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Szenerie

Rockmusik als Musik der Nachkriegszeit ist unmittelbar von den Umständen dieser Zeit abhängig. Dies kann an jeder regionalen Ausprägung dieser Musik abgelesen werden. Für Großbritannien bedeutet dies, dass sie seit Anfang der 1950er-Jahre von der amerikanischen Rock- musik abhängig war und zunächst auf Nachahmung ba- sierte. Kopiert wurde also der amerikanische Blues in all seinen formalen Erscheinungsformen und der Song der 1930er- und 1940er-Jahre, letzterer tradiert mit Schall- platten, Musicals und vor allem Filmen. Seit Anfang der 1950er-Jahre kam der amerikanische Rock’n’Roll hinzu, massenhaft verbreitet mit Hilfe der seinerzeit neuen Sin- gle-Schallplatte; auch er basierte auf dem Blues – etwa bei Chuck Berry und Elvis Presley – und dem Song, so bei Presley und Buddy Holly. Der Blues wurde in Großbri- tannien und im übrigen Europa also weniger in einer halbwegs authentischen Form bekannt und populär, sondern in einer bereits standardisierten, damit auch oft genug vereinfachten Form; der authentische Blues dage- gen war eher eine Sache von Spezialisten, wenn auch sich das britische Blues-Revival, das für die britische Rock- musik der 1960er-Jahre so wichtig werden sollte, schon ankündigte. Der aktuelle spielte beim breiten Publi- kum eine sehr untergeordnete Rolle, der Swing hatte sei- ne Kraft verloren, Bebop fand nur wenige Hörer, und so wurde ein am traditionellen, mehr oder weniger authen- tischen Jazz der USA orientierter, aus New Orleans oder Chicago stammender Jazz favorisiert; auch dieser sollte später in der britischen Rockmusik eine gewisse Rolle spielen. Bands wie The Beatles aus Liverpool oder The Rolling Stones aus Dartford () spiegeln diese Umstände wi- der: Die ersten Langspielplatten waren Single-Sammlun- gen, ergänzt um weitere Songs, darin den Maßgaben aus

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den USA folgend. Die Songs aber waren Cover-Versions von amerikanischen Veröffentlichungen oder aber Ei- genkompositionen, die der Machart amerikanischer Vorbilder entsprachen. Bis Mitte der 1960er-Jahre hatten die Beatles – und mit ihnen diverse andere britische Bands – diese Musik umgeformt zu einer spezifisch eng- lischen Musik und waren ihrerseits selbst zu Vorbildern nicht nur für Musiker ihres Heimatlandes, sondern für die Musiker ganz Europas und selbst zu Vorbildern für amerikanische Musiker geworden. Eine wesentliche Rolle spielte bei dieser Metamorphose 1Vergleiche: Martin, Ge- der Produzent der Beatles, George Martin.1 Martin war orge (with Jeremy akademisch ausgebildeter Musiker und darüber hinaus Hornsby): All You Need auch versiert in der sich in den 1960er-Jahren rasant ent- Is Ears; 1979 wickelnden Aufnahmetechnik. Ein Experte in Rockmu- sik war er nicht und wollte er auch nicht sein. Als ihm die Leitung des Labels Parlophone übertragen wurde – es handelte sich dabei um ein wenig bedeutendes Unter- label der EMI –, wollte er sich beweisen und es aus dem Nischendasein des programmatischen Sammelsuriums – hier wurde Comedy, altertümlicher Jazz, von Schauspie- lern gesungene Lieder und weiteres mehr veröffentlicht – befreien. Er war auf der Suche nach einem zweiten Cliff Richard, der seinerzeit äußerst erfolgreich war. Als ihm eine in Liverpool beheimatete Rockband angeboten wurde, die sich The Beatles nannte, hatte er wenig Hoff- nung, dass es sich bei diesem Gitarrenquartett um das von ihm gesuchte Erfolgsensemble handeln könnte. Er besuchte dennoch ein Konzert der Beatles, war vom Re- pertoire der Musiker zwar nicht überzeugt, wohl aber von ihrer Fähigkeit, ein Publikum zu begeistern und mitzureißen. Nach einigen Probeaufnahmen und dem Austausch des Schlagzeugers Pete Best, für den Ringo Starr in die Band kam, überraschte ihn die Band mit un- erwartetem Erfolg. Aber auch mit der Begierde, seine Vorschläge für Arrangements und Instrumentation an- zunehmen und ihn mit eigener Experimentierfreude herauszufordern. So kam Martin sein eigenes Können als Musiker aus einem ganz anderen Bereich zugute und

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er begann, es mit der Musik der Beatles zu kombinieren, Rock mit Pop, Rock mit traditioneller europäischer Kunstmusik, Rock mit Music Hall, Rock mit Folk und weiterem mehr zu verbinden. Bis Mitte der 1960er-Jahre unter diesen Prämissen eine spezifisch britische Rock- musik entstanden war, die mit dem amerikanischen Rock’n’Roll nicht mehr viel zu tun hatte. Aber eben im- mens erfolgreich war und dabei von unglaublichem Ein- fluss auf die Musik überhaupt. Spätestens 1967, mit der Veröffentlichung des »Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band«, war die Rockmusik aus der Schmuddelecke des Musikgeschäfts herausgekommen und hatte ihre Bedeutung als Kunstform nicht zuletzt mit dem Wechsel von der billigen Single zur hochwerti- gen LP unterstrichen. Rockmusik war nun auch für das Bürgertum interessant geworden – sie war »in der Mitte der Gesellschaft« angekommen, wie man es Jahrzehnte später ausgedrückt hätte.

Exposition: Die Schülerband

Die typische europäische Rockband der 1970er-Jahre hat ihren Ursprung in einer Schülerband, die Mitte der 1960er-Jahre gegründet worden war; dies gilt nicht nur für Großbritannien. Rockbands entstanden in den Ober- und Hochschulen, zumal in den Kunstschulen Großbritanniens. Die Eltern dieser jugendlichen Musi- ker hatten den Zweiten Weltkrieg noch am eigenen Leib erfahren, ihre Kinder waren zu Zeiten des Krieges oder kurz danach, in den 1940er-Jahre geboren worden und, so ein nachgerade geflügeltes Wort, »sollten es besser ha- ben«. Hatte bereits der Erste Weltkrieg die Klassen- schranken aufgeweicht, so hatten sich bis in die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg andere soziale Maß- stäbe etabliert und dies betraf sowohl Europa wie US- Amerika. »Bildung« war das Zauberwort und blieb es. Das Kleinbürgertum schickte seinen Nachwuchs nicht mehr in die Handwerksbetriebe oder ins Büro, sondern

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auf weiterführende Schulen, verlängerte die Kindheit und erweiterte damit wiederum den freien Raum, in dem sich so etwas wie eine Jugendkultur entwickeln konnte. Ein Ausdruck dieses Bildungswillens war der Musikun- terricht, den ehrgeizige Eltern ihrem Nachwuchs ertei- len ließen, mal nur kurze Zeit, für einige Stunden, mal bis zur Konzertreife. Oft war es das Klavier, an das nun nicht mehr nur die Mädchen gesetzt wurden, sondern auch die Jungen, und aus diesem Heer von jungen männlichen Pianisten stammen viele, die später als Key- board-Instrumentalisten Karriere in der Rockmusik ma- chen sollten, was auch lukrativer schien als eine im Jazz oder in einer Tanzkapelle. Einfache Gitarren, Banjos und Mandolinen waren gängige Geschenke an pubertie- rende Jugendliche, manchmal auch ein einfaches Schlag- zeug oder auch nur eine Snare Drum, immer fand sich jemand, der dem Interessierten die ersten Akkordgriffe, die ersten Songs, die grundsätzlichen Rhythmen zeigte. Ehrgeiz, Konkurrenzdenken und der Druck der Gruppe stachelten die Autodidakten an, die an den Jukeboxes in den Kneipen standen, den amerikanischen Songs ihre Texte, Melodien und Harmonien ablauschten und in mühsamer Kleinarbeit nachahmten. Die Simon Langton Grammar School for Boys in Can- terbury, 1881 gegründet, stand nicht unbedingt im Ruf, eine Schule für die Kinder der unteren Mittelklasse, also des Kleinbürgertums zu sein, hatte sogar mit dem Ver- dacht zu kämpfen, ausschließlich für die obere Mittel- klasse eingerichtet worden zu sein. Ziel der Schule – und ihrer Schwesterschule, der Simon Langton Girl’s 2Jedenfalls nach verbreite- Grammar School – war es aber schon, die Schüler auf ter Ansicht. ein Universitätsstudium vorzubereiten. Besucht wurde sah das allerdings anders die Schule von den Kindern der Intellektuellen der Stadt, und berichtete von Prü- die an ihr besonders schätzten, dass sie ihren Kindern gel. ▪ http://www.the-tit- Raum zu freier Entfaltung gab.2 Dazu gehörte nicht un- le.com/artikel_222.html bedingt Rockmusik, sondern eher die traditionelle euro- päische Kunstmusik und eventuell der Jazz. Die zentrale Figur in dieser Prä-Historie des Canterbury

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Rocks ist Robert Wyatt. Wyatts Eltern George Ellidge und Honor Wyatt hatten ein Haus in dem kleinen Ort Lydden bezogen. Lydden liegt südöstlich von Canterbu- ry, aber näher an Dover als an Canterbury. Trotzdem besuchte Robert Wyatt – damals noch Robert Wyatt-El- lidge – die Simon Langton School in Canterbury, offen- sichtlich eine bewusste Entscheidung seiner Eltern. An der Schule lernte er , dessen älteren Bru- der und dessen Klassenkameraden kennen. Seinerzeit war Skiffle, eine einfache, auf dem Blues basierende Volksmusik, in England sehr beliebt, und so bildeten die vier Jungen, alle gleicherma- ßen interessiert an Musik, 1957 eine Skiffle Group; in dieser Zeit, Ende der 1950er-Jahre, nichts Außergewöhn- liches, erinnert sei an die Beatles, die etwa zur selben Zeit ebenfalls in Skiffle-Gruppen ihre ersten musikali- schen Gehversuche unternahmen. Wyatt übernahm da- bei die Perkussionsinstrumente Das Haus der Wyatts war so groß, dass sie Räume unter- vermieten konnten. Ende 1960 vermieteten sie ein Zim- mer an einen jungen Mann aus Australien, der zuvor in Paris ein Leben zwischen Bohemie und Hilfsjobs ge- führt hatte. , so der Name des Australiers, freundete sich mit dem sieben Jahre jüngeren Sohn sei- ner Vermieter an und bestärkte ihn in dessen Wunsch, Schlagzeuger zu werden. Er brachte Robert mit einem seiner Freunde, dem amerikanischen Jazz-Schlagzeuger George Niedorf,3 zusammen, der ebenfalls ein Zimmer 3Nach anderen Quellen im Haus der Ellidges bezog und seine Mietschuld mit auch Neidorf ▪ Siehe Schlagzeugunterricht für Robert beglich. Bald waren auch: auch Hugh Hopper und Mike Ratledge als Zuhörer da- http://www.youtube.co bei, wenn Robert Schlagzeug spielte. Die Musik nahm m/watch?v=uLd_i3jO65 Robert so gefangen, dass er 1962 direkt nach Beendigung M seiner Schulausbildung mit Niedorf nach Mallorca zog. Er blieb dort einige Monate, nahm weiter Unterricht bei Niedorf, kehrte 1963 aber nach Canterbury zurück, wo er erneut auf Allen traf. Allen gründete mit ihm und Hugh Hopper das Daevid Allen Trio, eine dem Jazz und dem Free Jazz zugeneigte Formation.

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Das Trio bestand indes nicht lange, denn Allen zog es wieder nach Paris. Wyatt und Hopper hingegen blieben in Canterbury und gründeten 1964 mit Brian Hopper – der Bruder Hugh Hoppers spielte Saxophon –, dem Bas- sisten und die Gruppe , benannt nach dem Dichter Oscar Wilde. Ayers, der seinerzeit noch kein Instrument spielte, über- nahm den Gesang, zumal er auch interessiert war, die Texte für die Songs zu schreiben. The Wilde Flowers waren keine Jazz-Gruppe, sondern eiferten den seiner- zeit aktuellen Protagonisten der Popmusik nach, spielten auch Songs von Chuck Berry und Booker T. Washing- 4Repertoire siehe: ton White nach.4 http://www.dis- The Wilde Flowers bestanden als Gruppe bis Herbst cogs.com/Wilde-Flowers- 1967; schon vorher aber kamen und gingen Musiker, so The-Tales-Of-Canterbury- dass 1967 von der ersten Besetzung nur noch Brian The-Wilde-Flowers-Sto- Hopper Mitglied der Band war. Zuerst war Kevin Ayers ry/release/1108173 gegangen, Wyatt hatte danach die Gelegenheit ergriffen, (Zuletzt abgerufen am sich stärker als Sänger der Band zu positionieren, teilte 12.5. 2014) den Platz am Mikrofon für kurze Zeit aber noch mit Graham Flight. Als Flight nach wenigen Wochen ging, wurde Ende 1965 nicht ein Ersatzmann für ihn in die Band geholt, sondern für den Schlagzeuger Wyatt: Ri- chard Coughlan; Wyatt wechselte auf den Platz des Lead-Sängers, spielte nach Erfordernis aber auch weiter Schlagzeug. Auch Richard Sinclair verließ die Band, für ihn kam der Gitarrist Pye Hasting. Mitte 1967 wurde die Band abermals umgestellt, sogar recht radikal: Hugh Hopper wechselte vom Bass zum Altsaxophon, den Bass übernahm Dave Lawrence. Wyatt hatte die Band nun- mehr ebenfalls verlassen. Bis Mitte 1967 bestanden The Wilde Flowers aus den Brüdern Hopper, Coughlan, Hastings, Lawrence und dem Keyboard-Spieler , Cousin von Richard Sinclair. In der letzten, nur wenige Monate dauernden Phase, gehörten Brian Hop- per, Coughlan, Hastings, Sinclair und Lawrence zu der Band. Lässt man die Namen Revue passieren, so waren über die wenigen Jahre viele Musiker Mitglied von The Wilde

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Flowers, die in den nächsten Jahren den Anlass boten, von einer Canterbury »Scene« zu sprechen:

Daevid Allen Robert Wyatt Brian Hopper Hugh Hopper Richard Sinclair Kevin Ayers Pye Hastings David (Dave) Sinclair

In Canterbury geboren waren von diesen Brian Hopper, Richard Sinclair und Dave Sinclair. Richard Coughlan und Kevin Ayers waren in Herne Bay, einem von Can- terbury etwa elf Kilometer entfernt gelegenen Ort gebo- ren, Wyatt in Bristol, Hastings war Schotte und stammte aus Tamnavoulin (Banffshire). Canterbury Scene, weil diese Namen natürlich für einen mehr oder weniger großen Teil der Jugendlichen in Canterbury gestanden haben dürften, die überhaupt aktiv Musik machten. So gesehen gab – und gibt – es natürlich auch eine London Scene, eine Liverpool Scene, eine Bristol Scene usw. Kei- ne Spur von einem Canterbury »Sound« – das meiste, das die Musiker in diesen Jahren für ihr Publikum spiel- ten, entsprach dem gerade verblichenen Beat, bestand aus intonationsunsicherem Lead-Gesang, etwas unbehol- fener Satzgesang, einem unausgewogenen Instrumental- klang und allenfalls hier und da aus Anklängen an so etwas wie solistischem Mut, der indes noch nichts mit Jazz zu tun hatte, ebenso wenig wie die Verzerrungen der wenigen Aufnahmen. Auch der Begriff Canterbury Rock kann nicht auf diese Musik angewendet werden, diese Art Musik der Wilde Flowers wurde von zahllosen Bands in ganz England, der ganzen Welt gemacht. Damit sei den Wilde Flowers nicht Unrecht getan, das Reper- toire von Anfängerbands beruht immer auf Nachah- mung der Musik anderer Bands, und seien es Cover

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Versions der Songs mehr oder weniger bekannter Bands. Die Liste der Musiker, die bei The Wilde Flowers spiel- ten, ist zwar imposant, es fehlen aber einige, die in der Canterbury Scene ebenfalls Gewicht erhalten sollten. In erster Linie ist das Mike Ratledge. Ratledge ging mit Hugh Hopper, Brian Hopper und Robert Wyatt auf dieselbe Schule, eben die Simon Lang- ton Grammar School for Boys. Veranlasst von seinen El- tern, erhielt Mike Ratledge traditionellen Klavierunterricht, während Jazz und Rock keine Rolle in seinem Elternhaus spielten. Gelegentlich musizierte Ratledge mit Hugh Hopper zusammen, der dann Klari- nette spielte, auch dann der Kunstmusik zuzurechnende Kompositionen. Als Daevid Allen in Canterbury auf- tauchte, lernte Ratledge durch die Schallplatten, die Al- len mitgebracht hatte, zeitgenössischen Jazz kennen, so auch die Musik des Pianisten . Als Allen mit Wyatt und Hopper sein Trio gründete, war Ratledge oft bei den Proben dabei und spielte wohl auch gelegentlich mit. An einer Karriere in der Musik war er nicht inter- essiert, sondern vielmehr an einer universitären Ausbil- dung, die er dann auch in Oxford absolvierte. Danach wollte er in den USA weiter studieren, verpasste aber ei- ne Anmeldefrist und wandte sich dann doch der Musik zu, als Allen, Ayers und Wyatt 1966 grün- deten. Damit gehörte Ratledge als Musiker zur ersten Generation der zur Canterbury Scene zählenden Bands. Fast überflüssig zu sagen, dass er ebenfalls nicht in Can- terbury geboren worden war, sondern in Maidstone, der Hauptstadt der Grafschaft Kent, auf halbem Weg zwi- schen London und Canterbury gelegen.

