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Sendung vom 01.04.1998

Prof. Dr. Peter Glotz Senator a. D. im Gespräch mit Werner Siebeck

Siebeck: Heute zu Gast bei Alpha-Forum ist Professor Peter Glotz, der Rektor der Universität Erfurt. Herr Professor Glotz, jetzt habe ich Sie nur mit einem Ihrer Ämter vorgestellt, und zwar Ihrem gegenwärtigen. Sie sind von Haus aus Kommunikationswissenschaftler, waren Landtags- und Bundestagsabgeordneter, parlamentarischer Staatssekretär, Berliner Wissenschaftssenator, Bundesgeschäftsführer der SPD und Hochschullehrer. Sie sind Autor und Publizist, Autor und Herausgeber von mehr als 30 Büchern. Aber Peter Glotz ist auch ein Heimatvertriebener. 1945 flohen Sie von Eger nach Bayern. Haben Sie noch Erinnerungen daran? Glotz: Ja, natürlich. Ich war sechs Jahre alt, und da erinnert man sich z. B. schon noch an die Bombennächte, man kann sich sehr wohl an dieses das ganze Leben prägende Erlebnis erinnern. Ich kann mich auch erinnern, wie wir über die Grenze marschiert sind - meine Mutter mit einem Fahrrad, das sie nicht fahren konnte - sie konnte nämlich nicht Fahrrad fahren -, hinten irgendwelche Habseligkeiten drauf, und ich marschierte neben ihr her. So wurde die Familie stückweise sozusagen über die Grenze transportiert. Wir landeten dann irgendwo in einem Dorf in der Nähe von Bayreuth. Siebeck: Eines Ihrer großen Themen ist ja der Nationalismus. Sie selbst sprachen von Ihrem Lebensthema. Hängt das mit der Vertreibung zusammen? Glotz: Ja, das hängt vor allem mit der Mischehe meiner Eltern zusammen. Meine Mutter war Tschechin, mein Vater war Deutscher. Und da war es eben so, als die Nazis 1938 kamen, daß meinem Vater nahegelegt wurde, sich von meiner Mutter scheiden zu lassen. Und als 1945 die Tschechen wieder die Macht übernahmen und meine Mutter ihr Detailgeschäft für Babywaren, das man ihr abgenommen hatte, wiederbekommen wollte, sagten die Tschechen, ja, selbstverständlich, aber du mußt dich von diesem Deutschen trennen und dann die Kinder auf eine tschechische Schule schicken. Da sind wir dann gemeinsam geflüchtet. Siebeck: Wie sehen Sie denn jetzt den Stand des deutsch-tschechischen Aussöhnungsprozesses? Ist der befriedigend, ist der zufriedenstellend? Glotz: Nein, er ist eher verschlampt worden. Die Bundesregierung hat eine sehr vernünftige Politik in Richtung Polen betrieben, aber eine nachlässige und nicht genügend überlegte in Richtung Prag. Diese deutsch-tschechische Resolution ist besser als nichts, aber fragwürdig, weil die Tschechen nicht abrücken von der Vertreibung. Sie sagen nicht, die Vertreibung war ein Unrecht, sie sagen nur, die Tatsache, daß wir 50 Menschen von der Brücke in Aussig geschmissen haben, das war ein Unrecht. Aber die Vertreibung an sich, das heißt also das Austreiben von 3,3 Millionen Menschen, die dort 800 Jahre gelebt hatten, das bedauern wir nicht. Das steht wörtlich so in den Berichten zu dieser Resolution, die die tschechische Regierung abgegeben hat, und das halte ich für ganz inakzeptabel. Und zwar nicht meinetwegen - ich will dorthin nicht wieder zurück und die meisten Sudetendeutschen auch nicht. Sondern sie rechtfertigen damit ja auch die Vertreibung in Bosnien oder in Serbien oder sonst irgendwo auf der Welt. Das ist sicher ganz falsch. Siebeck: Zurück zum Nationalismus. Nun scheint er ja trotz des europäischen Einigungsprozesses wieder aufzukeimen - trotz oder gerade deswegen? Glotz: Sicher gibt es nationale Instinkte in England z. B. gegen die Vereinigung und sicherlich auch in manchen anderen Teilen Europas. Schlimmer scheint mir dieses Wiederaufkommen eines autochthonen Nationalismus vor allem in Ost- und Mitteleuropa zu sein. Das ist einerseits verständlich, denn diese Nationen waren ja vorher von einem leninistischen Kommunismus unterdrückt. Auf der anderen Seite blühen natürlich seltsame Blumen im ukrainischen Nationalismus oder in den Auseinandersetzungen, die es zwischen Ungarn und Rumänen in Siebenbürgen und sonstwo gibt. Manchmal werden sie ganz gut und vernünftig bekämpft, z. B. jetzt zwischen Rumänen und Ungarn. In der Slowakei gärt der Gegensatz zwischen der ungarischen Minderheit und den Slowaken. Da sind schon Gefahren. Siebeck: Wie sehen Sie denn die Stellung Deutschlands im vereinten Europa, müssen die Deutschen immer noch vor sich selbst geschützt werden? Glotz: Ach, das würde ich so nicht formulieren, aber sie sind eben der dickste Brocken. Ich meine das ist ein historisches Erbe. Wir sind der größte Nationalstaat, wir sind das größte Volk und die stärkste Wirtschaft Europas. Und nun muß man sich das doch einmal überlegen: Die Russen, noch ein Weltreich bis vor kurzem, sind inzwischen deutlich minimiert. Die Engländer, ein anderes ehemaliges Weltreich, sind längst kein Weltreich mehr, sondern sind ein Land unter vielen. Die Deutschen, die am Ersten Weltkrieg nicht unschuldig waren, den Zweiten vom Zaun gebrochen haben, sind wieder die Stärksten. Daß das den Niederländern und Polen nicht besonders gefällt, das muß man verstehen. Insofern ist eine vorsichtige Politik notwendig und auch eine Politik der Einbindung. Insofern unterstütze ich sehr die Politik sowohl Helmut Kohls als auch Oscar Lafontaines - um einmal die beiden großen politischen Strömungen in unserem Land zu zitieren. Siebeck: Stichwort Einbindung: Nun wird ja auch oft gesagt, die Aufgabe der D-Mark sei ein Preis für die Wiedervereinigung. Da gibt es einen schönen Satz von Mitterand: "Ihr Deutschen müßt deswegen ein Opfer leisten." Ist das so? Glotz: So begreifen es sicher viele. Aber Sie müssen auch die objektiven Mechanismen sehen. Im Grunde bestimmt heute die Deutsche Bundesbank über die Politik, die in Frankreich