stiftung ist in 48 Ländern vertreten und wir arbeiten in 63 Ländern bei verschiedenen Projekten mit. Wir haben also einen vollen, internationalen Terminkalender. Im Bildungsprogramm der Friedrich-Naumann-Stiftung haben wir rund 700 Stipendiatinnen und Stipendiaten. Außerdem haben wir in Deutschland mehrere regionale Büros sowie die Theodor-Heuss-Akademie und wir veranstalten internationale Begegnungen und machen politische Bildungsarbeit, die auch immer der Kern des Gedankens von Friedrich Naumann und war. Es ist also ein Job, der einen wirklich ausfüllt. Reuß: Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb einmal: "Mit der Führung der Friedrich-Naumann-Stiftung hat Wolfgang Gerhardt eine Position gleichsam als Aufsichtsrat seiner Partei erhalten." Sehen Sie das auch so? Gerhardt: Ich würde es nicht so beschreiben, aber meine Arbeit gibt mir natürlich die Möglichkeit, zu Themen, die ich für wesentlich halte, sehr fundiert und mit längerem Atem und nachhaltiger Stellung zu nehmen, als ich das früher in der Fraktion oder in der Partei tun konnte. Es tut ganz gut, sich dann einzumischen, wenn man glaubt, dass ein Thema sehr entscheidend ist. Man sollte sich dabei nicht abnutzen, aber von Zeit zu Zeit die Friedrich- Naumann-Stiftung nach vorne zu bringen und eine gute Empfehlung zu geben, halte ich in der Tat für richtig. Reuß: Ich darf für unsere Zuschauer zunächst genauer auf die Friedrich- Naumann-Stiftung eingehen: Sie wurde 1958 – soviel ich weiß – im Haus des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss gegründet. Friedrich Naumann war ein liberaler Politiker und evangelischer Theologe in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs. Er trat eine Zeit lang auch für den sozialen Liberalismus ein, war erster Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei und Mitglied der Weimarer Nationalversammlung. Inwieweit fühlen Sie sich – auch persönlich – heute noch Naumanns Werk und Wirken verpflichtet? Gerhardt: Friedrich Naumann war natürlich ein Kind seiner Zeit und hat an all den gesellschaftlichen und politischen Bewegungen teilgenommen, an denen mit jeweils anderen Akzentsetzungen auch , und viele andere teilgenommen haben. Alles würde ich natürlich nicht von ihm übernehmen wollen, unter anderem auch deshalb, weil er an einer Debatte teilgenommen hat, die wir heute für sehr national halten würden. Er hat dann aber die Zeichen der Zeit erkannt und der Kernpunkt der politischen Bildung ist auch heute noch maßgeblich. Friedrich Naumann hat gesehen, dass sich insbesondere in Deutschland viele Mitbürgerinnen und Mitbürger für öffentliche Angelegenheiten nicht besonders interessierten und für die Einschätzung der öffentlichen Angelegenheiten auch gar keine Kategorien der Bemessung hatten. Daraufhin hat Naumann eben mit dem Aufbau der politischen Bildung begonnen. Das hat ja Theodor Heuss, der Naumann immer als seinen Mentor betrachtet hat, dann auch fortgesetzt. Die gedanklichen Vorläufer des Otto-Suhr-Instituts der späteren Freien Universität Berlin waren ja eigentlich Naumann und dann auch Theodor Heuss. Reuß: Ich habe Sie auch deshalb ganz konkret gefragt, welche Bedeutung Naumanns Wirken für Sie persönlich hat, weil man bei der Lektüre Ihrer Biografie den Eindruck bekommt, dass Ihnen sowohl die politische als auch die allgemeine Bildung sehr wichtig ist. Sie waren Bildungsminister und haben sehr großen Wert darauf gelegt, dass das Thema Bildung auch im Parteiprogramm der FDP entsprechende Geltung bekam. Welche Bedeutung hat Bildung für Sie oder anders gefragt: Wie würden Sie persönlich denn Bildung definieren? Gerhardt: Die Bildung hat eine überragende Bedeutung. Wenn man sich heute international umsieht, dann kann man ganz genau sehen, dass genau die Länder im internationalen Wettbewerb ganz nach vorne kommen, die Kompetenz im Wandel zeigen. Der Erfolg hängt also mit Qualifizierung und mit Bildung zusammen, was im Übrigen auch einer der Punkte war, mit denen Deutschland aus der größten Katastrophe seiner Geschichte herausgekommen ist: der unbändige Wille zur Qualifizierung. Es gibt nichts, das wichtiger wäre, weshalb ich es auch bedaure, dass in der gegenwärtigen Diskussion, aber eigentlich bereits seit Jahren, das Thema Bildung wieder zurückgetreten ist. Wir hatten einmal einen Schub in den 60er Jahren mit dem von Picht und Dahrendorf ausgerufenen "Bürgerrecht auf Bildung". Das hat sich dann im weiteren Verlauf leider nur noch in Schulorganisationsgeräuschen niedergeschlagen, aber nicht mehr in der Frage: Was muss eigentlich unterrichtet werden? Wie kommen wir mit unserem eigenen kulturellen Wissen und Können wieder in Berührung? In diesem Bereich besteht nach wie vor ein dringender Bedarf, der übrigens nicht nur den Schulbereich betrifft. Ich bedaure, dass die Bildungsgipfel immer nur über Schulen reden. Es redet aber kaum jemand über die Zeit zwischen Geburt und Schulbeginn. Pestalozzi hat bereits vor über 200 Jahren gesagt: "Die erste Unterrichtsstunde ist die Stunde der Geburt." Ein Kind braucht eine anregungsfreundliche Umgebung und eine Mitgift an zivilisatorischen Tugenden. Bei vielen kommt die Schule eben bereits zu spät. Das heißt, dass wir uns eher Gedanken darüber machen müssen, wo wir eigentlich den Familien helfen: Wir müssen das natürlich bereits vor Schulbeginn tun! Es ist zu wenig, was sich Deutschland bisher auf diesem Gebiet einfallen lässt. Reuß: "Lernen ist Verpflichtung, sich selbst und ebenso der Gemeinschaft gegenüber", haben Sie einmal geschrieben. Nun hat Bildung, wenn man die Debatte verfolgt, einen sehr stark funktionalen Charakter. Es geht also um Aus-, Fort- und Weiterbildung, um Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Würden Sie Bildung persönlich aber