Herman Boerhaave (1668-17381. Lehrer Europas

Richard Toellner

Klaus Hinrichsen, dem unermüdtichen Streiter Fakultät der Universität jedoch ging so- für die Verbesserung der ärztlichen Ausbitdung, fort nach Boerhaaves Tod eine Glanzperiode zu zum 65. Geburtstag Ende, in der sein Wirken der Schluß- und Höhe- punkt gewesen war. lm Spätsommer 1693 ereignet sich in Leiden Unter den vielen großen und berühmten Arzten auf einem Treidelkahn, ein im grachtenreichen des 18. Jahrhunderts, das sich selbst als das Holland beliebtes öffentliches Verkehrsmittel, Jahrhundert der Aufklärung bezeichnete, war ein an sich belangloser Vorfall, der dem Leben Herman Boerhaave unzweifelhaft der bedeu- eines jungen Mannes, so wenigstens sieht er es tendste und wirkmächtigste. Er allein machte in der Rückschau des Alters, die entscheidende die Medizinische Fakultät der Universität Leiden Wende gibt. Einige der Passagiere erregen sich von 1701 bis 1738 zum Mekka für alle Adep- lauthals über die gottlosen Lehren des Baruch ten der Heilkunst. Der Mann, der selbst nie Spinoza. Die Spinozistenfurcht ging in den Nie- einen ordentlichen medizinischen Studiengang derlanden um. Der junge Mann, Kandidat der durchlaufen hatte, wurde nach seines Schülers, Theologie, der sein Studium mit einer Un- nach Hallers unwidersprochenen Worten tersuchung über die Frage beenden wollte, "communis Europae praeceptor und Reformator "warum in der Ursprungszeit so zahlreiche un- der medizinischen Ausbildung.l Auf dem Hö- gelehrte Menschen, heute dagegen so wenige hepunkt seines Wirkens haben zweitausend hochgelehrte Leute Christen geworden sind",2 Studenten seine medizinischen, botanischen war schon drei Jahre zuvor zum Doktor der und chemischen Vorlesungen gehört und den Philosophie promoviert worden, mit einer Inau- von ihm zu seiner ersten Blüte gebrachten Un- gural-Dissertation "über die Unterscheidung der terricht am Krankenbett im St. Caeciliagasthuis Seele vom Körper",3 in der er sich mit platon genossen. Mit dieser Frequenz Studierender lag und Epicur sowie mit Spinoza und Gassendi Leiden doppelt bis dreifach so hoch wie die be- auseinandergesetzt hatte. Er verstand also et- rühmtesten Fakultäten der Zeit. Aus ganz Eu- was von der Sache und als ihn die lgnoranz der ropa strömten die Studenten nach Leiden, 690 Krakeler zu sehr reizte, fragte er den Wortführer allein aus englischsprachigen Ländern, 600 aus in einer kurzen Verschnaufpause ruhig, ob er deutschsprachigen Ländern und selbst aus dem denn schon einmal den geschmähten Spinoza vorderen Orient und dem fernen Amerika ka- gelesen habe? Betretenes Schweigen beendete men sie, um bei Boerhaave zu lernen. Er ver- das Gespräch. Ein Mann aber, der im Hinter- körperte die Leidener Medizin, nicht weil er drei grund mit sichtlichem Wohlgefallen der Diskus- von fünf Lehrstühlen innehatte, sondern weil er sion gelauscht hatte, fragte nach dem Namen das unumstrittene Haupt einer Schule war, die des jungen Mannes und notierte sich: Herman die europäische Medizin im Zeitalter der Aufklä- Boerhaave. rung bis ans Ende des 1 B. Jahrhunderts be- Damit war der Traum des früh, 1683, verstor- herrschte. vielen An Höfen und Universitäten benen Vaters, den einzigen Sohn in seiner Europas, palermo, von Uppsala bis von Moskau Nachfolge auf einer Kanzel der niederländischen bis Edinburgh bekleideten Boerhaave-Schüler reformierten Kirche zu sehen, ausgeträumt. Ja- führende Stellungen, weil sie Schüler des cobus Boerhaave, der arme pfarrer von großen Boerhaave waren. Für die medizinische Voorhout bei Leiden, hatte den an Silvester

