Musikstunde

Der Geschmack der Madeleine „Farben hören - Musik sehen, schmecken, riechen ...“ (4)

Von Jane Höck

Sendung: 24. Januar 2019 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: 2018

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Bunt wird’s heute im vierten Teil der Musikstundenwoche „Der Geschmack der Madeleine“. Da mischen sich Töne, Farben, Geschmack, Geruch und Emotion zu einem verrückten Potpourri zusammen. Es wird ein wilder Trip, begleitet von Jane Höck am Mikrofon. Herzlich Willkommen.

„Farben hören – Musik sehen, schmecken, riechen“ heißt der vierte Teil der von Marcel Proust inspirierten Musikstundenwoche. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber Musik und Farben? Das bekomme ich ziemlich gut zusammen. Wenn mir jemand sagt, Mozart ist mehr Gelb, Beethoven mehr Blau, Ravel eher Rot. Ja, das passt. Und auch, dass der schwermütig-melodische Blues das Wort Blau schon im Namen trägt– besser geht’s nicht. Dass hat damit zu tun, dass Farben bereits kulturell geprägt sind. Mit bestimmten Farbtönen verbinden wir feste Eigenschaften und Gefühle. Im Englischen wird das noch deutlicher. „Feeling blue“ etwa –sich blau fühlen – umfasst eine ganze Palette von Emotionen. Sehnsucht steckt darin, Trauer, Melancholie. Das passt natürlich hervorragend zum schwermütigen, rhythmisch- gesangsbetonten Musikstil der aus Afrika verschleppten Sklaven, aus dem Gospel und Blues hervorgehen.

Musik 1 M0404625 01-032 2'33 Carr, Leroy; Carr, Leroy How long Charles, Ray

Der blinde Ray Charles war das, mit „How long, how long Blues“.

Bei dieser Musik kommt mir blau-dämmriges Licht in den Sinn. Blaue Stunde – Welt in Moll. Wirklich sehen tue ich das Blau natürlich nicht, es ist eher als Emotion fühlbar. Nicht so bei der französischen Pianistin Hélène Grimaud. Sie sieht ein leuchtendes Blau, sobald ein Werk in ihrer Lieblings-Tonart erklingt, in D-Moll. Die

Künstlerin kann das nicht willentlich beeinflussen. Sie ist eine so genannte Synästhetikerin. Bei ihr wird ein Sinnesreiz mit gleich zwei Sinnen wahr genommen. In dem Fall hört und sieht sie Musik bzw. eine bestimmte Eigen-schaft davon. Farben und Tonarten sind dabei strikt miteinander verknüpft. Wechselt die Tonart, wechseln die Farben. C-Moll ist bei Grimaud immer Schwarz, G-Dur immer Grün, F-Dur immer Rot. „Als ich ein Kind war und es das erste Mal passierte, da dachte ich: Huch, was ist denn da los?“, erzählt sie im Zeit-Interview. „Ich übe gerade ein Bach-Präludium – und plötzlich sehe ich dieses sehr lebendige Rot-Orange. Wie ein Fleck, mit undefinierten Umrissen, der sich vor meinen Augen hin und her bewegt. Ich dachte: Hä?! Aber als Kind nimmt man die Dinge an, wie sie kommen. Man stellt keine überflüssigen Fragen. Und dann fand ich es auch nett. Vergnüglich. Als ich begriff, dass die Farben mit den Tonarten wechseln, dachte ich: Cool!“

Musik 2 M0272181 01-026 2'49 Bach, Johann Sebastian (26) Fuge Nr. 13 Fis-Dur, BWV 858 aus: Das Wohltemperierte Klavier 1. Teil, BWV 846 - 869 Woodward, Roger

Bachs Präludium Nummer 13 aus dem Wohltemperierten Klavier spielte Roger Woodward.

