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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst

Evas Geschichte Überleben nach Auschwitz

Autorin: Renate Maurer Redaktion: Ellinor Krogmann Regie: Andrea Leclerque

Sendung: Mittwoch, 22.10.14 um 10.05 Uhr in SWR2

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Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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______MANUSKRIPT O-Ton 1 entfällt

Atmo Merwedeplein, Vogelzwitschern

Sprecherin Die beiden langgezogenen Wohnblocks aus gelbem Backstein stehen immer noch auf dem Merwedeplein. Auf der grünen Insel in der Mitte ist jetzt schon - April - der perfekte Frühling ausgebrochen. Sträucher blühen weiß und rosa, Bäume tragen hellgrüne Spitze. Eva, die schon lange nicht mehr Geiringer, sondern Schloss heißt und drei Viertel ihres Lebens in London verbracht hat, steht auf dem Platz ihrer Kindheit. Klein, blond und 85 Jahre alt ist sie und sehr vital. Sie schaut auf die Bäume ringsum, die jünger sind als sie

2 O-Ton Eva ...ja, sind aber größer wie ich (lacht). Ich bin eingegangen und die Bäume sind gewachsen. Als wir herkamen, war das eine ziemlich neue Gegend, die haben das gebaut, ich glaub in den 30er Jahren und haben geglaubt, wird sich ausbreiten, aber es hat sich nicht, weil es war eben Depression und dann der Krieg und dadurch viele Refuges haben sie hier leere Wohnungen gefunden.

Sprecherin Am Merwedeplein wohnten damals viele deutsche Juden. Die meisten waren schon 1933 geflüchtet. Rechtsanwälte, Ärzte und Kaufleute mit ihren Familien, die sich wieder eine neue Existenz aufgebaut hatten. So wie , der die niederländische Filiale der Geliermittelfirma an der Prinsengracht leitete. Auch die Schuhfabrik von Erich Geiringer in Breda florierte wieder und im Februar 1940 konnte er eine möblierte Wohnung am Merwedeplein mieten.

3 O-Ton Eva Und wir waren sehr glücklich hier, es war sehr schön. Ich bin in die Schule gegangen, um die Ecke dort in die Jekerstraat, fünf Minuten zu Fuß zu gehen. Alle Kinder in der Umgebung sind hier gekommen am Nachmittag nach der Schule und haben hier gespielt auf dem Platz. Da hab ich natürlich auch kennengelernt.

Sprecherin Die Franks wohnen im Apartmenthaus gegenüber, im zweiten Stock, Nr. 37. Die Geiringers im ersten Stock der Nr. 46. Eva und Anne sind gleich alt, die eine im Mai, die andere im Juni 1929 geboren. Die kleine Wienerin spricht noch kaum holländisch.

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4 O-Ton Eva Und so die Anne hat mich in ihre Wohnung genommen, hat gesagt, ihr Vater kann deutsch mit mir sprechen und so hab ich Otto Frank kennengelernt und hab in ihm einen sehr netten älteren Mann gefunden, ein bisschen mehr wie mein Großvater, weil er war ungefähr 15 Jahre älter als mein Vater. Mein Vater war sehr sportlich und Otto war mehr gediegen, mehr ernstlich, ernst, wie mein Vater, den Eindruck hab ich gehabt.

Sprecherin Mit dem ruhigen, aufmerksamen Otto Frank, damals, 51, versteht sie sich auf Anhieb. Er wird ihr nach dem Krieg noch einmal in einer schweren Krise zur Seite stehen. Aus den beiden Mädchen allerdings werden keine Freundinnen

5 O-Ton Eva Die Anne war ein ganz anderer Typ wie ich. Ich war mehr ein wildes Kind, hab mehr mit den Buben gespielt und auch Kunststücke auf den Rädern gemacht usw. Und die Anne war mehr interessiert, schon in Buben, aber nicht im Spielen, sondern mehr Flirt. Und sie war sehr interessiert in ihre Garderobe und die Haare, immer hat sie andere Haarstile gehabt. Und dann auch wollt sie der Mittelpunkt sein, wie eine Schauspielerin, wollte immer ein Auditorium haben.