Steigerung

Als Robert Wyatt 1966 The Wilde Flowers verließ, und ihm Hugh Hopper wenig später folgte, bedeutete dies auch den Beginn der zweiten Phase der Musik der Can- terbury Scene, wenn zunächst auch noch ohne greifbare

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Folgen, etwa in Form von Schallplatten. Denn die Mu- sik der Wilde Flowers war so bedeutungslos für die bri- tische Rockmusik, dass keine Firma bereit war, der Band einen Schallplattenvertrag zu geben. Selbst, als nach und nach das Repertoire der Gruppe um eigene Kompositio- nen ersetzt und ausgeweitet wurde, änderte sich daran nichts, über Demo-Aufnahmen kam die Gruppe nicht hinaus.5 Zu größerer Aufmerksamkeit von Schallplat- 5Schließlich von Brian tenindustrie und Publikum kam die Musik – eigentlich Hopper herausgegeben: besser: kamen die Musiker – aus Canterbury erst, als Canterburied Sounds Vo- sich ihr Schwerpunkt nach London verlegte, und Soft lume 1 (1998) ▪ Canter- Machine, 1966 in Canterbury gegründet, in London, zu- buried Sounds Volume 2 mal im UFO Club, auftrat und von dort aus erste Tour- (1998) ▪ Canterburied So- neen durch die Niederlande, Frankreich und unds Volume 3 (1998) ▪ Canterburied Sounds Vo- Deutschland unternahm. Noch spielte Jazz in Form von lume 4 (1998) ▪ Als Box eingestreuten Improvisationen eine untergeordnete Rol- 2013 wiederveröffentlicht le – wenn man diese mitunter unbeholfenen Instrumen- ▪ Siehe auch: talsoli überhaupt mit Jazz in Verbindung bringen will –, http://www.disco- eher war die Musik der Band als eine britische Form des robertwyatt.com/images/ Psychedelic Rocks anzusehen, und die Band wurde mit les_annees_before/ Pink Floyd verglichen. Höhepunkt dieser Zeit war für (Zuletzt abgerufen am Ayers, Ratledge und Wyatt 1968 eine USA-Tournee, bei 2.8. 2014 ) der Soft Machine das Vorprogramm der Konzerte von Jimi Hendrix bestritt. Bei dieser Tournee handelte es sich keineswegs um eine simple Konzertreise. Die Band hatte sich 1967 einiges Renommee auf dem europäischen Festland erarbeiten können. Es war das Jahr des »Summers of Love«, und der befand sich auf dem Höhepunkt des Interesses, das man ihm entgegenbrachte. Soft Ma- chine galt zumal in Frankreich als britischer – also euro- päischer – Vertreter dieser Strömung der Rockmusik. Besonders hatte es dem Publikum Kevin Ayers Song- Mantra »We Did It Again« angetan: Zur Hauptsache aus der Textzeile »We did it again« bestehend, die unablässig über einem Riff wiederholt wurde, konnte dieser Song beliebig in die Länge gezogen werden – was die Band auch tat und damit dem Publikum einen Anhaltspunkt für die Meinung gab, es hier mit einer Art musikali-

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schen Meditation zu tun zu haben, auf jeden Fall etwas »Psychedelischem«. Das Interesse des Publikums an der Band, die im Übri- gen auch alles unternahm, um als psychedelische Band betrachtet zu werden und deshalb ein Image bildete – der authentische Hippie Ayers, der verschlossene, fast finste- re Ratledge, der anarchisch verspielte Wyatt, der Mann 6Hopper arbeitete als im Hintergrund Hopper –, all das zusammen führte da- Roadie für Soft Machine, zu, dass die Gruppe wahrgenommen wurde.6 Angesichts half aber auch mit Kom- der Erfolge der Musiker in London und Paris wurde positionen und – Canterbury zu einem kleinen Nest in Südostengland. gelegentlich, etwa bei den Soft Machine, zu dieser Zeit offiziell noch immer The Aufnahmen zur ersten LP Soft Machine, es war aber die Zeit, als die Artikel aus der Band – als Bassist aus. den Bandnamen verschwanden, wurde von demselben ▪ Fotos aus dieser Zeit Management betreut, das auch die Jimi Hendrix Experi- z.B. unter: ence unter Vertrag hatte. Es lag daher nahe, dass die http://www.hulloder.nl/r Bands gemeinsam auf USA-Tournee gingen – Hendrix w-sms.html (Zuletzt hatte seine Karriere zwar in Großbritannien zum Erfol- abgerufen am 12.5. 2014) ge gebracht, sollte als Amerikaner aber nun auch den US-amerikanischen Markt erobern, und Soft Machine sollte die Chance erhalten, ebenfalls in den USA be- 7An der Tournee durch kannt zu werden. Die Tour bestand wie üblich aus zwei die USA nahm auch der größeren, zeitlich getrennten Abschnitten; dazwischen Gitarrist sollte Soft Machine ein aufnehmen.7 teil, später als Mitglied Die Aufnahmen in New York waren nicht die ersten für von The Police immens Soft Machine. Bereits seit Dezember 1966 hatte die Band erfolgreich. in London immer im Abstand von wenigen Wochen bis April 1967 einige Songs eingespielt, seinerzeit noch in 8Dies geschah erst 1972, der Besetzung Ayers, Wyatt, Allen, Ratledge; die Auf- als die Aufnahmen unter nahmen waren zunächst nicht veröffentlicht worden.8 dem Titel »Faces And Manche tragen durchaus alle Kennzeichen von Demo- Places, Vol. 7« von BYG Aufnahmen. Die Aufnahmen in New York sollten dann Records auf den Markt endlich eine LP ergeben. »The Soft Machine«, so der Ti- gebracht wurden. Das tel des im Dezember 1968 veröffentlichten Albums, ent- Abum wurde in der Folge hielt exakt den farbigen Psychedelic Rock – etwa den mehrmals, jeweils unter Wahwah-Bass von »« –, den das Publikum anderem Titel, erwartete, aber auch schon diverse Hinweise auf eine wiederveröffentlicht. Verbindung von Jazz und Rock, Instrumentalimprovisa- tionen über kurzen Riffs.9

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Als Wyatt und dann auch Hugh Hopper The Wilde Flo- 9An den Aufnahmen in wers verließen, bedeutete dies zwar noch nicht gleich New York nahm auch die das Ende der Band, aber auch nicht ihr Überleben. Die Girlgroup The Cake teil, Band bestand zum Schluss aus Brian Hopper, Richard ein Trio, das zwischen Coughlan, Pye Hastings, Dave Sinclair und Dave La- dem Typus der Girl- wrence. Es war den Musikern klar, dass sie unter dem groups der frühen 1960- Jahre und den späteren Namen The Wilde Flowers nichts mehr zu erwarten der 1980er-Jahre steht. ▪ hatten, erst recht keinen Plattenvertrag. Also lösten sie Siehe auch: die Band im Herbst 1967 auf; zu dieser Zeit bestand Soft http://dangerousminds.n Machine schon über ein Jahr. Pye Hastings, Coughlan, et/comments/the_cake_a Dave Sinclair und Richard Sinclair – allesamt zu ver- _real_life_beyond_the_va schiedenen Besetzungen von The Wilde Flowers gehörig lley_of_the_dolls (Zuletzt – gründeten Ende 1967 Caravan. Die instrumentale Be- abgerufen am 22.6. 2014) setzung glich damit der von Soft Machine. Abgesehen vom Gesang ähnelte sich auch der jeweilige Gesamt- klang der beiden Bands. Im Oktober 1968, Caravan hatte mittlerweile einen Ver- trag bei der amerikanischen Plattenfirma Verve erhalten, präsentierte die Band ihr erstes Album, versehen mit dem schlichten Titel »Caravan«; das erste Album von Soft Machine wurde im Dezember des gleichen Jahres veröffentlicht, Caravan war der Band um Robert Wyatt um weniges zuvor gekommen. Wenn auch es hier eine kleine Unstimmigkeit gibt: Auf dem Cover der LP von 10Etwa: Caravan ist angegeben, dass die Aufnahmen im Oktober http://en.wikipedia.org/ 1968 stattgefunden hatten. Soll die LP schon im selben wiki/Caravan_(Caravan_ Monat in die Läden gekommen sein, wie es manche album) (Zuletzt Quellen angeben?10 Auch die von Pye Hastings fast 30 abgerufen am 15.5. 2014) Jahre später verfassten Liner Notes zu der bei HTD er- schienenen CD werden in diesem Punkt nicht genauer.11 11Caravan: Caravan; Ver- Bereits 1967 hatte Daevid Allen eher notgedrungen in ve Records 1968 (LP) ▪ Frankreich eine eigene Band gegründet. Er war von den Caravan; HTD Records britischen Grenzbehörden zurückgewiesen worden, als 1996 (CD) er nach einer Tournee mit Soft Machine auf dem euro- päischen Festland in das britische Königreich zurück- kehren wollte. Er blieb in Frankreich und gründete mit der Engländerin Gilli Smyth die Gruppe Gong, die zu- mindest zur Peripherie der Canterbury-Bands gehört; keiner der zunächst zu der Band gehörenden Musiker,

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war in Canterbury geboren oder hatte – mit Ausnahme Allens – dort kürzer oder länger gelebt. 1966, im selben Jahr, als Mike Ratledge sich entschloss, bei Soft Machine die Keyboards zu spielen, gründete der Gitarrist mit seinem Bruder Steve, Pianist, dem Schlagzeuger und dem Bassisten Jack Monck in London eine Blues-Band, Bruno’s Blues Band. Als 1968 der Saxophonist zu der Band stieß, wurde sie in Steve Miller’s Delivery umbenannt und wandelte sich allmählich zu einer Jazz-Gruppe. 1969 wurde Monck durch ersetzt, zusätzlich kam die Sängerin Carol Grimes. Als die Band einen Plattenvertrag erhalten hatte, bestand die Firma darauf, den Namen der Band in Carol Grimes and Delivery zu ändern. Die Band funktionierte schlecht und recht, bis Pyle ging – zu Gong, der Band Daevid Allens. Pyle wur- de zwar noch durch Laurie Allan ersetzt, dennoch löste die Band sich wenig später auf. Phil Miller schloss sich an, der neuen Band Robert Wyatts, wäh- rend Dave Sinclair versuchte, Delivery wieder zu bele- ben, was im Grunde misslang. Immerhin aber entstand aus all diesen Bemühungen . Zu den Bands, die zur Canterbury gezählt werden, ohne dass sie irgendetwas mit der Stadt oder den Ende der 1960er-Jahre dort aktiven Musikern oder Bands zu tun hatten, zählen in dieser Phase der Entwicklung des Can- terbury Rocks auch die Gruppen Henry Cow und Egg. Henry Cow war 1968 von dem Gitarristen und dem Saxophonisten und Keyboard-Spieler in Cambridge gegründet worden. Zu der Band gehörten nach einer Reihe von Umbesetzungen, der Fusion mit der aus Deutschland kommenden For- mation und weiteren personellen Verände- rungen neben Frith und Hodgkinson schließlich der Schlagzeuger , der Bassist und die Sängerin . Mitglied dieser Band waren zeitweise etwa auch und , die jeder für sich zur Canterbury Scene gezählt werden, wie auch der Saxophonist , allesamt aber

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schon mit Abstrichen; keiner dieser Musiker hatte Ver- bindungen zu Canterbury. Egg war der Name einer 1969 in London gegründeten Band. Zu Egg gehörten der Keyboard-Spieler Dave Ste- wart, der Bassist und der Schlagzeuger . Das Trio hatte eine Vorgeschichte, denn Egg war aus dem 1968 gegründeten Quartett Uriel her- vorgegangen. Zu Uriel hatte der Gitarrist gehört, der die Gruppe aber schon bald verließ, um in Canterbury ein Studium aufzunehmen; dies ist der Be- zugspunkt Uriels/Eggs zur Canterbury Scene, der nach zwei Alben in Trio-Formation durch das dritte Album, »« (1974) manifest wurde. Die ersten beiden Alben haben nichts mit der Musik der Canterbu- ry Scene zu tun, diese waren eher ein Nachklang zur Musik von The Nice und ähnlichen Bands samt Zitaten aus und Bearbeitungen von Werken der traditionellen Kunstmusik.12 12Egg: Egg (1970) ▪ The Von all diesen Bands, die eigentlich schon 1968 bestan- Polite Force (1970) den, veröffentlichten nur Caravan und Soft Machine je eine LP. 1969 legten Caravan, Soft Machine, Gong und Uriel – dann als Arzachel – sowie Kevin Ayers je ein Al- bum vor, und 1970 sind es wieder Caravan, Soft Machine und Kevin Ayers, außerdem Nucleus und Robert Wyatt, dessen Lösung von Soft Machine sich mit seinem Album »The End of an Ear« (1970) andeutete. Nucleus, die Gruppe des Jazztrompeters , ge- hört eigentlich nicht zur Canterbury Scene. Carr setzte sich aber zu dieser Zeit intensiv mit der Verbindung von Jazz und Rock auseinander, nicht aber aus der Perspekti- ve des Rockmusikers, sondern aus der des Jazzmusikers. Tatsächlich war Carr, Jahrgang 1933, etwas älter als die Musiker von Soft Machine, Caravan oder Uriel, und hatte dementsprechend schon eine Karriere im briti- schen Jazz hinter sich, als er seine Band Nucleus gründe- te. Nucleus wurde dennoch unmittelbar für die Canterbury Scene bedeutsam, weil in dieser Formation zu verschiedenen Zeiten einige Musiker spielten, die spä- ter auch Mitglieder verschiedener Canterbury-Bands wa-

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ren, so , Dave MacRae, , und Roy Babbington. Mittelbar war Nucleus von einigem Einfluss auf die Canterbury Scene überhaupt, denn mit jedem Musiker aus dieser Gruppe wuchs der Einfluss des Jazz auf die Canterbury-Bands. Konkret bedeutete dies, dass nicht nur Musizierweisen und Kompositionstechniken aus dem Jazz übernommen wurden, sondern auch das Verständnis von Musiker- gruppe, die als enge Gemeinschaft von Musikern im Jazz längst nicht die Bedeutung wie in der Rockmusik hat – wie in der Rockmusik wurden den Musikergruppen zwar Namen gegeben, dieser aber auch schnell wieder aufgegeben oder verändert, während die Besetzungen selbst sich in rasantem Tempo und nachgerade ständig änderten. Exemplarisch für diese Entwicklung kann Soft Machine stehen: Der Name blieb unverändert – sieht man einmal davon ab, dass die Band mit »Third« 1970 13Spätestens ab etwa 1967 den Artikel im Namen aufgab13 –, im Laufe der Jahre nannten sich neu spielte aber eine Vielzahl von Musikern bei Soft Machi- gegründete Bands nicht ne. mehr The Beatles oder »Third«, im Juni des Jahres veröffentlicht, ist auch zu- The Nice, sondern Pink mindest in Teilen ein erstes Zeugnis der Hinwendung Floyd, Yes, Genesis, also der Gruppe zum von wenige Monate zuvor, in der Regel ohne Arti- im April, präsentierten Jazzrock. Zwar war Robert Wy- kel. Später, zu Zeiten von att noch Mitglied von Soft Machine, noch behielt man Punk und New Wave, einige Details des Canterbury Rocks bei, im Grunde wurde dies wieder aufge- geben. aber war die Doppel-LP der Beginn des in die Länge ge- zogenen Abschieds der Band aus dem Kreis der Canter- bury-Bands. Wyatt begann im August des selben Jahres mit den Aufnahmen zu seinem ersten Solo-Album, das im Dezember unter dem Titel »The End of an Ear« er- schien. Danach verließ Wyatt Soft Machine und gründe- te Matching Mole. Damit war in der Tat eine Ära beendet, die Konsolidierungsphase des Canterbury Rocks.