und in manch anderen Ländern gemacht wird. Sie bestimmt die Standards und die Trends. Daß das den Franzosen auf die Dauer nicht besonders gefällt, daß ihnen immer der jetzige Chef der Deutschen Bundesbank vor der Nase herum tanzt oder irgendeiner seiner Vorgänger oder Nachfolger, dafür habe ich Verständnis. Insofern glaube ich, daß diese Währungsunion aus politischen Gründen unausweichlich ist. Dazu kommen dann noch die ökonomischen Gründe, die Sie bei Herrn von Pierer oder bei der Deutschen Bank abfragen können, aber auch bei manchen Gewerkschaftlern. Ich glaube, daß das insgesamt ein sinnvolles Projekt ist. Siebeck: Aber die ökonomischen Gründe sind ja umstritten. Ralf Dahrendorf, hat gesagt: "Bringt erst eure Preise in Ordnung." Glotz: Wissen Sie, nichts an politischen Maßnahmen ist unumstritten. Ich sehe auch vier Honorarprofessoren oder was immer sie sein mögen, die beim Verfassungsgericht dagegen klagen - na gut. Es gibt natürlich auch viele Leute, die Angst haben, daß der Euro weniger wert sein könnte als die Mark. Es gibt auch Landespolitiker in Niedersachsen und Bayern, die daraus gerne Landtagswahlkämpfe machen wollen. Ich halte beides für höchst fragwürdig, denn die politischen Gründe, die dafür sprechen, sind doch überwiegend. Ökonomisch gibt es Gegenargumente, es gibt aber auch viele positive Argumente. Vor allem, wenn man es nicht gewollt hätte, hätte man den Prozeß nicht anfangen müssen. Ob das richtig war, was die Politiker in Maastricht begonnen haben, darüber kann man lange streiten, ob sie nicht etwa am anderen Ende hätten anfangen müssen. Aber nachdem man es nun einmal begonnen hat, wäre das Scheitern jetzt in der Tat ein mittlere Katastrophe. Siebeck: Muß es in Europa zu einer politischen Union kommen? Glotz: Ich würde das für sehr sinnvoll halten. Schauen Sie, es ist doch ein Drama gewesen, wie sich Europa in Bosnien auseinander dividiert hat und dann nur die Amerikaner kommen mußten, damit irgend etwas funktioniert, und das funktioniert auch nicht richtig. Wir bräuchten eine gemeinsame europäische Außenpolitik. Es sieht allerdings nicht danach aus, als ob wir sie bekämen. Wir erweitern jetzt diese Europäische Union, das wird immer vielstimmiger, und es kommen immer mehr Regierungen dazu, die eigentlich eine wirkliche Union nicht wollen. Diese osteuropäischen Regierungen haben doch gerade ihre Entscheidungsfreiheit von Moskau bekommen, die wollen doch jetzt nicht, daß in Brüssel entschieden wird. Das alles führt meiner Meinung nach eher zu einem Europa als große Freihandelszone als zu einem politischen Europa. Ich bedauere das zutiefst, und ich sehe da auch manche Probleme in den ersten Jahrzehnten des nächsten Jahrhunderts auf uns zukommen, aber verhinderbar ist das jetzt nicht mehr. Siebeck: Zurück zu Ihnen. Sie haben in München studiert und dann promoviert. Der Weg zum Hochschullehrer war Ihnen eigentlich geebnet, aber dann gingen Sie in die Politik. Warum? Glotz: Na ja, das war 1970. Ich bin 1961 in die SPD eingetreten, und ich glaube aus Protest gegen die Vätergeneration, die ich eigentlich weitgehend als Klagender erlebt habe. Wissen Sie, ich war dabei, mein Vater hat mich mitgenommen, als er sein Parteiabzeichen und "Mein Kampf" in einem Teich in der Nähe von Eger versenkt hat. Das haben Millionen von Deutsche so gemacht. Der war kein großer Nazi. Er ist eben ein Mitläufer gewesen. Und danach war er ein großer Schimpfer. Er hat sich über den Adenauer aufgeregt und über sonst wen. Nur, gemacht hat er nichts. Diese Haltung - es gab ja auch andere - eines großen Teils der Generation, die zwischen 1890 und 1920 geboren war, also meiner Vätergeneration, hat mich furchtbar gestört. Ich wollte damit ausdrücken, man muß selbst etwas machen. Und dann bin ich eben in den 60er Jahren in die Sozialdemokratie geraten - sehr stark unter dem Einfluß eines bedeutenden bayerischen Sozialdemokraten, der Waldemar von Knoeringen hieß und der heute leider fast vergessen ist. Siebeck: Sie sind dann Mitte der 70er Jahre parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft geworden, später dann Berliner Wissenschaftssenator. Das war ja nun die Zeit der Hochschulexpansion - ausgelöst durch den Beschluß der Ministerpräsidenten und der Bundesregierung, die Hochschulen zu öffnen. Glotz: Ich habe diesen Beschluß sehr gefördert in diesem Ministerium. Siebeck: Tatsache ist, daß wir durch diesen Beschluß die Probleme an den Universitäten erst ausgelöst haben. War dieser Beschluß richtig, oder war er, wie viele sagen, doch nicht richtig? Glotz: Verehrter, wir haben die Probleme nicht bekommen, weil wir den Beschluß gefaßt haben. Sondern wir haben den Beschluß gefaßt, weil Deutschland genauso wie die Vereinigten Staaten oder Japan oder irgend ein anders Land mehr gut ausgebildete Leute brauchten und auch, weil es wenige Alternativen gab. Das ist ja heute noch dramatischer als damals. Schauen Sie mal, wenn es die Alternative gäbe, statt Betriebswirtschaft zu studieren eine Lehre bei der Allianz oder der Deutschen Bank zu machen, könnte man ja vielen Leuten sagen, macht das. In Wirklichkeit gibt es aber immer weniger Ausbildungsplätze hochqualifizierter Art. Die Leute wollen nicht Bäcker werden, wenn sie das Abitur gemacht haben. Wir haben aber nicht mehr Abiturienten oder Leute, die die Qualifikation für die Hochschulen haben, als die Japaner, Amerikaner, Australier, Engländer oder Franzosen. Insofern glaube ich, war das unausweichlich. Wir haben dann in den Hochschulen auf diesen Massenandrang falsch reagiert, wir hätten sie nicht so auswuchern lassen sollen zu strukturlosen 30000, 40000, oder 50000 Menschen großen Universitäten. Insofern haben wir manche Fehler gemacht, aber