61 1668 geborenen Herman früh für die Theologie dingbare Voraussetzung für sein Lebenswerk: erzogen und ausbilden lassen. Der hochbegabte Die Begründung der modernen Medizin als Er- Junge hatte sich willig und aus Überzeugung fahrungswissenschaft. dem Wunsche des Vaters gefügt, doch jetzt schien ihm die Bewerbung um eines der heiß- Boerhaave beginnt seine berufliche Laufbahn als begehrten Pfarrämter hoffnungslos. Der leistste bescheidener, mäßig beschäftigter Arzt in sei- Verdacht des Spinozismus, dem er sich jetzt ner Heimatstadt. Er lebt im Hause seiner Stief- ausgeliefert sah, machte jeden Versuch, in den mutter Eva Du Bois, geht mit wachsender Be- Dienst der Kirche zu treten, aussichtslos. Da geisterung dem Studium der neuen Wissen- traf es sich gut, daß Boerhaave gerade von der schaften nach, gibt Unterricht in Mathematik weitesten Reise, die er jemals in seinem Leben und beginnt seine chemischen Experimente. gemacht hat, nach Leiden zurückgekehrt war. Mehrfache Aufforderungen, nach Den Haag, an Am 15. Juli 1693 war er an der Geldrischen den Hof zu kommen, lehnt er ab. Höfe meidet Universität zu Harderwijk mit der Verteidigung auch später der weltberühmte Mann: Berlin, einer Dissertation "Über die Nützlichkeit der Moskau, Florenz, z.B. bitten ihn vergebens. Prüf ung von Exkrementen l(ranker auf Acht Jahre lebt er so, von 1693 is 1701. Dann Krankheitszeichen" zum Doktor der Medizin rufen die Kuratoren der Leidener Universität den promoviert worden,4 ohne je eine medizinische ihnen längst bekannten, hochgelehrten Arzt zu Vorlesung gehört zu haben oder in einer Medi- Hilfe. Die einst blühende Medizinische Fakultät zinischen Fakultät eingeschrieben gewesen zu ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Von fünf sein. Perfekt in den alten Sprachen hatte er seit Lehrstühlen sind drei besetzt. Doch Bidloo, der 1691 neben seinem Theologiestudium begon- unstete Anatom, denkt nicht daran, seinen nen, systematisch die medizinische Literatur Pflichten nachzukommen, der Botaniker Hutton von Hippokrates bis auf seine Zeit zu lesen, ist als Arzt in Amsterdam gebunden, und der was ihm durch eine neunmonatige Anstellung Kliniker Dekkers liest nur sporadisch. Als an der Universitätsbibliothek sehr erleichtert "Lector Institutionum Medicarum" soll Boer- worden war. haave für drei Jahre die schlimmste Lücke im Unterricht schließen. Aus den drei Jahren wer- So mag denn der Vorfall auf der "trekschuit" den drei Jahrzehnte. Boerhaave zählt 33 Jahre, für Boerhaave nur der letzte Anstoß zu dem sehr alt für eine akademische Karriere nach den länger vorbereiteten Entschluß gewesen sein, Begriffen seiner Zeit, doch sie wird beispiellos. nicht den Beruf des Pfarrers, sondern den des Arztes zu ergreifen, doch wie immer der Wech- Boerhaave beginnt seine Lehrtätigkeit 1701 mit sel im Berufsziel begründet sein mochte, eines einer programmatischen Rede, in der er das war er sicher nicht: Ausdruck intellektuellen Studium des Hippokrates dringlich empfiehlt. Er Zweifels an den Wahrheiten des Christentums wird das in Zukunft immer so machen, wenn er oder schwindender Glaube. An Boerhaaves tie- Lehrstühle übernimmt oder das Rektoramt. In fer Frömmigkeit und an seinem in schweren