...... Das Genie, das sich in der Kunst offenbart

Texte von Beat Stutzer, Franco Monteforte, Casimiro Di Crescenzo, Christian Dettwiler

Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... Alberto Giacometti, 1901–1966

von Beat Stutzer*

Seite I: Alberto Giacometti im Hof seines Ateliers in , ca. 1958; dieses Porträt ziert die 100-Franken-Note der Schweiz.

Auf dieser Seite: Alberto Giacometti in seinem Pariser Atelier, ca. 1952.

Links: Alberto Giacometti Selbstbildnis , um 1923. Öl auf Leinwand auf Holz: 55 x 32 cm Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung. Alberto Giacometti ...... In der Flut von Publikationen zu Alberto Sonnenstrahl auf den Talboden. Die karge Giacometti trifft man kaum eine an, die auf Landschaft und das raue Klima prägten das eine kürzere oder ausführlichere Biografie entbehrungsreiche Leben der bäuerlichen verzichtet. Es gibt sogar spezielle Lebens - Bevölkerung. Vielen bot das Tal kein Aus - bilder, die zu Giacometti entworfen wurden: kommen. So blieb nur die Abwanderung in eine Romanbiografie wie eine Bildbiografie die Fremde, um sich als Zuckerbäcker die ebenso wie eine Werkbiografie und sogar Existenz zu sichern. einen «ägyptischen Lebenslauf »1. Von be - sonderem biografischem Gehalt sind nicht Alberto Giacometti kam am 10. Oktober zuletzt die zahlreichen, zum Teil atmosphä - 1901 in als Sohn des Malers Gio - risch dichten Fotografien, die Giacometti vanni Giacometti und dessen Frau Annetta bei der Arbeit, sein Zusammensein mit sei - Giacometti- zur Welt. Sein Taufpate ner Frau Annette, seinem Bruder Diego war der Solothurner Maler Cuno Amiet. oder mit Freunden, seine Gegenwärtigkeit Alberto wuchs in Stampa auf, wo die Fami - in Montparnasse, seine Ateliers in Paris und lie 1903 im familieneigenen Gasthaus Piz Du - im Bergell sowie seine Werke zeige n2. an wohnte, bevor sie 1906 im Haus schräg gegenüber einzog, wo Giovanni die angren - zende Scheune zum eigenen Atelier ausbau - en liess. 1909 fiel der Familie durch Erb - schaft ein Haus in Capolago am Silsersee bei Maloja zu, wo man sich schon zuvor wäh - rend der Sommerzeit aufgehalten hatte. Auch wurde ein Atelier angebaut. In diesen Ateliers des Vaters arbeitete Alberto später stets, wenn er sich im Bergell aufhielt.

Dank ihrer Souveränität bildete Annetta über Jahrzehnte den ruhenden, zentralen Pol der aussergewöhnlichen Familie. Sie wurde von ihrem Mann und bald auch von ihrem Sohn im Laufe ihres langen Lebens in unzähligen Zeichnungen, Gemälden und Skulpturen festgehalten. Die tiefe Bezie - hung, die Alberto lebenslang mit seiner Mutter verband, ist bereits auf der Fotogra - fie von 1911 ersichtlich. Anlässlich des 40. Geburtstages von Annetta wurde die ganze Familie vom Fotografen Andrea Garbald in Soglio abgelichtet. Während Albertos Ge - schwister Diego, Bruno und Ottilia in die Kamera schauen und der Vater sich den Kindern zuneigt, stehen Alberto und An - Das unscheinbare Bauerndorf Stampa netta in direktem, innigem Blickkontakt avancierte dank Giovanni, Alberto und miteinander. Es ist vom «unerhört intensi - Diego Giacometti, aber auch wegen Augusto ven Blick Albertos auf seine Mutter» und Giacometti, die schweizerische, sogar inter - von der «Sicherheit, mit dem sie ihm ant - nationale Bedeutung erlangten, zum klin - wortet» die Rede. Es sei der «gleiche genden Begriff in der Topographie moder - Blick» 3, den Alberto später auf die Wirk - ner Kunst: Bergell – Heimat der Giacometti lichkeit richten sollte. und Phänomen Stampa lauten entsprechen - de Schlagworte. Im Unterschied zum mon - Ein müheloser Anfänger dänen Engadin, wo die Sonne auch im Win - Alberto zeichnete seit seiner frühesten Ju - Alberto und Bianca ter über den Bergen strahlt, gelangt wäh - gend. 1913 malte er sein erstes Ölbild, ein auf dem Lunghinpass, 1936. rend der Wintermonate in Stampa kein Apfelstillleben, und kurz darauf modellierte

IV Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... er die ersten Skulpturen, die Bildnisköpfe Gasthof in Madonna di Campiglio den Tod seiner Brüder Diego und Bruno. Alberto seines Reisebegleiters Pieter van Meurs: wuchs im väterlichen Atelier ganz selbst - ein Schlüsselerlebnis, das er später im Text verständlich in die Welt der Kunst hinein. Le Rêve, le Sphynx et la mort de T. (1946) 5 und Die Arbeiten des «scheinbar mühelosen in der Skulptur Tête d’homme sur tige ver - Anfängers» 4 erwiesen sein un gewöhnliches arbeitete. Talent, das vom Vater tatkräftig gefördert wurde, schon sehr früh. Gleichzeitig übte Paris sich Alberto im unablässigen Kopieren von Am 9. Januar 1922 traf Alberto Giacometti Meisterwerken, eine Gewohnheit, die er sein in Paris ein. Während der folgenden fünf Leben lang beibehielt. Zwischen dem Vater – Jahre besuchte er die Bildhauerklasse von dem anerkannten postimpressionistischen Émile-Antoine Bourdelle an der Académie Maler, der die leuchtende Farbe in die de la Grande Chaumière. 1924 bezog er sein Schweizer Kunst eingebracht hatte, und dem erstes Atelier, Anfang 1925 sein zweites. Sohn entwickelte sich eine von gegenseiti - Albertos Bruder Diego traf in Paris ein. gem Geben und Nehmen geprägte, intensive Fortan teilten die Brüder Leben und Arbeit: künstlerische Beziehung. Während der Eine jahrzehntelange, fruchtbare Zusam - Schulzeit in der Evangelischen Lehranstalt menarbeit nahm ihren Auftakt. Diego war Schiers im Prättigau (1915-1919) entstanden Alberto stets zu Diensten, um nach dessen neben Zeichnungen und Aquarellen auch Entwürfen Kunstgegenstände auszuführen, Bildnisse in Öl und kleinere plastische Arbei - um die Armaturen für die Gips- und Ton- ten, darunter der Kopf der Mutter und des skulpturen zu erstellen und um die Ton- und Schulfreundes Simon Bérard. In Stampa Gipswerke in Bronze giessen zu lassen. hielt Alberto die ihm vertrauten Räume, die Alberto Giacometti ging mit Flora Mayo, Mutter am Küchenherd, die um den Tisch einer amerikanischen Bildhauerin, bis 1929 versammelte Familie oder den Vater zeich - eine lose Beziehung ein. Sie porträtierten nerisch fest. Obwohl Alberto während der sich gegenseitig in Tonskulpturen. “Wunderkind-Phase” seinem Vater nachei - ferte, zeugen die frühen Blätter von einer Giacometti setzte sich in Zeichnungen und stupenden Virtuosität im Erfassen des Ge - Skulpturen mit dem Kubismus auseinander schauten. Das insistierende zeichnerische und lernte die Werke von Henri Laurens, Erfassen der unmittelbaren Umgebung wur - Jacques Lipchitz und Constantin Brancusi de später zur Gewohnheit. Alberto ging es kennen. 1926 entstand sein erstes Haupt - schon damals weniger um das Motiv als um werk, die Femme-cuillère, das die Faszinatio n das fundamentale künstlerische Problem: des Künstlers für afrikanische Kunst spie - Wie verhalten sich die auf Distanz gesehenen gelt. Im gleichen Jahr bezog Giacometti Dinge zu dem sie umgebenden Raum?

Ausbildung und Reisen Ab Herbst 1919 besuchte Alberto die Ecole des Beaux-Arts (Malerei) und die Ecole des Arts et Métiers (Bildhauerei, Zeichnen) in Genf. 1920 begleitete er seinen Vater an die Biennale von Venedig, wo er sich für die Ma - lerei Tintorettos und in Padua für Giotto be - geisterte. Vom Herbst 1920 bis zum folgen - den Sommer hielt sich Alberto in Italien auf, in Florenz, wo er sich für die ägyptische

Alberto Giacometti Kunst interessierte, in Perugia und Assisi. Femme-cuillère , In Rom erlebte er seine erste Schaffenskri - 1926/27. se: Er selber sprach von «Ungenügen», als Bronze: 144 x 41 x 23 cm er an einer Büste seiner Cousine Bianca ar - Kunsthaus Zürich, beitete, die schliesslich misslang. Auf einer Alberto Giacometti- Stiftung. Reise im Herbst 1921 erlebte Alberto in ei nem

V Alberto Giacometti ...... sich nun regelmässig an Ausstellungen. Der Sammler Vicomte Charles de Noailles er - warb in der Galerie von Jeanne Bucher den Tête qui regarde. Giacometti machte die Be - kanntschaft von Künstlern und Literaten wie André Masson, Hans Arp, Joan Miró, Max Ernst, Louis Aragon, Jean Cocteau, Alexander Calder, Jacques Prévert, Georges Bataille und Michel Leiris, der 1929 den ersten Artikel über Giacometti in der Zeitschrift «Documents» publizierte.

An einer Ausstellung von 1930 in der Galerie Pierre Loeb erwarb André Breton Giacomettis Objekt Boule suspendue. Giaco - metti wurde in den Kreis der Surrealisten um André Breton und Louis Aragon aufge - nommen, wo er als Bildhauer eine zentrale Rolle spielte. Durch Man Ray wurden ein winziges, schäbiges Atelier an der Rue Alberto und Diego Giacometti bei Jean- Hippolyte-Maindron 46. Hier lebte und ar - Michel Frank eingeführt, einem Innen- beitete er bis zu seinem Tod. Nach dem einrichter und Händler exklusiver Möbel, Krieg mietete Giacometti Nebenräume da - für den die Giacomettis während rund zehn zu, Wasser, Elektrizität und Telefon wurden Jahren Vasen, Kamineinfassungen, Lampen, eingerichtet – das war alles, was an Verbes - Wandleuchter etc. entwarfen und herstellten. serungen dazukam. Über seine Arbeitsbe - Zudem gestalteten sie Schmuck für die dingungen äusserte sich der Künstler spä - Mo deschöpferin Elsa Schiaparelli. ter: «Seltsam, als ich dieses Atelier 1927 mie - tete, dachte ich, es sei winzig. Ich wollte Im 1933 publizierten, surrealistischen Text sobald als möglich wieder ausziehen, da es «Hier, sables mouvants» 8 berichtet Alberto so eng war – nicht mehr als ein Loch. Aber je Giacometti in literarischer Verdichtung von länger ich blieb, desto grösser wurde es. seinen prägenden Kindheitserinnerungen Hier habe ich alles machen können. […] und Jugenderlebnissen. Die zum Teil grau - Wenn ich ein grösseres Atelier hätte, so wür - samen Phantasien und sexuellen Vorstellun - de ich darin nicht mehr Raum benützen» 6. gen fanden im Umfeld der Theorien von Bre - Auch als die Erfolge während der 1950er Jah - ton und verbunden mit der Faszination für re einsetzten, hielt Giacometti standhaft an fremde Kulturen, in komplexen surrealisti - diesem Atelier fest und meinte, dass ihm die schen Objekten ( Femme égorgée, La cage, «condition misérable » zunehmend behagte 7. Pointe à l’œil , Main prise oder L’objet invisible ) künstlerische Gestalt. Sie behandeln in ver - Surrealismus schlüsselter Form Themen der Sexualität, Am Anfang waren es nur Halbjahre, die Gia - der Aggression und der Gewalt, den Gegen - cometti in Paris zubrachte. 1927 schuf er im satz der Geschlechter oder das abgründige, Bergell eine Serie von Bildnissen seines Va - numinose Spiel zwischen Leben und Tod ters, welche die radikale Abwendung von (On ne joue plus, La table surréaliste). der akademischen Tradition manifestieren. Die Köpfe gerieten zunehmend flacher, bis 1934 kam es zum Bruch mit den Surrealisten. für das eingeritzte Gesicht nur noch eine Während der Arbeit an der enigmatischen Fläche blieb. Darauf entstanden dünne, Gipsskulptur 1+1=3 beschlichen Giacometti rechteckige Plattenskulpturen, welche das Zweifel. Er gab dem Bedürfnis, wieder etwas Abbildhafte endgültig hinter sich lassen. nach der Natur zu machen, nach – und zeich -

Ecke mit dem Ruhebett Mit diesen Scheibenskulpturen lenkte der nete und modellierte tagelang den Kopf sei - Alberto Giacomettis Künstler die Aufmerksamkeit der Pariser nes Bruders. André Breton war empört: im Studio in Paris, ca. 1953. Avantgarde auf sich. Giacometti beteiligte «Ein Kopf! Jedermann weiss doch, was ein

VI Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ......

Alberto Giacometti Kopf ist». Giacomettis Hinwendung zum mettis spätere Malerei nach dem Krieg. La mère de l’artiste , Modell und damit zur Erfassung der äusse - Mit der Britin Isabel Delmer, die ihm für 1937. Öl auf Leinwand: ren Wirklichkeit wurde von den Surrealis - Zeichnungen und Skulpturen Modell sass 60x50 cm ten angesichts der restaurativen Tenden - (Tête d’Isabel ), ging Giacometti eine neue Kunsthaus Zürich, Depositum Dr. Anton zen und der offiziell geförderten figürlichen Beziehung ein. 1938 wurde er nachts auf der und Anna Bucher- Kunst als reaktionär und als Verrat an der Place des Pyramides von einem Auto ange - Bechtler. Avantgarde empfunden. Giacometti kam fahren und brach sich den rechten Mittel - dem Ausschluss durch Breton zuvor und dis - fuss, so dass er fortan hinkte. Er selber mein - tanzierte sich selber von den Surrealisten. te, dieses plötzliche Erlebnis habe sich auf sein Leben und Arbeiten stark ausgewirkt. Arbeit nach dem Modell Durch den Bruch mit den Surrealisten ver - Genf lor Giacometti viele Freunde, gewann aber Kurz vor dem Einmarsch der deutschen neue wie Balthus, André Derain, Pierre Tal- Wehrmacht vergrub Giacometti seine klei - Coat und Pablo Picasso, die sich ebenfalls nen Skulpturen in seinem Atelier. Während der Wiedergabe nach der Natur zugewandt Diego in Paris verblieb, reiste Alberto Ende hatten. Alberto Giacometti arbeitete aus - 1941 nach Genf, wo er sich bis zum Septem - schliesslich nach dem Modell. Es entstan - ber 1945 aufhielt. Obwohl Giacometti in den den Zeichnungen und Skulpturen, zumeist väterlichen Ateliers im Bergell bequem hät - auf Sockel gestellte Köpfe, die immer klei - te arbeiten können, richtete er sich in Genf ner wurden, bis sie bloss noch daumengross ein – nicht zuletzt wegen seiner Bindung zur waren. Als Annetta Zweifel an der Bega - Mutter Annetta, die sich damals oft in Genf bung ihres Sohnes äusserte, malte Giaco - aufhielt: Ottilia, die den Genfer Arzt Francis Berthoud geheiratet hatte, war 1937 bei der Geburt ihres Kindes Silvio verstorben, und so kümmerte sich Annetta um den kleinen Enkel. Giacometti bezog ein winziges Zim - mer mit Kachelofen und kleinem Holztisch im dritten Stock des Hôtel de Rive. Hier ar - beitete er an winzigen Gipsfigürchen. Sie gerieten ihm deshalb so klein, weil er da - nach trachtete, die räumliche Distanz zum Modell zu veranschaulichen. Umso grösser erscheinen proportional die Sockel ( Petit homme sur socle, Buste de Silvio ). In Genf machte Giacometti die Bekanntschaft mit dem Verleger Albert Skira, dem Fotografen Elie Lotar und mit Annette Arm. Während des Sommeraufenthaltes 1943 entstand in Maloja die Femme au chariot, die sich deut - lich von den Miniaturfiguren abhebt.

Anni mirabilis Mitte September 1945 traf Giacometti nach fast vier Jahren “Exil” wieder in Paris ein, metti 1937 zwei Bilder, um seiner gestren - wo er seine einsame Arbeit, aber auch das gen Mutter seine Fähigkeit, gültige Werke gesellige Nachtleben in Montparnasse wie - zu schaffen, zu beweisen. Das Bildnis Die der aufnahm. Seine Sicht der Wirklichkeit, Mutter des Künstlers und das Stillleben Apfel seine neue plastische Auffassung der Figur auf dem Buffet offenbaren Giacomettis Aus - wurde nun zum «Giacometti-Stil». Die Fi - einandersetzung mit der Malerei von Paul guren auf hohen Sockeln geraten immer Cézanne. In der Auffassung des Raumes länger und dünner, stabdünne Wesen zwi - weisen die Gemälde aber weit über Cézanne schen Mimesis und Erscheinung, aber mit hinaus und bilden die Grundlage für Giaco - exakten Proportionen, mit einnehmendem,

VII Alberto Giacometti ......

VIII Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... erfassendem Blick und mit einer ungeheu - zu welcher der Künstler nochmals einen ren Raumpräsenz. Giacometti verminderte erhellenden Brief beisteuert e11 . Gezeigt wur - die plastische Materie seiner Figuren zu - den nun auch die neuen, mehrfigurigen Kom - gunsten des umgebenden Raumes, mit dem positionen, die modellhaften Platzgestaltun - sie auf das Engste dialogisieren ( L’homme au gen auf Sockeln ( La Place ) oder in einem doigt, Femme debout ). Käfig. Der Künstler thematisiert die Erfah - rung von Raum und Zeit sowie die existen - Nach der Abkehr von den Surrealisten fand zielle Befindlichkeit des darin ausgesetzten bis 1947 keine einzige Ausstellung mit Wer - Menschen. Die Gehenden bewegen sich auf ken Giacomettis mehr statt. In der Einzel - der Sockelplatte wie auf einem Steg, so dass ausstellung von 1948 in der Galerie Pierre die Szenerien an eine Bühne gemahnen. Matisse in New York zeigte Giacometti ne - Giacometti radikalisiert die Verlorenheit der ben früheren Werken erstmals die neuen, menschlichen Existenz in einem Raum. zum Teil lebensgrossen, drahtdünnen Wer - ke. Diese Ausstellung begründete Giaco - Am 19. Juli 1949 heiratete Alberto Giaco - mettis Nachkriegsruhm in den angelsächsi - metti in Paris Annette Arm, die ihm fortan schen Ländern, bevor sich seine Bekannt - bevorzugtes Modell war. Seine alten Le - heit auch in Europa einstellte und sein bensgewohnheiten änderte er indes nicht Schaffen an zahlreichen, wichtigen Ausstel - im Geringsten. Am frühen Nachmittag be - lungen gezeigt wurde. Der Katalog enthält gab er sich jeweils ins Café-Tabac an der den vom Künstler im Vorjahr verfassten Strassenkreuzung Rue d’Alésia/Rue Didot, Brief an den Galeristen, in dem er die Sta - wo er einige œufs durs ass, manche Tasse tionen seines künstlerischen Schaffens Kaffee trank und unzählige Zigaretten schildert und die einzelnen Werke skizziert rauchte. Dann kehrte er in sein Atelier zu - und erläutert 9, sowie den Aufsatz La Re - rück, wo er konzentriert bis gegen Mitter - cherche de l’Absolu von Jean-Paul Sartre 10 – nacht arbeitete, um schliesslich an seinem seitdem sah das amerikanische Publikum in Tisch im Coupole seine zweite Mahlzeit ein - Giacometti schlicht den Bildhauer des fran - zunehmen. Meist gegen Morgen kehrte er zösischen Existenzialismus. von seinen nächtlichen Eskapaden zurück, um nochmals einige Stunden zu arbeiten. Die Jahre von 1946 bis um 1950 waren «anni mirabilis», als Giacometti eine ganze Reihe Die fünfziger Jahre herausragender Werke schuf, mit denen er In den fünfziger Jahren nahm Alberto Gia - seine fundamentalen Anliegen visualisierte. cometti die Landschaftsmalerei wieder auf. Im Zentrum der Intentionen steht das opti - Er wandte sich den banalen Motiven in der sche Erfahren der gleichsam lebendigen Umgebung seines Ateliers zu: den Ansich - Präsenz eines Gegenübers. Die Skulpturen ten der Rue Hippolyte-Maindron, der Rue sind eigentliche «Wahrnehmungsmodelle», d’Alésia oder der Rue Didot. Im Bergell mal - wenn etwa der Gegensatz von Nähe und Fer - te er die ihm seit den frühesten Tagen ver - ne, von Anziehung und Abstossung ( Quatre trauten Orte, wie sie sich ihm von den Ate - figurines sur base ) formuliert wird. Primäres liers in Maloja oder in Stampa aus darboten: Thema ist die visuelle und affektive Bezie - in Capolago den Blick auf den Silsersee, in hung des Künstlers/Betrachters zur erblick - Stampa den Garten neben dem Wohnhaus ten und erfahrenen Wirklichkeit. Die Skulp - oder die Sicht talaufwärts mit den flankie - tur ist bei Giacometti nie eine Nachbildung renden Bergketten. Ungeachtet der nuan - in einem realen Raum, sondern eine Imagi - cierten Farbgebung sind die Gemälde zur nation in einem zugleich greifbaren wie un - Hauptsache grautonig. Giacometti war we - zugänglichen Raum ( Le nez, L’homme qui niger an der Topographie oder am Stim - chavire). Mit einer zweiten Variante nahm mungshaften einer Landschaft interessiert Alberto Giacometti Giacometti nochmals das Thema des Men - als vielmehr am Freilegen des Essentiellen. im Café Express schen auf einem Wagen auf ( Le chariot ). Es ging ihm um die Evokation des über den an der Rue d’Alesia, wo er seinen Wandel der Zeit hinweg Andauernden – Frühstückscafé 1950 veranstaltete die Galerie Pierre Matisse schlicht um den Wahrheitsgehalt eines trank und sich mit Freunden traf. in New York wieder eine Einzelausstellung, Bildes. Die Problematik einer glaubhaften

IX Alberto Giacometti ......

X Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... Wiedergabe geschauter Wirklichkeit wurde wichtige Gemälde und Skulpturen schuf. für Giacometti zur steten, unlösbaren Auf - Für Giacometti war das Bergell nicht nur gabe, der er sich unerbittlich immer wieder ein Ort des Rückzugs und der Erholung, aussetzte. So ergründet Giacometti die ele - sondern es verlieh ihm auch künstlerische mentaren Strukturen der Landschaft und Impulse. Aus der Polarität zwischen der ermittelt mit der zeichnenden, insistieren - Kunstmetropole und der Beschaulichkeit den Linie die komplexen Raumbezüge. Wie des Landes bezog Giacometti zeitlebens bei den Skulpturen geht es dem Künstler sein schöpferisches Potenzial. Es war fast weniger um das Abbildhafte als vielmehr ein rituelles «aller retour» des Künstlers um eine künstlerische Vergegenwärtigung. zwischen Stampa und Paris 13 .

Giacometti traf mit dem französischen Au - Späte Jahre tor Jean Genet zusammen, den er mehrfach 1956 wurde Giacometti zusammen mit Ale - porträtierte. Genet publizierte im Katalog xander Calder eingeladen, für den Platz vor zur Ausstellung von 1957 in der Galerie dem neuen Wolkenkratzer der Chase Man - Maeght den Text L’Atelier d’Alberto Giaco - hattan Bank in New York eine Skulptur zu mett i 12 . Zum ersten Mal wurde literarisch schaffen. Das Platzprojekt beschäftigte den der Genius loci von Giacomettis Arbeits - Künstler während der folgenden Jahre un - stätte gewürdigt. Ende 1955 lernte Giaco - ablässig. Er sah drei zueinander in Bezie - metti den japanischen Philosophieprofes - hung gebrachte Skulpturen vor: einen sor Isaku Yanaihara kennen, der ihm bis schreitenden Mann, eine hieratisch stehen - 1961 wiederholt als Modell für Gemälde und de Frau sowie einen grossen Kopf auf ho - Skulpturen diente. Im Unterschied zu den hem Sockel. Wenige Monate vor seinem Tod frühen, frontalen Porträts, die auch das ver - reiste Giacometti Anfang Oktober 1965 an traute Umfeld von Atelier oder Stube schil - Bord der Queen Elizabeth nach New York, dern, erscheinen die späteren Bildnisse um seine Ausstellung im Museum of Mo - gleichsam unverortet, da sich der Künstler dern Art zu besuchen. Nachts begab er sich fast ausschliesslich auf den Kopf und den zur Chase Manhattan Bank, um die Situati - Blick der Dargestellten fokussiert. on erstmals vor Ort zu prüfen – und meinte, das einzig Richtige sei eine sechs bis acht 1955 wurde Giacometti mit seiner ersten Meter hohe, stehende Frauenfigur. Zu einer Ausstellung in Krefeld, Düsseldorf und Stutt - Realisierung kam es nicht. Hingegen reali - gart auch in Deutschland bekannt. Im glei - sierte Giacometti 1964 die mehrfigurige chen Jahr fanden die ersten Retrospektiven Platzkomposition im Hof der Fondation in London (Art Council) und in New York Maeght in Saint-Paul-de-Vence mit den (Solomon R. Guggenheim Museum) statt. grossen Skulpturen L’homme qui marche II , Von Bedeutung war seine Teilnahme 1956 Femme debout III und L’homme qui marche I . an der Biennale in Venedig, wo er im fran - zösischen Pavillon zehn Fassungen der- Ab 1958 beschäftigte sich Giacometti mit ei - selben hohen, stehenden Frauenfigur, die nem anderen ambitiösen Projekt. Er weitete Femmes de Venise , zeigte. dabei sein Blickfeld über Montparnasse hi - naus und beschäftigte sich zeichnerisch mit Paris – Stampa dem “ganzen” Paris: Die Stadtansichten wa - Während rund vierzig Jahren war Paris ren ihm ebenso wichtig wie eine banale Giacomettis Wahlheimat und hauptsächli - Stuhllehne oder ein Aschenbecher. Sämtli - che Wirkungsstätte. An der Rue Hippolyte- che, direkt auf den Lithostein gemachten Maindron entstand der weitaus grösste Teil Zeichnungen wurden im umfassenden Li - seines Œuvres, und hier war er in der Pari - thografiewerk Paris sans fin mit 150 Blättern ser Avantgarde verwurzelt, zuerst im Um - postum 1969 vom Kunstkritiker und Verle - Alberto Giacometti feld des Surrealismus, später in jenem der ger Tériade herausgegeben 14 . arbeitet an Existenzialisten. Immer wieder kehrte er La Grande Tête , eine Arbeit, die für die jedoch in seine Heimat, ins Bergell, zurück, Im Herbst 1959 machte Giacometti die Chase Manhattan Plaza wo er ebenso intensiv arbeitete, zahllose Bekanntschaft mit Caroline, einer Prostitu - in New York geplant war, ca. 1960. Zeichnungen hervorbrachte, aber auch ierten, deren Anziehungskraft er erlag und

XI Alberto Giacometti ......

die er mehrfach porträtierte. Giacomettis Anfang Dezember begab sich Giacometti Mutter Annetta starb am 25. Januar 1964; zur Behandlung ins Kantonsspital in Chur, sie wurde unter demselben Stein auf dem wo er am 11. Januar an einer Perikarditis als Friedhof in Borgonovo begraben, den Al - Folge einer chronischen Bronchitis starb. berto dreissig Jahre zuvor für seinen Vater Am 15. Januar 1966 wurde er unter grosser entworfen hatte. Anteilnahme zahlreicher Weggefährten, Freunde, Kollegen, Museumsdirektoren Alberto Giacometti war inzwischen weltbe - und Kunsthändler aus der ganzen Welt, rühmt, und die Reihe der grossen Ausstel - aber auch im Beisein von Vertretern der lungen riss nun nicht mehr ab: 1962 erhielt er französischen Regierung und der eidgenös - an der Biennale von Venedig den Grossen sischen Behörden in Borgonovo bei Stampa Skulpturenpreis, und das Kunsthaus Zürich beigesetzt. Sein Bruder Diego gestaltete die zeigte eine umfassende Werkschau. Es folg - Grabplatte und stellte die Bronzebüste Elie ten Ausstellungen in Washington, in Lotar III , das letzte Werk Alberto Giaco - und 1965 im Museum of Modern Art in New mettis, darauf. York (anschliessend in Chicago, Los Angeles und San Francisco), in der Tate Gallery in * Beat Stutzer London, im Louisiana-Museum in Humleba - Kunsthistoriker, Direktor des Bündner ek und in Amsterdam, zu denen Giacometti Kunstmuseums Chur und Konservator zumeist anreiste. 1962 erschien die erste, des Segantini Museums St. Moritz. von Jacques Dupin verfasste Monographie mit einer umfassenden Dokumentation des Œuvres von 1914 bis 1962. Und 1965 produ - zierten Ernst Scheidegger und Peter Mün - Stillleben aus dem ger einen Film über Giacometti. Im Novem - Atelier in Paris, ber erhielt Giacometti den Grossen Nationa - die hängende Hand stammt aus len Kunstpreis des französischen Staates Giacomettis und die Ehrendoktorwürde der Philosophi - surrealistischer Phase, ca. 1953. schen Fakultät der Universität Bern.

XII Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ......

1 JAMES LORD , Alberto Giacometti – A Biogra - 7 Siehe L’atelier d’Alberto Giacometti, Collection phy, Farrar, Straus and Giroux, New York, de la Fondation Alberto et Annette Giacometti,

1983 ; JAMES LORD , Alberto Giacometti. Der Ausst.-Kat. Centre Pompidou, Paris 2007; The Mensch und sein Lebenswerk, Scherz Verlag, Studio of Alberto Giacometti. Collection of the

Bern/München/Wien 1987; REINHOLD HOHL , Fondation Alberto et Annette Giacometti, Ausst.- Giacometti, Eine Bildbiographie, Stuttgart 1998; Kat. Fondation Alberto et Annette Giacometti,

YVES BONNEFOY , Alberto Giacometti. Biographie Centre Georges Pompidou, Paris 2007.

d’une œuvre, Paris 1991; YVES BONNEFOY , Alberto

Giacometti. Eine Biographie seines Werkes, 8 Siehe ALBERTO GIACOMETTI , Ecrits , a.a.O., S.

Wabern-Bern 1992; CHRISTIAN KLEMM , Alberto 7-9; Alberto Giacometti, Gestern, Flugsand, Giacometti – ein ägyptischer Lebenslauf , in: Gia - a.a.O., S. 33-35. cometti. Der Ägypter , Ausst.-Kat. Ägyptisches

Museum und Papyrussammlung Staatliche 9 Siehe ALBERTO GIACOMETTI , Ecrits , a.a.O., S.

Museen zu Berlin, Kunsthaus Zürich, Deut - 37-50; ALBERTO GIACOMETTI , Gestern, Flugsand, scher Kunstverlag, München und Berlin 2008. a.a.O., S. 62-89.

2 Siehe Von Photographen gesehen: Alberto 10 JEAN -P AUL SARTRE , La Recherche de l’Absolu, Giacometti, Ausst.-Kat. Bündner Kunstmu - Alberto Giacometti , in Ausst.-Kat. Matisse Gal - seum Chur, Kunsthaus Zürich, Stiftung für die lery, New York; wieder abgedruckt in: Situati - Photographie, Zürich 1986; Alberto Giacometti: ons III , Gallimard, Paris 1949, S. 289-305. neu gesehen , Bündner Kunstmuseum Chur,

Scheidegger & Spiess, Zürich 2011. 11 Siehe ALBERTO GIACOMETTI , Ecrits , a.a.O., S.

51-63; ALBERTO GIACOMETTI , Gestern, Flugsand,

3 CHRISTIAN KLEMM , Annetta, gesehen von Gio - a.a.O., S. 90-105. vanni und Alberto Giacometti. Notizen zum The -

ma , in: La Mamma a Stampa. Annetta – gesehen 12 JEAN GENET , L’Atelier d’Alberto Giacometti ,

von Giovanni und Alberto Giacometti, Ausst.- Barbezat, Décines, 1958; JEAN GENET , Kat. Kunsthaus Zürich, Bündner Kunst- Al berto Giacometti , Verlag Ernst Scheidegger, museum Chur, Zürich 1990, S. 12. Zürich 1962.

4 DIETER KOEPPLIN , Die Zeichnungen des 13 Siehe Ausst.-Kat. Alberto Giacometti, Stampa- scheinbar mühelosen Anfängers , in: Alberto Paris , Bündner Kunstmuseum Chur, Schei - Giacometti. Zeichnungen und Druckgraphik , degger & Spiess, Zürich 2000. Hatje, Stuttgart 1981, S. 10-37. 14 Paris sans fin, 150 lithographies originales ,

5 Siehe ALBERTO GIACOMETTI , Ecrits , présen - Tériade, Paris 1969; OTTO BREICHA , R EINHOLD

tés par Michel Leiris et Jacques Dupin, HOHL , Alberto Giacometti. Paris sans fin , Ruper - préparés par Mary Lisa Palmer et François tinum-Publikationen, Salzburg 1985.

Chaussande, Paris 1990, S. 27-35; ALBERTO

GIACOMETTI , Gestern, Flugsand. Schriften , Scheidegger & Spiess, Zürich 1999, S. 52-61.

6 DAVID SYLVESTER , Interview mit Alberto Giacometti, September 1964, London: BBC; zit.

nach REINHOLD HOHL , Alberto Giacometti, Gerd Hatje, Stuttgart 1971 (1987), S. 246.

XIII

Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... Alberto Giacometti: ein Grenzgänger und seine Beziehung zur Heimat

von Franco Monteforte*

Links: Luciano, Odette (wahrscheinlich), Max Ernst, Alberto, Ada und Bianca (von links nach rechts), August 1935.

Auf dieser Seite: Alberto Giacometti vor dem Postgebäude in Maloja. Alberto Giacometti ...... Am 9. Januar 1922 kam der gerade zwanzig - jährige Alberto Giacometti nach Paris, um an der Académie de la Grande Chaumière die Kurse von Antoine Bourdelle zu besuchen. Zu dieser Zeit war Paris gerade im Begriff, zur unumstrittenen Hauptstadt der Kultur und der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts zu werden und nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reichs das Erbe Wiens anzutre - ten, wohin Giacometti eigentlich lieber gegan - gen wäre, «weil das Leben dort billiger war». Es war nicht das erste Mal, dass er das Bergell verliess. Von 1915 bis 1919 hatte er die Evangeli - sche Lehranstalt Schiers in der Nähe von Chur besucht, war aber vor der Abschlussprüfung ausgetreten. Anschliessend hatte er sich in Genf zunächst in der Ecole des Beaux-Arts und dann in der Ecole des Arts et Métiers eingeschrieben, doch die Stadt konnte ihn nicht begeistern, und nach kaum einem Jahr war er wieder zuhause. Er besuchte auch Florenz und Rom, wohnte dort im Haus seines Onkels Antonio, eines Kon - ditors, direkt neben seiner fünfzehnjährigen Cousine Bianca, der ältesten seiner sechs “Römer” Cousins, die zu seiner ersten Jugend - liebe wurde. Doch obwohl er in eine Künstler - Sein Biograf James Lord schreibt: «Auch als vereinigung eintrat und ein kleines Atelier in der er bereits sesshafter in Paris geworden war, Via Ripetta bezog, wo er mit den beiden gleich - kehrte er regelmässig nach Stampa zurück, als altrigen Schweizer Künstlern Arthur Welti und hätte es zwei Albertos gegeben, den einen, der Hans von Matt Freundschaft schloss, war er von im Ausland lebte und den anderen, der seinen seiner Umgebung bald enttäuscht. Heimatort nie verlassen hatte. Der Pariser Auch Paris, wo sein Vater studiert hatte, war zu - Giacometti empfing seine Selbstgewissheit nächst nur als Studienaufenthalt geplant. Und von dem zu Hause gebliebenen und musste um in den ersten drei Jahren sollte Alberto tatsäch - des letzteren willen immer wieder nach Stam - lich mehr Zeit im Bergell verbringen als in der pa zurückkehren. Beide bezogen ihre Kraft aus französischen Hauptstadt, wo er sich insgesamt der steinigen heimatlichen Erde» 2. höchstens sechs Monate aufhielt. Erst von 1925 an, als er sich zum ersten Mal an den alljährli - Wie hätte es auch anders sein können? Im chen Ausstellungen im Salon des Tuileries und Bergell hatte Alberto zusammen mit seinen drei im Salon des Indépendants beteiligte, wurden Geschwistern eine überaus glückliche Kindheit seine Besuche im Bergell kürzer und seltener. verbracht, geprägt von familiärer Harmonie Von da an werden Paris und das künstlerische und der starken Persönlichkeit der Mutter An - Ambiente der Stadt zunehmend zu der Bühne, netta , und durchdrungen von einer alles ande - von der seine Kunst nicht mehr zu trennen ist. re als provinziellen, für internationale Einflüsse Dadurch lockern sich aber keineswegs seine offenen künstlerischen Kultur, die dem Vater Bindungen ans Bergell. Die Landschaft und das Giovanni und dem Onkel Augusto, zwei hervor - Haus in Stampa und Maloja, die Eltern, die Ge - ragenden Malern, zu verdanken war. Diese schwister und das Atelier des Vaters erschei - Offenheit war seit jeher charakteristisch für das nen immer wieder als künstlerische Themen, kleine Bergtal zwischen der Schweiz und Ita - parallel zu denen, die er in Paris bearbeitet. lien, dessen Bewohner seit Jahrhunderten in Ohne den permanenten Ortswechsel zwischen alle Länder Europas ausschwärmten, um dort Paris und Stampa würden, wie mittlerweile ihr Glück zu suchen. Albertos Vater hatte sich hinreichend belegt, sein gesamtes Werk und stilistisch immer zwischen den modernen Strö - Alberto Giacometti in Capolago, 1930. seine Persönlichkeit unverständlich bleiben 1. mungen des Divisionismus, des Expressionis -