Atmo Merwedeplein

6 O-Ton Eva Und ich war eigentlich durch Belgien und was mir in Wien passiert ist, eigentlich ziemlich scheu so. Und die Anne überhaupt nicht. Die war ja vier Jahre, als sie Frankfurt verlassen haben, hat gar nicht mehr deutsch gesprochen und war wirklich sehr holländisch. Und hat sehr viel gesprochen, hat kaum aufgehört zu sprechen. In der Schule hat man sie Mrs.Quak-Quak genannt, sie hat oft zurückblieben müssen, um zu schreiben: ich will nicht so viel sprechen in der Stunde, aber es hat nicht viel genützt, sie hat dann immer wieder zurückbleiben müssen.

Sprecherin Auf Fotos ist Eva ein fohlenhaftes Mädchen in dunklen Kniestrümpfen und Halbschuhen, ein hübsches Kind: blaue Augen, blonder Bubikopf mit Seitenscheitel, die Haare mit einer Spange aus der Stirn geklemmt.

7 O-Ton Eva

...Schnittlauchlocken hat meine Mutter genannt, weil es war ganz grad und so war´s auch ganz kurz geschnitten. Und ich war auch nicht so interessiert, wie ich ausgeschaut hab. Auch was ich angehabt hab, hat mich gar nicht interessiert. Und noch immer bin ich nicht sehr eine Modedame (lacht)

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Sprecherin Am liebsten ist Eva mit ihrem Bruder Heinz zusammen, der drei Jahre älter ist als sie und ein kluger Kopf. Ein begabter Pianist und Zeichner. Nachts im Kinderzimmer erzählt er ihr von den Büchern, die er verschlungen hat. Von wilden Sportarten hält er sich zwar fern, weil er auf einem Auge blind ist. Aber er nimmt seine Schwester mit auf sein kleines Boot, das ihm die Eltern im Sommer 1940 geschenkt haben.

8 O-Ton Eva ... war wirklich mehr wie eine Badewanne und da haben wir oft Ausflüge auf der Amstel gemacht und es war nur Platz für zwei, und da hat er mich oft mitgenommen, war immer wunderbar.

Sprecherin Zu dieser Zeit ist Holland schon unter deutscher Besatzung. Im Mai 1940 hatte die Wehrmacht das Land angegriffen und in wenigen Tagen eingenommen.

9 O-Ton Eva Aber es war natürlich ganz anders als in Wien, weil die Bevölkerung im Allgemeinen war antideutsch. Sie haben das Land ja besetzt, das waren die Feinde und haben den Juden auch gesagt: ihr braucht keine Angst haben, wir werden euch beschützen.

Sprecherin Aber ab Frühjahr 1941 hängen die „Voor Joden verboden“-Schilder auch in Amsterdam an Schwimmbädern, Sportanlagen und in öffentlichen Park. Juden wird der Zutritt zu Kinos, in Theater und in Restaurants verboten. Ihre Fahrräder müssen sie abliefern und jüdische Schüler müssen an jüdische Schulen überwechseln. Auch Erich Geiringers Schuhfabrik geht zwangsweise in nichtjüdischen Besitz über. Sein neues Geschäft mit Handtaschen aus Schlangenleder, hergestellt in jüdischer Heimarbeit, lief jedoch gut.