Bei diesem Werk in Fis Dur tanzen der franzöischen Pianistin Hélène Grimaud lebendige Rot-Orange Flecken vor den Augen. Sie hört Musik nicht nur, sie sieht sie auch. In bestimmten Farben. Grimauds Sinne – Hören und Sehen – sind auf geheimnisvolle Weise miteinander verdrahtet. Es entsteht ein neuer, für ihre Mitmenschen unsichtbarer Sinneseindruck. Und der ist absolut einzigartig. Denn die Vernetzung der Sinne erzeugt beim jedem Synästheten ein anderes, ganz eigenes Musik-Farb-Erleben. Das ist am ehesten mit Geschmacks- und Geruchssinn vergleichbar. Selbst wenn wir das gleiche essen, können wir ganz unterschiedliche Dinge herausschmecken, riechen und auch empfinden. Beide Sinne sind – ähnlich wie die Musik – zudem in der Lage, starke Emotionen auslösen und die Erinnerung anzuregen. Genau dieses Zusammenspiel hat der französische Romancier Marcel Proust schon Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ exakt beschrieben. Im betörenden Geschmack der Madeleine.

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Es ist fast so, als habe Proustdie Anatomie des Hirns hellsichtig vorausgeahnt, meint der amerikanische Hirnforscher Jonah Lehrer. In seinem Buch „Prousts Madeleine“ schreibt er: „Das liegt daran, dass Geruchs- und Geschmackssinn die einzigen Sinne sind, die direkt mit dem Hippocampus verbunden sind, dem Zentrum des Langzeitgedächtnisses im Gehirn. Ihre Eindrücke sind unauslöschlich.“ Wenn sich Schmecken und Riechen nun auch noch mit Musik verbinden, müsste eine ganz besonders explosive Sinneswahrnehmung entstehen. Und tatsächlich gibt es auch das. Menschen, die beim Musik hören nicht nur Farben oder Formen sehen, wie die Pianistin Hélène Grimaud, sondern zusätzlich Gerüche wahr-nehmen und einen Geschmack auf der Zunge fühlen. Was geht da vor sich?

Zur Erklärung möchte ich ein Gedankenexperiment von Hinderk Emrich mit Ihnen machen. Der im Herbst 2018 verstorbene Psychologie-Professor der Medizinischen Hochschule Hannover war eine Koryphäe im Bereich der Synästhesie. Stellen Sie sich also vor, Sie essen ein köstliches Stück Torte. Die Torte ist vielleicht noch etwas kalt im Mund, Sie nehmen einen Schluck heiße Schokolade dazu. Das zusammen, hat Emrich dann gern erklärt, ich zitiere „ist eine sehr komplexe Wahrnehmung! Die besteht aus dem, was man dabei riecht, dem, was man dabei schmeckt. Das Schmecken wiederum ist eine Summe aus verschiedenen Geschmackseindrücken wie süß, sauer, bitter, salzig und das verschmilzt bei uns, nicht zu einer Addition wie man jetzt sagen würde, also dass jetzt das Süße, das Bittere und das alles zusammen kommen, sondern es ist ein integrales Erlebnis.In der Psychologie spricht man von gestalt-psychologischer Wahrnehmung!“ Bei Synästheten wird Musik z.B. nicht nur über das Ohr aufgenommen, sondern auch über den Seh- und / oder den Geschmackssinn. Eine Musik leuchtet dann vielleicht blau, violett oder rot und schmeckt möglicherweise auch noch salzig, süß oder bitter! Diese seltenen synästhetischen Erfahrungen – nur etwa 4 Prozent der Bevölkerung besitzt diese Gabe überhaupt – ist in den vergangen Jahrhunderten insbesondere von Künstlern immer wieder beschrieben worden. Aber längst nicht jeder hat eine angeborene Synästhesie. Gerade in der Romantik spielen und kokettieren viele einfach nur mit dieser faszinierenden Idee. Im Nachhinein ist es deshalb schwierig zu entscheiden, wer wirklich genuiner und wer lediglich Gefühlss-ynästhet oder Fan dieses künstlerischen Gesamtkonzepts ist. Vom Komponist und Kapellmeister etwa wird gern erzählt, wie er seine Musiker bei einer Orchesterprobe in Weimar

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verblüfft haben soll. Mit der Aufforderung: „Oh bitte, die Herrschaften, etwas blauer, bitte. Dieser Ton erfordert es.“Oder ein anderes Mal: „Dies ist ein tiefes Violett, bitte. Verlassen Sie sich darauf. Nicht so rosa!“ Liszt ist bekannt dafür, dass er sich musikalisch auch von Bildern beeinflussen ließ. Ein genuiner Synästhet war er aber vermutlich nicht. Die Idee von der Vermischung und Zusammenführung der Künste, also von Malerei, Musik, Literatur und Bildender Kunst – zu einem großen, überwältigenden Gesamtkunsterleben hat er aber sicher unterstützt.