XVI Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... mus und des Fauvismus bewegt – im Schatten befassen, weil ich gerade davon am wenigsten von Giovanni Segantini, dessen Freund und Mit - verstand. Der Gedanke, dass sich dieser Be - arbeiter er war, von Cuno Amiet, Albertos Pa - reich mir völlig entzog, war mir unerträglich. tenonkel und erstem Lehrmeister, und von Fer - Ich hatte keine andere Wahl» 5. dinand Hodler, dem bekanntesten Schweizer Es war keine Niederlage, sondern eine Fügung Maler seiner Zeit und Paten von Albertos Bru - des Schicksals. Das erfüllte ihn anfangs mit der Bruno. hatte in der Furcht, bis er es im Lauf der Jahre mehr und Schweiz eine gewisse Bekanntheit erlangt, so mehr akzeptierte und schliesslich zu seinem dass er 1920 als Mitglied der Eidgenössischen eigenen, unverwechselbaren Stil fand, der sei - Kunstkommission zur Biennale in Venedig ent - nen Erfolg und seinen künstlerischen Welt - sandt wurde und seinen ältesten Sohn Alberto ruhm bestimmen sollte. Denn in dieser Nie - mit in die Lagunenstadt nahm. derlage keimte nicht nur sein Stil, sondern Zwischen Stampa, wo die Familie in einem auch das Lebensgefühl einer ganzen Epoche, grossen rosa Haus mit angebautem Heuscho - einer Epoche der Ungewissheit, die sich selbst ber wohnte, den der Vater zum Atelier umge - und ihren innersten Charakter in seinen Wer - staltet hatte, und Maloja, dem Sommerwohn - ken wiedererkannte. sitz im geerbten Haus des Onkels mütterli - cherseits, hatte Alberto also seine ersten künstlerischen Schritte unternommen. Hier hatte er als Zwölfjähriger seine ersten Zeichnungen angefertigt: Schneewittchen im Sarg und die sieben Zwerge und eine Kopie von Dürers Stich Ritter, Tod und Teufel. Hier hatte er mit 13 seine erste Plastilinskulptur geschaf - fen, eine Büste seines Bruders Diego, und zwei Jahre später auch die erste Büste seiner Mutter. Hier hatte er, an der Seite des Vaters, seine ers - ten Landschaften von Maloja und vom Bergell gemalt, stilistisch an Divisionismus und Fau - vismus orientiert. Hier hatte er auch, den Bleistift in der Hand, zum ersten Mal das erhebende Gefühl expres - siver Allmacht verspürt, die ihm die Berufung zum Künstler aufzeigte. «Ich spürte, dass ich das, was ich tun wollte, so beherrschte, dass es mir genau so gelang, wie ich wollte», sagte er Jahre später. «Ich war sicher, dass ich alles wie - Das zwanzigste Jahrhundert hatte die eigene dergeben und mir alles aneignen konnte, was Unruhe wie einen Samen in seine Künstlerseele ich wollte. […] Nichts konnte mir widerstehen. gelegt, und dieser Same konnte nur in zwei so […] Der Bleistift wurde zu meiner Waffe» 3. gegensätzlichen Orten wie Paris, dem Zentrum Als er dann im Jahr 1921 in Rom an der Büste jener Unruhe, und dem Bergell gedeihen, das seiner Cousine Bianca arbeitete, hinderte ihn Giacomettis seelische Wurzeln hütete und ein verworrenes Gefühl daran, das wiederzu - nähr te. Ohne diese Entscheidung wäre Gia - geben, was er vor Augen sah: «Ich hatte auch cometti nicht der Giacometti geworden, den zwei Büsten angefangen […] und zum ersten wir heute kennen 6. Denn bis 1925 entfernten Mal kam ich nicht mehr zurecht und verlor sich seine Porträts und Landschaften nur we - mich, alles entglitt mir, der Kopf des vor mir nig vom künstlerischen Stil seines Vaters. sitzenden Modells wurde zu einer wolkenarti - In diesem Jahr hatte Alberto seinen Eltern zur Alberto Giacometti 4 Blühender Baum gen Masse, verschwommen und konturlos» . Silberhochzeit ein Bild mit dem Titel Noza d’ar - in Stampa , um 1920. Aus dieser Niederlage erwuchs seine Ent - gent, 4 ottobre 1925 geschenkt, auf dem er in Aquarell über Bleistift scheidung, das Bergell zu verlassen und sich Plein-air-Malerei die Familie im sommerlichen auf Papier: 31 x 21,5 cm der Bildhauerei zu widmen, bei der ihm der Va - Maloja wiedergab: den Vater vor der Staffelei Kunsthaus Zürich, ter, bisher sein Lehrer, jetzt nicht mehr helfen beim Malen, daneben auf einer Bank die Mutter, Alberto Giacometti- Stiftung. konnte. «Ich begann, mich mit Skulpturen zu mit Näharbeiten beschäftigt, dahinter Albertos

XVII Alberto Giacometti ......

Alberto Giacometti jüngere Schwester Ottilia mit einem Blumen - Söhne die Familie zusammenhielt. Doch für mit seiner Mutter strauss, daneben er selbst bei der Bearbeitung Alberto hatte die Verbindung mit der Mutter Annetta auf der Treppe 7 des Hauses in Stampa, eines Steins, im Hintergrund Arbeiter am Haus eine ganz besondere Bedeutun g . ca. 1960. der Familie in Capolago. Links und rechts – als Das berühmte Foto der Familie Giacometti, Bild im Bild – die abwesenden Brüder: Diego bei das Andrea Garbald 1911 aus Anlass von der Arbeit in einer Chemiefabrik in St. Denis, Annettas vierzigstem Geburtstag aufnahm, Bruno in der Kantonsschule in Chur beim Gei - sagt in dieser Hinsicht mehr aus als jede psy - genspiel. Es ist ein ungewöhnliches Gemälde choanalytische Abhandlung. Giacomettis, nicht so sehr wegen der naiven fau - Die Blicke, die Alberto und seine Mutter vistischen Farbgebung, die im Kontrast zum einander vom linken und rechten Rand der eher Cézannschen Stil seiner Malerei nach den Gruppe aus zuwerfen, sind von einer solch ersten Pariser Jahren steht, sondern vielmehr liebevollen Intensität und künden von einer wegen der narrativen Bildkomposition und der so starken emotionalen Anziehung, dass sie fast chorischen Anordnung der eigenen Familie die übrigen Familienmitglieder aus der Szene in einer heiter-entspannten sommerlichen Sze - auszuschliessen scheinen. ne. Die Gesichter haben kaum Konturen, son - Dieser Blick bildet den dunklen und tiefen exis - dern sind nur angedeutet. Noch oft wird Giaco - tenziellen Hintergrund für seine Büsten und metti die Mutter, den Vater, seinen Bruder Die - Ölbilder und für die zahlreichen Zeichnungen go, die Schwester, das Haus und die Berge in und Lithografien der Mutter, die neben seinem Maloja abbilden, aber sie werden nie mehr alle Bruder Diego und seiner Frau Annette stets zusammen sein wie in dieser vertrauten Szene, sein wichtigstes Modell bleiben sollte. sondern isolierte, mit Besessenheit erforschte Das Verhältnis zum Vater ist zwar ebenfalls tief Gestalten und Gesichter, geheimnisvolle, uner - und herzlich, aber anders als das zur Mutter. gründliche Wesen. Mit diesem Bild nimmt Gia - Sein Band zum Vater ist vor allem durch künst - cometti Abschied von dem, der er bisher gewe - lerische Nähe und Loslösung gekennzeichnet, sen war, nicht aber von seiner Familie und auch was in dem erwähnten Gemälde von 1925 zu nicht von seiner Heimat. spüren ist, wo er sich dem Vater gegenüber - Anders als Bruno und Diego, die das Bergell stellt, der angehende Bildhauer dem erfahrenen ebenfalls verlassen hatten (der eine ging nach Maler. Während die ersten Büsten der Mutter Abschluss des Ingenieurstudiums nach Zü - und seiner Geschwister bereits 1915 entstehen, rich, der andere 1925 zu seinem grossen Bru - modelliert er den Vater (abgesehen von einer der nach Paris), kehrte Alberto regelmässig ins Gipsbüste im Jahr 1923) erst 1927 – in einem ei - heimatliche Tal zurück. Für alle war die Ver - genen Zyklus, variiert in einem breiten stilisti - bindung zum Bergell vor allem auf die Mutter schen Spektrum von der traditionellen dreidi - Annetta fokussiert, die durch ihre starke Per - mensionalen Darstellung bis hin zu einer fast sönlichkeit auch nach dem Weggang ihrer drei abstrakten, flächigen Sublimierung des Ge - sichts. Im selben Jahr realisiert er, inspiriert von der zykladischen Kunst, die er zusammen mit der ägyptischen Kunst bei seinen täglichen Er - kundungsgängen durch den Louvre erforscht, seine ersten Plattenskulpturen und löst sich so endgültig vom künstlerischen Weg des Vaters. Wenige Jahre später, im Sommer 1930, instal - liert er in Maloja die monumentalen Tre figure in un alpeggio , fast als wollte er sich jetzt in der Hei - mat als Bildhauer bestätigen lassen, nachdem er sich an der Figur des Vaters bewiesen hatte. Als sein Vater 1933 in Glion oberhalb Montreux in einem Sanatorium stirbt, wird Alberto, der gemeinsam mit Diego zu spät zum Abschied kommt, von einem heftigen Fieber befallen, das ihn daran hindert, an der Beerdigung im Ber - gell teilzunehmen. Doch einige Zeit später ent - wirft er das Grabmal, das Diego dann anfertigt:

XVIII Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... ein Granitblock, auf dem ein Vogel, ein Kelch, Felsbrockens gingen wir als erstes daran, sei - eine Sonne und ein Stern abgebildet sind, Sym - nen Eingang zu verengen. Es sollte nur eine bole der Wiedergeburt und der Unsterblich - Spalte da sein, gerade breit genug, um uns keit. Das Grabmal entstand wahrscheinlich im durchschlüpfen zu lassen. Meine grösste Freu - Sommer 1935, während des langen Aufenthalts de aber war es, mich in die hintere kleine Höh - von Max Ernst in Maloja, der auf Einladung von le zu kauern; ich hatte kaum Platz darin, doch Alberto das Jahr dort verbrachte und grosse, all meine Wünsche waren erfüllt» 9. vom Wasser rundgewaschene Granitblöcke mit Das Atelier in der Rue Hippolyte-Maindron war Ölfarben bemalte. Dabei beliess er die Blöcke in ein exaktes Pendant dieser Höhle. Die dreissig ihrer natürlichen Form oder bearbeitete sie Quadratmeter in Paris waren die heimliche Na - nach dem Modell des Grabmals für Vater Gia - belschnur, die den Pariser Giacometti mit seiner cometti und versah sie mit flachen Relief s8. Kindheit im Bergell verband. Deshalb hat er es nie Wahrscheinlich bekam Max Ernst die Tre figu - aufgegeben. «Je länger ich dort war, desto grösser re in un alpeggio 1935 nicht mehr mit eigenen Augen zu sehen, da sie sich selbst überlassen und ziemlich sicher im Winter 1931 zerstört worden waren, aber er dürfte die damals bereits veröffentlichten Bilder der Figuren gekannt haben, denn seine 1935 entstandenen Les asperges de la lune erinnern an dieses Werk.

Nach dem Tod des Vaters füllt sich das Atelier in Stampa im Lauf der Jahre zunehmend auch mit Werken von Alberto, bis diese in einer Art künstlerischem Übergang vom Vater zum Sohn allmählich dominieren. So wird die ehemalige Scheune in Stampa zu ei - wurde es», wird Giacometti später gestehen. Und nem Pendant des Pariser Ateliers in der Rue Hip - genauso war es mit der Höhle in Stampa gewesen: polyte-Maindron, das Giacometti Ende Dezem - je länger er sich darin aufhielt, desto mehr erging ber 1926 bezieht und das er auch dann nicht ver - sich sein kindliches Unbewusstes in beunruhi - lässt, als üppige Honorare es ihm erlaubt hätten. genden Fantasien. Die Geschichte mit der Höhle Dieses Wohnatelier, durchdrungen vom Ge - endet denn auch mit dem öffentlichen Ein - ruch feuchten Tons, wo man sich mühsam ei - geständnis der sadistischen und mörderischen nen Weg durch das Durcheinander von Lein - Impulse, die seinen kindlichen Geist bevölkerten . wänden, Skulpturen und Gipsabgüssen bahnen Projektionen dieser Impulse und Fantasien fin - musste, wo er lesend und zeichnend auf dem den wir in fast allen seinen Skulpturen der sur - Bett sass und wo sich die verblichenen Wände realistischen Periode zwischen 1930 und 1934, zu nach und nach mit immer mehr Skizzen, Ent - denen sein Vater geäussert hatte, Alberto sei da würfen, Figuren und Graffiti füllten, ein grafi - wohl «auf einen Holzweg geraten» 10 , die aber eine sches Archiv nie realisierter Ideen, war im wichtige Phase seiner künstlerischen Entwick - Grunde keine Wohnung, sondern ein Verhau, lung darstellten und eine Bestätigung für seinen eine Höhle, genau wie die in Stampa unter dem Erfolg in Paris lieferten. grossen Felsen nicht weit weg von ihrem Haus, Ohne den Pariser Hintergrund wäre die macht - in die er sich als Kind gern mit seinen Spielka - volle Freisetzung des Unbewussten, die in sei - meraden zurückzog und die er 1935 in seinen nen surrealistischen Skulpturen zum Ausdruck Schriften Gestern, Flugsand beschrieb: «Es war kommt, kaum vorstellbar. Doch die Erinne - ein Monolith von goldener Farbe, der sich unten rungsspur an diese surrealen Visionen von zu einer Höhle öffnete; der ganze untere Teil Grausamkeit, Gewalt und Bedrohung führt uns war hohl, das Wasser hatte ihn ausgewaschen. in die Kindheit des Künstlers im Bergell zurück. Der Eingang war niedrig und langgezogen, Das zeigt nicht nur das oben angeführte Werk, knapp so hoch wie wir damals. An manchen sondern auch eines seiner lyrischen morceaux

Ecke mit Ruhebett, auf Stellen ging es im Innern noch tiefer hinein, und littéraires aus diesen Jahren, Charbon d’herbe , dem Alberto Giacometti ganz am Ende schien sich eine zweite kleine mit den Zeilen «Biancas Kopf, der leicht zu - häufig skizzierte, ca. 1953. Höhle aufzutun. […] Nach der Entdeckung des rückschaut» und «in dem kleinen Jungen […],

XIX Alberto Giacometti ...... der in ganz neuen Kleidern über eine Wiese lief, einer Büste von Diego veröffentlicht und als in einem Raum, in dem die Zeit die Stunden ver - erste Schweizer Zeitschrift ihren künstleri - gass» 11 . Es sind diese und andere Probestücke schen Wert erkannt, und in den Quaderni ver - seines literarischen Surrealismus, mit denen öffentlichte er zahlreiche Skizzen und Entwür - uns Giacometti auch die endgültige Erklärung fe, ein ganz besonderes, noch wenig erforsch - für seine surrealistischen Skulpturen anbietet. tes Kapitel seiner Verbindung mit dem Bergell. Sein surrealistisches Skulpturenwerk ist – mit Diese Verbindung, so intensiv und tief sie auf Ausnahme der bereits erwähnten Tre figure in allen Ebenen ist, bleibt jedoch frei von patrioti - un alpeggio – ausschliesslich auf den Pariser schen Gefühlen. Anders als sein Vater und sein Giacometti beschränkt, denn der andere, der Bruder Bruno fühlt sich Alberto nie wirklich als Jahr für Jahr ins Bergell zurückkehrt, geht bei Schweizer. Dazu mögen auch die eidgenössi - seinen Skulpturen wie bei den Zeichnungen schen Behörden beigetragen haben, die ihm in und Gemälden mit einem figurativen Naturalis - den ersten Jahren in Paris ein Stipendium für mus zu Werke, der sich deutlich von seinem ju - den Besuch von Meisterkursen im Ausland ver - gendlichen Naturalismus zu Beginn der zwan - weigerten. Einen Ausgleich für die fehlenden ziger Jahre unterscheidet und in dem sich wohl Geldmittel lieferte ihm sein erster Auftragge - schon die Tendenz des postsurrealistischen ber, der bekannte Schweizer Kunstsammler Jo - Giacometti zum Kubismus den Weg bahnt. sef Müller, der 1926 eine Skulptur seines Kopfes Was hingegen in jenen Jahren fast völlig aus - von ihm anfertigen liess. Später, im Jahr 1939, sen vor blieb, war die Landschaft um Stampa als die Schweiz angesichts der Bedrohung und Maloja. Wie die Fotos von 1935-36 zeigen, durch den deutschen Nationalsozialismus be - auf denen er bei Bergtouren mit Max Ernst, schloss, zur Stärkung der eigenen Identität in seinem Bergsteiger-Schwager Francis Bert - Zürich die grosse Landesausstellung durchzu - houd, Brunos Frau Odette und den römischen führen, erreichte sein Bruder Bruno, dass im Cousinen Ada und Bianca zu sehen ist, hatte Atrium des von ihm gestalteten Modepavillons Giacometti in den dreissiger Jahren zu den eine Skulptur von Alberto ausgestellt wurde. Nach den Jahren des Surrealismus durchlief Alberto gerade eine Periode, in der seine Figu - ren immer kleiner, ja geradezu winzig wurden. Als ihn Bruno mit einem Lastwagen zum

Bergen und der Natur seines Heimatortes vor allem einen intensiven körperlichen Bezug. Es scheint, als hätte er in diesen Jahren die For - men der alpinen Landschaft des Bergells, sei - ner Felsen und Gipfel, im direkten Kontakt in sich aufgenommen, um sie dann in die langge - Links: Wanderpause in Juf, zogenen, gequälten Formen seiner bekanntes - 1936. ten Skulpturen umzusetzen.

Rechts: Bilder und Eindrücke aus der Heimat erreich - auf dem Gipfel des ten ihn im Übrigen auch direkt in Paris, und Piz da la Margna, zwar vermittels zweier Zeitschriften, die er 1936. Im Bild, von links nach rechts: sein Leben lang abonniert hatte, den «Alma - Francis Berthoud, nacco dei Grigioni» und die «Quaderni Grigio - Tullio, Bianca, Rodolfo und Alberto Giacometti. ni Italiani». Der Almanacco hatte 1926 das Bild

XX Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... Transport seiner Plastik am Zürcher Flugha - grössten lebenden Künstler des Landes, doch fen abholte, sagte er, das sei nicht nötig, zog ei - da war er kein Schweizer Künstler mehr, son - ne Streichholzschachtel aus der Tasche und dern eine der wichtigsten Persönlichkeiten holte die Skulptur heraus, die er ausstellen der internationalen Kunstszene, dem auch die wollte – eine höchstens fünf Zentimeter hohe Heimat Ehrerbietung zollte. 1963 wurde dann Statuette. Brunos ablehnende Reaktion mach - in Zürich vor dem Hintergrund schrecklicher te ihn wütend, aber schliesslich gab er nach und Angriffe und Polemiken, in die sich der Künst - schickte eine 1934 gefertigte grosse abstrakte ler selbst nicht einmischte, die Alberto Giaco - Gipsskulptur nach Zürich 12 . metti-Stiftung ins Leben gerufen, und mehr als Doch es waren vor allem seine Mentalität und dreissig Jahre später widmete ihm die Eidge - die kosmopolitische Art seines Schaffens, die nossenschaft den 100-Franken-Schein. dafür sorgten, dass ihm Patriotismus jedweder Art fremd war. So lehnte Alberto auch die Ein - Wenn sich Giacometti nie wirklich als Schwei - ladung der Eidgenössischen Kommission ab, in zer fühlte, dann ebenso wenig als Franzose. In dem von seinem Bruder Bruno gestalteten den Jahren, in denen er in Paris seine ersten Schweizer Pavillon bei der Biennale in Venedig Schritte als Künstler tat, hatte er sich vielmehr von 1952 auszustellen, und begründete das da - einer Gruppe italienischer Künstler (Campigli, mit, er fühle sich mehr als internationaler denn Tozzi usw.) angeschlossen und 1928 zwei ge - als Schweizer Künstler. Und dass er 1950 zuge - meinsame Ausstellungen veranstaltet: Les ar - stimmt hatte, in Basel einige seiner Werke aus - tistes italiens de Paris im Salon de l’Escalier und zustellen, war nur aufgrund der wiederholten Un groupe d’Italiens de Paris in der Galérie Zak. Anfragen seiner alten Schulfreunde Christoph In diesem Jahr hatte er im Rahmen einer Aus - Bernoulli und Lucas Lichtenhan aus dem stellung von Massimo Campigli in der Galérie Internat in Schiers geschehen, und auch nur Bucher auch zwei seiner Plattenskulpturen unter der Bedingung, dass ein weiterer Freund ausgestellt, darunter einen Tête qui regarde . zusammen mit ihm ausstellte, der Franzose Dass der Vicomte de Noailles, einer der an - André Masson. 1956 nahm er das Angebot einer spruchsvollsten Sammler Pariser Kunst, diese Ausstellung seiner Werke in Bern an, zugleich Skulptur erwarb, brachte ihm die Aufmerk - aber auch die Einladung, Frankreich bei der samkeit der Surrealisten und den ersten Kon - Biennale von Venedig zu vertreten, wofür er takt mit dem Kunsthändler Pierre Loeb ein. So eine Reihe aussergewöhnlicher Frauenfiguren war er also als italienischer Künstler in der Pa - anfertigte, die Femmes de Venise . Auf diese Wei - riser Gesellschaft gestartet, aber was ihn an se machte er deutlich, dass er sich nicht als dieser Stadt am meisten faszinierte, war ihr Schweizer fühlte. Die einzige Biennale, auf der kosmopolitisches künstlerisches Flair. Er war er sich wirklich wohl fühlte, war die von 1962. in einem Grenztal geboren und durch die Gren - Da wurde er als Künstler persönlich eingeladen zen hatte er die ganze menschliche Absurdität und mit dem Grossen Preis für Skulptur geehrt. wahrgenommen. Sein Tal, das Bergell, schien Im selben Jahr widmete ihm auch die Schweiz ihm nie ein geopolitisches Konzept gewesen zu im Kunsthaus Zürich eine grosse Retrospekti - sein, sondern ein Konzept der menschlichen ve, mit 249 Skulpturen, Gemälden und Zeich - Geografie, die auch den italienischen Teil des nungen seine bis dahin grösste und wichtigste Tals umfasste. Für ihn begann das Bergell in Ausstellung. Für Giacometti hatte sie auch des - Maloja und endete in Chiavenna, vor allem seit halb besondere Bedeutung, weil seine Werke in er nach Mitte der fünfziger Jahre Umgang mit diesem Museum in Beziehung zu den grossen neuen Freunden in Italien pflegte. Werken der Vergangenheit gestellt wurden. Die Der erste von ihnen war der Veltliner Bildhau - Wichtigkeit, die diese Ausstellung für ihn hatte, er Mario Negri. Giacometti hatte ihn Ende 1955 und sein praktisches Interesse als Künstler kennengelernt, als Negri für die Zeitschrift mischten sich zu einem Erfolg, der nirgendwo «Domus» von Giò Ponti arbeitete. Um einen Ar - sonst auf vergleichbare Weise hätte zustande tikel über Giacometti zu schreiben, begab er kommen können. Er war aus seiner Heimat sich im Dezember 1955 drei Tage lang nach ausgezogen, um sein Werk zu vollbringen, doch Stampa. Sein Beitrag, einer der ersten und in der grössten Stadt seiner Heimat sollte er die scharfsichtigsten Artikel über den Künstler, die umfassendste Ausstellung dieses Werkes erle - in Italien veröffentlicht wurden, erschien im Ju - ben 13 . Die Schweiz würdigte ihn also als den li 1956 zusammen mit einer Fotografie von

XXI Alberto Giacometti ......