10 O-Ton Eva Wir haben Angst gehabt, aber wir haben doch eigentlich sehr viel schöne Zeit zusammen gehabt. Wenn wir um 8 Uhr nicht mehr weggehen haben können am Abend, waren wir alle zusammen zu viert, und der Vater hat uns Bridge spielen gelernt, Monopoly ist herausgekommen zur Zeit, das haben wir alle gespielt zusammen. Heinz hat Musik gemacht, ich hab getanzt, gesungen, schlecht gesungen, aber ich hab gesungen und getanzt. Also, wir haben´s eigentlich sehr schön gehabt. Wir haben probiert nicht zu denken, was außerhalb passiert.

Sprecherin Ab Mai 1942 müssen auch die holländischen Juden den gelben Stern tragen. Am Tag der Verordnung heften sich viele Nichtjuden in Amsterdam ebenfalls den gelben Stern oder gelbe Blumen ans Revers oder stecken ihn ihrem Pudel an.

11 O-Ton Eva Aber das hat uns doch geholfen, dass die Bevölkerung mit uns war. Das war doch eigentlich sehr wichtig. 4

Sprecherin Im Juli 1942 erhält Heinz, inzwischen 16, einen Aufruf zum Arbeitsdienst nach Deutschland. Auch Anne Franks Schwester Margot muss sich bei der Zentralstelle melden, weshalb die Franks zur gleichen Zeit untertauchen - im berühmten Hinterhaus von Otto Franks Firma an der Prinsengracht. Ein Versteck, das ihnen erlaubt zusammenzubleiben, immer am selben Ort, versorgt von der treuen Miep und anderen Büroangestellten. Ein seltenes Glück. Vorläufig.

12 O-Ton Eva Also der Beschluss war, dass wir uns verstecken gehen, aber nicht als Familie, sondern wir haben uns trennen müssen. Ich bin mit meiner Mutter gegangen und der Heinz ist mit meinem Vater gegangen zu verschiedenen holländischen Familien und die haben ihr Leben riskiert, um fremden Leuten zu helfen.

Sprecherin Das tagelange Stillsitzen in Dachkammern ist für Eva eine einzige Qual. Sie hasst Lesen, tut sich schwer mit dem Lernen. Oft liegt sie auf dem Bett und schleudert die Beine in die Luft.

13 O-Ton Eva Und ich bin dagesessen und bin fast zerplatzt vor Langeweile und war sehr unglücklich, und ich wollte hinaus, ich wollte spielen mit meinen Freunden, ich wollte mit meinem Bruder sein und mit meinem Vater Diskussion haben.

Sprecherin Häufig gibt es Razzien. Im ersten Versteck haben die Leute vom Widerstand deshalb eine zweite gekachelte Wand ins Bad eingezogen.

14 O-Ton Eva Und wenn dann in der Nacht jemand gekommen ist, die Nazis uns suchen, sind wir schnell da hineingekrochen, die Mutti ist auf der Toilette gesessen und ich bin daneben am Boden gesessen und haben das schnell zugemacht und gehofft, dass sie uns nicht sehen.

Sprecherin Die meisten Helfer stehen die ständigen Hausdurchsuchungen nicht lange durch. Eva und ihre Mutter Fritzi müssen sieben mal das Quartier wechseln. Alle sechs Wochen steigen Mutter und Tochter in den Zug, um den Vater und Heinz in ihrem Versteck auf dem Land, in Soesdijk, zu besuchen. Beide sehen wie Holländerinnen aus, zeigen bei Kontrollen ihre gefälschten Ausweise. Jede Fahrt eine Zitterpartie. Aber die Wochenenden zu viert geben neue Kraft. Und der Krieg, das glauben alle, kann nicht mehr lange dauern.

Atmo BBC-Nachrichten

Im Frühjahr 1944 suchen Vater und Sohn verzweifelt ein neues Versteck, weil ihre Gastwirtin inzwischen horrende Summen verlangt. Eine holländische Krankenschwester, die dem Widerstand angehört, bringt sie in ein anderes Quartier, nicht weit entfernt von dem Evas und ihrer Mutter. Aber die vermeintliche Retterin ist eine Doppelagentin. An Evas 15. Geburtstag werden alle vier verhaftet. 5

Die gemeinsame Fahrt im Viehwaggon nach Auschwitz ist das letzte Zusammensein der Familie. Zwei Monate später werden auch die Franks verraten und nach Polen deportiert.