auch intentional verstehen? Geht es auch um Stil, Haltung, Charakter, Tugenden und Werte? Gerhardt: Große Pädagogen wussten immer schon, dass Erziehung etwas mit Bildung zu tun hat. Deshalb ist die Charakterbildung ganz entscheidend, und das ist auch genau der Punkt, der mich mit dem Namensgeber der Stiftung, Friedrich Naumann, verbindet. Es geht eben nicht nur um Wissen und Können, sondern es geht auch um Charakter und Haltung, also sowohl um die Fähigkeit, sich in öffentlichen Dingen zu engagieren, als auch darum, ein Mindestmaß an zivilisatorischen Tugenden in der Gesellschaft zu realisieren. Denn die Freiheit, die wir als großen Wert betrachten, fordert ja geradezu immer mehr auch eigene Wertebindungen, also Bindungen an ein Wertesystem. Das heißt, dass Bildung immer eine Kombination aus Wissen und Können, sowie aus Charakter und Haltung ist. Deshalb sagen wir, dass Bildung mehr als Wissen ist. Ein gebildeter Mensch hat eben auch eine bestimmte Kategorie des eigenen Verhaltens, und deshalb ist die berühmte Frage, was eigentlich Solidarität ist, nicht an Dingen wie dem Gesundheitsfonds, der AOK oder einem großen Kollektiv festzumachen. Solidarisch ist vielmehr derjenige, der zunächst einmal sich selbst am meisten fordert, bevor er an andere herantritt. Diese Einstellung muss in Deutschland wieder weiter verbreitet werden. Reuß: Hat Bildung auch etwas mit einem "Vorbild" zu tun, damit also, dass der Gebildete anderen etwas vorlebt? Sie haben einmal gesagt: "Zu einer guten Zusammenarbeit gehört auch eine gewisse Distanz. Das Siezen zum Beispiel kann ein Beitrag zum stilvollen Umgang miteinander sein." Nun beklagen wir oft den Umgang untereinander. Würden Sie sagen, dass es heute am öffentlichen Umgang miteinander – und dabei spreche ich ganz bewusst auch die Politik an – und auch ein wenig am Stil fehlt? Gerhardt: Ja, wobei man sich in der Politik gegenseitig oft vorwirft, dass man keinen richtigen Stil habe. Wenn Sie einen Koch nach dem Rezept für die Cumberland-Soße fragen, wird er das auch nicht in einem Regelbuch nachlesen. Er wird vielmehr die Kunst des Hervorbringens zu beschreiben versuchen, was auch ich mache. Es gibt zum Beispiel in der angelsächsischen Welt diese schöne Art, die ich als stilbildend erachte, sich beim Vornamen zu nennen. Nun ist es für die englischen und amerikanischen Freunde natürlich einfacher, weil es dort statt dem "Sie" das "you" gibt, was beides vereint. Damit ergibt sich also die schöne Gelegenheit, Zuneigung und Distanz gleichermaßen auszudrücken. Man muss niemanden mit der Wortwahl des "Du" überfallen. Ich kenne aus dem Leben viele solche Situationen: Jemand bietet einem anderen das "Du" an, was diesem aber gar nicht so recht ist, weil er für die Entwicklung der Beziehung eigentlich noch mehr Zeit bräuchte. So ist es in Deutschland üblich geworden, durch die Bezeugung von Zuneigung und Solidarität mit dem "Du" andere zu überfordern. Das muss nicht sein, denn die Wertschätzung kann sich auch im "Sie" ausdrücken. Rufen wir uns einmal die Rechtschreibreform in Erinnerung: Ursprünglich war geplant, dass die Anrede "Sie" in Zukunft klein geschrieben werden sollte. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, weil das in Briefen groß geschriebene "Sie" eigentlich die größere Wertschätzung bezeugt. Reuß: Nun waren Sie lange Jahre an vorderster Front in der Politik aktiv. Politik ähnelt der Arbeit in der Familie: "Es wird viel erwartet, wenig anerkannt und das meiste bleibt unsichtbar", meinte einmal die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Sehen Sie das auch so? Gerhardt: Ich glaube, dass es in der Politik eine Vielzahl von Menschen gibt, die unglaublich viel arbeiten und die sich dabei Sachkompetenz aneignen, auch wenn sie sich vielleicht nicht als die größten Redner in Bundestagsdebatten hervortun und selten in Talkshows zu sehen sind. Häufig pflegen sie aber einen politischen Stil, der im Grunde eine ganz normale Hinwendung zu öffentlichen Angelegenheiten darstellt. Diese Leute sollte man nicht vergessen, weil ohne sie eine Demokratie mit einer freiheitlichen Verfassung nicht sehr lange bestehen würde. Zu dieser Arbeitsamkeit gehört natürlich auch ein gewisses rhetorisches Talent, wobei es hier glückliche und unglückliche Mischungen gibt. Rhetorik kann man ohne die stilbildende Kraft des Wortes auch nicht pflegen. Die Menschen müssen jedenfalls das Gefühl haben, dass hinter der Rhetorik die Kenntnis der jeweiligen Sachverhalte und eine klare Wertebindung stehen. Wenn das so ist, wird Rhetorik wirkungsvoll, ohne Werte und Sachkenntnis bliebe sie hohl. Reuß: Das ist ein guter Übergang zu der nächsten Frage, die ich Ihnen gerne stellen möchte: "Führungsstärke hat nichts damit zu tun, dass man nur als Lautsprecher herumläuft", haben Sie einmal gesagt. Nun stehen Sie persönlich auch in der veröffentlichten Meinung für Seriosität und Substanz. Es gab aber auch Zeiten in der FDP, die nicht nur in Teilen der Öffentlichkeit nicht goutiert wurden, sondern wohl auch von Ihnen nicht. Erinnert sei dabei an das "Projekt 18" oder an die Nominierung eines eigenen Kanzlerkandidaten, an bemalte Fußsohlen, das Spaßmobil und dergleichen mehr. Sie haben einmal gesagt: "Das 'Projekt 18' hat mir persönlich nie gefallen." Muss man denn in der heutigen Mediendemokratie um jeden Preis auffallen? Geht es heute manchmal vielleicht mehr um Effekt als um Substanz? Gerhardt: Nein, darum sollte es nicht gehen und man muss auch nicht um jeden Preis auffallen. Es kann auch eine Rolle geben, die zwischen Megafon und Stummfilm liegt. Diese wird zwar selten genutzt, aber ich halte sie in einer Demokratie als beispielgebendes Verhalten eines Politikers für bitter notwendig, denn die Menschen erwarten ja manchmal