der Beschluß ... Siebeck: Der Beschluß als solcher war richtig. Glotz: Der Beschluß als solcher war unausweichlich, da konnte man gar nicht anders. Siebeck: Ich habe auch nur den Standpunkt sehr vieler konservativer Hochschulpolitiker wiedergegeben, die einfach sagen - und das ist ja das gängige Argument -, wir haben viel zu viele Studierende, was soll aus denen werden? Die werden ja alle Taxifahrer. Das ist ja das, was auch so an den Stammtischen gesprochen wird. Glotz: Das ist natürlich Quatsch. Sicher gibt es da auch ein paar Taxifahrer. Siebeck: Wobei die Arbeitslosenquote weitaus geringer ist. Glotz: Die ist weitaus geringer als bei allen anderen. Schauen Sie sich die philosophische Fakultät an. Als ich ein junger Mann war, wurden alle diese Leute, die Germanistik studiert haben, Deutschlehrer. Heute wird keiner mehr Deutschlehrer, weil es keine Stellen dafür gibt. Dann suchen sie andere Jobs, und das haben sie sehr erfolgreich getan. In meiner Universität habe ich eine wunderbare Germanistin, eine Philologin, die bei mir Gremien betreut. Das hätte vor 30 Jahren eine avancierte Sekretärin mit Fachschulausbildung gemacht. Heute macht sie es. Sie macht es natürlich besser, als es die Sekretärin damals gemacht hätte, sie ist wunderbar. Sie akzeptiert auch eine geringere Bezahlung als die magische Grenze A 13 im öffentlichen Dienst. Das ist doch eigentlich eine positive Entwicklung. Das heißt, wir bilden eben doch 30%, 40% eines Jahrgangs relativ gut aus, auch wenn es natürlich bei diesem schnellen Anwachsen der Zahlen Defizite gibt und manche Institute und Fachbereiche nicht besonders gut sind, das muß man schon zugeben. Deswegen muß man ja jetzt auch dagegensteuern und einige Institutionen so aufrüsten, daß sie international konkurrenzfähig bleiben. Siebeck: Das haben Sie ja in einem Ihrer Bücher versucht: "Im Kern verrottet?" heißt dieses Buch, "Fünf vor zwölf in Deutschlands Universitäten". Das klingt bedrohlich, was die Lage unserer weiterführenden Schulen angeht. Versuchen wir es zunächst einmal mit der Diagnose. Der erste Punkt ist wohl auch unbestritten - unsere Hochschulen sind unterfinanziert. Die Frage ist, kann sich die Bundesrepublik so etwas eigentlich leisten? Glotz: Nein. Schauen Sie, wir haben keine Milliarde Menschen wie die Chinesen oder die Bodenschätze Sibiriens. Was bei uns statt dessen funktioniert, ist das, was in den Köpfen der Leute drin ist. Insofern ist es fahrlässig, die Wissenschaft so zu vernachlässigen, wie das in Deutschland passiert. Wir haben schon seit dem späten , dann aber noch verstärkt seitdem Kanzler ist, eine deutliche Verringerung der Ausgaben des Bundes für Bildung und Wissenschaft. Manche Länder haben entsprechend reagiert. Das heißt, wir geben heute viel weniger Geld dafür aus, als zu einer Zeit, in der wir weniger Studierende hatten. Die Betreuungsrelation, wie das so schön heißt, d. h. die Zahl der Lehrenden an den Hochschulen im Vergleich zu den Studierenden ist im Durchschnitt von 1:15 auf 1:30 angewachsen. Das muß natürlich die Qualität vermindern. Siebeck: Woran liegt das? Das ist doch eigentlich unverständlich, daß ein Land - seine politischen Eliten - seine Universitäten, ich will nicht sagen verkommen, aber eben doch am Rande liegen läßt. Glotz: Na ja. Das sind die üblichen Zwänge. Ich meine, dazu kommt natürlich die Wiedervereinigung und manch anderes. Wir haben weniger Geld, weil wir andere Aufgaben finanziert haben. Siebeck: Aber das war ja auch schon vor der Wiedervereinigung so, oder? Glotz: Das ging freilich schon auch vor der Wiedervereinigung nach unten, das ist richtig. Und wir sind unbeweglich. Das heißt also, das wirkliche Umverlagern von - da muß man ja irgend etwas kappen - einem Teil des Budgets auf einen anderen, das wird nicht gemacht, und man hat sich auch sonst keine Gedanken gemacht. Ich persönlich glaube ja, daß Sie dieses Finanzproblem heute nur mit einem mäßigen Beitrag der Betroffenen lösen können, also mit Studiengebühren. Das traut man sich nicht, weil die Leute natürlich dagegen sind. Diese Mischung von Phantasiemangel und Feigheit führt eben dazu, daß alles so weitergeht wie bisher. Und dann zucken die Finanzminister mit den Schultern, und das war es dann. Siebeck: Da kommen wir noch dazu, zu den Studiengebühren. Jetzt würde ich zunächst einmal gerne bei der Diagnose bleiben. Die Gefährdung von außen haben wir soeben angesprochen. Gibt es auch eine Gefährdung von innen? Glotz: Ja. Und zwar hängt das mit dieser falschen Reaktion auf die zusätzlichen Studierenden, also auf den Massenbetrieb, zusammen. Die Hochschulen sind innerlich strukturlos geworden. Die Hochschullehrer reden nicht mehr genug miteinander, jeder verwaltet seinen Bindestrich - das war es dann auch schon. Es gibt den Dimido-Typ: Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Das heißt, das sind Leute, die sagen, das Schönste wäre eine Hochschule ganz ohne Studenten. Die kommen am Dienstag, halten eine Sprechstunde ab und reden mit ihrer Sekretärin. Am Mittwoch und Donnerstag reißen sie ihre Lehrstunden ab, und dann verschwinden sie wieder und forschen oder gehen spazieren oder verdienen Geld oder machen sonst etwas. Das Lehrgespräch ist ihnen eigentlich lästig. Ich war kürzlich beim MIT und habe mit einem der berühmtesten Ökonomen der Welt gesprochen. Der saß an seinem Computer, das Zimmerchen war übersät mit irgendwelchen Papieren, die um ihn herum lagen, die Tür hinter ihm war offen, eine Sekretärin war für vier Leute zuständig. Und da kamen ständig irgendwelche Studierende, die über die Schulter mit ihm sprachen. Dann hat er immer gesagt, "wait a minute", ich habe jetzt diesen komischen deutschen Gast. Und dann hat er wieder