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Peripetie

Es begann die Phase in der Existenz des Canterbury Rocks, in der die meisten Bands aktiv waren und die meisten Schallplatten auf den Markt kamen. 1971 waren es im Wesentlichen noch dieselben Musiker und Bands wie 1969 und 1970, die Alben präsentierten, Kevin Ayers, Robert Wyatt, Soft Machine, Caravan und Gong, auch Nucleus und Egg. Eine gewisse singuläre Bedeu- tung erhielt auch Centipede, das Orchester, das der Pia- nist für einige Veranstaltungen zusammengestellt hatte und in dem einige Musiker von Soft Machine saßen. Tippett, eigentlich ein recht radika- ler Jazzpianist, war in den Jahren um 1970 für die briti- sche Rockmusik, etwa auch für King Crimson, von einiger Bedeutung, mochte sich indes von niemandem vereinnahmen lassen, schlug also Angebote, Mitglied dieser oder jener Band zu werden, stets aus. Präsent und einflussreich war er dennoch immer. Ihre Blüte erlebte die Musik der Canterbury Scene in den Jahren von 1972 bis 1975, denn in diesen Jahren er- schien eine Vielzahl von Alben. Wieder waren die LPs von Kevin Ayers, Robert Wyatt, Caravan, Soft Machine, Egg und Gong dabei, es kamen aber neue Bands hinzu: Matching Mole – die Band von Robert Wyatt –, Khan – eine nur für kurze Zeit existierende Band von Steve Hil- lage –, Gilgamesh, Hatfield and the North, Henry Cow, Slapp Happy und – mit Abstrichen – Quiet Sun, Nucleus und Isotope; letztere Bands gehörten zwar nicht zur Canterbury Scene, waren aber veritable Jazzrock- Bands, die die Brücke zum britischen Jazz jener Tage bil- deten. Denn all diese Bands verfolgten durchaus unterschiedli- che Ziele in ihrer Musik. Es gab »typische« Vertreter der Canterbury-Musik wie Kevin Ayers, Caravan, Matching Mole, Egg – mit »The Civil Surface« – und Hatfield and the North. Soft Machine wandte sich in diesen Jahren vollends der mehr oder weniger »reinen Lehre« des auf

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Riffs basierenden Jazzrocks zu, es gab Steve Hillage und Gong, und es gab Exoten wie Henry Cow, Slapp Happy und Gilgamesh, Bands, die jede für sich eigene Wege in der Rock- und Popmusik suchten. Die Vielzahl der Alben sollte nicht darüber hinweg täu- schen, dass die Musiker und Bands der kompletten Can- terbury Scene mitsamt ihren Ausläufern innerhalb der britischen, mehr noch in der europäischen und erst recht in der US-amerikanischen Rockmusik eine Außenseiter- rolle einnahmen. Einige wenige Alben erreichten ein größeres Publikum, der Großteil aber war nicht »erfolg- reich«, wenn man unter »Erfolg« kommerziellen ver- steht. Dazu ist noch Einiges zu sagen. Die Mitte der 1970er-Jahre große Anzahl von Musikern und Bands der Canterbury Scene, die Vielzahl der zwi- schen 1970 und 1980 veröffentlichten LPs verdeckt ein wenig, dass schon ab Mitte der 1970er-Jahre eine Erosion einsetzte. Die Musiker reagierten auf unterschiedliche Weise: Die einen verlegten sich auf die Produktion von Solo-Alben, andere fanden sich in immer wieder unter- schiedlich besetzten Bands zusammen, manche beschrit- ten beide Wege. Bands wie Hatfield and the North und sind typisch für diese Entwicklung – zumindest National Health wurde als Supergroup be- zeichnet, weil in ihr eben Musiker zusammengekommen waren, die jeder für sich schon in anderen Bands eine Karriere hinter sich hatten. Das waren der Keyboard- Spieler , vorher bei Gilgamesh und Hatfield and the North, Dave Stewart, vorher bei Egg und Hat- field and the North, Phil Miller, vorher bei Delivery und Matching Mole, Pip Pyle, vorher bei Gong und Hatfield and the North, und John Greaves, vorher bei Henry Cow; für kurze Zeit war auch Bill Bruford (Yes, King Crimson) Mitglied der Gruppe. Der Begriff »Supergroup« beinhaltet eine Art Standar- deigenschaft: Unter einem neuen Namen arbeiten hierin möglichst bekannte Musiker, die allesamt zum gleichen Stilbereich gehören; in der Regel kennen sich auch die Musiker schon seit längerer Zeit. Ein Sinn einer Super-

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group mag darin bestehen, dass hier die extraordinären Fähigkeiten einzelner Musiker in einem Verband zusam- mengeführt werden, um eventuell auch extraordinäre Musik von ihnen zu bekommen. Ein weiterer ist aber das kommerziell bestimmte Kalkül, dass eine Super- group mit einiger Wahrscheinlichkeit erfolgreicher ist – also: mehr Platten verkauft – als jeder der Musiker als Solist oder in seiner früheren Band. Das Bilden einer Supergroup – selbst, wenn sie nicht so genannt wird – kann aus eben diesem Grund erfolgen, nicht aber, um besonders viel Geld durch Plattenverkauf und Konzerte einzunehmen, sondern um den Beteilig- ten wenigstens das Überleben als Musiker zu sichern. Im Falle der Canterbury Scene kommt noch ein weiterer Grund hinzu: Wie im Jazz bedeutet in der Canterbury Scene die Idee der Gruppe als verschworene Gemein- schaft im Sinne »Alle für einen, einer für alle« sehr we- nig; möglicherweise ebenfalls aus finanziellen Gründen. Im Jazz ist es bedeutungslos, ob eine Formation lange besteht, die lange Existenz und personelle Konstanz et- wa des Modern Jazz Quartets sind etwas so Ungewöhn- liches, dass das Quartet bis heute u. a. aufgrund dieser Tatsache als bemerkenswert genannt wird. Im Allgemei- nen sind Gruppen im Jazz nicht konstant, die Musiker wechseln sehr häufig und es ist offensichtlich, dass die meisten Jazzmusiker überhaupt kein Interesse daran ha- ben, für lange Zeit mit denselben Musikern in einer Gruppe zu spielen. Aus diesem Grund auch gaben Jazz- musiker ihren Bands meist keine Namen, dies kam erst im Laufe der 1960er-Jahre mit dem Jazzrock auf und wirkte dann auch wie der mehr oder weniger gelungene Versuch, so zeitgemäß wie die jeweils aktuelle Rock- und Pomusik zu wirken. Im Canterbury Rock wurde dieses Problem recht ein- fach gelöst: Nach 1975 – und in den folgenden Jahren mit zunehmender Tendenz – zersplitterten die Bands immer wieder, was aber die Möglichkeit eröffnete, gleich wieder unter neuem Namen eine neue Band zu gründen, die manchmal überhaupt kein Album zustande

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brachte oder aber auch nur eines oder zwei. Dann brach die Band wieder auseinander, man suchte sich andere Musiker aus der Scene – das Ganze war in der Tat immer recht familiär – und rief eine neue Band ins Leben. »Fa- miliär« bedeutet, dass immer wieder Musiker der Can- terbury Scene selbst zusammenfanden und nur sehr selten weitere Musiker quasi von außen hinzukamen. Im Unterschied zum Jazz wurden den Gruppen oft Namen gegeben, die häufig eine Bedeutung trugen: und Soft Head beispielsweise beziehen sich einerseits auf die Nähe der Musiker zu Soft Machine, andererseits wurde aus den ersten Buchstaben der Nachnamen der beteiligten Musiker ein Wort gebildet: HEAP oder HEAD war das Ergebnis. Der andere übliche Weg, auf dem Plattenmarkt präsent zu bleiben, ist der gängige in der Rock- und Popmusik – das Solo-Album. Den Reigen hatte schon 1969 Kevin Ayers mit »A Joy of a Toy« eröffnet. Nach der USA- Tournee mit Soft Machine hatte er die Band verlassen, war mit Daevid Allen nach Ibiza gegangen und hatte die Arbeit an einem eigenen Album aufgenommen. Bereits im Juni des Jahres begann er in den Abbey Road Studios in London mit den Aufnahmen, die er im September ab- schloss, im November wurde die LP veröffentlicht. Bei den Aufnahmen hatten ihm Robert Wyatt, Mike Ratled- ge und Hugh Hopper als Backing Band zur Seite gestan- den. Mit einigem Recht könnte man »A Joy of a Toy« als Album Soft Machines ansehen – mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass alle Kompositionen von Ayers stammten. Das Tempo erstaunt: Eben verließ Ayers noch Soft Ma- chine, angeblich überdrüssig des Musikgeschäfts, da wird er schon von unter Vertrag genommen. Harvest war gerade von EMI eingerichtet worden, und sollte Stellung gegen Vertigo Records von Philips und Deram Records von Decca beziehen. Harvest stand also unter Zeitdruck, möglichst schnell Musiker und Bands zu finden, die wenigstens in Groß- britannien oder auch nur London einigermaßen bekannt

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waren, nicht bei einem anderen Label unter Vertrag standen und in die Rockmusik der Zeit passten. Harvest war einfach »spät dran« und Kevin Ayers kam wie geru- fen. Möglicherweise auch halfen Pink Floyd, insbeson- dere , bei Harvest etwas nach, Ayers unter Vertrag zu nehmen. Harvest hatte also einen im weites- ten Sinn zum gehörenden, hoffnungs- vollen Musiker verpflichtet, der neben seinen eigenen Fans auch die von Soft Machine anzog. Nicht viel anders war es mit Robert Wyatts Album »The End of an Ear« von 1970. Wyatt war noch Mitglied von Soft Machine, fühlte sich aber der Band nicht mehr recht verpflichtet und ging 1971. Dem Titel des Albums ent- spricht das Konzept des Albums, das beinahe durchweg Songs enthält, die Bezug auf Gefährten seines bisherigen Weges in der Musik nehmen, als da sind: Sein Halbbru- der Mark Ellidge – er spielte für das Album auch ein we- nig Klavier –, die Sängerin Bridget St. John, Daevid Allen, Gilli Smyth, Kevin Ayers mit seiner Gruppe The Whole World, Carla Bley, Marsha Hunt, seine Freundin Caroline Coon – und Caravan mitsamt . Umrahmt werden diese Songs von seiner Version der Kompositionen »Las Vegas Tango Part 1« und »Las Ve- gas Part Two« von . »The End of an Ear« wur- de von dem Label Columbia/CBS veröffentlicht, einem amerikanischen Label. Die amerikanischen Plattenfirmen hatte die Entwick- lung des Progressive Rocks in Großbritannien nicht recht wahrgenommen. Sie waren seit etwa 1964 damit beschäftigt, auf die British Invasion eine Antwort zu fin- den, glaubten, mit der Musik der amerikanischen Bands, die in Monterey (1967) und Woodstock (1969) aufgetre- ten waren, den Schlüssel für neue Erfolge in der Hand zu haben, und setzten gleichzeitig auf Verbindungen von Jazz und Rock. Musiker und Bands wie Robert Wyatt und Soft Machine – die Band war erst bei ABC Records, dann bei CBS unter Vertrag – passten besser in das Kon- zept amerikanischer Labels als Caravan oder Kevin Ayers. Derartige Musik hätte bei amerikanischen Fir-

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men allenfalls unter dem Begriff »Underground« eine Chance haben können. Mit Ayers und Wyatt waren es gleich zwei Musiker der Band Soft Machine, die die ersten der Canterbury Scene waren, die Solo-Alben vorlegten. Hugh Hopper war mit seinem 1973 veröffentlichten Album »1984« der dritte – auch er einige Jahre bei Soft Machine, und auch er hatte sein Solo-Album eingespielt, kurz bevor er die Band ver- ließ. Es mag an der Atmosphäre in der Band gelegen ha- ben, an divergierenden Vorstellungen, welche Musik man eigentlich machen wolle, dass es gerade drei Musi- ker von Soft Machine waren, die sich selbstständig machten; Ayers und Wyatt gründeten noch einmal Bands, schlugen dann aber Solo-Karrieren ein. Hopper machte den Wechsel zum Prinzip, er produzierte unter eigenem Namen Alben in großer Zahl, nahm aber auch ständig Angebote an, anderen Musikern und Bands bei deren Plattenproduktionen und Tournee-Verpflichtun- gen zur Seite zu stehen; auch Steve Hillage fand diesen Weg für sich geeignet.