von Politikern Verhaltensweisen, auf die sie dann entweder himmelhoch-jauchzend oder mit "kreuziget ihn" reagieren. Das darf man nicht zulassen, weil man die Leute an die Realitäten erinnern muss. Man darf sie nicht verführen und kann ihnen auch keine Heilsversprechen machen. Das gehört einfach zu der beispielgebenden Haltung eines Politikers in der Öffentlichkeit. Reuß: Die FDP galt über lange Zeit vor allem als wirtschaftsliberale Partei. Sie wurde immer als Partei wahrgenommen, die sich für "so wenig Staat wie nötig und so viel Markt wie möglich" einsetzt. Nun haben wir aber eine große Finanzkrise, Hedgefonds und Banken haben sich heftigst verspekuliert – und plötzlich wird auch von der FDP nach der ordnenden Hand des Staates gerufen. Sie haben dazu ein Positionspapier geschrieben. Bedeutet die Krise der Finanzmärkte, dass vielleicht auch die FDP an einem Paradigmenwechsel arbeiten muss? Muss sie zum Beispiel ihre Sozialkompetenz stärken? Gerhardt: Auf jeden Fall. Die FDP muss sich aber keine Sozialkompetenz verschaffen, indem sie die Sozialpolitik der anderen Parteien wiederholt. Die gegenwärtige Sozialpolitik beruht ja auf den Möglichkeiten des Budgets und ist eine reine Verteilungssozialpolitik geworden. Die Menschen brauchen aber Teilhabe und man muss ihnen Selbstvertrauen vermitteln. Hartz 4 löst noch kein gesellschaftliches Problem, sondern es ist eine Art Stillhalteabkommen zwischen dem Staat und denen, die in Not geraten. Die in Not Gekommenen müssen sich aber wieder selber aus ihrer Situation herausarbeiten können, weil ja niemand Hartz-IV-Empfänger bleiben soll. Insofern muss die FDP – und ich habe das auch für die Friedrich-Naumann- Stiftung in einem Papier veröffentlicht – eine Sozialpolitik der Teilhabe betreiben. Die FDP war im Übrigen nie eine Wirtschaftspartei im herkömmlichen Sinne. Dass wir marktwirtschaftliche Positionen vertreten, ist klar, aber der Markt ist mehr als nur Wirtschaft, weil es auch die andere Seite der Medaille gibt. Gerade die oft beschimpften Neoliberalen waren sich darüber im Klaren, dass Regeln für den Markt entworfen werden müssen. Deshalb habe ich auch die jetzige Intervention des Staates in den Finanzmarkt begrüßt. Es stellt sich nur die Frage, wo dieser Eingriff endet, und es muss klar sein, dass sich der Staat irgendwann auch wieder zurückzuziehen hat. Wenn sich aber ein Markt so verlaufen hat, wie es beim Finanzmarkt der Fall ist, dann ist es nur logisch und konsequent, dass wir ihn wieder auf das richtige Gleis setzen. Es stellt für mich überhaupt keine Schwierigkeit dar, in diesem Fall zu sagen: Wir müssen den Regeln wieder Geltung verschaffen! Ein Markt ohne Spielregeln lässt nur das Recht des Stärkeren zu. Deshalb sind die oft missverstandenen Neoliberalen gerade die, die Regeln fordern. Es müssen die auf den Markt kommen können, die das wollen, und es dürfen nicht nur die den Markt behaupten, die bereits darin sind. Es muss eine unabhängige Zentralbank, eine Missbrauchsaufsicht und ein Kartellamt geben. Fair Play ist für mich unmittelbar mit Marktwirtschaft verbunden. Reuß: Sie haben beklagt, dass die Gerechtigkeitsrhetoriker im Moment mehr Öffentlichkeit genießen als die Vertreter der Marktwirtschaft. Daher frage ich Sie einmal etwas provozierend: Ist es richtig, wenn Gewinne privatisiert, aber gleichzeitig Risiken verstaatlicht werden? Gerhardt: Nein, das ist nicht richtig. Es gibt aber weltweit keine andere mir bekannte Wirtschaftsordnung außer der freien Marktwirtschaft, die auch nur ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit und an vielfältigen Möglichkeiten für die Menschen geboten hätte. Es hat ja unzählige Versuche von Gegnern der Marktwirtschaft gegeben, andere Systeme als menschlicher, gerechter und erfolgreicher darzustellen. Das hat immense Opfer gefordert und ist fast immer gescheitert. Die Marktwirtschaft ist nicht die Erlösung und sie ist auch nicht das Allerbeste. Aber sie hat jedenfalls Züge von Spielregeln, die uns in der Tat mehr Chancen geben können, als jedes andere System – vorausgesetzt natürlich, dass diejenigen, die in ihr tätig sind, diese Spielregeln auch beachten. Das, was wir jetzt mit der Finanzmarktkrise erleben, hat im Übrigen nicht mit einer Krise der Marktwirtschaft angefangen, sondern mit staatlichem Versagen in den USA. Die Staatsbanken, die wir in Deutschland haben, sind dadurch in Bedrängnis geraten, und die Landesbanken haben noch kein tragfähiges Geschäftsmodell. An der KfW-Bank war doch der Staat beteiligt und somit war sie also keine reine Privatbank. Das heißt, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die in Privatbanken oder in staatlichen Banken arbeiten und die fehlbar sind. Die Frage, welche Konsequenzen wir nun daraus ziehen, kann nicht bedeuten, dass wir einen Staat, der noch nicht einmal mit der Pendlerpauschale fertig wird, jetzt zum großen Banker machen. Reuß: Ich würde jetzt gerne eine kleine inhaltliche Zäsur machen und unseren Zuschauern den Menschen Wolfgang Gerhardt näher vorstellen. Sie sind an Sylvester geboren, nämlich am 31. Dezember 1943, also mitten im Zweiten Weltkrieg. Ihr Vater war Berufssoldat und ist 1944 gefallen. Sie hatten somit keine Chance, ihn kennenzulernen, und sind als Halbwaise auf einem kleinen Bauernhof aufgewachsen, wenn ich das richtig nachgelesen habe. Wie erinnern Sie sich an Ihre frühe Kindheit und an Ihr Zuhause? Wie sind Sie aufgewachsen? Gerhardt: Ich bin absolut mit großer Freude aufgewachsen. Je älter ich werde, desto mehr denke ich eigentlich daran: Das war das bäuerliche Anwesen oder der Wechsel der vier Jahreszeiten in Ernte und in Aussaat. Das war die Posthalteraufgabe meines Großvaters, der Schreiner war. Bei uns traf sich das halbe Dorf, weil wir ein Telefon