Ernst Scheidegger unter dem Titel Frammenti hiess es: Den heilt nicht mal mehr der Corbetta )16 . per Giacometti 14 . Damit wurde die kritische Re - Professor Corbetta hatte vieles, was Giacomet - zeption seines Werks in Italien, wo Giacometti ti gefiel. Er war ein hervorragender Kenner und bis dahin kaum bekannt war, eingeleitet. Sammler von Kunst und dadurch auch ein will - Die Freundschaft zwischen Negri und Giaco - kommener Gesprächspartner. Sein rundlicher, metti wird immer enger, und Alberto macht es fast haarloser Kopf machte ihn für Giacometti, sich bald zur Gewohnheit, für die Heimfahrt der kahle Häupter liebte und Haare für eine nach Stampa nicht mehr die Strecke über Lüge hielt, zum höchst interessanten Modell. Zürich, sondern die über Mailand zu nehmen. Ausserdem war er Arzt, und Ärzte wurden für Negri holt ihn in Mailand am Bahnhof ab und Giacometti in diesen Jahren immer wichtiger. lässt ihn, ehe er ihn mit dem Wagen nach Stam - Alberto lernte ihn 1957 im Bergell kennen, pa bringt, die wichtigsten Sehenswürdigkeiten wo er seiner sechsundachtzigjährigen Mutter der Stadt erkunden: die grossen römischen Annetta von einer Nachbarin zur Behandlung Ba siliken Sant’Ambrogio, San Lorenzo – wo Gia - ihrer Altersgebrechen empfohlen worden cometti immer wieder die Fresken in der Ka - wa r17 . Und so kam der Arzt aus Chiavenna im - pelle von Sant’Aquilino bewundert («einfach mer wieder nach Stampa ins Haus der Giaco - un glaublich in ihrer Wahrheit») – und Sant’ Eus- mettis und stand Alberto dort über mehrere torgio, Michelangelos Pietà Rondanini im Cas - Sommer hinweg für ein Ölporträt Modell, das tello Sforzesco, bei der Giacometti sofort eine dieser erst 1961 fertigstellte – eines seiner be - enge Verwandtschaft mit seinem Werk entdeckt, deutendsten Spätwerke. und dann auch Santa Maria del Tiglio in Grave - Als Dank für die Hilfe, die Corbetta seiner Mut - dona und die romanischen Fresken in der klei - ter leistete, und als Zeichen der Freundschaft nen Kirche S. Fedelino am Lago di Mezzola, ei - liess Giacometti ihm mit der Eisenbahn acht ne Art Pilgerfahrt durch die italienische Kunst Kopien seiner berühmten Figur Femme qui des Mittelalters entlang der Route ins Bergell. marche von 1932 zukommen. Neben dem Por - Und Negri führt ihn auch in die intellektuellen trät und zahlreichen Zeichnungen schenkte er Kreise der Mailänder Kunstkritik ein, wo er ihm später auch noch den bemalten Original - unter anderem Lamberto Vitali, Enzo Carli, gips der Femme au chariot und die Bronze - Franco Russoli und Luigi Carluccio kennen - skulptur der Femme debout . Diese Werke stei - lernt. Aus diesen neuen Freundschaften er - gerten den Wert der ohnehin umfangreichen, wächst 1957 auch Giacomettis Mitwirkung an 1965 von Manuel Gasser im Kulturmagazin der Organisation der Mostra di scultura nel parco «Du» und 1970 von Luigi Carluccio in «Bolaffi - auf der 11. Triennale von Mailand, wo er alle arte» beschriebenen Sammlung des Arztes seine Bekanntschaften und Verbindungen ein - aus Chiavenna erheblic h18 . setzt, um die Teilnahme bedeutender Künstler Im selben Zeitraum lernte Giacometti in Paris sicherzustelle n15 . durch Vermittlung von Franco Russoli auch Bei den Begegnungen mit Giacometti erkann - den italienischen Schriftsteller Giorgio Soavi, te Negri, wie wichtig das Kopieren der Werke der mit seinen Fotos und Texten ein lebendiges, alter Meister als eine Art “Schule des Blicks” pulsierendes Porträt von ihm zeichnete, und für dessen Werk gewesen war, und schlug ihm den Kunstkritiker Alberto Martini kennen, der vor, einen Band nur mit diesen Kopien zu ver - zwei wichtige kritische Essays über ihn veröf - öffentlichen. Giacometti nahm den Vorschlag fentlichte. 19 So hatte sich die Schar seiner ita - begeistert auf, und 1967 erschien postum das lienischen Freunde bis 1962, als er in Venedig von Luigi Carluccio herausgegebene Buch. den Grossen Preis für Skulptur gewann, be - trächtlich erweitert, und als er wieder zuhause Zu Giacomettis Bekannten in der Lombardei war, kamen alte und neue Freunde, Journalis - zählt in diesen Jahren auch der Arzt Serafino ten und Fotografen aus der Schweiz und aus Corbetta aus der Brianza, der seit 1942 in Chia - Italien nach Stampa, um Interviews mit ihm zu venna lebte und dort in der Resistenza gegen den machen, ihn zu fotografieren und für ihn Modell Faschismus aktiv gewesen war, den Wiederauf - zu stehen. Was ihn allerdings nicht daran hin - bau des Gesundheitswesens organisiert und eine derte, allabendlich mit den Freunden in Stam - sehr aktive Blutspendergruppe ins Leben geru - pa die Bar Piz Duan gegenüber von seinem fen hatte. Das machte ihn rasch im ganzen Tal Haus aufzusuchen, die frühere Wirtschaft sei - berühmt (wenn jemand unheilbar krank war, nes Grossvaters. Obwohl den Leuten im Dorf

XXII Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... die Ausdrucksweise des Künstlers fremd war, handelt hatte. Die Röntgenbilder zeigten einen betrachteten sie ihn doch immer als einen der bösartigen Tumor im Magen, Folge eines ihren, und auch Giacometti selbst sah sich als jahrelang unbehandelt gebliebenen Magenge - einer von ihnen, hielt es nicht für unter seiner schwürs, der einen chirurgischen Eingriff drin - Würde, mit den Freunden im Piz Duan über sei - gend erforderlich machte. Fraenkel hatte An - ne Methode zu diskutieren, eine Leinwand oder nette und Bruno, Leibovici, Reto Ratti und den einen Gipsblock immer wieder zu überarbeiten, umgehend nach Paris geeilten Doktor Corbetta genauso wie er es mit den Pariser Freunden im angehalten, dem Patienten nicht die Wahrheit La Coupole am Montparnasse ta t20 . zu eröffnen. Er selbst hatte Alberto auf dessen Giacomettis Verhältnis zu Italien erscheint seit drängende Nachfragen hin versichert, dass es der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre wie eine sich nicht um Krebs handle. Die am 6. Februar natürliche Fortsetzung der Beziehung zu Stam - durchgeführte Operation verlief erfolgreich. pa und dem Bergell. Chiavenna und das Haus Als Alberto aus der Narkose erwachte, fühlte er von Corbetta werden für ihn bald zur obligato - sich wie neugeboren, und sofort lebte in ihm rischen Zwischenstation auf der Strecke Mai - auch der Gedanke an seine Arbeit, seine Liebs - land-Stampa und bei seinen Aufenthalten im ten und seine alten Freunde wieder auf, zusam - Bergell zum fast schon täglichen Ziel. Das bele - men mit den neuen italienischen Freundschaf - gen unter anderem die Zeichnung Annette al ten, die nunmehr seine Verbindung zum Bergell Crotto Caurga aus dem Jahr 1961 und die hand - darstellten. «Aufstehen, rausgehen, zum Atelier schriftliche Notiz, die er im goldenen Buch des gehen, nachsehen», kritzelte er umgehend in Crotto di Chiavenna hinterliess, mit einer Zeich - sein Notizbuch. «Ja, der Comer See, wenn man nung eines mit Tellern und Gläsern gefüllten nach Bellano hinauffährt, von Lecco kommend, Tisches. In Stampa und in Chiavenna entste - auf dem Weg nach Colico, und weiter hinauf, hen 1961 auch einige Aufnahmen des grossen nach Chiavenna, der Mezzolasee, und nach Pariser Fotografen Henri Cartier-Bresson, auf Stampa. Wo ist mein Leben? Ich weiss es nicht denen Alberto zusammen mit Professor Cor - mehr. Hier? In der Rue Hippolyte Maindron? […] betta zu sehen ist. Cartier-Bresson verdanken An Mama schreiben und an meine Freunde, wir einige der berühmtesten Bilder von Giaco - an Corbetta und nach Mailand und an Pierre metti – in einer Serie denkwürdiger Aufnah - Matisse […]. Diego, das erste Wort, das ich ge - men, die in der Ablichtung des Künstlers gip - sprochen habe, als ich aufgewacht bin nach der feln, wie er in Stampa von der Strasse aus der Operation, und von seiner Büste». Und ein paar Mutter am Balkon zuwinkt, und wo ihre Blicke Tage später: «Anfang nächster Woche mit An - an die auf der Fotografie von Garbald aus dem nette oder Diego nach Stampa fahren, über Mai - Jahr 1911 anzuknüpfen scheinen. land. In Mailand Corbetta am Bahnhof. In Stam - Knapp zwei Jahre später, im April 1963, voll - pa Arbeit, von vorne anfangen, sehen, was – al - zieht sich, ebenfalls in einem der traditionellen les, was ich will, in völliger Freiheit. Bei meiner Lokale von Chiavenna die existenzielle Wende Rückkehr hierher, Köpfe und Figuren. […] Kopf seines Lebens, die seine letzten Lebensjahre vor allem, Kopf zuerst, Figuren danach. Diego, zutiefst prägen sollte. Annette, Caroline, andere Skulpturen, Gemäl - Ende 1962 hatte sich Albertos Gesundheitszu - de, Zeichnungen. Mit allem nochmal bei Null an - stand sehr verschlechtert, und Reto Ratti, ein fangen, so wie ich Menschen und Dinge sehe, be - junger Arzt aus Maloja, der damals in Paris ar - sonders die Menschen und ihre Köpfe, die Au - beitete und ihm zum Freund geworden war, gen am Horizont, die gebogene Augenlinie, die empfahl ihm dringend, sich von einem Facharzt Wasserscheide. Ich verstehe weder das Leben untersuchen zu lassen. Alberto wandte sich da - noch den Tod, ich verstehe gar nichts mehr »21 . raufhin an seinen persönlichen Arzt und Freund Es war ein künstlerisches Arbeitsprogramm, Dr. Theodore Fraenkel, einen alten Mitstreiter das er sklavisch befolgte, vor allem nach jener der surrealistischen Bewegung, der ihm diesmal Fahrt über Chiavenna nach Stampa, auf der er nicht die üblichen Trostpflaster verschrieb, son - die Wahrheit über seine Krankheit erfahren dern ihn zu dem Chirurgen Dr. Leibovici schick - sollte und sofort die dunkle Vorahnung einer te, welcher 24 Jahre zuvor seinen nach einem Begegnung mit der Wahrheit hatte. Verkehrsunfall auf der Place des Pyramides ge - Auch diesmal wartete in Mailand Mario Negri brochenen Fuss – der Alberto für den Rest sei - auf Annette und ihn, und sie trafen zur Mittags - nes Lebens ein leichtes Hinken einbrachte – be - zeit in Chiavenna ein, wo Corbetta ihn mit einer

XXIII Alberto Giacometti ...... Begeisterung empfing («Wie schön, dich wieder ausgelöst, die ihn zur Umsiedlung nach Paris hier zu haben. Nach all den Sorgen, die wir uns bewegte. Dann im Jahr 1946 der unerwartete gemacht haben»), die ihn sofort misstrauisch Tod von Tonio Pototsching, dem abenteuerlus - machte. Von ihm in die Enge getrieben, gestand tigen Schweizer und Hausmeister in der Rue Corbetta, der eine ganz andere Auffassung vom Hippolyte-Maindron. Die Starre dieses Kopfes Verhältnis zwischen Arzt und Patient hatte als schien mit einem Schlag überall zu herrschen Fraenkel, schliesslich die Wahrheit und zeigte und ihm die Wahrheit über das Leben zu ent - ihm den Brief, in dem Leibovici ihm mitgeteilt hüllen, ihm die schreckliche Tür zu einer noch hatte, dass der Eingriff erfolgreich wa r22 . nie gesehenen Welt zu öffnen. Unter Freunden An diesem Tag endete Giacomettis Freund - im Restaurant, in der Metro, auf der Strasse, al - schaft mit Fraenkel, auch wenn er ein paar Mo - les schien ihm auf das letztendliche Schicksal, nate später, am Ende seines Genesungsaufent - den Tod zuzulaufen. «Alle Lebenden waren tot» 25 . halts im Bergell, dem Pariser Arzt noch ein al - Von da an wurden seine Bilder immer länger und tes Versprechen erfüllte und ihm sechs Karten dünner, wurden zerbrechlich und gequält, als zuschickte mit grossartigen Federskizzen vom schwebten sie zwischen Leben und Tod. Seine Haus in Stampa, den Bergen um das Dorf und Kunst sank hinab zu den Wurzeln des menschli - dem Fluss Mera und von einem Interieur mit chen Seins, und die letzten Fragen der mensch - Stilllebe n23 . lichen Existenz nahmen in ihr Gestalt an. Wie oft angemerkt wurde, enthielten diese lang - Fraenkel hatte sich wohl nicht vorstellen kön - gestreckten, grob gezackten Gestalten auch An - nen, wie wichtig es für Giacometti war, die klänge an die Gipfel des Bergells, seiner spitzen, Wahrheit über seine Krankheit zu erfahren. gequälten geologischen Formationen. Im Zerfa - Seit langem schon träumte Alberto davon, sern des bildhauerischen Materials spiegelt sich Krebs zu haben, wünschte sich ihn, wie er sag - auch die Verwitterung der Felsmoränen, aus de - te, fast schon herbei, um am eigenen Leib die - nen das Wasser ein erstes, schäumendes Rinn - se absolute Krankheit zu erfahren, die für ihn sal höhlt, lang und dünn wie Giacomettis Figu - gleichbedeutend war mit dem Tod. Der Gegen - ren. Aber da war stets auch das Ländliche, das satz von Leben und Tod war ja von Anbeginn nach Ansicht von Giorgio Soavi bei Giacometti die heimliche Triebfeder seiner Kunst gewe - «immer präsent ist» und das sich vor allem in sen. Als gerade Zwanzigjähriger hatte er sich seiner energischen, derben Art manifestiert, während seiner Reise mit dem Vater nach den Gips zu modellieren «mit seinen grossen Venedig zunächst für Tintoretto und dann, in Bauernhänden», die den Schriftsteller Vargas Padua, noch viel mehr für Giotto begeistert, Llosa in Paris so beeindruckt hatten. 26 Niemand um dann, als er auf der Strasse einige Mädchen hat besser die enge Verbindung zwischen Gia - dahingehen sah, unvermittelt zu erkennen, comettis Skulpturen und der Hochgebirgsland - dass die Bilder von Giotto und Tintoretto, so aus drucksstark sie auch schienen, nie dieser Wahrheit in Fleisch und Blut gleichkommen konnten, sondern lediglich ein Abglanz davon waren, und dass die Kunst, so gross sie auch sein mochte, etwas unwiederbringlich Totes in sich barg. Ein Jahr später fand er eines Nachts in Vicenza seinen holländischen Reisegefähr - ten Van Meurs, den er im Jahr zuvor auf einer Zugfahrt von Rom nach Pompei kennengelernt hatte, tot auf. «Diese Reise, die ich 1921 unter - nahm (van M.s Tod und alle damit verbunde - nen Ereignisse), habe ich als einen Einschnitt in meinem Leben empfunden. Alles wurde an - ders», erinnert sich Giacometti 194 624 . Nicht nur die Kunst war ein blasser Abglanz des Le - La Grande Tête und Femme debout - beides bens, auch das Leben selbst erwies sich plötz - Entwürfe für die Chase lich als zerbrechlich und flüchtig. Manhattan Plaza, ca. 1960. All diese Ereignisse hatten die Schaffenskrise