seinen sieben akademischen Reden stellt er un- Krankheiten und in viel persönlrchem Leid bis an übertrefflich unter Beweis, daß er neue Inhalte sein seliges Ende erprobten christlichen Glau- souverän in alten Formen darzustellen und zur ben hat nie jemand zu zweifeln gewagt. Alle Wirkung zu bringen weiß. 1703, als sein Ruf seine Schüler haben diesen Glauben, den er sich schon ausbreitete und er eine Berufung an stets frei und überzeugend bekannte, gerühmt die Universität Groningen ablehnt gegen das und bewundert, selbst der zynische und athei- Versprechen der Leidener, ihm den nächsten stische La Mettrie. Boerhaaves unerschütterter freiwerdenden Lehrstuhl in Leiden zu geben, christlicher Glaube war nicht nur tragender hält er seine berühmteste Programm-Rede: Grund seines langen Lebens, sondern unab- "Über den Nutzen der mechanischen Methode

62 in der Medizin". Er entwarf in diesen ersten Re- übrige Zeit mußte er unter den weitläufigen den sein Medizinkonzept, das einerseits hippo- Briefwechsel und seine beständige Arbeit an kratisch war, d.h. die vorurteilslose Beobach- denen griechischen Arzten vertheitten, wo nicht tung des kranken Menschen, aller Krankheits- ein vornehmer Kranker ihm auch diese Stunden zeichen, sowie der Lebensweisen und Umwelt- wegnahme. Konnte er entrinnen so brachte er bedingungen forderte, und andererseits die Er- manchmal etliche stunden in seinem weitläufi- gebnisse der neuen Naturforschung und die ma- gen Vorwerke zu, wo er die Pflanzen, die der thematisch-physikalischen Methoden der neuen gemeine Garten nicht herbergen konnte, mit Wissenschaft sich zu eigen machen und an- großem Kosten erzoge. Sonst war dieser Mann wenden sollte. aufrichtig, ohne Geheimnüß, ohne Einbildung, dienstfertig, gutherzig, freundlich und wußte l7O9 wird der Lehrstuhl für Botanik frei. Boer- Niemand etwas an ihm auszusezen als seine haave muß sich in ein völlig neues Gebiet ein- geringen Kleider und darauß schließende arbeiten. Er schafft es schnell und effektiv. Sparsamkeit, die man an einem Holländer eben 1710 listet er ca. 6000 Pflanzen im botani- nicht tadeln solte. Wie wol auch seine gemeine schen Garten auf, zehn Jahre später sind es Lebensart mehr auß Verachtung der Kleinig- schon 2000 Pflanzen mehr. 1714 nimmt er den keiten deß Prachtes als auß Liebe zum Gelt zu klinischen Unterricht im Cäcilien-Hospital auf. entspringen schiene. "5 Mit zwölf Betten begründete er eine lnstitution, die schnell in ganz Europa zurn Vorbild wurde. 1710 heiratet Boerhaave Maria Drolenvaux, die Wenn Boerhaave zweimal wöchentlich in die Tochter eines reichen Kaufmanns. Sie ist 25, er Klinik zum Unterricht kam, waren die Studenten 41 Jahre alt. Von den vier Kindern ihrer Ehe er- schon versammelt. Er ging mit ihnen von Bett reicht nur die älteste Tochter das Erwachse- zu Bett, lehrte sie, mit den Kranken zu spre- nenalter. Gegen das Kindersterben, auch gegen chen, untersuchte die Patienten, verwies auf eine äußerst schmerzvolle Krankheit, die ihn prognose die Symptome, stellte die Diagnose, "1722 für ein halbes Jahr befäilt und die er als und Indikation zur Therapie. Er sprach mit den lumbago rheumatica diagnostiziert, ist der Studenten über jeden einzelnen Fall und stellte große Arzt machtlos. Er erträgt das Leiden mit ihnen Patienten, die längere Zeit in der Klinik christlicher Geduld, als er 1 723 seine Lehrtätig- lagen, regelmäßig von neuem