Musik

Sprecherin Im Vernichtungslager, sagen viele, die dem Tod entkamen, konnte man nur mit Hilfe von Wundern überleben. Und auch in Evas Überlebensgeschichte treten die glücklichen Zufälle gehäuft auf.

15 O-Ton Eva Das sind alles sehr komische Sachen, die passiert sind, unglaubliche Sachen, Zufälle und Wunder

Sprecherin Zum Beispiel der Einfall ihrer Mutter, Eva bei der Ankunft in Auschwitz in einen langen Damenmantel mit Filzhut zu stecken, „Vielleicht kannst du das im Winter gebrauchen“. Der lächerliche Aufzug lässt Eva bei der Selektion erwachsener erscheinen, sie wird nach links dirigiert. Oder: der glückliche Zufall, in der Krankenbaracke der Cousine Minni aus Prag als Krankenschwester zu begegnen. Gleich in den ersten Tagen hatte sich Eva mit Typhus angesteckt.

16 O-Ton Eva ...weil ich Wasser getrunken hab und das Wasser war natürlich nicht sauber und hab ich Typhus bekommen. Ich war noch nicht so geschwächt natürlich, wie wenn ich es später bekommen hätte und da sind wir eben auf die Minni gestoßen und das war natürlich unglaublich, dass sie dort war und dass sie mir Medikamente geben hat können. Und dass wir in „Kanada“ gearbeitet haben, das war natürlich auch... drei Wochen nicht so schwere Arbeit und mehr Essen gefunden und alles mögliche.

Sprecherin „Kanada“ – nannten die Insassen die Lagerhallen, in denen die Kleider und Habseligkeiten der ermordeten Häftlinge gestapelt waren. Die Gefangenen mussten die Kleider nach eingenähtem Schmuck oder Geld absuchen. Manchmal fanden sie auch Kekse.

17 O-Ton Eva ... und daß ich gefragt hab: “Kann meine Mutter auch kommen?”, da hab ich noch nicht so viel Angst gehabt vor der SS, später hätt ich das nie mehr gemacht.

Sprecherin Sie sei von ihrem Vater beim Sport immer zu Ausdauer angespornt worden war, sagt Eva Schloss, das habe ihr geholfen zu überleben, als die Arbeit sehr schwer wurde.

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18 O-Ton Eva Aber was mir auch geholfen hat...Ich hab gesagt immer: ich hab doch noch nichts hinterlassen, ich werd verschwinden von dieser Welt, ich muss überleben, damit ich eine Familie haben kann, dass also nichts verloren geht. Ich wollte unbedingt auch einen Mann haben, Kinder, eine Familie. Und ich hab gesagt, ich muss das erreichen, ich muss irgendwie am Leben bleiben. Und hab wirklich von Tag zu Tag gelebt. Und ich war stark, ich war sehr eigenwillig, ich bin ein Tauros, im Mai geboren. Und natürlich, was mir sehr viel geholfen hat, dass wir zur meisten Zeit zusammen waren mit meiner Mutter, das hat mir natürlich viel geholfen, wir haben uns gegenseitig doch Mut eingesprochen.

Sprecherin Ein, zwei Mal trifft sie sogar ihren Vater am Zaun, der sie mit seiner Stärke aufrichtet. Und dann noch einmal eines dieser unfassbaren Wunder: ihre Mutter wird von Mengele in die Todesbaracke geschickt und dann wieder von ihm begnadigt. Eva hatte sich nachts in die Krankenbaracke zu Minni geschlichen

19 O-Ton Eva ...dass ich die Minni erreichen hab können, dass ich da in das eine Lager vom anderen konnte, auch unter Todesgefahr, und dass die Minnie wirklich den Mengele, dass er gegangen ist, sie wirklich nochmal anschauen, also wirklich unglaublich ist das gewesen

Sprecherin Ende Januar 1945 werden Eva und ihre Mutter von den Russen befreit. Ihr Glück war, das sie zu schwach waren, beim Todesmarsch mitzugehen.