mit denen geredet. In Deutschland kommen wir sofort in ein wunderbares Zimmer. Davor sind zwei Sekretärinnen - Zerberusse -, und Studenten sind dort nur mittwochs zwischen 14.00 und 16.00 Uhr gewünscht. Das ist der Unterschied. So können Deutschlands Universitäten nicht konkurrenzfähig bleiben. Dazu kommt: Sie bekommen an Deutschlands Universitäten ein Diplom, und wenn Sie sich nicht selbst bemühen, hören Sie nie wieder in Ihrem Leben etwas von dieser Universität, es sei denn man verleiht Ihnen nach 50 Jahren das goldene Doktordiplom. Ansonsten: Nichts! Amerikanische Universitäten kümmern sich um ihre früheren Absolventen, sie schreiben denen auch dreimal im Jahr und bitten sie um Spenden. All das findet in Deutschland nicht statt. Es gibt keine Graduierungs- und keine Inskribierungsrituale mehr, das läuft ab wie beim Arbeitsamt. Das stößt die Leute natürlich ab. Dann kommt häufig noch diese Architektur dazu, die ja geradezu dazu reizt, Graffitis an die Wand zu sprühen und die Zigaretten im Fußboden, im Spannteppich auszudrücken. Das ist dann - wenn Sie z. B. an die Hamburger Universität kommen, aber nicht nur dort - so etwas Verschmiertes und Dreckiges und Problematisches, daß man versteht, daß die Leute auch die Liebe verlieren und lieber zu Hause sitzen, als mit ihren Studierenden zu reden. Das ist alles nicht vergleichbar mit einer amerikanischen Campus-University. Ich glaube, man müßte da jetzt endlich einmal dagegensteuern. Siebeck: Beklagt wird ja auch von vielen der angeblich mangelnde Praxisbezug - auch bei den Geisteswissenschaften. Jetzt ist meine Frage, kann die Universität dies überhaupt leisten? Glotz: Ich sage, zuerst einmal muß die Universität sich darüber klar werden, daß sie Schlüsselqualifikationen verleiht: Die Leute müssen kommunikationsfähig sein, sie müssen Sprachen können, sie müssen natürlich von einem bestimmten Fach etwas verstehen usw. Siebeck: Sie müssen breit ausgebildet sein. Glotz: Sie müssen vor allem teamfähig sein. Wie du Product-Manager in einem bestimmten Arbeitsfeld bei Siemens wirst, lernst du nur bei Siemens, nicht in der Universität München. Aber diese Schlüsselqualifikationen sind wichtig. Trotzdem halte ich es für sinnvoll, durch Honorarprofessoren und durch Lehrbeauftragte einen stärkeren direkten Kontakt der Universitäten mit der Praxis herzustellen als heute. Wobei das unterschiedlich ist. In der Ingenieurwissenschaft gibt es das schon. Während das in der Philosophie oder in der Linguistik und in vielen anderen Bereichen nicht existiert. An den amerikanischen Universitäten gibt es Kurse für Creative Writing. Ich baue in Erfurt so eine School of Government auf. Ich habe mir dazu natürlich vergleichbare Fachbereiche anderswo angesehen. Da gibt es z. B. Kurse für Speech Writing, da bringen Leute, die es gelernt haben, für einen amerikanischen Präsidenten oder für irgendeinen Senator Reden zu schreiben, Studierenden bei, wie man Reden schreibt. Das kann natürlich nicht alles sein, das ist nur eine Ergänzung, aber diese Ergänzung zum akademischen Betrieb halte ich für absolut sinnvoll. Siebeck: Massenunis sind ja auch Großunternehmen. Das heißt, eigentlich bräuchten sie ein professionelles Management. Habe unsere Universitäten so etwas? Glotz: Nein, und das ist einer der Kernfehler. Wir haben ja auf den Massenzustrom mit Demokratisierung reagiert. Dagegen habe ich nichts, ich habe das als Assistentenvertreter selbst mitbetrieben und auch als junger Hochschulpolitiker. Nur, verstehen Sie, das ist häufig auch Bürokratisierung. Siebeck: Die Gremienuniversität? Glotz: Sie können mit einem Gremium, in dem - völlig egal - zwei oder fünf Studenten dabei sind und ein oder zwei Bibliothekare oder wie auch immer das Schnittmuster der Mitbestimmung ist, ein Budget nicht so verwalten wie der Finanzchef von Siemens oder irgendeines Unternehmens von Phillips. Aber genau das soll passieren. Ich halte es dringend für notwendig, daß Universitäten budgetiert werden, d. h., daß wir weg kommen von der Kameralistik, daß wenn einer Geld für eine Stelle hat, er aber die Stelle nicht braucht, das Geld dann für die Forschung einsetzen kann und umgekehrt, daß er nicht am 15. Dezember das ganze Geld ausgegeben haben muß, weil es ihm sonst entzogen wird, daß wenn er bei der Heizung spart, er nicht im nächsten Jahr einen geringeren Ansatz bekommt, weil die Leute sagen, du kannst auch mit einem kälteren Klima auskommen. Aber wenn Sie Mittel in einer budgetierten Universität verteilen und Sie machen das mit dem Gremienmuster, dann sagen alle Physiker, gleichgültig, ob sie Studenten, Assistenten oder Professoren sind, daß das Geld bei der Physik bleiben muß. Wenn Sie das Geld von der Physik zur Chemie umverteilen wollen, dann werden alle Physiker dagegen sein und alle Chemiker dafür. Verstehen Sie, mit dieser Art von Bürokratisierung und Demokratisierung können Sie z. B. dieses Problem nicht bewältigen. Und deswegen meine ich, wir brauchen stärkere Präsidenten, stärkere Dekane und Wirtschafts- und Verwaltungsausschüsse, die klein, handlich und entscheidungsfähig sind. Das sind jetzt alles keine neuen Weisheiten, das wird vielfach diskutiert, da und dort funktioniert das auch, und anderswo funktioniert das nicht. Generell funktioniert das aber zu wenig. Siebeck: Jetzt sind wir schon bei der Therapie, und Sie sprachen es ja schon mehrfach an - das amerikanische Hochschulwesen. Das ist ja im Augenblick ganz modern, uns damit zu vergleichen. Aber funktioniert das eigentlich, kann man Teile aus dem gesamten amerikanischen Hochschulsystem auf uns, auf das deutsche System, übertragen? Glotz: Nein, man kann nicht das Ganze übertragen. Aber man kann sicherlich voneinander