hatten. Es war eine ungetrübte, geradezu bilderbuchhafte Kindheit. Wir lebten in bescheidenen Verhältnissen, aber als Kind spürt man das nicht so sehr. Ich fühlte mich in dem Dorf aufgehoben, das für mich auch der Ersatz des Kindergartens war. Wir waren eben zusammen. Ich glaube, dass diese Kindheit, die ich mir selber immer wieder ins Gedächtnis zurückrufe, auch ein Stück weit der Grund für meine Lebensfreude oder auch für meinen Optimismus und meine Stabilität im Leben ist. Reuß: Nach der Grundschule haben Sie zunächst die Realschule und dann das Gymnasium besucht. Sie haben 1963 Abitur gemacht und anschließend an der Universität Marburg Erziehungswissenschaften, Politik und Germanistik studiert. Hatten Sie damals bereits einen ganz bestimmten Berufswunsch? Gerhardt: Ich wollte Journalist werden und habe schon während des Studiums etwas Geld verdient, indem ich Bücher rezensierte und für Zeitungen geschrieben habe. Das hat sich später hauptsächlich durch einen Zufall geändert: Ich wurde im Zuge der Regierungsbildung in Hessen Anfang der 70er Jahre gefragt, ob ich nicht persönlicher Referent des Innenministers werden wolle. Reuß: Darf ich hier noch einmal einen Schritt zurückgehen? Sie sind 1965 in die FDP eingetreten. Mit Blick auf Ihre Biografie wäre das nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Was hat denn letztendlich den Ausschlag dafür gegeben, dass Sie in die FDP eingetreten sind? Gerhardt: Eigentlich war die damalige Deutschlandpolitik der Grund dafür. Wir waren ja auf dem Wege, uns von alten Schablonen zu lösen. Ich war im Liberalen Studentenbund in Marburg engagiert, der im Grunde das vorwegnahm, was später in der Regierung Brandt/Scheel an neuer Deutschlandpolitik eingeleitet wurde. Das hat uns fasziniert. Ich war auch immer an Geschichte interessiert und hatte, ohne in diesem Fach das Examen zu machen, nebenher immer Geschichte studiert. Es packte uns damals, zu sagen: Wir müssen den Eisernen Vorhang durchlässiger machen und zu einem besseren Verhältnis mit den Nachbarstaaten im Osten kommen. Wir können nicht bei der Hallstein-Doktrin bleiben und – was damals eine gewaltige Diskussion war – wir müssen die Grenzen respektieren. Das war die berühmte Oder-Neiße-Linie-Diskussion, an die ich mich lebhaft erinnere und die uns dazu gebracht hat, einfach zu sagen: "So leid uns das tut, aber wir können nach zwei Katastrophen keine Veränderung der Landkarte mehr herbeiführen. Wir sollten vielmehr die Grenzen durchlässiger machen." Das war für mich der Einstiegsgrund in die FDP. Wir waren in diesen Punkten auch klarer als die SPD und ohnehin klarer als die Union, die sich ja gegen eine solche Politik des Ausgleichs wehrte. Wenn ich heute zurückblicke, dann würde ich sagen: Ja, eine neue Deutschlandpolitik war für mich damals der Impetus, zur FDP zu gehen. Reuß: Sie haben dann auch mit einem Bildungsthema promoviert, das lautete: "Das bildungspolitische Programm der FDP von 1945 bis 1951." Man sieht also, dass Sie dieses Thema eigentlich bereits immer bewegt hat. Sie waren dann auch Leiter des Regionalbüros der Friedrich-Naumann-Stiftung in Hannover und kamen später in die Zentrale. Dort waren Sie dann Chef der Inlandsabteilung. Später kam es zu einem Schritt, den Sie vorhin bereits angedeutet haben. Die SPD regierte ja in Hessen zunächst noch mit absoluter Mehrheit. Nach dem Rücktritt des langjährigen Ministerpräsidenten Georg August Zinn konnte dann bei der Wahl die SPD ihre absolute Mehrheit nicht verteidigen. So entstand die erste sozial-liberale Koalition in Hessen. Sie wurden dann Referent des neuen Innenministers Hanns-Heinz Bielefeld, der ebenfalls der FDP angehörte. Wenn man heute nachliest, was Sie damals koalitionspolitisch gesagt haben, dann hat man jedoch den Eindruck, dass Sie kein großer Verfechter sozial-liberaler Koalitionen sind. Ist das trotz oder gerade wegen der Erfahrungen der Fall, die Sie damals in Hessen gemacht haben? Gerhardt: Nein, das hat mit meinen Erfahrungen in Hessen relativ wenig zu tun, sondern es geht dabei eher um die Themen der Zeit. Es gibt Zeiten, in denen Themen anstehen, die bestimmte Verbindungen nahe legen. Die Zeit von Brandt und Scheel hatte eben als Priorität die Ostpolitik Deutschlands, was auch mit dem bildungspolitischen Aufbruch der damaligen Zeit verbunden war. Diese Themen stellten sich eher gemeinsam mit der SPD. Ich habe es früher, als die Koalition der FDP mit der SPD unter Helmut Schmidt zu Ende ging, auf der Bundesebene als notwendig angesehen, eine Veränderung herbeizuführen, denn die SPD war damals in Fragen des Haushalts und der Wirtschaftspolitik einfach nicht mehr handlungsfähig. Auch heute darf die Spielwiese, auf der entschieden wird, welche Koalitionen man eingehen sollte, nicht zu einem reinen Zusammenzählen von Sitzen ausarten. Es muss ja gefragt werden, was wirklich an gemeinsamen Projekten möglich ist. Diese Projekte hatten sich eben bereits lange, bevor die sozial-liberale Koalition zu Ende ging, verändert. In der gegenwärtigen Situation argumentiere ich wieder ganz eindeutig für eine bürgerliche Koalition, weil ich sehe, dass die SPD immer noch einen Kurs nimmt und diesen auch weiterführt, der auf die Themen der Zeit keine realistischen Antworten gibt. Insofern bin ich kein Glaubensbekenner für eine bestimmte Art von Koalition, aber bestimmte Themen der Zeit erfordern eben bestimmte Konstellationen. Reuß: Es war ja damals eine sehr spannende Zeit in Hessen. Sie wurden Leiter des Ministerbüros bei Ekkehard Gries, der dann auch Landesvorsitzender der FDP wurde. Ekkehard Gries hat sich bereits im Jahr 1982, noch vor dem Bruch der sozial-liberalen Koalition in und auch noch während er mit der SPD koalierte, für ein Bündnis mit der CDU bei der