Musik

Als sie nach Kriegsende mit ihrer Mutter Fritzi nach Amsterdam zurückkehrte, war sie 16 und das ganze Leben lag noch vor ihr. Aber sie hasste ihr Leben.

20 O-Ton Eva Ich mein, viele Bücher sind geschrieben worden, über die Konzentrationslager, die schreckliche Bedingungen, viele Leiden usw. Aber wenige eigentlich, wie schwer es war, nach dem Krieg, wenn man wieder probiert hat, ein gewöhnliches Leben zu leben, um da hinein zu passen. Und das war eigentlich, wenn man so zurückblickt, das Schwierigste.

Atmo Merwedeplein

Sprecherin Sie konnten wieder in ihre alte Wohnung am Merwedeplein zurück, dank des nichtjüdischen Hauptmieters war sie nicht geräumt worden. Die alten Möbel standen noch unverrückt am gleichen Platz. Aber die alten Freunde waren verschwunden. Und Amsterdam und die Holländer hatten im letzten Kriegswinter furchtbar gelitten. Überall gefällte Bäume, die zu Brennholz zerhackt worden waren und verbitterte Menschen.

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21 O-Ton Eva entfällt

Sprecherin Im Juni 1945 kehrte Otto Frank aus Auschwitz zurück, als einziger Überlebender seiner Familie. Eva und ihre Mutter weinten mit ihm, als er die Nachricht vom Tod seiner beiden Töchter in Bergen-Belsen erhielt, er las ihnen zitternd die ersten Auszüge aus Annes Tagebuch vor. Im August erhielten auch sie einen Brief vom Roten Kreuz mit der Mitteilung, dass Erich und Heinz Geiringer nach dem Todesmarsch von Auschwitz ins KZ Mauthausen gestorben seien. Der Verlust der beiden lässt Eva ins Bodenlose stürzen.

22 O-Ton Eva In Auschwitz hab ich meine ganze Kraft benutzt, um zu überleben, weil ich hab eben gehofft, es geht wieder zurück nachher, wie´s war. Ich mein, ich war ein Kind, nichts kann zurückkommen, wie es war, aber das hab ich mir vorgestellt: wir werden alle vier glücklich leben, vielleicht sogar zurück nach Wien gehen, das hab ich mir so vorgestellt, deswegen hab ich nicht aufgegeben, das wollte ich wieder erreichen. Aber wie ich zurückgekommen bin und hab gesehen, alles ist zusammengestürzt, es wird nie wieder dasselbe geben, ich bin jetzt ein Waisenkind, ein Halb-Waisenkind, meine Mutter muss arbeiten, meine Mutter ist unglücklich, wir sind arm, ich hab keinen Bruder mehr, ich werd nie mehr Geschwister haben ... also ich hab gesagt, das Leben ist hoffnungslos, es hat keinen Sinn mehr. Das hat mich eben wahnsinnig deprimiert und ich hab eben die Lust zum Weiterleben aufgegeben.

Sprecherin Im Januar 46 schreibt sie in einem Brief an sich selbst: „Ich fühl mich so elend, ich weiß nicht warum. Ich will mich umbringen. Ich habe keine Achtung vor mir, ich verachte mich.“ Und: “Ich bin sehr, sehr unglücklich, verzweifelt. Ich verabscheue alles und mich am meisten. Fleur versteht mich nicht.“

Sprecherin „Fleur“ ist Evas Mutter Fritzi. Zusammen haben sie zwar glücklich überlebt, aber jetzt ist jede für sich allein im tiefsten Unglück. Sie sprechen weder über die qualvollen Erfahrungen der Vergangenheit, noch über den gegenwärtigen Schmerz.