lernen. Was man nicht übertragen kann, ist z. B. ... Siebeck: Das Denken! Glotz: Zum einen das. Das stimmt schon, die Psychologie ist nicht übertragbar. Ein amerikanischer Ingenieur, der in Stanford ausgebildet worden ist und nicht sofort irgendwo einen Job findet, gründet in der Garage ein neues Unternehmen. Wenn der in Aachen sitzen würde, obwohl Aachen besser ist als viele andere Hochschulen, überlegt er doch, ob er nicht eine BAT IIa/halbe Stelle an der Universität bekommen kann, weil das Risiko geringer ist. Das ist das eine. Das können Sie in der Tat nicht übertragen. Aber Sie können manches übertragen. Was auch nicht übertragbar ist, ist das private System. Sie haben dort eine jahrhundertelange Tradition von privaten Stiftern und auch eine Steuergesetzgebung, die das honoriert. Das haben Sie in Deutschland alles nicht. Deswegen werden Sie in Deutschland nicht viele private Universitäten bekommen. Aber eine Stärkung der Leitungsgremien, eine Entbürokratisierung der Finanzverteilung, eine leistungsbezogene Zumessung der Mittel und manches andere, da kann man schon lernen. Übrigens kann man da nicht nur von den Amerikanern lernen, man kann auch auf die Niederlande oder auch nach Skandinavien schauen. Siebeck: Und auch nach England! Glotz: Und auch nach England in gewisser Weise, obwohl Cambridge und Oxford nicht vergleichbar sind. Siebeck: Sie sprachen von privaten Universitäten - einige wenige haben wir ja. Bräuchten wir nicht noch ein paar mehr, sozusagen als Stachel im Fleische der anderen Unis? Glotz: Begreifen Sie das bitte als Appell an die Sponsoren. Schauen Sie, Witten- Herdecke ist eine wunderbare kleine Universität. Ich bewundere Konrad Schily, der sie leitet, das Klima dort ist wunderbar. Aber, das wird wesentlich von der Deutschen Bank und Bertelsmann finanziert und noch von anderen Sponsoren. Viele deutsche Banken, die so ein Projekt unterstützen würden, gibt es aber nicht. Es gibt auch eine Wirtschaftshochschule in Koblenz, die die METRO, also Herr Beißheim, finanziert, sie heißt auch Beißheim- Hochschule. Es gibt also einiges. Aber ich fürchte Sie werden nicht viele zusätzlich große Sponsoren finden. Und deswegen ist die Chance limitiert. Ich wäre aber sehr dafür. Siebeck: Jetzt kommen wir zu den Sudiengebühren. Das ist ja auch eine ordnungspolitische Forderung. Der wird immer entgegnet, Hochschulstudiengebühren seien unsozial. Glotz: Das ist natürlich Unsinn. Man muß das nur richtig organisieren. Siebeck: Was wären denn die Voraussetzungen? Glotz: Die Australier haben das ja schon gemacht. Genau so würde ich das auch machen, wie das die australische Labour-Regierung organisiert hat. Die anschließende konservative Regierung hat das dann kaputt gemacht. Dort borgen sie den Studierenden das Geld, die müssen das während des Studiums nicht erarbeiten oder von ihren Eltern besorgen, was gewisse Bürgschaften des Staates voraussetzt. Die Studenten müssen es nur ab dem fünften Jahr nach dem Studium zurückzahlen und auch dann nur, wenn sie einen angemessenen Job bekommen konnten - also nicht, wenn sie z.B. ihr Geld mit Taxifahren verdienen. Wenn Sie nun nicht die Studiengebühren auf das Niveau einer großen amerikanischen Privatuniversität heben, sondern wenn Sie 1000 Mark oder so etwas ähnliches pro Semester verlangen, dann ist das eine begrenzte Belastung mit Zinsen von 14000 Mark bei zehn Semestern Regelstudienzeit. Das ist tragbar, und ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso kein Mensch sich aufregt über Kindergartengebühren von 3000 Mark im Jahr. Verstehen Sie mich, meinem Sohn kann ich ja zur Not, wenn er 25 Jahre alt ist, sagen, borg' Dir das Geld und zahle es zurück, wenn du im Job bist. Oder jobbe während des Studiums. Meinem dreijährigen Kindergartenkind kann ich doch nicht sagen, geh jobben. Trotzdem sagt diese Gesellschaft, Kindergartengebühren sind völlig in Ordnung, Studiengebühren sind unerträglich. Mir ist das völlig unverständlich. Siebeck: Und dazu kommt ja auch, daß diejenigen, die über keinen Hochschulabschluß verfügen oder verfügt haben, mit ihren Steuergeldern dann dieses im Grunde höhere Einkommen der Studenten subventionieren. Auch das ist mir eigentlich unbegreiflich. Kann man das eigentlich den Studenten, die ja meistens gegen die Studiengebühren sind, nicht klar machen? Glotz: Also daß die Studenten nicht dafür sind, kann ich ja irgendwo noch verstehen. Wenn Sie die Renten kürzen, sind die Rentner auch nicht dafür. Warum sollen also die Studenten dafür sein, 1000 Mark pro Semester mehr zu bezahlen? Das geht von ihrem Budget ab, und wenn sie sich nicht verschulden wollen, können sie sich eben den VW nicht kaufen, also wollen sie das nicht. Im übrigen haben sie Angst, daß die Finanzminister das Geld einfach kassieren. Das wäre natürlich auch eine ganz falsche Politik. Dieser Gefahr müßte man vorbeugen. Aber die Hauptgegner sind die Politiker, die einfach Angst davor haben, sie sind sehr ängstlich geworden, die heutigen Politiker, sie befürchten, daß 3000 oder auch 10000 Studierende vor ihrer Tür stehen und protestieren könnten. Dann werden sie populistisch. Als ich in war, standen ständig 3000 Studierende vor meiner Tür, das hat mich aber deswegen an gar nichts gehindert. Sie sind ein bißchen verschreckt heutzutage, die Herren Politiker. Siebeck: Deutsche Hochschulen, so hat man das einmal überspitzt formuliert, ähneln zumindest in einem Punkt den Gefängnissen - sie haben keinen Einfluß auf ihr Klientel. Und deswegen haben Sie sich auch einmal für das Recht der Hochschulen eingesetzt, sich ihre Studenten selbst auszusuchen. Das wäre ganz sicher ein wichtiges Element zur Förderung des Wettbewerbs. Nur, sind die überlasteten Hochschulen