vor, damit sie keit wieder aufnimmt, feiert die ganze Stadt. lernten, den Krankheitsverlauf genauer zu beob- achten. Boerhaave wurde seinen Schülern zum 1718 wird der Lehrstuhl für Chemie frei, und bewunderten Vorbild. Haller hat den Tageslauf Boerhaave kann nun offiziell seiner ältesten und seines Lehrers festgehalten: intensivsten Vorliebe frönen. Für zehn Jahre "Mit dem Tage stund er auf und that im Som- versieht er in Forschung und Lehre drei Lehr- mer Anstalt im Garten, im Winter bey denen stühle. Erst 1729 zwingen ihn die nachlassen- Scheid-Öfen. Um sieben Uhr war unsre Stunde, den Kräfte, auf den botanischen und chemi- da er im Garten die Kräuter wiese, wo er dann schen Lehrstuhl zu verzichten. Die Klinik gibt er meist bey hundert Pflanzen alle Morgen mit ih- jedoch erst auf, als ihn im April 1737 ein ren vielen Beynahmen ohne einige Aufzeich- schwerer Anfall von Atemnot zwingt, den Un- nung hersagte. Von zehen Uhr biß zwölfe be- terricht am Krankenbett abzubrechen. Er zieht suchten ihn die, wo seines Rahtes begehrten, sich auf sein Landhaus zurück, wo er seinen ei- dann seine Geschäfte litten nicht, daß er mehr genen botanischen Garten, die Lektüre und die in die Häuser wandelte; diese hielten ihn so Musik pflegt und wo er am 23. September f ang auf , daß oft ihn die Stunde unsrer 1 738 seinem Herzleiden erliegt. Unter der Gegenwart rufte, eh er zu Tische sizen konte. Anteilnahme ganz Europas wird er in der St. Um drey Uhr kamen wieder die Kranken, die Peters-Kirche zu Leiden bestattet.

63 Es gibt kein Beispiel in der Medizingeschichte höchsten Alter noch erinnern. Wir werden ein- Europas dafür, daß ein Mann die Medizin eines zig darauf achten, daß wir alles in unserer ganzen Jahrhunderts so beherrscht hat, wie Macht Stehende tun, um Dir, wo immer sich Herman Boerhaave es getan hat, und es ist fer- die Gelegenheit bieten sollte, unsere Dankbar- ner beispiellos, wie unauflösbar Werk, Wirkung keit zu bezeugen. Wenn Du aus unserer Heimat und Persönlichkeit zusammenhängen, wie bei etwas wünschest, zum Beispiel Alpenpflanzen, Herman Borhaave. Ungezählte Zeugnisse spre- werden wir uns gleich nach unserer Rückkehr chen dafür, daß die Klarheit und Einfachheit eifrig bemühen, es Dir zu beschaffen."6 seiner Lehre, die Schlichtheit seines Lebens und die Lauterkeit seines Charakters mit bezwin- Boerhaaves Wirkung auf seine Studenten war gender Macht auf seine Schüler wirkten. Zwei nicht nur tief, sondern auch breit. Er unterrich- Schweizer Jünglinge, die Gebürder Geßner aus tete sie ja in fast allen Fächern der Medizin, in Zürich, haben dem exemplarisch Ausdruck allen Ausbildungsstufen: Botanik, Chemie, Phy- gegeben. Aus Paris, wo sie sich nach dem Stu- siologie, Pathologie, spezielle Pathologie und dium in Leiden weiterbilden. schreiben sie am Therapie sowie klinische Medizin am Kranken- 1 1 . September 1727 an ihren verehrten Lehrer: bett. In den 37 Jahren seiner Lehrtätigkeit stu- dierten Hörer aus aller Welt, junge Arzte und "Wenn wir nicht sicher wüßten, wie sehr Du Studenten, an der Medizinischen Fakultät in uns geneigt bist, müßten wir fürchten, Dich mit Leiden. Von den ca. 2000 Medizinstudenten unserem Brief bei Deinen wichtigen Geschäften dieser Jahre kam ein Drittel aus England, zu stören. Uns ermutigt die Erlaubnis, die Du Schottland, lrland und den englischen Kolonien, uns auf unsere Bitte gewährtest, noch viel mehr ein Drittel