23 O-Ton Eva Das Allerärgste war auch, dass, obwohl ich sehr, sehr nah war mit meiner Mutter, wir haben uns alles erzählt, wenn ich weggegangen bin, was ich in der Schule gemacht habe ...aber wir haben wir nie darüber gesprochen, wie wir leiden, was wir eigentlich wirklich fühlen. Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn wir zusammen geweint hätten und getrauert hätten, aber das war eben irgendwie zu peinlich.

Sprecherin Sie verstellen sich voreinander, beschweren sich übereinander in Briefen an die Großmutter in England.

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24 O-Ton Eva Ich hab mich beschwert über meine Mutter, dass sie singt, wenn sie arbeitet, also gar nicht unglücklich ist. Und meine Mutter schreibt: „Ich sitz´bei der Arbeit und weine, was für ein Leben ich hab, es kommt mir gar nicht vor, dass ich einen Sohn und einen Mann gehabt hab, das ist alles nur so in der Phantasie mir jetzt zurückgeblieben und ich wein schrecklich und da hör ich die Evi nachhause kommen und ich trockne mein Gesicht und ich fang an zu singen.“ Und ich schreib an meine Großmutter: „Wie kann meine Mutter diese Arbeit machen und singen, ich bin so unglücklich und sie singt.“ Und sie schreibt auch über mich: „Die Evi scheint wieder gut ins Leben gekommen zu sein. Sie ist gut in der Schule, sie geht aus, sie hat Freunde. Dabei hab ich das nur gemacht, um sie glauben zu machen, dass ich glücklich bin.

Sprecherin Fritzi Geiringer arbeitet jetzt als Sekretärin und hat ein Zimmer in der Wohnung untervermietet, um finanziell über die Runden zu kommen.

25 O-Ton Eva Ich wollt auch nie helfen meiner Mutter, mein Mutter hat ein Zimmer vermietet in unserer Wohnung, sie hat im Wohnzimmer geschlafen, das Schlafzimmer hat sie vermietet an zwei Damen, hat Frühstück und Abendessen gemacht, hat den ganzen Tag im Büro gearbeitet. Auf dem Weg nach Haus hat sie eingekauft, hat gekocht, aufgeräumt und wollt, dass ich Ihr helf abwaschen: hab ich gesagt, nein, das tu ich nicht! ich arbeit nichts! ich war wirklich ein schlimmer Teenager - weil ich halt so unglücklich war

Sprecherin Otto Frank, der die beiden oft besucht, steht Evas Mutter bei ihren Erziehungsproblemen zur Seite. Er bringt Eva dazu, wieder aufs Gymnasium zu gehen und das Abitur zu machen. Er schickt sie mit seinem jüngeren Bruder nach Paris und nimmt sie mit nach London. Er überredet sie, Fotografin zu werden und verschafft ihr eine Lehrstelle in Amsterdam. Otto Frank hatte als leidenschaftlicher Amateurfotograf mit seiner Leica Hunderte von Familienfotos geknipst, darunter auch jene Fotos von Anne, die fast noch bekannter sind, als ihr Tagebuch.

26 O-Ton Eva Nach dem Krieg hat der Otto gesagt: Ich hab keine Familie mehr, ich will keine Fotos mehr nehmen. Und dann, wie der Otto und meine Mutter beschlossen haben, ich soll ein Fotograf werden, hat er gesagt, ich schenk dir die Kamera und ich hab auch wirklich viel damit gearbeitet zur Zeit

Sprecherin Otto vermittelt Eva eine Stelle in einem großen Fotostudio in London. Im Mai 1951 zieht sie nach England - allein. Da ist sie knapp 22 und qualvoll schüchtern.