und die überlasteten Hochschullehrer dazu überhaupt in der Lage? Oder wollen sie das einfach nicht? Glotz: Sie wollen es nicht. Ich meine, daß das zusätzliche Arbeit macht, ist völlig unbestreitbar. Aber ich würde sie mir gerne machen, um eine ganz bestimmte Klientel an mein Institut zu ziehen und andere nicht, die sollen dann woanders hingehen. Man müßte ein System einführen, daß jeder, der sich dreimal beworben hat, ohne genommen worden zu sein, dann doch noch über die ZVS einer Universität zugeteilt wird. Sonst suchen sich alle Universitäten ein paar aus, und es bleiben dann viele übrig - das darf nicht sein. Aber das würde dann doch dazu führen, daß die Universitäten sich 80% ihrer Studierenden ausgesucht haben. Und es würde zum Teufel noch mal auch dazu führen, daß die Studierenden sich ihre Universitäten aussuchen. Heute studieren sie doch meistens dort, wo die Waschmaschine der Mutter steht oder wo die Freundin oder der Freund die Füße ins Bett legt. Leben sie in der Region Regensburg, studieren sie eben in Regensburg. Das kann doch nicht zu einem vernünftigen Wettbewerb und zu einer geistigen Beweglichkeit führen, wenn man z.B. nicht zum besten Ernährungsphysiologen geht, wenn man das studieren will. Sondern sich sagt, ich bin aus Regensburg, also studiere ich in Regensburg. Das ist die heutige Situation, und daraus entstehen zu wenig und zu selten wirklich erstklassige Leute. Siebeck: Sie sind Rektor der Universität in Erfurt, deren Gründungsrektor Sie auch waren. Welche Reformmodelle konnten Sie denn durchsetzen? Glotz: Ich habe dort eine Experimentierklausel, die mich vom Hochschulrahmengesetz und vom Thüringischen Landesgesetz entbindet. Das heißt, ich bin als Rektor dort sehr stark, ich bin auf lange Zeit gewählt, auf lange Zeit nicht abwählbar und habe alle möglichen Rechte, die einer sonst nicht hat. Meine Dekane sind sehr stark. Wir werden ein völlig neues Studiensystem einführen mit Bachelor- und Master-Abschlüssen, also das amerikanische System mit dem Credit-Point-System, das heißt also, der Studierende wartet nicht darauf, daß er irgendwann die Prüfung macht - und sich dann nicht zur Prüfung meldet, weil er Angst vor der Prüfung hat -, sondern er erwirbt seine Kreditpunkte in jedem einzelnen Kurs, den er besucht. Wir werden sehr international orientiert sein. Das heißt, wir werden uns ganz systematisch um Kooperationen mit amerikanischen, aber auch asiatischen und französischen Universitäten bemühen. Wir haben ein sogenanntes Max-Weber-Kolleg eingeführt, das nun wirklich mit fünf Gastprofessoren und fünf Leuten, die nicht auf Dauer, sondern nur für fünf Jahre da sind, eine begrenzte Zahl von Doktoranden hochklassig und interdisziplinär ausbilden soll. Wir haben also eine Reihe von Reformansätzen, und bisher geht es ganz gut. Man muß immer nur Angst haben, daß dem Staat irgendwann das Geld ausgeht. Aber bisher kann ich mich nicht beklagen. Siebeck: Es läßt sich also doch etwas bewegen. Glotz: Ja, aber ich meine, Sie dürfen das nicht verkennen, ich strebe eine Universität von 4000 Studierenden an, das sind 1000 weniger als das Land will. Das ist natürlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, verglichen mit den 1,8 Millionen Studenten, die an Universitäten wie München, Stuttgart, Hamburg oder Aachen oder sonst wo studieren. Wenn nur so ein paar kleine Neugründungen funktionieren und die alten Universitäten so weiter machen würden - sie versuchen ja auch, sich zu verändern - wie in der Vergangenheit, dann wäre das nicht sehr wirksam. Siebeck: Herr Glotz, mit Ihrer Forderung nach Studiengebühren haben Sie sich bei Ihrer Partei nicht gerade beliebt gemacht - und zwar nicht zum erstenmal. Peter Glotz, der Vordenker, der Querdenker hat in der Politik, in seiner eigenen Partei, aber auch in der praktischen Politik immer seine Schwierigkeiten gehabt. Intellektuelle in der Politik - ist das notwendigerweise ein Spannungsfeld? Glotz: Ich habe nicht immer nur meine Schwierigkeiten gehabt. Siebeck: Aber ab und zu schon. Glotz: Natürlich, aber jeder intelligente Mensch hat ab und zu mit seiner Partei Schwierigkeiten, sonst ist er kein intelligenter Mensch - Hundertprozentige sind meistens töricht. Ich habe immer nur zu 80% mit meiner Partei übereingestimmt und manchmal auch nur zu 60 %. Das geht Herrn Biedenkopf und Herrn Späth und vielen Leuten in der CSU ganz genauso. Ich bin im übrigen in den Grundzügen nach wie vor mit meiner Partei, der ich nun seit 36 Jahren angehöre, durchaus einig. Aber es gibt eine ganze Reihe von Einzelfragen, wo ich nicht mit ihnen einig bin, das geht von der Steuerpolitik bis zu den Studiengebühren und bis zu bestimmten Fragen der Sozialpolitik und des Sozialstaates. Ich glaube, daß wir überhaupt derzeit viel zu starr sind und viel zu wenig verändern. Drei, vier Probleme müssen aber in den nächsten drei oder vier Jahren verändert werden. Ich meine damit die Steuerreform, ich meine mit Sicherheit eine Reihe von Problemen bei der Entschlackung des Sozialstaates, ich meine beispielsweise die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die dringend notwendig ist, und ich meine natürlich das Thema Wissenschaftspolitik und Hochschulpolitik. Ich glaube, wir müssen dafür sorgen, daß wieder zwei, drei deutsche Universitäten mit den 15 besten Universitäten der Welt konkurrenzfähig sind. Das ist heute keine mehr, nur noch einzelne Institute vielleicht. Das kostet Geld und das kostet auch Reformen und Phantasie. Wenn wir das nicht zustande bringen, sinkt das Land leise ab. Dann kann man in 50 Jahren hier selbstverständlich immer noch besser leben als in Malawi, aber Malawi ist ja nicht der eigentliche Referenzpunkt. Siebeck: Sie sind