nächsten Landtagswahl ausgesprochen. Dann kam es zum Bruch der Koalition in Bonn: Die vier FDP-Minister traten im Zuge dessen im September 1982 aus dem Kabinett von Helmut Schmidt zurück. Die FDP hatte wenige Tage später die Landtagswahlen in Hessen zu bestreiten und flog dann aus dem Landtag. War die Entscheidung aus Ihrer heutigen Sicht trotzdem richtig, sich in dem damaligen SPD-Stammland Hessen zu einer Koalition mit der CDU zu bekennen? Gerhardt: Ja, die Entscheidung war richtig. Die Koalition war einfach mit der SPD nicht mehr fortzusetzen und wir konnten auch später keinen Wiedereinstieg mehr suchen. Die sozial-liberale Koalition in Hessen hatte sich sozusagen verlaufen und hatte keine gemeinsamen Themen mehr, die die Partner hätten zusammenführen können. Reuß: Nach dem Ausstieg aus der Regierung mit Helmut Schmidt war der FDP ja lange vorgeworfen worden, dass sie eine Umfaller-Partei sei, da sie im Wahlkampf unter anderem gegen den Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß plakatiert hatte. Damit Helmut Schmidt Kanzler bleibt, sollten die Wähler ihre Zweitstimme der FDP geben. War dieser Koalitionsbruch unter Glaubwürdigkeitsaspekten schwierig? Gerhardt: Ja, der Wahlkampf war zweifellos schwierig. Wie wir aber später den Memoiren Klaus Böllings aus seinem berühmten Tagebuch entnehmen konnten, war der Wahlkampf bereits im Vorfeld strategisch vorbereitet worden: Die Plakate mit dem Aufdruck "Verrat!" für die dann folgende hessische Wahl hatte die SPD bereits drucken lassen, bevor sich das alles ereignete. Hier sollte sich die SPD der geschichtlichen Wahrheit zuliebe nicht einfach herausreden. Helmut Schmidt war am Ende angekommen und er hatte auch keine Mehrheit mehr in seiner Partei bei der berühmten NATO-Nachrüstungsdebatte. Er hatte auch keine Mehrheit mehr für einen vernünftigen Haushalt. Schiller hatte damals bereits seit Längerem gesagt: "Genossen, lasst die Tassen im Schrank!" Das war aber eher ein Abschieben der Verantwortung auf die FDP: Wir standen mit der abfälligen Bezeichnung "Umfaller-Partei" lange im Kreuzfeuer der Kritik. Gott sei Dank haben uns das nun einige andere in Hessen, die uns früher auch immer beschimpft hatten, endlich abgenommen. Die SPD hat es selbst zu verantworten, dass sie manchmal die Teller zerschlägt, von denen sie morgen noch essen möchte. Reuß: Wegen des Wahldebakels der FDP 1982 trat Ekkehard Gries zurück. Sie wurden daraufhin neuer Landesvorsitzender der FDP, wobei Sie auch ein bisschen dazu gedrängt worden waren. Es kam dann aufgrund der unsicheren Verhältnisse im Landtag – die Grünen waren erstmals eingezogen – zur Neuwahl des Landtags, und die FDP schaffte den Sprung in den Landtag. Es hätte damals rein rechnerisch für eine Mehrheit mit der SPD gereicht. Für eine Koalition mit der CDU hingegen nicht, weil die Grünen abermals in den Landtag gekommen waren. Es gab dann ein langes Hin und Her zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Unter anderem wurde eine SPD-Minderheitsregierung diskutiert. Müssen demokratische Parteien in einer solchen Situation nicht sagen: "Gut, es geht nun einmal nicht anders. Wir können ja die Wähler nicht permanent wählen lassen, bis uns das Wahlergebnis irgendwann passt. Wir müssen uns jetzt einfach zusammentun." Gerhardt: Ich habe damals ein langes Gespräch mit dem Ministerpräsidenten Börner von der SPD über die Frage geführt, ob wir wieder koalieren könnten. Dabei kamen wir beide zu dem Ergebnis, dass uns das aus Gründen der jeweiligen Glaubwürdigkeit sozusagen zerreißen würde. Wir haben uns bei einem Mittagessen nach dem Austausch unserer Argumente friedlichst getrennt. Es gibt immer zwei Meinungen. Einerseits sind da die Bürger, die sagen: "Ihr müsst euch jetzt zusammensetzen!" Wenn ich damals aber in der zweiten Ebene als frisch gewählter Landesvorsitzender den Wiedereinstieg in eine alte Koalition gesucht hätte, dann hätte mich das vielleicht eine Legislaturperiode lang getragen. Aber spätestens bei der nächsten Wahl hätte ich mit dieser Entscheidung erheblich zu kämpfen gehabt. Für mich galt der Rückgewinn der Glaubwürdigkeit der FDP, sich an Aussagen vor der Wahl zu halten, als hohes Gut und als große, nachhaltige Priorität für die Zukunft. Das war auch richtig, denn wir gewannen ja dann mit Wallmann und der CDU die nächste Wahl, wenn es dabei auch nur um einen Sitz ging. Das hatte es aber zuvor in Hessen noch nie gegeben. Reuß: Solche Konstellationen kommen durch das Auftreten der Linken nun immer häufiger zustande. Wir sind auch nach der letzen Bundestagswahl in einer Situation gewesen, die für den politischen Beobachter sehr unbefriedigend war, weil die Parteien ausgeschlossen haben, mit den jeweils anderen zu koalieren. Man einigte sich also nicht auf eine Ampel-Koalition, weil das die FDP nicht wollte. Die sogenannte Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen wollten die Grünen wiederum nicht. Als Bürger sitzt man dann davor und sagt: "Gibt es denn das? Müssen denn nicht alle demokratischen Parteien untereinander koalitionsfähig sein?" Jetzt haben wir in Hessen wieder eine ähnliche Situation. Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Lage auch aus Ihren früheren Erfahrungen mit Wahlen in Hessen heraus? Man sprach ja lange von "hessischen Verhältnissen", die wir inzwischen fast bundesweit vorfinden. Gerhardt: Die Fragen sind schwierig zu beantworten, aber man muss den Bürgern sagen, dass es einfach nicht reicht, sich nur zusammen an einen Tisch zu setzen, obwohl ich dazu immer gerne bereit bin – mit demokratischen Parteien allemal. Aber am Ende muss die Problemlösungsfähigkeit der jeweiligen Parteienkonstellation stehen. Es ist schlechterdings nicht mit dem An-den-Tisch-Setzen getan, wenn die SPD ein völlig anderes Steuerkonzept hat und eine völlig andere Arbeitsmarktpolitik machen will. Sie verfolgt auch eine völlig andere Energiepolitik. Da tritt dann eben die Frage nach der eigenen Identität und Glaubwürdigkeit in der Sache auf, und nicht nur die nach bestimmten Konstellationen. Man kann mit einer Partei, die glaubt, auf Kernenergie verzichten zu können, nicht über Klimaschutz reden, wenn man hier völlig anderer Meinung ist. Man kann doch nicht sagen: "Ich mache mit euch eine Koalition", wenn die SPD nicht zu einem transparenten Steuersystem willens und in der Lage ist, wenn sie den Mittelstand nicht zur Kenntnis nimmt, ja wenn sie Selbstständigkeit eher bedrängt, als dass sie sie befürwortet. Das heißt also, dass der Traum der Deutschen, bei dem sich alle an einen Tisch setzen, so nicht zu erfüllen ist. Bis auf Weiteres muss man sich in unserer Demokratie an Auseinandersetzungen gewöhnen. Im Wettbewerb und im Meinungsstreit spiegeln sich aber letztendlich nur die unterschiedlichen Auffassungen wider, die es auch im privaten Leben und selbst innerhalb von Familien geben soll, wo auch nicht immer alle einer Meinung sind. Insofern ist diese Fähigkeit zur Zusammenarbeit immer an die Glaubwürdigkeit gebunden, ein Problem auch konkret anzugehen. Wenn das nicht zu machen ist, dann scheitert das Zusammengehen eben. Reuß: Können Sie die Sorge von politischen Beobachtern verstehen, die sagen: "Wenn die sich nicht einigen, dann stärkt das allenfalls die extremen Ränder." Und, Hand aufs Herz, liegt es denn immer nur an der Sachpolitik? Oder liegt es vielleicht auch manchmal daran, dass bestimmte Personen nicht miteinander können? Gerhardt: Es ist immer eine Mixtur aus beidem. Ich würde das aber für mich selbst nicht gelten lassen wollen, denn im Grunde genommen kann man in der Öffentlichkeit nur bestehen, wenn man die zu lösenden Probleme auf den Tisch legt und sich dann einigermaßen einer Problemlösung nähert, die den meisten als überzeugend erscheint. Das ist in der deutschen Parteiengeschichte nicht immer glücklich gelaufen. Wir sehen das jetzt wieder am Beispiel der Großen Koalition, wo die Problemlösungsfähigkeit gegen null geschwunden ist. Dazu ist es ja ebenfalls unter der Voraussetzung gekommen: "Die sollen sich zusammensetzen!" Da haben sich aber zwei zusammengesetzt, die manchmal an Problemlösungen scheitern. Es wird, wie ich glaube, niemals ein ideales geben, aber es war in der alten sozial-liberalen Koalition durchaus ein Bild, das von der Schwerpunktsetzung der Deutschlandpolitik begründet war. Es war auch gemeinsam mit ein Bild, das in Anbetracht der problematischen Haushaltslage und der Anregung, wieder ökonomisch stärker zu werden, absolut begründet war. Die Berührungspunkte sind am Ende dieser alten Konstellation wieder verschwommen, weil sich Ermüdungserscheinungen zeigten. Ich glaube, dass es aber in Hessen jetzt wieder einen guten Grund gäbe, eine bürgerliche Koalition zu suchen. Um erfolgreich zu sein, müsste man in dieser bürgerlichen Koalition dann aber eine Politik der Innovation, der Bildung, der Ermutigung und der Transparenz beschreiten. Wir hätten also alle Hände voll zu tun, einen möglichen Koalitionspartner CDU/CSU auf Bundesebene zu bestimmten Erkenntnissen zu bringen. Reuß: Sie haben es bereits angesprochen, dass Holger Börner als SPD- Ministerpräsident von Hessen damals vor einer ähnlichen Problematik stand: Er schloss ein Bündnis mit den Grünen kategorisch aus und drohte mit der Dachlatte. Es kam 1984 dann doch zur ersten rot-grünen Koalition, die aber wenige Jahre später wieder zerbrach. In der Folge gab es eine erste, sehr knappe bürgerliche Mehrheit in Hessen unter von der CDU. Sie wurden damals stellvertretender Ministerpräsident und – was viele vielleicht überrascht hat – Sie wurden nicht Wirtschafts-, sondern Wissenschaftsminister. Warum haben Sie nicht das klassische Ressort der FDP besetzt, sondern den Bereich Wissenschaft und Bildung? Gerhardt: Das hat sich – wie ich es zuvor bereits angesprochen habe – aus meiner Biografie heraus so ergeben. Ich glaube, dass einer der größten Impulsgeber für Nachhaltigkeit und Stabilität die Bildungspolitik und die Qualifizierung ist. Es gibt in der FDP viele, die sich mit marktwirtschaftlichen und ökonomischen Fragen beschäftigen, was damals auch mein Kollege Alfred Schmidt aus Kassel tat, der gleichzeitig selbstständiger Handwerksmeister war. Ich wollte lieber in Hessen neue Akzente in der Wissenschaftspolitik setzen, was ich auch gerne gemacht habe. Ich wollte natürlich auch – und ich habe mir das hinzuerbeten – Bundesratspolitik machen. Ich war also im gleichen Zeitraum eigentlich auch schon Mitglied des Bundesrates und habe bereits damals zwei- oder dreimal vor dem Bundestag reden können, was mir ebenfalls wichtig war, denn mir schwebte natürlich dabei durchaus ein späterer Wechsel auf die Bundesebene vor. Reuß: Sie haben 1994 auch für den Bundestag kandidiert. 