XXIV Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... schaft des Bergells zum Ausdruck gebracht als in Chiavenna von der Angst vor dem Tod befreit. Ernst Scheidegger in seinen Fotografien. Nie - Die Jahre 1963-1965 sind erfüllt von fieberhaf - mand hat die enge Verbindung seines Werkes ter Aktivität. 1963 erscheinen bei Einaudi fünf - mit der Natur und den Menschen des Bergells undvierzig seiner Zeichnungen unter dem Ti - so klar erkannt wie dieser grosse Schweizer Fo - tel Quarantacinque disegni als Buch, herausge - tograf, der Giacomettis Freund war und ihm geben von Lamberto Vitali und mit einem auch Modell stan d27 . Vorwort von Jean Leymarie. Als Giacometti an Wieder einmal bezog der Pariser Giacometti einem Wintertag in Mailand die ersten Exem - seine künstlerische Kreativität vor allem aus plare in Händen hält, ist er sehr zufrieden mit dem Nährboden der Heimat. Wieder einmal den originalgetreuen Reproduktionen. Noch konnten jene Wurzeln nur in Paris Früchte am selben Abend, in Stampa, zeigt er den Band bringen, im Kontakt mit Merleau-Pontys Phä - überglücklich seiner Mutter: «Mama, es ist da, nomenologie der Wahrnehmung, mit der Per - das Buch ist da», und Giorgio Soavi, der ihn be - sönlichkeit und den Werken Jean Genets oder gleitet, steht ihm Modell für zwei Ölbilder, die mit dem Existenzialismus Sartres. Nicht zufäl - er in dieser Nacht mal t28 . lig haben sie in diesen Jahren zwei bekannte Seine Mutter verliess Stampa mit ihren 92 Jah - Essays über Giacometti geschrieben. ren kaum noch und ging auch im Sommer nur noch selten hinunter nach Maloja. Ein Jahr da - Das Ausgezackte, Aufgelöste in Giacomettis nach starb sie, und ihr Tod schien ihn zwar zu bildhauerischer Formgebung wird in diesen bedrücken, aber auch seine kreativen Ener - Jahren in seinen Zeichnungen und Gemälden gien zu verstärken. zur leidenschaftlichen Verdichtung der Linien. Nie war er so viel gereist wie 1965: nach London Die Striche laufen nun frei über Blatt und Lein - zu einer Ausstellung seiner Werke in der Tate wand, und diese Freiheit verleiht den Porträts Gallery, nach Kopenhagen zu der im Louisiana und Landschaften, die damals entstanden, ei - Museum und nach New York zu seiner grossen nen neuen, kraftvollen Ausdruck. So wie in den Werkschau im Museum of Modern Art. Wäh - Skulpturen das Dehnen und Ausfasern der rend der Überfahrt nach New York (er hasste menschlichen Gestalt, also das Hinfliessen zum das Fliegen und nahm lieber das Schiff) schrieb Tod, dessen Präsenz deutlich hervorhebt, lösen er die Einführung zu dem von Luigi Carluccio sich in seinen Bildern und Grafiken die Perso - zusammengestellten Band Alberto Giacometti. nen und Dinge hinter dem flackernden Schirm Begegnung mit der Vergangenheit , den Giacomet - der Striche keineswegs auf, sondern nehmen ti nicht mehr zu sehen bekommen sollte: «Seit eine ungeahnte Klarheit an, in der sich ein meiner frühesten Kindheit, seit ich zum ersten flüchtiger Augenblick des Lebens fixiert. Mal Kunstreproduktionen gesehen habe, die mit Seit Beginn der fünfziger Jahre wird diese Wen - zu meinen ältesten Erinnerungen gehören, habe de auf seinen zahlreichen Ölgemälden von Malo - ich immer sofort, wenn eine von ihnen mir be - ja und Stampa in den Umbra- und Grautönen sonders gefiel, Lust bekommen, sie nachzu - deutlich, die er so liebt. Und in den beiden gros - zeichnen, und diese Kopierlust hat mich eigent - sen Lithografien Casa di Giacometti a Maloja und lich nie mehr verlassen. […] Irgendwo bin ich Montagna a Maloja von 1957 erreicht er den Gip - noch immer zwölf Jahre alt, vielleicht bin ich so - fel seiner Expressivität. Darin nimmt er unter gar vor allem zwölf Jahre alt »29 . anderem zwei Motive wieder auf, die ihm seit Bei seinen Aufenthalten in Stampa widmete er den zwanziger Jahren wichtig waren – ein Beleg sich jetzt nicht nur der Malerei und der Grafik, dafür, dass sein gesamtes Werk nichts anderes sondern arbeitete auch weiter an seinen Skulp - ist als ein Ausdruck fester Treue zu den wenigen turen wie der Büste von Annette, die ihm Mo - Dingen, Orten und Personen im Lichtkegel sei - dell stand, und dem Kopf von Diego, den er nes Lebens und seiner Gefühle. Sie immer wie - nach der Erinnerung anfertigte. Da ihm der der abzubilden war seine Art gewesen, den Tod Bruder, der stets die Gipsabgüsse für ihn an - auszutreiben, aber jetzt suchte er in ihnen vor al - fertigte, hier fehlte, hatte er Corbetta gebeten, lem das Leben. Denn paradoxerweise wird nun, ihm jemanden zu nennen, der das für ihn tun da er die Wahrheit über seine Krankheit erfah - könne, und der Arzt hatte ihm Italo Rizzi ren hat, nicht mehr der Tod, sondern das Leben aus Chiavenna als fähigen Handwerker und zum Thema seines Werks. Leibovici hatte ihn in Hobby künstler empfohlen, den Alberto dann Paris vom Krebs befreit, doch Corbetta hatte ihn mit eigenen Arbeiten entlohnte, darunter eine

XXV Alberto Giacometti ...... Femme debout , die lange als Ausstellungsstück Clay, und in ihnen sucht er den Funken des Le - in der Glasvitrine von Rizzis Bar in Chiavenna bens festzuhalten, wie ein moderner Sisyphus in verblieb. Dorthin ging Giacometti immer zu - dem Bewusstsein, dass sein Versuch zum Schei - sammen mit Corbetta, als hiesiger Ersatz für tern verurteilt ist, denn das Leben entsteht Tag die Lokale auf dem Pariser Montparnasse. So für Tag neu und anders, und was in ewigem Wer - entstanden die Gipsabdrücke der beiden 1964 den begriffen ist, lässt sich nicht festhalten. in Stampa angefertigten Tonbüsten von Diego «Die Welt erstaunt mich von Tag zu Tag mehr», Chiavenna I und Chiavenna II, die nach Alber - gesteht er André Parinaud 1962. «Sie wird ent - tos Tod in Paris in Bronze gegossen wurden 30 . weder weiter oder wunderbarer, sie wird un - fassbarer, schöner. […] Und das Abenteuer, das Der Giacometti dieser Jahre in Stampa ist ein grosse Abenteuer besteht darin, in ein und Mensch von grösster Vitalität und Menschlich - demselben Gesicht jeden Tag wieder etwas keit. Auf den Fotografien von Lamberto Vitali und Unbekanntes hervortreten zu sehen, das ist von Giorgio Soavi sieht man ihn in fieberhaftem grossartiger als alle Reisen um die Welt». Denn, Eifer Figuren aus Gips modellieren, die Bilder von so stellt Giacometti fest, man «darf niemals Paola Martini Salvioni hingegen zeigen uns einen hoffen, zu absolutem Wissen zu gelangen »32 . anderen, unbekannten Alberto, versunken in Damit ist das Scheitern, das 1921 Anlass war Momente der Zärtlichkeit mit Annette . zu seinem Pariser Abenteuer, kein schlimmes Auch sein Stil verändert sich noch einmal. In Verhängnis mehr, sondern eine Fügung des den Zeichnungen und den Stichen weicht die lei - Schicksals und damit die wahre condition hu - denschaftliche Aufgeregtheit der Linien einer maine des Künstlers der Moderne. «Der Erfolg eher heiteren, entrückten Bildkomposition, die steckt allein in der Grösse der Niederlage: immer ätherischer und essenzieller wir d31 . Sein je mehr man scheitert, desto mehr erreicht Blick ruht jetzt vor allem auf Innenansichten man», sagt er wenige Monate vor seinem Tod und Gesichtern. La Suspension , die grosse Hän - zu Jacques Dupin 33 . Das Unvollendete ist also gelampe in der Wohnstube in Stampa, die alle im nicht nur eine Bestätigung des unvermeidli - Dorf neidisch bestaunen und die er schon als chen Scheiterns des Künstlers am Leben, es Kind immer wieder gezeichnet hatte, schwebt ist vielmehr die einzige angemessene künstle - frei in der Luft wie ein aufsteigender Ballon. Die rische Form, die immerwährende Wiederge - Mutter Annetta, die er noch einmal in tausend burt des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Posen darstellt – im Stehen, im Liegen, unter der Die Kunst ist nichts als ein ewiger Anfang, Lampe am Tisch sitzend – wird zum Schluss nur eine «endlose Suche» 34 . noch ein Gesicht, zwei Augen, ein Blick zum Ho - rizont vor der grossen Leere des weissen Blat - tes. Auch das lithografische Porträt von Lam - berto Vitali, das er 1963 an einem Abend in der berühmten Druckerei Upiglio in Mailand entwirft, besteht vor allem aus dem Blick des Porträtierten, genau wie die gezeichneten und gemalten Porträts von Corbetta und Soavi, von Annette oder von der Bergellerin Nelda. Jetzt ist es nicht mehr die Zerbrechlichkeit des Daseins, sondern die Herausforderung, die er ans Leben stellt, von der Giacometti besessen ist. Die Kunst ist für ihn nicht mehr ein Weg, Personen und Dinge dem Tod zu entreissen, Menschen, Dinge, Gesichter, Diegos Gesicht, sondern der titanenhafte Versuch, ein Dupli - Annettes Gesicht, Stampa, Maloja, Paris, alles kat des Lebens zu erschaffen. ist ohne Ende, ist genauso ohne Ende wie seine Seine Skulpturen sind deshalb keine ganzen Art und Weise, dies alles sein ganzes Leben Figuren mehr, sondern nur noch Büsten, an de - lang darzustellen. Annette, Diego nen ihn nicht mehr die Gesamtkomposition in - Paris sans fin – das ist nicht nur der Titel einer und Alberto Giacometti im Hof des Ateliers. teressiert, sondern das Gesicht, die Augen, der umfangreichen Mappe von 150 Lithografien, Alberto hatte Blick. «Die Augen sind das eigentliche Wesen die er in den letzten Monaten seines Lebens als sein Atelier links, Diego rechts, ca. 1958. des Menschen», sagt Giacometti 1965 zu Jean höchste Hommage an die Stadt fertigstellt,

XXVI Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ......

Alberto Giacometti 1 Alberto Giacometti. Stampa-Paris, hrsg. von Femme debout , 1948. BEAT STUTZER , Bündner Kunstmuseum, Chur Bronze: 167,5 x 18,5 x 34 cm 2000; I Giacometti, la valle, il mondo , hrsg. von Kunsthaus Zürich, PIERO BELLASI , M ARCO OBRIST , CHASPER PULT , Alberto Giacometti- Stiftung. Mailand 2000.

2 JAMES LORD , Alberto Giacometti. Der Mensch und sein Lebenswerk , Bern, München, Wien 1987, S. 69.

3 Entretien sur l’art actuel: Marie-Thérèse Maugis avec... Alberto Giacometti , in «Les Lettres françai - ses», 6.-19. August 1964.

4 [Erster] Brief an Pierre Matisse , in ALBERTO

GIACOMETTI , Gestern, Flugsand. Schriften , mit ein -

leitenden Texten von MICHEL LEIRIS und JACQUES

DUPIN , Scheidegger & Spiess, Zürich 1999, S. 64.

5 JEANNE -M ARIE DRÔT , Alberto Giacometti , In - terview für den ORTF, 19. November 1963.

6 Hier gelangt der peruanische Schriftsteller die ihn gross gemacht hat, sondern auch ein Mario Vargas Llosa meines Erachtens zu einer Symbol für den menschlichen und künstleri - klaren Fehleinschätzung, wenn er schreibt: «Gia - schen Gehalt seines gesamten Werks 35 . comettis absolutes Desinteresse an flüchtigen Giacometti stirbt mit melancholisch am gren - Moden macht deutlich, dass diesem Künstler zenlosen Horizont des Lebens verlorenem aus der Schweizer Provinz auch dann das glei - Blick, dem gleichen Blick, der auch in den Au - che Schicksal widerfahren wäre, wenn er das

gen der letzten seiner Büsten von Elie Lotar, Bergell nie verlassen hätte.» (MARIO VARGAS

in Lotar III, zu erkennen ist. LLOSA , Giacometti e quella sua Parigi anni ‘60 , in An dieser Büste seines Pariser Modells arbei - «La Repubblica», 2. August 1997, S. 30). tet er an jenem Abend im Dezember 1965, an dem er Paris verlässt, um sich nach Chur ins 7 La mamma a Stampa. Annetta - gesehen von

Krankenhaus zu begeben, wo er dann am Giovanni und Alberto Giacometti , hrsg. von BEAT

6. Januar 1966 stirbt. STUTZER und CHRISTIAN KLEMM , Kunst haus Zü - All seine Freunde aus Paris und aus Mailand, rich und Bündner Kunstmuseum Chur, 1990. aus Chiavenna und Zürich kommen in Stam - pa zusammen, um ihm zusammen mit seinen 8 Die von Max Ernst bemalten und bearbeite - Landsleuten aus dem Bergell das letzte Geleit ten Felsblöcke blieben noch für lange Zeit vor zu geben. dem Haus der Giacomettis in Maloja stehen und Auf sein Grab in Borgonovo, unweit vom Grab bildeten den von Annetta liebevoll gehegten der Eltern, stellt Diego neben das letzte Werk «Skulpturengarten von Alberto Giacometti», wie seines Bruders, die Bronzebüste Lotar III , Max Ernst es nannte. Siehe dazu Max Ernst . Scul -

einen eigenen kleinen Bronzevogel (der leider ture , hrsg. von IDA GIANNELLI , Mailand 1996, S. 69 gestohlen wurde). Lotar III steht heute im und 211. In dem auf Ernsts Notizen basierenden Museum und Kulturhaus Ciäsa granda in Band wird dessen Ferienaufenthalt im Bergell Stampa, im Saal, der den Giacomettis und auf 1934 datiert, während in allen anderen Quel - Varlin – den grossen mit dem Bergell verbun - len von 1935 die Rede ist. Siehe dazu z. B. die An - denen Künstlernamen des zwanzigsten Jahr - gaben von Odette Giacometti, der Frau von Al -

hunderts – gewidmet ist. bertos Bruder Bruno, in ERNST SCHEIDEGGER (Hrsg.), La Bre gaglia. Patria dei Giacometti , Lo - * Franco Monteforte carno 2001, S. 176-179. Journalist, Historiker und Kunstkritiker.

XXVII Alberto Giacometti ......

9 ALBERTO GIACOMETTI , Gestern, Flugsand , Auch in Alberto Giacometti. Percorsi lombardi , a.a.O., S. 33 – Erstveröffentlichung unter dem a.a.O ., S. 363-365. Siehe auch die Erinnerung von

Titel Hier, sables mouvants in «Le surrealisme au PUCCI CORBETTA und ROBERTO SARFATTI , Giaco - service de la révolution», Nr. 5, Mai 1933. metti im Hause Corbetta , im Katalog der Ausstel - lung Alberto Giacometti - Die Frau auf dem Wagen,

10 JAMES LORD , Alberto Giacometti , a.a.O., S. 119. Triumph und Tod , Lehmbruck Museum Duisburg Lord bezieht sich bei diesem negativen Urteil auf 2010, in der die Skulpturenserie Femmes au eine Äusserung von Diego Giacometti. chariot zu sehen war, darunter auch der bemalte Originalgips im Besitz Corbettas.

11 ALBERTO GIACOMETTI , Charbon d’herbe in «Le surrealisme au service de la révolution», Nr. 5, 19 Die Texte von Franco Russoli über Giacometti

Mai 1933, deutsch Verbranntes Gras , in ALBERTO finden sich in FRANCO RUSSOLI , Arte moderna,

GIACOMETTI , Gestern, Flugsand , a.a.O., S. 32. cara compagna, Mailand 1987, S. 150-153, 267-269, 282-286. Die beiden 1965 veröffentlichten Es -

12 Eine Schilderung dieses Vorfalls findet sich in says von ALBERTO MARTINI , Solitudine di uomini

JAMES LORD , Alberto Giacomett i, a.a.O., S. 186. e cose nel vano profondo dello spazio und Alberto Giacometti: la poesia delle apparenze finden sich

13 Vgl JAMES LORD , Alberto Giacomett i, a.a.O., S. 393 auch in Alberto Giacometti. Percorsi lombardi, a.a.O., S. 371-377 und S. 379-387. Von Giorgio 14 Der Artikel von Mario Negri in «Domus» er - Soavi stammt eine grosse Zahl von Artikeln schien zusammen mit einem anderen, im Juni und Filmdokumenten über Giacometti. Hier 1966 in derselben Zeitschrift (S. 83-111) veröf - seien nur einige Beispiele angeführt: Il mio Gia - fentlichten Artikel auch in dem Sammelband cometti , Mailand 1969; der Film Ritratto di Al -

MARIO NEGRI , All’ombra della scultura , Mailand berto Giacometti für TSI, Lugano 1969; Alberto 1985, S. 70-82. Beide Artikel finden sich auch in Giacometti. La ressemblance impossible , Paris Alberto Giacometti. Percorsi lombardi , hrsg. von 1991; Alberto Giacometti. Il sogno di una testa,

CASIMIRO DI CRESCENZO und FRANCO MONTEFORTE , Mailand 2000; I segni dell’anima. Volti e memorie Sondrio 2003, S. 299-303 und 305-314. familiari nei disegni di Alberto Giacometti , in «Notiziario della Banca Popolare di Sondrio», 15 Zu Giacomettis Freundschaft mit Negri sowie Nr. 86, August 2001, S. 68-71. allgemeiner zu seinen Beziehungen mit Italien

verweise ich auf meinen Essay L’ultimo Giaco - 20 Interessant ist hier der Beitrag von GUIDO

metti tra Parigi, , Chiavenna e Milano , GIACOMETTI , Giacometti nel suo paese , im Katalog in Alberto Giacometti. Percorsi lombardi , a.a.O. der Ausstellung Alberto Giacometti , hrsg. von

S. 43-80, wo auch zahlreiche mündliche Aussa - ANDRÉ KUENZI , Fondation Pierre Giannadda, gen, Briefe und Dokumente zu finden sind, die die Martigny 1986, S. 21-26. aktive Mitwirkung Giacomettis am Organisati -

onskomitee der Mostra di scultura nel parco auf 21 ALBERTO GIACOMETTI , Gestern, Flugsand, a.a.O., der 11. Triennale belegen. S. 216-217.

16 Zur Person von Prof. Serafino Corbetta 22 Eine Schilderung des Gesprächs findet sich

siehe NATALIA CORBETTA (Hrsg.), Serafino Corbetta, in JAMES LORD , Alberto Giacometti , a.a.O., S. 405; un medico tra arte e natura , Mailand 2003. sie wird von Corbettas Töchtern bestätigt. In ei - nem unlängst erschienenen autobiografischen 17 Näheres zu Serafino Corbetta im Film Ritratto Werk behauptet Paola Caròla, eine Freundin

di Alberto Giacometti von GIORGIO SOAVI , TSI, von Alberto und Annette, Giacometti habe erst Lugano 1969. bei einer Kontrolluntersuchung im Kranken - haus von Chur aus seinem Krankenblatt erfah -

18 M. G. (M ANUEL GASSER ), Eine Stadt, ein Arzt, ren, dass er an Krebs operiert worden war; eine Sammlung , in «Du – Atlantis», Bd. 25, April eine Quelle für diese Behauptung wird aller -

1965, S. 267-289; LUIGI CARLUCCIO , L’amico di dings nicht angegeben. ( PAOLA CARÒLA , Mon - Giacometti. La collezione del prof. Corbetta a Chia - sieur Giacometti, vorrei ordinarle il mio ritratto , venna , in «Bolaffiarte», Nr. 3, Okt. 1970, S. 42-46. Mailand 2011, S. 85).

XXVIII Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ......

23 Zu einer Analyse dieser Skizzen siehe DO- (1965-1966), italienisch von ELIO GRAZIOLI in Alberto

NAT RÜTIMANN , Rückkehr zum Anfang , in BEAT Giacometti , hrsg. von MARCO BELPOLITI und ELIO

STUTZER (Hrsg.) , Alberto Giacometti: Stampa- GRAZIOLI , Mailand 1996.

Paris , a.a.O., S. 49-86 und BEAT STUTZER , Alberto Giacometti: vedute di Maloja e Stampa. Due nuove 34 Diese Wendung benutzt Giacometti im o.g. acquisizioni del Museo d’arte grigione , in «Quaderni Gespräch mit André Parinaud , S. 269. grigionitaliani», Jg. 70/71, Nr. 4/1, Oktober 2001 / Januar 2002, S. 65-68. 35 1969 postum veröffentlicht bei Tériade, Paris.

24 ALBERTO GIACOMETTI , Le rêve, le Sphinx et la mor - te de T , in «Labyrinthe», Nr. 22-23, Dezember 1946,

deutsch in ALBERTO GIACOMETTI , Gestern, Flugsand , a.a.O., der zitierte Satz findet sich auf S. 61.

25 ALBERTO GIACOMETTI , Gestern, Flugsand , a.a.O., S. 55.

26 GIORGIO SOAVI , Alberto Giacometti. Il sogno di

una testa , a.a.O., S. 15; MARIO VARGAS LLOSA , a.a.O.

27 ERNST SCHEIDEGGER , Alberto Giacometti. Tra - ces d’une amitié , Paris 1991. Scheidegger hatte Giacometti 1943 beim Militärdienst in Maloja kennengelernt.