Retardation

In den Jahren 1973-1975 kamen die meisten Alben der Musiker und Bands der Canterbury Scene in die Platten- läden. Die Stadt Canterbury spielte keine Rolle mehr, neue Bands wie Slapp Happy, Henry Cow und Hatfield and the North waren hinzugekommen. Die Musiker der »alten« Bands Soft Machine, Caravan und Gong produ- zierten mal solo, mal in nur für kurze Zeit existierenden Formationen LP um LP und gingen auf Tournee, wenn auch meist nur in Europa, selten nach Japan, noch selte- ner in die USA. Neben die alten Labels, die die Musik dieser Bands verlegten, waren neue getreten, allen voran . Virgin, 1972 gegründet, war wie seinerzeit Harvest auf der Suche nach Musikern und Bands. So erhielten im Laufe der ersten Jahre der Aktivitäten des Labels Henry

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Cow, Slapp Happy, Faust, Gong und Tangerine Dream bei Virgin oder dessen Sub-Label Caroline einen Vertrag – für die großen, immens erfolgreichen Bands vom Schlage Yes, Genesis und Emerson, Lake & Palmer kam der Besitzer des Labels, Richard Branson, zu spät, »sei- ne« Bands erreichten nicht annähernd deren kommerzi- ellen Erfolg. Als sich Mitte der 1970er-Jahre andeutete, dass die Rock- musik sich verändern könnte, war Branson dagegen mit der Erste, der den Trend erkannte – 1977 nahm er The Sex Pistols unter Vertrag, nachdem jeweils EMI und A&M der Band schon einen Vertrag gegeben, sie aber bald wieder entlassen hatten. Branson erregte einiges Aufsehen damit, dass er The Sex Pistols trotz deren Ge- baren hielt. Und in schneller Folge weitere Punk-Bands, gegen Ende der 1970er-Jahre in zunehmendem Maße – und dann wohl auch mit größerem kommerziellem Er- gebnis – Bands der New Wave an Virgin band; darunter etwa The Human League, die dem Label 1981 den ersten Top-1-Hit bescherte. Die »alten« Bands des Labels gerie- ten ins Hintertreffen, nach und nach trennte sich Bran- son von ihnen. Wenn er nicht schon früher deren Verträge nicht verlängert hatte. Henry Cow war bereits 1975 aus dem Vertrag mit Virgin entlassen worden. Ohnehin kritisch dem Musikgeschäft gegenüber eingestellt, versuchten es die Musiker gar nicht erst, bei einer anderen Firma einen Vertrag über mehrere Alben zu erhalten, sondern gründeten selbst Label und Vertrieb. In Großbritannien war die Musik der Band stets auf wenig Interesse gestoßen, sie fand im übrigen Europa ihr Publikum, insbesondere in Frank- reich, der Schweiz, den Niederlanden, in Deutschland und auch in Skandinavien. 1978 veranstalteten die Musi- ker unter dem Namen »« ein Festi- val, dass das Motto »The music the record companies don’t want you to hear« trug; hieraus entstand die RIO- Bewegung. Es war seinerzeit zwar nicht ganz neu, dass Rockmusiker und -bands ihre Musik selbst vermarkteten, aber es war

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nicht die Regel und in der Konsequenz, mit der es die Band Henry Cow und besonders deren Schlagzeuger Chris Cutler betrieben, einmalig. In diesem Punkt, der Verweigerung der Plattenindustrie gegenüber, trafen sich im Übrigen die Musiker von Henry Cow, die Punks und die New-Wave-Rocker. Zumindest vorübergehend. Denn aufs Ganze gesehen war die »Hochzeit« des Can- terbury Rocks vorbei. Bis Ende des Jahrzehnts hatten sich einige Bands aufgelöst – so etwa Egg (1974), Hatfield and the North (1975), Caravan (1978), Henry Cow (1978), National Health (1980) – andere, wie Soft Machi- ne, waren in die Bedeutungslosigkeit versunken, und vie- le Musiker suchten eigene Wege, manche in neuen, oft nur kurze Zeit bestehenden Bands, andere arbeiteten als Musiker auf Abruf und nahmen bald hier, bald da Enga- gements an, wieder andere zogen sich aus der Musik zu- rück, mitunter endgültig. Ausnahmsweise versuchten sie, sich den Gegebenheiten der jeweils aktuellen Popmusik zu beugen, etwa Dave Stewart zusammen mit , dies gelang durchweg nur für sehr kurze Zeit. Als Beispiel für eine mögliche Überlebensstrategie kann die Karriere des Bassisten Hugh Hopper dienen, wie sie verlief, nachdem er Soft Machine verlassen hatte: 1973 veröffentlichte er sein erstes Solo-Album, »1984«. Da- nach war er bei Stomu Yamashtas Band East Wind, spielte Bass für Robert Wyatts Album »Rock Bottom«, war dann bei Isotope, gründete die Hugh Hopper Mons- ter Band, nahm mit , Keith Tippett und Joe Gallivan ein Album auf, ging 1977 mit Carla Bley auf Tour, spielte bei Gilgamesh (1978), dann bei Soft Heap (1978), mit Alan Gowen, dann mit Pip Pyle, danach mit Phil Miller, rief die Hugh Hopper Band ins Leben (1989), spielte mit deren Album »Oh Moscow« (1991) ein. Diese Aufzählung ist dabei nur ein kurzer Ausschnitt aus seinem Leben als Berufsmusiker, das er in dieser Weise bis zu seinem Tod fortführte, und die Liste ist bei weitem nicht vollständig. Ähnlich arbei- teten andere Musiker der Canterbury Scene. Andere zo- gen sich zurück aus der Rolle des aktiven Musikers

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weitgehend zurück, etwa Mike Ratledge. Eine Ausnah- meerscheinung ist sicherlich Karl Jenkins, der eine zwei- te, überaus erfolgreiche Karriere in einem ganz anderen Bereich der Musik aufbauen konnte. Einige wenige reagierten auf die Eruptionen, die Punk und New Wave gegen Ende der 1970er-Jahre verursach- ten, und brachen aus dem doch recht engen Zirkel der Canterbury Scene aus. Einer von ihnen ist Fred Frith, der nach seiner Zeit als Mitglied von Henry Cow und in der Zusammenarbeit mit amerikanischen Musikern Einfluss auf den US-amerikanischen Jazz nahm. Denn auch der amerikanische Jazzrock war in der zwei- ten Hälfte der 1970er-Jahre in Schwierigkeiten geraten und viele frühere Hörer dieser Musik mochten dem Diktat des immer »höher, schneller, weiter« nicht mehr folgen. Anfang der 1980er-Jahre stellten Free Funk und in Teilen auch die in Reaktion auf die britische New Wave ironisch No Wave genannte Strömung in der ame- rikanischen Musik die seinerzeit aktuelle Verbindung von Jazz und Rock dar; hier wie da spielte Gesang eine Rolle. Fred Frith war aktiv an dieser Entwicklung betei- ligt und gehörte zu der Band Massacre, in der Bill Las- well Bass und Fred Maher Schlagzeug spielten; in der kritischen Einstellung der Schallplattenindustrie gegen- über hatten Frith und Laswell auch über das »Musik ma- chen« hinausreichende Gemeinsamkeiten. Frith lebte ab 1979 14 Jahr lang in den USA und kam außer mit Las- well auch mit John Zorn, Tom Cora, Eugene Chad- bourne und The Residents zusammen. Dies alles hat indes nichts mehr mit der Canterbury Sce- ne zu tun, wenn auch Frith hier und da auf späte Vertre- ter dieser Szene traf, etwa auf die Pianistin und Harfenistin und den Schlagzeuger Charles Hayward. Hayward war Mitglied der 1976 ge- gründeten Band , gehörte aber auch zu Quiet Sun und für kurze Zeit zu Gong. Mag Gong noch zu den Canterbury-Bands gezählt werden können, so gilt dies kaum für Quiet Sun und gar nicht für This Heat.

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Schluss ohne Ende

Hat die Musik der Canterbury Scene Spuren in der Rockmusik oder im Jazz hinterlassen? Spätestens seit Ende der 1970er-Jahre erstarrte die Strömung, wurde mitunter geradezu museal. Nach der Jahrtausendwende 14Von der Musikpresse, wirken Rückgriffe, die vereinzelt etwa bei Spock’s Beard, die sich der Rock- und The Tangent, Schnauser oder auch der Popmusik des Mainstre- Band gefunden werden können, entweder wie Nostalgie ams widmet, wird die oder wie freundliche Parodie. Mit dem aktuellen Jazz Musik der Canterbury hat die Musik der Canterbury Scene nichts mehr zu tun. Scene gemieden, nicht zu- Tot war und ist die Scene dennoch nicht. Doch zeigte letzt, weil diese Musik sich, dass der Begriff »Scene« keineswegs die Bindung an dem ungeliebten Progres- einen Ort impliziert; ein Großteil der Musiker, die zur sive Rock zugerechnet Canterbury Scene gezählt werden, lehnen diesen Begriff wird. Aber auch Magazi- ne, in deren Publikations- für sich und ihre Musik ohnehin strikt ab. Wann und zentrum der Progressive wo der Begriff überhaupt das erste Mal auftauchte, ist Rock steht, veröffentli- nicht bekannt und es spricht durchaus einiges dafür, dass chen nur ausnahmsweise er um 1970 zuerst in der britischen Musikpresse fiel, sei- Artikel über Musiker und nerzeit noch ganz unschuldig durchaus zur Kennzeich- Bands der Canterbury nung der Herkunft der Bands Soft Machine und Scene. Das waren etwa bei Caravan. Es gab zwar auch andere Bands, die in Canter- der in Großbritannien er- bury gegründet worden waren – etwa Spirogyra –, die scheinenden Zeitschrift gerieten aber nicht in das Blickfeld der Musikpresse und »Prog« seit 2012 Gong, wurden nicht mit dem Begriff Canterbury Scene oder Camel, Caravan, Magma Canterbury Sound in Verbindung gebracht. Obwohl sie und – anlässlich seines Teil der Canterbury Scene waren, wenn man damit nur Todes 2013– Kevin Ayers. die Gesamtheit von Rock-, Folk- und Jazzrock-Bands in Auf den Titel wurde nur der Stadt Canterbury meint. Listen von Bands, die die Camel gehoben. (Classic Canterbury Scene bildeten, gab es schon – in Fotokopie Rock presents Prog bzw. Prog Nr. 11, 10/2009; Nr. und Fanzines – etwa ab Mitte der 1970er-Jahre. 13, 12/2009; Nr. 16, Eine Wiederbelebung erfuhr die Publizistik über die 4/2011, Nr. 30, 9/2012, Canterbury Scene in den 1990er-Jahren, beispielsweise 35, 4/2013, Nr. 39, durch das britische Fanzine Facelift, von dem Phil Ho- 10/2013) witt zwischen 1989 und 1998 19 Hefte herausgab. Das deutsche Pendant zu Howitts Zeitschrift war das von Manfred Bress herausgegebene Fanzine Canterbury Nachrichten. Beide Fanzines sind mittlerweile einge-

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stellt, wenn auch gelegentlich alte Exemplare im Inter- net noch auftauchen. Für die Herausbildung, Ausgestaltung und Überhöhung des Phänomens Canterbury Scene aber war das Internet das ideale Medium, denn dieses ermöglichte es, aus einer von Publikum und einschlägiger Presse weitgehend ignorierten Musik ein Mysterium zu machen, das akri- bische Erforschung verlangte.14 So gab und gibt es eine große Anzahl von Websites, die sich in der einen oder anderen Form der Musik der Canterbury Scene, einzelnen Musikern und Bands widmen, wenn auch der Elan spätestens im zweiten Jahrzehnt nach 2000 nachließ. Diverse Websites zum Thema sind inzwischen eingestellt, etwa Musart (www.musart.co.uk). So spricht Andy Bennett mit einigem Recht vom »Ma- king of a Virtual Scene« und meint damit nicht nur, dass sich Information, Informationsaustausch, Diskussion und Kontakt zwischen Musikern und Hörern ins Inter- net verlagert haben, mit allen Begleiterscheinungen der Mythenbildung, die dieses Medium mit sich bringt.15 15Bennett, Andy: New Dazu gehört vor allem aber, dass Musik, Musiker, Stadt, Tales from Canterbury: Schallplatten, Auftrittsorte und weiteres mehr miteinan- The Making of a Virtual der verwoben werden. Dann passt die »Englishness« Ca- Scene, in: Bennett, An- ravans zu der pittoresken Altstadt, die Kühle Soft dy/Peterson, Richard A.: Machines zur strengen Architektur der Kathedrale, die Music Scenes - Local, Translocal, and Virtual; Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer zu dem angeb- Nashville 2004; S. 205 ff ▪ lich »typisch englischen« Humor manch eines der Musi- Vgl. auch: htt- ker und ihren Song-Titeln und -Texten. Musiker, Bands ps://www.sfu.ca/cmns/c und Stadt werden zu einer Einheit verfilzt, die es nach ourses/2011/488/1-Rea- Worten Hugh Hoppers und Robert Wyatts nie gab. dings/Bennett_Music- Derartig »virtuelle Scenes« sind dennoch zählebig, selbst Mythscapes.pdf (zuletzt wenn die einschlägigen Websites und Internet-Fanzines abgerufen am 30.7. 2014) einfrieren oder nur noch in Archiven vorrätig gehalten werden.

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Die Musik

Unvoreingenommene Hörer, die zum ersten Mal bei- spielsweise die erste LP von Soft Machine oder »Car- avan« (1968) von Caravan hören, sind in der Regel erstaunt, wenn sie erfahren, dass es sich bei dieser Musik um genuinen britischen Jazzrock der Zeit handeln soll. In aller Regel sind diese Bands mittlerweile kaum noch bekannt, und Jazzrock wird für eine spezifisch US-ame- rikanische Musik gehalten, für deren Protagonisten Mi- les Davis, John McLaughlin, Wayne Shorter, Chick Corea und Herbie Hancock – um nur einige zu nennen – gehalten werden. »Bitches Brew« (1969) von Miles Davis, »The Inner Mounting Flame« (1971) von John McLaughlins Maha- vishnu Orchestra, »Soft Machine« (1968) von Soft Ma- chine und »Caravan« (1968) als Ganzes miteinander verglichen, ist der Unterschied in der Tat auf den ersten Blick eklatant. Ob Davis die Alben von Soft Machine und Caravan kannte, mag dahingestellt bleiben, gleiches gilt für McLaughlin. Während bei Soft Machine und Ca- ravan Gesang obligater Bestandteil der Musik ist, spielt er weder bei Davis noch bei McLaughlin eine Rolle. Da- vis’ Jazzrock von »Bitches Brew« setzte den Maßstab, was als Jazzrock zu gelten hatte – obwohl es ihn eigent- lich schon vorher gab.

Soft Machine

Bei »Soft Machine« ist der an Riffs orientierte Jazzrock – wie ihn Davis und ihm nachfolgende Musiker und Gruppen präsentierten –, nur ein Element von mehreren verwendeten. Ein Beispiel bieten »Hope for Happiness«, »Joy of A Toy« und die Reprise von »Hope for Happi- ness«, enthalten auf der ersten LP von Soft Machine. Auf dem Cover zur LP werden die drei Kompositionen ge- trennt ausgewiesen, tatsächlich aber gehen sie ohne Ab-

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trennung ineinander über und bilden eine für den Pro- gressive Rock typische »Suite«, also eine Kombination 16Siehe dazu: Bernward von eigentlich disparaten Bruchstücken von Songs.16 Halbscheffel: Progressive Verbunden werden diese Bruchstücke durch instrumen- Rock - Die Ernste Musik tale Intermezzi, immer wieder auch durch Instrumenta- der Popmusik; Leipzig limprovisationen. 2012; S. 539 ff Der die Suite einleitende Song »Hope for Happiness« stammt von Hugh Hopper, das folgende »Joy of Toy« von Kevin Ayers, darauf folgt die die Suite abschließende Reprise von »Hope for Happiness«. Insgesamt hat die Suite eine Dauer von etwa 8:45 Minuten. Zunächst tritt Hoppers Song auf 0:00 bis 2:40, es folgt eine Improvisati- on Ratledges auf der Orgel (2:41 bis 3:57), eingeschoben ist danach der Refrain (Text: »Hope for Happiness«), ge- folgt von einem weiteren Verse, bis der Song in einen kleinen Instrumentalteil – mehr oder weniger frei im- provisiert – endet. Eine zentrale Bedeutung in dem gesamten Zyklus hat ein relativ einfaches Riff, hier die Grundform:

Dieses Riff hat einen improvisatorischen Gestus, denn es wird von Ayers ständig verändert, so dass sich eine Kette von »Licks« ergibt, die alle auf dem Riff basieren. Derar- tige Licks entstehen in der Improvisation und verfestigen sich dann zu Versatzstücken, die vom Improvisator nach Belieben eingesetzt werden – wobei sie auch wieder aufs Neue verändert werden können. Auf gleiche Weise ist das Orgelsolo von Ratledge zustande gekommen: Auch Ratledge kombiniert Versatzstücke, die vor allem aus äl- terem britischen Jazz stammen, etwa von Brian Auger und Georgie Fame. Auf das einleitende »Hope for Happiness« folgt »Joy of a Toy« von Kevin Ayers, auch dies eine Improvisation. Soft Machine war zu dieser Zeit ein Trio, so dass die in- strumentalen Möglichkeiten eigentlich begrenzt waren. Mit Hilfe der verfügbaren Mehrspurtechnik konnten