Musik 3 Franz Liszt„Schwebe, schwebe, blaues Aug“ 3‘36 Album: Franz Liszt: Sonaten und Lieder Interpreten: Eric Ferrand N'Kaoua, Tania Gedda Label: BNL LC: 55547 Bestellnummer 112797

„Schwebe, schwebe, blaues Auge“ von Franz Liszt. Es sang Tania Gedda, am Klavier begleitet von Eric Ferrand N’Kaoua.

„Spielt nicht so rosa… mehr blau!“Mit diesem Ausspruch ist Franz Liszt als mutmaßlicher Synästhet in die Geschichte eingegangen. Auch andere Künslter waren den synästhetischen Empfindungen zugetan: Maler Kandinsky etwa schreibt, dass er seine Bilder – statt zu malen – vor sich hinsumme, der französische Dichter Rimbaud, der statt der Musik Buchstaben mit Farben assoziiert, macht diese Gabe in seinem „Sonett der Vokale“ sichtbar und der ungarische Komponist Alexander Laszlo experimentiert mit Farblichtmusik.

Musik 4 Alexander Laszlo „Sonatina für Klavier und Farblicht“ [4:02] Interpret: Natalia Sidler / Oliver Schnyder Titel: „Sonatina für Klavier und Farblicht op. 11“ Not released [Von Natalia Sidler zur Verfügung gestellt / Erlaubnis wurde extra für die SWR2 Musikstunde per E-Mail noch mal eingeholt]

Sie hörten den 1. Satz von Alexander Laszlos „Sonatina für Klavier und Farblicht.“ Hier intepretiert von Natalia Sidler und Oliver Schnyder. Der ungarische

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Alexander Laszlo gehört in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts zu den Künstlern, die ihre synästhetischen Erfahrungen einem breiten Publikum zugänglich machen wollten. Er träumt wie auch andere Künstler und Forscher seiner Zeit – der Psychologe Georg Anschütz etwa – von einer neuen, eigenständigen Kunstform, in der Ton und Farbe gleichberechtigt nebeneinander stehen. In seinen Farblicht- Konzerten, die ungeheuer populär sind, arbeitet er mit drei verschiedenen Konzepten. Bei der so genannten „Lichtornamentik“ spielt er Klaviermusik, die einen relativ homogenen Klang hatte, Schumann z.B. oder Chopin, während er gleichzeitig auf eine Leinwand oder unter die Saaldecke ein flächiges Bild projiziert, eine Art Kaleidoskop. Bei der russischen Farblichtmusik wählte er dramatischere Kompositionen aus; von Rachmaninoff oder Scriabin z.B. – beide im Übrigen Synästhetiker. Hier wird der ganze Saal in farbiges Licht getaucht. Bei der eigentlichen Farblichtmusik dann, der angestrebten Synthese von Farbe und Ton, stellt er eigene Kompositionen vor. Zu leichten rhythmische Melodien, die an Filmmusik erinnern, bespielt er mithilfe von vier eigens entwickelten Dia-Projektoren eine Leinwand von etwa 3 x 4 Metern. Mittels einer Linse, die verändert werden kann, haucht er den so erzeugten Bildern mit Farben und Formen Leben ein. Seine Farblicht-Konzerte, die von Zeitzeugen beschrieben wurden, erinnern ein bisschen an das Werk moderner Visual Jockeys kurz VJs. Das sind Videokünstler, die die Audio-Performance eines DJs mit Licht, Farben und Bildern visuell erweitern. Und genau das ist es, was Laszlo versucht! Die Zuschauer reagieren beeindruckt: „Das ganze Haus bis auf den letzten Platz besetzt, ist in großer Erwartung. Die Spannung wird noch erhöht durch die einführenden Worte, die Laszlo spricht. Dann verdunkelt sich der Raum, die Bühne öffnet sich und zu den Präludien, die Laszlo auf dem Flügel spielt, wird auf den Vorhang im Hintergrund ein expressionistisches Gemälde projiziert, ein Farbgebilde aus blauen Kreisen und Spiralen. Plötzlich wechselt die Farbe ins grün, wie die Musik rascher wird zucken Blitze herein, dann bricht die Melodie ab und die Bühne verdunkelt sich wieder!“

Der ungarische Komponist und Musiker Alexander Laszlo setzt bei seine Farblichtspektakeln in den Goldenen 20ern auch Musik des russischen Komponisten ein. Sein Präludium Nummer 12 spielt im Folgenden Idil Biret.