aus den deutschsprachigen Ländern, aber das starke Verlangen, auch durch Briefe der Rest aus den Niederlanden und aller Welt. von Dir zu lernen, wie wir hoffen, nachdem wir Unter Boerhaaves Anleitung und Vorsitz erwar- das Glück hatten, es in Deiner Gegenwart zu ben insgesamt 1 78 Studenten in Leiden den tun. Die Verehrung für Dich drängt uns, Dir un- medizinischen Doktorgrad. Ein Boerhaave- sere dankbare Ergebenheit in einem Brief zu be- Schüler zu sein, war der sicherste Weg in füh- kennen, der allerdings zu spät an Dich gelangt, rende Stellungen. Kein Hof in Europa, an dem da wir auf eine günstige Gelegenheit warteten, nicht als Leibarzt und im Medizinalkollegium ein ihn Dir zu senden. Dir Deine ungezählten Wohl- Boerhaave-Schüler gewirkt hätte, fast keine taten zu vergelten haben wir weder Gelegenheit Medizinische Fakultät ohne einen Boerhaave- noch Hoffnung. Dir vor allen andern verdanken Schüler: die bedeutendsten waren ohne Zweifel wir das Beste unserer medizinischen Kennt- Carl von Linn6 in Uppsala, nisse. Du gabst uns gründliche Anleitung, das und Anton de Haen in Wien, Albrecht von Hal- Einfache zu erkennen; Du zeigtest uns, wie die ler in Göttingen und Alexander Monroe in Edin- edle Kunst der Chemie auf die Körper wirkt; Du burgh, wo schon seit 1729 alle fünf Lehrstühle legtest uns dar, wie die Vorgänge im menschli- mit Boerhaave-Schülern besetzt waren. Von chen Körper gleichsam als notwendiger Mecha- Schottland aus wurde die "Schola Boer- nismus durch seinen mechanischen Bau bedingt haaviana" nach Nordamerika, in die späteren sind. Darauf und auf vielf ältige Beobachtung Vereinigten Staaten verpflanzt mit einem Zen- hast Du Deine praktische Medizin aufgebaut, trum in Philadelphia.ln Frankreich kommt Boer- die Du uns getreulichst vermitteltest. Neben haave erst spät, gegen Ende des 1 8. Jahrhun- dem Unterricht genossen wir aber auch oft die derts, zur Wirkung, Zwar hatte sein Schüler Ju- Gunst, daß Du uns im vertrauten Gespräch lien Offray de la Mettrie seine Werke ins Fran- manches näher erklärtest. Was Du uns zuliebe zösische übersetzt und sich als Propagandist getan hast, möge Dir ein günstiger Gott vergel- Boerhaaves früh versucht, Doch der Atheist la ten. Jedenfalls werden wir uns daran auch im Mettrie mußte ins preußische Exil an den Hof

64 Friedrichs des Großen fliehen und starb früh bisher bekannt ist. Das gilt vor allem für die ( 1 751 ), von der übrigen Schülerschaft Boer- Auseinandersetzung mit Descartes.T haaves verfemt. So erobert der klinische Unter- richt der von van Swieten und de Haen begrün- Ein berühmter Satz Boerhaaves lautet: "Ultimae deten älteren Wiener Schule paris endgültig erst quoque metaphysicae et primae physicae cau_ in der Revolutionszeit. In Deutschland verschloß sae, medico investigatu, necessariae, utiles, vel sich nur Halle dem Einftuß von Leiden. Die füh- possibiles non sunt." (Die Erforschung der letz_ rende preußische Reformuniversität hatte in ten metaphysischen und der ersten physikali- und Ernst Georg Stahl schen Ursachen ist für einen Arzt weder nötig Hochschullehrer der Medizin, die zu Boerhaave noch nützlich noch möglichl.8 Dieser Satz Bo- ernsthaft in Konkurrenz treten konnten. Beson- erhaaves ist häufig mißverstanden worden in ders Stahl psychodynamischen mit seinem dem Sinne, als bedeute er nicht allein die Ab- Konzept in Theorie und praxis der Medizin so- sage an die