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aber mehrere Vokal- und Instrumentalstimmen überein- andergelegt werden, und von dieser Möglichkeit mach- ten die drei Musiker bei den Aufnahmen zu dieser LP ausgiebig Gebrauch. Ist schon der Beginn ein zweistim- miger Gesang von Robert Wyatt, so ist auch Ayers Bass- solo zweistimmig: Zu einer leisen, konventionellen und relativ statischen Bassstimme improvisiert er eine solistische zweite Bassstimme, verfremdet den Klang sei- nes Instruments aber mit einem Wahwah-Pedal. Das Übereinanderschichten von Stimmen, die mit dem- selben Instrument erzeugt wurden, wurde auch bei Rat- ledges Orgelsolo in »So Boot If At All« angewendet: Ratledge tritt mit sich selbst in einen Dialog, dabei für jede er beiden Stimmen eine andere Registrierung seiner Orgel verwendend. »So Boot If At All« geht schließlich in eine Collage über. Wyatt trommelt solistisch, aber seinem Spiel sind diverse Geräusche und Fetzen von In- strumentalklängen beigemischt, alles in allem eine Dada- Collage, wie sie seinerzeit viele Bands im Repertoire hatten und die fester Bestandteil des Psychedelic Rocks waren. Geradezu bruchartig schließt sich an »So Boot If At All« Hugh Hoppers Song »A Certain Kind« an. Es ist eine der Hymnen, die es im Progressive Rock der Zeit bei fast jeder Band wenigstens eine gab, vergleichbar – immer in Grenzen – mit »A Whiter Shade of Pale« (1967) von Procol Harum oder »Starless« (1974) von King Crimson. »The Soft Machine« enthält mit »We Did It Again« auch einen Klassiker der Band, wenn nicht des Canterbury Rocks überhaupt. Einmal mehr handelt es sich im Grunde nur um ein – dazu noch recht kurzes, nämlich nur einen Takt langes – Riff, das unablässig wiederholt wird. Das Riff erinnert ein wenig an »Sunshine of Your Love« (1968) von Cream und ist hier bei Soft Machine auch das einzige formgebende Element. Aus diesem Grund konnte »We Did It Again« beliebig verlängert, auch beschleunigt werden, eine Möglichkeit, von der die Band im Konzert immer wieder Gebrauch machte. Wie »Hope for Happiness« mit »Joy of a Toy« und der

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Reprise von »Hope for Happiness« ist auch »Save Your- self« mit »Priscilla« und »Lullabye Letter« eine Suite, d.h., diese drei Kompositionen folgen ohne Trennung nacheinander. »Save Yourself« wurde von Robert Wyatt geschrieben, »Priscilla« von der gesamten Band, die zu dieser Zeit eben aus Wyatt, Ratledge und Ayers bestand, »Lullabye« stammt von Ayers. Die drei Stücke genauer betrachtet, stellt sich der Aufbau dieser Suite wie folgt dar: »Save Yourself« ist ein an den Soul der 1960er-Jahre angelehnter Rocksong, »Priscilla« eine Improvisation der Gruppe über ein zweitaktiges Riff, der sich aus dem vor- angehenden Rocksong entwickelt, und »Lullabye Letter« wiederum ist ein Rocksong, an den ein weiterer Impro- visationsabschnitt angeschlossen ist. In ihrer Anlage äh- nelt diese Improvisation der ersten Improvisation. Daran lassen sich einige Überlegungen knüpfen: »Priscil- la« wird als kompositorische Leistung der gesamten Gruppe ausgewiesen, obwohl das Riff selbst aus der Hand Wyatts stammt – jedenfalls wenn man die Zeitan- gabe auf der Schallplatte berücksichtigt. Umgekehrt gilt ein vergleichbarer Beitrag Wyatts – der ja »Lullabye Let- ter« singt – nicht so viel wie eine Instrumentalimprovisa- tion. Zwischen »Save Yourself« und »Priscilla« gibt es keinen eindeutig zu erkennenden Übergang, man kann diese beiden Teile von vornherein als Einheit betrachten; zwischen »Priscilla« und »Lullabye Letter« gibt es indes einen exakt feststellbaren Übergang. »Save Yourself« ist im Kern eine einfache Liedform mit dem Schema A A A' B. A ist ein viertaktiger Abschnitt, der einmal wiederholt wird. Die zweite Wiederholung besteht aus einer geringfügig abgewandelten Fassung des Teils A. A' leitet zum Refrain über, der aus zweitaktigen Motiven besteht. Das gesamte Lied wird wiederholt. Erst dann beginnt ein Spiel mit dem Material, das schließlich in die Improvisation mündet. Die Einleitung dieses Stücks nimmt nichts aus dem ei- gentlichen Song vorweg. Sie ist unregelmäßig gebaut, ge- meinsames Kennzeichen der 12 Takte ist lediglich, dass Orgel und Bassgitarre bis auf einen viertaktigen Ab-

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schnitt – nach den ersten sechs Takten – unisono geführt sind. An dieser Einleitung lässt sich ablesen, dass Ayers zu diesem Zeitpunkt sicherlich kein virtuoser Instru- mentalist ist, im Gegensatz zu Mike Ratledge und Ro- bert Wyatt.

Die letzten zwei Takte der Einleitung und deren Wie- derholungen (Takte 9, 10, 11, 12) bestimmen dann teil- weise den Rhythmus der Bassfigur, die der ersten und zweiten Strophe zugrunde liegt. Es handelt sich dabei um einen Wechsel zwischen den Tönen G und E, die beiden Töne D und Dis sind lediglich Durchgangstöne. Eben um die beiden Töne G und E kreist auch der Ge- sang Robert Wyatts.

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Wie Mike Ratledge die einzelnen Verses harmonisiert, ist nicht genau zu hören, es dürfte sich um einen e-Moll- Akkord mit kleiner Septime handeln. Im jeweils vierten Takt spielt der Organist einen chromatischen Abstieg vom Ton e3 aus. Während der zweite Verse eine exakte Wiederholung des ersten ist, zeigt der dritte Abweichun- gen: Wyatt singt eine Oktave tiefer, und der vierte Takt dient bereits der Überleitung zum Refrain mit der Titel- zeile »Save Yourself«. Das Wechselspiel zwischen Wyatt als Vorsänger und dem Background-Chor beginnt Wyatt also auf Takt vier des letzten Verse, während der erste Takt des Refrains vom Background-Chor begonnen wird. Die Basslinie des Refrains wechselt von Takt zu Takt zwischen E und A, erst im vorletzten Takt tritt H auf. Insgesamt ist der Refrain acht Takte lang, er ist in jeweils zweitaktige Abschnitte aufgeteilt, von denen die ersten drei identisch sind. Ayers Bassspiel wird von Rat- ledge harmonisch gestützt. Der letzte Takt des Refrains wird nur von Schlagzeug und Gesang bestritten, wenn auch letzterer eher als Ausruf Wyatts gewertet werden muss. Offensichtlich soll diese harmonische »Leerstelle« den Übergang zur zweiten Strophe und später zur Im- provisation erleichtern. Die zweite Strophe ist im We- sentlichen identisch mit der ersten Strophe, allerdings mit geringfügig abweichendem Gesang. Die folgenden 24 Takte sind der Einführung des Riffs gewidmet, über dem sich Ratledges Orgelimprovisation »Priscilla« entfaltet.

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Streng genommen endet also Wyatts Komposition hier. Andererseits ist er an den ersten und letzten acht Takten dieser Überleitung mit seinem Scat-Gesang beteiligt, wie »Priscilla« auch keineswegs wie ein völlig neues Stück wirkt, sondern vielmehr der Übergang zwischen »Save Yourself« und »Priscilla« sich quasi organisch vollzieht. Auch das Tempo des vorangegangen Songs wird beibe-

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halten. Man kann also sagen, dass »Save Yourself« die Grundlage für die gemeinsame Komposition »Priscilla« ist. Das Bass-Riff, das der folgenden Orgelimprovisation zugrunde liegt, wird zunächst in einer »augmentierten« Version vorgestellt:

Die ungewöhnliche Achtelbewegung des Schlagzeugs

gibt Wyatt nach den ersten acht Takten auf, Ratledge be- reitet sein Solo vor. Während des Solos bewegt sich das Bass-Riff in Vierteln und Achteln, während der Schlag- zeuger eine hervorstechende Achtel-Figur zunächst auf dem Ride-Becken, dann auf der geschlossenen High-Hat und wieder auf dem Becken spielt. Ratledge benutzt für sein 24 Takte umfassendes Solo eine auf dem Ton A auf- bauende äolische Skala, vermeidet allerdings während der Takte 1-16 den Ton F, der aber in seiner Begleitung (linke Hand) im Wechsel mit dem Ton G auftritt.

Die verwendeten Töne ergeben zusammengenommen die vollständige äolische Skala. Der gesamten Improvisa- tion liegen somit die Vierklänge

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zugrunde. Das Riff allerdings, das Ayers spielt, ließe sich mit dem G-Dur- und dem a-Moll-Dreiklang allein be- gründen. Im Grunde handelt es sich bei »Priscilla« um eine recht konventionelle Improvisation, wie sie seinerzeit viele andere Jazzrock-Gruppen nicht anders gestaltet hätten. Das besondere des britischen Jazzrocks dieser Zeit lässt sich an diesem Stück nur daran ablesen, dass Gesang da- zu gehörte, wenn auch ein innerer Zusammenhang sich hier nicht zeigt. So stehen »Save Yourself/Priscilla« und »Lullabye Letter« durchaus im Zeichen des Progressive Rocks jener Jahre, in dem heterogene Musikstile und Musikarten weniger verschmolzen, als dass sie in einer einzigen Komposition nebeneinander gestellt wurden. Dies zeigt sich noch deutlicher und geradezu program- matisch mit der Musik der zweiten LP der Band. Ayers hatte Soft Machine verlassen, für ihn war Hugh Hopper in die Band gekommen. Für die Aufnahmen zu »Volume Two« wurde auch der Saxophonist Brian Hopper hinzu- gezogen, so dass das instrumentale Spektrum dieses zweiten Albums weiter war als das des ersten, zumal die Hopper-Brüder nicht nur solistisch agierten, sondern ge- legentlich auch gemeinsam – Hugh Hopper spielte dann ebenfalls Saxophon. Wie schon beim Debütalbum, wenn nicht intensiver, wurden für »Volume Two« die Mög- lichkeiten der Mehrspuraufnahme intensiv genutzt, also auch mehrere Vokal- und Instrumentalspuren überein- ander gelegt. Die erste Seite des Albums ist in Gänze einer Zusam- menstellung von Kompositionen und Kompositions- bruchstücken gewidmet – zumeist von Wyatt in Zusammenarbeit mit Hopper verfasst –, die auch als Rock-Suite bezeichnet werden kann. »Rivmic Melodies«, so der Titel des Zyklus’, besteht aus insgesamt zehn zwi- schen zehn Sekunden und knapp sechs Minuten langen Kompositionen. Ob hinter »Rivmic Melodies« und »Esther’s Nose Job« – der Zyklus nimmt die gesamte zweite Seite der LP ein – ein Konzept steckt, ist nicht ganz klar. Offensichtlich ist dagegen, dass hier Dada und

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17Pataphysique, dt. Pata- Pataphysik eine zentrale Rolle spielen.17 Klar auch, dass physik, nannte der fern- sich die Musiker der Band von der Musik Frank Zappas zösische Schriftsteller beeindruckt zeigten, denn die für das Album angewandte Alfred Jarry sein absurdes Kompositions- und Arrangiertechnik wie die Nähe zu Konzept von Philosopie Dada bestimmten Ende der 1960er-Jahre auch die Musik und Naturwissenschaft; Zappas. Pataphysik hat in ihren Wyatt eröffnet »Rivmic Melodies« wie ein Master of Ce- Ergebnissen starke Ähn- remony, begrüßt zu bombastischer Klaviertrio-Beglei- lichkeit mit Dada. Dass tung ein imaginäres Publikum – den Plattenhörer. Es die Musiker von Soft Ma- folgt »A Concise British Alphabet – Part One«, das von chine dieses Konzept kannten, steht außer Wyatt gesungene Alphabet; beinahe erwartungsgemäß ist Zweifel, dass sie aber gar auch »A Concise British Alphabet – Part Two« das Al- »Studenten am Institut phabet, nunmehr aber rückwärts gesungen. Eingebettet für Pataphysik« waren, ist zwischen diese beiden Alphabete ist eine Instrumenta- eine journalistische Über- limprovisation mit dem Titel »Hibou Anemone and Be- treibung; Wyatt war ar«. Solist ist Mike Ratledge, sein Orgelspiel ist aber Mitglied des Collège de keine spektakuläre Improvisation. Vielmehr erscheint ’Pataphysique in Paris. das Solo als gleichberechtigter Teil zum Bass-Riff – das Tatsächlich waren briti- entfernt an Riffs aus dem Latin Jazz erinnert – und zu sche Rockmusiker den ostinaten Figuren der von den Brüdern Hopper ge- seinerzeit stark an jegli- spielten Saxophone. Die Improvisation entwickelt sich chem Nonsense interes- nicht mit Bezug zu dem Vorangegangenen, sondern stellt siert, also auch an Dada, etwas Eigenes dar, das mit anderen, komponierten Teilen an Monty Python, Marty vereinigt wurde. Auch eine zweite, allerdings kürzere Feldman, an Gerard Improvisation Hugh Hoppers auf dem Altsaxophon Hoffnung und eben an Pataphysik. In dem Be- wirkt wie ein Zitat aus einer anderen musikalischen atles-Song »Maxwell’s Sil- Welt: Über einem durchgehenden Beat beginnt er sein ver Hammer« nahm Paul Solo in der Manier eines Free-Jazz-Musikers. McCartney Bezug auf Pa- Der unterschiedliche Charakter der ersten vier Alben taphysik, in dem er die von Soft Machine beruht beinahe ausschließlich auf den dann gemeuchelte Joan unterschiedlichen Interessen der jeweils beteiligten Musi- Pataphysik studieren ließ. ker: »The Soft Machine« (1968) ist zwar das Ergebnis ei- McCartney hatte sich mit ner Gruppenarbeit – alle Musiker hatten ihren Anteil an Wyatt ausgetauscht, der den Kompositionen und waren an Zusammenstellung zur gleichen Zeit wie Mc- der Kompositionen beteiligt –, offensichtlich aber, dass Cartney für Soft Machine Kevin Ayers eine zentrale Rolle einnahm. Die aber auch in den Abbey-Road Wyatt für sich beanspruchte. »Volume Two« (1969) prä- Studios aufnahm. sentierte dann die Musik, die Wyatt, Ratledge und der für Ayers in die Band gekommen Hugh Hopper gemein-

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sam zustande bringen konnten – nun aber mit deutli- chem Übergewicht des Anteils von Robert Wyatt. Keine Frage, dass »Volume Two« mit Blick auf den Canterbury Rock mit seiner Mischung von Psychedelic Rock, Jazz, King Crimson, Dada und offensichtlichem Nonsense das Album ist, das den Ruf der Band als Teil der Canterbury Scene überzeugend rechtfertigen kann. Schon mit »Third« (1970) gelang diese Balance nicht mehr, und »Fourth« (1971) ist die mit dem Vorgänger angebahnte Hinwendung zum Jazzrock, der zwischen dem Jazzrock eines Miles Davis, Free Jazz und dem Jazzrock von Chi- cago oszilliert; Wyatt war daran noch mit bemerkens- wertem Schlagzeugspiel beteiligt, seinen Gesang aber mochte man in diesem Umfeld von Jazzmusikern – De- an, Roy Babbington, Mark Charig, und waren an den Aufnahmen beteiligt, allesamt gestandene Jazzmusiker – nicht mehr hören. Die Bemer- kung auf seinem ersten eigenen Album, »The End of an Ear« (1970), »Out of Work Pop Singer (Currently on drums with Soft Machine)«, war ebenso ironisch wie bitter: Er fühlte sich nur noch als Session-Musiker.