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Musik 5 Sergei Rachmaninoff 2‘16 Album: The Very Best of Rachmaninov Track 3: 13 Preludes, Op. 32: No. 12 in G sharp minor: Allegro Interpret: Idil Biret Label: Naxos LC: 05537 Bestellnummer: 8.550446

In einer Zeit, die nur schwarz-weiße Stummfilme kennt, werden Laszlos Ton- Farblichtspektakel schnell zu der Sensation! Fast zwei Jahre lang ist er pausenlos auf Tournee. Höhepunkt wird 1926 seine Teilnahme an der Düsseldorfer GeSoLei, einer Art deutschen Weltausstellung, wo er von Mai bis Oktober rund 1.200 Vorstellungen gibt. Aber ist das wirklich Kunst oder nur Entertainement? Wissenschaftler und Kritiker aus der ganzen Welt diskutierten darüber. Und während die ins Leben gerufene Gesellschaft für Farblichtmusik noch von der kommenden „Farb-Ton-Forschung“ träumt, mehren sich die Kritikerstimmen. Die Neue Sachlichkeit z.B. lehnt Laszlos Farblichtmusik als kitschig und reaktionär ab, die Zuordnung von Ton und Farbe sei völlig will-kürlich, das Ganze mehr Hokuspokus und Zirkuszauber als eine ernst zu nehmende neue Kunstform. Und als dann 1928 der Tonfilm aufkommt, ist die Idee der Farblichtmusik so gut wie tot. Laszlo geht in die USA und wird dort Filmkomponist; seiner Farblichtvision trauert er noch viele Jahre lang nach! So innovativ und neu wie sich Laszlo selbst lange Zeit darstellt, ist er übrigens gar nicht. Schon um 1910 hat der russische Komponist und Synästhet Alexander Scriabin versucht, das für ihn selbstverständliche Erleben von Farbe und Ton für ein größeres Publikum sichtbar zu machen. Die dazu entwickelte Komposition „Prometheus oder das Gedicht des Feuers", für die er eine eigene Lichtstimme schreibt und ein Farbenklavier vorsieht, gilt bis heute als das synästhetische Werk schlechthin.

Musik 6 Alexander Scriabin„Prometheus oder das Gedicht des Feuers" 9‘19 Album: Scriabin Concerto Op. 20, Prometheus and Le Poème de l'extase Interpreten: The Cleveland Orchestra, Lorin Maazel Label: Decca Bestellnummer: SXL 6527

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„Prometheus oder das Gedicht des Feuers" von Alexander Scriabin gilt als Höhepunkt unter den synästhetisch beeinflussten Musikstücken. Sie hörten einen kurzen Auszug daraus vom Cleveland Orchestra mit Lorin Maazel. Die Umsetzung der eigens dafür geschriebene Licht-Stimme, die jeder Tonart eine klar definierte Farbe zuordnet und in Übereinstimmung mit der Musik auf einem Farbenklavier gespielt werden soll, stellt sich aber in der Umsetzung als ziemlich schwierig heraus. Und so findet zu Scriabins Lebzeiten auch nur eine einzige Aufführung von „Prometheus oder das Gedicht des Feuers" statt. Am 20. März 1915 in der New Yorker Carnegie Hall. Mit Klang und Farben zu experimentieren bleibt aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein en vogue. Die französische Pianistin Hélène Grimaud – selber Synästhetin – versteht, warum die Synästhesie so anziehend wirkt. Es zeige noch einmal plastisch, wie grundlegend die Musik auf allen Ebenen der Sinneswahrnehmung wirke. Im Zeit-Interview sagte sie: „Alle Sinne sind stimuliert, wenn man ganz durch Musik absorbiert ist. Es ist dann wie eine Reise an einen Ort, an dem alles intensiver ist. Eine machtvolle Erfahrung. Alles ist verbunden. Dieses Gefühl hatte ich schon als Kind, noch bevor ich es artikulieren konnte: dass alles, ob Wissen-schaft, Künste, Philosophie oder Religion, verbunden ist. Das hat nichts mit einem Glauben an Gott zu tun, aber mit dem Glauben an die geheime Natur alles Lebendigen.“ Das liegt auch daran, dass Synästhesie eben mehr als „nur“ eine „falsche“ Verdrahtung im Hirn ist, mehr als nur eine Wahrnehmungs-anomalie. Diese besondere Vernetzung der Sinne gibt Visionären und Künstlern die Möglichkeit, tradierte Seh- und Hörgewohnheiten in Frage zu stellen, sie neu zu denken, als das, was möglich wäre im Zusammenspiel aller Sinne, übertragen im Zusammenspiel aller Künste. Von dieser neuen, explosiven Art der Sinneswahrnehmung wollen die Künstler ihr Pubikum kosten lassen. Sie sollen es sehen, fühlen, hören, schmecken und riechen. Und ist es nicht wiederum genau das, was der französische Romancier Marcel Proust in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ anstrebt und was ihm tatsächlich auch gelingt? Der Autor schenkt seinen Lesern zusätzliche Sinnes-organe, meint Proust Übersetzer Michael Kleeberg. Wer „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ liest scheint – Zitat –"plötzlich sehr viel mehr Augen zu haben, mehr Tastorgane, Schmeckorgane ...“ Es seien Ekstasen der reinen Anschauung, die sich offenbaren „und dadurch bereichert er natürlich das sinnliche Leben – das Leben der Sinne – und auch des Geistes ungemein.“ Soweit Michael Kleeberg.