1995 trat dann , Bundesaußenminister und FDP-Vorsitzender, von seinem Amt als Parteivorsitzender zurück. Sie haben in der Folge für das Amt des FDP- Vorsitzenden kandidiert und in der Kampfkandidatur gegen Jürgen Möllemann die Wahl gewonnen. Sie sind nun jemand, der – wenn ich das so sagen darf – eher kein "Lautsprecher" ist, um eine Vokabel von Ihnen zu gebrauchen. Sie mussten immer wieder teilweise auch heftige Kritik nicht von Gegnern ertragen, sondern aus der eigenen Partei. Ein Landesvorsitzender der FDP sagte etwa einmal: "Der Wolfgang Gerhardt ist zwanghaft neurotisch." Ein anderer nannte Sie eine "lahme Ente" und ein Dritter sprach vom "schnarchenden Löwen aus Wiesbaden". Schmerzen Sie eigentlich solche persönlichen Angriffe, die ja nicht sachlich formuliert sind? Man sagte ja nicht, dass Sie die falsche Politik vertreten oder zur falschen Zeit die Hand gehoben oder nicht gehoben hätten. Diese sehr persönlichen Angriffe spielten sicher auch im Freundeskreis und in der Familie eine Rolle. Schmerzt so etwas? Gerhardt: Ich würde es nicht "schmerzen" nennen, aber man empfindet das als sehr, sehr ungerecht. Zum Teil bin ich ja später denselben Persönlichkeiten begegnet, die mir dann attestiert haben: "Es war wohl alles doch nicht so falsch. Wir könnten Sie doch wieder gebrauchen." Das geschah vor allem in einer Phase, die Sie zuvor beschrieben haben. Insofern erfährt man Kritik und manchmal dann auch wieder Genugtuung. Man muss es aber aushalten, denn man steht ja auch auf einer politischen Bühne, um mit Kritik umgehen zu können. Ich habe mir, wie gesagt, aus meiner Kindheit eine stabile Lebensauffassung bewahrt. Mich haben die persönlichen Angriffe geärgert, aber nicht beeinträchtigt. Reuß: Klaus Kinkel, der sich nach seiner Zeit als FDP-Vorsitzender öfter sehr nachdenklich geäußert hat, sagte einmal: "Um in der Politik ganz oben erfolgreich zu sein, müssen Sie ein paar Eigenschaften haben, die Sie sich bei Ihrem Bruder oder Ihrer Ehefrau eher nicht wünschen." Ist das so? Teilen Sie diese Auffassung? Gerhardt: Ich teile diese Auffassung nicht. Ich weiß zwar nicht, wie der neu gewählte, 44. Präsident der Vereinigten Staaten nach dieser Kategorie zu bewerten wäre, aber ich habe seinen Stil der Wahlkampfführung und die Art, wie er seine Botschaft präsentiert hat, als eher wohltuend empfunden. Das Stilmittel, das mancher andere im Wahlkampf anwendet, nämlich nur die Schwachstellen zu suchen, mit denen man seinem Gegner am Zeug flicken könnte, habe ich bei Obama nur in sehr gemäßigter Form bemerkt. Insofern glaube ich, dass man Wahlerfolge auch ohne solche Eigenschaften erzielen kann, die insbesondere von vielen Kommentatoren gewünscht werden: Man müsse hart sein und auch mal jemanden in den Boden stampfen können, man müsse die Ellbogen gebrauchen und so weiter. Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass die Menschen sich durchaus an jemandem orientieren können, der seiner eigenen Sprache mächtig ist, bei dem Sie das Gefühl haben, dass er in Übereinstimmung mit sich selbst steht und der vernünftige Vorstellungen über die Zukunft einer Gesellschaft hat. Reuß: "Politische Führungsverantwortung bedeutet auch öffentliche Präsenz und öffentliche Wahrnehmung. Darauf ist schon viel Ehrgeiz ausgerichtet." Dieser Satz stammt von Ihnen. War Ihnen persönlich diese öffentliche Wahrnehmung wichtig? Muss man als Politiker, etwas zugespitzt gesagt, auch ein bisschen eitel sein, um diesen Job machen zu können? Gerhardt: Ja, das gebe ich gerne zu. Die Möglichkeit, in einem solchen Gespräch aufzutreten, das Zuschauer sehen, bietet einem ja in der Tat eine Plattform, die ein normaler Mensch so nicht hat. Darüber muss man sich im Klaren sein. Man muss gleichzeitig aber auch wissen, welche Verantwortung man dabei hat. Meine Zeit als Bundesvorsitzender ist eigentlich aus meiner heutigen Sicht eine Art Zeitversetzung gewesen. Wir hatten damals begonnen, eine Steuerreform zu propagieren. Ich selber habe mich für eine völlige Veränderung dieser alten Züge bundesrepublikanischer Politik, also für Reformen und Innovationen, eingesetzt. Bei den Medien bin ich damit damals nicht unbedingt auf Gegenliebe gestoßen. Es gab auch viele, die zunächst einen solchen Kurswechsel nicht für notwendig hielten, später aber kritisierten, warum man denn nicht früher angefangen habe, solche Züge von Politik zu transportieren. Insofern wundere ich mich manchmal darüber, dass man es in Zeiten, in denen man eigentlich neu beginnen und neue Akzente setzen will, immer wieder mit der Trägheit anderer zu tun hat, die hinterfragen, ob das denn nun unbedingt notwendig sei. Auch Gerhard Schröder hat das innerhalb seiner eigenen Partei mit der Agenda 2010 erlebt. Ich habe das ab 1995 erlebt, als ich gesagt habe, dass wir eine Steuerreform machen wollen, die für mich immer mehr war, als nur eine Einkommenssteuerreform. Im Zuge dessen bin ich hinterfragt worden, was das denn nun wieder sei, ob es wirklich nötig wäre und ob die FDP sich nur auf dieses Thema reduzieren wolle. Man hat manchmal mit Unverständnis reagiert, wenn man etwas erreichen wollte. Mich hat es oft frustriert, wenn man mit einem Gedanken vorausgehen wollte und dabei dann – auch in der deutschen Berichterstattung – auf die Tagespolitik stieß, in der dieser Gedanke als nicht besonders wichtig angesehen wurde. Reuß: Man hat den Eindruck – und ich darf das jetzt einmal wertend sagen –, dass Sie persönlich über ganz gute Nehmerqualitäten verfügen. Nach der auch aufgrund der Verluste der Union verlorenen Bundestagswahl 1998 war ja zu erwarten, dass nun der Kampf um den Vorsitz in der FDP beginnen würde. Die Zeitungen schrieben vom "Machtkampf" in der FDP. Sie haben sich dann relativ geräuschlos mit geeinigt und haben zu seinen Gunsten für Ihr Amt nicht mehr kandidiert. Das hat viele überrascht, weil sie sich fragten: "Wieso kämpft er denn nicht?" Nach der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 ist das dann noch einmal passiert, als es um die Frage ging, wer nun den Fraktionsvorsitz übernehmen würde. Man hatte dabei den Eindruck, dass Sie das schon gerne weitermachen würden, aber der neue Parteivorsitzende forderte auch dieses Amt. Wieder dachte man, dass sich die Situation zuspitzen würde, aber – siehe da – Wolfgang Gerhardt hat erneut relativ leicht nachgegeben. Fiel Ihnen der Verzicht auf diese Ämter eigentlich leicht? Gerhardt: Bei der Frage des Bundesvorsitzes hatte ich überhaupt kein Problem damit, dass man die Macht teilen wollte, weil die Arbeit nicht einer allein machen