Caravan

Das erste Album von Caravan wurde zwar etwas früher als das erste von Soft Machine veröffentlicht, die Auf- nahmen dazu hatten aber später stattgefunden, im Som- mer 1968; Soft Machine war im April in New York im Studio gewesen. Die Karriere von Caravan schien zu- nächst nicht so leicht in Gang kommen zu wollen wie die von Soft Machine: Während Soft Machine in den USA mit der Jimi Hendrix Experience auf Tournee war, durften die Musiker von Caravan das in England ver- bliebene Equipment von Soft Machine nutzen, lebten zeitweise aber in Zelten und probten in Feversham – ei- nem kleinen, wenige Kilometer nordwestlich von Can- terbury gelegenen Ort –, in der Graveney Hall. Andererseits aber gelang es der Band dann doch recht

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schnell, einen Plattenvertrag zu bekommen: Verve Re- cords wollte auf dem Markt der Rock- und Popmusik aktiv werden und suchte nach Bands. Eine davon war Caravan und damit die erste britische Band, die von ei- nem US-amerikanischen Label unter Vertrag genommen wurde. Das Engagement von Verve war nur von kurzer Dauer, reichte aber aus, Caravan ein wenig bekannt zu machen; später übernahm MGM das Album von Verve 18In den Liner Notes zu und veröffentlichte es 1972 noch einmal.18 dieser Ausgabe des Natürlich fordern die Alben der beiden Bands, »The Soft Albums wird der Begriff Machine« und »Caravan«, den Vergleich geradezu heraus, »Progressive Rock« expli- immerhin waren die meisten Musiker dieser beiden zit für die Musik von Ca- Bands zu verschiedenen Zeiten Mitglieder der Wilde ravan verwendet, eines Flowers. Auf den ersten Blick scheint der Vergleich nicht der frühen Beispiele für ganz fair: Soft Machine war mit Mike Ratledge, Kevin die Existenz des Begriffs. Ayers und Robert Wyatt ein Orgeltrio, während die Be- setzung von Caravan mit Gitarre, Keyboards – noch stand die Orgel im Zentrum der in der Rockmusik ver- wendeten Tasteninstrumente –, Bass und Schlagzeug die typische Ende der 1960er-Jahre war. Bei Caravan hielt sich der Gitarrist Pye Hastings indes sehr zurück, er spielte beispielsweise nicht solistisch, sondern betätigte sich ausschließlich als Rhythmusgitarrist. So rückte der Keyboard-Spieler Dave Sinclair in den Vordergrund. Im Gegensatz zu Ratledge spielte er eine Hammond-Orgel, verwendete aber wie Ratledge die seinerzeit für Gitarris- ten gängigen Effektgeräte wie Fuzz Box und Wahwah- Pedal. Im Klangbild unterschieden sich die Bands also nicht allzu sehr. Bis auf den Gesang. Sänger bei Caravan waren Richard Sinclair, Pye Hastings und Dave Sinclair. Vor allem der Gesang Richard Sinclairs prägte die Musik von Caravan und des Canterbury Rocks überhaupt. Nicht zuletzt aufgrund des Gesangs Hastings und der Sinclairs wirkt die Musik der Band ruhiger, ausgeglichener und auch ein wenig konventioneller als die von Soft Machine. In der Faktur der einzelnen Komposition ist sie ihr aber äußerst ähnlich. Ein Beispiel bietet gleich das erste Stück der ersten LP,

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»Place of My Own«. Die Komposition ist insgesamt et- wa vier Minuten lang, es gibt eine Art »Vorlauf« von ei- ner Sekunde.

00:00 – 00:01 Stille 00:01 – 00:15 Einleitung 00:15 – 00:55 Verse 1 (4+4 Takte), Chorus (4+4 Takte), Überleitung (2 Takte) 00:55 – 01:32 Verse 2 (4+4 Takte), Chorus (4+4 Takte), Überleitung (2 Takte) 01:32 – 02:43 Orgel-Solo; Übergang zu Intermezzo 02:34 – 03:07 Intermezzo 03:07 – 03:46 Chorus (4+4 Takte) 03:46 – 04:00 Ausleitung

Das gesamte Stück steht zwar in f-Moll, erfährt aber je- weils im Chorus eine Aufhellung nach Dur. Text und Musik entsprechen sich also, denn im Chorus besingt der Protagonist den Vorzug des ihm eigenen Platzes, den er gefunden hat. Der Chorus folgt auf den instrumenta- len Mittelteil noch zweimal, jeweils in Steigerung zu de- nen im ersten Teil des Songs - lauter und instrumental breiter,wie sich der gesamte Song im Laufe der vier Mi- nuten sich dynamisch entwickelt und erst in der Auslei- tung wieder ruhiger wird. Hastings Gesang ist offensichtlich bewusst einfach ge- halten, im Grunde wird nur ein melodisches Motiv dem Text entsprechend – Hastings singt durchweg syllabisch – mehrfach variiert, hier die ersten vier Takte des Ge- sangs, die quasi als Modell dienen:

Im instrumentalen Mittelteil dominiert zwar zunächst die Orgel, Dave Sinclair improvisiert über einem zwei- taktigen Wechsel zwei Harmonien, die vornehmlich von der Gitarre Hastings’ getragen werden, im Verlauf dieses Teils übernimmt aber der Gitarrist die Führung und rei-

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chert die Harmonik an. Der hier als Intermezzo be- zeichnete Abschnitt wirkt wie eine freie Fantasie, das bis hier gültige Tempo wird völlig herausgenommen, bis der dritte Chorus, zunächst verhalten, einsetzt. Das Orgelsolo Dave Sinclairs ist zwar sicherlich keine Improvisation im Sinne einer Ad-Hoc-Erfindung des Musikers, geht aber über den in der Rockmusik üblichen instrumentalen Solo-Verse hinaus und zeigt den Gestus einer Improvisation. Sinclair verwendet hier möglicher- weise eine elektronische Orgel, wenn auch eine Ham- mond-Orgel – dann ohne Leslie – diesen Klang ebenfalls erzeugen könnte; in »Place of My Own« ist auch nicht der typische, verzerrte Orgelklang späterer Alben von Caravan zu hören, Sinclair favorisiert hier einen durch- aus konventionellen, klaren Klang. Aber ist das Jazzrock? Der instrumentale Abschnitt ba- siert auf nur zwei Harmonien, ist also in ganz ähnlicher Weise konstruiert wie der Improvisationsteil von »Pris- cilla« und in der Tat im Jazz nichts Außergewöhnliches. Wollte man einen Vergleich zu genuinem Jazz ziehen, käme beispielsweise »Frelon Brun« in der Fassung von 19Miles Davis: Filles de Miles Davis in Frage.19 Herbie Hancock geht in seiner Kilimanjaro (1968) Improvisation indes weit radikaler zu Werke, bezieht beispielsweise die Rhythmik in seine akkordische Beglei- tung ein. Man muss Dave Sinclair zugute halten, dass er in seinem Leben nur wenige Stunden Klavierunterricht erhalten hatte und sich das Spiel der Orgel auf autodi- daktischem Wege aneignete. Zum Zeitpunkt der Auf- nahmen zum ersten Album fehlte es ihm also noch an Erfahrung, denn er spielte erst wenige Jahre Orgel. In kurzer Zeit allerdings entwickelte er sich neben Dave Stewart zu dem Organisten des Canterbury Rocks schlechthin. Die Alben von Soft Machine und Caravan, die 1968 ver- öffentlicht wurden, zeigen beide noch die Unentschlos- senheit der Bands, in welche Richtung sie mit ihrer Musik gehen wollten. Schon die nächsten Alben aber lie- ßen die unterschiedlichen Ambitionen der Musiker deutlich werden: Soft Machine wandte sich bald einem

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kompromisslosen Jazzrock zu, Caravan dagegen ver- suchte, den Anschluss an die »großen« Bands des Pro- gressive Rocks zu halten, Jazz war nur eines von vielen Stilelementen. Innerhalb der Musik waren die Versuche der beiden Bands, Jazz und Rock miteinander zu verbinden, nicht einzigartig: Frühere Versuche gab es sowohl in den USA wie auch in Großbritannien, in den USA etwa von Gary Burton und Larry Coryell, in Großbritannien etwa in Blues Bands wie Cream, John Mayall’s Bluesbreakers und später Colosseum. Ende der 1960er-Jahre wurden in den USA Bands wie The Electric Flag, Chicago und Blood, Sweat & Tears gegründet, Bands, deren Vorbild weniger in den Combos des Jazz zu suchen sind als in den R & B-Bands von Stax. Jazz ist bei diesen Bands nur punktuell zu finden, dann aber – wie etwa in »Poem 85« von Chicago, später in »It Better End Soon« und noch später in »Sing A Mean Tune Kid« – in einer durchaus radikalen Ausformung, die in den frühen Alben der Canterbury-Bands nicht zu finden ist.20 20The Chicago Transit Die späteren Bands des Canterbury Rocks bewegten sich Autority: The Chicago ebenfalls in diesem Spannungsfeld zwischen Progressive Transit Authority (1969) Rock und Jazzrock, das Konzept wurde verfeinert und ▪ Chicago: Chicago ausformuliert und fand in der Musik von Bands wie (1970) ▪ Chicago III Hatfield and The North und National Health eine Art (1971) Festschreibung. Obwohl innerhalb der Behauptung, es gäbe einen Canterbury Rock, auch Anderes möglich war.

Henry Cow

Die Musik von Henry Cow beispielsweise ist nur be- dingt mit der von Soft Machine, Caravan, Hatfield and the North oder National Health zu vergleichen; die Mu- siker stehen der Vereinnahmung durch Presse und Fans auch eher ablehnend, allemal aber indifferent gegenüber. Die Musik von Henry Cow ist alles Andere als einheit- lich, die Band erfuhr innerhalb weniger Jahre einschnei-

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dende Umbesetzungen. Erst wurde die Holzbläserin Lindsay Cooper Mitglied, dann die Sängerin Dagmar Krause. Beide Musikerinnen sorgten für erhebliche Ver- änderungen der Musik der Band, die in ihrer grundsätz- lichen Ausprägung aber nicht verändert wurde: Bei Henry Cow stehen weder Jazz noch Rock noch traditio- nelle Kunstmusik im Vordergrund, nicht vokale und auch nicht ausschließlich instrumentale Musik. Im Nachhinein betrachtet, ist es dieses Schwanken zwi- schen dem Eindruck der Geschlossenheit nach außen und den Konflikten im Inneren der Band, die es schwer machen, von einer Band im Sinne einer »normalen« Rockband zu sprechen. Die ersten drei Alben beispiels- weise kamen in einem Cover auf den Markt, das jeweils die Variation einer Idee darstellt – diese drei LPs steck- ten in den »Covers mit der Socke«. Der Entwurf stamm- te von Ray Smith, die Ausführung wurde für »Unrest« und »« jeweils von anderen über- nommen. Für die ersten Veröffentlichungen einer Band war es in den ausgehenden 1960er- und dann den 1970er- Jahren durchaus üblich, dass ein Entwurf für wenigstens die ersten beiden LPs herhalten musste, manchmal auch für weitere. Beispiele bieten etwa die Covers der LPs von The Beatles, Chicago (besonders ab »Chicago«, 1970), The Police, HiFi und zahllosen anderen. Dieser Äußerlichkeit stand die innere Ambivalenz der Musikergruppe gegenüber. Im Kern bestand Henry Cow im Frühjahr 1973 aus dem Gitarristen Fred Frith, dem Saxophonisten und Keyboards-Spieler Tim Hodgkinson, dem Saxophonisten Geoff Leigh, dem Bassisten John Greaves und dem Schlagzeuger Chris Cutler. Im Um- kreis der Band war aber auch schon die Holzbläserin 21Die 1991 veröffentlichte Lindsay Cooper gegenwärtig, die indes auf dem Cover CD des Albums enthält von »Unrest« (1973) nicht genannt wird, weil sie an den gegenüber der LP zwei Aufnahmen zu den auf der LP vertretenen acht Kompo- weitere Kompositionen, sitionen nicht beteiligt war.21 Außerdem nennt das Co- an denen Cooper ver noch Jeremy Baines – er spielte ein Pixiphone, ein in mitwirkte. der Musikpädagogik gängiges, kleines Metall-Stabspiel – und einen Background-Chor, zu dem Sarah Greaves,

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Maggie Thomas und Cathy Williams gehörten. Inter- essant ist der Vollständigkeit halber, dass das Cover auch mehrere Danksagungen, so an Lady June und an John Peel addressiert, präsentiert; zumindest über den Namen Lady June ist eine Verbindung zur Canterbury Scene ge- geben. Ein Jahr später, 1974, hatte Leigh die Band verlassen und Lindsay Cooper war für »Unrest« ordentliches Mitglied von Henry Cow geworden. Diese Neubesetzung ver- änderte den Gruppenklang erheblich, zumal die Musiker auf zusätzliche Instrumentalisten verzichteten. Auch diese LP enthält mit einem Dank an Robert Wyatt einen Hinweis auf die Canterbury Scene. Die Band Henry Cow wurde aber erst zu Henry Cow, als die Sängerin Dagmar Krause als Mitglied in die Band kam. Die Vorgeschichte dazu ist recht kompliziert, denn bevor sich die Besetzung mit Dagmar Krause konsolidie- ren konnte, gab es die Doppel-Band Henry Cow/Slapp Happy. Slapp Happy war ein in gegründetes, auch für die damalige Rock- und Popmusik völlig unty- pisches Trio, eigentlich keine vollständige Band. Ge- meinsam veröffentlichten die beiden Bands zwei Alben, zunächst im März 1975 »« unter der Band-Bezeichnung Slapp Happy/Henry Cow, im Mai 1975 »In Praise of Learning« unter Henry Cow/Slapp Happy. Beide Covers unterschiedlich – »In Praise of Learning« aber wieder im »Socken-Design«. Ersteres Album gilt als das, bei dem Slapp Happy im Zentrum stand, das zweite als das, bei dem Henry Cow zuvörderste genannt sein wollte; entsprechend austariert 22Slapp Happy wird bei- ist auch die Beschriftung der LP-Covers.22 Bei den Auf- spielsweise im Falle der nahmen zu »Unrest« (1974) war Cooper dann zwar fes- Ausgabe von »In Praise of tes Mitglied der Band, dafür fehlte nun Geoff Leigh, also Learning« von LTM nur ein »obligater« Saxophonist – wieder änderte sich der auf der Kante des Covers Klang der Gruppe. genannt; auf der Vorder- Mit dem Klang der Band fest verbunden ist aber vor al- seite ist nur Henry Cow genannt, als Produzenten lem die LP »In Praise of Learning«, und dies wegen des des Albums H. Cow/S. Gesangs von Dagmar Krause. Die Besetzung mit Dag- Happy/P. Becque mar Krause, Frith, Hodgkinson, Cutler und Greaves gilt

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als die »klassische« Besetzung, wenn auch vielleicht nicht ganz in dem Sinne, in dem Deep Purples Mark-II-Beset- zung mit David Coverdale und Roger Glover oder die der Gruppe Yes mit Rick Wakeman, Jon Anderson, Ste- ve Howe, Bill Bruford und Chris Squire als die »klassi- schen« Besetzungen der Bands angesehen werden. »In Praise of Learning« war eines der zwei Ergebnisse, die nach dem Zusammenschluss der Bands Slapp Happy und Henry Cow zu kaufen waren; »Desperate Straights«, 1975 kurz vor »In Praise of Learning« veröf- fentlicht, das andere. Peter Blegvad und Anthony Moore hielt es nicht in der Band, einzig Dagmar Krause blieb. Sie hatte bei The City Preachers die Möglichkeit einer zumindest in Teilen politisch ausgerichteten Popmusik kennen gelernt; »Polit-Rock« war seinerzeit das Schlag- wort. Bei Henry Cow traf sie damit auf Gemeinsamkei- ten. Mehr noch: Mit Inga Rumpf hatte sie unter dem Titel »I.D. Company« eine LP aufgenommen und ihren Part an dem Album auch mit einigen vokal-tontechni- schen Experimenten versehen. Bei Henry Cow fand sie die an einer Musik zwischen Rock, Jazz und eben mo- derner Musik im Sinne etwa Igor Strawinsky, Béla Bar- tók, mehr noch aber und interessierten Musiker, die instrumentaltechnisch auch in der Lage waren, eine derartige Musik überhaupt er- zeugen zu können. »War«, gleich das Stück, mit dem »In Praise of Learning« eröffnet wird, präsentiert dem Hörer eben diese Mi- schung: Ein politischer Text, eine angedeutete Songstruktur, Gesang im Sinne der Komposition von Weill – Krause singt englisch mit betont deutschem Ak- zent und grotesk schnarrendem R – und etwas Ensem- ble-Jazz, aber auch mit zwei Einschüben in einer »Dada«-Haltung: Es klingt wie Hundegebell, wurde aber vokal von Mitgliedern der Band hervorgebracht. Und es gibt eine Reminiszenz an Jimi Hendrix’ Fassung der US- amerikanischen Hymne, die er seinerzeit in Verzerrun- gen, Schlachtenlärm und Sirenengeheul zerfaserte. Bei Henry Cow ist es das Kreischen von Becken.