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27 O-Ton Eva Ich hab das ganze Selbstbewusstsein verloren. Wenn man schon auf neun Jahre sagt: du bist eigentlich nicht wert zum Leben, du musst eigentlich getötet werde, weil du bist Jude, du bist nichts wert, so was bleibt hängen. Ich hab mein ganzes Bewusstsein verloren. Und wenn man nicht in sich selber glaubt, in was glaubt man dann? Dadurch ich war sehr verlegen, ich hab mich nicht getraut, mit Leuten Freundschaften zu führen. Warum wollen sie mit mir Freundschaft? Ich bin doch nichts. Und so hab ich ein sehr negatives, schreckliches Leben gehabt.

Sprecherin Auch in London schweigt sie über Auschwitz. Wie sie es in Amsterdam getan hat.

28 O-Ton Eva Die Leute wollten´s nicht hören. Das war der allgemeine Standpunkt. Denn ich wollte sprechen, als ich zurückgekommen bin mit 16 Jahren, wollt ich unbedingt sprechen. Ich wollte, dass die Leute Mitleid mit mir haben, dass ich wichtig bin, plötzlich, dass man sagt: Oh, du armer Mensch, du hast so viel mitgemacht. Aber das wollten die Leute nicht hören und dann hat man´s unterdrückt und dann vielleicht in den 60er Jahren, wenn die Leute angefangen haben, zu fragen, waren wir noch nicht bereit, darüber zu sprechen.

29 O-Ton Eva entfällt

Sprecherin Selbst ihrem späteren Mann, Zvi Schloss erzählt Eva nichts von ihren Erfahrungen im KZ. Zvi Schloss war 1936 mit seinen Eltern von München nach Palästina emigriert und hat in London Ökonomie studiert.

30 O-Ton Eva ...und wir haben uns getroffen in einem Gasthaus, boarding house von einer tschechoslowakischen Emigrantin, so hat meine Romant (Romanze) angefangen

Sprecherin Sie hatte in Amsterdam schon eine ernsthaftere Liebesgeschichte mit einem Holländer gehabt. Aber eigentlich – so erinnert sie sich - war sie noch nicht bereit für die Liebe.

31 O-Ton Eva Ich muss sagen, Liebe, man hat das nicht so... Ich war noch sehr verstört und ich hab eigentlich nicht gewusst, was ich eigentlich will im Leben und meine Mutter hat mir angeraten, ich soll den Zvi heiraten.

Sprecherin Die beiden heiraten 1952 in Amsterdam.

32 O-Ton Eva Und ich wollt unbedingt, nachdem wir verheiratet waren, ne Familie haben und nix ist passiert und auch meine Hormone haben nicht gewirkt. Und ich muss sagen, durch den camp, war man nicht unwohl, hat man gesagt, war Brom in der soup, in dem liquid... Da hab ich geglaubt, das ist auch wieder schrecklich.

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Aber dann hab ich sechs Monate Kur gehabt und hab Kinder können bekommen. Und das war für mich wirklich etwas sehr Besonderes.

Sprecherin Sie bekommt drei Mädchen: Caroline, Jacky und Sylvia.

33 O-Ton Eva Das hat mir, glaub ich, wirklich ein bisschen mehr Lebensfreude gegeben, obwohl ich still unglücklich war, aber Mutter zu sein war etwas sehr besonderes für mich.

Sprecherin Ganz langsam habe ihr Leben wieder einen Sinn bekommen, sagt Eva, aber sie habe immer noch keine Freundschaften schließen können und war immer noch sehr schüchtern. Ein Jahr nach Evas Hochzeit haben auch Otto Frank und ihre Mutter Fritzi geheiratet. Sie teilte sein Engagement für die Verbreitung der Tagebücher seiner Tochter in den USA und Europa, reiste mit ihm und half ihm, die gigantisch anwachsende Anne- Frank-Korrespondenz zu bewältigen.

34 O-Ton Eva Der Otto war zwar 17 Jahre älter als meine Mutter, aber das hat überhaupt keinen Unterschied gemacht in deren Liebe, das war wirklich eine wunderbare Ehe, 27 Jahre waren sie verheiratet, länger, als beide mit ihren ersten Männern. Und die war auch eine so reizend... Der Otto ist mit dem Rad immer ins Geschäft gefahren und sie mit der Tram und bei jeder Haltestelle ist sie an die Tür gekommen und er hat gestoppt und sie haben sich zugewinkt und haben sich Küsse geschickt, also wirklich wie Teenagers. War wirklich eine große, große Liebe.

Sprecherin Auch Eva Schloss fühlte sich Otto Frank tief verbunden, schätzte ihn als Stiefvater und als Großvater. Aber die obsessive Beschäftigung mit dem Werk seiner toten Tochter und die überwältigende Berühmtheit dieses Werks waren auch eine Last für sie.

35 O-Ton Eva Der Otto hat immer, immer von der Anne gesprochen. Und ich hab gesehen, auch, wie ich das Tagebuch gelesen hab, hab ich gesagt: Na ja, ich hab auch den Versteck gemacht und ich hab mehr mitgemacht. Ich war im camp und hab überlebt! Und wenn Leute mich vorgestellt haben, haben sie immer gesagt: „Stiefschwester von der Anne“ - aber ich war selbst eine Persönlichkeit und das hat mich auch manchmal geärgert und so. Aber dann hab ich überlegt. Hab gesagt: also, ich hab ein Leben, hab einen Mann, hab Kinder, wie kann ich jaloux sein auf jemand, der mit 15 Jahren umgebracht worden ist? Also hab ich das akzeptiert eigentlich.

Musik

36 O-Ton Eva Der Otto war für unsere Kinder wirklich einer der besten Großvater, die man sich wünschen könnte, alle Ferien haben wir zusammen verbracht. 11

Immer hat den Kindern Radfahren gelernt, ist hinter ihnen gelaufen, hat die Räder gehalten, Eislauf hat er ihnen gelehrt... Also wirklich wunderbar und er hat sie wirklich geliebt. Aber: er hat immer die Anne als Beispiel vorgetragen. Und das hat unseren Kindern eigentlich nicht gepasst. Speziell wie sie klein waren, hat er immer erzählt von diesem Mädel Anne, die hat das so gemacht und, wenn sie etwas Schlimmes gemacht haben, die Anne hätte das anders gemacht. Und sie haben das nicht verstanden. Wer ist diese Anne? Was ist diese Anne? Es kennt sie doch niemand. Es war eben oft auch zu viel. Auch für mich.

Sprecherin Und dann im Frühling 1986 die Eröffnung der Anne-Frank-Wanderausstellung in der britischen Hauptstadt . Ken Livingstone, der spätere Bürgermeister von London, hat Eva mit an den Podiumstisch eingeladen

37 O-Ton Eva Und am Ende sagte er: jetzt will die Eva etwas zu euch sagen. Und ich wollte eigentlich gar nichts sagen. Ich war noch sehr schüchtern, hab nie gesprochen über irgend etwas in Öffentlichkeit und sicher nicht über so etwas. Aber da waren so zweihundert, dreihundert Leute und ich bin aufgestanden und hab keine Ahnung gehabt was ich sagen soll. Und da schau ich und die Leut schaun mich an mit Erwartung. Und dann hab ich alles, was ich vierzig Jahre unterdrückt hab, ist plötzlich herausgekommen. Hab wirklich keine Ahnung, ob das einen Zusammenhang gehabt hat. Aber es war für mich wirklich ein Erlebnis. Und es hat wirklich mein Leben geändert. Weil von da an, haben Leute mich gefragt: „wie war´s“ und „was war“ und „erzähl“ und so. Und da hab ich gefühlt, also die Leute haben Interesse, also sie wollen wirklich wissen.

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