konnte. Das war mir klar. Westerwelle und ich hatten ja ein Gespräch darüber geführt. Wir hätten es auch umgekehrt machen können, weil uns beiden klar war, dass wir uns die Positionen teilen mussten. Am Schluss habe ich mich für die Fraktion entschieden, was auch aus meiner heutigen Sicht richtig war, weil ich gerne Fraktionsvorsitzender war. Man hat dabei eine immense Arbeitsfähigkeit durch seinen Mitarbeiterstab und kann Themen voranbringen. Die zweite Entscheidung habe ich ein Jahr früher getroffen, als ich sie eigentlich hätte treffen wollen. In der Mitte der Legislaturperiode hatte ich ohnehin vor, den Fraktionsvorsitz abzugeben. Insofern war das eine Jahr zwischen mir und Westerwelle nicht so sehr entscheidend. Der Punkt war nur, dass ich gesagt habe: "Ich gebe den Vorsitz nicht zu dem Zeitpunkt ab, den Westerwelle gewünscht hat, sondern ich möchte meine Zielvorstellung auch verwirklichen." Graf Lambsdorff bot mir dann aber sofort die Friedrich-Naumann-Stiftung an, was ich heute als Glücksfall für mich empfinde, weil ich diese Aufgabe international und national mit großem Vergnügen wahrnehme. Ich kann mich dort auch einmischen, bin aber unabhängig und sozusagen mein eigener Chef, weil nur das Kuratorium eine Art Aufsichtsrat bildet. Das behagt mir also sehr. Reuß: Man hat den Eindruck – zumindest wird in den Medien so darüber berichtet –, dass die FDP heute sehr stark auf ihren Vorsitzenden fokussiert ist, was Westerwelle auch selbst befördert hat. So hat er einmal gesagt: "Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es nur einen, der die Sache regelt." Sie haben vor dem Dreikönigstreffen der FDP im Januar 2008 in einem Thesenpapier unter anderem gewarnt, die FDP dürfe keine "One-Man- Show" sein. War das auch eine leise Kritik, wenn nicht an der Person Westerwelles, so doch am Amtsverständnis des Vorsitzenden? Sie hatten ja ein anderes Amtsverständnis. Gerhardt: Ich habe mit diesem Satz klar ausdrücken wollen, dass man immer nur in einem erweiterten Kreis von Leuten die Partei voranbringen kann und nicht jeden als Konkurrenten empfinden muss, der ebenfalls mit einem eigenen Profil nach vorne kommt. Der Vorsitzende der FDP ist sich darüber im Klaren. Ich habe auch nach diesem Positionspapier, das natürlich Aufsehen erregt hat, mehrere Gespräche darüber geführt, dass andere hinzukommen müssen. Das war bei Genscher, bei Lambsdorff, bei Hans Friderichs und auch bereits im ersten Kabinett bei Josef Ertl so. Reuß: Sieht das Westerwelle auch so? Gerhardt: Ja. Das war auch bei Westerwelle und mir als Parteivorsitzendem wichtig – was im Übrigen eine sehr erfolgreiche Zeit war. Westerwelle muss das sehen und er sieht es auch so, aber er kann natürlich nicht Ämter vergeben, sondern dafür müssen sich andere empfehlen und nach vorne gehen. Reuß: Sie hatten viele Ämter inne, waren Landesvorsitzender und Bundesvorsitzender der FDP, Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag; Sie waren Minister und Stellvertretender Ministerpräsident in Hessen und wurden und werden immer wieder für hohe und höchste Ämter gehandelt. 2003 waren Sie unter anderem im Gespräch für das Amt des Bundespräsidenten und Sie wären – jedenfalls kann man diesen Eindruck gewinnen – auch gerne Bundesaußenminister geworden. So haben Sie einmal gesagt: "Das hätte ich ganz gut gekonnt, aber das hat das Wahlergebnis nicht hergegeben." 2009 kandidieren Sie nun wieder für den Deutschen Bundestag. Könnten Sie sich das Amt des Außenministers nach wie vor vorstellen, wenn es die Konstellation hergeben sollte? Gerhardt: Ich habe mich dafür entschieden, für den Bundestag und damit für das Amt eines unabhängigen Abgeordneten zu kandidieren. Ich beabsichtige nicht, den Wiedereinstieg in Vergangenheiten zu unternehmen. Ich werde auch gerne die Friedrich-Naumann-Stiftung weiterführen und gleichzeitig mit Maß, Ziel und guten Ratschlägen die FDP-Arbeit unterstützen. Aber ich fühle mich als freier Mitarbeiter der Bundesrepublik Deutschland und das werde ich auch bleiben. Reuß: Eine allerletzte Frage, um noch einmal auf Ihre Person zurückzukommen: Sie sind verheiratet und haben zwei inzwischen erwachsene Töchter. Welche Rolle spielte und spielt die Familie für Sie? Gerhardt: Die Familie spielt für mich eine ganz erhebliche Rolle, weil man sich natürlich in einer Familie austauscht. Ich habe das immer getan. Dabei hat mir meine Familie manchmal den Vorwurf gemacht, dass ich sie bestimmte Dinge nicht rechtzeitig gefragt habe. Sie hat mich mit leiser, sympathischer Kritik begleitet. Eine Familie kann eine Art Tankstelle sein für die im politischen Alltag nötige Kraft. Reuß: Ein sehr schönes Schlusswort. Ganz herzlichen Dank, Herr Dr. Gerhardt, für dieses substanzielle und menschlich angenehme Gespräch. Ich würde, wenn Sie erlauben, gerne mit zwei kurzen Zitaten über Sie enden. Das erste stammt vom ehemaligen FDP-Vorsitzenden im hessischen Landtag, Jörg-Uwe Hahn, und lautet: "Die FDP braucht mehr Gerhardt. Er ist seriös, kompetent, glaubwürdig und garantiert, dass die FDP nicht zur Partei der Spaßgesellen und Leichtmatrosen wird." Das zweite Zitat stammt aus dem Nachrichtenmagazin "" und lautet: "Wolfgang Gerhardt verkörpert eine andere FDP, eine Art 'Salon-FDP', gediegen, nicht so krächzend, nicht so besserwisserisch, auf angenehme Weise nachdenklich." Das wurde, glaube ich, auch in diesem Gespräch deutlich. Noch einmal ganz herzlichen Dank! Gerhardt: Ich danke Ihnen auch, Herr Reuß! Reuß: Verehrte Zuschauer, das war unser alpha-Forum, heute mit Dr. Wolfgang Gerhardt, dem Vorstandsvorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung. Herzlichen Dank für Ihr Interesse, fürs Zuschauen und Zuhören. Auf Wiedersehen!

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