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»War« ist zwar nur 2 Minuten und 24 Sekunden lang, es zeigt aber alle Kennzeichen der in diesen Jahren belieb- ten Rock-Suites. Mehr noch gilt dies für »Living in the 23Grundlage der skizzier- Heart of the Beast«, eine mehr als 15 Minuten dauernde ten Transkription war die Komposition von Tim Hodgkinson. Mit derartigen LP »In Praise of Lear- Kompositionen – von denen die Band mehrere aufzu- ning«, LTM. 1010. »Li- weisen hat – ließe sich die Ansicht untermauern, dass ving in the Heart of the Henry Cow eine Progressive-Rock-Band ist und dass sie Beast« wurde digitalisiert. Teil des Canterbury Rocks ist. Letzteres beruht fast al- Die Tonhöhen sind nicht exakt, sondern teilweise lein auf dem Gesang Dagmar Krauses. Wie bei einigen geringfügig tiefer. ▪ LTM Songs Caravans besteht auch hier die Melodie des Ge- ist die Abkürzung von sangs nicht aus griffigen »Hooks«, basierend auf einem Les Tonton M’Ecoute- geringen Ambitus, sondern aus einer durchkomponier- ment. Es handelte sich ten Stimme, der sich immer wieder unisono ein Instru- dabei um ein französi- ment, mal der Bass, mal die Gitarre, hinzugesellt. Der sches Label mit Sitz in Ambitus dieser Gesangsstimme ist relativ groß, einige Paris, das nur für kurze Intervallsprünge von durchaus unüblicher Größe ma- Zeit bestand und Alben chen es dem Hörer unmöglich, aus dieser Melodie etwas von Clearlight, Gong, zu erkennen, was er leicht »mitsingen« könnte – diese Planet Gong, Magma und Musik verweigert sich dem, was der Popmusik-Hörer er- eben Henry Cow über- wartet. nahm und veröffentlichte. Die beiden einleitenden Zeilen von »Living in the Heart Das nur neun Alben um- of the Beast« fassende Repertoire wur- de später von Celluloid Situation the rules your world (despite all you’ve said) übernommen. I would strike against it but the rules displaces..... werden von Dagmar Krause etwa wie folgt gesungen:23

Sie singt den Text – der auf dem Cover der LP abge- druckt ist – syllabisch, die im Text in Klammern gesetz-

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ten Worte sogar fast melodramatisch, also im Sprechge- sang. Es gibt in der gesamten Komposition aber auch durchaus konventionellen Gesang, wenn auch nur selten den Wohlklang, den – um beim Beispiel Caravan zu bleiben – Richard Sinclair erzeugt. Und erst recht ist dieser Gesang weit von dem etwa eines Jon Andersons, Greg Lakes oder John Wettons entfernt – diese ästhetische Prämisse des Progressive Rocks, den wenigstens gefälligen Gesang, erfüllen Dagmar Krause und Henry Cow sicher nicht. »Living in the Heart of the Beast« ist wie »War« ein politischer Song, wenn auch das Wort »Song« hier fehl am Platz ist, es ist als Ganzes eine auf Reihung beruhende Komposition, in der diverse eigentlich disparate Musik eingesetzt wird. Die Arbeit an der Komposition verlief etwas zäh: Hodgkinson hatte bereits 1974 einen ersten Entwurf, seinerzeit noch ein Instrumentalstück, den anderen Mitgliedern der Band vorgestellt, dieses Fragment wurde durch Teile erweitert, die der Improvisation vorbehalten waren; in dieser Form spielte die Band »Living in the Heart of the Beast« im Konzert und es wurden im Herbst 1974 auch Aufnahmen angefertigt; der Titel war zu dieser Zeit noch nicht recht festgelegt, mal wurde die Komposition »Halsteren«, mal »Groningen« genannt, jeweils nach den Orten, in denen die Band Hodgkinsons Komposition 24Diese gescheiterte Zu- gespielt hatte. Nachdem Henry Cow und Slapp Happy sammenarbeit von zwei ihre Zusammenarbeit aufgenommen hatten, bat Mitgliedern der beiden Hodgkinson Peter Blegvad, einen Text zu »Living in the Gruppen dürfte ein we- Heart of the Beast« zu schreiben. Blegvad sah sich nach sentlicher Grund für das mehreren Versuchen außerstande, Hodgkinsons Ende von Slapp Happy Vorstellung – der allemal einen politischen Text gewesen sein. Siehe dazu erwartete, – gerecht zu werden und Hodgkinson schrieb auch: http://en.wikipe- den Text schließlich selbst.24 dia.org/wiki/Li- Die Komposition wuchs im Laufe der Zeit. Aus der In- ving_in_the_Heart_of_th strumentalkomposition mit integrierter Möglichkeit zur e_Beast (zuletzt abgerufen Improvisation wurde, nach dem Zusammenschluss von am 24.7. 2014) Henry Cow und Slapp Happy, ein größerer Zyklus, eine Suite, wie sie dem Wesen nach – nicht im Detail – beina-

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he jede Band des Progressive Rocks im Repertoire hat. »Living in the Heart of the Beast« ist insgesamt etwas über 16 Minuten lang; die Aufnahme von der LP LTM.1010 dauert – digitalisiert, danach ausgemessen in einem Audio-Editor – exakt 16 Minuten und drei Se- kunden. Auf der Platte selbst ist eine Dauer von 15 Mi- nuten und 30 Sekunden angegeben. Formal ist »Living in the Heart of the Beast« in drei größere »Bereiche« gegliedert, der erste, quasi deklama- torische Teil, reicht bis zu der Textzeile

... we shall harrow your signs

Auf diese folgen vier relativ gleichartige Strophen, die wie die Strophen eines Marschliedes wirken und instru- mentiert sind. Die Strophen werden von Dagmar Krause gesungen; es folgen fünf weitere Strophen, ausschließlich instrumental. »Living in the Heart of the Beast« hat kei- nen eigentlichen Schluss, sondern wird allmählich ausge- blendet, so dass der Eindruck einer sich allmählich entfernenden »marschierenden Gruppe« entsteht. Der interessantere Teil ist ohne Zweifel der erste. Die Komposition ist frei, es gibt keine Wiederholungen, der Gesang Dagmar Krauses folgt keinem Schema, die In- strumentation wechselt ständig, mit ihr häufig auch Me- trum und Tempo. Eröffnet wird »Living in the Heart of the Beast« mit dem verzerrten Klang einer elektrischen Gitarre, der sich der elektrische Bass anschließt. Ab etwa 0:15 beginnt der frei gestaltete Gesang Dagmar Krauses. Mit Eintritt der Singstimme ändert sich die Instrumen- tierung radikal: Zu hören sind nunmehr Drum Set, Kla- vier, Gitarre und Bass, es wird ein leiser, monophoner, elektronisch erzeugter Ton eingefügt. Noch innerhalb der ersten Minute »beruhigt« sich der furiose Beginn, bis schließlich für Momente – etwa bei 01:02 - nur die Sing- stimme, Klavier und Bass zu hören sind. Auch der Ge- sang Krauses ist nunmehr cantabler als zu Beginn der Komposition, es bleibt aber bei der grundsätzlichen De- klamatorik, bis etwa bei 01:21 der Gesang von der Stim-

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me der elektrischen Gitarre – mit derselben Klangein- stellung wie zu Beginn von »Living in the Heart of the Beast« – abgelöst wird. Bei 01:30 ist diese Episode des ersten Teils der Komposition beendet – radikal mit einer Generalpause von etwa vier Sekunden Dauer. Der Kontrast zum Folgenden könnte kaum größer sein: Auf die Generalpause folgt ab 01:34 ein zunächst aus- schließlich instrumentaler, quasi »spätromantisch« be- stimmter Teil, ein Wechselspiel zwischen Klavier, Bass und Gitarre, und erst ab etwa 01:51 setzt erneut Dagmar Krauses Gesang ein, das Schlagzeug folgt ab etwa 02:10. In der Anlage ähnelt dieser Teil zunächst dem bereits be- schriebenen ersten, doch wird ab 02:21 der Gesang von Dagmar Krause vervielfältigt, teils in drei getrennten Stimmen geführt, teils unisono. Bereits bei 02:36 endet dieser synthetische Chorgesang, und der Instrumental- klang verbreitert sich. Es ist nicht ganz klar, welche Instrumente hier verwen- det werden, der Klang jedenfalls erinnert an tiefe Blech- blasinstrumente, wurde aber wohl mit elektrischer Gitarre, elektronischer Orgel und elektrischem Bass er- zeugt; Bass und Gitarre wurden jeweils wohl auch mit einem Verzerrer verbunden. Dieser instrumentale Ein- schub dauert bis 04:17, die einzelnen, oft nur Sekunden dauernden Partikel sind hinsichtlich Tonalität, Rhyth- mik, Metrik und Instrumentation strikt voneinander unterschieden, werden aber blockartig nebeneinander gestellt, ohne jeden Bezug zueinander. In diesen Parti- keln werden weitere Instrumente verwendet, so Xylo- phon und diverse Holzblasinstrumente, etwa Klarinetten. Auch in dem sich an diese Bruchstücke von Musik an- schließenden weiteren von Dagmar Krause gesungenen Text, von »Clutching sleeves...« bis »...hunting the eye of his own storm« bleibt die grundsätzliche Arrangier- Technik erhalten, das Klavier agiert unisono zum Ge- sang, während Bass, Schlagzeug, Orgel und vereinzelt auch Holzblasinstrumente weitere individuelle Stimmen anfügen, so dass es hier und da immer wieder zu Bewe-

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gungen im Kontrapunkt kommt. Auch auf diese Ge- sangsepisode folgt eine Serie von Bruchstücken, ein jedes unterschiedlich instrumentiert. Die Episode mündet in ein in sich versunkenes Spiel – einstimmig über einem Orgelpunkt – auf der elektronischen Orgel, das von drei Doppelschlägen auf einer Tom-Tom beendet wird. Nach einer erneuten, dieses Mal drei Sekunden dauern- den Generalpause tritt wieder Dagmar Krauses Gesang auf, unisono zur elektrischen Gitarre. Bass, Schlagzeug und Orgel treten hinzu, es ergibt sich hier zum ersten Mal der Eindruck von noch einigermaßen konventionel- ler Rockmusik, bis der mehr deklamierte als gesungene Text in einen Tritonussprung auf ein laut und schrill ge- sungenes f2 mündet; erst nach fast vier Sekunden Verhal- ten auf diesem Ton fällt Krauses Gesang auf d2 ab. Der Text zu diesem Ton besteht aus dem einzigen Wort »fear«. Dieses Wort »fear« bildet ohne Zweifel den Höhepunkt dieses Abschnitts, doch folgt noch weiterer Text. Aufs Neue wird Dagmar Krauses Gesang unisono mal von diesem, mal von jenem Instrument begleitet – beteiligt sind hier wieder nur elektrische Gitarre, Orgel, elektri- scher Bass, Klavier und Schlagzeug –, bis bei 07:13 der Gesang aussetzt und nur Bass, Gitarre und Orgel zu hö- ren sind, die in großen Notenwerten in den zweiten Be- reich der Suite überleiten. Bei 07:56 setzt Fred Frith mit der Violine ein und into- niert ein getragenes Thema, das tatsächlich teilweise aber schon ab 07:13 in dem leisen Orgelspiel zu hören ist:

Ab 09:07 verdichtet sich das Intermezzo von Violine, Orgel und Bass, perkussive Geräusche, die bis dahin im Hintergrund bleiben, treten in den Vordergrund, bis ab etwa 10:05 die bis dahin eher leise Musik in Hardrock umschlägt: elektrische Gitarre, elektrischer Bass, Schlag-

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zeug. Dieser kurze Moment, der schon bei 10:52 wieder beendet ist, ist das einzige Detail in der gesamten Kom- position, das ohne Einschränkung als Rock bezeichnet werden kann. Wenn auch das Klangbild zwar an den ei- nes Power Trios vom Schlage Creams oder Led Zeppel- ins – diese 50 Sekunden sind ausschließlich instrumental gehalten – erinnert, aber nicht etwa an ein Riff gebun- den ist, sondern wie aus einer Improvisation ausge- schnitten und hier in »Living in the Heart of the Beast« transplantiert wurde – zu welchem Zweck auch immer. Nach 10:52 setzt wieder das leise Orgelspiel ein, das vor dem »Hardrock«-Ausbruch bestimmend war. Aber nur für kurze Zeit, von 10:52 bis 11:18, dann wechselt erneut die Instrumentation, der Bass, die Orgel und erneut die Violine mit einem flötenartigen Ton im Zentrum. Während Greaves einen Einzelton (C) in einem punktierten und synkopierten Rhythmus spielt, verharrt der Organist in einer ostinaten Figur. Ab 11:47 fügt sich zu der freieren Stimme der Violine ein weiteres Streichinstrument in das Ensemble ein, das einen 25Ohnehin ist die Auf- Kontrapunkt zu der Stimme der Violine ausführt; es ist nahme, die hier als LP nicht klar, welcher Art dieses Streichinstrument ist, der vorliegt, nicht sonderlich Tonlage nach müsste es ein Violoncello sein, doch weist durchhörbar; zu Beginn das Cover der LP dieses Instrument nicht aus.25 dieses Abschnitts bei- Der eigentliche zweite Hauptbereich des Zyklus beginnt spielsweise könnte die nach diesem verhaltenen Zwischenspiel bei 12:18. Dieser Orgelstimme auch von gesamte Abschnitt ist ein Marsch, folglich im Vier-Vier- einer Oboe (Lindsay tel-Takt gehalten. Zwar ließe sich der Gesang von Dag- Cooper) gespielt worden mar Krause wie auch die Bassstimme Greaves’ ohne sein. Einige Male ist ein weiteres im Zwei-Viertel-Takt notieren, das durchaus wohl auf einem Klavier leise gespielter Einzelton marschmäßige Spiel von Cutler – er setzt betont die Sna- im Bass zu hören; im Üb- re Drum ein – weist aber durch Art und Ort der Fill-Ins rigen sind Nebenge- auf einen Vier-Viertel-Takt hin. räusche fast ständig im Greaves spielt eine Art »Walking Bass« deutet aber nicht Hintergrund präsent und in der Art eines Jazzbassisten die zugrunde liegende einige laute Stellen kündi- Harmonie aus – dieser Abschnitt ist f-Moll – sondern gen sich durch Vorecho setzt in jeden Takt zwei halbe Notenwerte, und vermit- an. telt mit der von Ton zu Ton stufenweise ansteigenden

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Bassstimme den Eindruck des unbeirrbaren, »mächtigen Voranschreitens«:

Der Gesang Dagmar Krauses – sie singt vier Strophen – ist mit seinem gleichbleibenden Rhythmus und der kräf- tigen Betonungen auf den Zählzeiten Eins und Drei die- sem Voranschreiten angepasst:

Dazu passt auch der Text dieses Kampfliedes, hier der Beginn der ersten Strophe:

Now is the time to begin to go forward ...