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Die Synästhesie und die Künstler, die mit dieser Idee spielen, ermöglichen eine unerhört neue Sicht auf die Welt, wagen einen Blick auf Morgen, auf das, was lockend in der Zukunft auf uns und unsere Sinne wartet. Und das bringt uns direkt in die Gegenwart zum Künstler und Cyborg Neil Harbisson.Das ist ein irisch- katalanischer Künstler Mitte 30, der in der Nähe von Barcelona lebt. Der Mann mit der blonden Prinz Eisenherz Frisur sieht mit seiner Antenne auf dem Kopf aus als sei er direkt „Alice im Wunderland“ entsprungen. Harbisson sieht die Welt von Geburt an nur in Schwarz und Weiß, weil er farbenblind ist. „Wie kann ich Farben dennoch wahr nehmen?“, hat er sich irgendwann gefragt und vor über zehn Jahren eine ziemlich eigenwillige Lösung entwickelt, die in Sachen Sinneswahrnehmung eine komplett neue Tür aufstößt. Zusammen mit einem Kybernetikexperten hat er ein Gerät erfunden, das Farben in Töne umrechnet und das in der Öffentlichkeit polarisiert. Die Leute starren ihn an, zeigen auf ihn, lachen … Über seine Antenne, die sich vom Hinterkopf bis nach vorn zur Stirn wölbt. Genau da sitzt das elektronische Auge, das Farben – selbst Ultraviolett und Infrarot – in hörbare Schallwellen übersetzt; in unglaubliche 360 verschiedene Töne, die wie ein Sperrfeuer auf sein Gehör eintrommeln.

Musik 7 Kleine Collage [10 Sekunden] Eigenaufnahme J.Höck

Harbisson sagt, er habe mit Hilfe der Technik seine Sinneswahrnehmung erweitert. Er nennt den neuen Sinn Sonochromatismus – Das ist die Fähigkeit Farben zu hören. Tatsächlich ist Harbisson der erste, staatlich anerkannte Cyborg, zumindest ist er ganz offiziell mit Antenne auf dem Kopf im Pass eingetragen. Und der studierte Musiker ist wahrscheinlich auch der bislang Einzige, der es geschafft hat, sich und seine auf das Cyborg Dasein zugeschnittene Kunst so zu vermarkten, dass er davon leben kann. Er verknüpft Musik und Malerei und veranstaltet – ähnlich wie der ungarische Farblicht-Komponist Laszlo – auch Konzerte, in denen er die Töne seines elektronischen Auges an Boxen anschließt und in verrückten Videoinstallationen auch die dazu passenden Farben sichtbar macht. Auf seinem Youtube Kanal sieht das wie ein wilder Drogentrip aus. Das macht mich neugierig. 2012 besuche ich den Mann, der Farben nicht sehen, dafür hören kann, in Barcelona. Von dort aus nimmt

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er mich mit in seine Heimatstadt Mataro. Die dreißigminütige Bahnfahrt direkt am Meeressaum entlang ist traumschön. Keine fünf Meter von der Bahnlinie entfernt, rollen türkisfarbene Wellen über den blendend weißen Sandstrand. Harbisson schaut auf das wogende Wasser. Während Barcelonas Farben in seinen Ohren wie ein knall-buntes Popkonzert klingen, erinnert ihn das Meer an eine kühle Symphonie.