28 GIORGIO SOAVI , Alberto Giacometti. Il sogno di una testa , a.a.O., S. 10.

29 ALBERTO GIACOMETTI , Tre note per le copie ,

Einführung zu dem Band von LUIGI CARLUCCIO , Alberto Giacometti. Le copie del passato , Turin

1967, S. VII, deutsch in ALBERTO GIACOMETTI , Gestern, Flugsand ., a.a.O., S. 133-134.

30 Zu diesen beiden Skulpturen und zu der Be - ziehung zwischen Rizzi und Giacometti siehe die

lange Anmerkung von CASIMIRO DI CRESCENZO zum Gipsabdruck der Buste d’homme (Chiavenna I) in Alberto Giacometti. Disegni, sculture e opere

grafiche , hrsg. von MARILENA PASQUALI , Mailand 1999, S. 145-146.

31 Nicht aus Zufall spricht Herbert Lust in Bezug auf Giacomettis späte Grafiken von seiner «apol -

linischen Periode» ( HERBERT LUST , Giacometti. The Complete Graphics , New York 1970, S. 85).

32 ALBERTO GIACOMETTI , Gespräch mit André Parinaud, in Gestern, Flugsand, a.a.O., S. 263-273.

33 ALBERTO GIACOMETTI , Conversazione con Jacques

Dupin, Abschrift aus dem Film von ERNST SCHEI -

DEGGER und PETER MÜNGER , Alberto Giacometti

XXIX

Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... Alberto Giacometti: ein Naturtalent und Meister des intimen Ausdrucks

von Casimiro Di Crescenz o*

Links: Alberto Giacometti arbeitend an einer kleinen Figur, ca. 1950.

Auf dieser Seite: Alberto Giacometti Selbstbildnis , 1921. Öl auf Leinwand: 82,5 x 70 cm Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung. Alberto Giacometti ...... Auch fast ein halbes Jahrhundert nach Giaco - Konfrontiert mit einer Realität, die als höhere mettis Tod am 11. Januar 1966 übt sein bild - Einheit zu verstehen und zu entschlüsseln ist, hauerisches, malerisches und zeichnerisches ergibt sich für Giacometti also die Notwendig - Werk noch immer grosse, ja zunehmende Fas - keit, das eigene Erkundungsfeld einzugrenzen, zination aus. Eine schöpferische Erfahrung, ge - sich alles Überflüssigen zu entledigen und die paart mit der Fähigkeit, unser Menschsein und Suche auf wenige Dinge zu konzentrieren – ein unser Schicksal zu hinterfragen, für die sich Apfel auf dem Tisch reicht aus, um das Rätsel vor allem die Dichter, Schriftsteller und Philo - des Lebens darzustellen. So konzentriert er sophen seiner Epoche interessiert haben. Sei - sich bei den Porträts auf die Gesichter seiner ne kreative Ausdrucksform entwickelte sich in engsten Angehörigen, vertrauter Menschen, der Auseinandersetzung mit dem Konzept der die ihm doch immer rätselhaft blieben. Der Realität – nicht im Sinne des Erlebens einer Bruder Diego und seine Frau Annette posie - leicht definierbaren und erklärbaren Alltäg - ren in langen Sitzungen geduldig für ihn, eben - lichkeit, sondern im Sinne einer höheren Ein - so seine Mutter Annetta, der Philosoph Yanai - heit, in der der Mensch lebt und mit der er in - hara, Caroline oder Eli Lotar – um nur seine teragiert, die er verändert und die ihn verän - wichtigsten Modelle zu nennen. Auch in der dert. Die Realität wird zur Einheit, die bis ins Malerei, wo er sich farblich auf die endlose Pa - Wunderbare, nicht Fassbare reicht, wird zum lette der Grau- und Ockertöne beschränkt, be - Quell grenzenloser Überraschungen. Dieser lebt von einem lichtweissen Pinselstrich, tau - kontinuierliche Wandlungsprozess, dem auch chen immer wieder dieselben Sujets auf, und der Blick des Künstlers unterworfen ist, macht sein Studiengebiet überschreitet nie die Mau - es unmöglich, die Realität ein für alle Mal bis ern seiner Ateliers in Paris oder Stampa, die auf den Grund zu verstehen; vielmehr bleibt es zu seinem Universum werden. – davon ist Giacometti überzeugt – bei dem zum Scheitern verurteilten Versuch, sie wie - derzugeben. Es geht nicht so sehr darum, zu einem Ergebnis zu gelangen, sondern diese Suche unbeirrt fortzusetzen und aus den eige - nen Niederlagen zu lernen, um voranzukom - men und sich selbst zu verbessern. Giacomettis Werk ist stets der Untersuchung der Wirklichkeit gewidmet, und seine poeti - sche Vision bringt seine Kenntnis der Realität und des Rätsels dahinter zum Ausdruck. Es fordert uns auf, hinter den Schein zu blicken und Fragen zu stellen, die uns zwingen, nach Antworten zu suchen. Was vor allem fasziniert, Ein ganz aussergewöhnlicher künstlerischer ist dieses Vorgehen eines Wünschelrutengän - Weg also. Zeit seines Lebens scheint Giaco - gers, bei dem sich hinter der ersten Wahrheit metti der Suche nach dem Gegenständlichen eine zweite auftut, die wiederum eine dritte nachzugehen; er schwimmt gegen den Strom enthüllt, wie eine Folge sich öffnender Schlei - des Abstrakten, das in der zweiten Hälfte des er, ei ne fortwährende Steigerung, immer ein - zwanzigsten Jahrhunderts in Mode ist und dringlicher, achtsamer und inniger, die den Zu - allenthalben bevorzugt wird. Doch ähnlich schauer hineinzieht, ihn schliesslich zwingt, einem Dichter, der in unserer Gesellschaft über sein Menschsein, sein Dasein in dieser eher als Randfigur gilt, ist es ihm gelungen, Welt nachzudenken. Der Mensch nimmt in Gia - sein Denken um den intimsten, wahrhaften comettis Suche eine zentrale Stellung ein, nicht Kern dieser intensiven und leidvollen Epoche der Held, sondern der gewöhnliche Mensch, al - herum zu entwickeln, und wenn man heute auf so wir alle, die wir uns der zeitlichen Begrenzt - das letzte Jahrhundert zurückblickt, scheint heit unserer Existenz und der Unabwendbar - er in seinem Werk dessen ganzen beschwerli - keit des Todes bewusst sind, doch gleichzeitig chen Lauf besser als andere wiederzugeben.

Alberto Giacometti erfüllt von dem Willen zu leben, der uns zu der Sein Schreitender Mann , der die eingeschlage - beim Malen in seinem Vorstellung befähigt, dass das Leben weiter ne Richtung so beharrlich verfolgt, und seine Atelier in Stampa, ca. 1960. geht, auch wenn wir selbst nicht mehr da sind. stehenden Frauen, die sich unseren Blicken als

XXXII Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... höhere Wesen, als unnahbare Göttinnen dar - bieten, sind die endgültige Bestätigung der zentralen Position des Menschen und seiner realen und fassbaren Präsenz in der Welt. Jede Schilderung von Giacomettis künstleri - scher Laufbahn beginnt im Bergell, dem Tal im Schweizer Kanton Graubünden, in dem er zur Welt kam. Hier lebt sein Vater Giovanni, ein bekannter postimpressionistischer Maler, Schüler und Freund Segantinis, fest verwur - zelt in der Heimat und zutiefst verliebt in die lichte Landschaft und die kraftvolle Ausstrah - lung ihrer hohen Berge. Hier lernt Giovanni Giacometti Annetta Stampa kennen, eine bo - denständige, charakterstarke Frau, die er am 4. Januar 1901 heiratet. Sie lassen sich in Bor - gonovo nieder, wo neun Monate später, am 10. Oktober, ihr erster Sohn Giovanni Alberto zur Welt kommt, dem noch drei weitere Kin - und kulturellen Interessen des Vaters wächst der folgen: Diego, Ottilia und Bruno. Nach der Alberto in einem heiteren, lebendigen familiä - Geburt der Tochter Ottilia zieht die Familie ren Umfeld auf, das ihm viele Anregungen bie - um ins nahe Dorf Stampa. tet. Die Eltern begleiten seine Entwicklung lie - Der einzigartige Reichtum an Talenten in der bevoll und ermuntern ihn, ohne jedoch seine Familie Giacometti hat etwas von einem Wun - Gabe für das Zeichnen, die schon sehr früh der. Neben dem Vater Giovanni ist auch dessen deutlich wird, in eine bestimmte Richtung zu Cousin zweiten Grades zu lenken. Die Bibliothek des Vaters steht der nennen, ein bedeutender abstrakter Maler, ganzen Familie zur Verfügung, und auch das und von Giovannis Kindern neben Alberto Atelier steht allen offen. Giovannis Gemälde auch Diego, der sein Leben mit dem des Bru - üben sicher grossen Einfluss auf Alberto aus, ders teilt und zu einem seiner wichtigsten Mo - der sich noch nach vielen Jahren an den ange - delle und zum verlässlichen Helfer im Atelier nehmen Duft der Farben erinnert, die der Va - wird. Diego macht sich später einen Namen als ter verwendete, und auch an die grosse Freu - kunstfertiger Schöpfer dekorativer Bronzeob - de, wenn er sich nach der Schule endlich ins jekte, vor allem von Möbelstücken und Lam - Atelier setzen konnte, um die Reproduktionen pen. Und dann ist da noch Bruno, der sich in von Gemälden und Skulpturen in den Büchern Zürich niederlässt und dort als Architekt Er - zu betrachten oder selbst zu zeichnen. Bereits folge feiert. Dank der künstlerischen Kontakte als Zehnjähriger versieht er seine ersten Wer - ke mit einem Monogramm im Stile Dürers, den er neben Rembrandt leidenschaftlich ver - ehrt. So beginnt er schon sehr früh damit, aus den Büchern alle Kunstwerke, die ihn interes - sieren, mit dem Bleistift zu kopieren, oft direkt neben der Vorlage. Diese Gewohnheit, die er sein Leben lang beibehält, erweist sich als nützliche Übung, um das Werk genau zu ver - stehen, um seine Struktur und seine Komple - xität präzise zu erfassen. Seine ersten Ar - beiten sind vom häuslichen Umfeld inspi - riert, zei gen Szenen aus dem Alltagsleben mit sei nen Angehörigen und den Nachbarn aus Oben rechts: Stampa oder die Landschaft des Bergells und Giovanni und Annetta Giacometti. geben fantastische Erzählungen oder Ge - schichten aus der Bibel wieder. Seine erste Unten links: Val Fex, 1935. Skulptur ist eine Büste von Diego, die er 1914

XXXIII Alberto Giacometti ...... in Plastilin anfertigt, ein zartes, präzise mo - für immer den verzauberten Blick auf die delliertes Werk. Es folgen die Porträts seines Welt, der ihn bisher gestützt und angetrieben Bruders Bruno und der Mutter Annetta. Sein hat, und mit einer gewissen Verwirrung er - erstes Ölbild malt er im Jahr darauf, ein Still - kennt er, dass ihm die Wirklichkeit entflieht, leben in kräftigen, lebhaften Farben. Der bril - dass sie vage wird und unverständlich. lante Schüler mit hervorragenden Noten bit - Auf Anraten des Vaters, der all seine Erfah - tet seine Eltern 1915, die Mittelschule in rung einsetzt, um die Karriere des Sohns zu Schiers besuchen zu dürfen, eine protestanti - fördern und ihm alle Möglichkeiten zu sichern, sche Lehranstalt, die berühmt für ihre un - die ihm selbst verwehrt geblieben waren, nachsichtigen Lehrer und die strenge Diszip - schreibt Giacometti sich an der Ecole des Be - lin ist. Auch in dieser neuen Umgebung, die so aux-Arts in Genf ein und besucht den Kurs für anders ist als die schützende Wärme der Fa - Malerei und Grafik. Diese erste Ablösung vom milie und so fern von ihr, zeichnet Alberto sich heimatlichen Tal, die zu einer negativen Er - durch seine Intelligenz, seinen Willen und sei - fahrung für ihn wird, endet bereits nach weni - ne intellektuellen Fähigkeiten aus und erfährt gen Monaten; ihm gefällt weder das Leben in bei seinen Lehrern und seinen Mitschülern der Stadt noch der Unterricht in der Kunst - grosse Anerkennung. Im Vergleich mit Gleich - schule. Eine weitere Reise voller positiver Er - altrigen wird ihm seine aussergewöhnliche fahrungen, die sein zukünftiges Leben nach - künstlerische Begabung bewusst, auf die auch haltig beeinflussen, folgt im Mai 1920, als der die Schulleitung bald aufmerksam wird, wel - Vater als Mitglied der Eidgenössischen Kunst - che ihm erlaubt, ein kleines Atelier einzurich - kommission zur Biennale in Venedig entsandt ten, wo er in Ruhe üben kann. Das ist für den wird und beschliesst, den Sohn mitzunehmen. Schüler eine Zeit des höchsten Schaffens - Die Lagunenstadt wird für Alberto zu einer glücks. Er fühlt sich in perfekter Harmonie mit unerwarteten Offenbarung, er erliegt der Fas - der Welt und kann sein Bild der Wirklichkeit zination dieser an Geschichte und Kunstwer - selbst bestimmen. Unverständlicherweise be - ken so reichen Stadt, ihrer geradezu magi - schliesst er dann aber im Jahr 1919, das Inter - schen Atmosphäre, die durchdrungen ist vom nat in Schiers vor der Abschlussprüfung zu Licht der Sonne und den Spiegelungen des verlassen, und bittet seinen Vater um drei Mo - Wassers. Giacometti lässt die Kunstneuheiten, nate Bedenkzeit, während derer er mit ihm in die auf der Biennale ausgestellt werden, links seinem Atelier zusammenarbeitet. Nach die - liegen, konzentriert sich stattdessen voller Be - ser Zeit eröffnet er dem Vater seine schon seit geisterung ganz auf die Kunst Tintorettos, will längerem herangereifte Entscheidung, Maler alle seine Bilder in den Museen und Kirchen oder Bildhauer zu werden. Er geht nicht mehr der Stadt ansehen. Er erlebt Venedig als eine nach Schiers zurück, und in seinen Erinne - wunderbare Entdeckung, als hätte sich ein rungen verliert er just in dem Moment, in dem Vorhang gelüftet und ihm eine neue Welt ge - er eine bestimmte Richtung einschlagen will, zeigt, eine Widerspiegelung der realen Welt, die ihn umgibt. Auf der Rückfahrt machen sie in Padua halt und besuchen die Scrovegni- Kapelle. Hier lernt Alberto ein neues, gewalti - ges Gefühl kennen, ein Gefühl wie eine Faust in den Magen, als er die Fresken von Giotto sieht, deren Ausdrucksstärke alles, selbst die Werke Tintorettos, übertrifft. Er ist verwirrt; er will die Widerspiegelung der Realität nicht verlie - ren, die er an den Bildern Tintorettos so liebt, spürt jedoch zugleich die Überlegenheit Giot - tos, in dessen Kunst ewige, unveränderliche

Alberto Giacometti Werte zum Ausdruck kommen. Dieser unheil - Carafes et fleurs , bare Widerspruch, der Gegensatz von Kunst um 1938. und Realität, wird die ganze künftige Suche Feder mit brauner Tinte auf Papier: 27 x 20,5 cm Giacomettis bestimmen. Kunsthaus Zürich, Nach einem Sommer im heimatlichen Bergell Alberto Giacometti- Stiftung. ist seine Begeisterung für Italien noch immer

XXXIV Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ......

lebendig, und sein Wunsch, die Kunststädte Antwortbrief lädt ihn Van Meurs zu einer ge - des Nachbarlandes zu besuchen, ist noch grös - meinsamen Reise nach Venedig ein, auf seine ser geworden. Im Herbst 1920 begibt er sich Kosten; er sei alt und alleine, und da er Alberto mit Erlaubnis des Vaters zu einem langen Auf - sympathisch finde, wäre ihm seine Gesell - enthalt bis zum Sommer 1921 nach Süden. schaft sehr angenehm. Nach anfänglichem Zuerst geht er für knapp drei Wochen nach Zögern nimmt Giacometti die Einladung an. Florenz, wo er an der Accademia keinen Platz Sie treffen sich in Madonna di Campiglio, wo findet und die Zeit damit verbringt, alle Denk - Van Meurs plötzlich erkrankt und Giacometti mäler der Stadt zu besichtigen. Dann fährt er, den ganzen Tag an seinem Bett Wache halten nach einem Abstecher nach Assisi, weiter muss. Gegen Abend verschlechtert sich nach Rom, wo er die restliche Zeit bei einem dann leider der Gesundheitszustand von Van Cousin seines Vaters zu Gast ist. Die Stadt und Meurs, und wenige Stunden später stirbt er. ihr Leben begeistern ihn, und er will unbedingt Zum ersten Mal steht Giacometti dem Tod alles sehen. Er schreibt sich an einer Aktschu - gegenüber. Bis dahin hatte er gedacht, der Tod le ein und fertigt Ölbilder und Skulpturen an. hätte etwas Feierliches und könne den Wert Auch in Rom erlebt er eine Krise, als er sich an des Lebens noch steigern, als wäre es möglich, zwei Büsten seiner Cousine Bianca versucht, sich auf diesen Augenblick vorzubereiten. in die er sich verliebt hat; es gelingt ihm nicht, Doch jetzt erweist sich der Tod als die absolu - die Werke fertigzustellen, und schliesslich ver - te Negation des Seins; in wenigen Stunden ist nichtet er sie. Am Ende seines Rom -Aufent - Van Meurs zu einem reglosen Gegenstand ge - halts hat er noch Gelegenheit zu einer Reise worden. Der Tod ist also eine stets präsente nach Neapel, Pompei und Paestum, deren Fol - Bedrohung, die jeden von uns ohne Vorankün - gen den Rest seines Lebens entscheidend be - digung treffen kann. Noch nie zuvor hat er die - einflussen werden. Im Zug von Paestum nach ses Gefühl der Zerbrechlichkeit, der Verletz - Pompei unterhält er sich mit dem 61-jährigen lichkeit des menschlichen Seins erfahren, das Holländer Peter Van Meurs. Einige Zeit da - nur ein Produkt des Zufalls zu sein scheint. nach, als er bereits wieder in Stampa ist, lässt Er fährt trotzdem nach Venedig, versucht das ihm sein Onkel Antonio eine Zeitungsanzeige tragische Erlebnis dort zu vergessen, doch tief zukommen, über die Van Meurs Kontakt mit in sich spürt er, dass sich sein Leben und seine dem jungen Kunststudenten aufnehmen will, bisherige Vorstellung davon für immer verän -

Postkarte von Alberto den er ein paar Monate zuvor im Zug getrof - dert haben. Giacometti an den fen hat. In der Annahme, Van Meurs habe Nach der Rückkehr in die Schweiz teilt Giaco - Onkel Antonio in Rom, 1935. etwas verloren, schreibt Alberto ihm. Doch im metti seiner Familie seine Entscheidung mit,