Die Beharrlichkeit des Voranschreitens wird mit musi- kalischen Mitteln dargestellt, zeigt sich etwa in dem durch Rückungen erreichten Ansteigen der Musik wie in dem sukzessiven Übereinanderschichten von Instrumen- talstimmen, erst recht, als nach vier Strophen der Ge- sang Krauses endet und die gesamte Band fünf weitere Strophen ausschließlich instrumental ausführt. Dabei werden Bruchstücke aus der Basslinie wie aus der Ge- sangslinie von verschiedenen Instrumenten – beteiligt sind elektrische Gitarre, elektrischer Bass, Klavier, Schlagzeug, Violine, diverse Holzblasinstrumente, wohl auch mittels Tonbandtechnik vervielfältigt – für längere oder kürzere Zeit aufgegriffen, so dass sich für den Hö- rer der Eindruck eines stetig wachsenden Stromes ergibt. Was ist »Living in the Heart of the Beast« nun? Ist es Rockmusik? Ist es eine mit Elementen der Rockmusik spielende Kunstmusik? Zweifellos handelt es sich um ei-

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nen Zyklus, wenn man will und im Vokabular des Pro- gressive Rocks bleibt, eine Suite, wie sie im Progressive Rock in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre gang und gä- be waren. Bruchstücke von Songs werden durch instru- mentale Zwischenspielen miteinander verkettet, mitunter – und in dieser Komposition Hodgkinsons mehr als einmal – schnittartig aneinandergereiht, die In- strumentation wechselt häufig, mal präsentiert sich das Arrangement im Spaltklang, mal im beinahe symphoni- schen Zusammenklang. Und wenn »Living in the Heart of the Beast« in seiner formalen Reihung von Ereignis- sen sich nicht von Suiten wie beispielsweise »Tarkus« von Emerson, Lake & Palmer oder »Close to the Edge« von Yes unterscheidet, so ist die Instrumentierung weit von diesen Suiten entfernt – beispielsweise fehlen elek- tronische Klangerzeuger, die bei ELP oder Yes wie über- haupt im Progressive Rock jener Tage eine prominente 26Emerson, Lake & Pal- Rolle spielten.26 Es drängen sich natürlich diverse Ver- mer: Tarkus (1971) ▪ Yes gleiche auf, zur Musik Béla Bartóks oder Igor Strawins- (1972) kys, Frank Zappas und selbst Led Zeppelins, dies alles gepaart mit politischen Texten – »In Praise of Learning« erfüllt natürlich die für ein Konzept-Album geltenden Kriterien. An der konventionellen Rockmusik und de- ren Hörer der ersten Hälfte der 1970er-Jahre ging diese Musik indes völlig vorbei, wurde schlichtweg nicht als Rockmusik wahrgenommen und mit begrifflichen Krücken wie »Avantgarde Rock« oder »experimenteller Rock« versehen – sicherer Hinweis für viele Rockhörer, die Existenz dieser Musik einfach zu ignorieren.

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Erfolg

Das Reizwort der Rock- und Popmusik ist »Erfolg«. Es gibt kaum einen Text zur Rock- und Popmusik, der oh- ne das Wort auskommt und natürlich findet sich das Wort mehrfach auch in diesem Buch. Gemeint ist in al- ler Regel der kommerzielle Erfolg, der sich an Goldenen Schallplatten und damit an Verkaufszahlen ablesen lässt. Wobei schon die Verkaufszahlen – wenn sie überhaupt bekannt gegeben werden – mit Vorsicht zu betrachten sind. Ist die Schallplattenindustrie schon äußerst ver- schwiegen, wenn es um absolute Verkaufszahlen, Umsät- ze, Gewinne und gezahlte Honorare geht, so werden auch Rockmusiker einsilbig, wenn es um Geld geht, wel- ches sie eventuell bekommen haben. Die Canterbury Scene als relativ kleiner und noch eini- germaßen überschaubarer Bereich der Rockmusik stand immer wieder mal im Focus des Interesses von Journalis- ten und mehr noch seiner Fans. Es gibt eine ganze Reihe von Zeitschriftenartikeln, Beiträgen zu Büchern, wissen- schaftlichen Arbeiten, Websites und weiteres mehr zu der Musik der Canterbury Scene, so dass der unvorein- genommene Betrachter zu dem Schluss kommen könnte, es hier mit einer mächtigen und seinerzeit recht bedeu- tenden Strömung nicht nur innerhalb der britischen Rockmusik zu tun zu haben. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall. Bis auf Soft Ma- chine und Caravan blieben die anderen Bands, die der Canterbury Scene zugerechnet werden, einem größeren Publikum unbekannt. Rockhörer sahen in den 1970er- Jahren Soft Machine als reine Jazzrock-Gruppe an, die weitab im Schatten der amerikanischen Jazzrock-Bands und selbst in dem von britischen wie Brand X stand. Ca- ravan wurde weit mehr als Progressive-Rock-Band ange- sehen denn als Jazzrock-Band. Die meistverkaufte Platte der Band, »In the Land of Grey and Pink« (1971), ist auch gleichzeitig die einzige der gesamten Canterbury

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Scene, die mit Gold ausgezeichnet wurde. Damals waren in Großbritannien 100 000 verkaufte Schallplatten das Maß für die Verleihung einer Goldenen Schallplatte, »In the Land of Grey and Pink« benötigte zehn Jahre, um 27Nach Aussage des diese Zahl zu erreichen.27 Dabei waren die Platten von polnischen Jazz- Soft Machine und Caravan leicht in jedem auf Rock spe- Violinisten Michał zialisierten Schallplattenladen zu bekommen – im Ge- Urbaniak ist das eine gensatz zu denen der anderen Bands der Canterbury Menge, die in den USA Scene. Meist war es Glückssache, eine LP von Henry seinerzeit als unterste Cow, Art Bears, Robert Wyatt oder Hatfield and the Grenze galt: »Ab 100 000 North zu bekommen. Die Mailorder-Versender boten verkauften Platten wird zwar immer wieder mal die eine oder andere LP an, sys- man in den USA für eine tematisches Sammeln aber war fast unmöglich. Es ist ein Plattenfirma interessant. Das ist das Minimum«; Treppenwitz der Rock-Historie und mehr noch der zitiert nach: Jost, Schallplattenindustrie, dass heutzutage, 40 Jahre später, Ekkehard: im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, die Musik Sozialgeschichte des Jazz; fast der gesamten Canterbury Scene leichter und voll- Frankfurt/Main 1982; S. ständiger zugänglich ist als zur Zeit ihres Entstehens. 229 Vieles, was die Bands seinerzeit aufgenommen hatten, wurde zunächst nicht veröffentlicht. Seit den 1990er-Jah- ren haben einzelne Musiker begonnen, ihre alten Auf- nahmen zu sichten und entweder selbst zu veröffentlichen – so etwa Chris Cutler und Fred Frith – oder aber sie einem Label zu geben; vieles ist bei Voice- 28Siehe dazu auch: print Records erschienen. Dazu passt, dass den Musikern http://www.marmalade- entweder gar nicht gesagt wurde, wie gut sich eine LP skies.co.uk/caravan.htm verkaufte, oder aber ihnen eine falsche Zahl genannt (Abgerufen am 4.5. 2014) wurde; mitunter waren die Musiker auch gar nicht so genau an dem »business thing« interessiert.28 Es gab nur zwei Konsequenzen: Sich zumindest zeitwei- se aus der Musik zurückzuziehen – diese Weg gingen ei- 29Recommended Records, ne ganze Reihe von Musikern der Canterbury Scene, gegründet von Chris von Richard Sinclair bis Peter Blegvad – oder aber die Cutler, besteht trotz eigene Sache selbst in die Hand zu nehmen. So gründe- einiger Metamorphosen ten die Musiker von Henry Cow ein eigenes Label und seit 1978; Fred Frith einen Vertrieb.29 Das machte sie zwar unabhängig von gründete ebenfalls ein der etablierten Musikindustrie, brachte ihnen aber nicht eigenes Label, so auch unbedingt mehr Geld ein. Dave Stewart. Zumal der Zeitaufwand natürlich nicht unbeträchtlich

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ist und dem Bestreben eines Musikers, vor allem an sei- ner Musik zu arbeiten, zuwiderläuft. Es ist zudem noch nicht bewiesen, dass ein Musiker in Personalunion auch ein Verkäufer sein kann. Der zumindest zeitweise Rückzug einiger Musiker aus dem Dasein als professioneller Musiker zeigt, dass die Canterbury Scene zu der Zeit, als der Begriff geprägt wurde, semiprofessionell war und selbst einige ihrer Protagonisten auf andere Weise ihren Lebensunterhalt verdienten als mit Musik: Richard Sinclair arbeitete als Zimmermann, Richard Coughlan betrieb nacheinander einige Pubs, Peter Blegvad – vielseitig begabt – arbeitete als Cartoonist, Clive Brooks war jahrelang der Drum- Tech unter anderem für Pink Floyd, Mark Hewins der Guitar-Tech unter anderem für Lou Reed – er weihte den Rockstar auch in die Geheimnisse des Guitar Synthesi- zers ein –, Brian Hopper machte in der Agrartechnik Karriere, arbeitete als Fahrlehrer, Bill Mac- Cormick für die liberale Partei Großbritanniens im IT- Bereich, später in der Marktforschung, David Sinclair betrieb einen Laden mit angeschlossener Reparaturwerk- statt für Tasteninstrumente. Andere, wie etwa Lindsay Cooper und Tim Hodgkinson, blieben im Bereich der Musik, verdienten ihr Geld aber hauptsächlich mit Auf- tragsarbeiten für Film- und Theatermusik, während bei- spielsweise Rick Biddulph Sounds für Klangbibliotheken liefert. All das sind natürlich mitunter auch prekäre Ein- kommensverhältnisse, mit denen notabene viele Musiker sämtlicher Arten von Musik konfrontiert waren und sind. Genau betrachtet, trägt der Begriff Canterbury Scene neben der gängigen, die einen angeblich existierenden »Sound«, einen quasi verbindlichen und leicht erkennba- ren Klang meint, einen weitere Bedeutung, die eigentlich wichtige: Unter Canterbury Scene ist weit mehr eine Form der Vermarktung von Musik zu verstehen, wie es im Jazz hier und da anzutreffen ist, in der Rockmusik hingegen nicht. Die überschaubare Gruppe der Musiker, die – teils auch ohne deren Einverständnis – zur Canter-

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bury Scene gezählt wird, die immense Zahl an Bands und Bandprojekten und die mittlerweile unüberschauba- re Zahl an Veröffentlichungen sind als soziokulturelles Konstrukt zu verstehen, dessen Zweck es ist, das ökono- mische Überleben des Einzelnen als Musiker wenn schon nicht zu sichern, so doch zu unterstützen. Canter- bury Scene ist somit der Name für ein Netzwerk von Musikern, die sich schon seit Anfang der 1970er-Jahre in ständig wechselnden Zusammenstellungen gegenseitig einzelne Auftritte, Tourneen und Schallplattenproduk- tionen zuschieben. Selbst auf den Covers der vielen Solo- Alben werden eben die Namen genannt, die auch auf dieser oder jener Band-Produktion zu finden sind. Hugh Hopper beispielsweise hat mit beinahe jedem Musiker, der auch nur vage zum Kreis der Canterbury-Musiker gezählt wird, bei dieser oder jener Gelegenheit zusam- mengearbeitet, ähnliches gilt für Robert Wyatt und Chris Cutler. Canterbury Scene ist auch deshalb der Begriff für eine eng umgrenzte Musik, zu der andere Musiker der briti- schen Musikerriege kaum Zugang fanden. Umgekehrt 30Die indes oft nur so lan- gibt es nur wenige Musiker der Scene, die aus dem ge wirkt, wie eine Forma- »Pool« ausbrachen und sich bei anderen Bands innerhalb tion finanziell lukrativ der britischen Rockmusik engagierten. ist; es ist eines der großen Der Grund für diese in der Rockmusik doch ziemlich Geheimnisse von Jazz- einmalige Bildung eines derartigen Netzwerkes mag in und Rockmusikern, wie der Nähe der Musik zum Jazz liegen. Die ökonomischen sie die in der Gruppe er- Bedingungen, unter denen Jazzmusiker leben, sind stets wirtschafteten Geldmen- prekär gewesen und erzeugen eigene Arten von Solidari- gen eigentlich unter sich tät.30 Gleichzeitig entstand die Canterbury Scene in ei- aufteilen; dass es immer ner Zeit, als unter dem Eindruck der seinerzeit – also wieder zu Streitigkeiten kommt, ist bekannt. Das der 1960er-Jahre – aktuellen Rockmusik die »Band« der missglückte Mirage-Pro- soziale Ort des Rockmusikers war. Nur in der Band jekt von einigen Musi- schienen Erfolg und Anerkennung und vielleicht auch kern von Camel und finanzielles Auskommen gesichert werden zu können. Caravan zeigt zumindest, The Wilde Flowers, The Soft Machine und Caravan ent- dass dies auch innerhalb sprachen dieser Verheißung: Die Musiker standen dem der Canterbury Scene Jazz nicht unversöhnlich gegenüber, zunächst – bei The mal strittig sein konnte. Wilde Flowers – aber spielte er keine Rolle, der Glanz

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der großen Bands The Beatles, The Rolling Stones und vieler anderer hatte seine Anziehungskraft noch nicht verloren und schien die Stärke des Konzepts »Band« zu demonstrieren. Als The Wilde Flowers auseinanderbra- chen, bildeten die Musiker wiederum Bands, The Soft Machine und Caravan, und selbst das erste Solo-Album der Canterbury Scene, »Joy of a Toy« (1969) von Kevin Ayers war im Grunde ein Album von Soft Machine – neben anderen waren Mike Ratledge, Hugh Hopper und Robert Wyatt an den Aufnahmen beteiligt. Möglich, dass die Beschränkung auf einen überschauba- ren Personenkreis dafür sorgte, einen bestimmten »Klang« hervorzubringen, kaum kann man sagen, dass dieser Klang, der Canterbury Sound, bewusst und ge- wollt erzeugt worden ist. Zwar gibt es bestimmte Eigen- arten der Bands wie beispielsweise der verzerrte Klang der Orgel, die oft auch eine elektronische war – ansons- ten in der Rockmusik der zweiten Hälfte der 1960er-Jah- re und in den 1970er-Jahren durchaus verpönt –, die zurückhaltende Rolle der Gitarre, vor allem aber der Gesang, der bei beinahe allen Bands des Canterbury Rocks im Vordergrund steht – sieht man einmal von den späteren Alben Soft Machines ab. Desinteressiert an »Hooks«, verzichtend auf leicht fassliche Refrains, ist der Gesang bei Bands wie Caravan, Henry Cow, Hatfield and the North und den frühen Soft Machine von heraus- ragender Bedeutung, denn Sängerinnen und Sänger wie Dagmar Krause, Kevin Ayers, Richard Sinclair, Pye Has- tings und allen voran Robert Wyatt sind in keiner ande- ren Variante der Rockmusik zu finden. Die Lust am auch ironisch gefärbten Experiment schimmert zumal bei Wyatt stets durch und ist ein permanentes Kennzei- chen seiner Alben. Bei Soft Machine geriet Wyatts Inter- esse am Dada bald in Misskredit. Seine Band Matching Mole war Wyatts Versuch, im Kontext einer Band diese Vorstellung von Rockmusik Wirklichkeit werden zu las- sen, aber erst in seinen Solo-Alben fand er die ihm ad- äquate Möglichkeit. Wyatt allerdings lehnt die Begriffe Canterbury Scene, Canterbury Rock und Canterbury

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Sound ab, das mit einigem Recht. Die beschriebenen Äußerlichkeiten der Instrumentation lassen ja in der Tat nichts über die Herkunft der Musiker erkennen, zumal, 31In dieser Hinsicht ist wie gezeigt, die meisten mit der Stadt nichts verbindet.31 Wyatt Zeuge in eigener Bleibt die Frage, ob es einen besonderen »Canterbury Sache: http://www.you- Sound« gibt. Auf einige Spezifica wurde schon hingewie- tu- sen, den spezifischen Gesang, die gelegentliche Improvi- be.com/watch?v=rHOe sation über Riffs, die Instrumentation, in der die Gitarre cqhughU keine hervorgehobene Rolle spielt, die unisono-Passagen zum Lead-Gesang, die ambitionierten, mitunter politi- schen Texte. Nimmt man die drei Bands Soft Machine, Caravan und Henry Cow als die Eckpunkte einer Drei- ecksfläche, innerhalb derer eine »Canterbury«-Band ih- rer Musik entwickeln kann, so ergibt sich dennoch kein einheitliches Bild. Soft Machine ist die Jazzrock-Band, Caravan die Progressive-Rock-Band mit einem Hang zum Folk, Henry Cow die »Post«-Canterbury-Band, in deren Musik über Musik der Progressive Rock auf die Spitze getrieben und auch die klassische Moderne für die Rockmusik vereinnahmt wurde. In diesem Spannungs- feld bewegten sich die Musiker und Bands der Canterbu- ry Scene, wie sie sich postum darstellten – zu Zeiten der Wilde Flowers war davon keine Rede.

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