Metaphysik und physik des Descar_ wie mit seiner Phlogistonlehre in der Chemie tes, sondern als Absage an Metaphysik und Na_ war die bedeutendste Alternative zu Boerhaave turphilosophie in der Medizin schlechthin, Boer_ und seinen Konzepten in Medizin und Chemie. haave erkläre, so meint man, philosophische Doch Boerhaave schweigt, nimmt Stahl nicht und grundlagentheoretische Fragen seien für die zur Kenntnis, erwähnt nicht einmal seinen Na- Medizin bedeutungslos und schädlich. Doch ist men. Erst sein Schüler Haller setzt sich intensiv das Gegenteil richtig. Boerhaave erklärt die mit Stahl und der Stahl-schule auseinander. Als Frage nach den letzten metaphysischen und er- führender Kopf der jungen, 1 737 gegründeten, sten physikalischen Ursachen nicht für irrele_ Georgia Augusta zu Göttingen trägt Haller we_ vant, sondern für gelöst und damit für erledigt, sentlich dazu bei, daß Stahls Einfluß an deut_ soweit es die Medizin betrifft. Boerhaave akzep- schen Universitäten abnimmt, Boerhaaves Ein_ tiert in diesem Satz das cartesianische Weltmo_ fluß weiter zunimmt und Göttingen Halle als Re_ dell und damit das mechanistische Verständnis formuniversität überf lügelt. des Organismus als notwendige theoretische Voraussetzung f ür eine empirische Naturfor- Es ist oft versucht worden, Boerhaaves weitrei_ schung. Was sich für seinen selbständigsten chende und tiefgreifende Wirkung in aller Welt Schüler in allen Einzelheiten zu erklären. Seine persönlichkeit, seine Schüler, nachweisen läßt, scheint das Charakteristikum seine wenigen und doch immer wieder aufge_ der Boerhaave-Schule schlechthin zu sein: näm- legten, kommentierten und diskutierten Schrif- lich der geschlossene Zusammenhang von ten sind ebenso Ursachen wie seine hohen Schöpfungsglauben, rationalistischem Weltmo- Oualitäten als Denker, Naturforscher, Arzt und dell und empirischer Erkenntnismethode. Die Lehrer notwendige Bedingungen für seinen au- Natur ist so, wie sie ist, von Gott geschaffen. ßergewöhnlichen Erfolg. lhr Bau ist erkennbar, doch nur durch wissen- schaftliche Erfahrung zu erforschen. Ehe aber Diese persönlichen Oualitäten reichen zur Erklä_ die Erfahrung die Analyse der komplexen rung des Phänomens jedoch nicht aus. Die hi_ Phänomene der Natur in Richtung auf ihre storische Vernunft und eine Vielzahl faktischer Grundstruktur unternehmen kann, muß die Ver- Indizien sprechen dafür, daß das Feld füi seine nunft diese Grundstruktur erst konstruktiv dar- Wirkung vorbereitet war, Die Auseinanderset_ stellen. Eben das leistet die cartesianische phi- zungen, wie sie an Hollands _ Universitäten vor losophie. So ist die Annahme, daß der Körper allem in Leiden und Utrecht - im 17. Jahrhun_ "res extensa et motus", d.h. ein Mechanismus, dert stattgefuirden hatten, müssen früher und sei, keine Hypothese, sondern ein evidentes breiter nach Europa hineingewirkt haben, als Axiom für alle Naturerklärung überhaupt; dieses Axiom ist die notwendige Bedingung dafür, daß