Kommunikationswissenschaftler, deswegen auch meine Frage: Wir leben in einer Mediendemokratie, vielleicht sogar auch in einer Telekratie. Was bedeutet das für die Politik, was bedeutet das für die Politiker? Glotz: Es bedeutet, daß es starke Kräfte gibt, die alte, existierende Strukturen durch Medienerfolg ablösen wollen. Nehmen Sie einmal die Debatte um den Kanzlerkandidaten der SPD. Da sagen einfach viele, ihr müßt doch den Schröder nehmen, der hat doch die viel besseren Umfragen und der ist in den Medien viel besser. Ich halte das nicht für die richtige Schlußfolgerung - damit äußere ich mich jetzt gar nicht zur Person Gerhard Schröder. Nur, wenn man nur auf Umfragen starrt - ob das so richtig ist? Man weiß natürlich, mit welchen Mechanismen man sich in den Medien einen Erfolg verschafft. Zum Beispiel dadurch, daß ich häufig in die Zeitung komme, wenn ich meinem eigenen Laden widerspreche. Da komme ich eher in die Zeitung, als wenn ich sage, die haben ganz recht. Ob das automatisch die Qualifikation ist, um einen solchen Laden, den man ja wohl braucht, zu führen, das ist die große Frage. Insofern halte ich das Wort Telekratie für Brasilien für richtig. Als Berlusconi in Italien Ministerpräsident war, konnte man davon vielleicht auch sprechen, für die Bundesrepublik würde ich bei fünf großen Vollprogrammen im Fernsehen und vielen Spartenprogrammen eine Herrschaft der Journalisten nicht sehen. Aber daß da immer Gefahren mit drin stecken, das ist unbestreitbar. Siebeck: Tony Blair ist ja auch ein Medienstar gewesen. Glotz: Er ist auch ein Medienstar, aber er ist eben auch ein sehr geschickter Politiker. Schauen Sie, der hat einen Prozeß angeleitet, an dem bestimmt 300 Leute beteiligt waren, um die Labour-Party zu reformieren, diese Partei war viel kaputter war als die deutsche SPD. Gerhard Schröder ist ein bißchen ein Ein-Mann-Unternehmen - also nicht ganz Ein-Mann, aber es sind nicht viele. Die Fähigkeit Blairs, einen großen Teil der wichtigen Funktionäre oder auch der neuen Leute in diesen Reformprozeß einzubeziehen und dann wirklich auf 20 Feldern die Programmatik der eigenen Partei zu verändern, das ist schon eine politische Leistung, die nicht nur damit zusammenhängt, daß er in der Westminster Abbey beim Tod von Prinzessin Diana leicht schluchzend einen Psalm vortrug. Das kann er auch, aber natürlich zeichnen ihn auch noch viele andere Fähigkeiten aus. Siebeck: Sie waren sieben Jahre Bundesgeschäftsführer der SPD. Glotz: Und zu der Zeit natürlich mit meiner Partei notwendigerweise viel konformer als jetzt zehn Jahre später oder auch vielleicht zehn Jahre vorher. Siebeck: Sie haben mit zusammengearbeitet. Wie sehen Sie ihn jetzt, im Nachhinein? Wie war diese Zusammenarbeit? Glotz: Es gibt drei, vier große Sozialdemokraten in der Geschichte. Das fängt bei August Bebel an, und sicher gehört auch Kurt Schumacher dazu, dessen Politik ich aber gar nicht für richtig gehalten habe, und dann kommt noch Willy Brandt. Brandt war eine charismatische Figur und ein Herr. Er war ein richtiger politischer Praktiker, der genau wußte, wann er mit wem telefonieren mußte, und er war keineswegs ein Träumer. Aber er war gleichzeitig großzügig. Ich war ja nun sieben Jahre lang sein letzter Bundesgeschäftsführer, und er hat mich einfach "laufen" lassen. Aber er hat mir Ratschläge gegeben. Und er hätte sich nicht an der Nase führen lassen. Er wollte wissen, was los ist, darauf hat er Wert gelegt. Er war ein bedeutender Mann, und es ist schade, daß es in der Politik Leute von seiner Größenordnung heutzutage kaum mehr gibt. Siebeck: Sie waren in der Zeit hochgeachtet als Analytiker, dennoch gab es ab und zu Widerstände. Es erschien so, als ob Peter Glotz den Stallgeruch nicht besessen hätte. Ist das richtig? Glotz: Ja. Das ist ja auch richtig. Es gibt ja in der SPD, wie in allen großen Volksparteien, dieses Phänomen, daß Sie einer bestimmten Gruppierung angehören und ganz bestimmte Meinungen äußern müssen. Wenn Sie sich da zu oft anders äußern und sich anders verhalten, dann gehören Sie da nicht dazu. Ich war im Prinzip schon akzeptiert, aber im Grunde war die Rolle des Bundesgeschäftsführers für einen Intellektuellen wie mich nur möglich wegen Brandt. Der hat das gemacht, der hat das auch durchgesetzt. Schmidt war strikt dagegen, Wehner war strikt dagegen, die haben dann gesagt, tja, wenn der das will, dann können wir das nicht verhindern, das ist sein engster Mitarbeiter. Das zeigt eben auch die Figur Brandts und meine Verbundenheit zu ihm, denn ich glaube es hat nicht geschadet, daß auch so jemand auf einem solchen Posten war und nicht immer nur einer der Treuesten der Treuen. So kann man das auch machen. Aber die Debatten zwischen Edmund Stoiber, Heiner Geißler und mir waren vor 15 Jahren gelegentlich etwas spannender, als die, die heute zwischen den Generalsekretären der Parteien stattfinden. Siebeck: Helmut Schmidt soll einmal zu Ihnen gesagt haben: "Wenn es dich langweilt, 50-mal dasselbe zu sagen, dann werde nie und nimmer Politiker". Haben Sie das so empfunden und auch so erlebt? Glotz: Ja, das war in einem Biergarten in Fürstenfeldbruck, wo er mich bei einer Versammlung unterstützte. Ich glaube, es war im Wahlkampf 1969. Ich war noch ganz am Anfang, war überhaupt noch gar kein richtiger Politiker, sondern ich war noch Assistent an der Universität. Und er hat sich da den jungen Mann vorher mal angeschaut, bevor er mit ihm eine Versammlung abgehalten hat und hat ihm dabei dann diesen Ratschlag gegeben. Und damit hatte er ja sicher recht. Ich habe auch zahllose Male dasselbe gesagt, da kommen Sie gar nicht drum herum, wenn Sie da irgendwo in dieser Spitzengruppe Politik machen. Aber es hat mich