Musik 8 Debussy La Mer [4‘55 Minuten] M0116707 01-001 Debussy, Claude Nr. 1: De l'aube à midi sur la mer aus: La mer. 3 sinfonische Skizzen für Orchester, L 109 Concetgebouw Orchestra, Amsterdam; Jansons, Mariss Das war „La Mer“ von , vorgetragen von Mariss Jansons und dem Royale Concertgebouw Orchestra

Harbissons Zuhause ist ein hübsches, kleines Apartement mit integriertem Atelier und Studio. Als erstes zeigt der Künstler seine Sound-Portraits, die mit klassischer Portraitmalerei nur wenig zu tun haben. Er deutet auf ein Noten-blatt. Wenn er Menschen trifft, hört er wie ihre Gesichter – rein farblich betrachtet – klingen und hält das in diesen besonderen Partituren fest.

Seit Neil Harbisson Farben hören kann, weiß er, dass es vermeintlich hässliche Gesichter gibt, die wunderschön klingen und ebenmäßige, die einen schrillen Sound haben. Als Beispiel nennt er ein von der Sonne rot verbranntes Gesicht. Vom Klang her sei das großartig, schwärmt der Maschinen-Mann. Rot schwingt mit niedrigen Frequenzen – tief und beruhigend. Rot ist für Harbisson deshalb auch nicht aggressiv, sondern friedvoll, fast unschuldig. Die aggressivste Farbe sei Violett.

Eine andere Herangehensweise als bei den Soundportraits verfolgt Harbisson beim Übersetzen von klassischer Musik in Farbe. Er legt eine CD ein und pinselt auf Leinwand, was er hört. Dabei startet der Maler in der Mitte mit einem kleinen farbigen Quadrat, der ersten Note. Dann wandert er – mit der Pinsel-spitze filigrane Linien ziehend – um das Kästchen herum bis die Leinwand voll ist. Stolz präsentiert er die gestreiften, farbigen Muster aus Acryl, hinter denen sich klassische Werke von Verdi, Mozart oder Beethoven verbergen. Mozart, erklärt der Künstler, klinge Gelb. Das

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komme daher, das viele seiner Stücke in G-Dur geschrieben seien. Beethoven hingegegen sei mehr Blau-Violett. Harbisson hat die ersten hundert Noten von „Pour Elise“ in Farbe übersetzt. In dem abstrakten Bild dominieren tatsächlich die Farben Blau und Lila.

Musik 9 Beethoven „Pour Elise“ 4‘21 M0017091 01-010 Beethoven Ludwig van Für Elise, Bagatelle für Klavier a-Moll, WoO 59 Ashkenazy, Vladimir

Vladimir Ashkenazy spielte Beethovens „Pour Elise“.

Harbissons „Farben hören“ erinnert an die Synästhetiker, die beim Musik hören, gleichzeitig Farben sehen. Ist der Cyborg Harbisson also ein post- modernerSynästhet? Nein, dagegen wehrt er sich. In seinem Fall handle es sich um einen wirklich neuen Sinn, den er sich mithilfe der Technik erschlossen habe, bei den Synästheten sei es nur eine Vermischung der Sinne. In Sachen Sinneswahrnehmung, meint Harbisson, sei der nächste große Sprung, den eigenen Körper mithilfe der Technik so zu modifizieren, das ihm ganz neue, bis dahin unbekannte Sinne zur Verfügung stehen. Sinne, die in der Tierwelt aber durchaus schon existieren können. Die Möglichkeit Ultraschall zu hören etwa, das visuelle Wahrnehmen von ultraviolettem Licht, Sehen bei Nacht ... Oder was ganz Neues, wie eben Harbissons Fähigkeit, Farben zu hören. Man wird sehen.

Und wir hören uns hoffentlich morgen wieder, zum fünften und letzten Teil der Musikstundenwoche „Der Geschmack der Madeleine“ Und da geht es dann um die von Musik hervorgerufenen „bittersüßen Bilder“ der Erinnerung. Bis dahin sagt Jane Höck: „Tschüß und Danke fürs Zuhören!“

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