XXXV Alberto Giacometti ...... Bildhauer zu werden, und geht gemäss dem gelingt ihm auch nicht, eine neue Arbeitsme - väterlichen Rat Anfang 1922 nach Paris, um thode zu entwickeln; er beschliesst, die Arbeit den Bildhauerkurs von Antoine Bourdelle an mit Modellen aufzugeben und allein der Erin - der Académie de la Grande Chaumière zu be - nerung zu vertrauen. Viele Arbeitsproben be - suchen. Wahrscheinlich will er damit seinen legen, dass ihn die Krise doch nicht so jäh und künstlerischen Weg in andere Bahnen lenken unerwartet trifft, wie er es selbst im Nach - als die des Vaters, wobei man betonen muss, hinein zu glauben scheint. Sie fällt nicht mit dass seine Gemälde in diesen Jahren von einer dem Weggang von der Académie zusammen, absoluten Beherrschung des Metiers zeugen die er bis 1927 besucht, und veranlasst ihn und den Werken des Vaters an Können, Ge - auch nicht dazu, das Modellieren eines Kopfes schicklichkeit und Qualität in nichts nachste - nach dem lebenden Objekt aufzugeben. Die hen. Es sind gelungene Bilder, voller Sonne Skulptur Tête d’Ottilia von 1926, inspiriert und Farben, reich an postimpressionistischen durch die Büsten von Charles Despiau, zeigt Nachklängen, noch nicht berührt vom Drän - seine Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit gen der avantgardistischen Strömungen des der tradi tionellen Bildhauerei. Seine Leiden - zwanzigsten Jahrhunderts. Jedenfalls hört er schaft, Köpfe zu modellieren, hält während bis 1925 nicht mit der Malerei auf. Dann wen - seiner Aufenthalte in der Schweiz auch noch det er sich in Paris anderen Dingen zu, doch nach seiner Annäherung an die surrealisti - während seiner alljährlichen Aufenthalte in sche Bewegung an und kulminiert in der Stampa und Maloja nimmt er immer wieder grossartigen Serie von Porträts des Vaters, die die Pinsel zur Hand, um Porträts seiner Liebs - er im Som mer 1927 anfertigt. Ob mit Gips ten anzufertigen. Anders als bei Venedig oder modelliert oder aus Granit und Marmor ge - Rom ist Giacometti von Paris zunächst nicht hauen, vollständig rund herausgearbeitet oder begeistert; er fühlt sich hier fremd und allein, mit abgeflachtem Gesicht, oder, in der abs - misstraut den Verlockungen der Lichterstadt traktesten Version, in Marmor nur zart ange - und leidet unter heftigem Heimweh nach dem deutet – der Kopf des Vaters ist Gegenstand ei - Bergell. In den ersten Jahren kehrt er immer ner umfassenden Suche nach Erkenntnis, die wieder für längere Zeit, bisweilen für mehrere von den dreidimensionalen Formen ausgeht, Monate, zurück nach Stampa, und nur all - mählich, von 1925 an beginnt er sich in der französischen Hauptstadt wohl zu fühlen. Ne - ben dem Studium in der Académie sind es auch hier wieder die Museen, die ihm neue An - regungen und Anlässe zur Reflexion bieten; er fertigt Kopien der ägyptischen, sumerischen und kykladischen Skulpturen im Louvre an, entdeckt im Musée Trocadéro die afrikanische, ozeanische und mexikanische Kunst und ko - piert voller Leidenschaft ihre Werke. Der Kunst der Avantgarde nähert er sich bei Be - suchen in den Kunstgalerien und durch die Lektüre von Zeitschriften wie «Cahiers d’Art» und «Documents», die die Avantgarde vertei - digen. In kürzester Zeit erweitert Giacometti, dessen künstlerische Bildung bei Cézanne und den Postimpressionisten stehen geblieben ist, seine Interessen und beschäftigt sich intensiv mit den Ansätzen von Picasso, Brancusi, Zad - kine, Laurens und Lipchitz. In seinen Erinne - rungen ist 1925 das Jahr seiner tiefsten künst - Alberto Giacometti lerischen Krise. Er ist enttäuscht vom Unter - Le couple , 1927. Bronze: 60x40x19 cm richt in der Académie, unfähig, eine Figur als Kunsthaus Zürich, Ganzes zu erfassen und zugleich die Details zu Alberto Giacometti- Stiftung. analysieren (die Form löste sich auf), und es

XXXVI Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ......

Alberto Giacometti sich dann der Frage zuwendet, was das Femme couchée menschliche Auge wirklich sieht, und schluss - qui rêve , 1929. Bronze, weiss bemalt: endlich der radikalsten Lösung zustrebt und 24 x 43 x 13,5 cm die Abstraktion streift. Doch das Endergebnis Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti- der Krise von 1925, die in der Aufgabe des Ar - Stiftung. beitens nach Modell zum Ausdruck kommt, ist die Abkehr von der traditionellen Kunst, die die Wirklichkeit nicht wiedergeben kann, und die Hinwendung zur Kunst der Avantgarde mit ihrer neuen Semiotik, die bis dato unbe - kannte Formen entstehen lässt und eine als in - nere Realität empfundene Wirklichkeit er - forscht. Die Er forschung der Wirklichkeit nicht nur anhand der äusseren Formen, son - dern auch durch die Untersuchung der uni - versellen Archetypen führt Giacometti hin Mit dieser Reduzierung der Skulptur auf ein zu einer Imaginationsarbeit, die ihn mit Hil - absolutes Minimum und der Abkehr von der fe des postkubistische n Vokabulars bald ins figurativen Darstellung zwingt uns Giacomet - Herz der surrealistischen Bewegung führt. ti, dem Rätsel des Seins nachzuspüren. Dieses Femme-cuillère von 1926, inspiriert durch den Werk, das im Juni 1929 in der Galerie Jeanne hölzernen Zeremonien-Löffel der westafrika - Bucher ausgestellt wird, verschafft ihm einen nischen Dan-Kultur, erinnert an ein Totem, ist unerwarteten, unverhofften Erfolg: als der Vi - Sinnbild des urtümlichen, kraftvollen weibli - comte Charles de Noailles, reicher Kunst - chen Fruchtbarkeitsidols: eine Muttergöttin sammler und generöser Mäzen der Surrealis - voller Stolz auf ihre Fähigkeit, Leben zu er - ten, die Plastik erwirbt, bleibt das nicht unbe - zeugen. Le couple von 1927 zeigt eine sehr ähn - merkt. Sogleich konzentriert ganz Paris seine liche, noch anstössigere Konzeptualisierung Aufmerksamkeit auf den jungen Bildhauer, der Formen, bei der die beiden Körper das der in allerkürzester Zeit die gesamte künstle - Prinzip der jeweiligen Geschlechtsorgane auf - rische Avantgarde kennenlernt, vor allem die greifen. Die erotische Beziehung zwischen Mitglieder der surrealistischen Bewegung. Mann und Frau, die jeweils auf einem eigenen Die Begegnung mit dem Surrealismus scheint Sockel stehen, wird durch die Form ihres Au - unausweichlich, denn schon seit 1929 tauchen ges angedeutet, die an das Geschlecht des je - Giacomettis Werke in eine traumhafte Di - weils anderen erinnert. Bei der Reihe der mension ein. Bei seiner Serie transparenter Plaques nimmt er die dras tischste Vereinfa - Konstruktionen macht er formale Anleihen chung vor und reduziert die Skulptur auf eine bei den Bronzeskulpturen von Jacques Lip - Platte mit einer schlichten Vertiefung. Ähn - chitz und bei Picassos Drahtkonstruktionen, lich wie bei Femme-cuillère lassen die hier von den beiden als “Zeichnungen im Raum” wiedergegebenen Formen meist an weibli - definiert. Dieser neuartige Umgang mit der che Körper denken, und wir erkennen die Bildhauerei hilft Giacometti, auch den Raum Wirksamkeit der formalen Reduktion und in die Komposition einfliessen zu lassen, die die Entwicklung hin zu de n Archetypen, die Leere als Mittel zur Skizzierung oder Vervoll - das Geheimnis der weiblichen Fruchtbarkeit ständigung der Figur zu nutzen. Die Skulptur enthüllen. Ein kleines konkaves Rund reicht Femme couchée qui rêve bestätigt bereits mit ih - aus, um den Kopf anzudeuten, eine grosse rem Titel ( Liegende Frau, die träumt ) die neue Höhlung stellt den Bauch dar, kurze Ein - Richtung, die Giacometti eingeschlagen hat. schnitte geben die Arme und Beine wieder. Mit Hier finden wir die bereits bekannten forma - der im Winter 1927-28 angefertigten Skulptur len Zeichen des Künstlers wieder, aber die Lö - Tête qui regarde , bei der er formale Anleihen sung, zu der er schliesslich gelangt, ist anders. bei der kykladischen Kunst macht, treibt er Der weibliche Körper mit seiner sanften Wel - diese Tendenz bis ins Extrem einer wie ein ligkeit scheint zwischen Realität und Traum Blatt gespannten Platte. Der Kopf ist auf eine zu schweben; die drei Stäbe, die die Skulptur vertikale und eine horizontale Vertiefung re - durchbohren, scheinen weniger für einen rea - duziert, die Nase und das beobachtende Auge. len Gewaltakt zu stehen, sondern eher für eine

XXXVII Alberto Giacometti ......

Alberto Giacometti bevorstehende Bedrohung. Eine noch grausa - me, sadistische Erotik vor, sind beunruhigen - Main prise , 1932. mere Darstellung findet man in Le couple von de Verbildlichungen von Psychodramen, in de - Holz und Metall: 20 x 59,5 x 27 cm 1929, wo eine männliche Figur eine vor Angst nen familiäre Beziehungen oder die Beziehung Kunsthaus Zürich, oder Begehren starre weibliche Figur mit ei - zwischen Mann und Frau untersucht werden, Alberto Giacometti- Stiftung. nem phallusartigen Stab bedrängt. zumeist als gewaltsame, tödliche Begegnung, Bei der Ausstellung Tête qui regarde in der Ga - bei der einer der beiden Partner zwangsläufig lerie Jeanne Bucher lernt Giacometti den Ga - unterliegt. Und so entsteht eine Vielzahl von leristen Pierre Loeb kennen, einen Freund des Käfigen, unangenehmen Objekten, bedrohli - Surrealismus, der ihm einen Vertrag für ein chen Räderwerken und rätselhaften Mecha - Jahr vorschlägt und ihm dafür im Frühjahr nismen, von Spielfeldern mit unverständli - 1930 eine Ausstellung anbietet, bei der er Gia - chen Regeln, durch die Giacometti jedoch eine comettis Werke neben Werke von Miró und unvergleichliche Ausdrucksstärke erreicht, Arp stellt. Die Skulptur Boule suspendue er - die ihm einen Platz unter den wichtigsten Bild - weckt sofort das Interesse von Salvador Dalì hauern des zwanzigsten Jahrhunderts sichert. und André Breton, der so fasziniert ist, dass er Der plötzliche, unerwartete Tod des Vaters im die Skulptur erwirbt. Als er Giacometti per - Juni 1933 setzt diesen Fantasien ein Ende und sönlich kennenlernt, bittet er ihn, der surrea - führt Giacometti in den letzten Jahren seiner listischen Bewegung offiziell beizutreten. Gia - surrealistischen Phase hin zu Themen rund cometti willigt ein. Die Schwebende Kugel leitet um den Tod und die Fortdauer des Lebens. Da - die surrealistische Reihe der «Objekte mit raus ergibt sich zwangsläufig ein Wiederer - symbolischer Funktion» ein; nach Salvador starken seines Interesses für die Realität. In Dalís berühmter Definition sind das Objekte einem Brief an Pierre Matisse schreibt er, er mit minimaler mechanischer Funktion, aber sehe jetzt in der Wirklichkeit wieder Körper, voller unbewusster erotischer Fantasien. Bou - die Anziehungskraft auf ihn ausübten, und in le suspendue besteht aus einem käfigartigen der Bildhauerei abstrakte Formen, die ihm Gerüst, in dem an einem Draht eine Kugel echt erschienen. Im Februar 1935 bringt ihn hängt, aus deren Unterseite ein schnitzförmi - das Verlangen, Kompositionen mit Figuren zu ges Stück herausgeschnitten ist. Direkt unter - erschaffen, wieder dazu, nach einem Modell zu halb des Einschnitts liegt eine halbmondartige arbeiten. Breton reagiert entrüstet auf diese Form. Der Betrachter ist zum Mitmachen ein - Entscheidung: «Ein Kopf! Jedermann weiss geladen und kann das Objekt in Bewegung ver - doch, was ein Kopf ist». Er hält Giacomettis setzen. Allerdings kann sich nur die Kugel be - Arbeitsweise für sinnlos und reaktionär. Der wegen, sie kann über dem Halbmond hin- und hingegen sieht darin den Anreiz zu einer neu - herschwingen und ihm näher kommen, ihn en künstlerischen Suche, der er sich in den fol - aber niemals berühren. So kommt es zu keiner genden Jahren widmet. Für ihn ist der Austritt Befriedigung, denn die Kugel kann nur ihre Be - aus der Gruppe der Surrealisten wie die Rück - wegung auf ewig wiederholen, aber nie einen gewinnung der Freiheit, auch wenn damit eine abschliessenden Akt vollziehen; es stellt sich erzwungene Isolation und der Verlust alter zwangsläufig ein Gefühl der Frustration ein, Freunde einhergehen. Doch die neu gewonne - weil die Handlung so nutzlos ist. So entblösst nen Freunde wie Beckett, Sartre und Simone der von Giacometti geschaffene Mechanismus de Beauvoir bestätigen ihn auf dem Weg, den die verborgensten sexuellen Begierden. Seine er eingeschlagen hat. surrealistischen Werke führen oft eine grausa - Giacometti meint, die Untersuchung des menschlichen Kopfes werde ihn etwa zwei Wochen beschäftigen; diese Zeit brauche er, um über seine Anatomie nachzudenken, damit er sich dann seinen Kompositionen widmen könne. Doch die Untersuchung des Kopfes wird zu seiner Hauptbeschäftigung, und rasch lässt er den Gedanken fallen, sich mit der gan - zen menschlichen Figur zu befassen. Seine Mo - delle sind Diego, der ihm jeden Morgen mehre - re Stunden Modell sitzt, während er am Nach - mittag mit einem weiblichen Modell namens

XXXVIII Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... Rita arbeitet. Danach folgt Isabel, in die Alber - to verliebt ist. Die Büste Diego von 1937 bezeugt die Schwierigkeiten des Künstlers. Selbst der vertraute Kopf des Bruders ist wie ein unbe - kanntes Objekt für ihn geworden. Die gequälte Plastik verrät, wie angestrengt Giacometti sich um einen persönlichen Stil bemüht, der geeig - net ist, seine Sicht der Wirklichkeit wiederzu - geben. Er will einen Kopf schaffen, der aus einer gewissen Entfernung mit einem Blick vollständig zu erfassen ist. Er lehnt somit die traditionelle Bildhauerei und ihr lehrbuchhaf - tes Vorgehen ab und bemüht sich darum, die ei - gene Sichtweise zu prüfen und ihre Mechanis - men zu verstehen. Ein sicher nicht einfaches, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen, zumal ihm all die technischen Kenntnisse im Wege stehen, die er sich in den vielen Jahren seiner künstlerischen Tätigkeit angeeignet hat. Die Suche, die er in Paris auf dem Gebiet der scheint Tag für Tag ein wenig voranzukom - men, aber nicht zu einer endgültigen Lösung zu gelangen. In dieser Zeit studiert er sorgfäl - tig die alten Meister, kopiert viel aus Büchern, vor allem ägyptische Kunst, und beschäftigt sich mit dem Werk Cézannes. Um seine Schwierigkeiten zu überwinden, beschliesst er 1940, nach dem Gedächtnis zu arbeiten, doch gegen seinen Willen werden die Figuren im - mer kleiner, bis sie schliesslich fast verschwin - den. Doch schon 1937 scheint er zum ersten Mal mit einer solchen Verkleinerung zu expe - rimentieren, als er nach dem Tod seiner Schwester die Büste Ottilia anfertigt. Am 10. Oktober 1937, seinem Geburtstag, bringt Skulptur durchführt, mit Diego, Rita und spä - Ottilia ihren Sohn Silvio zur Welt; wenige ter Isabel als Modell, unternimmt er in Stampa Stunden später stirbt sie im Kindbett. Der auch in der Malerei, zuerst mit dem Gesicht Schmerz über ihren Tod ist gross und über - seiner Schwester, dann mit dem von Maria und wältigt die gesamte Familie. Alberto zeichnet schliesslich mit dem seiner Mutter Annetta. sie auf dem Totenbett, und im selben Skizzen - Die beiden Ölgemälde Portrait de la mère und heft finden sich auch die ersten Porträts von Pomme sur buffet von 1937 sind Meisterwerke, Silvio – eine feinfühlige Bleistiftzeichnung gibt die mit ihrem Stil die künstlerische Entwick - voller Leichtigkeit das zarte Leben wieder. Auf lung Giacomettis um ein Jahrzehnt vorweg - der letzten Seite bezeugt eine nach dem Ge - nehmen. Hier macht er sich zu eigen, was er bei dächtnis angefertigte, mehrmals ausradierte Cézanne, den er seit jeher bewundert, gelernt und neu begonnene Skizze von Ottilia diesen hat. Das Porträt der Mutter beeindruckt durch Tod. Zurück in Paris beginnt er an der Skulp - Auf dieser Seite, links: Alberto Giacometti seine Unmittelbarkeit, der umgebende Raum tur zu arbeiten, der letzten Porträtbüste sei - beim Porträtieren umfasst sie gänzlich und vibriert von ihrer ner Schwester. Der Verlust trifft ihn hart und von Jacques Dupin, Paris, 1964. lebhaften Präsenz; auch der Hintergrund mit lässt all die Sicherheit wieder schwinden, die seinen schwarzen Strichen schwingt voll im er mit den beiden im selben Sommer angefer - Rechts: Rhythmus der Komposition mit. tigten Ölgemälden La mère de l’artiste und Pom - Ecke im Studio Giacomettis in Paris me sur buffet gewonnen hat. Seine Werke wer - mit einigen Die Arbeit an den Köpfen geht weiter, doch den immer kleiner: Giacometti erklärt das da - Gips-Entwürfen, Paris, 1953. Giacometti ist nie wirklich zufrieden; er mit, dass er nur dann das Ganze erfassen

XXXIX Alberto Giacometti ...... kann, ohne von einzelnen Details abgelenkt zu Gewicht. Giacometti hat seinen Stil gefunden. werden, wenn er sein Modell aus der Distanz Bald stellt er seine Skulpturen öffentlich aus, betrachtet. Oft stellt er diese Figuren auf gros - und sie treffen sofort auf Interesse; allen ist se Sockel, manchmal – wie die Skulptur Petit klar, dass hier etwas völlig Neues in der Bild - buste sur double socle – sogar auf zwei Sockel, hauerei entstanden ist. Die Ausstellung in der um ihre Monumentalität noch zu steigern und Galerie Pierre Matisse, die am 19. Januar 1948 das Gefühl der Distanz zwischen Figur und Be - eröffnet und von einem hervorragenden Kata - trachter zu verstärken. Die Invasion der deut - log mit einem wichtigen Beitrag von Jean-Paul schen Truppen in Frankreich überrascht Gia - Sartre begleitet wird, erweist sich als voller cometti in Paris. Zunächst will er aus der Stadt Erfolg. Sie hat den Charakter einer Retrospek - tive, beginnt bei den Jugendwerken und führt bis zu den dünnen Skulpturen von 1947, die hier zum ersten Mal öffentlich präsentiert werden. Giacometti ist jetzt berühmt, und der Stil sei - ner Büsten wie etwa Diana Bataille , seiner Frauenfiguren und seiner schreitenden Män - ner geniesst immer grössere Wertschätzung. Nach den überschäumenden vierziger Jahren, die durch eine ungeheure Vielfalt seiner Ar - beiten gekennzeichnet sind, zieht Giacometti es jetzt vor, sich auf wenige Themen zu kon - zentrieren, vor allem auf Büsten und stehende Akte, die er sehr naturalistisch und mit grosser

fliehen, doch als er erkennt, dass das unmög - lich ist, kehrt er wenige Tage später zurück und bleibt dort bis Ende 1941. Dann beschliesst er, nach Genf zu gehen und seine Mutter zu be - suchen, die dorthin gezogen ist, um ihren En - kel Silvio aufzuziehen und ihm mit ihrer Liebe die fehlende Mutter zu ersetzen. Alberto will nur so lange in Genf bleiben, bis er ein neues Visum für Frankreich hat, aber da ihm die Ausdruckskraft modelliert. Seine wichtigsten deutschen Behörden dieses verweigern, bleibt Modelle sind Diego und Annette, seine junge er bis September 1945 in einem billigen Hotel Frau, die er in Genf kennengelernt hat und die und modelliert in seinem kleinen Zimmer wei - er 1949, drei Jahre nach ihrer Ankunft in Paris, ter winzige Skulpturen. Er verkehrt mit ande - heiratet. Petit buste d’Annette ist eine der ersten ren Exilierten, die in Genf Zuflucht gefunden Skulpturen, die er von ihr anfertigt. Bei Dut - Links: Albertos jüngerer haben, insbesondere mit der Gruppe von In - zenden von Skulpturen, Gemälden und Zeich - Bruder Diego tellektuellen um den Verleger Skira und die nungen holt er sich immer wieder Inspiration war neben seiner eigenen künstlerischen Redaktion seiner Zeitschrift «Labyrinthe». von ihrem Gesicht und ihrer Gestalt. Auch Die - Tätigkeit als Der Krieg ist schon mehrere Monate vorbei, go steht ihm für eine sehr interessante und Möbeldesigner verantwortlich für als Giacometti schliesslich nach Paris zurück - vielfältige Serie Modell, aus der vor allem die die Realisation geht, wo er sein Atelier dank Diegos Fürsorge Buste de Diego [dit Aménophis] wegen ihrer sämtlicher Güsse und deren Patinierung, unangetastet wiederfindet. Er nimmt die Ar - zwei unterschiedlichen Ansichten hervor - Paris, ca. 1958. beit wieder auf und kommt zu neuen Erkennt - sticht. In der Draufsicht ist der Kopf dünn wie nissen, die nicht zuletzt durch Maurice Mer - eine Messerklinge, während die Büste zur Rechts: Alberto Giacometti leau-Pontys phänomenologische Theorien be - kompakten Masse wird. Im Profil gesehen ent - und seine Frau Annette einflusst sind. Seine Skulpturen werden jetzt materialisiert sich die Büste und der Kopf im Atelier in Stampa, ca. 1960. länger, dünner und leichter, scheinbar ohne erscheint wie ein Gesicht.