55 der komplizierte Bau der Natur-Maschinen durch Boerhaave war der Mann, in dem der Geist ei- die Erfahrunswissenschaft erforscht werden nes Calvin, eines Descartes und Spinoza sich kann. Weil die Himmelsmechanik Newtons die mit dem eines Bacon und Locke trafen, in dem mechanistische Interpretation der Natur als rich- die latrochemie eines Sylvius de la Boö, die Er- tig erwiesen hat, können die metaphysischen fahrungsmedizin des Sydenham und eine vom und physikalischen Grundfragen der Medizin als anatomischen Gedanken sowohl wie von der erledigt erklärt werden. Der Sieg des techno- Newtonischen Philosophie her verstandene la- morphen Modells des Organismus ermöglicht tromechanik sich in einer Persönlichkeit verei- die Physiologie und damit die Medizin als Erfah- nigten, die von bezwingender Kraft war. ln Lei- rungswissenschaft. den, durch Hermann Boerhaave, wurde die mo- derne Medizin auf ihren Weg gebracht. Boerhaaves Werk besteht in seiner Lehre. Will man diese Lehre in ihrer Wirkung zusammen- Anmerkungen fassen, muß man vier Aussagen machen: 1 Albr""ht von Haller: Bibliotheca Anatomica. Bd. 1, Zürich 1774, (N.D. Hildesheim 1969) S. 756 2 1 . Boerhaave etabliert die Medizin als neuzeitli- H"r-un Boerhaave: Commentariolus do Famili€, Studiis, che Erfahrungswissenschaft, die sich me- Vitae Cursu etc. Abgedruckt bei G.A. Lindoboom: Herman Boerhaave. The Man and his Work. London thodisch an der klassischen Mechanik 1968, Appendix I, S. 382 Newtons orientiert. - Herman Boerhaave: Disputatio philosophica inauguralis de distinctione mentis a corpore. Leiden l690 4 2. Boerhaave setzt das technomorphe Modell H"r-un Boerhaave: De Utilitat€ explorandorum in aegris excrementorum ut gignorum dissertatio, habita des Lebendigen als Grundmuster aller theo- Harderovici 14 July 1693. Haderwijk 1693 tr retischen Medizin durch. - Albrecht Hallers Tagebücher seiner Reisen nach Deutschland, Holland und England 'l723-1727. Hrsg. 3. Boerhaave akzeptiert die methodische Tren- v.E. Hintzsche. Bern 1791 (= Borner Beitr.Gesch.Med. u. Naturwiss. NF, Bd. 4) S. 37/38 nung von Leib und Seele, ohne deren - un- ' Johannes Geßners Pariser Tagebuch '1727, kommentiert, erklärbaren - Zusammenhang zu leugnen, übersetzt und herausgegeben von Urs Boschung. Bern verweist den Arzt jedoch eindeutig an den 'l 985, S. 2041205 ' Leib, den Körper als dem Untersuchungs-, Franco Trevisani: Descartes in Germania. La ricezione dol cartesianismo nella Facoltä filosofica e modica di Erforschungs- und Behandlungsobjekt, für Duisburg (1 652- 1 7O3). Mailand 1 992 den der Arzt vorrangig zuständig ist. - f nstitutiones Medicae, 5 28, 4. Aufl. Paris 1747, S. 11

4. Boerhaave begründet das nach Gegenstän- Literatur den, lnhalten und Abfolgen bis heute im Lindeboom GA (19681 Herman Boerhaave. The Man and his Grundriß gültige Curriculum für die ärztliche Work. London Ausbildung und macht die Klinik endgültig Probet Chr 119721 Der Weg des ärztlichen Erkennens am und unwiderruf lich zur Lehr- und For- Krankenbett. Herman Boerhaave und die öltere Wienor medizinische Schule. Wiesbadon (= Sudhoffs Archiv, schungsstätte des Arztes. Beihef t l5) Toellner R 119911 Herman Boerhaavo (1668-1738). In: Boerhaave ist zu Recht ein Eklektiker genannt Engelhardt D v, Hartmann F (Hrsg) (1991) Klassiker der worden. Doch er war kein schlichter Kompila- Medizin. Bd. l: 215-23O, 396-398. München tor. Seine originale Leistung bestand gerade darin, die heterogensten Traditionen, die wider- Prof. Dr. Richard Toellner sprüchlichsten Theorien, die gegensätzlichsten Institut tür Theorie und Geschichte der Medizin Vorstellungen nach klaren einfachen Prinzipien Medizinische Fakultät Westf älische Wilhelms-Univ6rsität zu einer geschlossenen Lehre zu verbinden. Waldeverstraße 27 44OO Münster

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