z. T. schon sehr gelangweilt und geärgert. Mein Freund Georg Kronawitter, der lange Zeit Münchens Oberbürgermeister war, hatte die Qualität 350-mal dasselbe zu sagen, in der immer gleichen Wortwahl. Und er war natürlich ein viel besserer Wahlkämpfer, als ich es gewesen bin. Das ist schon richtig: Politik ist das Bohren sehr dicker Bretter, und sie besteht eben auch wirklich zu 85 % aus Gremienarbeit: Sie sitzen und sitzen und sitzen und haben oft gar nichts zu sagen, aber Sie müssen da sitzen, weil Sie eben entweder gerade der Minister oder der Abgeordnete oder was auch immer sind. Ich habe das ja auch 25 Jahre durchgehalten, aber es verlangt dann schon eine gewisse seelische Stabilität. Siebeck: Sie haben Ihre Erlebnisse und Erfahrungen in Tagebüchern festgehalten und dann später veröffentlicht. Warum haben Sie das veröffentlicht, was war der Beweggrund dafür? Um mit Ihrer Partei abzurechnen - Sie schonten sich selbst dabei ja auch nicht? Glotz: Das ist ein bißchen unterschiedlich. Das dritte Tagebuch ist in der Tat relativ schonungslos, denn danach bin ich ja aus der Politik ausgestiegen. Das zweite habe ich noch als Bundesgeschäftsführer veröffentlicht, das ist vorsichtiger - aber es ist ein Stück Geschichtsschreibung. Und ich denke auch, es ist eines der wenigen Stücke Geschichtsschreibung der Bonner Republik. Denn seltsamerweise - vielleicht gar nicht seltsam, aber es ist eben so - ist das, was Heinrich Böll und Wolfgang Köppen über Bonn geschrieben haben, natürlich aus der Distanz geschrieben und z. T. schlicht falsch, weil man eben aus der Distanz diesen politischen Betrieb nicht so erfassen kann. Ich fand es eben sinnvoll zu beschreiben, was dort stattfindet, und das kann man in diesen Tagebüchern nachlesen. Siebeck: Sie haben in Ihrem Buch Deutschland als ein Land geschildert, über dem die Luft steht. Ist dieser Bonner Stillstand - wenn es ihn gibt, es gibt ihn ja nicht überall, aber es gibt ihn natürlich in erheblichem Maße - nicht auch ein Spiegelbild einer gelähmten Gesellschaft? Glotz: Das ist jetzt eine zirkelhafte Frage. Selbstverständlich, die Luft steht, weil die Gesellschaft gelähmt ist. Sie mögen schon recht haben, daß nicht an allem Helmut Kohl und seine Regierung schuld sind. Aber ein Stück ist die Psychologie des stärksten Mannes der stärksten Partei natürlich schon auch ursächlich für diese Entwicklung. Aber es gibt auch viele andere Gründe für diese Entwicklung. Ich glaube, daß unser Föderalismus reformiert werden muß. Das versucht Edmund Stoiber in Bayern ja gerade, diese sächsisch-bayerische Kommission hat dazu ja Vorschläge gemacht. Das liegt nicht an Helmut Kohl, daß das nicht passiert, sondern das liegt daran, daß kein Landtag seine Rechte geschmälert wissen möchte, daß sie immer Angst haben, daß sie geschmälert werden, daß deswegen ein wirklich kooperativer Föderalismus nicht zustande kommt. Länderneugliederung - man kann diese Stichworte nur so heraussprudeln. In der Tat haben wir uns sehr darauf eingestellt, daß es nun einmal so ist, wie es ist, und das geht nicht anders, und wenn es nicht geht, brauchen wir auch nicht darüber zu reden. Ich glaube, daß man damit nicht sehr weit kommt. Statt dessen ist es so, daß dieses Land nicht in einem unrettbaren Zustand ist. Sie können sechs, sieben große Reformen machen, und dann läuft dieser Laden wieder, denn im Grunde ist Substanz gut. Sie können die deutschen Hochschulen reformieren, nur es passiert nichts dergleichen. Sie können unser Steuersystem umbauen, nur es reden alle darüber, und es passiert nichts. Sie können unseren Sozialstaat erhalten, wobei Sie ihn an manchen Stellen ganz eindeutig verschlanken müssen. Nur, es passiert nicht. Insofern stimme ich dem Bundespräsidenten zu, der gesagt hat, wir haben kein Erkenntnisdefizit, wir haben ein Umsetzungsdefizit. Siebeck: Herr Professor Glotz, wer hat Sie in Ihrem politischen Leben am meisten fasziniert? Ich glaube, das war Willy Brandt, oder? Glotz: Richtig, Brandt und von Knoeringen. Siebeck: Wer hat Sie in Ihrem wissenschaftlichen Leben fasziniert? Glotz: Da kann ich nicht auf meine direkten Lehrer zurückgreifen, obwohl ich z. B. in München eine gute philosophische Ausbildung genossen habe - eine gut katholische. Ansonsten ist das wohl Max Weber, der große Soziologe. Das ist auch einer der Gründe, warum es ein Max-Weber-Kolleg jetzt an der Erfurter Universität geben wird. Siebeck: Sie sind für fünf Jahre zum Rektor der Universität gewählt worden. Wie wird die Zeit danach aussehen? Wird Peter Glotz noch mehr Bücher schreiben? Glotz: Meine Frau versucht das zu verhindern, aber vielleicht wird es mir ja doch gelingen. In jedem Fall werde ich dann keine administrativen Aufgaben mehr anstreben, ich bin dann über 60 Jahre alt. Ich werde mich dann stärker auf meine Wissenschaft und auf meine sonstigen publizistischen und literarischen Aktivitäten konzentrieren. Ich hoffe, daß ich dann den Lebensrhythmus etwas verlangsamen kann, denn der ist natürlich, sowohl in der Politik wie auch in meiner jetzigen Position, relativ schnell: Sie müssen viel fliegen und viel im Zug sitzen und viel mit dem Instrument hantieren, das in Deutschland komischerweise Handy heißt - ein Anglizismus, den es in den Vereinigten Staaten gar nicht gibt. Vielleicht leiste ich mir mal ein Leben ohne Handy. Siebeck: Sie werden aber hoffentlich auch noch ein paar Bücher schreiben. Herr Professor Glotz, ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche Ihnen alles Gute für die anstehenden Aufgaben in Erfurt. Meine Damen und Herren, das war Professor Peter Glotz bei Alpha-Forum. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse.

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