XL Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... Giacometti findet immer mehr Gefallen daran, sie in seinem Blick zum Ausdruck kommt. Sei - eine Skulptur mehrmals zu überarbeiten, auch ne letzten Jahre widmet er dieser Suche, bei der über lange Zeiträume hinweg, und verwendet er in der Malerei wie in der Bildhauerei mit sei - zunehmend Ton. Dieses Material ist, wenn es nen altbekannten Modellen arbeitet: Annette – feucht gehalten wird, geschmeidiger als Gips, von der er zahlreiche Ölgemälde und Skulptu - und erlaubt dem Künstler, die Arbeit vor dem ren anfertigt, darunter eine sehr schöne Reihe Modell fortzuführen, unabhängig von der An - von Büsten – und Diego, von dem er, oft nach zahl der Posen. Auf diese Weise entstehen Les dem Gedächtnis, eine Reihe von Skulpturen mo - Femmes de Venise , die Giacometti als Beitrag für delliert wie Diego assis , wo er Stilelemente der die Biennale in Venedig von 1956 anfertigt. Die ägyptischen Bildhauerei aufgreift, oder die Bus - Frauen von Venedig sind aufeinanderfolgende te d’homme, dit Chiavenna II, bei der der Kopf un - Stadien ein und derselben Skulptur aus Ton. ter starker Spannung steht, die Gesichtszüge Als Giacometti mit der Arbeit zufrieden ist, bit - verzerrt wirken und die gesamte Büste stärker tet er Diego, einen Gipsabdruck davon zu ma - stilisiert erscheint. Zu seinen besten Ölgemäl - chen; dann bearbeitet er den Ton weiter, mo - den gehören das Porträt von Caroline, einer jun - delliert eine neue Figur und lässt erneut einen gen Prostituierten, in die er sich verliebt hatte. Abdruck erstellen. So entstehen fünfzehn Fi - Schliesslich ist da noch ein neues Modell: der Fo - guren, von denen sechs auf der Biennale ge - tograf Eli Lotar, den er in den Jahren des Sur - zeigt werden und fünf auf seiner Ausstellung in realismus kennengelernt hatte, als er für kurze Bern. Neun davon lässt er in Bronze giessen, Zeit mit seinen Aufnahmen grosse Erfolge fei - doch die Nummerierung entspricht nicht der erte. Viele Jahre später trifft Lotar Giacometti Reihenfolge ihrer Entstehung. Giacometti er - in einer Bar wieder und besucht ihn von da an klärt oft, das Endergebnis seiner Arbeit inte - regelmässig im Atelier. Ab 1964 steht er ihm Mo - ressiere ihn nicht. Ob fertige oder unfertige dell, und Giacometti fertigt drei Skulpturen von Skulptur, beide seien ihm gleich wichtig – ihm an. Die erste und kleinste beschränkt sich entscheidend sei der Versuch, die lebendige auf Kopf und Schultern, die zweite umfasst auch Präsenz des Modells nachzubilden. den Oberkörper und die dritte reicht bis zu den Zwei Jahre später, im Jahr 1958, erhält er den Knien. Lotars Kopf, kahl und von schöner Schä - Auftrag für eine Skulptur, die den Platz vor delstruktur, ist in Giacomettis Augen perfekt. Er dem Hauptsitz der Chase Manhattan Bank in ähnelt auch dem Kopf des Gudea, den er im Lou - New York schmücken soll. Giacometti plant ei - vre so oft betrachtete und von dem er einen ne Komposition, die seine wichtigsten Themen Gipsabdruck erwarb, der auf dem Tisch seines vereint: stehende weibliche Figuren, schreiten - Ateliers 1965 eine sehr gute Wirkung entfaltet. de Männer und ein monumentaler Kopf. 1959 Die drei Skulpturen beeindrucken vor allem führt er erste Studien durch. Im Jahr darauf durch die Kraft ihres Blicks, der bei Lotar III fertigt er mit immensem kreativen Eifer vier über den Betrachter hinweg gerichtet ist, in ei - Stehende Frauen , seine bislang grössten Skulp - nen Raum, der für uns unfassbar ist. Lotar III ist turen, zwei Schreitende Männer und zwei Grosse Giacomettis letzte Skulptur, an der er im De - Köpfe , beschliesst aber, das Projekt nicht dem zember 1965 arbeitet, bis er Paris verlässt, um Auswahlkomitee vorzustellen. Während seiner sich nach Chur ins Krankenhaus zu begeben. Reise nach New York 1965 zu seiner Ausstel - Nach seinem Tod am 11. Januar 1966 kehrt Die - lung im Museum of Modern Art, nimmt er den go nach Paris zurück und findet Lotar III völlig Platz vor der Chase Manhattan Bank mehr - intakt vor; der Ton ist noch nicht trocken und mals in Augenschein und spielt schliesslich mit weist keine Risse auf. Vorsichtig beheizt er das dem Gedanken, eine alleinstehende weibliche Atelier, um einen Gipsabdruck herzustellen. Als Figur von sechs bis acht Metern Höhe zu reali - Jahre später Bronzeabgüsse von dieser Skulp - sieren, die es mit der monumentalen Front des tur angefertigt werden, erhält Diego ein Exem - Wolkenkratzers aufnehmen kann. Zurück in plar, das er auf das Grab des Bruders stellt, Frankreich bleibt ihm jedoch nicht mehr die neben einen von ihm selbst angefertigten klei - Zeit, um das Projekt umzusetzen, denn zwei nen Bronzevogel. Monate nach der Rückkehr stirbt er. In den Werken seiner letzten Schaffensperiode * Casimiro Di Crescenzo wird Giacometti klar, dass die Wirklichkeit des Kunsthistoriker, Ausstellungskurator, Leiter Einzelnen in diesem selbst zu finden ist und dass des Archivs Armando Pizzinato, Venedig.

XLI

Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... Die Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv

von Christian Dettwile r*

Links: Ernst Scheidegger in seiner Zürcher Wohnung: im Hintergrund ein Porträt Scheideggers von Varlin, Zürich, 1998.

Auf dieser Seite: Ernst Scheidegger vor seinem Porträt von Varlin, Zürich, 2002. Alberto Giacometti ......

Unten: Er ist zweifellos einer der bedeutendsten fotografische und filmische Do ku mentation Titelblatt des Buches Schweizer Fotografen des 20. Jahrhunderts: über das Leben und Werk Giacomettis ent - Alberto Giacometti - Spuren einer Ernst Scheidegger. Und er war ein Self - standen. Zudem hat Scheidegger unter dem Freundschaft made-Mann, der es verstanden hat, stets Titel Alberto Giacometti – Spuren einer Freund - von Ernst Scheidegger. Diese Publikation zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort schaft ein tiefgründiges Buch veröffentlicht erschien 1990 zu sein und die richtigen Leute kennenzu - (bis heute wohl die wichtigste Bildpublikation erstmals und wird 2012 lernen. über Leben und Werk Giacomettis), und von in einer überarbeiteten Version neu aufgelegt. Eine Anekdote aus seinem Leben mag dies 1964 bis 1966 ist auch ein Film entstanden, der erhellen. Nach einer Lehre als Schaufens - als das bedeutendste filmische Dokument Rechts: Das einzig existierende terdekorateur wurde er von der Schweizer über Alberto Giacometti gilt. Foto von Ernst Armee zum Militärdienst eingezogen und Scheidegger und Alberto Giacometti wurde Fliegerbeobachter in Maloja. Da in in einem Zirkus in Paris, dieser Region kaum Flugzeuge zu beobach - undatiert. ten waren – und die wenigen, die vorbeiflo - gen, verpasste er – machte sich Schei deg - ger auf die Entdeckungsreise der Region und lernte in einem alten Stall, der zum Künstleratelier umfuktioniert war, Alberto Giacometti kennen. Aus diesem Zusam - mentreffen ist eine lebenslange Freud - schaft entstanden. Alberto Giacometti war damals in seiner “engeren” Heimat, aber durch den Krieg iso - Ernst Scheidegger auf die Rolle des Hoffo - liert von seiner “anderen” Heimat: Paris und tografen von Giacometti zu reduzieren, vor allem von seinem Studio an der Rue wäre aber zu einseitig. An der Hochschule Hippolyte-Maindron. Es mag sein, dass ge - für Gestaltung in Zürich lernte er Max Bill, rade die Isolation in den Bündner Bergen den Künstler, Architekten und Grafiker, und in Genf, wo er sich bisweilen aufhielt, kennen, der ihm ebenfalls ein Freund bis sein Schaffen von hageren, isolierten Skulp - zum Tode Bills wurde. Und er traf ebenda turen oder von umrisshaften Zeichnungen Werner Bischof, den gleichsam bekannten und Gemälden, die ihn nach dem Krieg als schweizerischen Fotografen, der ihn in den Künstler des Existenzialismus berühmt ge - Kreis der Agentur «Magnum» in Paris ein - macht haben, geprägt hat. Aus der Freund - führte, wo so renommierte Fotografen wie schaft mit Scheidegger ist die umfas sendste Robert Capa oder Henri Cartier-Bresson tätig waren. Nicht nur war er auf Bischofs Vermittlung Mitglied der Agentur gewor - den, gemeinsam entwickelten sie auch die Leidenschaft für den Film. Dem leider viel zu früh verstorbenen Werner Bischof blieb die Realisation von Filmen verwehrt, Schei - degger hat indes mit unzähligen Dokumen - tar- und Werbefilmen dieses Metier geliebt, ausgelebt und geprägt.

Es gibt noch viele Stationen im Leben von Ernst Scheidegger. Er war Ausstellungs - gestalter für den Marshall-Plan nach dem zwiten Weltkrieg, Professor für Fotografie und Grafik an der Ulmer Hochschule für Gestaltung «hfg», ab 1960 verantwortlicher Redaktor für die Bildbeilage der Neuen Zürcher Zeitung und stets wieder auf Rei - sen – vornehmlich in den Nahen und Fernen Osten für Fotoreportagen.

XLIV Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ...... Und dazwischen immer wieder Paris, das Hervorgegangen aus dieser unermüdlichen Atelier von Giacometti und die Bekannt - Tätigkeit ist ein Archiv, das rund 80’000 schaften mit andern Künstlern. Im be - Schwarz-Weiss-Negative und etwa 50’000 rühmten Restaurant La Coupole zeigte er Farb-Diapositive umfasst. Dazu kommen 20 eines Tages Giacometti seine neusten Fotos, Filme über Künstler sowie Dokumentarfil - Joan Miró setzte sich dazu und wieder war me über verschiedene Länder der Welt. es der richtige Ort und der richtige Zeit - Manche dieser Filme wurden ausgezeich - punkt – einige Tage später bekam Schei - net: So hat Scheidegger 1966 den Filmpreis deg ger ein Telegramm aus Barcelona: Bit - der Schweiz für seinen Giacometti-Film te kommen Sie, mein Atelier und meine erhalten. Werke stehen Ihnen für Fotogafien zur Ver - Sein Lebenswerk mit all den Fotos und Fil - fügung. Auch aus dieser Bekanntschaft ist men hat Ernst Scheidegger im Jahre 2000 eine Freundschaft entstanden und letztlich der Neuen Zürcher Zeitung übergeben. Er ein wichtiges Buch für die Miró-Forschung: war während rund drei Jahrzehnten stil - Spuren einer Begegnung . prägend für die Bildpsrache dieser Zeitung Scheidegger ist ein rastloser Mensch: mal und hat mit unzähligen Reportagen zwi - in Paris, dann schon wieder in Indien, wo er schen 1960 und 1988 das Werk von Gotthard mit Le Corbusier die Arbeiten an der Stadt Schuh – ebenfalls eine bekannte Figur der Chandigarh – der neuen Provinzhauptstadt Schweizer Fotoszene – als Bildgestalter des Punjabs – fotografisch dokumentiert, fortgeführt. Die Neue Zürcher Zeitung hat dann wieder in Burma an einer buddhisti - das Archiv inventarisiert und teilweise schen Priesterweihe. auch digitalisiert. Nach zehn Jahren indes

Ernst Scheidegger in seinem Atelier in Zürich. Scheidegger war nicht nur Fotograf und Filmemacher, sondern auch Verleger, Grafiker und Künstler. Zürich, ca. 2000.

XLV Alberto Giacometti ...... wollte sich die Zeitung vom Archiv trennen, (und viele andere mehr). Das macht dieses da es nicht mehr zum Kerngeschäft eines Archiv so einigartig. publizistischen Unternehmens gehört. Dazu kommen Fotos unzähliger Reise - Daraufhin setzte sich eine Gruppe interes - reportagen nach Marokko, Ägypten, Je - sierter Kreise zusammen, die den Erhalt men, dem Sudan, Afghanistan, Indien, Pa - des Archivs gewährleisten und fördern will. kistan oder Burma und Kambodscha, die in Dazu gehört zum einen das Kunsthaus Zü - ihrer historischen Authentizität einzigartig rich, das bereits 1992 eine grosse Retro - sind – und die ebenfalls stets zum richtigen spektive über das Werk von Ernst Schei - Zeitpunkt und am richtigen Ort entstanden degger gezeigt hat, aber selbstverständlich sind. Es gilt zudem, das ebenso wichtige fil - auch die Alberto Giacometti-Stiftung mit mische Werk von Ernst Scheidegger zu be - Sitz in Zürich, die sich damit den Zugang wahren. Aus diesem Grund ist die Stiftung zum unerschöpflichen Fotomaterial aus eine Kooperation mit der Cinémathèque dem Archiv sichern kann. Suisse in Lausanne eingegangen, die in Zu - Im Frühjahr 2010 wurde die Stiftung unter kunft das filmische Werk Scheideggers kon - dem Vorsitz von Ernst Scheidegger ge - servieren wird. gründet, dem Stiftungsrat gehören Helene Das Gesamtwerk eines der grössten Foto - Grob, die Lebenspartnerin von Ernst grafen des letzten Jahrhunderts zu bewah - Scheidegger, Dr. Christian Klemm (Direk - ren und zu fördern, ist essenziell. Diesem tor der Alberto Giacometti-Stiftung Zü - Ziel widmet sich die Stiftung Ernst Schei - rich), Dr. Tobia Bezzola (Kurator am degger-Archiv. Die vorliegende Kooperation Kunsthaus Zürich), Dr. Peter Uhlmann mit der Banca Popolare di Sondrio (Suisse) (Rechtsanwalt Zürich und Rechtsvertre - ist ein leuchtendes Beispiel dafür. ter der Stiftung) sowie Herbert Heeb (Rechtsanwalt Zürich) an. Die Stiftung hat * Christian Dettwiler im Frühjahr 2011 das Archiv von der Neu - Leiter Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv en Zürcher Zeitung übernommen. Die Be - stände sind nun im Kunsthaus Zürich ein - Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv gelagert, das Negativ- und Diapositiv-Ar - Via Plaids Sut 3 chiv wird zwecks Bewirtschaftung zur Zeit CH-7017 Flims Dorf noch in privaten Räumlichkeiten gelagert, wird aber später ebenfalls ins Kunsthaus Tel. +41 70 407 3212 überführt. Seit der Übernahme hat die www.ernst-scheidegger-archiv.org Stiftung die Bewirtschaftung vorangetrie - [email protected] ben (Herstellung von Originalabzügen, Di - gitalisierung von Negativen und Diapositi - ven) und namentlich eine Website ein- gerichtet (www.ernst-scheidegger-archiv. org). Diese Internetseite wird demnächst auch in englischer Sprache verfügbar sein, zudem wird das Fotomaterial auf der Seite laufend ergänzt. Aufnahmen von so namhaften Künstlern wie Alberto Giacometti, Joan Miró, Max Ernst, Hans Arp, Georges Vantongerloo oder Eduardo Chillida finden sich im Fun - dus von Ernst Scheideggers fotografischer Tätigkeit. Kaum ein Museum oder ein Ver - lag, der eine Publikation dieser Künstler plant, kommt ohne die Fotos von Ernst Scheidegger aus, sei es das Museum of Mo - dern Art in New York, das Centre Pompidou in Paris, das Lehnbruckmuseum in Duis - burg oder das Picasso Museum in Malaga

XLVI Das Genie, das sich in der Kunst offenbart ......

Fotoquellen und Angaben zu den Zitaten im Copyright Zahlenteil und auf dem Umschlag Für die Werke von Alberto Giacometti: Die Zitate zu den Themenbildern im vorliegenden © Succession Giacometti/2011, ProLitteris, Zurich. Jahresbericht wurden von Myriam Facchinetti Für die Werke von Varlin: ausgewählt. Sie stammen alle aus dem Band © 2011, ProLitteris, Zürich.

ALBERTO GIACOMETTI , Gestern, Flugsand . Schriften , Scheidegger & Spiess, Zürich 1999. Danksagungen Wir danken dem Kunsthaus Zürich und der Alberto Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv: alle Fotografien Giacometti-Stiftung, dem Ernst Scheidegger- auf den Seiten 4-5, 8, 13, 14, 20, 28 und 36. Archiv und der Pro Grigioni Italiano für die wert - volle Mitarbeit und die zur Verfügung gestellten Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung: Dokumente. alle Abbildungen der Werke Giacomettis auf den Seiten 8, 13, 14, 20, 28 und 36. Anmerkungen Die Texte geben die Meinung der jeweiligen Quellenangaben zu den Fotografien Autoren wieder; Banca Popolare di Sondrio im Kulturteil (SUISSE) übernimmt diesbezüglich keine Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv: Fotografien Haftung. auf den Seiten I, III, VI, VIII, X, XII, XVIII, XIX, XXIV, XXVI, XXX, XXXII, XXXIX, XL, XLII, Banca Popolare di Sondrio (SUISSE) erklärt XLIII, XLIV, XLV. gegenüber den Inhabern von Rechten an Bildern, deren Eigentümer nicht identifiziert oder ausfin - Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung: dig gemacht werden konnten, ihre Bereitschaft, Fotografien auf den Seiten II, V, VII, XVII, den gesetzlichen Pflichten nachzukommen. XXVII, XXXI, XXXIV, XXXVI, XXXVII, XXX - VIII.

Familie Maria Giacometti, Chur: Fotografien aus dem Familienalbum auf den Seiten IV, XIV, XV,

. XVI, XX, XXXIII, XXXV.

XLVII Alberto Giacometti ......

KONZEPT UND REALISATION Myriam Facchinetti

TEXTREVISION Andrea Paganini Dozent, Schriftsteller, Direktor des Verlags “L’ora d’oro”

GRAFISCHE GESTALTUNG Petra Häfliger Lucasdesign, Giubiasco

ÜBERSETZUNG Punto e Virgola Zürich

Auf der Umschlagrückseite: Alberto Giacometti Homme qui marche , 1947. Bronze: 170 x 23 x 53 cm Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung.