Plenarprotokoll 14/106

Deutscher

Stenographischer Bericht

106. Sitzung

Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 14: Adelheid Tröscher SPD ...... 9933 C a) Abgabe einer Regierungserklärung: Wolfgang Gehrcke PDS ...... 9933 D Frieden braucht Entwicklung . . . . . 9921 A Tobias Marhold SPD ...... 9935 A b) Antrag der Abgeordneten Adelheid Dr. Christian Ruck CDU/CSU ...... 9936 D Tröscher, Friedhelm Julius Beucher, Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD ...... 9939 A weiterer Abgeordneter und der Frak- tion SPD sowie der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster SPD ...... 9939 D Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans- Dr. Christian Ruck CDU/CSU ...... 9940 B Christian Ströbele, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . 9940 D DIE GRÜNEN: Entwicklungszu- Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker SPD ...... 9942 A sammenarbeit mit Kuba (Drucksache 14/3128 ...... 9921 A in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 15: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Angelegenheiten der Zusatztagesordnungspunkt 5: neuen Länder Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, , weiterer Abgeord- – zu der Unterrichtung durch die Bundes- neter und der Fraktion SPD sowie der Ab- regierung: Jahresbericht 1999 der geordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit Hans-Christian Ströbele, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE – zu dem Antrag der Fraktionen SPD und GRÜNEN: EU-AKP-Zusammenarbeit – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fort- bewährte Partnerschaft mit großer Zu- setzung der Berichterstattung der kunft Bundesregierung zum Stand der (Drucksache 14/3396) ...... 9921 B deutschen Einheit Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin – zu dem Antrag der Abgeordneten BMZ ...... 9921 C Dr. Michael Luther, Dr.-Ing. Paul Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU ...... 9926 C Krüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Weiterführung Rezzo Schlauch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9928 C des Jahresberichtes der Bundesregie- Joachim Günther (Plauen) F.D.P...... 9929 C rung zum Stand der deutschen Ein- heit Adelheid Tröscher SPD ...... 9930 D (Drucksachen 14/1825, 14/2238, 14/1715, Erika Reinhardt CDU/CSU ...... 9933 C 14/2608) ...... 9943 C II Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

b) Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU ...... 9965 B Luther, Dr. , weiterer Ab- Frank Hempel SPD ...... 9967 A geordneter und der Fraktion CDU/CSU: Investitionsförderung verstetigen – Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU ...... 9969 B regionale Wirtschaftsstrukturen stär- Frank Hempel SPD ...... 9970 A ken (Drucksache 14/2242) ...... 9943 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Zusatztagesordnungspunkt 6: Ausschusses für die Angelegenheiten Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundes- der neuen Länder zu dem Antrag regierung, insbesondere des deutschen der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Außenministers Joseph Fischer, zu den Kurt-Dieter Grill, weiterer Abgeordne- europapolitischen Aussagen des Bürgers ter und der Fraktion CDU/CSU: Strom- am 12. Mai 2000 ...... 9970 D preise in Deutschland angleichen – neue Stromsteuern im Osten aussetzen Prof. Dr. F.D.P...... 9971 A (Drucksachen 14/1314, 14/2404) . . . . 9943 D Günter Gloser SPD ...... 9972 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des CDU/CSU ...... 9973 A Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9974 B nologie Wolfgang Gehrcke PDS ...... 9975 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul Krüger, Dr.-Ing. Joachim Michael Roth (Heringen) SPD ...... 9976 C Schmidt (Halsbrücke), weiterer Abge- Dr. F.D.P...... 9977 D ordneter und der Fraktion CDU/CSU: Förderung technologieorientierter Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 9979 A Unternehmensgründungen in den CDU/CSU ...... 9982 B neuen Ländern fortsetzen (Wiesloch) SPD ...... 9983 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Klaus Hofbauer CDU/CSU ...... 9984 C Kutzmutz, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9985 B PDS: Förderung und Unterstützung Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 9986 B von technologieorientierten Unterneh- mensgründungen (FUTOUR) bedarfs- SPD ...... 9987 C gerecht weiterentwickeln Jürgen Koppelin F.D.P. (zur GO) ...... 9988 C (Drucksachen 14/1594, 14/2152, 14/2954) 9944 A , Staatsminister BK ...... 9944 B Tagesordnungspunkt 17: Günter Nooke CDU/CSU ...... 9946 B Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Christa Luft PDS ...... 9948 B Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Dr. Mathias Schubert SPD ...... 9951 A eines Zweiten Gesetzes zur Fortentwick- lung der Altersteilzeit Günter Nooke CDU/CSU ...... 9951 B (Drucksachen 14/3158, 14/3392, 14/3393) 9988 D (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 9951 D Günter Nooke CDU/CSU ...... 9952 D Tagesordnungspunkt 18: Dr. Barbara Höll PDS ...... 9954 A a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jürgen Türk F.D.P...... 9955 D eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Jelena Hoffmann (Chemnitz) SPD ...... 9958 A zur Bekämpfung derArbeitslosigkeit Gerhard Jüttemann PDS ...... 9959 B Schwerbehinderter (Drucksache 14/3372) ...... 9989 B Manfred Kolbe CDU/CSU ...... 9961 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Sabine Kaspereit SPD ...... 9962 C Ausschusses für Arbeit und Sozial- SPD ...... 9962 D ordnung Gerhard Jüttemann PDS ...... 9963 B – zu dem Antrag der Fraktionen SPD Ingrid Holzhüter SPD ...... 9963 C und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 III

Die Integration von Menschen mit Anlage 1 Behinderungen ist eine dringliche po- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10001 A litische und gesellschaftliche Aufgabe – zu dem Antrag der Abgeordneten , Birgit Schnieber-Jastram, Anlage 2 weiterer Abgeordneter und der Fraktion Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten CDU/CSU: Alte Versprechen nicht er- Ernst Hinsken, Albrecht Feibel und Peter füllt und neue Wege nicht gegangen – Bleser (alle CDU/CSU) zur namentlichen Ab- Bilanz der Behindertenpolitik stimmung über den Entwurf eines Zweiten Ge- setzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja (Tagesordnungspunkt 17) ...... 10002 A Seifert, Dr. und der Fraktion PDS: Vorlage eines Gesetzes zur Siche- rung der vollen Teilhabe von Menschen Anlage 3 mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten am Leben der Gemein- Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten schaft, zur deren Gleichstellung und zum Dr. Ilja Seifert (PDS) zur Abstimmung über die Ausgleich behinderungsbedingter Nach- Beschlussempfehlung zu den Anträgen: Die In- teile (Teilhabesicherungsgesetz) tegration von Menschen mit Behinderungen ist (Drucksachen 14/2237, 14/2234, 14/827, eine dringliche politische und gesellschaftliche 14/2913) ...... 9989 C Aufgabe, alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege nicht gegangen – Bilanz der Behin- c) Unterrichtung durch die Bundesregie- dertenpolitik, Vorlage eines Gesetzes zur Si- rung: Bericht der Bundesregierung cherung der vollen Teilhabe von Menschen mit über die Beschäftigung Schwerbe- Behinderungen oder chronischen Krankheiten hinderter im öffentlichen Dienst am Leben der Gemeinschaft, zu deren Gleich- (Drucksache 14/2415) ...... 9989 C stellung und zum Ausgleich behinderungsbe- in Verbindung mit dingter Nachteile (Tagesordnungspunkt 18 b) 10002 B

Zusatztagesordnungspunkt 7: Anlage 4 Antrag der Abgeordneten , Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Silvia Schmidt (Eisleben), weiterer Abge- des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Fort- ordneter und der Fraktion SPD sowie der Ab- entwicklung derAltersteilzeit (Tagesordnungs- geordneten Katrin Dagmar Göring-Eckardt, punkt 17 ...... 10003 A (Köln), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Renate Rennebach SPD ...... 10003 B DIE GRÜNEN: Teilhabe von Gehörlosen Wolfgang Meckelburg CDU/CSU ...... 10004 C und Ertaubten an der Informationsgesell- schaft – Gleichberechtigten Zugang zum Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 10005 C Fernsehen sichern Dr. Heinrich Leonhard Kolb F.D.P...... 10006 A (Drucksache 14/3382) ...... 9989 D Dr. Klaus Grehn PDS ...... 10006 D Ulrike Mascher SPD ...... 9990 A Dr. Ilja Seifert PDS ...... 9990 B Anlage 5 Claudia Nolte CDU/CSU ...... 9992 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Ulrike Mascher SPD ...... 9993 C Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9994 D Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter (Tagesord- nungspunkt 18) ...... 10007 B Dr. Ilja Seifert PDS ...... 9995 C Regina Schmidt-Zadel SPD ...... 10007 B Dr. Ilja Seifert PDS ...... 9996 D Matthäus Strebl CDU/CSU ...... 10008 D Karl-Hermann Haack (Extertal) SPD ...... 9998 A Dr. Heinrich Leonhard Kolb F.D.P...... 10009 D Dr. Ilja Seifert PDS ...... 9998 C Silvia Schmidt (Eisleben) SPD ...... 9999 A Anlage 6 Nächste Sitzung ...... 10000 D Amtliche Mitteilungen ...... 10011 A

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9921

(A) (C)

106. Sitzung

Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Guten Morgen, liebe Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b sowie Zusatzpunkt 5 auf. Bundesministerin für a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Heidemarie Wieczorek-Zeul, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (von Frieden braucht Entwicklung der SPD und der PDS sowie von Abgeordneten des b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Adelheid BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt): Tröscher, Friedhelm Julius Beucher, Lothar Mark, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Zu Be- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD ginn dieses Jahrhundert steht die internationale Politik vor sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-der Aufgabe, der Spaltung zwischen Nord und Süd – und Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller teilweise auch Ost – sowie zwischen Arm und Reich mit allen Möglichkeiten entgegenzuwirken. (B) (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜND- (D) NIS 90/DIE GRÜNEN Die Hälfte der Menschheit muss mit weniger als 2 US- Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba Dollar täglich überleben, ein Viertel der Menschheit hat sogar weniger als 1 US-Dollar täglich zur Verfügung. – Drucksache 14/3128 – Während hier bei uns mancher die Informationsflut durch Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und neue Medien kaum noch bewältigen kann und entspre- Entwicklung (f) chende Schwierigkeiten hat, befinden sich in den ärmsten Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ländern gerade einmal 0,3 Prozent aller Internetan- Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss schlüsse weltweit. ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Das globale Armutsproblem hat sich verschärft. Wer Werner Schuster, Brigitte Adler, Ingrid Becker- sich heute die Schlagzeilen der Agenturmeldungen an- Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion sieht, wird feststellen: Es ist ein Schlüsselproblem für die der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Nord-Süd-Beziehungen und es ist die Wurzel vieler glo- Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin baler Risiken und Friedensgefährdungen. Es verstärkt das Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion Bevölkerungswachstum und verschärft den Migrations- der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN druck, es erschwert die Verwirklichung der sozialen und politischen Menschenrechte und erzeugt Verteilungskon- EU-AKP-Zusammenarbeit – bewährte Partner- flikte um Wasser oder landwirtschaftlich nutzbares Land schaft mit großer Zukunft oder um andere Ressourcen. – Drucksache 14/3396 – Es ist das entwicklungspolitische Grundverständnis Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und dieser Bundesregierung: Entwicklungspolitik soll dazu Entwicklung beitragen, dass die Menschen in allen Weltteilen die Chancen, die sich durch die Globalisierung und das Ende Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsan- des politischen Blockdenkens ergeben, zu ihrem Vorteil trag von Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen nutzen können. vor. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die GRÜNEN und der PDS) Aussprache nach der Regierungserklärung eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so Wir müssen und wir wollen verhindern, dass ganze Re- beschlossen. gionen und Bevölkerungsgruppen ins Abseits geraten. 9922 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Kein Teil der Welt kann ohne die anderen Teile sein Über- Die UN-Truppen sind trotz allem die Hoffnung dieser(C) leben sichern und Zukunft gestalten. Alle Seiten müssen Menschen, die bereits vergewaltigt, beraubt, verstümmelt Teil einer globalen Verantwortungsgemeinschaft werden worden sind. Jetzt erwarten sie voller Angst und Erstar- und sich so verhalten, dass das Überleben zukünftiger Ge- rung die nächsten Mordtaten. Lassen wir nicht zu, dass die nerationen gesichert wird. An diesem Leitbild nachhalti- Weltgemeinschaft dem Völkermord wie in Ruanda hilf- ger Entwicklung richten wir unsere Politik aus. und tatenlos zusieht! Das müssen wir gemeinsam verhin- dern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Die Globalisierung beschleunigt unser Leben insge- CDU/CSU und der PDS) samt. Soziale Gerechtigkeit wird in keinem Land dieser Erde, auch nicht in den Industrieländern, auf Dauer zu Denken wir auch an Simbabwe.20 Jahre hatte halten sein, wenn wir nicht auch international dafür kämp- Mugabe Zeit, mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft eine echte Landreform zu verwirklichen. fen. Wir wollen die Globalisierung sozial, ökologisch, Er hat sie nicht genutzt, sondern Vetternwirtschaft zulas- menschlich gestalten helfen. Wir wollen eine sozial ge- ten der Armen bei der Landvergabe betrieben. Jetzt geht rechte Weltordnungspolitik verwirklichen. es ihm nicht um eine Landreform, sondern darum, seine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Regierungsmacht mit Terror und Gewalt zu halten. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unser Bundespräsident Johannes Rau hat das so aus- DIE GRÜNEN) gedrückt: Die ganze Region – das müssen wir hier sehr deutlich sa- Es gibt einen unauflösbaren Zusammenhang zwi- gen – des südlichen Afrika ist gefordert: Die Gewalt, die schen gerechter Entwicklung und gesichertem Frie- Mugabe anheizt, muss beendet werden. Sie schadet den den auf der Welt. Wir müssen den Ursachen vonZukunftschancen des ganzen südlichen Afrika, das drin- Spannungen und Konflikten zu Leibe rücken, bevor gend Arbeit, Investitionen, ja Frieden braucht. daraus Kriege und Bürgerkriege entstehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aber werden angesichts der Lücke zwischen diesen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Jörg van Essen Herausforderungen und den Schreckensnachrichten, die [F.D.P.]) wir jeden Abend auf den Fernsehschirmen zum Beispiel aus Afrika sehen, viele Menschen denken: Ist das nicht ein Ich nenne ferner Äthiopien und Eritrea. Hier tragen (B) völlig aussichtsloses Unterfangen? Es mehren sich auch auch die Industriestaaten Mitverantwortung für einen(D) in der internationalen Presse Schlagzeilen wie „Out of Krieg, der – Kriege sind alle absurd – wirklich das Absur- Africa“. deste ist, was man sich vorstellen kann. Es ist eine Schande, dass das Waffenembargo erst so spät beschlos- Ich möchte an dieser Stelle Richard Holbrooke zitie- sen worden ist. Jetzt muss es aber auch umgesetzt werden. ren, der versucht hat, zwischen Äthiopien und Eritrea zu vermitteln. Er sagt: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Wenn Sie so handeln, als wäre Afrika wirklich der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) vergessene Kontinent, dann wird er sich schnell zurückmelden. Wir werden trotzdem hineingezogen, Denn wenn es nach zwölf Monaten weitergeht wie zuvor, nur wird der Preis höher sein, als wenn wir frühzei- ist die Entwicklung vorprogrammiert. tig gehandelt hätten. Afrikas Probleme lassen sich Ich habe jetzt nur einzelne Situationen herausgegriffen. nicht auf Afrika begrenzen. Die Ursachen der Kriege und Konflikte sind vielfältig und kaum auf einen Nenner zu bringen. Neben den sehr un- Recht hat er. terschiedlichen internen Rahmenbedingungen ist aber für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Afrika insgesamt zu erkennen: Die Kolonialzeit hat ihre DIE GRÜNEN) Spuren hinterlassen. Willkürliche Grenzziehung und Un- terdrückung von Ethnien prägen noch heute das Zusam- Was dort passiert, geht uns alle an. Deshalb müssen wir menleben in vielen Ländern. Dabei wurden Afrikaner und uns frühzeitig einschalten. Afrikanerinnen häufig überhaupt nicht gefragt. Mit Sierra Leone droht ein weiteres Land tief in Bür- Das Ende der Ost-West-Konfrontation hat die polari- gerkrieg, Hass und Hoffnungslosigkeit zu versinken. Ich sierenden Koordinatensysteme wegbrechen lassen. Damit appelliere an uns alle: Die Vereinten Nationen dürfen vor haben sich auch Macht erhaltende und oft Diktaturen kon- Leuten, die sich Rebellen nennen, aber kriminelle Gangs- servierende Strukturen aufgelöst. Das ist positiv. Aber nun ter sind, die Kindern die Hände abhacken und Menschen brechen auch alle zuvor unterdrückten Konflikte wieder terrorisieren, nicht zurückschrecken. auf. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ich sage an dieser Stelle: Wir müssen alle dazu beitra- GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordne- gen, dass die internationale Verantwortung stärker wahr- ten der CDU/CSU und der PDS) genommen wird. Insbesondere Europa muss sich noch Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9923

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) stärker als bisher engagieren. Aus den bitteren Erfahrun- Krankheit bedeutet mittlerweile auch eine soziale und(C) gen, die wir gemacht haben, müssen wir Konsequenzen wirtschaftliche Katastrophe für die betroffenen Entwick- ziehen. Ich weiß, was ich da sage; dabei denke ich auch lungsländer. Diese Katastrophe ist viel zu lange verdrängt an meine Haltung zu diesen Fragen in früheren Jahren. worden. Die Möglichkeiten der UN, Friedenstruppen schnell und Besonders betroffen ist Afrika südlich der Sahara. Dort in ausreichender Stärke und Ausrüstung in Absprache mit leben heute 23 Millionen mit HIV infizierte Menschen. afrikanischen Ländern zu mobilisieren, um gewalttätige Allein den afrikanischen Kontinent kostet diese Seuche Auseinandersetzungen frühzeitig zu verhindern, müssen 1,4 Prozent seines Wirtschaftswachstums. Alle Bereiche verstärkt werden, so wie es Kofi Annan und Boutros- Ghali vorgeschlagen haben. des gesellschaftlichen Lebens sind davon dramatisch be- troffen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ein Problem, das alle betrifft und solche Auswirkungen hat, muss von allen gemeinsam angepackt werden. Des- Ich weiß, was ich sage, wenn ich im Folgenden anfüge: halb begrüße ich die „Internationale Partnerschaft gegen Gleichzeitig sollte zum Beispiel bei der Weltbank da-Aids in Afrika“. Sie ist ein ermutigendes Beispiel. Sie durch, dass bestimmte Länder Finanzmittel zur Verfü- bringt alle Beteiligten aus dem privaten und dem öffentli- gung stellen, ein Fonds geschaffen werden, der dazu die- chen Sektor international zusammen. Ich möchte an die- nen sollte, den Sicherheitssektor in krisengefährdetenser Stelle an die deutsche Pharmaindustrie appellieren, Ländern frühzeitig zu reformieren, sich bei der Bekämpfung dieser Seuche unter anderem (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS]) durch die Bereitstellung bezahlbarer Medikamente oder durch eine verstärkte Impfstoffforschung zu engagieren. bevor sich Rebellen des Staates bemächtigen oder ganze Staaten ohne jede Regierung sind. Dann ist es nämlich zu Vor allen Dingen aber ist bedeutsam – das ist ein ent- spät. Man sollte diesen Bereich in den betroffenen Län- wicklungspolitischer Aspekt ersten Grades; das betone dern rechtzeitig reformieren. ich in jedem Land, das ich besuche –: Diesem Thema muss in den Entwicklungsländern das Tabu genommen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden. Nur offene Diskussionen, und zwar beginnend an DIE GRÜNEN) der Spitze der politisch Verantwortlichen in den betroffe- Ich fände es zudem schön – Konsequenzen blieben si- nen Ländern, führen zu Verhaltensänderung, Erfolg und cher nicht aus –, wenn auch im UN-Sicherheitsrat endlich Hoffnung. die Stimme des afrikanischen Kontinents vernehmbar (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wäre. (B) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (D) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE CDU/CSU) GRÜNEN und der PDS) Da, wo dies der Fall ist, zum Beispiel in Uganda, zeigt Aber diese Situation überdeckt – das bedrückt uns ja sich: Diese Seuche kann eingedämmt und überwunden alle, die wir heute Morgen hier zusammengekommenwerden. sind –, dass es in Afrika auch Erfolge und Hoffnungen Wir wollen uns engagieren, um Armut und wirtschaft- gibt. Diese Hoffnungen müssen wir unterstützen. Staaten liche Stagnation zu überwinden. Die internationale Ge- wie zum Beispiel Mali zeigen, dass es möglich ist, Kon- meinschaft hat folgendes Ziel – die Bundesregierung be- flikte auch friedlich zu regeln. Länder wie zum Beispiel kräftigt dies –: Bis zum Jahre 2015 soll der Anteil der in Südafrika, Benin, Ghana, Mosambik oder Tansania stim- absoluter Armut lebenden Menschen – das sind heute men uns trotz all der dort vorhandenen Probleme hoff- 1,3 Milliarden Menschen – halbiert werden. Das ist ein nungsvoll. Hier haben die gemeinsamen Bemühungen mit hoch gestecktes Ziel. Wir wollen dazu beitragen und alles Partnerregierungen Früchte getragen. dafür tun, damit wir dieses Ziel erreichen. In unserer Entwicklungszusammenarbeit unterstützen Wir haben in jüngster Zeit, vor allem seit dem Regie- wir diese hoffnungsvollen Ansätze und vor allen Dingen rungswechsel, bedeutende Initiativen gestartet und umge- die regionale Integration der verschiedenen sich in Afrika setzt. Ich möchte an dieser Stelle auf die Entschuldungs- befindenden Regionalorganisationen. Denn wir alle ha- initiative hinweisen, die für die ärmsten und am höchsten ben gelernt: Eine regionale Zusammenarbeit schafft Frie- verschuldeten Entwicklungsländer eine Entschuldung in den und Wohlstand. Dem wollen wir mit unserer Forde- einem Umfang von 70 Milliarden US-Dollar bewirkt – rung Nachdruck verleihen. dies haben wir bei Weltbank und IWF finanziell abgesi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chert – und die es in Verbindung mit der Armutsbe- DIE GRÜNEN) kämpfung in den betroffenen Ländern ermöglicht, dass die Menschen, vor allem Kinder und Frauen, Bildung er- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Chancen dieses halten, dass ein Gesundheitssektor aufgebaut wird, dass Kontinents – und auch die vieler Entwicklungsländer in insgesamt dazu beigetragen wird, dass arme Menschen anderen Kontinenten – werden durch einen anderen eine Chance haben, ihre Zukunft selbst zu gestalten. schrecklichen Sachverhalt gefährdet: Jeden Tag stecken sich weltweit 16 000 Menschen mitAids an. Diese Der Bundeskanzler hat anlässlich des EU-Afrika-Gip- Krankheit ist nicht nur eine persönliche Tragödie für die fels in Kairo zusätzlich für die ärmsten, am höchsten ver- bisher mehr als 50 Millionen infizierten Menschen. Diese schuldeten Länder den Erlass aller Handelsschulden 9924 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) angekündigt. Es ist ein großartiger Erfolg der Initiative rer Arbeit können wir die Wirksamkeit der Mittel zuguns- (C) des Bundeskanzlers, ten der Entwicklungsländer erhöhen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben eine Liste mit 70 Kooperationsländern vor- DIE GRÜNEN) gelegt. Bei deren Erstellung haben wir uns daran orien- tiert, ob die Zusammenarbeit im Hinblick auf die wirt- dass sich die anderen bilateraler Gläubiger diesem 100- schaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen prozentigen Erlass der Handelsschulden gegenüber die- Gestaltungsziele erforderlich ist, welche Möglichkeiten sen Ländern angeschlossen haben. zu einer Verbesserung durch Entwicklungszusammenar- Wir sehen in all diesen Initiativen eine Chance für die beit dadurch eröffnet werden, wie die Leistungen der an- Partnerländer, die Partizipation der Menschen zu fördern. deren bilateralen und multilateralen Partnerländer sind Dabei werden die Nichtregierungsorganisationen undund wie die internen Rahmenbedingungen im Partnerland Kirchen in die Kooperation und den Dialog einbezogen. aussehen. Jetzt ist die Entschuldung von Uganda, Mosambik, Bo- Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich be- livien, Mauretanien und Tansania beschlossen worden; tonen, dass es unser Ziel ist, bei jedem Aspekt der Ent- das entspricht einer Entlastung von insgesamt 14 Milliar- wicklungszusammenarbeit Demokratie und Schutz der den US-Dollar. Bis Ende 2000 rechnen wir mit Ent-Menschenrechte zu verwirklichen. Wenn wir mit Partner- schuldungsbeschlüssen für weitere 15 Länder. Damit wird ländern zusammenarbeiten, dann tun wir dies gerade aus für Millionen von Menschen die Bürde der Verschuldung diesem Grund. Wir helfen denen, die Staatsstrukturen – gelockert, die bisher die Bemühungen ihrer Länder um ein Steuer-, ein Rechts- und ein Gesundheitssystem – auf- Entwicklung und Frieden behindert hat. bauen wollen. Wir stärken die Zivilgesellschaft. Aber wir Wenn die Partnerländer ihre eigenen Strategien ent- tragen auch dazu bei, dasssoziale und wirtschaftliche wickeln – und das sollen sie; das ist ja das Ziel der Ar- Menschenrechte verwirklicht werden. In diesem Punkt mutsbekämpfung und der Entschuldung –, wie sie die Ar- bleibt in zahlreichen Entwicklungsländern noch viel zu mut in ihren Ländern bekämpfen können, wie sie in Bil- tun. dung und Gesundheit investieren wollen, und zwar nach (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem Prinzip einer verantwortlichen Regierungsführung, DIE GRÜNEN) wenn sie also beispielsweise Sektorprogramme im Be- reich Bildung und Gesundheit vorlegen, dann muss sich Bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds ha- auch das Verhalten der Geber verändern. Länder wie Tan- ben wir in den letzten Monaten wichtige Reformschritte sania rechnen uns vor, dass sie, wenn sie mit jedem Geber einleiten können. Letztlich ist es gelungen, wichtige Prin- (B) einzeln reden, etwa 2 000 Koordinierungsgespräche im zipien einer sozialen Marktwirtschaft in den internationa- (D) Jahr führen müssen. Wir müssen dazu beitragen, dass Ko- len Beziehungen zu verankern. ordination und Arbeitsteilung für alle verwirklicht wird. Eine Kommission des US-Kongresses möchte in die- Das heißt auch, dass sich die Geber besser absprechen sem Punkt anscheinend das Rad der Geschichte zurück- müssen, damit nicht jedes einzelne Land alles machen drehen. Folgte man der Mehrheitsempfehlung des so ge- muss. Wir sollten gemeinsam Sektorprogramme finan- nannten Meltzer-Berichtes, würde die Vorbeugung und zieren, wenn sie haushaltspolitisch transparent und kon- Bewältigung von Finanz- und Entwicklungskrisen im trollierbar sind und wenn die Ansätze sinnvoll sind und Kern den viel beschworenen freien Marktkräften überlas- vorher mit der internationalen Gemeinschaft abgestimmt sen werden. In der Folge sollte die Weltbank ihre Funk- worden sind. tion als Entwicklungsbank verlieren, sich nur noch als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Entwicklungsagentur auf Afrika konzentrieren müssen DIE GRÜNEN) und keine Kredite mehr an Schwellenländer geben kön- nen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Geld spielt in der Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige Rolle; das ist Meltzer übersieht dabei, dass auch in den Schwellen- klar. Aber das ist nicht alles. Fast noch wichtiger ist es, ländern noch immer Hunderte Millionen armer Men- den Einsatz der Mittel effektiver zu gestalten. schen und damit insgesamt ein Drittel aller Armen welt- weit leben. Der freie Markt schafft aber gerade nicht aus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich selbst heraus die notwendigen demokratischen Insti- DIE GRÜNEN) tutionen und korruptionsfreien Verwaltungen in den Part- Dies realisieren wir durch unsere Schwerpunktsetzung, nerländern. Uns geht es darum, dass die Weltbank auch nämlich indem wir die Zahl der Kooperationsländer redu- bei den Schwellenländern das Mandat und die finanziel- zieren. Ich habe zu Beginn meiner Amtszeit etwa 128 Ko- len Mittel behält, um Armutsbekämpfung in diesen Län- operationsländer vorgefunden. Aber das Gießkannenprin- dern voranzubringen. zip nutzt doch weder den Entwicklungsländern noch ist es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wirklich sinnvoll. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nur ein sehr großes Land kann sich angesichts der DIE GRÜNEN) Globalisierung vielleicht schwache Institutionen leisten. Diese Zeiten müssen vorbei sein. Durch eine stärkereDie große Mehrheit der Länder und der Menschen in Schwerpunktsetzung und eine bessere Verzahnung unse- der Welt braucht dagegen bei der Globalisierung starke Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9925

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) internationale Institutionen. Dies ist auch nötig, wenn wir diese Prinzipien gehören überall in der Welt zu einer so- (C) den Anspruch nicht aufgeben wollen, die Globalisierung zial verantwortlichen Marktwirtschaft. sozial, gerecht und ökologisch nachhaltig zu gestalten. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die die- DIE GRÜNEN und der PDS) sem Ziel entgegenstehenden Vorschläge des Meltzer-Be- Es ist aber klar, dass kein Entwicklungsland akzeptie- richtes nicht Realität werden. Diese würden zulasten der ren wird, dass diese Regeln in der WTO verankert werden, Armen sowie zu Lasten des Aufbaus demokratischer solange die Regeln der WTO immer noch als letztlich ein- staatlicher Institutionen gehen und daher das weltweite seitig zugunsten der Industrieländer angelegt verstanden Konfliktpotenzial bedrohlich verschärfen. werden. Deshalb werden wir in diesem Bereich einen Der Meltzer-Bericht bleibt auch in einem anderen Be- wichtigen Kompromiss zwischen allen Beteiligten veran- reich weit hinter den Entwicklungen und Überzeugungen kern müssen. zurück, die wir in der Bundesregierung bereits umsetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wichtiges Signal Sowohl in vielen Unternehmen der privaten Wirtschaft als für eine sich verändernde Welthandelsordnung zugunsten auch in der Entwicklungspolitik gibt es die gemeinsame der Entwicklungsländer ist das Abkommen der Europä- Überzeugung, dass Probleme, die weltweit anzupacken ischen Union mit den AKP-Staaten. Unser Ministerium sind, nur gemeinsam gelöst werden können. hat die entsprechenden Verhandlungen, vor allen Dingen Ersichtlich ist dies für den Sektor der Wasserversor- im Bereich des Handels, federführend geleitet. Ich freue gung. Bereits heute leben viele Menschen in der Weltmich, dass ein Abkommen entstanden ist, das unter den ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser. Im Jahr 2025gegebenen Bedingungen das Optimum für die Entwick- werden es weit mehr als 1 Milliarde Menschen sein.lungsländer erreichen konnte. Es steht mit den Regelun- Kriege um Wasser sind vorprogrammiert, wenn nichts gen der WTO in Übereinstimmung und ist gleichzeitig geschieht. Das jährliche Investitionsvolumen in diesem entwicklungspolitisch die beste Lösung. Selbst nach 2008 Bereich würde aber pro Jahr 180 Milliarden US-Dollar kann es noch lange Übergangsfristen geben, in denen sich ausmachen. Damit ist klar, dass das niemand aus der öf- die Märkte der afrikanisch-karibisch-pazifischen Staaten fentlichen Entwicklungszusammenarbeit allein finanzie- gründlich auf das an die Region angepasste Freihandels- ren kann. Daher arbeiten wir im Rahmen der Entwick- abkommen vorbereiten können. lungspartnerschaft mit der Wirtschaft zusammen. Bereits Die Verhandlungen waren schwierig. Aber sie haben heute kooperieren wir mit 100 deutschen Unternehmen. gezeigt, dass Europa und die Entwicklungsländer ein zeit- Es gibt auf den Feldern des Klimaschutzes und der Solar- gemäßes Fundament für eine Wirtschaftszusammenarbeit energie riesige Chancen. Wir freuen uns, dass es möglich (B) schaffen können. Ich bin froh und hoffe, dass es möglich (D) ist, diese Chancen zusammen mit der deutschen Wirt- sein wird, dass viele Länder dieses Abkommen in Suva schaft zu verwirklichen, und dass es in diesem Bereich ge- oder an anderer Stelle Anfang Juni verabschieden. meinsame Überzeugungen gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat sich bei den Beratungen in Brüssel für die Einbezie- DIE GRÜNEN) hung von Kubain das Abkommen der Europäischen Es geht uns darum, dazu beizutragen, die Chancen des Union mit den afrikanisch-karibisch-pazifischen Ländern Welthandels für die ärmsten Entwicklungsländer zu nut- ausgesprochen. Auch wenn Kuba seinen Antrag auf Mit- zen. Die Bundesregierung setzt sich deshalb dafür ein, die gliedschaft in diesem Abkommen zunächst zurückgezo- Märkte der Industrieländer gerade für die Exporte der ar- gen hat und bei der Unterschrift unter das Abkommen men Länder zu öffnen. Allein die stärkereLiberalisie- nicht dabei sein wird, sollte die Perspektive der Mitglied- rung der Märkte für Agrarprodukte würde den Entwick- schaft in diesem Abkommen nicht aufgegeben werden. lungsländern zusätzliche Einnahmen von rund 40 Milliar- (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS]) den US-Dollar pro Jahr einbringen. Schon als ich Europaabgeordnete und zuständig für Zur sozialen Gestaltung gehört auch, dass sich die Mittelamerika war, war es meine feste Überzeugung, dass Bundesregierung darum bemüht, den Kernarbeitsnormen das Prinzip der regionalen Kooperation friedens- und der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, weltweit wohlstandsfördernd ist. Genau diesen Integrationsansatz Geltung zu verschaffen. in Bezug auf regionale Wirtschaftspartnerschaftsabkom- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men sieht das neue Abkommen zwischen der EU und den DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der afrikanisch-karibisch-pazifischen Ländern vor. PDS) Diese Grundhaltung leitet auch unser Entwicklungs- Wir setzen uns für die Bekämpfung von Zwangsarbeit so- programm mit Kuba, wohin ich in den nächsten Tagen rei- wie die Verhinderung von ausbeuterischer Kinderarbeit sen werde. Bei diesem Entwicklungsprogramm geht es ein und sorgen dafür, dass freie Gewerkschaften überall in um die Bekämpfung der Wüstenbildung und darum, dass der Welt diskriminisierungsfrei arbeiten können. Neu ist, die arme Bevölkerung eine Chance erhält, die landwirt- dass wir diese Kernarbeitsnormen als wichtiges Element schaftlichen Potenziale besser nutzen zu können. Ferner unseres entwicklungspolitischen Kriteriums „sozial ver- geht es darum, die Kooperation in der Region Mittelame- antwortliche Marktwirtschaft“ eingeführt haben; denn rika zu fördern. 9926 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Wir setzen auf einen Wandel durch Zusammenarbeit. anderen Regionen der Welt, dass die Kinder dieser Welt (C) Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen: Diejenigen von uns Solidarität empfangen können. von der Opposition, die sich zu diesem Bereich äußern, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE müssen einfach zur Kenntnis nehmen, was in vielen Inter- GRÜNEN und der PDS) views gesagt wird. Selbst BDI-Chef Henkel, der sicher- lich nicht mein enger politischer Freund ist, hat heute ge- Ich habe mit Johannes Rau, dem Bundespräsidenten, sagt, Selbstbeschränkung gegenüber Kuba sei unsinnig. der in diesen Fragen sehr engagiert ist, begonnen und möchte mit ihm abschließen. Er hat gesagt: (Beifall bei der SPD und der PDS) Ich sage Ihnen: Das war eigentlich auch der alten Bun- Die nächste Generation wird uns daran messen, wie desregierung bekannt. Aber sie hat sich, wie in vielen an- weit wir der wichtigsten Aufgabe ... gerecht gewor- deren Fragen auch, nicht daran gewagt. Wir als Bundes- den sind: Weltweit eine Kultur des Friedens und der regierung übernehmen unsere Verantwortung; Gerechtigkeit zu schaffen! (Dr. Peter Struck [SPD]: Wir sind mutig!) Wir sind entschlossen, unsere Verantwortung wahrzuneh- men. wir wollen in unserer Entwicklungspartnerschaft Wandel durch Zusammenarbeit bewirken. Ich bedanke mich herzlich. Sie haben in vielen Bereichen feststellen können, dass (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem wir versuchen, Frieden durch Partnerschaft und Ent- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der wicklung zu erreichen. Wir versuchen gleichzeitig im en- PDS) geren Sinne unserer entwicklungspolitischen Arbeit, Krisenindikatoren einzubauen, damit Konflikte frühzeitig Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- erkennbar werden. Wir verwirklichen den Zivilen Frie- gen Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion, das densdienst. Wir arbeiten im Bundessicherheitsrat im Sin- Wort. ne einer restriktiven Waffen- und Rüstungsexportpolitik und wir wollen vor allen Dingen dazu beitragen, dass die Anhäufung von Kleinwaffen in der Welt endlich beendet Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Herr Präsident! wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierungser- klärung sollte den Titel „Frieden braucht Entwicklung“ (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE haben. In diesem Zusammenhang kann man nur feststel- GRÜNEN und der PDS) len: Frieden braucht auch Solidarität, aber Solidarität (B) Diese Waffen, die oft ursprünglich aus Europa kommen, verweigert diese Bundesregierung den armen Menschen, (D) befördern aufgrund ihrer leichten Handhabbarkeit den den Benachteiligten auf dieser Erde. Einsatz von Kindersoldaten, gegen den wir auf allen Ebe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nen eintreten. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir wollen mit demStabilitätspakt für Südosteuropa NEN]: Wie bitte? – [SPD]: Sie ha- ebenso wie in der Region des Kaukasus einen Beitrag zur ben nicht zugehört!) Völkerverständigung und zum Frieden leisten. Ich freue mich übrigens sehr darüber, dass der Bun- Sie sehen, dass die Aufgaben, die vor uns liegen, um- deskanzler heute Morgen hier ist. fassend und umfangreich sind. Sie haben mit dem Kern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unserer politischen Arbeit zu tun, um den es augenblick- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gernot lich in allen Bereichen geht. Erler [SPD]: Wir uns auch!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte Aber der Bundeskanzler ist für die Erfüllung der auf ich noch sagen: Alles, was wir tun, muss sich daran ori- dem Kölner G7-Gipfel beschlossenen Verpflichtung ver- entieren, was wir für die Kinder, die nach uns leben wer- antwortlich, die öffentlichenEntwicklungshilfemittel den, erreichen können. Sie sollen lernen können, statt zur Deutschlands zu steigern. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kinderarbeit gepresst oder als Kindersoldaten miss-Mittel werden in der mittelfristigen Finanzplanung um braucht zu werden. Sie sollen Hoffnung und Chancen ha- rund 1 Milliarde DM gekürzt. ben. Noch immer sterben weltweit 11 Millionen Kinder vor dem 5. Lebensjahr. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Mancher von Ihnen war dabei, wenn ich in afrikani- Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. schen oder anderen Ländern war und Schulen eröffnet (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- habe, die mit deutscher Unterstützung gebaut wurden. neten der F.D.P.) Wenn ich den Kindern in die Augen sehe, muss ich an et- was denken: Als ich zur Schule gegangen bin, waren die Der Bundeskanzler hat übrigens in die Debatte einge- Schulen bei uns noch zerstört. Als ich in die Schule ge- führt, dass es, was Fachkräfte betrifft, eine stärkere inter- gangen bin, waren wir auf internationale Solidarität ange- nationale Kooperation geben sollte. Gleichzeitig aber wiesen. Ich bin stolz darauf und freue mich, dass unser kürzt die Regierung – Inder sind ja im Moment stark im Land, das selbst internationale Solidarität empfangen hat, Gespräch – die Anzahl der Stipendienplätze für die Zu- heute einen Beitrag dazu leisten kann, dass Menschen in sammenarbeit mit indischen ingenieurwissenschaftlichen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9927

Klaus-Jürgen Hedrich (A) Instituten. Dies betrifft also gerade die Leute, mit denen Noch grotesker wird es bei Simbabwe. Wir haben be- (C) wir in Wissenschaft und Wirtschaft stärker zusammenar- reits am 29. Oktober des letzten Jahres die Bundesregie- beiten wollen. Auch hier gibt es also ein Auseinander- rung gedrängt, dass sie entschieden gegen das Mugabe- klaffen von Anspruch und Wirklichkeit. Regime vorgeht. Nichts haben Sie getan, sondern erst jetzt im April, da es in Simbabwe wirklich brennt, haben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie endlich auf dem Afrikaforum der deutschen Wirt- neten der F.D.P.) schaft politisch die deutlichen Worte gefunden, die auch Eins hat mich dann doch ein bisschen gewundert, Frau in Ordnung sind, sowohl was den Bundeskanzler als auch Ministerin. Sie haben viel über die Weltbank und die in- was Sie, Frau Ministerin, anbetrifft. Das war in Ordnung, ternationalen Finanzorganisationen gesprochen – alles in aber vielleicht hätten Sie schon vor einem halben Ordnung; darüber müssen wir auch viel reden –, aber über Jahr deutlich Ihre Initiativen starten können, um Herrn die deutschen Durchführungsorganisationen, über die Mugabe in seinen Aktionen zu bremsen. vielen, die sich in Deutschland für die Entwicklungspoli- Jetzt kommt aber wieder ein kritischer Punkt: Sim- tik engagieren, haben Sie kein Wort verloren – kein Wort babwe, jahrzehntelang ein Schwerpunktland deutscher über die Nichtregierungsorganisationen, kein Wort über Zusammenarbeit, taucht ebenfalls unter den Schwer- die Kirchen, kein Wort über die politischen Stiftungen. Es punktländern in Ihren Kategorien überhaupt nicht auf. ist schon ein merkwürdiger Vorgang, dass über dieseWie müssen das eigentlich die Menschen in Simbabwe Dinge überhaupt nicht gesprochen worden ist. verstehen? Wie muss das eigentlich die Opposition in Simbabwe verstehen? Wir müssen eine Politik machen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – die sich gegen Mugabe richtet, aber nicht gegen die Be- Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: völkerung in Simbabwe, und da setzen Sie mit Ihrer Klas- Wir sprechen mit ihnen, aber nicht unbedingt sifizierung das falsche Zeichen. über sie!) (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler Man will nämlich durch die so genannte Internationali- [SPD]: Es ist nur Nörgelei! – Dr. Uschi Eid sierung der Argumentation verschleiern, dass man den [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren deutschen Durchführungsorganisationen, den staatlichen doch Ihre Freunde!) und nichtstaatlichen, nicht die ausreichenden Mittel zur Verfügung stellt, die für eine internationale Solidarität Es gibt ohnehin keine klaren, erkennbaren Kriterien. notwendig wären. Das ist der entscheidende Punkt. Dass bei Kuba gewisse alte Reminiszenzen wach werden – gut, das ist Ihre Geschichte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der F.D.P.) (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) NEN]: Oh, Menschenskind, Sie sind so bor- (D) Nun, Frau Ministerin, haben Sie darauf hingewiesen, niert, dermaßen borniert!) dass Sie die Zahl der Kooperationsländerverringern wollen. Möglicherweise – das werfe ich Ihnen gar nicht Damit habe ich persönlich keine Probleme. Wenn Herr vor – sind Sie nicht über alle Details in Ihrem Hause in- Henkel dafür plädiert, frage ich: Wer hindert die deutsche formiert, aber klar ist: Wenn Sie sich einmal die Mühe Wirtschaft daran, wenn sie das für richtig hält, sich in gemacht hätten, sich die Rahmenplanung, also das opera- Kuba wie auch in anderen totalitär regierten Ländern wirtschaftlich zu engagieren? Das ist deren Entscheidung. tive Geschäft Ihres Ministeriums der letzten Jahre anzu- Es geht aber darum, dass die Bundesregierung plant, eine schauen, dann hätten Sie festgestellt, dass wir nie mehr als offizielle staatliche Zusammenarbeit mit Kuba aufzuneh- etwa 68 oder 70 oder 72 Länder in dieser Rahmenplanung men, hatten, also das, was Sie uns jetzt als großen Erfolg ver- kaufen wollen. (Zuruf von der PDS: Ist doch vernünftig!) Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Wich- und das vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kriterien: tiger ist die Katalogisierung, die Klassifizierung, die Sie marktwirtschaftliche Öffnung, Respektierung des Rechts, vornehmen. Die ist außenpolitisch schädlich, und sie ist Beteiligung der Bevölkerung an den politischen Ent- darüber hinaus noch amateurhaft. scheidungsprozessen. Nichts dergleichen ist in Kuba er- kennbar. Nein, die Bundesregierung erklärt im zuständi- (Beifall bei der CDU/CSU) gen Fachausschuss ausdrücklich, die Menschenrechtssi- Sie ist nämlich rein willkürlich. Oder wie können Sie je- tuation in Kuba habe sich in den letzten Monaten mandem erklären, dass Georgien Schwerpunktland ist, verschlechtert. Was soll das eigentlich? Sie sagen uns im- während Aserbaidschan und Armenien es nicht sind?mer, Ihre Kriterien seien die Voraussetzungen für die Zu- Diese Klassifizierung ist doch widersprüchlich. sammenarbeit mit einem Land. Wenn die Vorausset- zungen aber nicht erfüllt sind, dann können Sie doch mit Da erklären Sie hier große Dinge zu Nigeria, plädieren einem solchen Land keine staatliche Entwicklungszusam- dafür, dass ein wichtiges afrikanisches Land möglicher- menarbeit aufnehmen. weise Mitglied der Weltsicherheitsrates wird, aber Nige- ria, wo der Außenminister bei seinem Besuch einen (Beifall bei der CDU/CSU) großen Kooperationsmechanismus angekündigt hat, Stärken Sie die Kräfte der so genannten Bürgergesell- taucht in Ihrer Liste unter 1 und 2, also unter den Schwer- schaft, der Zivilgesellschaft! Stärken Sie die Kirchen! punktländern, gar nicht auf. Stärken Sie die Nichtregierungsorganisationen in Kuba, 9928 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Klaus-Jürgen Hedrich (A) die darauf hinwirken können, dass sich eines Tages auch lich für die Menschen in unseren Partnerländern der Drit- (C) dieses Land auf den Weg zur Demokratie macht! ten Welt. In der Klassifizierung ist nicht erkennbar, nach wel- (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler chen Kriterien sie vorgegangen sind. Nehmen wir ein [SPD]: Diese These ist falsch!) Land wie Paraguay. Viele wissen gar nicht genau, wo es liegt. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. NEN]: Sie wissen ziemlich genau, wo es liegt! Die CDU ist in Paraguay so verbreitet wie nir- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gendwo anders!) Rezzo Schlauch Herr Kollege Hedrich, aus Zeiten, in denen wir noch in – Immer mit der Ruhe, Sie können gleich ein paar Be- der Opposition waren, habe ich entwicklungspolitische merkungen dazu machen. Debatten sehr gut in Erinnerung. Ich kann mich nicht da- ran erinnern, dass damals vonseiten der Opposition über Nachdem Paraguay den Weg der Demokratie gegangen ein Gebiet, das so sensibel ist, in einer derart konfrontalen ist, haben wir uns ganz bewusst – übrigens einvernehm- Art und Weise diskutiert worden ist. Wir sollten auf die- lich im zuständigen Fachausschuss – dafür entschieden, sem Gebiet all unsere Kräfte bündeln, um die Politik ge- die Zusammenarbeit mit Paraguay aufzunehmen. Jetzt meinsam voranzutreiben, taucht Paraguay in der Gesamtliste überhaupt nicht mehr auf. Aber die Bundesregierung verweigert die Auskunft (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ darüber, warum das so ist. Man wird doch wohl nachfra- DIE GRÜNEN) gen dürfen, warum bestimmte Länder in der Liste stehen aber hier nicht in kleinkarierter Weise aufrechnen, wie Sie und bestimmte Länder nicht. es getan haben. Dies kann ich jedenfalls nicht nachvoll- (Beifall bei der CDU/CSU – Gernot Erler ziehen. [SPD]: Alles provinzielle Nörgelei!) Die internationale Solidarität und besonders die So- Die Ministerin hat lang und breit auf die Zusammen- lidarität mit den armen Ländern war und ist immer eine arbeit mit den Ländern Afrikas, der Karibik und des Wurzel des Engagements der Grünen. Ohne die zahllosen Pazifik Bezug genommen. Sie hat im Vorfeld dieser Ver- Menschen in den NGOs, in den kirchlichen Gruppen, in handlungen erklärt, für die Bundesregierung sei es klar, den Dritte-Welt-Initiativen, deren Arbeit von unschätzba- dass das Prinzip der guten Regierungsführung – oder auf rem Wert war und ist, gäbe es den alten – auch grünen – Neuhochdeutsch: Good Governance – unverzichtbar sei. programmatischen Satz „global denken, lokal handeln“ (B) Dieses Prinzip taucht aber im Vertragswerk gar nicht auf. eigentlich nicht, nach dem wir heute unsere Entwick-(D) Auf die konkrete Frage, warum das so ist, bekommen wir lungspolitik mehr und mehr ausrichten. Keines der globa- die Antwort – übrigens auch vom zuständigen EU-Kom- len Zukunftsprobleme wird ohne internationale Zusam- missar, Herrn Poul Nielson in Brüssel –: Die afrikani- menarbeit zu bewältigen sein. schen Länder haben damit Probleme, weil der Eindruck Noch sind wir – darüber besteht wohl Einigkeit – von erweckt werden könnte, man würde Bedingungen, also der Umsetzung international akzeptierter Ziele weit ent- Konditionalität für die Zusammenarbeit zugrunde legen. fernt, die in allererster Linie folgende sind: die Armut ent- Genau das ist aber das, worüber wir uns im Parlament scheidend zu senken, die Grundvoraussetzungen in den immer einig waren: Wenn in einem Land die Rahmenbe- Bereichen Bildung und Gesundheit zu schaffen und – das dingungen nicht stimmen, dann ist eine umfangreiche Zu- ist mir besonders wichtig – nachhaltiges Wachstum zu si- sammenarbeit nicht möglich. chern, ohne die globalen Umweltressourcen zu ruinieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dies nicht in ein Vertragswerk zu schreiben, muss Mugabe und bei der SPD) und andere ermutigen, weil sie damit rechnen können, Wenn wir in unserem Land dieregenerativen Ener- dass es die Europäer nicht so ernst nehmen. Damit wer- gien – Sonne, Wind und Wasser – in unvergleichlicher den völlig falsche Zeichen gesetzt. Weise fördern, dann ist das für uns gut. Aber eine solche Ein Letztes, was Sie zu Recht angesprochen haben, Förderung wirkt sich noch viel segensreicher auf die Ent- Frau Ministerin, ist die Problematik der sich ständig wei- wicklungsländer aus, weil die Nutzung dieser regenerati- ter verbreitenden Krankheit Aids. Es ist leider nicht das ven Energien und die Anwendung daran angepasster einzige Problem, aber ein sehr ernst zu nehmendes. Es ist Techniken dort Motor für eine ökonomische Entwicklung übrigens – wir sollten uns vor einer gewissen Arroganz sein können und die globalen Umweltressourcen bewah- hüten – inzwischen nicht mehr nur ein Problem Afrikas. ren können. Uns werden dramatische Zahlen aus Südostasien, gerade (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus dem indischen Subkontinent, berichtet. Wir hören und bei der SPD) dramatische Zahlen auch aus Osteuropa. Es ist richtig, dass Sie sich um dieses Problem kümmern wollen. Ihre Die Entwicklungspolitik leistet aufgrund ihrer Haushaltszahlen besagen aber wieder genau das Gegen- langjährigen Erfahrung mit anderen Kulturen, Gesell- teil. Deshalb bleibe ich bei meiner These: Sie verkünden schaften und politischen Systemen einen unerlässlichen das eine und tun nicht das, was Sie sagen. Das ist schäd- Beitrag zu einer ökologisch und sozial ausgeglicheneren Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9929

Rezzo Schlauch (A) Entwicklung in den Ländern, mit denen wir zusammenar- Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Schlauch, es (C) beiten. hätte eine Zwischenfrage gegeben, aber deren Beantwor- tung ist nun nicht mehr möglich. Wo müssen wir weiterarbeiten? Auf welche Bereiche müssen wir unsere Arbeit noch stärker fokussieren? Wir Ich erteile dem Kollegen Joachim Günther, F.D.P.- müssen die Verschuldung der Entwicklungsländer noch Fraktion, das Wort. sehr viel stärker senken. Der Bundeskanzler hat in Köln und in Kairo in diesem Punkt mit Entschuldungsinitiati- ven, die es in diesem Umfang schon lange nicht mehr ge- Joachim Günther (Plauen) (F.D.P.): Herr Präsident! geben hat, erfolgreich Zeichen gesetzt. Wir ermutigen ihn, Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Schlauch, auf diesem Weg weiterzugehen. auch Ihnen ist bekannt, dass die Ministerin noch nicht Mitglied der Grünen ist; andernfalls haben wir etwas ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN passt. und bei der SPD – [CDU/CSU]: Taten müssen folgen!) (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das haben Sie falsch gehört!) Wir müssen begreifen, dass Umweltprobleme nicht an den Grenzen Halt machen. Die Vereinbarung internatio- „Frieden braucht Entwicklung“, so lautet das Thema naler Umweltabkommen ist ohne Alternative, wie bei- unserer heutigen Debatte. Ich glaube, diesem Thema kön- spielsweise in den Bereichen Klimaveränderung, Erhalt nen wir alle zustimmen. Wer dieses Ziel erreichen will, der biologischen Vielfalt und Kampf gegen das Vordrin- der muss dafür Voraussetzungen schaffen. Aus dieser gen der Wüsten. Das alles sind Beispiele für Aufgaben, Sicht habe ich in einigen Unterlagen nachgeschaut. Frau die vor uns liegen. In diesen Bereichen sichert Umwelt- Ministerin, ich habe bewundert, mit welchem Elan Sie in politik Räume für Menschen, und zwar für ihre unmittel- diese Legislaturperiode hineingegangen sind und welche bare Existenz. Dadurch hat sie dort noch eine ganz andere Zielstellungen Sie sich für diesen Abschnitt vorgenom- Brisanz als bei uns. men haben. Im Koalitionsvertrag, der vor eineinhalb Jah- ren von Rot-Grün geschlossen worden ist, steht in der Ru- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN brik „Entwicklungspolitik“ wörtlich: und bei der SPD) Um dem international vereinbarten 0,7 Prozent-Ziel Die Umweltabkommen müssen mit den Entwicklungs- näher zu kommen, wird die Koalition den Abwärt- ländern umgesetzt werden. Die Lösung von Umweltpro- strend des Entwicklungshaushaltes umkehren und blemen, ohne beispielsweise China und Indien ins Boot zu vor allem die Verpflichtungsermächtigungen konti- holen, ist schlechterdings unmöglich. Wer diese Länder nuierlich und maßvoll erhöhen. (B) gewinnen möchte, muss allerdings auch im eigenen Land (D) beispielhaft handeln. Die Regierungskoalition geht diesen Das ist aus heutiger Sicht reine Satire. Weg. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Wir brauchen aber auch ein verbessertesHandels- Zuruf: Realsatire!) system mit sozialen und ökologischen Normen, die auch den Entwicklungsländern mehr Chancen zur Teil- Auch die Ankündigung im Koalitionsvertrag, man nahme bieten. Entwicklungsländer müssen – darauf hat wolle Hermes-Bürgschaften zukünftig nach ökologi- die Ministerin hingewiesen – etwa im Bereich der Land- schen, sozialen und entwicklungsverträglichen Gesichts- wirtschaft Mehreinnahmen erzielen können. Wir müssen punkten gewähren, ist eine Art Zynismus. Man möge mir Wege finden, die Erkenntnisse der modernen Medizin bitte erklären, wie Hermes-Bürgschaften für die Ausrüs- auch für die nutzbar zu machen, die sie heute noch nicht tung von Kernkraftwerken mit rot-grünem Ökologiever- bezahlen können. ständnis in Einklang gebracht werden können oder was die Finanzierung des Drei-Schluchten-Staudamms in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN China, der die Zwangsumsiedlung von Hunderttausenden und bei der SPD) von Menschen zur Folge hat, mit sozialen und entwick- Die Bekämpfung von Aids, Malaria und Seuchen ist – lungsverträglichen Kriterien zu tun hat. auch darüber besteht Einigkeit – eine Aufgabe, die wir in- (Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tensivieren müssen. Die Bundesregierung wird weitere Der ist unter einer CDU/CSU-F.D.P.-Regierung internationale Initiativen ergreifen, so wie sie es bereits gebaut worden!) getan hat. – Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin ja dafür, dass Man braucht zur Arbeit an diesen zentralen Zukunfts- solche Atomkraftwerke und solche Projekte, die techni- fragen einen langen Atem. Die grüne Fraktion, die grüne schen Fortschritt schaffen, auch in Zukunft mit Her- Ministerin, unsere Parlamentarische Staatssekretärinmes-Bürgschaften abgesichert werden. Ich bin aber dage- Uschi Eid und die Bundesregierung insgesamt haben ihn. gen, dass ein Teil der Grünen damit Polemik betreibt, so- Wir wünschen uns an diesem Punkt das gleiche nichtdass wir am Ende als diejenigen dastehen, die diese nachlassende Engagement. Entwicklung stoppen wollen. Darin besteht der Unter- Danke schön. schied. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten und bei der SPD) der CDU/CSU) 9930 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Joachim Günther (Plauen) (A) Während Ihr Haushalt – das muss man einmal so sagen – (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (C) nicht nur mit der Heckenschere, sondern leider auch mit Immerhin sehen wir mit Genugtuung, dass einige un- der Motorsäge zusammengestutzt wurde, während serer Ideen von Ihnen aufgegriffen worden sind, zum Bei- Beiträge zu internationalen Organisationen wie dem Welt- spiel die Beteiligung privatwirtschaftlicher Unterneh- entwicklungsprogramm UNDP oder dem Kinderhilfs- werk UNICEF drastisch gekürzt werden, verkündet die men in der Entwicklungspolitik. Bis vor kurzem war die Ministerin unverdrossen die deutsche Verantwortung für Idee Gewinn bringender Entwicklungsprojekte noch ein weltweite Solidarität und für globale Zukunftssicherung. unantastbares Tabu. Wir wissen aber, dass sie von hohem Das ist zwar von der Sache her richtig, es sind sich aber entwicklungspolitischen Nutzen sind. Aber Not macht alle einig: Wir müssen Schwerpunkte finden. Sie haben teilweise auch erfinderisch, muss man hier sagen. War es heute einige dieser Schwerpunkte angesprochen. bis vor kurzem noch verpönt, über deutsche Investoren im Ausland zu sprechen, Wir sollten uns einig sein: Entwicklungspolitische Zu- sammenarbeit muss darauf hinauslaufen, dass die ent- (Zuruf von der SPD: Was?) sprechenden Staaten unabhängig von der Entwicklungs- die in der Entwicklungspolitik tätig sind, hilfe werden. Die Pflege der Zusammenarbeit zwischen den entwickelten Staaten ist dann jedoch im Verantwor- (Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE tungsbereich der Außenpolitik zu sehen. Eine Vielzahl GRÜNEN]: Bei der F.D.P. etwa?) von ehemaligen Entwicklungsländern, die heute keine so tragen sie heute schon zu einem guten Teil dazu bei, be- Hilfe von außen mehr benötigen, bestätigen Ihnen eigent- stimmte Haushaltslücken zu überbrücken. lich diese These. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Entwicklungspolitik kann immer nur einen komple- mentären Beitrag zur Außen- und Sicherheitspolitik leis- Die von Ihnen, Frau Staatssekretärin Eid, angekün- ten. digte regionale Konzentration der Entwicklungspolitik ist aus unserer Sicht ein richtiger Anspruch. Ich finde es (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Richtig!) auch gut, dass die Entwicklungszusammenarbeit auf Die F.D.P.-Fraktion hat deshalb den Antrag gestellt, dem 70 Partnerländer mit unterschiedlichen Schwerpunkten Beispiel anderer großer Geberländer zu folgen und das konzentriert wurde. Über die Art der Länder und den In- BMZ und das AA zusammenzulegen. Wenn man Ihre halt kann man sicherlich immer diskutieren. jüngsten Reden liest und Ihre heutige Rede sehr aufmerk- Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, dass wir sam verfolgt hat, Frau Ministerin, dann kann man ja auch bei der Entwicklungsfinanzierung künftig noch stärker den Eindruck gewinnen, dass das AA zum BMZ kommt. auf in- und ausländische Ressourcen zurückgreifen müs- (B) Das würde zwar gut zur Politik von Herrn Fischer passen; (D) sen. aber ob Sie das erreichen, dessen bin ich mir noch nicht sicher. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Anstatt die Chancen der Globalisierung für die Ent- der CDU/CSU) wicklungsländer herauszustreichen und zu nutzen, war Durch die stärkere Einbeziehung des Privatsektors in Fi- bis vor kurzem noch vor ihren „negativen Trends undnanzierung und Betrieb von Infrastrukturprojekten kann Auswirkungen“ gewarnt worden. Heute sprachen Siedie Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit auf schon vom Nutzen der Globalisierung. In einer Ihrer letz- allen Gebieten erhöht werden. ten Grundsatzreden sprachen Sie vom „internationalen Spekulationskapitalismus“. Wenn ich diese Aussagen Wir sehen, dass es noch viel zu tun gibt. Die F.D.P. wird sehe, dann muss ich sagen, dass das eigentlich Klischees noch vor der Sommerpause ihre entwicklungspolitischen der 70er-Jahre sind, über die wir hinaus sind. Damals ging Leitlinien vervollständigen und dann hoffentlich mit allen es um die „neue Weltwirtschaftsordnung“. Das wurdein einen guten Dialog treten. überwunden. Heute sprechen Sie von gerechter Weltord- Danke schön. nungspolitik. Ich glaube nicht, dass wir mit dem BMZ die Umkehrung der internationalen Einflüsse erreichen kön- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nen. Wir sollten uns darauf besinnen, unsere Strukturrefor- Präsident Wolfgang Thierse:Nun erteile ich der men mutig anzugehen. Wir sollten im Endeffekt dafür sor- Kollegin Adelheid Tröscher, SPD-Fraktion, das Wort. gen, dass Themen wie gute Regierungsführung, Men- schenrechtskonditionen, Eigenverantwortung, Deregulie- Adelheid Tröscher (SPD): Herr Präsident! Meine rung, Schwerpunktsetzung – diese Themen haben wir als Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Partei schon in unser Programm hineingebracht; Sie ha- Mit der heutigen Regierungserklärung zur Entwicklungs- ben sie heute auch genannt – in den Mittelpunkt gerückt zusammenarbeit setzt die Bundesregierung ein positives werden. Gefehlt hat mir aber der zweite Teil: Zur interna- Signal; denn erstmals ist die Entwicklungszusammenar- tionalen Zusammenarbeit gehören auch Freihandel und beit überhaupt Thema einer Regierungserklärung in der marktwirtschaftliche Strukturen. Diese Themen stehen Bundesrepublik. bereits im Mittelpunkt unserer entwicklungspolitischen Leitlinien. Anders wird man eine Entwicklung dieser Län- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der nicht erreichen können. DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9931

Adelheid Trösche (A) Es ist ein großer Tag für uns Entwicklungspolitikerinnen ganz wichtiger Baustein. Dies muss immer betrachtet und (C) und -politiker. So kommen die Entwicklungspolitik und beobachtet werden, damit das auch so bleibt. ihre Notwendigkeit allmählich in die Köpfe der Men- Zweitens. Entwicklungspolitik wird wieder als aktive schen hier. Dies weitet ihren Blick für die weltweiten Pro- Friedenspolitik gestaltet. Ich verweise hier nur auf unsere bleme; das tut Not. Initiativen zum Zivilen Friedensdienst, zu Kindersoldaten und Kleinwaffen, aber auch zur Stärkung der Zivilgesell- Präsident Wolfgang Thierse:Kollegin Tröscher, schaft und demokratischer Strukturen in Entwicklungs- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken? ländern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Adelheid Tröscher (SPD): Nein! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit bei der SPD) Drittens. Die Bundesregierung setzt sich für eine effi- – Weklisch net, würde ich jetzt auf frankfurterisch sagen. zientere und kohärentere EU-Entwicklungspolitik ein. Er- Ich möchte jetzt gerne meine Gedanken ausführen. Sie wähnen möchte ich insbesondere die auf den Weg ge- verstehen das sicherlich. brachten Maßnahmen für eine Reform des EEF, des Eu- ropäischen Entwicklungsfonds, und die Bemühungen um (Beifall bei der SPD) ein zukünftiges Lomé-Nachfolgeabkommen. Das wurde Dies ist Ausdruck für den Stellenwert, den wir, die Ko- schon von der Ministerin ausgeführt. Ich denke, wir sind alition, der Entwicklungszusammenarbeit beimessen. Es hier auf einem guten Weg. ist auch eine gute Gelegenheit, Bilanz der letzten einein- Viertens. Entwicklungspolitik ist globale Zukunftssi- halb Jahre – ich sage eineinhalb Jahre, nicht 16 Jahre – zu cherung. Dies hat die Bundesregierung mit Programmen ziehen, Perspektiven zu verdeutlichen und sich nicht in zum Klimaschutz, zur Bekämpfung der Wüstenbildung Nörgeleien zu ergehen, Herr Hedrich. Natürlich haben wir und der Verbesserung der Welternährung ja auch unter in unseren Ausführungen nicht alles erwähnt, was erwäh- Beweis gestellt; alles übrigens in anderthalb Jahren. nenswert ist. Natürlich sind wir stolz auf unsere Durch- führungsorganisationen, auf unsere Stiftungen und auf die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NROs, ohne die die gesamte Zusammenarbeit nicht denk- DIE GRÜNEN) bar ist. Fünftens. Die Entwicklungspolitik reagiert schnell und Wir haben auch dafür gesorgt, dass sie genügend Geld für flexibel auf Naturkatastrophen und Krisen. Uns allen sind die Projekte bekommen. der verheerende Wirbelsturm „Mitch“, das Erdbeben in (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Türkei und die Katastrophen in Mosambik noch in DIE GRÜNEN – Peter Weiß [Emmendingen] Erinnerung. Aber auch bei den Hilfen zum Wiederaufbau [CDU/CSU]: Keine einzige neue Mark!) in Südosteuropa hat die Bundesregierung Handlungs- fähigkeit bewiesen. Ich danke den NROs, besonders den Kirchen und den Stif- tungen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sie reden immer über das Geld und über den Haushalt, aber niemals über Strategien. Diese vermisse ich hier sehr Sechstens. Die Entwicklungszusammenarbeit der Bun- bei Ihnen. desregierung fördert gute Regierungsführung. (Ina Lenke [F.D.P.]: Gestern Abend bei der Siebtens. Frauenrechte werden in der Entwicklungs- frauenpolitischen Debatte gab es gar keine Stra- zusammenarbeit gestärkt und gefördert. tegien!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des – Na, die haben Sie aber auch nicht hineingebracht. Das BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der war schon ein trauriger Anblick, den man hier hatte. Abg. Ina Lenke [F.D.P.]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklungs- – Ja, die kommen zu kurz. politik der Bundesregierung zeichnet sich dabei vor al- Achtens. Wir nutzen das Zukunftsprogramm der Bun- lem durch folgende Punkte aus: desregierung zur Haushaltskonsolidierung auch zur Stei- Erstens. Entwicklungspolitik gestaltet globale Rah- gerung der Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit. menbedingungen zugunsten der Entwicklungsländer. Vor Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich könnte diesen allem die Entschuldungsinitiative der Bundesregierung ist acht Punkten noch weitere hinzufügen. Sie kennzeichnen ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche globale Struktur- die letzten anderthalb Jahre der Entwicklungspolitik der politik. Natürlich muss sie ausgestaltet werden, aber der Bundesregierung. Ich möchte an dieser Stelle der Minis- Anfang ist gemacht. terin für ihr Engagement und ihr ständiges Treiben und (Beifall bei der SPD) auch der Bundesregierung herzlich dafür danken, dass wir schon so weit gekommen sind. Auch die Verknüpfung von Armutsbekämpfung mit der Politik von Weltbank und Internationalem Währungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fonds, für die sich die Bundesregierung einsetzte, ist ein DIE GRÜNEN) 9932 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Adelheid Trösche (A) Dies ist bedeutend mehr als das, was dieOpposition in nisterin solle nicht nach Kuba reisen, denn damit stärke (C) dieser Woche als entwicklungspolitische Leitlinien vor- sie bewusst das kubanische Gewaltregime. gestellt hat. Ich dachte, ich hörte hier heute ein wenig (Gernot Erler [SPD]: Oh!) mehr. Es handelte sich eher um Nachrichten aus dem Rüttgers-Klub: Dann, Herr Kollege Hedrich, stärken auch Kirchen, politische Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen, (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem die sich auf Kuba engagieren, das kubanische Gewaltre- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gime. Dann stärken auch der Kollege Kraus, der Kollege vollmundig im Titel, aber inhaltlich konzeptionslos, in- Günther und ich, die Kuba besucht haben, das Gewaltre- konsequent, widersprüchlich und provinziell. gime. Wir waren im Januar auf Kuba und haben ganz deutlich gegen die Verletzungen der Menschenrechte Erstens kritisiert die Union allen Ernstes unserStellung bezogen. Wir waren gemeinsam der Ansicht, Bemühen zur Haushaltskonsolidierung. Richtig ist, dass dass ein Wandel nur geschehen kann, wenn sich unsere das BMZ wie alle anderen Ressorts einen Sparbeitrag zur Länder annähern. Heute morgen haben wir schon gehört, Haushaltskonsolidierung erbringen musste. was Herr Henkel in diesem Zusammenhang gesagt hat. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Erst vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung Aber einen überdurchschnittlichen!) eine Altschuldenregelung mit Kuba getroffen. So werden Wäre die Vorgängerregierung – ich bin es eigentlich leid, Hermes-Bürgschaften erst möglich. Erst jetzt wird sich das immer wieder zu sagen – mit den öffentlichen Mitteln die deutsche Wirtschaft auf Kuba engagieren. Vorher hat genauso verantwortungsbewusst umgegangen wie wir das sie es nicht getan. jetzt tun, stünde auch die Entwicklungspolitik besser da. Richtig ist: Ohne politische und wirtschaftliche Refor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men und eine sie von außen unterstützende Politik wird es DIE GRÜNEN – Widerspruch des Abg. Jörg auf Kuba keine durchgreifende, auf Dauer tragfähige Ver- van Essen [F.D.P.]) besserung der Lebenssituation der kubanischen Bevölke- rung geben. Ich kann diese Leier einfach nicht mehr hören! Ich warte auf neue Konzeptionen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Jörg van Essen [F.D.P.]: Wir dieses auch nicht mehr!) Nachhaltige Entwicklung braucht die unterstützende Po- litik von außen. Das gilt auch für viele andere Entwick- – Dann hören Sie doch auf damit! lungsländer. Ich denke, wir sind hier auf einem guten (B) (D) Wie die Pläne der Bundesministerin HeidemarieWeg. Im Übrigen: Andere EU-Staaten und Kanada versu- Wieczorek-Zeul zeigen, sind diese Einschnitte durchaus chen schon seit langem, besseren Kontakt zu Kuba herzu- eine Chance, die Wirksamkeit der Entwicklungszusam- stellen. menarbeit zu steigern. Gerade die angestrebte Konzentra- (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Kanada tion in der bilateralen Zusammenarbeit auf Schwerpunkt- hat ihn gerade eingestellt!) länder, die besonders unserer Hilfe bedürfen, ist ein gutes Beispiel dafür, wie man mehr Effizienz erreichen kann. Es gibt außerdem eine UN-Resolution gegen das Em- Natürlich kann man an der Länderliste noch herumnör- bargo der USA. Ich denke, wir sollten uns dieser Initiative geln – das eine passt dem einen nicht, das andere dem an- jetzt aktiv anschließen. deren nicht –, aber gezielte Maßnahmen machen mehr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sinn, als dass jeder Geber alles überall macht. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dritter Punkt: ziviler Friedensdienst. Die Union be- DIE GRÜNEN) klagt ihn als Musterbeispiel für Effekthascherei, der nicht Eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen bilateralen Ge- zur langfristigen Wahrung unserer Interessen beitrage. bern, EU und multilateralen Nationen ist daher notwen- Das Gegenteil ist der Fall. Denn wir begreifen Entwick- dig. Dies entspricht auch einer schon vor langer Zeit er- lungspolitik auch als aktive Gestaltung von Friedenspoli- hobenen Forderung aus dem Parlament: nicht Gieß-tik. Da spielt das neue Instrument des zivilen Friedens- kanne, sondern Konzentration. Frankreich hat übrigens dienstes eine gewichtige Rolle, weil wir durch speziell 50 Schwerpunktländer. Bei uns hätte dies schon längst ge- ausgebildete Fachkräfte vor Ort einen Beitrag zur Media- schehen müssen. Wenn Sie entsprechende Vorschläge in tion und Vermittlung leisten wollen. der Schublade hatten, Herr Hedrich, dann frage ich mich, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ warum Sie sie nicht umgesetzt haben. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In diesem Bereich sind die NROs besonders engagiert. DIE GRÜNEN) Wir unterstützen sie bei der Gestaltung dieses aktiven Friedensdienstes. Zweiter Punkt. Die Union kritisiert die Aufnahme der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba. Oder Vierter Punkt. Welch ein Unsinn, der Bundesregierung wie es der Kollege Hedrich ausdrückt – so war es jeden- Ressortscheuklappen vorzuwerfen! Wir waren es doch, falls im Berliner „Tagesspiegel“ nachzulesen –, die Mi- die jahrelang gefordert haben, Entwicklungspolitik als Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9933

Adelheid Trösche (A) Querschnittsaufgabe zu definieren und zu einer kohären- Erika Reinhardt (CDU/CSU): In den Reden hier ist (C) ten Verankerung dieses Politikfeldes zu kommen. Unsere immer wieder betont worden, wie wichtig es ist, dass man zahlreichen Anträge dazu haben Sie alle abgelehnt. mit Kuba nun endlich eine wirtschaftliche Zusammenar- beit beginnt. Jetzt habe ich doch einmal die Frage, ob denn Fünfter Punkt. Das starre Korsett der Struktur desIhre Anträge, die Sie einmal gestellt haben, noch gelten. Einzelplanes 23 müsse reformiert werden. Ich erinnere So haben Sie damals in einem Antrag die Regierung mich an viele Diskussionen und Debatten, in denen der aufgefordert, zu keiner Zusammenarbeit bereit zu sein, Kollege Schuster immer wieder auf diesen Punkt hinge- weil das als Unterstützung der Diktatur verstanden wer- wiesen hat. Wir haben gemeinsam für Reformenden könne. Allenfalls, so heißt es weiter, könnten Projekte gekämpft. Da klingt es schon abenteuerlich, wenn der– insbesondere über Nichtregierungsorganisationen – Kollege Hedrich vom Saulus zum Paulus wird. Sie haben gefördert werden, die direkt der Not leidenden Bevöl- jahrelang die Chance für wirksame Reformen vertan. kerung, dem Umweltschutz oder demokratischen Kräften und Reformen zugute kommen. In jedem Fall müsse die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Demokratisierung vorangehen. DIE GRÜNEN) All diese Punkte sind bis jetzt nicht erfüllt. Deshalb Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumstellt sich für mich schon die Frage: Haben Ihre eigenen Schluss. Die Leitlinien der CDU sind vor allem aus einem Worte noch Geltung? Grund schlimm: Nicht nur, dass wichtige Entwicklungen der entwicklungspolitischen Diskussion nicht aufgegrif- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – fen werden, dass Armutsbekämpfung und soziale Gerech- Detlev von Larcher [SPD]: Sie haben wirklich tigkeit kaum Gewicht erhalten und Gender- und Gleich- nicht zugehört!) berechtigungsfragen überhaupt nicht thematisiert werden, nein, am Schlimmsten ist eigentlich, dass das WortPräsident Wolfgang Thierse: Kollegin Tröscher, „Frauen“ überhaupt nicht vorkommt. Sie haben Gelegenheit zur Antwort. (Beifall bei der SPD – Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Hört! Hört!) Adelheid Tröscher (SPD): Ich kann das kurz Wer aber entwicklungspolitische Prozesse positiv ge- machen. – Der Antrag, den Sie zitieren, ist vielleicht vor stalten will, der kommt nicht daran vorbei, festzustellen, 100 Jahren gestellt worden. Aber es gibt ja Ent- dass es die Frauen sind, die den Schlüssel für eine nach- wicklungen, denen wir uns öffnen. Zu Kuba haben wir haltige Entwicklung in den Händen halten. jetzt einen Antrag gestellt, der dem von Ihnen zitierten di- ametral entgegensteht. Ich kenne den Antrag, den Sie zi- (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tiert haben, nicht. (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir unterhalten auch Beziehungen zu vielen anderen Insofern hat das Papier der CDU wahrlich Rüttgers-Ni- Staaten – insbesondere afrikanischen –, die Diktaturen veau. Es ist inkonsequent und widersprüchlich, enttäu- sind. Wir hoffen, durch Zusammenarbeit, durch Entwick- schend dünn und inhaltlich konzeptionslos. lung der Zivilgesellschaft eine Annäherung zu erreichen und dazu beizutragen, dass sich diese Länder demokrati- sieren. Diesen Freiraum wollen wir nutzen. Das tun wir Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Tröscher, Sie im Falle Kuba in der nächsten Zeit. haben Ihre Redezeit schon deutlich überzogen. Auch bei Ihnen gibt es viele, die so denken wie wir, (Jörg van Essen [F.D.P.]: Auch vom Inhalt!) was das Embargo der USA gegenüber Kuba und die Ent- wicklungsmöglichkeiten dort anbelangt. Ich glaube, wir Adelheid Tröscher (SPD): Ich komme zum Schluss. sind auf einem guten Weg und sollten der Ministerin Wir vollziehen mit der heutigen erstmaligen Regie-Glück wünschen, damit sie ein Stück weiterkommt. rungserklärung zur Entwicklungszusammenarbeit einen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ symbolischen Akt. Die Entwicklungspolitik steht, wie an- DIE GRÜNEN) dere Politikfelder auch, vor der Aufgabe, ihre Rolle im Zeitalter der Globalisierung neu zu bestimmen. Ihre gesellschaftliche und internationale Akzeptanz hängt von Präsident Wolfgang Thierse:Nun hat Kollege einer realistischen Einschätzung ihrer Reichweite ab.Wolfgang Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort. Lassen Sie uns dafür gemeinsam streiten! Das haben wir schon bis jetzt gemacht; wir sollten es auch weiterhin tun. Wolfgang Gehrcke (PDS): Herr Präsident! Liebe Danke sehr. Kolleginnen und Kollegen! Ich kann bei sehr vielem an das anknüpfen, was die Frau Ministerin hier ausgeführt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat, und will das mit meinen Intentionen machen. DIE GRÜNEN) Für mich ist sicher, dass das krasse Missverhältnis zwi- schen Armut und Reichtum,zwischen Einfluss und Präsident Wolfgang Thierse:Das Wort zu einer Ohnmacht, zwischen kultureller Dominanz und der Zer- Kurzintervention erteile ich der Kollegin Erika Reinhardt, störung nationaler Kulturen auf Dauer nicht aufrechtzuer- CDU/CSU-Fraktion. halten ist – und, so will ich dazu setzen, auch nicht 9934 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Wolfgang Gehrcke (A) aufrechterhalten werden darf. 1,4 Milliarden Menschen – Regierungskoalitionsparteien nicht mehr angesprochen, (C) jeder Vierte – leben heute unterhalb der Armutsgrenze, was ich bedauere. Beides bedauere ich, will ich dazu sa- aber das Vermögen der drei reichsten Männer der Welt ist gen. größer als das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Län- der. Diese 48 Länder, in denen ein Zehntel der Weltbe- (Beifall bei der PDS – Zurufe von der SPD) völkerung lebt, haben einen Anteil von nur 0,3 Prozent am – Ich habe den Namen nicht genannt. Ihr wisst ja, wen ich Welthandel; der ganze afrikanische Kontinent 1,1 Pro- meine. zent. Die Länder der so genannten Dritten Welt sind mit 2 170 Milliarden US-Dollar verschuldet. Wer Frieden durch Entwicklung will, darf sich aus mei- ner Sicht nicht an Rüstungsexporten beteiligen. Das wi- Ich finde, wer von Armut spricht, darf über Reichtum derspricht dem. nicht schweigen. Dieser Teil fehlte etwas in der Rede der Ministerin; Frieden durch Entwicklung verträgt sich aus meiner Sicht nicht mit einer unipolaren Welt, in der die USA das (Beifall des Abg. [PDS]) erste und das letzte Wort haben. Wenn sich Frieden durch deswegen will ich das ergänzen: Täglich werden Devisen Entwicklung durchsetzen soll, muss sich die Politik än- mit einem Gegenwert von 1,5 Billionen US-Dollar auf dern, auch und gerade ,wie ich finde, die Außenpolitik un- den Finanzmärkten umgesetzt, was etwa dem Gesamtvo- seres Landes. lumen der Devisenbestände aller Zentralbanken der Welt Ich möchte abschließend zwei kurze Bemerkungen zu entspricht. 97 Prozent dieser Umsätze haben nichts mit den vorliegenden Anträgen machen. Zuerst will ich ein Produktion zu tun, sondern sind rein spekulativ, undDilemma ansprechen, das ich bei dem Entschließungs- 80 Prozent der Kapitalbewegungen haben eine Anlage- antrag Regierungsfraktionen sehe. Erstens stellen wir in dauer von weniger als sieben Tagen. Rechnung, dass wir eine in dieser Frage engagierte Oder werfen wir einen Blick auf die ständig wachsende Ministerin haben. Macht der transnationalen Konzerne: 10 Prozent aller Be- (Beifall des Abg. Dr. R. Werner Schuster schäftigten auf der Erde – die Landwirtschaft ausgenom- [SPD]) men – arbeiten bei einem der 44 000 transnationalen Un- ternehmen. Das Volumen der weltweiten Übernahmen Wir wollen nicht, dass die Widerstände gegen sie größer und Fusionen betrug 1999 3,1 Billionen Dollar. werden. Sie hat genügend Probleme, auch in ihrer Partei, sich durchzusetzen. All dies lastet besonders auf den Menschen der so ge- nannten Dritten Welt. Dies sind die Probleme der Ent- (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Dem wider- (B) wicklung. Wenn sie nicht gelöst werden, drohen viele der sprechen wir nicht!) (D) Konflikte in gewaltsame Auseinandersetzungen umzu- – Das weiß man doch. schlagen. Zweitens: Der Antrag ist analytisch gut und in seinen For- 34 Kriege wurden schon 1999 gezählt. Denken wir ge- derungen mehrheitlich vernünftig. Wenn Sie etwas weni- meinsam an Angola, Kongo, Äthiopien, Eritrea, denken ger Eigenlob hineingeschrieben hätten – lassen Sie sich wir an die Kaschmir-Region oder den Kaukasus. doch einmal von anderen loben, anstatt sich immer selbst Soziale Wohlfahrt und ökologische Vernunft sind auch zu loben –, ein Weg, um Krieg zu vermeiden und Gewalt zu bekämp- (Zuruf von der SPD: Ihr macht das ja nicht!) fen – ich finde, der beste Weg. wenn Sie in diesem Antrag klarer „Nein“ zu Rüstungsex- (Beifall bei der PDS und der SPD) porten gesagt hätten, hätte man ihm zustimmen können. Vieles von dem, was ich angesprochen haben, wird in So bleibt nur eine Enthaltung. den armen Zonen der Welt ausgetragen, hat aber seine Ur- Jetzt gibt es keine Kürnote, aber ich möchte doch sa- sachen in der Politik der reichen Zonen der Welt. Ich habe gen: Was die Ministerin angeht, meinerseits eine lobende den Eindruck, dass zwei Begriffe für fast alles Unver- Enthaltung. nünftige zur Rechtfertigung herangezogen werden: „Glo- balisierung“ und „Markt“. Oder zusammengezogen: die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bedingungen der globalisierten Märkte. Nur stehen hinter Ich fand die Rede, die hier gehalten wurde, auch bemer- den anonymen Begriffen „Globalisierung“ und „Markt“ kenswert. konkrete Interessen. Auch über diese darf man nicht schweigen. (Jörg van Essen [F.D.P.]: Dass die sich unter- einander loben, ist doch klar!) Frieden durch Entwicklung bedarf einer anderen Außenpolitik. Sie muss auf wirtschaftlichen Ausgleich, – Dann braucht sie sich ja nicht selbst zu loben. auf Recht und Zivilität setzen. Frieden und Entwicklung Ein letzter Satz zu Kuba: Das, was ich hier von Kolle- fordern eine Veränderung der Politik des Internationalen gen der CDU gehört habe, ist wirklich politische Steinzeit Währungsfonds und der Weltbank, Schuldenerlass und oder Eiszeit. eine stärkere Regulierung der internationalen Finanz- märkte. Seitdem ein bestimmter Kollege in diesem Par- (Beifall bei der CDU/CSU) – Dr. Christian lament fehlt, werden ja diese Probleme auch von den Ruck [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9935

Wolfgang Gehrcke (A) Jeder hier im Hause weiß doch – wir wissen es alle, reden bei ein Schlüsselelement der nachhaltigen Armutsbe-(C) wir doch einmal darüber! –, dass das US-Embargo gegen kämpfung. Kuba weder sinnvoll noch moralisch gerechtfertigt und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ durchzuhalten ist. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der PDS – Zuruf von Damit steht die Entwicklungszusammenarbeit vor der CDU/CSU: Wir sind aber in Deutschland zwei großen Herausforderungen: die Basisversorgung der und nicht in Kuba!) Bevölkerung in den Entwicklungsländern zu sichern so- Wenn die deutsche Politik hier einen anderen Weg geht, wie im Bildungsbereich die Alphabetisierung voranzu- dann werden demokratische Entwicklungen gestärkt und treiben und gleichzeitig die Ausbildung von Fachkräften, gestützt, dann gibt es eine kooperative Zusammenarbeit. vor allem in der Informationstechnik, auf hohem Niveau So souverän wie Italien oder Spanien sollte auch die deut- zu ermöglichen. sche Politik gegenüber Kuba sein. Die neuen Technologien bieten dabei den Ländern des Etwas mehr Mut, trauen Sie sich, Frau Ministerin! Eine Südens eine einmalige Chance; denn in den Schlüssel- gute Reise und viel Erfolg in Kuba! branchen wie beispielsweise dem Maschinenbau oder der chemischen Industrie haben die weniger entwickelten (Beifall bei der PDS und der SPD) Länder keine Möglichkeit mehr, den gewaltigen Vor- sprung der Industrienationen aufzuholen. Hingegen eröff- Präsident Wolfgang Thierse:Ich erteile das Wort nen sich für alle Staaten dieser Welt durch die Informati- dem Kollegen Tobias Marhold, SPD-Fraktion. onstechnologien völlig neue Perspektiven, übrigens auch für Deutschland, das ebenso erst am Anfang dieses Ent- wicklungsprozesses steht. Tobias Marhold (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Sicher ist es wichtig, den Menschen langfristig eine Kollegen! Nachdem sich die Diskussion um die IT-Grundversorgung, wie Nahrung, sauberes Wasser und Fachkräfte in Nordrhein-Westfalen ja offensichtlich nicht eine Grundbildung, zu garantieren, aber genauso notwen- zum Stimmensammeln geeignet hat, dig – oder zukünftig noch wichtiger ist es, ihnen den An- schluss an die Zukunftsbranche der Welt zu ermöglichen. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Schade!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ möchte ich dieses Thema in einen ganz anderen Zusam- DIE GRÜNEN) menhang stellen, den der Entwicklungspolitik. (B) Dabei bietet das weltweite Datennetz Möglichkeiten, de- (D) Es erscheint Ihnen vielleicht ungewöhnlich, wenn ich nen selbst Deutschland bis vor kurzem noch nicht den in der entwicklungspolitischen Debatte von neuen Tech- richtigen Stellenwert beigemessen hat. nologien spreche. Doch wird der Zusammenhang schnell klar, wenn wir uns die in den letzten Jahren merklich ge- Lassen Sie mich folgendes Beispiel nennen: Das vom wandelte Definition von Armut betrachten. BMZ finanzierte Alumni-Programm für ehemalige Stu- dierende aus Entwicklungsländern erlaubt durch den Ein- Armut ist nicht allein als Mangel an Nahrung, Ein-satz der neuen Kommunikationstechnologie, der Alumni- kommen und finanziellen Ressourcen zu verstehen, son- Entwicklungsländer-Datenbank des Deutschen Akademi- dern beinhaltet auch den fehlenden Zugang zu Bildungs- schen Austauschdienstes, einen intensiven Informa- möglichkeiten, Gesundheitsdiensten, politischer Partizi- tionsaustausch, der es ausländischen Studierenden trotz pation, Dienstleistungen und Infrastruktur. der Rückkehr in ihre Heimatländer ermöglicht, am not- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wendigen Wissensaustausch teilzunehmen. DIE GRÜNEN) Einen weiteren wichtigen Punkt sollten wir bei dieser Sprechen wir in diesem Zusammenhang von dem Ziel Diskussion nicht vergessen: Mit der Verbreitung des In- der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, die Ent- ternets kann der Abwanderung der Fachkräfte nach Eu- wicklungsländer in den Weltmarkt zu integrieren, muss ropa und in die USA wirksam entgegengesteuert werden, der Bildung besondere Aufmerksamkeit zukommen; denn durch die vernetzte Welt ist es unerheblich, ob eine denn ohne gut ausgebildete einheimische Fachkräfte in Fachkraft aus Bolivien oder aus München agiert. ausreichender Anzahl kann sich in Zukunft kein Land in Auch müssen wir uns gerade im Bereich der Informa- unserer globalisierten Welt im zunehmenden Wettbewerb tionstechnologie für ein verstärktes, auch finanzielles En- behaupten. gagement der Privatwirtschaft einsetzen. Instrumente (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie die Public Private Partnership, also die Zusammenar- DIE GRÜNEN) beit zwischen der öffentlichen Hand und der privaten Wirtschaft, bieten dabei gute Voraussetzungen. Das sehen wir zurzeit nur allzu deutlich an den entspre- chenden Diskussionen in unserem eigenen Land. Den Meine Damen und Herren, wir müssen also das eine Staaten des Südens muss daher der Zugang zu Informa- tun, ohne das andere zu lassen. Arbeiten wir an der Ver- tionen über das internationale Netzwerk anhand vonwirklichung der weltweiten Grundversorgung aller Men- Technologietransfers ermöglicht werden. Bildung ist da- schen und fördern wir gleichzeitig eine Entwicklung auf 9936 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Wolfgang Gehrcke (A) hohem technologischen Niveau, um den betroffenen Staa- telkeiten einzelner Mitglieder der Europäischen Union(C) ten eine Perspektive aus eigener Kraft zu eröffnen! haben da keinen Platz. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Haben diese Länder im IT-Bereich erst einmal Fuß gefasst Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen dafür und sich dadurch weitere Einnahmequellen erschlossen, sorgen, dass die Staaten des Südens im internationalen ist dies ein zusätzlicher Meilenstein bei dem Kampf um Wettbewerb eine faire Chance erhalten. Wenn wir heute ihre finanzielle Unabhängigkeit von den reichen Indus- handeln, profitieren auch wir in Zukunft von der gestärk- trieländern. Unserer Unterstützung können sie sich dabei ten Position der Entwicklungsländer. Denn Prävention ist sicher sein. immer besser und natürlich für unsere Haushalte auf Dauer leichter zu verkraften. Darüber hinaus bieten die neuen Technologien eine weitere Chance, die oft vergessen wird und die für mich Die Bundesrepublik Deutschland muss dafür Sorge besonders wichtig ist, nämlich die Einbeziehung destragen, dass die in den Entwicklungsländern vorhandenen Potenziale zur Elitenbildung ausgeschöpft werden, und großen Potenzials der Frauen dieser Länder. Wie wir alle muss die Ausbildung von hoch qualifizierten Fachkräften wissen, liegt die Zukunft der Entwicklungsländer maß- unterstützen. geblich in den Händen der Frauen. (Beifall der Abg. Dr. Uschi Eid [BÜND- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Die neuen Technologien dürfen nicht an den armen Län- dern vorbeigehen. Das würde zu einer weiteren Ver- Gerade die Frauen sind es aber, die überproportional von schlechterung ihrer Position auf dem Weltmarkt führen Armut betroffen sind. Verantwortlich für die Kinderver- und sie für immer an das untere Ende der Staatengemein- sorgung tragen sie zusätzlich noch die Haupterwerbslast. schaft verbannen. Arbeiten wir daran, dass der nächste Es ist allseits bekannt, dass in den Ländern, in denenBill Gates – besser: eine entsprechende Frau – aus Kame- Frauen am besten gebildet sind, die Entwicklung aller ge- run kommt! sellschaftlichen Bereiche am weitesten fortgeschritten ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Das hat unter anderem auch positive Auswirkungen auf die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und damit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS auf eine geringere Kindersterblichkeit und eine geringere 90/DIE GRÜNEN) (B) Anzahl von Geburten und Krankheiten. (D) Frauen haben jedoch in den männerdominierten Ge- Präsident Wolfgang Thierse:Dies war die erste sellschaften in technischen Arbeitsfeldern kaum eine Ge- Rede des Kollegen Marhold. Herzliche Gratulation! legenheit, eine Ausbildung zu erhalten. Wenn man aber in (Beifall) Zukunft von jedem Punkt der Erde ohne großen techni- schen Aufwand kommunizieren und Dienstleistungen er- Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Christian Ruck, bringen kann, schafft das auch für Frauen eine realistische CDU/CSU. Berufsperspektive. Deshalb müssen Frauen nicht nur bei Projekten der Armutsbekämpfung, sondern verstärkt auch Dr. Christian Ruck(CDU/CSU): Herr Präsident! bei der qualifizierten Ausbildung einbezogen werden. Meine Damen und Herren! „Frieden braucht Entwick- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lung“ – dieses Motto kann jeder von uns unterschreiben. DIE GRÜNEN) Leider müssen wir konstatieren, dass uns die Entwick- lungsprobleme auch im neuen Jahrtausend treu geblieben Ziel unserer Politik muss daher sein, jedem Land die sind und uns auch ins neue Jahrtausend gefolgt sind. Möglichkeit zu geben, sich auf die globalisierte Welt, die Aber mit der Globalisierung kommt ein neuer Akzent vom technologischen Fortschritt vorangetrieben wird, hinzu. Globalisierung ist eigentlich die weltweite Ver- vorzubereiten. Da stehen wir in Deutschland und Europa netzung der Leistungsfähigen. Das ist auch für viele Ent- ganz klar in einer besonderen Verantwortung, übrigens wicklungsländer eine große Chance. Die Entwicklungs- gerade gegenüber dem afrikanischen Kontinent. Denn länder insgesamt haben beim Anteil am Welthandel dop- wer, wenn nicht wir, muss heute handeln? pelt so viel erreicht wie der Rest der Welt. Genau wie bei der bilateralen Entwicklungszusam- Aber nicht alle Entwicklungsländer sind positiv be- menarbeit muss auch in derEU-Entwicklungszu-sam- troffen. Die Globalisierung geht an Hunderten Millionen menarbeit der Bildung und Ausbildung stärkeres Ge- von Menschen der Entwicklungsländer spurlos vorbei. Im wicht zukommen. Der jetzige Zeitpunkt ist günstig, da auf neuen Jahrtausend steckt darin das Risiko, dass sich die der europäischen Ebene über eine neue Strategie für die sozialen Konflikte innerhalb der Länder vergrößern, statt gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit diskutiertsich zu verringern, dass sich Migrationsbewegungen ver- wird. Eine ressortübergreifende Abstimmung aller außen- stärken, statt zu verebben, dass Stellvertreterkriege ganz politischen Instrumente ist daher geboten. Nationale Ei- neuer Art ausbrechen, Ordnungsrahmen von gewählten Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9937

Dr. Christian Ruck (A) Demokratien unterminiert werden und der Druck auf die Entscheidend hinsichtlich Ihrer Schwerpunktsetzung (C) natürlichen Lebensgrundlagen weiter zunehmen wird. ist aber, dass die kurz- und mittelfristige Kürzungsorgie im BMZ-Haushalt ausgerechnet die Felder trifft, die als Vor diesem Hintergrund sind für die Entwicklungspo- Globalisierungshilfe von zentraler Bedeutung wären, litik drei Elemente von größter Bedeutung: Erstens der Aufbau und die Durchsetzung verlässlicher internationa- (Beifall bei der CDU/CSU) ler Spielregeln mit sozialer und ökologischer Verantwor- tung; darauf ist schon hingewiesen worden. Zweitens. Es zum Beispiel die Armutsorientierung, die Bildung, Herr müssen in der internationalen Entwicklungshilfe und Zu- Marhold, die Sozialstrukturhilfe und die Bevölkerungs- sammenarbeit im Rahmen des Globalisierungsprozesses und Umweltpolitik. Vor dem Hintergrund der Globalisie- die richtigen Schwerpunkte und Akzente gesetzt werden. rung müssten wir eigentlich die Selbsthilfekräfte der Be- Drittens die Einflussnahme im Interesse von Good Go- nachteiligten besonders stärken, die Funktionsfähigkeit vernance. von Staat, Demokratie und Verwaltung und den Kampf gegen Umweltkatastrophen. Sie aber erreichen durch die Darauf ist die Politik der rot-grünen Bundesregierung Kürzungen genau das Gegenteil. Wir stehen hinter Ihnen, abzuklopfen. Hier sieht es trotz Lob und Eigenlob noch wenn Sie sich in Zukunft im Trend gegen diese Kürzun- sehr mager aus. In puncto internationale Spielregeln ging gen aussprechen. Wenn Sie dagegen kämpfen, kämpfen die Debatte um eine Reform der Welthandelsordnung an wir mit Ihnen. Deutschland vorüber, obwohl wir eigentlich mit der so- zialen Marktwirtschaft ein Erfolgsmodell anzubieten hät- Auch nach Ihren vollmundigen Ankündigungen nach ten, das auch international tauglich wäre. Ihrer Amtsübernahme reizt es einmal mehr, die Wahrheit zu beleuchten; das haben Sie gestern Abend weniger ge- (Beifall bei der CDU/CSU) tan. Frau Tröscher, dass Sie vom Haushalt nichts mehr Bei der Diskussion über Weltbank und IWFprodu- hören wollen, kann für uns natürlich nicht Leitfaden der zierte die Bundesrepublik zwar Schlagzeilen, aber nur Politik sein. Die Behauptungen, an denHaushaltskür- beim stümperhaften Kampf um den Chefsessel beim IWF. zungen sei die vorhergehende Regierung schuld, sind ein- Die Vereinte-Nationen-Politik der Bundesregierungfach falsch. Die Haushaltskürzungen sind erstens Schuld siecht in Wirklichkeit genauso dahin wie die Entwick- der falschen Schwerpunktsetzung der jetzigen Regierung lungspolitik der Vereinten Nationen selbst. Das einzig Be- und zweitens Schuld des ehemaligen Finanzministers merkenswerte war, dass neben viel Überflüssigem wirk- Lafontaine, der einmal schnell 30 Milliarden DM ver- lich vernünftige Programme und Projekte, zum Beispiel frühstückt hat. der Bevölkerungsfonds der UN, von uns zusammenge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) strichen wurden. (B) Diese 30 Milliarden DM sind der eigentliche Grund dafür, (D) Auch bei der internationalen Entschuldungskampa- warum Ihr Haushalt in Schwierigkeiten ist. gne, die Sie sich, Frau Ministerin, etwas übertrieben ganz allein auf Ihre Fahnen heften, gratulieren wir erst dann, Auch die Zahlen, die gestern genannt worden sind, sind wenn die Ernte eingefahren ist. Ich sage Ihnen ganz ehr- falsch. Während unserer Regierungszeit – das war lich: Ihr gestriger Beitrag, den ich nur am Fernseher ver- schmerzlich genug – mussten wir von 1993 bis 1998 Kür- folgen konnte – daher konnte ich leider nicht eingreifen – zungen von 8,2 Milliarden DM – das war die Rekord- (Lachen bei der SPD) höhe –auf 7,9 Milliarden DM hinnehmen. Nach der mit- telfristigen Finanzplanung wäre eine weitere Absenkung reizt mich natürlich sehr. Sie haben gesagt, eine Ent-des Plafonds um 36 Millionen DM erfolgt. Und was ma- schuldung gebe es erst seit dem Zeitpunkt, seitdem Sie chen Sie? – Sie kürzen die Mittel in einem Jahr um Ministerin seien. Das ist nachweislich falsch. Denn die 8,7 Prozent und diePlafondabsenkung beträgt nicht Wahrheit ist, dass das jetzt Geplante – wir stehen dahinter 36 Millionen DM, sondern 960 Millionen DM. Das kann und wünschen dazu viel Erfolg – bisher nur zu Luftbu- doch wohl nicht unsere Schuld sein. chungen geführt hat. Es ist noch keine einzige müde Mark geflossen. Wir stehen zwar zum Beispiel bei Bolivien und Deswegen fordern wir die Einlösung Ihres nächsten Uganda ante portas. Aber es ist noch nichts umgesetzt Versprechens – Sie haben gestern gesagt: Was wir zuge- worden, wohingegen unter Ihren Vorgängern – das sollte sagt haben, packen wir an –, nämlich mehr Geld für die man der Ehrlichkeit halber bei solchen Diskussionen er- Entwicklungshilfe und nicht weniger. Wir fordern auch wähnen – 9 Milliarden DM erlassen wurden. eine Weiterentwicklung der Inhalte und Instrumente, zum Beispiel ein Sektorprogramm zur Reform und Stärkung (Gernot Erler [SPD]: Das alles auf Pump!) des öffentlichen Dienstes, eine konsistente Energiekon- Auch beim zweiten Punkt, bei der sachlichen Schwer- zeption für Entwicklungsländer und die Einrichtung einer punktsetzung, ist Kritik angebracht. Es ist richtig, dass das politischen Notfallhilfe, mit der viel schneller als bisher Wasser zum Schwerpunktthema geworden ist; aber das politische Hilfestellung geleistet werden kann. hat noch die alte Bundesregierung eingeleitet. Was die Diskussion um die Länderkonzentration anbe- Der Zivile Friedensdienst, so fürchte ich, wird ein langt, so hat Herr Hedrich dazu schon das Wesentliche ge- Flop; denn das, was er leisten kann, gibt es schon, und das, sagt. Ich halte den bisherigen Verlauf der Abgrenzung für was er eigentlich leisten müsste, nämlich in einemschädlich. Es gibt ein wirklich gutes Abgrenzungskrite- gefährlichen und gewalttätigen Umfeld Frieden stiften, rium, mit dem man gleichzeitig die Arbeitsteilung mit der kann er nicht. EU voranbringen könnte, und zwar die Absorptions-, 9938 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Dr. Christian Ruck (A) Regulierungs- und Koordinationsfähigkeit von Entwick- gung zu verspielen. Was sich inÄthiopien und Eritrea (C) lungsländern. abspielt, ist zynisch und unverschämt. (Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das ist ein Kriterium, das auch wir anerkannt neten der SPD und der F.D.P.) haben! Insofern stimmen wir überein!) Frau Ministerin, es sind nicht nur die Industrienationen, Dieses Kriterium ist logisch und nachvollziehbar unddie dorthin Waffen verkaufen. Es ist vor allem Russland, richtet außenpolitisch keinen Schaden an. (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Richtig!) Ein außenpolitischer Schaden aber tritt ein, wenndas von Verkäufen an beide Seiten profitiert hat und den ausgerechnet die Zusammenarbeit mit Schwellenländern, Sanktionsbeschluss so lange hinausgezögert hat, dass zum Beispiel mit Malaysia und Argentinien, eingestellt beide Seiten genug Waffen haben, um noch jahrelang wei- wird. Wir sind es doch, die von diesen Ländern etwas wol- ter kämpfen zu können. Das ist ein Skandal, der von uns len, nicht umgekehrt. In Malaysia zum Beispiel wollen nur außenpolitisch bekämpft werden kann. wir den Tropenwald retten. Wenn wir die Zusammenar- beit mit diesen Ländern aufgeben, haben wir uns jede (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P. – Dr. Uschi Eid [BÜND- Möglichkeit der Einflussnahme genommen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wurde vom Außenmi- Das ist der dritte und ebenfalls entscheidende Punkt: nister gemacht!) die Einflussnahme auf Good Governance. Auch dazu Genauso zynisch sind das Kriegsengagement einer gibt es Kritik. Zum einen gibt es in dem AKP-Abkommen ganzen Reihe von armen Staaten in Krisengebieten, das einen Punkt, wo wir und auch Sie sich nicht entscheidend Aufhetzen zur rassistischen Gewalt in Simbabwe und die durchgesetzt haben, nämlich in der Frage der Sanktionen. traurige Solidarität mit diesen gefährlichen Vorgängen Das ist innerhalb der EU eine offene Flanke. Zudem be- auch durch den südafrikanischen Staatspräsidenten. Das deuten die Kürzungen im BMZ-Haushalt, vor allem in der muss man auch sagen; das hat mich ebenfalls enttäuscht. FZ: weniger Geld, weniger Einfluss. Die Entschuldung Ich werfe der Bundesregierung, dem Bundeskanzler und wiegt das in keiner Weise auf. dem Bundesaußenminister zuvörderst vor, dass sie für den Nehmen wir einmal an, dieEntschuldung kommt Frieden und die Entwicklung in Afrika nichts riskieren, wirklich zustande, was wir alle hoffen! Dann stehenwas diplomatisch und politisch wehtun könnte, dass es 960 Millionen DM weniger im Haushalt. Dem stehen 60 auch kein Afrika-Konzept gibt, das diesen Namen ver- dient. Joschka Fischer schließt fünf Botschaften in Afrika (B) bis allenfalls 80 Millionen DM entgegen, die Sie den Ent- (D) wicklungsländern aus der Entschuldung pro Jahr prak- und joggt dann werbewirksam durch die Pyramiden von tisch geben. Sie kürzen also um das Zehnfache dessen, Giseh. Das ist meiner und unserer Ansicht nach zu wenig. was die Entwicklungsländer durch die Entschuldung be- (Beifall bei der CDU/CSU) kommen. Da kann man wirklich nicht von einem fairen Diese Unkollegialität gegenüber der Entwicklungspo- Deal sprechen. litik wird nur noch durch das Finanzministerium in den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schatten gestellt, insbesondere durch die Person des neten der F.D.P.) Staatssekretärs Overhaus und die Art und Weise, wie er die Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitsgruppe „Villa Lassen Sie mich auch noch das Folgende sagen. Wir Borsig“ – die Insider wissen, wovon ich spreche – abge- kritisieren die mangelnde Unterstützung des BMZ und bürstet hat. Ich glaube, dass deshalb der AWZ ein Recht dessen Entwicklungspolitik durch das Auswärtige Amt darauf hat, dass Finanzminister Eichel uns einmal per- und andere Ressorts. Bezeichnenderweise war ja zu Be- sönlich Rede und Antwort steht und uns in Zukunft einen ginn der Debatte, als Sie, Frau Ministerin, sprachen, kein Gesprächspartner aus seinem Hause mitgibt, der die Ent- einziger von Ihren Kollegen im Raum. wicklungspolitik nicht ruinieren will. (Jörg van Essen [F.D.P.]: Richtig! – Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Vol- Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Ruck, Ihre mer war auf jeden Fall da!) Zeit ist schon deutlich überschritten. Beim Einzug in das Außenministerium haben die grünen Chefs ihren umweltpolitischen Anspruch abgelegt. Auch Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Dann fasse ich zu- wenn sich die Umweltsituation gerade in den Entwick- sammen: lungs- und Schwellenländern dramatisch zuspitzt und (Heiterkeit) selbst viele unserer eigenen, ökologisch orientierten Ent- wicklungsprojekte politisch hochgradig gefährdet sind: Gegen Ihre symbolischen Gesten, Frau Ministerin, habe Fischer und Volmer riskieren dazu diplomatisch nichts. ich nichts einzuwenden; Ihre werbewirksamen Auftritte sind wichtig, damit man Entwicklungspolitik begreiflich Das gilt leider auch für Afrika. In der Tat sind viele machen kann. Wir haben auch nichts gegen flotte afrikanische Politiker dabei, jede Glaubwürdigkeit, jedes Sprüche. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, Renommee und auch jede politische Existenzberechti- dass entgegen allen vollmundigen Ankündigungen die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9939

Dr. Christian Ruck (A) deutsche Entwicklungspolitik durch Rot-Grün in eine Zu Herrn Ruck: Sie hatten, als im Zusammenhang mit (C) Krise gestürzt wurde und den wachsenden Herausforde- Lomé zwischen EU- und AKP-Staaten verhandelt wurde, rungen derzeit nicht gerecht werden kann. die Chance, die Frage der verantwortungsvollen Regie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rungsführung zu verankern. Ich lege Wert darauf, dass unter unserer Verhandlungsführung im Abkommen zwi- schen der EU und den afrikanisch-karibisch-pazifischen Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer Ländern das Prinzip der verantwortungsvollen Re- Kurzintervention erteile ich der Kollegin Heidemariegierungsführung verankert worden ist. Damit wird deut- Wieczorek-Zeul, SPD-Fraktion. lich, dass in Fällen – das ist jedem AKP-Staat klar – schwerer Korruption im Land selbst die Möglichkeit der Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Liebe Kolle- Unterbrechung der finanziellen Hilfe vonseiten der Euro- ginnen und Kollegen! Ich möchte an die Adresse derer, päischen Union gegeben ist. Das finde ich gut, weil ich die mich angesprochen haben, Folgendes sagen. Ich be- dafür bin, dass in solchen Fällen die entsprechenden ziehe mich zunächst auf die Frage derEntschuldungs- Sanktionen vollzogen werden; denn Korruption heißt, die initiative. Ich finde, die Probleme, die ich heute ange- arme Bevölkerung in den betroffenen Ländern zu strafen sprochen habe, sind so groß, dass wir die Diskussionund ihnen das Geld vorzuenthalten. Deshalb haben wir wirklich nicht im Kleinklein führen sollten. Vielmehrdas verankert und dazu stehen wir auch. sollten wir sie so führen, dass wir gemeinsam Ergebnisse (Beifall bei Abgeordneten der SPD) erzielen können.

Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen. Sie Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Wieczorek- haben uns vorgeworfen, dass wir eine Entschuldungs- Zeul, die drei Minuten sind vorüber. initiative im Umfang von 70 Milliarden US-Dollar haben mobilisieren können und dass das den deutschen Bundes- haushalt vergleichsweise wenig belastet. Ich finde, das ist Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Gut. kein Vorwurf. Mit einem vergleichsweise nicht so hohen (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Anteil haben wir ein Maximum für die Menschen in der SPD) Welt erreicht. Das kann doch kein Vorwurf an uns sein. Wir haben uns doch sinnvoll und richtig verhalten. Präsident Wolfgang Thierse: Zu einer weiteren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Werner (B) DIE GRÜNEN) Schuster das Wort. (D) Ein zweiter Punkt. Ich danke den Kollegen, die ver- sucht haben, sachlich zur Frage derLänderliste zu dis- Dr. R. Werner Schuster(SPD): Lieber Kollege kutieren. In entwicklungspolitischen und außenpoliti-Christian Ruck, ich freue mich, wenn diese Debatte den schen Fragen setzen die Menschen in der Welt auf Konti- Eindruck vermittelt, dass der nächste Bundestagswahl- nuität und Verlässlichkeit. Bitte lassen Sie uns kampf die vom Thema Entwicklungszusammenarbeit ent- Länderliste sachlich diskutieren. schieden wird. Das wäre ein Novum. Aber dies erinnert Ich habe wirklich nicht verstanden, Herr Kollegemich an die Apostelgeschichte, in der der Saulus zum Hedrich, worin Ihr Vorwurf besteht. Sie haben einerseits Paulus wurde. Ihr habt offensichtlich euer Damaskus rein behauptet, wir hätten nicht frühzeitig genug die Entwick- zufällig jetzt nach 16 Jahren Gestaltungsmöglichkeit. lungszusammenarbeit mit Simbabwe eingestellt. An- Es ist sicher euer gutes Recht und eure Pflicht, uns zu schließend haben Sie uns vorgeworfen, wir hätten es nicht kritisieren. Aber tut das bitte schön mit Augenmaß. Wenn als Partnerland mit aufgeführt. Was ist denn jetzt Ihr Vor- ihr wirklich wollt, dass die Entwicklungspolitiker in der wurf? Sie müssen doch an dieser Stelle die Auswirkungen Regierungskoalition erreichen, dass der Haushalt im entsprechend mit bedenken. Jahre 2001 verbessert wird, dann müsst ihr uns seriöse Ich möchte den Sachverhalt klarstellen. In Bezug auf Vorschläge unterbreiten und könnt nicht einfach nur Simbabwe haben wir die Entwicklungszusammenarbeit Wahlkampfgetöse machen. Ihr habt gesagt, es habe sich im finanziellen Bereich zu dem Zeitpunkt eingefroren, nichts verändert. Dazu will ich euch ein paar Fragen stel- als sich Simbabwe in den Kongokrieg eingeschaltet hat, len. also schon weit früher. Was wir durchführen – dazu stehe Herr Hedrich und ich haben seit Jahren immer wieder ich –, sind die Projekte, die der armen Bevölkerung nut- darauf hingewiesen, wie groß die Ineffizienz auf europä- zen. Unser Prinzip ist: Wir werden die arme Bevölkerung ischer Ebene ist. Jetzt bewegt sich etwas in Brüssel. Ist das nicht für ihre schlechte Regierung bestrafen, und das wer- nichts? den wir auch durchhalten. Wir haben darauf hingewiesen, dass Post-Lomé struk- (Beifall bei der SPD) turell geändert werden muss. Die Frau Ministerin hat das Wir haben Simbabwe selbstverständlich als potenzielles zusammen mit ihren drei Kolleginnen geschafft. Ist das Partnerland mit genannt. alles nichts? 9940 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Dr. R. Werner Schuster (A) Bei der multilateralen Entschuldung, Herr Hedrich, möchte das nicht mehr hören, deswegen sagen wir es auch (C) gab es 1986 – ich war noch nicht dabei – einen einstim- nicht. Das kann wirklich kein Mensch von uns verlangen. migen Beschluss im Bundestag. Passiert ist damals nichts, (Beifall bei der CDU/CSU) aber jetzt tut sich etwas. Ist das alles nichts? Ich habe einige Punkte, die du bei mir als Defizite kri- Die PPP – sie ist von euch mehrfach angekündigt wor- tisiert hast, ausdrücklich in positivem Sinne angespro- den, ich habe dabei eine Menge vom Kollegen chen. Die Bewegung auf der EU-Ebene ist ein positiver Pinger gelernt – wird jetzt Realität. Ist das nichts? Schritt. Aber es bleibt trotzdem dabei, worauf wir immer Entwicklungszusammenarbeit findet zum ersten Mal alle Wert gelegt haben: Entschuldung nur gegen Kon- wieder die Aufmerksamkeit der öffentlichen Medien, und ditionierung, zum Beispiel bezogen auf die Armuts- zwar dank der hervorragenden Präsentation der Ministe- bekämpfung. Dies muss wasserdicht, zum Beispiel mit rin. Ist das eigentlich alles nichts? NGOs, vereinbart werden. Dazu gibt es zwei Dinge: Das Erste ist, dass in der EU nur der Fall der schweren Kor- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Hören Sie ruption geregelt ist, sonst nichts. Das ist zu wenig. doch zu, wenn ich rede!) Das Zweite sind die Entschuldungsprogramme. Wir haben zum Beispiel die Kernarbeitszeitnorm in die Noch kein einziges Mal ist der Beweis dafür angetreten ILO eingebaut. Ist das nichts? worden, dass es so – wie Sie das auch mittragen – auch (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Ist die Kür- funktioniert. Es funktioniert noch nicht in Bolivien und es zung nichts?) funktioniert auch noch nicht in Uganda. Wir können gern darüber fachsimpeln, was zum Beispiel in Bolivien pas- Sehr geehrte Kollegen von der CDU/CSU, liebersiert. In Bolivien wird es so, wie es bisher läuft, nicht Christian Ruck, eine Aufgabe haben wir gemeinsam,klappen, ganz einfach deshalb, weil die NGOs das, was nämlich bei unseren Kolleginnen und Kollegen innerhalb geplant ist, nicht mittragen können. der Fraktion für „Frieden braucht Entwicklung“ zu wer- ben. Dies ist aber leider nicht umsonst zu haben. Wir können gern im Detail darüber diskutieren, aber lassen Sie uns jeweils fair und sportlich bei der Wahrheit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bleiben, auch hinsichtlich dessen, was Ihre Vorgänger ge- DIE GRÜNEN) tan haben. Es ist wahr, dass wir in 16 Jahren nicht alles richtig ge- Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Ruck, macht und auch nicht alle Probleme gelöst haben. Ich darf Sie haben Gelegenheit zu antworten. aber daran erinnern, dass die Kriterien und die Schwer- (B) punktsetzung von Herrn Spranger ausdrücklich von Ihnen (D) Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Herr Präsident, ich übernommen worden sind. Sie haben 16 Jahre lang ge- bin zweimal angesprochen worden, sodass ich jetzt sechs wartet. Jetzt können Sie alles besser machen. Nach fast Minuten lang reden kann, oder? zwei Jahren werden wir Sie doch wohl fragen dürfen: Was ist aus den großen Versprechen geworden? Dies lassen (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka wir uns nicht nehmen. Manches, das vielleicht im Sande [SPD]: Jetzt können Sie alles bestätigen, was versickert ist, werden wir wieder ausgraben. wir gemacht haben!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Herr Kubatschka, ich bestätige Ihnen nicht allzu viel.

Ich habe zunächst eine Gegenfrage an WernerPräsident Wolfgang Thierse: Nun erteile ich der Schuster: Sind die Kürzungen in Höhe von 960 Milli- Kollegin Uschi Eid, Parlamentarische Staatssekretärin im onen DM auch nichts? Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Nun komme ich auf die Intervention der Frau Ministe- und Entwicklung, das Wort. rin zu sprechen. Ich möchte noch einmal sagen: Wir wün- schen der Entschuldungskampagne viel Glück. Ich halte Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- es aber für übertrieben, dass Sie sich immer hinstellen und ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- sagen: Diese 70 Milliarden Dollar habe ich verbrochen wicklung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- und die wiegen praktisch diese 960 Millionen DM pro gen! Nach der ganzen parteipolitischen Polemik würde Jahr auf, um die wir kürzen müssen. Diese Rechnungich gern den Versuch unternehmen und auch die Opposi- stimmt weder politisch noch mathematisch. tion dazu einladen, zu prüfen, ob wir hinsichtlich des Wir könnten gern weniger über diese Zahlen sprechen, Kerns des Verständnisses von Entwicklungspolitik immer wenn Sie nicht immer die Unwahrheit über die wirkliche noch Gemeinsamkeiten haben oder nicht. Entwicklung Ihres Haushalts im letzten Jahrzehnt sagen Deswegen möchte ich gern drei Gedanken zum würden – siehe gestern – und wenn – das muss ich leider grundsätzlichen Verständnis von Entwicklungspolitik auch sagen – die Koalition nicht immer so riesige Ver- äußern. Erstens zum Verständnis vonEntwicklungs- sprechen wie zum Beispiel vor einem drei viertel oder hal- partnerschaft: Zu lange haben wir unsere Partnerländer ben Jahr machen würde, aber genau das Gegenteil macht. in ihrer Leistungsfähigkeit und in ihrem Leistungswillen Es kann niemand von uns als Opposition verlangen, dass unterschätzt. Zu lange haben wir diese Länder aus einer wir, liebe Adelheid Tröscher, sagen: Die Regierungpaternalistischen und sehr eurozentristischen Sichtweise Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9941

Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid (A) heraus in eine passive Rolle gedrängt. Das will diese Bun- das heißt auch andere Entwicklungsmuster zu verstehen (C) desregierung zurechtrücken und korrigieren helfen. Wir und zu unterstützen. stellen deshalb die Hilfe zur Selbsthilfe in den Kontext ei- Geduld bedeutet aber nicht Langmut. Wir dürfen un- ner Entwicklungspartnerschaft, um den Realitäten in un- sere Partner nicht aus ihrer Verantwortung für eine ent- seren Partnerländern besser Rechung zu tragen. wicklungs- und armutsorientierte Politik entlassen. Diese Kurskorrektur von der Entwicklungshilfe zur Entwicklungspolitik war längst überfällig, um wieder den (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Anschluss an den aktuellen Stand der internationalen ent- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) wicklungspolitischen Diskussion zu finden. Wir müssen unseren Partnerländern – das ist sehr wich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tig, das vergessen wir häufig – auch das Recht auf Fehler und bei der SPD) einräumen und dürfen uns nicht als Lehrmeister aufspie- len. Was heißt das nun für unsere praktische entwicklungs- politische Arbeit? Wir müssen darauf drängen, dass (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- grundlegende Aufgaben der nationalen Politik von den SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Staatsregierungen unserer Partnerländer verantwortlich Ich sage dies, obwohl ich mir dessen bewusst bin, dass und eigenständig wahrgenommen werden. Wir müssen gerade heute, da wir die Katastrophe in Sierra offen sein für alle Formen derEigeninitiative dort. Wir Leone vor Augen haben, da der brutale Krieg zwischen müssen uns als Geber davor hüten, mit Blaupausen zu Eritrea und Äthiopien herrscht, diese Ansicht auf Kritik agieren, und wir müssen die selbstbestimmten Entwick- stößt. Trotzdem meine ich, dass wir im Prinzip unseren lungsstrategien unserer Partner ernst nehmen. Partnerländern auch Fehler zugestehen müssen. Wir müssen unseren Partnerländern verdeutlichen, Nur so können wir einen ernsthaften und auf gegensei- dass Entwicklungszusammenarbeit nur komplementär zu tigem Respekt beruhenden Dialog führen, Entwicklungen Eigenanstrengungen zum Zuge kommen kann. in diesen Ländern früher und besser einschätzen und ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meinsam über Entwicklungsalternativen nachdenken. sowie bei Abgeordneten der SPD) Um der Vielfalt der kulturellen, sozioökonomischen und historisch gewachsenen Realitäten gerecht zu werden, Entwicklungspartnerschaft bedeutet auch, dass unsere müssen wir noch viel stärker als bisher flexible Instru- Entwicklungspolitik nicht als isoliertes Politikfeld, son- mente entwickeln und einsetzen. dern nur als ganzheitlicher Ansatz erfolgreich sein kann. (B) Meine dritte und letzte Bemerkung: Ich glaube – ge- (D) (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Wie wahr!) rade auch, wenn ich mir meine Partei ansehe –, wir haben Wir bemühen uns deshalb um eine möglichst kohärente manchmal vergessen, dassWirtschaftswachstum Gesamtpolitik, auch wenn dies nicht einfach ist, und dies Grundvoraussetzung zur Armutsbekämpfung ist. Eine tun wir sowohl in der bilateralen Zusammenarbeit alsVielzahl von Ländern hat es bewiesen: Um ein langfristig auch im internationalen Rahmen. Wir haben bereitshohes Wirtschaftswachstum zu erreichen, müssen und Schritte unternommen, unsere Entwicklungspolitik mög- wollen die Entwicklungsländer am Welthandel teilhaben lichst effizient mit anderen Politikfeldern zu vernetzen, und die positiven Effekte der Globalisierung ausschöpfen. um so den quantitativen und qualitativen Nutzen unserer Es geht also darum – ich zitiere den Präsidenten der Zusammenarbeit zu maximieren. Das zeigen zum Bei- Weltbank –, „die Herausforderungen der Einbeziehung“ spiel die Mitgliedschaft des Ministeriums im Bundessi- einer globalen Zukunftsfähigkeit zu meistern. Gemeint ist cherheitsrat und die Diskussionen und Entscheidungen damit die Notwendigkeit, die Entwicklung menschlich zu über Rüstungsexporte. gestalten und die Schwachen und Verletzlichen am Rande Meine zweite Bemerkung: Entwicklung braucht einen der Gesellschaft in die Mitte zu nehmen. Diesen Heraus- langen Atem. All das, was hier zum Beispiel zu Bolivien forderungen müssen wir uns stellen und dürfen Globali- oder Uganda eingefordert worden ist, eine ganz schnelle sierung nicht immer als Bedrohung für die Entwicklungs- Entschuldung, haucht genau nicht diesen langen Atem, länder begreifen. Herr Ruck. Ich bitte Sie, statt auf Schnelligkeit und Quan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tität auf Qualität zu setzen. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Es ist daher auch die Aufgabe der Entwicklungspolitik, wie bei Abgeordneten der SPD – unsere Partnerländer für den Weltmarkt fit zu machen. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Ja, d´accord!) Dazu unterstützen wir sie beim Aufbau einer leistungs- Entwicklung funktioniert nicht von heute auf morgen. fähigen Wirtschaft und treten für einumfassenderes Wir müssen akzeptieren lernen, dass sich hoch komplexe Mitspracherecht der Entwicklungsländer im internatio- gesellschaftliche Umwälzungsprozesse nur in kleinennalen Rahmen ein. Das heißt beispielsweise, dass wir uns Schritten vollziehen und nicht immer unserem europä- in bilateralen Projekten zur Kleingewerbeförderung ischen Entwicklungsraster entsprechen. Darum müssen ebenso wie bei der Gestaltung der Welthandelsordnung wir Geduld aufbringen und versuchen, auch alternative, für unsere und mit unseren Partnerländern engagieren. 9942 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid (A) Zugleich wollen wir mit unserer Entwicklungszu-Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirt- (C) sammenarbeit dazu beitragen, dass das wirtschaftliche schaft“. Wir sehen mit großer Freude, dass sich unter Ih- Wachstum im Einklang mit der Natur und sozial verträg- rer Führung, Frau Ministerin, das BMZ auf eine enge Zu- lich gestaltet wird. Somit leistet unsere Entwick-sammenarbeit mit dieser Kommission eingestellt hat. Wir lungspolitik einen Beitrag zur nachhaltigen Zukunftssi- erwarten davon fruchtbare Fortschritte. Ich bedanke mich. cherung für alle. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herzlichen Dank. DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weil wir erst am Anfang sind, ist das Zukunftsmusik. und bei der SPD) Deswegen möchte ich ein paar Worte zu dem sagen, was uns alle in den letzten zehn Jahren vor und nach dem Erd- gipfel in Rio de Janeiro insbesondere in Bezug auf die Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- nachhaltige Entwicklung beschäftigt hat. gen Ernst Ulrich von Weizsäcker, SPD-Fraktion, das Wort. In Sonntagsreden wird oft so getan, als gäbe es gar keine Zielkonflikte zwischen Umwelt und Entwicklung. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD): Herr Präsi- (V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss) dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich Die wunderschönen Worte „sustainable development“, danke insbesondere der Ministerin, Heidemarie nachhaltige Entwicklung, gehen einem leicht über die Wieczorek-Zeul, dass sie zum ersten Mal eine Regie- rungserklärung zum Thema Entwicklungszusammenar- Lippen. Aber in Wirklichkeit ist es sehr häufig so, dass beit abgegeben hat. Es ist ein symbolisch sehr wichtiger Entwicklung auf mehr und nicht etwa auf weniger Natur- Fortschritt. verbrauch hinausläuft. Wenn 6 Milliarden Menschen den Lebens- und Wirtschaftsstil erreichen, den wir vor- Aber wir können uns mit Symbolen nicht zufrieden ge- führen – gleichzeitig stellt sich Deutschland gerne als ben. Die Lage ist viel zu ernst. In vielen Ländern der Drit- Weltmeister im Umweltschutz dar –, dann ist die Erde ten Welt ist die Lage gefährlich gespannt. Die Globalisie- ökologisch am Ende. Das heißt, gerade bei uns müssen rung der Weltwirtschaft hat nicht etwa verhindert, son- wir eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Technolo- dern eher befördert, dass die Schere zwischen Arm und giestile entwickeln, damit nachhaltige Entwicklung welt- Reich, insbesondere innerhalb der Länder, weiter ausei- weit zustande kommen kann. nander klafft. Das weitere Aufklaffen dieser Schere ist eine der ganz großen Ursachen für gefährliche Konflikte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Insofern ist gerade im Kontext der Globalisierung Ent- DIE GRÜNEN) (B) (D) wicklung eine der besten Formen des Friedenserhalts. Für uns ist das ein Programm der Modernisierung. Für die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Entwicklungsländer ist es angesichts von Wasser– und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Energieknappheit sowie des Mangels an Geld für Roh- CDU/CSU) stoffimporte eine Frage des Überlebens. Ich sehe mit Ge- nugtuung, dass sich die deutsche Entwicklungszusam- Es ist besorgniserregend, wenn der globale Wettbe- menarbeit dieses Themas systematisch annimmt. werb um höchste privatwirtschaftliche Kapitalrenditen die Geberländer dazu veranlasst, einen Wettbewerb um (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sinkende Staatsquoten zu veranstalten und dabei auch DIE GRÜNEN) die Entwicklungshilfe zu kürzen. Herr Kollege Schlauch hat bereits die Wichtigkeit der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der internationalen Umweltabkommen erwähnt. Die Konven- PDS) tion zum Schutz der biologischen Vielfalt hat für die Was ist zu tun? Der schon genannteMeltzer-Bericht Nord-Süd-Beziehungen eine herausragende Bedeutung. geht exakt in die falsche Richtung. Der Norden muss dabei aufpassen, dass er seine eigene Glaubwürdigkeit nicht gefährdet. Mit Empörung haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Menschen in Südasien vor fünf Jahren reagiert, als das der CDU/CSU) Europäische Patentamt in München der amerikanischen Der Report behauptet unter lauter Beteuerungen, es gehe Firma Grace ein Patent auf das Öl aus dem Niembaum er- ihm um die Ärmsten, die meisten Länder hätten nun Zu- teilt hat, um es als Pestizid zu nutzen. Die Inder haben das gang zu den privaten Kapitalmärkten. Bei 15 Prozent Zin- Öl seit Jahrhunderten selbstverständlich genutzt. Nun sol- sen ist das eine zynische Strategie gegenüber den Ärmsten len sie auf einmal Patentgebühren dafür zahlen. und auch gegenüber der Umwelt und gegenüber jeder Das ist nun glücklicherweise ein Beispiel mit einem langfristig angelegten Entwicklungspolitik. Happy End; denn vor etwa zwei Wochen hat das Europä- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ische Patentamt dieses Patent widerrufen. Daraufhin der CDU/CSU) wurde vor zwei Tagen in Nairobi, wo gerade die Vertragsstaatenkonferenz über die Konvention zum Bildung, Forschung und Infrastruktur werfen keineSchutz der biologischen Vielfalt abgehalten wird, ein 15 Prozent Zinsen ab. Freudentanz aufgeführt und symbolisch ein Niembaum Entwicklungszusammenarbeit ist eines der großengepflanzt. Hier haben Nichtregierungsorganisationen aus Querschnittsthemen auch für die neugegründetedem Norden und dem Süden seit Jahren politischen Druck Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9943

Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid (A) ausgeübt und wesentlich dazu beigetragen, dass sich end- schließungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU (C) lich ein Politikwandel – in diesem Fall bis hin zum Euro- und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom- päischen Patentamt – vollzogen hat. men. Herr Kollege Hedrich hat vollkommen Recht, wenn er Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf sagt – das ist aber für die Regierung und für die sie tra- Drucksachen 14/3128 und 14/3396 an die in der Tages- genden Koalitionsfraktionen überhaupt nichts Neues –, ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind dass die Rolle derNichtregierungsorganisationen gar Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die nicht überschätzt werden kann. Ohne die Kooperation Überweisungen so beschlossen. zwischen der demokratischen Öffentlichkeit in den Staa- ten und den Nichtregierungsorganisationen wäre ein sol- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 d auf: cher Fortschritt völlig undenkbar. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ richts des Ausschusses für Angelegenheiten der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der neuen Länder CDU/CSU und der PDS) (17. Ausschuss) Die Globalisierung beschert uns ein spannendes und – zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung neuartiges Dreieck zwischen dem Staat, der Wirtschaft Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum und der Zivilgesellschaft. Staat und Zivilgesellschaft Stand der deutschen Einheit müssen ein großes Interesse daran haben, dass insbe- sondere im internationalen Wirtschaftsgeschehen mehr – zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- Transparenz einzieht. Eine der unter Globalisierungsge- NIS 90/ DIE GRÜNEN sichtspunkten interessantesten Nichtregierungsorganisa- Fortsetzung der Berichterstattung der Bundes- tionen ist vor einigen Jahren in Berlin gegründet worden, regierung zum Stand der deutschen Einheit nämlich Transparency International, eine Nichtregie- rungsorganisation, die sich spezifisch mit der Be- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael kämpfung des Betrugs und der Korruption beschäftigt. Luther, Dr.-Ing. Paul Krüger, Günter Nooke, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des CDU/CSU BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ Weiterführung des Jahresberichtes der Bun- CSU und der PDS) desregierung zum Stand der deutschen Einheit Die Weltbank und die deutsche Entwicklungszusam- (B) – Drucksachen 14/1825, 14/2238, 14/1715,(D) menarbeit kooperieren auf das Engste mit Transparency 14/2608 – International, um die Glaubwürdigkeit der Geberländer, der Nehmerländer und der Privatwirtschaft wieder herzu- Berichterstattung: stellen. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass eine Abgeordnete Dr. Mathias Schubert Nichtregierungsorganisation die Politik wesentlich mit- Dr. Michael Luther gestalten kann. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Michael Luther, Dr. Angela Merkel, , weiterer Abgeordneter und der Frak- Der Druck von demokratischen Öffentlichkeiten, Kon- tion der CDU/CSU sumentengruppen und sogar von Investoren auf die Pri- vatwirtschaft ist entscheidend dafür, dassEntwicklung Investitionsförderung verstetigen – regionale und Frieden weltweit zustande kommen. „Frieden Wirtschaftsstrukturen stärken braucht Entwicklung“, so heißt es sowohl in der Regie- – Drucksache 14/2242 – rungserklärung als auch in unserem Antrag. Frieden und Überweisungsvorschlag: Entwicklung in einer globalisierten Wirtschaft brauchen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder (f) den Frieden stiftenden Druck der demokratisch gesinnten Finanzausschuss Kräfte der Öffentlichkeit in Nord und Süd. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vielen Dank. Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordne- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ten der CDU/CSU) richts des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Kurt-Dieter Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- sprache. Grill, Dr. Angela Merkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wir kommen zur Abstimmung über den Entsch- ließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Strompreise in Deutschland angleichen – neue Die Grünen auf Drucksache 14/3388. Wer stimmt Stromsteuern im Osten aussetzen dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ent- – Drucksachen 14/1314, 14/2404 – 9944 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Vizepräsidentin Petra Bläss (A) Berichterstattung: zeigen, dass der Osten auf dem richtigen Weg ist. Das ist (C) Abgeordnete Dr. Mathias Schubert keine Schönfärberei. Natürlich gibt es daneben noch Dr. Michael Luther schmerzhafte Anpassungsprozesse, vor allen Dingen in Werner Schulz (Leipzig) der ostdeutschen Bauwirtschaft, die auf die Arbeitsmarkt- Jürgen Türk situation des gesamten Ostens durchschlagen. Gerhard Jüttemann Aber die Trendwende ist geschafft. Die positiven Sig- d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nale sind überdeutlich. Die Industrie in den neuen Bun- desländern wächst schon heute schneller als die im Wes- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- ten. Die in den letzten Wochen und Monaten gelegentlich nologie (9. Ausschuss) geäußerten Befürchtungen, die neuen Länder könnten auf – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul Dauer vom Wirtschaftswachstum und von der steigenden Krüger, Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke), Beschäftigung im Land abgekoppelt sein, sind deshalb Dr. Michael Luther, weiterer Abgeordneter und unbegründet. der Fraktion der CDU/CSU (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Förderung technologieorientierter Unterneh- Dies wird beispielsweise dadurch deutlich, dass das mensgründungen in den neuen Ländern fort- mittelständisch geprägte verarbeitende Gewerbe in Ost- setzen deutschland im ersten Quartal dieses Jahres einenPro- – zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, duktionsanstieg von 13,3 Prozent gegenüber dem Vor- Dr. Christa Luft, Ursula Lötzer, weiterer Abgeord- jahr verbuchen konnte. neter und der Fraktion der PDS (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Förderung und Unterstützung von techno- BÜNDNISES 90/DIE GRÜNEN) logieorientierten Unternehmensgründungen Das ostdeutsche verarbeitende Gewerbe wächst damit fast (FUTOUR) bedarfsgerecht weiterentwickeln zweieinhalbmal so schnell wie das in den alten Bundes- – Drucksachen 14/1594, 14/2152, 14/2954 – ländern. Das gleiche Bild zeigt sich erfreulicherweise bei Berichterstattung: den Auftragseingängen und bei den Erwartungen der ost- Abgeordnete Jelena Hoffmann deutschen Unternehmen. Ich erinnere an das letzte Kon- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die junkturbarometer, das vor kurzem im „Handelsblatt“ er- Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre schienen ist. Ich sage ganz klar: Der Osten ist auf dem keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. richtigen Weg. (B) (D) Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser De- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) batte ist der Staatsminister Rolf Schwanitz. Besonders freut mich: Das schlägt auch auf denEx- port durch – jahrelang eine große Schwachstelle der ost- Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler: deutschen Wirtschaft. Mit einem Plus von 10,5 Prozent Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- verzeichnete das ostdeutsche verarbeitende Gewerbe ren! Wir diskutieren heute zum zweiten Mal den Bericht 1999 einen außerordentlichen Exporterfolg. Damit wuch- zum Stand der deutschen Einheit aus dem vergangenen sen die ostdeutschen Ausfuhren deutlich schneller als die Jahr. Ich will deshalb die Gelegenheit nutzen, einige An- Ausfuhren in den alten Bundesländern, und das übrigens merkungen zur aktuellen wirtschaftlichen Situation in den nicht nur in traditionellen Bereichen, in denen der Osten neuen Ländern und auch zur Angleichung der Lebensver- auch in der Vergangenheit schon stark war: beispielsweise hältnisse zu machen, einem Thema, das die Ostdeutschen beim Maschinenbau, bei der Elektronik oder im Fahr- sehr bewegt. zeugbau. Die ostdeutschen Ausfuhren stiegen auch in Be- Dabei hat für die Menschen die Angleichung der Ein- reichen der so genannten Spitzentechnologie: in der Me- kommen natürlich ein ganz besonderes Gewicht. Was den dizintechnik, in der Optik oder auch in der Datenverar- öffentlichen Dienst betrifft, sind wir zurzeit in derbeitung. Ostdeutsche Produkte fassen zunehmend auf den Schlichtung. Ich persönlich habe in den zurückliegenden internationalen Märkten Fuß und sind in der Lage, den Monaten aus meinen Hoffnungen – bei aller gebotenen harten Wettbewerb zu bestehen. Zurückhaltung – keinen Hehl gemacht. Ich will deswegen Meine Damen und Herren, der Export wird zu einer zu Beginn meiner Rede ausdrücklich sagen: Ich bin sehr wichtigen Säule des Wachstums im Osten. Immer deutli- zuversichtlich, dass es den Tarifparteien gelingen kann, cher wird das verarbeitende Gewerbe zum Träger der eine Perspektive für die Angleichung aufzuzeigen, die – Konjunktur im Osten. Das ist die neue Qualität des das ist mir besonders wichtig – den finanziellen Leis- Wachstums. Darüber sollten wir alle uns in diesem Hause tungsmöglichkeiten der ostdeutschen Länder und Ge- freuen. meinden entspricht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Perspektiven für den Aufbau Ost sind gut. Immer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) deutlicher wird dasverarbeitende Gewerbe in Ost- deutschland zum konjunkturellen Zugpferd. Zweistellige Die Exportquote hat natürlich noch nicht den west- Wachstumsraten bei den wichtigsten Kennziffern, vom deutschen Wert erreicht; das ist völlig klar. Wir liegen et- Export bis hin zu den Ausbildungsplätzen im Handwerk, was über der Hälfte des Wertes in den alten Bundeslän- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9945

Staatsminister Rolf Schwanitz (A) dern. Im vergangenen Jahr stieg die Exportquote in Ost- nehmen in Ostdeutschland liegt weit unter dem westdeut- (C) deutschland auf 18,4 Prozent. In den ersten beiden Mona- schen Durchschnitt. Von einer weiteren Senkung des Spit- ten dieses Jahres stieg sie jedoch auf 20,7 Prozent. Das ist zensteuersatzes, wie von der Opposition gefordert, wür- ein gewaltiger Sprung, der zeigt, dass der Exportboom – den vor allen Dingen Unternehmen profitieren, die ein zu Herr Kollege Türk, wir haben im Ausschuss darüber ge- versteuerndes Einkommen von weit über 120 000 DM ha- redet –, der in den alten Bundesländern greift, nicht an ben. Diese, meine Damen und Herren, muss man in Ost- Ostdeutschland vorbeigeht. Auch das ist ein wichtiges Si- deutschland mit der Lupe suchen. Deshalb sage ich aus- gnal, meine Damen und Herren. drücklich noch einmal: Spitzenverdiener, die hier begüns- (Beifall bei der SPD) tigt werden sollen, sitzen überwiegend in den alten Bundesländern und nicht in Ostdeutschland. Deutlich sind auch die Signale hinsichtlich derBe- schäftigungssituation. Im verarbeitenden Gewerbe gibt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es einen Beschäftigungszuwachs; 1999 betrug der DIE GRÜNEN) Arbeitsplatzzuwachs rund 1,4 Prozent. Im Februar dieses Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zu einer aktu- Jahres lag die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden ellen Forderung, die von der CDU/CSU in dieser Woche Gewerbe bereits um 2,5 Prozent über dem Vorjahreswert. zu vernehmen war: Mit ihrer Forderung, im Zusammen- Auch hier gehen die Zahlen also nach oben; das ist die richtige Entwicklung. hang mit der Steuerreform entweder den Spitzensteuer- satz auf 35 Prozent zu senken oder den Solidaritätszu- (Beifall bei der SPD) schlag abzuschaffen, bricht bei der CDU eine klare an- Besonders freut mich, dass es auch bei denAusbil- tiostdeutsche Haltung durch. dungsplätzen positive Signale gibt. Nicht nur hat sich – (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der das haben wir mehrfach debattiert – über das wichtige Ju- CDU/CSU – [CDU/CSU]: Das gendsofortprogramm des letzten Jahres zum ersten Mal haben Sie doch selber auch vor zwei Jahren ge- die sich in den zurückliegenden Jahren immer weiter öff- fordert!) nende Schere zwischen Angebot und Nachfrage bei Aus- bildungsplätzen in Ostdeutschland wieder etwas ge-Sie wollen die Regierung im Vermittlungsausschuss schlossen, wenn auch nicht so wie in den alten Bundes- zwingen, entweder Spitzenverdiener, die in den alten ländern. In diesem Jahr – Sie haben die April-Zahlen vor Bundesländern sitzen, zu entlasten oder dem Solidarpakt kurzem debattiert – gibt es Signale, dass nun auch im be- die finanzielle Grundlage zu entziehen. Das tun Sie, trieblichen Bereich die Zahl der Ausbildungsplätze nach während wir gerade darangehen, einen zweiten Solidar- oben geht. Die regionalen Handwerkskammern melden, pakt auszuhandeln. (B) wie gestern geschehen, dass die Handwerksbetriebe auf- (D) grund der guten wirtschaftlichen Entwicklung fast (Beifall bei der SPD) 18 Prozent mehr Ausbildungsplätze als im Vorjahr anbie- Die Verlierer bei einer solchen Forderung, die Sie sich auf ten. Über diese positiven Signale sollten wir uns alledie Fahnen geschrieben haben, sitzen in beiden Fällen in freuen, meine Damen und Herren. Ostdeutschland. Ich habe die Debatte gestern aufmerksam (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verfolgt. Sie haben nichts zu dieser Forderung gesagt. Ich DIE GRÜNEN) bin gespannt, ob Sie sich hier hinstellen, vielleicht auch in der Person der Parteivorsitzenden, und diese Forderung Dieser Erfolg kommt nicht von selbst. Dahinter stehen zurücknehmen; sie zeugt nämlich eindeutig von einer in erster Linie – ich sage das ganz deutlich – die harte Ar- feindlichen Haltung gegenüber dem Osten. beit und der Einsatz der Ostdeutschen und natürlich auch die konsequente Politik der Förderung des Aufbaus Ost, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit, die wich- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – tige aktive Arbeitsmarktpolitik, die Verstärkung von For- Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Unfug!) schung und Entwicklung in Ostdeutschland und schließ- lich die Gründung von innovativen Unternehmen sowie Zum Schluss möchte ich noch ausdrücklich sagen, die die gezielte steuerliche Entlastung von kleinen und mit- Förderung und die Unterstützung vor allen Dingen inno- telständischen Unternehmen, die Kernpunkt unserervativer Prozesse bleiben ein ganz zentraler Punkt beim Steuerreform ist. Deshalb werden wir an diesem Kurs, Aufbau Ost. Ich bin sehr froh, wie gut, wie umfangreich meine Damen und Herren, ausdrücklich festhalten. und wie durchschlagend gerade auch die neu konzipierten Förderprogramme des Bundes dabei greifen. Ich möchte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dabei das Thema Inno-Regio wenigstens noch einmal an- DIE GRÜNEN) sprechen. Insbesondere ertragsschwache kleinere und mittlere Unternehmen – von ihnen gibt es in den neuen Ländern Vizepräsidentin Petra Bläss:Herr Staatsminister, bekanntlich überproportional viele – profitieren von der gestatten Sie, bevor Sie das tun, eine Zwischenfrage der schrittweisen Senkung des Eingangssteuersatzes aufKollegin Dr. Luft? 15 Prozent und von der Anhebung des Grundfreibetrags. Gerade in Ostdeutschland versteht übrigens niemand, worin der Vorteil einer weiteren Senkung des Spitzen- Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler: steuersatzes liegen soll. Die Ertragssituation der Unter- Ich würde dieses gerne im Zusammenhang beenden. 9946 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss: Sie können die Zwi- sich nicht über schönes Wetter, sondern reparieren die(C) schenfrage nur jetzt zulassen, denn danach ist die Rede- Dächer möglichst schnell. Herr Bundeskanzler, das haben zeit vorbei. Sie bisher versäumt. Der Bundeskanzler hat in der vergangenen Woche hier Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler: im Hause deutlich gemacht, welche Bedeutung er den Ich möchte trotzdem im Zusammenhang vortragen. neuen Ländern zumisst. Im Zusammenhang mit einigen Zahlen über Wirtschafts- und Ausbildungsplätze sprach Ich bin sehr froh, wie gut Inno-Regio an dieser Stelle er, wie immer vermeintlich leicht und locker, von „bei uns greift. Die Überlegung, verstärkte Kooperationen aufzu- im Westen“ und damit implizit von den Ostdeutschen als bauen und Netzwerke zwischen Wirtschaft, wissenschaft- „ihr“ und „euch“. lichen Einrichtungen und Verwaltungen zu knüpfen, ist ein richtiger Schritt gewesen. Bei vielen Besuchen dieser (Sabine Kaspereit [SPD]: Was ist denn das für Projekte vor Ort merkt man, dass ein Ruck durch die Re- eine Polemik?) gion geht und es als etwas Wichtiges und Neues, als eine Herr Gysi musste den Kanzler daran erinnern, dass auch Chance begriffen wird, solche Innovationsprozesse aus der Osten zu Deutschland gehört. Wenn die Sache nicht so den Regionen heraus zu entwickeln. ernst wäre, könnte man lästern: Hier sind alte und neue Deswegen, meine Damen und Herren, sage ich aus- Spalter unter sich. Aber ich glaube, wir alle sind uns ei- drücklich: Wir sollten diese Erfolge nicht kleinreden und nig – nicht nur in dieser Debatte über die deutsche Ein- auch nicht vor dem Hintergrund einseitiger parteipoliti- heit –: Wir in Deutschland gehören zusammen; wir sind scher Interessen die wirtschaftliche Situation schlechtre- gemeinsam für Erfolg und Misserfolg verantwortlich. den. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Klaus Haupt [F.D.P.]: Aber auch nicht vorbei- Der Aufbau Ost geht uns alle an. Er bleibt eine Aufgabe reden!) für alle Deutschen. Damit meine ich nicht, der Westen gibt Die Signale sind klar: Die Entwicklung im Osten zieht an das Geld und der Osten gibt es aus. Vielmehr geht es da- und die Menschen, die dafür vor Ort in Ostdeutschland rum, diese Aufgabe als materielle und geistige He- gesorgt haben, können zu Recht auf diese Entwicklung rausforderung für alle – im Westen wie im Osten der Re- stolz sein. publik – zu begreifen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Während die einen denken, dem Osten gehe es schon DIE GRÜNEN – Dr.-Ing. Rainer Jork viel zu gut, kommen die anderen aus dem Zustand des CDU/CSU: Wir sollten aber auch auf Schönfär- Klagens und des Selbstmitleides nicht heraus. Weder Jam- (B) berei verzichten!) mern noch Schönreden, sondern Fakten sind gefragt.(D) Diese Fakten, Herr Bundeskanzler, sind bedrückend. Al- lein im April – und das bei schönem Wetter – gab es Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort für die Frak- 55 000 mehr Arbeitslose als vor Jahresfrist. Die Ju- tion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Günter Nooke. gendarbeitslosigkeit im Osten ist um 20 Prozent gestie- gen. Das sind Ihre Arbeitslosen, Herr Bundeskanzler. Günter Nooke (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsi- (Beifall bei der CDU/CSU) dentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Ihnen scheint die Rede nicht so sehr gefallen, zumindest Ihre Zahl nimmt ständig zu. Aber die Menschen im Osten Sie nicht überzeugt zu haben. Ihr Gesichtsausdruck zeigte haben dafür kein Verständnis. Sie wollen teilhaben an der jedenfalls keine Begeisterung. wirtschaftlichen Entwicklung und sich in die Gesellschaft einbringen. Die CDU/CSU-Fraktion wird der Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU – Susanne Kastner lung auf dem Arbeitsmarkt nicht einfach tatenlos zusehen. [SPD]: Von Ihrem Gesichtsausdruck sind wir Wir werden nicht zulassen, dass Sie auf diese Weise den auch nicht begeistert! – Weitere Zurufe von der Radikalen von links und rechts die Wähler zutreiben. Wir SPD) werden uns mit eigenen Konzepten einmischen. Bezüglich der Ausführungen zumSolidaritätszu- (Beifall bei der CDU/CSU – Ingrid Holzhüter schlag möchte ich anmerken, dass es hier darum geht, [SPD]: Hätten Sie einmal Ihr Dach gedeckt! dass wir das Geld für den Osten organisieren. Entschei- Dann sähe das heute anders aus!) dend ist, was hinten herauskommt. Wenn sich am Ende Bleiben wir erst einmal bei den Zahlen. Unglaublich nebenbei auch eine Vereinfachung beim Steuerrecht erge- viel wurde erreicht, dank der Initiative der Menschen in ben sollte, haben wir überhaupt nichts dagegen. den neuen Bundesländern, dank der Hilfe aus West- Bei seiner Regierungserklärung hat sich der Bundes- deutschland und dank der alten Bundesregierung unter kanzler letzte Woche über schöneArbeitsmarkt- und . Wirtschaftszahlen gefreut. Dabei gab es bei objektiver (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Betrachtung – das entspricht ja auch dem, was jetzt hier SPD: Ach!) gesagt wurde – dazu überhaupt keinen Grund. Mir kam das vor, als wenn sich der Besitzer eines Hauses, dessen Wir dürfen aber am Ernst der derzeitigen Lage nicht vor- Dach undicht ist, über eine bessere Großwetterlage freut, beireden, so wie es Staatsminister Schwanitz gerade getan weil es dann weniger hereinregnet. Nein, zur Freude gibt hat. Während die Arbeitslosenquote doppelt so hoch ist es längst noch keinen Anlass. Kluge Hausbesitzer freuen wie in Westdeutschland, beträgt das Gesamtsteuerauf- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9947

Günter Nooke (A) kommen je Einwohner weniger als 30 Prozent von dem Realität, Herr Bundeskanzler. Da hilft es wenig, mit der (C) der westdeutschen Länder. In Westdeutschland wird jähr- Scheinlösung Green Card gute Leute aus Indien abzuwer- lich mehr Vermögen vererbt, als in ganz Ostdeutschland ben. Eines zeigt doch Ihre Kampagne auch: So attraktiv vorhanden ist. wie Deutschland einmal vor Jahrzehnten für jugoslawi- sche Putzfrauen oder türkische Gemüsehändler war, ist es Der teilungsbedingte Nachholebedarf bei derInfra- für indische Computerspezialisten lange nicht. Das hat struktur wurde kürzlich von den führenden Wirtschafts- Gründe. Deutschland ist im internationalen Vergleich kei- forschungsinstituten mit etwa 40 bis 45 Prozent berech- neswegs immer Spitze, sondern meist nur Mittelklasse. net. Das sind keine akademischen Zahlen. Sie zeigen viel- mehr konkret den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung (Susanne Kastner [SPD]: Sie auch!) in den neuen Ländern. Der Sachverständigenrat hat 1999 Wenn einer aus dem Ausland rein will, dann darf er nicht. festgestellt, dass Personen- und Gütertransporte in den Das muss sich ganz schnell ändern. neuen Ländern durchschnittlich 20 Prozent zeitaufwendi- ger sind als in den alten Ländern. Die Zahlen sehen also Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, warum die Situa- nicht gut aus. tion in den neuen Bundesländern besonders schlimm ist. Beim größten ostdeutschen Unternehmen, dem ostdeut- Doch die Regierung hat auch hier Glück: Eine verant- schen Braunkohleverstromer VEAG – mit 6 500 Arbeits- wortliche Opposition hat kein Interesse daran, den Stand- plätzen von 20 000 Beschäftigten im Bereich der Braun- ort neue Bundesländer kaputtzureden. Ich fordere Sie, kohlewirtschaft insgesamt – verfolgte die Bundesregie- Herr Bundeskanzler, aber auf: Nehmen Sie sich einmal rung offenbar eine Strategie im Interesse westdeutscher ein paar Stunden Zeit und schauen sich diese Zahlen ge- protagonistischer Anteilseigner. nau an! (Susanne Kastner [SPD]: Wiederholen Sie das Herr Bundeskanzler, wir reden heute über Ihre Ver- mit den Protagonisten noch einmal! – Ingrid säumnisse beim Aufbau Ost. Holzhüter [SPD]: Ideologie des Kalten Krie- (Zuruf von der SPD: Oh!) ges! – Weitere Zurufe von der SPD) Der Wanderzirkus Ihres Kabinetts führt Sie meist nur zu Der Wirtschaftsminister hatte freie Hand, über ein Stabi- den fein gedeckten Tafeln in den Staatskanzleien derlisierungsmodell zu verhandeln, das fast ein Jahr Zeit kos- neuen Länder. tete – wertvollste Zeit, die andere Unternehmen zur Marktpositionierung nutzen konnten. Bundeswirtschafts- (Frank Hempel [SPD]: Was ist denn das für minister Müller hat hier auf das falsche Pferd gesetzt. ein Niveau?) (Susanne Kastner [SPD]: Die CDU hat heute Aber die Wirklichkeit ist sehr viel rauer. Um im Bild von auch auf das falsche Pferd gesetzt!) (B) vorhin zu bleiben: An unserem deutschen Haus ist das (D) Dach am Westgiebel undicht geworden. Der Ostgiebel ist Er kam zwar aus dem richtigen Stall, aber er lief auf der aber noch gar nicht gedeckt. Herr Bundeskanzler, Sie sind falschen Rennbahn. jetzt der Bauleiter. Bauen Sie dieses Haus Deutschland! (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Legen Sie die Pläne der Chefsache Aufbau Ost vor! Nen- Jürgen Türk [F.D.P.]) nen Sie Ihr Ziel! Die Verringerung der Arbeitslosigkeit kann es ja nicht sein; denn dann hätten Sie hier und heute Er wollte Atomausstieg mit Braunkohle verrechnen, aber Ihr Scheitern eingestehen müssen. hat dabei nicht beachtet, dass in der Politik nicht – wie in der Wirtschaft – die Bilanzen über die Macht, sondern die (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Macht über die Bilanzen entscheidet. Warum sollten denn der SPD) die westdeutschen Energiekonzerne frühzeitig Zuge- Erst wenn Sie wissen, was Sie wollen, lohnt es sich, ständnisse machen? Oder hat er wirklich gedacht, der qualifizierte Handwerker zu beauftragen und den Bau- grüne Koalitionspartner sei neben dem ideologisch be- fortschritt zu kontrollieren. Setzen Sie die richtigen Prio- gründeten Atomausstieg an einem tragfähigen energiepo- ritäten! Es reicht nicht aus, den Westgiebel zu streichen, litischen Gesamtkonzept interessiert? wenn die Ostseite noch offen ist. Keinem in Deutschland (Sabine Kaspereit [SPD]: Ein bisschen Sach- ist geholfen, wenn unser Haus nur auf einer Seite be- lichkeit würde dem Thema gut tun!) wohnbar ist. Wir haben ausländische Unternehmen zur Übernahme (Zurufe von der SPD) der VEAG-Anteile bereits zu einem Zeitpunkt aufgefor- – Das ist doch gerade unser großes Problem. Hören Sie dert, als uns die Bundesregierung noch weismachen einmal zu! wollte, das sei gar nicht nötig. Der Wirtschaftsminister fehlt heute, daher muss ich mich an den Herrn Chef- Nie zuvor in den letzten zehn Jahren haben so viele sachenkanzler wenden: Wie soll ich dieses Verhalten Menschen in den neuen Bundesländern daran gedacht werten, grob fahrlässig oder bedingt vorsätzlich? Das ist wegzuziehen. Die Prognose ist niederschmetternd: 1 Mil- eine Frage, auf die wir eine Antwort erwarten, und zwar lion Menschen in den nächsten zehn Jahren. Gerade die nicht hier, sondern in Form von Ergebnissen. jungen und gut ausgebildeten Menschen verlassen Ost- deutschland. Leerstand und Geisterstädte in Ostdeutsch- Wer verhandelt eigentlich mit den Wettbewerbsbehör- land sind die Folge. Anders als 1990 gehen sie nicht nur den und bemüht sich, dass ein großes Regionalversor- nach Westdeutschland, sondern auch nach Übersee.gungsunternehmen mit abgegeben werden muss, damit Deutschland verliert viel zu viele gute Leute. Das ist die die VEAG einen eigenen Zugang zu den Kunden erhält? 9948 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Günter Nooke (A) Sorgen Sie dafür, dass – nachdem 1990 den westdeut- desländern werden dadurch tagtäglich zusätzlich belastet, (C) schen Stromkonzernen erlaubt wurde, die DDR-Staats- weil sie weite Wege zurücklegen müssen. Die Umbrüche monopolisten unter sich aufzuteilen – wenigstens ein in- auf dem Arbeitsmarkt fordern auch heute noch diesen ho- ternational wettbewerbsfähiges Stromunternehmen inhen Tribut. Immerhin sind heute 80 Prozent der Menschen Ostdeutschland übrig bleibt. im Osten nicht mehr dort beschäftigt, wo sie vor der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wende beschäftigt waren. Die Menschen wollen bei ihrer Frank Hempel [SPD]: Sagen Sie das dem Alt- Flexibilität aber nicht überproportional durch höhere kanzler!)) Spritkosten belastet werden. Auch dort könnte man den Menschen helfen. Ebenfalls nicht vergessen sind Wir erwarten nicht Geld von Eichel, um die VEAG als ei- überproportionale Belastungen im Bundeshaushalt 2000, genständiges Unternehmen zu erhalten, sondern einfach die der Osten zu tragen hat. Dies nennt die Bundesregie- Engagement der Bundesregierung. rung „wirksame Impulse“. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Wie soll es weitergehen? Die Pressespatzen pfeifen es bereits von den Dächern: Mit dem Thesenpapier des Bun- Der Aufbau der neuen Länder braucht endlich wirk- desfinanzministers „Aufbau Ost – Perspektiven der För- same Impulse. Ein West-Ost-Gefälle kann nicht hin- derung durch den Bund“ sollen weitere Programme für genommen werden. die neuen Länder zurückgeführt werden. Dies ist ein Zitat aus dem Arbeitsprogramm der Bundes- Aufbau Ost verkommt zunehmend zum Rückbau Ost. regierung von 1999. Schön, dass wir in dieser Aussage Wenn dies nicht der Wahrheit entsprechen sollte, fordere übereinstimmen. Doch, wie gesagt, nicht an ihren Worten, ich den Bundesfinanzminister auf, zu bestätigen, dass es sondern an den Taten sollt ihr sie erkennen – und die Bi- mit ihm bis zum Jahre 2004 keine weiteren Kürzungen lanz fällt eindeutig aus! beim Aufbau Ost geben wird. Ich sage Ihnen bereits jetzt: Der Bundesfinanzminister wird eine solche Zusage nicht Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Nooke, geben. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Luft? Noch eine klare Bemerkung zumSparen, weil mich das gestern wirklich geärgert hat. Günter Nooke (CDU/CSU): Jetzt erst einmal nicht. (Susanne Kastner [SPD]: Sie ärgern mich (Zurufe von der SPD und der PDS) schon seit zehn Minuten!) (B) Wollten Sie zur VEAG fragen, Frau Luft? Wir waren und sind nicht gegen das Sparen. Im Gegenteil, (D) (Dr. Christa Luft [PDS]: Nein, ich wollte Sie die Vorschläge der Unionsfraktion hätten sogar zu weni- zum Ost-West-Gefälle fragen!) ger Ausgaben im aktuellen Haushalt geführt als die Maß- nahmen der Bundesregierung. In den 80er-Jahren wuchs – Gut, dann bitte. unter Unionsführung der Schuldenstand des Bundes deut- lich langsamer als in den 70er-Jahren und auch langsamer Dr. Christa Luft (PDS): Herr Kollege Nooke, wie ist als der Schuldenstand in den Bundesländern. Ihre Position zu der aus den Reihen des Arbeitnehmerflü- gels der Christlich-Demokratischen Union erhobenen (Susanne Kastner [SPD]: Das entspricht ja Forderung – geäußert neulich von Ihrem Parteikollegen wohl nicht der Wahrheit! Das ist wohl völlig Eppelmann –, recht bald eine Ost-West-Angleichung bei falsch!) den Löhnen herbeizuführen? Ist das in Ihrer Fraktion in- – Das ist völlig richtig. – Aber Herr Eichel hat hier noch zwischen Mehrheitsposition oder ist das eine Einzel-etwas anderes erwähnt: Sie haben nämlich so getan, als meinung, mehr auf – was man immer uns vorwirft – po- hätten Sie das Sparen erfunden. Aber was er tut, ist nichts pulistische Wirkung gemünzt? Wie ist Ihre Meinunganderes, als die deutsche Einheit immer wieder schlecht- dazu? zureden. (Lachen bei der SPD) Günter Nooke (CDU/CSU): Sehr geehrte Kollegin Luft, das ist eine ernst zu nehmende Position in unserer – Hören Sie doch mal zu! Fraktion. Nur, ich rede hier nicht über das Verteilen, son- dern über den Standort Ostdeutschland und über Wirt- Er hat in der Steuerreformdebatte gefragt: Was werden schaftspolitik. unsere Kinder sagen, wenn sie 2010 deutlich mehr Schul- den haben als beispielsweise dänische Kinder? Ich kann (Lachen bei der SPD) Ihnen die Antwort geben. Unsere Kinder werden sagen: Deshalb müssen wir die Löhne im produktiven Bereich Wir beteiligen uns gern am Schuldenabbau. Ihr habt 1990 immer mit im Blick haben. mit der deutschen Einheit die richtige Entscheidung ge- troffen. Meine Kinder werden noch hinzufügen: Sonst Meine Damen und Herren, da ich so etwas vermutet wäre unsere Reise nach Amerika nämlich an Mauer und habe, lassen Sie mich noch einmal ausführen, was „belas- Stacheldraht hier kurz vor der Tür schon gescheitert. ten“ hier eigentlich heißt. Sinnbild dafür ist doch die Öko- steuer. Hunderttausende von Pendlern in den neuen Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9949

Günter Nooke (A) Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Es ist wahr, dass Sind ostdeutsche Arbeiter schlechter als Portugiesen oder (C) wir für die Wiedervereinigung und die damit verbunde- Polen? Ganz sicher nicht. nen Kosten Schulden gemacht haben. Ich bereue keine (Sabine Kaspereit [SPD]: Was hat denn das einzige Mark für den Aufbau Ost. Ich kenne niemanden in damit zu tun?) der Union, der diese Ausgaben bereut, selbst wenn wir mit dem Wissen von heute sagen, vielleicht wäre das eine oder Die Bundesregierung koppelt Ostdeutschland nicht nur andere auch effizienter gegangen. von Westdeutschland, sondern genauso von Europa ab. Eigentlich wollten die Menschen in den neuen Bundes- Wir haben keinen Unsinn finanziert. Wir haben nach ländern den Abstand zum Westen verringern und nicht all den großen deutschen Misserfolgen – und davon gibt von Polen eingeholt werden. Die neuen Länder müssen es genug – das größte, sinnvollste und friedlichste Projekt also stärker am Exportboom teilhaben; da sind wir uns si- finanziert, das Deutschland im 20. Jahrhundert jemals mit cher einig mit der Bundesregierung. Der Anteil der neuen eigener Kraft betrieben hat. Länder am gesamtdeutschen Außenhandelsumsatz ist aber mit circa 6 Prozent weiter viel zu niedrig. Im verar- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) beitenden Gewerbe liegt der Anteil des Auslandsumsatzes Wir haben etwas zu reparieren versucht, was zuvor zwei am Gesamtumsatz bei nur 18 Prozent. Damit ist er um die Diktaturen in Deutschland angerichtet haben. Die deut- Hälfte niedriger als die vergleichbare Exportquote west- sche Einheit ist deshalb keine Schuldenlast, sie ist eine deutscher Unternehmen. historische Investition in die Zukunft Deutschlands und (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: eines neuen Europa. Hört! Hört!) Wir sind noch beim Stichwort „belasten“. Auf der Ein- Westdeutschland ist Exportweltmeister, Ostdeutsch- nahmeseite will der Bundesfinanzminister beispielsweise land spielt in der Regionalliga. Da wirkt es schon zynisch, die Preise für Bundeseigentum massiv erhöhen und da- wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung mit den gleichen Effekt erzielen: Mehreinnahmen für die letzte Woche gesagt hat: Lasst uns ein bisschen Freude da- öffentliche Hand und Belastungen für die Bürger. Konn- ran haben, dass es unserer Exportwirtschaft gut geht. ten Erwerber von land- und forstwirtschaftlichen Flächen (Zuruf von der SPD: Das, was Sie sagen, in den neuen Ländern noch bis Ende 1998 Flächen um bis ist zynisch!) zu 65 Prozent verbilligt erwerben und damit sowohl die Die frühzeitige Stärkung des ostdeutschen Exportes Nachteile der Vergangenheit ausgleichen wie auch den hätte zu einer wesentlich stärkeren Partizipation Ost- Aufbau landwirtschaftlicher Betriebe stützen, so schnei- (B) deutschlands geführt. Ich erinnere an den Antrag unserer (D) det die Bundesregierung nunmehr dieses Programm auf CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Absatzförderung Ost, maximal 35 Prozent zurück. Selbst in bereits abgeschlos- den wir zuerst vorgelegt haben. sene Kaufverträge wird eingegriffen. (Frank Hempel [SPD]: Ach! Zwei Minuten (Dr. Mathias Schubert [SPD]: Sie wissen doch, vor uns!) woran das liegt!) Bereits 1999 wurde die Entwicklung verschlafen. Die Noch ein konkretes Beispiel: „Chancen verspielt“.Weichen wurden falsch gestellt, bei der EU-Osterweite- Deutschland profitiert vom Export, so die führenden Wirt- rung wurden keine klaren Aussagen getroffen. Da muss schaftsinstitute in ihrem aktuellen Frühjahrsgutachten. man sich über die negative Wirtschaftsentwicklung in Der schwache Euro trägt – ob gewollt oder ungewollt – Bezug auf die mittel- und osteuropäischen Staaten dazu bei. Die wesentlichen Zahlen sind bekannt, aber ich nicht wundern. Betrug der Export 1998 noch 98 Milliar- will sie wiederholen: Die Prognose für Deutschland liegt den DM, so betrug er im Jahre 1999 nur noch 84 Milliar- den DM. mit 2,8 Prozent pro Jahr merklich unter den Wachstums- raten Europas. Was ist zu tun, um den Aufbau Ost wieder voranzu- bringen? Die Zahlen in den Ländern des Ostens Deutsch- Was die Bundesregierung als Erfolg feiert, ist in Wahr- lands sind nicht gut. Aber das Ziel kann nur eine sich heit die weitere Abkoppelung vom europäischen Wachs- selbst tragende Wirtschaftsentwicklung sein. Heute feh- tumspfad. Es kommt schlimmer: Es ist in Wahrheit vor al- lende Investitionstransfers sind schon morgen Sozial- lem auch die weitere Abkoppelung Ostdeutschlands von transfers. Die neuen Länder bleiben auf absehbare Zeit den gesamtdeutschen und weltwirtschaftlichen Chancen. eine große nationale Herausforderung, eine Aufgabe, die Denn das ostdeutsche Wachstum wird 2000 und 2001 weit Regierung und Opposition gleichermaßen fordert. Wir unter den 2,8 Prozent für Gesamtdeutschland liegen.sind bereit, mit Ihnen zusammen Bilanz zu ziehen und aus Nach den bescheidenen 1,2 Prozent in den ostdeutschen den Erfahrungen der letzten zehn Jahre die richtigen Flächenländern im Jahre 1999 wird das Inlandsprodukt Schlüsse für die Zukunft abzuleiten. Wir wollen keine Ge- wohl durchschnittlich nur um 2 Prozent in 2000 zuneh- gensätze konstruieren, wo keine sind, sondern klare men. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt in Spa- Schwerpunkte setzen. nien wird mit 3,9 Prozent ungefähr doppelt so stark stei- Ganz kurz die wichtigsten Punkte. Wir brauchen eine gen wie das in Ostdeutschland. In Portugal sind Förderpolitik es aus einem Guss. Die Leistungen für die 3,5 Prozent, 4,8 Prozent in Polen und 5 Prozent in Ungarn. neuen Länder, die Staatsminister Schwanitz in der Liste 9950 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Günter Nooke (A) zusammengefasst hat, müssen im kommenden Haushalt sondern zum Beispiel auch für ostdeutsche Dienstleistun- (C) erhalten bleiben. Mit Mogelpackungen sollte es erst gar gen. nicht versucht werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Nooke, Sie sind jetzt schon weit über die Redezeit. Ich bitte Sie, Wir sollten uns zunehmend von der Vorstellung tren- zum Schluss zu kommen. nen, der Osten müsse den Westen kopieren und ihn da- durch einholen. Wer ständig Vergleiche zieht und merkt, (Ingrid Holzhüter [SPD]: Aufhören!) dass der Abstand sogar größer wird, fällt weiter zurück. Diese auch mentale Sperre muss überwunden werden. (CDU/CSU): Es gab ja eine Zwi- Vielleicht stimmt die Formel „Überholen, ohne einzuho- Günter Nooke schenfrage. len“ ja doch. Wir erleben den Wechsel von einer Industrie- zu einer Wissens- und Ideengesellschaft. In diesem Pro- Ich möchte das noch zu Ende führen: Wir müssen zess müssen wir neue Ziele definieren; industrielleDienstleistungen, Anwaltsleistungen und auch Versiche- Leuchttürme bleiben wichtig, Hightech-Signale sind ge- rungsleistungen in Ostdeutschland einkaufen. nauso notwendig. Es geht darum, in den Zukunftsberei- Ich lasse aufgrund der fortgeschrittenen Zeit die ande- chen sowohl schneller als auch besser zu sein. Das mag unrealistisch klingen; aber nur wer das Unmögliche an- ren Punkte, die ich noch nennen wollte, weg. strebt, kann das Mögliche erreichen. (Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gleichwohl braucht eine solcheFörderpolitik auch NEN]: Ende!) künftig ein solides Fundament. Die Zahlen zu Beginn ha- Ich möchte aber an dieser Stelle noch auf Folgendes deut- ben es deutlich gemacht: Investitionen in die Infrastruktur lich hinweisen. sind das A und O. Investitionen in Straßen, Schienen, Datenautobahnen bleiben für eine Volkswirtschaft überle- bensnotwendig. Sie stärken den Standort Ost und regen zu Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Nooke, neuen Ansiedlungen an. Haben Sie den Mut, Herr Bun- ich muss Sie wirklich bremsen. Sie hatten eine reichliche deskanzler, künftig weniger Geld für den zweiten undRedezeit und die ist jetzt vorbei. dritten Arbeitsmarkt und mehr für den ersten Arbeits- (Zurufe von der SPD) markt zur Verfügung zu stellen! (Susanne Kastner [SPD]: Den haben Sie ewig Günter Nooke (CDU/CSU): Wir müssen das nächste (B) zurückgefahren und jetzt viele Sprüche ma- Mal über die in den neuen Bundesländern im Bildungs- (D) chen! – Sabine Kaspereit [SPD]: An Ihren ABM und Studienbereich bestehenden Fehlentwicklungen spre- knabbern wir noch heute!) chen. Da sehen die SPD-geführten Länder ganz schlecht Die Menschen verdienen echte Perspektiven in Dauerar- aus. beitsplätzen. (Susanne Kastner [SPD]: Nun ist aber (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Schluss!) Die Luftbuchungen bei der Bundesanstalt für Arbeit kann Während die CDU-geführten Länder das Abitur nach ich überhaupt nicht akzeptieren. Wirklich neue Arbeits- zwölf Jahren übernommen haben, haben die SPD-geführ- plätze schafft nämlich nur die Wirtschaft. ten Länder Wettbewerbsvorteile leichtfertig aus der Hand gegeben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Diesen Punkt halte ich für äußerst wichtig. Wir sollten Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Nooke, den Bürgern nicht den Eindruck vermitteln, die öffentli- ich muss Sie noch einmal erinnern. che Hand allein könne mit Steuergeldern den weiteren Aufbau der neuen Bundesländer bewältigen. Die Politik kann Impulse geben, sie kann anregen und überzeugen. Günter Nooke (CDU/CSU): Ich höre auf. Aber sie kann und darf sich nicht auf die Rolle des Heils- Ich möchte als Letztes einen Vorschlag machen: bringers festlegen lassen. Wir brauchen die Unterstützung der Wirtschaft, vor allem die der eigenen westdeutschen (Zurufe von der SPD: Nein!) Wirtschaft. Ich bin mir hier nicht zu schade, auch zu sa- gen: Wir müssen an den Patriotismus der Unternehmer in Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Nooke, Deutschland appellieren. ich möchte Ihnen nicht unbedingt das Mikrofon abschal- ten. Deshalb wäre es gut, Sie würden von sich aus das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Rednerpult verlassen. Bundeskanzler Kohl hatte diesen entscheidenden An- satz bereits 1993 erkannt, als er die Wirtschaft für den So- (CDU/CSU): Dann bedanke ich mich lidarpakt I mit an den Tisch geholt und dort Zusagen zu- Günter Nooke für Ihre Aufforderung. gunsten des Ostens erhalten hat. Wir brauchen eine Ein- kaufsoffensive nicht nur für ostdeutsche Produkte, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9951

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss:Zu einer Kurzinter- Ich habe ausgeführt, dass wir nicht einfach sagen kön- (C) vention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Schubert, nen, die Bauwirtschaft gehe zurück, da wir in Ost- SPD-Fraktion. deutschland diese Investitionen zum einen für den Aufbau der Infrastruktur und zum anderen für die Verbesserung Dr. Mathias Schubert (SPD): Herr Kollege Nooke, der Situation auf dem Arbeitsmarkt und für höhere Sie haben zu Beginn Ihrer Rede wörtlich gesagt – ich zi- Wachstumsraten bräuchten. Wir brauchen keine neue Ver- tiere –: „Eine verantwortliche Opposition hat kein Inte- teilungsdebatte, wie die Lohnangleichung aussehen muss. resse daran, den Standort neue Bundesländer kaputtzure- Vielmehr brauchen wir einen sich selbst tragenden Wirt- den.“ Ich stelle nach Ihrer Rede fest: Sie haben weiter schaftsaufschwung. Ich habe Sie aufgefordert, im Hin- nichts getan, als den Standort Ost schlechtzureden. blick auf all diese Punkte und auf den Export aus den ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gangenen zehn Jahren die richtigen Schlüsse zu ziehen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber was ich nicht machen kann, ist, die wirklich be- Sie haben nicht nur den Standort Ost schlechtgeredet, son- drückenden Zahlen schönzureden. Ich kann einfach nicht dern auch die gesamte Debatte ideologisiert. Sie sind auf- so tun, als sei das Problem Ostdeutschland mit dem Ge- grund Ihrer ideologischen Vorprägung nicht bereit, das, fälle zwischen Nord und Süd in Westdeutschland zu ver- was der Kanzleramtsminister im Hinblick auf die Daten gleichen. Das ist nicht richtig. Herr Schubert, wir müssen und Fakten in Ostdeutschland gesagt hat, positiv zu wür- uns klarmachen: Der Aufbau Ost ist eine nationale He- digen. Ich verlange von Ihnen als Opposition nicht, dass rausforderung. Das sollte Ihre Fraktion der Bundesregie- Sie Hurra schreien. Wenn Sie aber von uns und übrigens rung deutlich machen. Es kann nicht sein, dass der Auf- auch vom Bundeskanzler bau Ost so nebenher angegangen wird, keiner den zustän- (Zurufe von der CDU/CSU: Wo ist der denn? – digen Staatsminister kennt und der Kanzler in diesem Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Der muss re- Zusammenhang immer den Eindruck erweckt, als sei er gieren, Chefsache Ost!) gelangweilt. als Gesprächspartner ernst genommen werden wollen, (Widerspruch bei der SPD) dann verlange ich von Ihnen, dass Sie zumindest die Fak- Es geht darum – davon bin ich sehr überzeugt –, zu ver- ten zur Kenntnis nehmen. Das war der erste Punkt. hindern, dass der Osten Deutschlands zum Mezzo- Ein zweiter Punkt – er passt übrigens zu der ideologi- giorno wird. Es wäre nett, wenn der Kanzler in diesem sierten Unverantwortlichkeit, die Sie hier zum Besten ge- Sommer seinen Urlaubsaufenthalt von Positano nach Ost- geben haben –: Ich war gespannt auf Ihre Antwort auf die deutschland verlegen (B) von Ihnen gestellte rhetorische Frage: Was ist zu tun? Was (D) (Bundesminister Otto Schily: Das ist Sie in diesem Zusammenhang ausgeführt haben, verehr- ter Herr Nooke, war außer lauer Luft und der Aussage, doch billig!) dass die Politik nicht zuständig sei – auch das habe ich – das wäre doch gut – und sich dort einmal umschauen gehört – der Hinweis: Wir machen weiter so, wie das Herr würde. Es gibt dort schöne Ecken. Aber es gibt noch un- Kohl begonnen hat. Genau das ist ein wesentliches Pro- wahrscheinlich viel zu tun. blem dafür, weshalb wir zurzeit in Ostdeutschland nicht nur glänzen, sondern auch vor schwierigen Situationen Danke. stehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wenn Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die Ingrid Holzhüter [SPD]: Ihre Leute fahren nach Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen neue Amerika und der Kanzler soll nach Ostdeutsch- Wege eingeschlagen und neue Strategien ergriffen haben, land reisen!) die zu wirken beginnen, dann sind Sie für uns – es tut mir wirklich Leid – ein unverantwortlicher Oppositionspoliti- Vizepräsidentin Petra Bläss:Nächster Redner in ker, mit dem sich im Grunde genommen ein Dialog nicht der Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lohnt. der Kollege Werner Schulz. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Nooke, Günter Nooke, ich halte es für falsch, den Zustand der zur Erwiderung bitte. deutschen Einheit am Gesichtsausdruck des Kanzlers ab- lesen zu wollen. Günter Nooke (CDU/CSU): Sie hätten mich ja ausre- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den lassen können – ich hätte nur noch eine Minute ge- NEN und bei der SPD) braucht –, dann wäre dies jetzt nicht nötig gewesen, Herr Schubert. Das war schon früher nicht möglich. Da hing alles, (Lachen bei der SPD – Sabine Kaspereit [SPD]: (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hätten Sie mal Ihre Polemik weggelassen!) NEN und bei der SPD) 9952 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Werner Schulz (Leipzig) (A) obwohl es durchaus Aufwärtstendenzen gab. Aber ichzur Weiterführung des Jahresberichts der Bundesregie-(C) glaube, es ist falsch, wenn man den Aufschwung Ost als rung zum Stand der deutschen Einheit, so muss ich fest- eine politische Face-Lifting-Veranstaltung betrachtet. stellen, dass wir dies bereits 1995 gefordert haben. Da- mals haben Sie sich mit Händen und Füßen dagegen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wehrt, dass es überhaupt einen solchen Bericht gibt. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es handelt sich vielmehr um eine ernsthafte und anstren- und bei der SPD – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS gende Angelegenheit, von der ich glaube, dass wir sie 90/DIE GRÜNEN]: Da war der Nooke aber durch Parlamentsdebatten nicht allein voranbringen wer- noch nicht in dem Klub!) den – damit enttäusche ich dich aufgrund deines gerade gezeigten Einsatzes vielleicht –; denn dies hängt von der Jetzt kann er nicht lange genug weitergeführt werden. Leistungsbereitschaft und der Tatkraft der Leute in den Jetzt soll es ihn bis 2005 geben. Ich habe nichts dagegen. neuen Bundesländern und von den politischen Maßnah- Aber wir dürfen bestimmte Dinge nicht durcheinander men der Bundesregierung, auch dieser Bundesregierung, bringen. ab. Deshalb ist es nicht angebracht, alles pauschal in Ich erinnere an die Anpassung Strompreise. der Bausch und Bogen zu kritisieren. Günter Nooke, wir haben doch in der Volkskammer ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meinsam gegen den Stromvertrag gekämpft. und bei der SPD – Dr.-Ing. Paul Krüger (Günter Nooke [CDU/CSU]: Richtig!) [CDU/CSU]: Das hat auch keiner gemacht!) Das ist doch die Ursache dafür, dass es zur Lex VEAG, Es ist ein Pauschalvorwurf, wenn gesagt wird, diese dass es durch die erhöhten Strompreise zu einem Stand- Regierung habe kein Konzept. Ich kenne das, mir kommt ortnachteil für ostdeutsche Betriebe gekommen ist. Wo- das Ganze irgendwie sehr vertraut vor. mit wir es jetzt zu tun haben, ist das Abräumen von Feh- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/ lern der Regierung Kohl – um dies einmal ganz klar zu sa- DIE GRÜNEN) gen. Manchmal habe ich den Eindruck, als hätten wir nicht nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unsere Rollen getauscht, sondern zugleich auch unsere und bei der SPD) Texte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Schulz, des Abg. Jürgen Türk [F.D.P.]) gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nooke? (B) – Dass ich mich in meiner Kritik wiederhole, darf Sie (Susanne Kastner [SPD]: Schon wieder!) (D) doch wirklich nicht wundern. Einiges ist ja so geblieben; da muss noch nachgebessert werden. Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Anfang der 90er-Jahre war die Kritik, dass es keinNEN): Ja, bitte. Konzept gab, durchaus berechtigt. Aber mittlerweile gibt es ein Konzept. Und ein Bestandteil dessen ist, Günter (CDU/CSU): Das ist ein wichtiges Nooke, dass wir mit den erfolgreichen Teilen der alten Günter Nooke Thema. Ich glaube nicht, dass sich die deutsche Strom- Bundesregierung, die es ja gegeben hat – das stellen wir wirtschaft mit Ruhm bekleckert hat, wenn es um die deut- überhaupt nicht in Abrede –, fortfahren. sche Solidarität zwischen Ost und West geht. Das will ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ganz deutlich sagen. sowie bei Abgeordneten der SPD und der Herr Kollege Schulz, es ist mir schon wichtig, dies zu CDU/CSU) sagen, auch da Staatssekretär Tacke jetzt hier ist: Dieses Zudem gibt es einen Reparaturplan, also einen Plan, was Jahr, das wir durch die VEAG verloren haben, weil ein wir alles in Ordnung bringen, wo es Fehler und Fehlallo- unsägliches Stabilisierungsmodell umzusetzen versucht kationen gegeben hat. Das ist Ihnen bekannt. Wir haben ja wurde, welches jetzt gescheitert ist, geht zu Ihren Lasten. gerade bezüglich der Entwicklung der Kapazitäten in der (Susanne Kastner [SPD]: Was wollen Sie denn Bauwirtschaft damit zu kämpfen, dass Kapital auf der jetzt fragen?) grünen Wiese im wahrsten Sinne des Wortes in den Sand gesetzt worden ist. Die Überkapazitäten, dieserStimmen Sie mir darin zu, Herr Werner Schulz, dass es Normalisierungsprozess im Bauwesen, haben also mit nicht nur in der Vergangenheit Fehler gegeben hat, son- den Fehlern der alten Bundesregierung zu tun. dern dass es hier auch ganz konkrete Fehler der jetzigen Bundesregierung gibt? Und wir haben Ansätze, zum Beispiel die Konzentra- tion auf Innovations- und Investitionsförderung. Hier gibt es völlig neue Gesichtspunkte. Ich bitte also zu berück- Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sichtigen, dass diese Regierung ein gestrafftes neues Kon- NEN): Günter Nooke, was die ostdeutsche Stromwirt- zept hat. schaft anbelangt, so haben wir acht Jahre verloren. Wenn ich mir allerdings einige Ihrer Anträge anschaue, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die heute zur Diskussion stehen, zum Beispiel den Antrag und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9953

Werner Schulz (Leipzig) (A) Womit wir uns jetzt herumschlagen – ich wiederhole es –, doppelt so hoch wie im Westen, keine Frage. Wenn man (C) sind die Fehler, die am Anfang gemacht wurden, indem im verdeckte Arbeitslosigkeit mit einrechnet, haben wir eine Grunde Monopolstrukturen erhalten und ausgeweitetArbeitslosigkeit von etwa 25 Prozent. Allerdings gibt es worden sind, indem drei westdeutsche EVUs die gesamte auch eine wesentlich höhere Erwerbsquote, bezogen auf ostdeutsche Stromwirtschaft übernommen haben, dieses die Bevölkerungszahl. Auch das ist hochinteressant. Auch Gebiet in gewisser Weise wie ein Sondergebiet behandelt darüber muss man diskutieren. worden ist und Wettbewerb überhaupt nicht möglich war. (Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Habt ihr Wir haben jetzt einen neuen Ansatz der Privatisierung, um überhaupt ausländisches Kapital hereinholen und einen das jetzt auch erkannt?) eigenständigen ostdeutschen Stromkonzern erst einmal – Nein, das habe ich immer betont, Paul Krüger. So ist es aufbauen zu können. Das ist doch der Punkt. doch nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das sind interessante Phänomene, die man nicht so ein- und bei der SPD – Jürgen Türk [F.D.P.]: Wer hat fach abtun kann. Man kann nur nicht sagen: Die Er- das getan?) werbsneigung der ostdeutschen Frauen ist zu hoch; wenn – Ich kann mich nicht damit abfinden, dass man nichtes die nicht gäbe, könnten wir das Problem lösen. Das ist mehr weiß, was man getan hat. Wir haben es doch mit der Ihr Ansatzpunkt; ihn teile ich nicht. so genannten PSA-Formel – Privatisierung, Sanierung, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abwicklung – zu tun gehabt. und bei der SPD – Dr.-Ing. Paul Krüger (Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Als ob ihr [CDU/CSU]: Das sage ich auch nicht! – Ge- die Väter der Liberalisierung wärt! Das ist genruf der Abg. Ingrid Holzhüter [SPD]: Ja, der wirklich lächerlich! – Weitere Zurufe von der Herr Miegel hat das gesagt! – Dr.-Ing. Paul CDU/CSU) Krüger [CDU/CSU]: Bleibe bei der Wahrheit! Das ist besser!) Dies ist häufig in einem Projekt, einem Betrieb erfolgt. Noch heute gibt es eine Schmierspur, die nach Leuna– Ich kenne diesen Ausdruck von ; es ist führt. Ich will gar nicht alles, womit wir zu tun haben, auf- die Wahrheit. Er hat zusammen mit Meinhard Miegel die rollen. Auffassung vertreten: Wenn man die Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen wieder auf die drei Ks zurückdrän- Wir haben, um einen Kalauer bzw. Kohlauer aufzu- gen kann, also Kinder, Kirche, Küche, dann ist die Sache greifen, 1998 keine blühenden Landschaften übernom- geritzt und dann könnte man einen gewissen Gleichstand men, sondern eher eine Landschaft im Umbruch, imherstellen. (B) Zwielicht. Auf der einen Seite ging es um eine Verbesse- (D) rung der materiellen Ausstattung der Lebensbedingungen. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Jetzt geht es nach Das geht auf die alte Bundesregierung zurück. Da ist viel unten!) passiert; das kann niemand in Abrede stellen. Jeder, der Was ich interessant finde – das sollte man vielleicht die Städte im Osten besucht, weiß, was dort in Bezugauch einmal betrachten –, ist dieAnnäherung bei den Real- auf den Städtebau und den Wohnungsbau geschehen ist, einkommen in Ost und West. Wenn man sich den vor- dass die Lebensbedingungen vorangebracht worden sind. letzten Wochenbericht des DIW anschaut, wird man auf Auf der anderen Seite erleben wir Defizite im Hinblick das interessante Phänomen stoßen, dass es in dieser Frage auf den Aufbau einer leistungsfähigen, wettbewerbsfähi- im Westen eher eine Rückentwicklung gibt. Die Zahl – so- gen Wirtschaftsstruktur. Das sind im Grunde genommen weit ich sie jetzt in Erinnerung habe – lag da im Schnitt die Schwächen. Es ist auch müßig, immer wieder zu be- bei 38 000 DM und ist jetzt auf etwa 37 000 DM zurück- tonen, dass der Osten beim Wachstum zurückbleibt. gegangen, während sie im Osten von 24 000 DM auf 30 000 DM gestiegen ist. Das heißt, es findet eine An- (Dr. Barbara Höll [PDS]: Wieso ist das gleichung der Einkommensverhältnisse und damit auch müßig?) der Lebensverhältnisse statt. Man muss auch berücksich- Das gilt dann, wenn man das gesamte Bruttoinlandspro- tigen, dass man im Osten heutzutage da und dort immer dukt betrachtet. Dort ist das der Fall. Aber wenn man es noch etwas preiswerter lebt. differenziert betrachtet, Kollege Türk, sieht das anders (Gerhard Jüttemann [PDS]: Wo leben wir denn aus: Wir haben zwar einen Rückgang in der Bauwirt- preiswerter?) schaft, aber wir haben zweistellige Wachstumsraten bei den interessanten, modernen Branchen, bei der IT-Bran- – Vielleicht nicht da, wo Sie, Herr Jüttemann, herkom- che, in der Medizintechnik, in der Biotechnik und ande- men; ich weiß es nicht. Wir leben im Moment im Osten ren. Man muss sich das also schon etwas genauerauf einem Niveau, das 85 Prozent des Westniveaus ent- anschauen. Es sind im Osten vor allen Dingen kapital- spricht. Das kann man sagen. Es hat eine Annäherung ge- intensive Betriebe aufgebaut worden und weniger arbeits- geben. intensive Betriebe. Man sollte auch vorsichtig sein, inwieweit man die Das ist auch ein Grund dafür, dass es diese hoheAr- Forderung nach Angleichung der Löhnekurzfristig beitslosigkeit gibt. Ursprünglich waren es einmal 9 Mil- hochschrauben sollte, wie die PDS das beispielsweise tut. lionen Beschäftigte, jetzt sind es noch 6 Millionen. Wir Das ist ein ambivalentes Problem. Im Moment ist das haben dort eine extrem hohe Arbeitslosenquote; sie ist Lohnniveau im Osten ein Standortvorteil. Ich kann aber 9954 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Werner Schulz (Leipzig) (A) auch sehr gut verstehen, dass die Leute eine Perspektive Weg – in Beschäftigung bleiben und dafür auf einen ge- (C) brauchen, damit sie sehen können: Wie geht es weiter? wissen Teil ihres Einkommens verzichten. Wie entwickeln sich die Löhne? Dazu sage ich: Schauen Sie sich beispielweise einmal den öffentlichen Dienst an. (Dr. Barbara Höll [PDS]: In Sachsen gibt es Wenn wir im öffentlichen Dienst Ihre Forderung, die eine schlechtere Ausstattung!) Löhne anzugleichen, erfüllen würden, dann würde das zu Wir haben eine positive Einkommensentwicklung – sie Entlassungen führen; das müssen Sie fairerweise hinzu- geht zwar manchen nicht schnell genug –, aber man muss fügen. Die Beschäftigtenquote im öffentlichen Dienst, aufpassen, dass sie nicht kontraproduktiv wird. bezogen auf 1 000 Einwohner, liegt im Westen bei etwa 20 Beschäftigten; in Sachsen sind es 23, in Sachsen-An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halt 33 und in Brandenburg sind es, glaube ich, 27. Das sowie bei Abgeordneten der SPD) heißt, die Zahlen im Osten liegen weit höher als im Wes- Wenn man sich die Entwicklung bei den Arbeitsplätzen ten. Das würde bedeuten, dass wir, wenn wir im öffentli- näher anschaut, sieht man, dass im Osten jährlich 15 000 chen Dienst im Osten zu vergleichbaren Kosten arbeiten bis 20 000 neue Arbeitsplätze hinzukommen. Das heißt, wollten, einen Beschäftigungsabbau vornehmen müssten. der Osten ist von der wirtschaftlichen Entwicklung über- Die gleiche Lohnsumme würde sich also auf weniger Beschäftigte verteilen. haupt nicht abgekoppelt. Im Gegenteil: Das kommt in den nächsten Jahren noch besser zum Tragen. Das hat der Bundeskanzler letzte Woche in seiner Regierungserklä- Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Schulz, rung bereits ausgeführt. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll? Hier muss natürlich – ich will das jetzt nicht vertiefen, denn wir haben bereits gestern diese Diskussion geführt – Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Steuerreform, das Steuerentlastungsgesetz gewür- NEN): Ja. digt werden. Ich finde, es hat vor allen Dingen positive Auswirkungen auf den Osten. Der Osten gehört wirklich Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Kollege Schulz, was ich zu den Gewinnern des Steuerentlastungsgesetzes, und bei Ihrer Argumentation nicht verstehe, ist, warum Sie nur zwar nicht nur bei den privaten Einkommen. Dort ist das von der Kostenseite her diskutieren. Es gibt ja zum Bei- Gros der Entlastung zu erwarten, weil es im Osten über- spiel die gesetzliche Bestimmung, wonach jedem Kind ab wiegend mittlere und kleine Einkommen gibt. Familien dem dritten Lebensjahr ein Kindergartenplatz zur Verfü- mit Kindern werden durch das erhöhte Kindergeld, die gung stehen muss. Dies ist in den alten Bundesländern bei Existenzfreibeträge und die Senkung des Eingangssteuer- (B) weitem noch nicht erreicht, in den neuen Bundesländern satzes besser gestellt. Hier wirkt sich das Gesetz aus. Das (D) konnte es zum Glück erhalten werden. Auch das ist eine DIW hat festgestellt – das wurde eingangs schon er- Ursache dafür, dass die Quote im öffentlichen Dienst in wähnt –, dass das Realeinkommen der Haushalte zuge- den neuen Bundesländern höher ist als in den alten Bun- nommen hat. desländern. Aber auch die kleinen und mittelständischen Betriebe Wenn Sie nur über die Kosten diskutieren und dabei im Osten sind im Vorteil. Es werden zum Beispiel, was völlig wegwischen, welche Aufgaben durch die öffentli- von der CDU/CSU, so von Herrn Rauen, an anderer Stelle che Hand erfüllt werden, kommen wir, so glaube ich, kritisiert wird, die reinvestierten Gewinne besser gestellt. nicht zu einem sinnvollen Vergleich. Damit können wir Das, was hier vorgenommen wird, lohnt sich gerade für die gesellschaftlichen Aufgaben, die anstehen, nicht be- Existenzgründer, deren Kapitaldecke dünn ist. Das sind wältigen. überwiegend Betriebe im Osten, für sie ist das rentabel. (Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Und was Das gilt genauso für die Anrechnung der Gewerbesteuer ist jetzt die Frage?) auf die Einkommensteuer. Auch das zahlt sich für viele aus; denn sie können das komplett absetzen. Die Steuer- Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reform ist, wenn Sie so wollen, ein sehr mittelstands- NEN): Das war mehr eine Feststellung, die ich nicht ein- freundliches Konzept für den Osten. mal widerlegen kann. Ich glaube bloß, dass die Garantie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf einen Kindergartenplatz nicht die hoheBeschäfti- und bei der SPD) gungsquote im öffentlichen Dienstauslöst. In diesem Fall haben Sie Recht, auf der anderen Seite ist es aber so, Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass die ostdeut- dass der öffentliche Dienst, dass die Verwaltungen imschen CDU-Abgeordneten daran herumkritteln. Da haben Osten einfach überbesetzt sind. Das wissen wir, das ist ein sie selbst während der Regierungszeit von Helmut Kohl Problem. mehr Mut gehabt und sind hervorgetreten und haben ihre eigenen Interessen vertreten. Ich hoffe, dass zumindest Bei den Lehrern wurde das Problem gelöst, indem die die ostdeutschen Ministerpräsidenten, auch die der CDU- Lehrer im öffentlichen Dienst blieben und teilweise für regierten Länder, nicht gegen ihre eigenen Interessen im weniger Geld arbeiten. Das ist eine kreative Lösung und Bundesrat stimmen werden. man sollte sie nicht angreifen und sagen, sie müssten jetzt alle gleich bezahlt werden. Wir haben das auch deshalb (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gemacht, damit die Leute – das halte ich für den besseren SES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9955

Werner Schulz (Leipzig) (A) Denn wer gegen das Steuerentlastungsgesetz stimmt, der Wir wissen, dass wir nach wie vor in das Bildungssys- (C) stimmt gegen das Wirtschaftswachstum im Osten, dertem investieren müssen. Die Bildungseinrichtungen, zum spricht sich gegen die Schaffung neuer Arbeitsplätze aus Beispiel die Schulen, sind nach wie vor in einem schlech- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten Zustand. Die Attraktivität der Hochschulen lässt noch und bei der SPD) zu wünschen übrig. Deswegen ist der Zulauf zu den ost- deutschen Hochschulen noch nicht befriedigend. Demge- und vertieft auf diese Weise auch die Spaltung zwischen genüber sind wir bei vielen weichen Standortfaktoren, Ost und West. was Dienstleistungen anbelangt, mittlerweile moderner (Beifall bei Abgeordneten der SPD) als der Westen. Ich würde Ihnen empfehlen, das noch einmal gründlich Für den Abschluss des Solidarpaktes II kommt es sehr zu überlegen und Ihre Haltung zu revidieren. darauf an, ob der Osten in der Lage ist, zwischen seinen Wünschen und seinen Bedürfnissen zu unterscheiden, ob (Peter Rauen [CDU/CSU]: Darüber müssen er seine Bedürfnisse genau benennt und ob er auf die So- wir noch einmal reden!) lidarität des Westens, der alten Bundesländer, bauen kann. – Darüber haben wir gestern schon ausführlich diskutiert. Ich glaube, das Beste, was der Osten selbst leisten Ich will das hier nicht vertiefen, aber es ist tatsächlich so. kann, ist die Konzentration auf Erneuerung, auf Innova- Ihr Einwand, dass wir darüber reden müssen, erschüttert tion. Insofern finde ich es hochinteressant, dass der mich nicht sonderlich. Das tun wir doch hier. Innenminister von Sachsen einen Vorschlag zur Länder- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Günter fusion unterbreitet hat. Er bezog sich nicht nur auf Nooke [CDU/CSU]: Wir müssen vor allem zu Berlin und Brandenburg, sondern er schlug vor, Sachsen, einem Ergebnis kommen!) Thüringen und Teile von Sachsen-Anhalt zusammenzule- gen. Ich weiß, dies führt zu großen Debatten. Dabei geht Wir haben überhaupt keinen Grund, beim Aufbau Ost es um Identitäten, gewachsene Bindungen und derglei- einen Gang zurückzuschalten, denn die Sache läuft re- chen mehr. Aber wir müssen uns heute in diesem kompli- lativ gut. Auf der anderen Seite ist uns klar, dass die zierten Europa schon darüber verständigen, wie man Re- Entwicklung noch auf hohe gesamtstaatliche Transfers gionen in Deutschland wettbewerbsfähig und leistungs- angewiesen ist. fähig machen kann, wie das Ganze zusammengefügt Deswegen wird es in der nächsten Zeit auch darauf an- werden kann. Wir müssen auch überlegen, ob wir alles kommen, dass wir einen neuen Solidarpakt schließen, da- immer nur in Form eines hochkomplizierten Länderfi- mit das Föderale Konsolidierungsprogramm fortgesetzt nanzausgleichs regeln können, oder ob vieles nicht durch wird. eine Länderfusion einfacher und kostengünstiger geregelt (B) werden könnte. (D) Anknüpfend an die Debatte zum vorherigen Tagesord- nungspunkt Entwicklungshilfe möchte ich sagen: Auch Hier kommen zumindest interessante Denkanstöße aus hier gilt das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wir müs- dem Osten. Ich glaube, damit und nicht durch ein La- sen aufpassen, dass keine große Wunschliste zusammen- mento auf schwachem Niveau kann er auf sich aufmerk- gestellt wird, die sich möglicherweise aus den Gutachten sam machen. der fünf Institute ableitet und zur Folge hat, dass große (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Leistungen zur Erfüllung dieser Ansprüche erbracht wer- DIE GRÜNEN) den müssen. Wir müssen uns die Entwicklung im Osten – auch hin- Nächster Redner ist sichtlich der Infrastruktur – genauer und differenzierter Vizepräsidentin Petra Bläss: der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion. ansehen. In einigen Bereichen ist die Infrastruktur in den neuen Bundesländern mittlerweile moderner als in den al- ten Bundesländern, so zum Beispiel bei der Telekommu- Jürgen Türk (F.D.P.): Sehr geehrte Frau Präsidentin! nikation. Dort liegen Zukunftsinvestitionen unter derLiebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um den Erde. In anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Ver- Bericht zur deutschen Einheit. Dieser liest sich in Teilen kehrsinfrastruktur, hinken wir nach wie vor hinterher.wie ein Lamento oder eine Selbstbeweihräucherung, ob- Dort muss nachgerüstet werden. Dies bezieht sich nicht wohl dies nicht sein Zweck ist. Es geht hier vielmehr um nur auf die 19 Verkehrsprojekte deutsche Einheit mit ei- Fakten. Und ohne Fakten kann man die Ursachen nicht nem Volumen in Höhe von 65 Milliarden DM, übrigens beseitigen, das heißt, wenn man sie nicht erkennt und be- von der alten Bundesregierung unterfinanziert. Deswegen nennt. haben wir hier auch so große Schwierigkeiten. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Bei manchen Dingen müssen wir uns im Osten selbst- CDU/CSU) kritisch an die eigene Nase fassen. Wir haben uns vielfach Aber dies setzt sich fort: In der vorigen Woche hat der länger mit der Umbenennung einer Straße als mit ihrem Kanzler seine Regierungserklärung zur „modernen Wirt- Zustand und ihrer Qualität beschäftigt. Den Kommunen schaftspolitik“ abgegeben. Sie war eine einzige Be- war es wichtiger, sich zu überlegen, wie eine Straße weihräucherung und Schönrederei. heißen sollte, als festzulegen, wie sie aussehen sollte. Es geht also darum, wie wir Fördermittel abrufen und wo wir (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der sie einsetzen. CDU/CSU) 9956 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Jürgen Türk (A) Heute geht es mit dem Staatsminister so weiter. Ich glaube und das bei einer Arbeitslosigkeit von jetzt circa 20 Pro- (C) nicht, dass man den Aufbau Ost so betreiben kann. Ich zent im Osten. glaube auch nicht, dass dies eine gute Voraussetzung für Legt man also an den Kanzler, der nicht da ist, die Latte die Schaffung der deutschen Einheit ist, denn der Aufbau an, die er für sich selbst zum Maßstab gemacht hat, näm- Ost ist nach wie vor eine Voraussetzung für die deutsche lich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit,dann hat er Einheit. die Latte im Osten gerissen, denn im letzten Jahr gab es Vieles, was negativ ist oder so ausgelegt werdenim Osten fast 55 000 Menschen mehr ohne Arbeit. Darü- könnte, taucht im Bericht nicht auf. Ich habe ihn mir wirk- ber kann man natürlich nicht mit einem einfachen „Wei- lich sehr genau angesehen. Bei der Zahl der Patentanmel- ter so“ hinweggehen, sondern man muss untersuchen, wie dungen beispielsweise gibt es zwischen Ost und West im- man das ändern kann. mer noch große Unterschiede. Dazwischen liegen Welten. (Sabine Kaspereit [SPD]: Sie sollten etwas Ein weiteres Beispiel: In dem Bericht findet sich kein genauer lesen!) einziges Wort darüber, dass im Sommer 1999 eine Haus- Wenn man die verdeckte Arbeitslosigkeit, die heute schon haltssperre für alle vom Wirtschaftsministerium geför- angesprochen worden ist, hinzurechnet, dann sieht es derten Forschungs- und Entwicklungsprogramme in den neuen Bundesländern verfügt wurde. Diese Sperre, dieses natürlich noch schlimmer aus. Hin und Her hat der ostdeutschen Forschungslandschaft Ihr Ausweg ist: Wir legen beim zweiten Arbeitsmarkt geschadet. etwas drauf. Ich glaube, das ist ein Schuss, der inzwischen (Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Wohl wirklich nach hinten losgeht. wahr, das muss man wohl sagen!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Ungeachtet aller anders lautenden Beteuerungen setzt die CDU/CSU) Bundesregierung diesen Zickzackkurs in der Forschungs- Um sachlich zu bleiben: Der zweite Arbeitsmarkt ist ja förderung auch jetzt noch fort. Auch in diesem Jahr wurde von uns allen als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt ge- bereits eine Haushaltssperre von 6 Prozent verhängt. dacht. Man muss ganz realistisch feststellen, dass das Das Weglassen solcher wichtiger Daten und Fakten im nicht mehr aufgeht. 5 Prozent kommen in den ersten Ar- Bericht erinnert mich in fataler Weise an ein Argument beitsmarkt, und diejenigen, die im zweiten Arbeitsmarkt aus Zeiten der alten DDR: Man darf dem politischen Geg- beschäftigt sind, belasten den ersten. Das ist kontrapro- ner keine Munition liefern. – Das bringt uns aber wirklich duktiv. Da muss man sich wirklich – ich bin dafür, dass nicht weiter. Die Folge ist, dass uns jetzt ein Bericht vor- wir das gemeinsam machen – überlegen, wie man das än- liegt, der nicht ausgewogen ist. Er liefert keine objektive dern kann. (B) Zustandsanalyse, die wir brauchen, (Zuruf von der CDU/CSU: Er tritt teilweise in (D) (Zuruf von der F.D.P.: Richtig!) Konkurrenz zu dem ersten Arbeitsmarkt!) um beim Aufbau Ost gemeinsam voranzukommen. Die Regierung ist aufgefordert, dafür zu sorgen, dass am ersten Arbeitsmarkt Arbeitsplätze entstehen – das ist ja (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ihre generelle Aufgabe –, und die entsprechenden not- Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, dafür Sorge wendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. zu tragen, dass die künftigen Berichte über die Entwick- Die gestern verabschiedete ungerechte Steuerreform – lung in Ostdeutschland deutlich differenzierter Auskunft so will ich sie einmal bezeichnen – kann es nicht sein. geben. Trotz gegenteiliger Behauptungen, die heute immer wie- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr.-Ing. der vorgetragen wurden, belastet sie die Kleinen und Mitt- Paul Krüger [CDU/CSU]) leren. Im Jahresbericht wimmelt es geradezu von Beteuerun- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) gen der Bundesregierung, dass sie alles dafür tun wolle, Das kann natürlich nicht die Rahmenbedingung sein, in um den Aufbau Ost zu befördern. Aber Versprechen sind der der Aufbau Ost vorangebracht werden könnte. das eine, Taten das andere. Ein weiteres Beispiel: Zwar hat die Bundesregierung die von uns 1997 begonnene und (Sabine Kaspereit [SPD]: Sie sollten einmal 1999 ausgelaufene Fördermaßnahme „FUTOUR“ bis rechnen!) 2003 verlängert. Aber während wir damals für 200 Tech- Aber es gibt ja noch Chancen. Die Entscheidung über nologieunternehmen noch 500 Millionen DM zur Verfü- die Steuerreform steht bald im Bundesrat an. Wir haben gung hatten, sehen Sie hier heute lediglich 140 Millionen zum Beispiel den Brandenburger Ministerpräsidenten DM vor. Manfred Stolpe, der sich dafür einsetzen will, dass hier (Sabine Kaspereit [SPD]: Bei Ihnen wäre sie nachgebessert wird. Ich meine, Sie bessern ja ohnehin ganz weg gewesen!) schon ständig nach. Warum dann nicht auch an dieser Steuerreform, um das einmal wieder auf die Füße zu stel- Mit Sicherheit wird das nicht sehr viel weiterhelfen. Das len? reicht nicht. Wenn man also Entscheidungen wie diese trifft, dann braucht man sich wirklich nicht zu wundern, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein warum keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden – Ausweg!) (Beifall bei der F.D.P.) Die Stunde der Wahrheit kommt bald im Bundesrat. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9957

Jürgen Türk (A) Außerdem sind wir der Meinung, dass insbesondere Sie machen sich und uns etwas vor, wenn Sie die In- (C) Ostdeutschland ein flexibles Tarifvertragsrecht braucht. dustrie mit einem Wachstum von 6 Prozent als Hoff- nungsträger aufbauen. Sie haben davon gesprochen, dass (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten das Wachstum im letzten Quartal einen zweistelligen Wert der CDU/CSU) erreicht habe. Aber eine Schwalbe – sprich: ein solches Das ist natürlich für ganz Deutschland eine sinnvolle For- Quartalsergebnis – macht noch keinen Sommer. Darauf derung, aber insbesondere für den Osten, denn dort gibt es kann man nicht bauen. Lassen Sie die konjunkturelle Lage kein Tarifvertragsrecht mehr, weil keiner mehr daran teil- in der Welt ein bisschen einbrechen – und schon bricht nimmt. Wir haben dort also einen totalen Wildwuchs.Ostdeutschland wieder weg. 40 Prozent der Unternehmen sind noch dabei. Ich kann Warum wird die Misere in der ostdeutschen Bauwirt- Sie namens der F.D.P. nur auffordern, dort wieder Ord- schaft nicht analysiert? Wir reden zwar immer davon, nung zu schaffen, damit der Flächentarif im Osten nicht dass es sie gibt, aber man muss sie doch auch einmal ana- völlig verschwindet. Hier muss endlich etwas gemacht lysieren und die notwendigen Schlussfolgerungen daraus werden; er muss reformiert werden. ziehen. Ich habe erwartet, dass das in dem „Jahresbericht Dass wir bei den Lohnzusatzkosteneine Entlastung 1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen brauchen, ist klar. Es muss also schnell etwas in Sachen Einheit“ geschieht. Sich hier hinzustellen und zu sagen, Rentenbeitragspunkte gemacht werden. Das kann man dass sich der überhitzte Bausektor wieder abkühlen nicht auf das nächste Jahr verschieben und hier, wie so oft, müsse, ist doch eine billige Aussage, die nicht weiterhilft. auf das Bundesverfassungsgericht warten. Wir müssen Ich weiß auch, dass der Bausektor etwas überhitzt war. uns schneller einigen und dürfen das Thema nicht endlos Aber man muss natürlich nach Lösungen suchen. Das verschieben, wie wir es bei der Steuerreform erlebt haben. muss man insbesondere dann, wenn man weiß, dass ein investitionshemmendes Infrastrukturloch von 300 Milli- Ostdeutschland braucht, Herr Staatsminister Schwanitz, arden DM besteht. Es ist also nicht nach einer Beschäfti- auf keinen Fall die Ökosteuer, gungstheorie für die Bauwirtschaft zu suchen; vielmehr (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – müssen wir hier erst einmal diese 300 Milliarden DM auf- Widerspruch bei der SPD) bringen. die kleine und mittlere Unternehmen, besonders im Sparen und Schuldenabbau sind wichtig. Das unter- Transportgewerbe, in ihrer Existenz gefährdet. Man kann stützen wir auch weiterhin. Wenn aber der Aufbau Ost nicht immer sagen – das ist totaler Unsinn –, dass sie ins- rückläufig ist, dann werden Sie aus dem Sparstrumpf bald besondere dem Osten etwas bringe. Man muss das mal das Doppelte herausnehmen müssen. Das kann nicht Sinn und Zweck der Sache sein. (B) untersuchen und sich mit den Leuten, die davon betroffen (D) sind, unterhalten und fragen, ob das wirklich so ist oder Im Übrigen: In den immer leerer werdenden Platten- ob man nicht doch etwas anderes machen müsse. bausiedlungen tickt eine Zeitbombe. Das muss man Warum, Herr Schwanitz, haben Sie solche den Aufbau bei dieser Gelegenheit sagen. Hier steht neben der Alt- Ost gefährdenden Belastungen zugelassen? Es ist doch schuldenbefreiung eine umfassende Wohnumfeldverbes- Ihre Aufgabe, keine Maßnahmen zuzulassen, die insbe- serung, einschließlich eines schonenden Rückbaus, an. sondere den Osten belasten. Denn für den Osten war ge- Das alles sind sinnvolle und notwendige Leistungen für rade Entlastung und nicht zusätzliche Belastung angesagt. die Not leidende Bauwirtschaft. Es geht hier also nicht um Oder hatten hier etwa die Grünen das Sagen? Beschäftigungstheorie, sondern um sinnvolle Arbeit. Nein, Herr Schwanitz, Gesundbeten und Schönreden – so Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Betreuung neu habe ich das heute empfunden –, wie Sie das auch heute gegründeter und bereits länger am Markt vorhandener wieder in der „Freien Presse“ betrieben haben, bringt den kleiner und mittlerer Unternehmen durch dieHausban- Aufbau Ost nicht weiter. Es ist doch nicht Ihre Aufgabe, ken. Hier sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht auf ein Wachstum im Jahre 2002 – so steht es im Inter-nach dem Vorbild der Deutschen Ausgleichsbank Förder- view – zu verweisen, das zufälligerweise ein Wahljahr ist. banken Leistungen, einschließlich qualifizierter Bera- Wir müssen jetzt etwas tun, damit der Aufbau Ost nicht tung, aus einer Hand anbieten. abgehangen wird. Zum Schluss fordere ich Sie auf: Verhindern Sie, dass (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Zahl der Großbetriebe in Ostdeutschland noch weiter abnimmt – dort gibt es schon jetzt zu wenige –, indem Sie Es stellt sich außerdem die Frage, warum der „Bericht den ostdeutschen Kohle- und Energieversorgernbei über gesamtwirtschaftliche und unternehmerische An- der Suche nach neuen Anteilseignern und deren Etablie- passungsfortschritte in Ostdeutschland“ – so etwas gab es rung mehr als bisher helfen. Hier muss ich Sie, Herr einmal – von der Bundesregierung 1999 abgeschafftSchwanitz, fragen: Wo waren Sie? Das ist unser letztes wurde. Etwa deshalb, weil es keine Fortschritte mehrgroßes Vorhaben; denn nur eine zügige Entflechtung wird gibt? Oder deshalb, weil darin festgestellt wurde, dass die zu stabilen und wettbewerbsfähigen Unternehmen führen. Kapitalausstattung der Arbeitsplätze erst 70 Prozent Die Chance ist da! des Westniveaus erreicht hat? Das hat natürlich etwas Als Cottbuser sage ich Ihnen: Wir brauchen ostdeutsche mit Arbeitsproduktivität zu tun. Wenn ich nur 70 Prozent „Energie“, aber in der Ersten Bundesliga. der Kapitalausstattung habe, ist es schwer, die gleiche Ar- beitsproduktivität zu erreichen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 9958 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss:Herr Kollege Türk, deuten meiner Meinung nach – darüber kann man sehr(C) kommen Sie jetzt bitte zum Schluss. kontrovers diskutieren – einen direkten Kaufkraftverlust für die meistens regional agierende einheimische Wirt- schaft. Die industrielle Basis ist noch immer nicht ausrei- Jürgen Türk (F.D.P.): Ich denke, dass das ein echter chend. Die noch immer zu hohen Arbeitslosenzahlen sind Beitrag zur deutschen Einheit wäre. ein Beleg für viele ungelöste Probleme. Dieses Feld muss Ich sage Ihnen allen: Glück auf! mit Nachdruck bearbeitet werden. Dabei werden wir und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Bundesregierung die ostdeutschen Betriebe auch wei- terhin nach Kräften unterstützen. Staatliche Förderungen sind in vielen Bereichen noch Vizepräsidentin Petra Bläss: Es spricht jetzt für die SPD-Fraktion die Kollegin Jelena Hoffmann. immer unerlässlich, zum Beispiel bei Investitionen und Innovationen sowie bei Existenzgründungen. Die Inves- titionsförderung bleibt auch weiterhin der Schwerpunkt Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): Frau Präsiden- der Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern. Deshalb tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich zu Hause haben wir die I-Zulage zuerst auf 10 Prozent bzw. für in meinem Wahlkreis in Chemnitz bin und mit den Men- kleine und mittlere Unternehmen auf 20 Prozent verdop- schen rede oder Betriebe besuche oder einfach durch die pelt und dann noch einmal um 25 Prozent erhöht. Stadt gehe, dann bin ich stolz auf das, was wir in den letz- ten zehn Jahren erreicht haben. Zur gezielten Förderung des Mittelstandes kann man an drei Punkten des „betrieblichen Lebenszyklus“ an- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des knüpfen: an der Förderung von Existenzgründungen, an BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Wachstumsphase und schließlich an der Übergabe an Wir haben bei weitem noch keine blühenden Land- einen Nachfolger. schaften, außer vielleicht zu dieser Jahreszeit im Erzge- Der erste Aspekt – Existenzgründung – ist gerade für birge. Ich weiß, dass für viele die Angleichung der Ver- den Aufbau stabiler wirtschaftlicher Strukturen in den hältnisse in Ost und Westnoch viel zu langsam voran- neuen Ländern von ganz entscheidender Bedeutung. kommt. Aber die Veränderungen sind klar und deutlich erkennbar. Wer diese nicht sieht, der ist wirklich blind, (Beifall bei der SPD) Herr Nooke. Das, was wir schon aufgebaut haben, kann Wir brauchen unbedingt mehr Mut, mehr Engagement sich sehen lassen. und mehr Unternehmenskultur, um ein solides Fundament Ich möchte an dieser Stelle auf Ihre Rede eingehen, für nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. Doch (B) Herr Nooke. Ich habe Sie oft im Ausschuss reden gehört. oft reichen Mut und Engagement nicht aus. Oft braucht (D) Aber heute haben Sie mich unheimlich enttäuscht. Ich man auch finanzielle Unterstützung. habe vier Jahre beobachtet, wie Ihre Fraktion den Wirt- Besondere Akzente setzen wir bei der Stärkung von schaftsstandort Deutschland im Deutschen BundestagInnovationsfähigkeit und Forschungskompetenzen. schlechtgeredet hat. Neben Programmen wie PRO INNO, Inno-Net, BTU, Inno-Regio – ich hoffe, Sie, liebe Oppositionskollegen, (Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Das ist haben noch nicht vergessen, dass wir trotz aller Spar- verkehrte Welt!) zwänge für die Folgejahre in diesem Bereich eine „Zu- Jetzt machen Sie das mit Ostdeutschland. Dann wundern kunftsmilliarde“ vorgesehen haben – möchte ich beson- Sie sich auch noch, dass die Menschen aus Ostdeutsch- ders das Programm FUTOUR ansprechen. land weggehen. Ich glaube nicht, dass dies ein guter Bei- Zu den beiden Anträgen von CDU/CSU und PDS, die trag für die Einheit von West- und Ostdeutschland ist. heute unter anderem beraten werden, möchte ich sagen: (Beifall bei der SPD) Es sieht ganz danach aus, als wäre der Schuss nach hinten losgegangen, da wir das, was Sie fordern, bereits machen, Ich möchte wiederholen: Das, was wir aufgebaut ha- und zwar auf ökonomisch vernünftige Weise. ben, kann sich sehen lassen. In den neuen Ländern stehen die produktivsten Automobilfabriken. Durch zahlreiche (Beifall bei der SPD) Unternehmensgründungen sind neue und meistens leis- Wir haben die richtige Entscheidung getroffen, indem tungsfähige Strukturen entstanden. Über 530 000 Unter- wir das Programm FUTOUR über das Haushaltsgesetz nehmen sind aufgebaut worden. Dort arbeiten mehr als 2000 verlängern. Wie ich aus dem Wirtschaftsministe- 3,2 Millionen Menschen. Die Produktivität ist stetig ge- rium erfahren habe, ist das Programm sehr erfolgreich an- stiegen. Beim Aufbau eines modernen Kapitalstocks ist gelaufen. Bislang sind 180 Betriebe in den Genuss von die ostdeutsche Wirtschaft ein gutes Stück vorangekom- FUTOUR gekommen. Die Berliner, vor allen Dingen die men. Die Infrastruktur wurde erheblich verbessert. Wir Ostberliner, können sich besonders freuen, weil in Ost- haben schon vieles geschafft. Darauf können und müssen berlin 55 Unternehmensgründungen realisiert worden wir auch stolz sein, Herr Nooke. sind. In Sachsen wurden 38 und in Sachsen-Anhalt 29 Dennoch müssen wir in vielen Bereichen deutlich zu- neue Unternehmen gegründet. legen. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner dürfte in Mit großer Freude habe ich zur Kenntnis genommen, Ostdeutschland erst bei circa 60 Prozent des westdeut- dass zum Beispiel in meinem Wahlkreis Chemnitz Ver- schen Niveaus liegen. Die niedrigen Löhne im Osten be- fahren in Lasertechnik entwickelt wurden und dass welt- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9959

Jelena Hoffmann (Chemnitz) (A) weit agierende Hightechunternehmen im Bereich opti- Angleichung der Löhne und Gehälter Ost an das West- (C) scher Prüf- und Messtechnik entstanden sind. In niveau. Derzeit werden im Osten nur 86 Prozent gezahlt. ist ein weltweit neues System zur Nutzung der Energie bei Hauptgegner der ÖTV ist dabei das Bundesinnenministe- Luftaustauschprozessen erfunden worden. rium, Ich möchte Sie fragen: Wissen Sie, was Synotec- (Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Psychoinformatik ist? Nein? – Ich wusste es auch nicht. – Hört! Hört!) Dann müssen Sie mit mir nach Geyer im Erzgebirge fah- ren, weil dort daran gearbeitet wird – das alles dank unse- das diese Angleichung nach Möglichkeit auf den Sankt- rer Unterstützung. Allein in Südwestsachsen sind 1999 Nimmerleins-Tag verschieben will. Hochinteressant ist in durch die Unterstützung von Existenzgründungen imdiesem Zusammenhang eine Dienstinformation des Bun- Technologiebereich 964 Arbeitsplätze in 206 neuen Un- desministeriums des Inneren an die obersten Bundes- ternehmen entstanden. behörden und andere unterstellte Institutionen. Darin heißt es, dass für die beabsichtigte Einstellung eines bis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) her im Westen beschäftigten Arbeitnehmers im Tarifge- Das hat Roman Herzog mit seiner „Ruck“-Rede gemeint. biet Ost der Osttarif anzuwenden sei. Aber das haben Sie nicht einmal begriffen, geschweige denn umgesetzt. Vizepräsidentin Petra Bläss:Herr Kollege (Peter Rauen [CDU/CSU]: So eng hat das der Jüttemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Roman Herzog nicht gedacht, wie Sie es ver- Lengsfeld? muten!) In diesen speziellen Förderprogrammen wirkt natür- Gerhard Jüttemann (PDS): Frau Lengsfeld, Ihre lich unsere Politik derwirtschaftsfreundlichen Rah- Fragen sind niveaulos. Lassen wir das lieber, danke. menbedingungen. Das Zukunftsprogramm 2000 gibt uns (Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Deine ein gutes Stück der finanzpolitischen Handlungsspiel- Rede auch! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) räume zurück, die wir für den Aufbau Ost ganz dringend brauchen. Auch die Steuersenkungen werden zu einem Die dadurch entstehenden Einkommensverluste könn- Investitionsschub führen, der – davon bin ich überzeugt – ten jedoch – so heißt es in dem Schreiben – zu Problemen gerade den Ostbetrieben zugute kommen wird. Wir haben bei der Personalgewinnung führen. Als Konsequenz wird die aktive Arbeitsmarktpolitik verstetigt und bemühen in der BMI-Information Folgendes ausgeführt: uns nachhaltig, das Ausbildungsproblem zu lösen. Soweit dies zur Personalgewinnung notwendig ist, (B) Alle diese Maßnahmen sind gut und richtig. Wir brau- erhebe ich – im Einvernehmen mit dem Bundesmini- (D) chen sie dringend, um die Probleme zu lösen, die zwei- sterium der Finanzen – keine Bedenken, wenn dieser felsohne noch anstehen. Ich bin die Letzte, die dafür wäre, Arbeitnehmer zunächst im Tarifgebiet West einge- die Probleme unter den Teppich zu kehren. stellt wird und anschließend in das Tarifgebiet Ost wechselt. (Jürgen Türk [F.D.P.]: Das ist gut!) Im Klartext heißt das nichts anderes als das Einverständ- Wir müssen uns aber auch bewusst machen, was die Men- nis der Bundesregierung zur Tarifangleichung Ost an schen in Ostdeutschland in den letzten Jahren schon er- West, allerdings nur für Leute aus dem Westen. So viel zur reicht haben. Wenn wir uns diese Erfolge vor Augen hal- viel zitierten Behauptung, vor dem Gesetz seien alle ten, dann gewinnen wir auch die Kraft und Motivation, gleich! Seit Heinrich Heine hat sich offenbar nicht allzu die Aufgaben zu meistern, die noch vor uns liegen. viel verändert: Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Weg aus der (Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/ Krise an die Spitze ist hart, manchmal sehr hart, aber er DIE GRÜNEN]: Na, na, na! Im Eichsfeld viel- lohnt sich auf jeden Fall, vor allen Dingen im Interesse der leicht!) Menschen. Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, Vielen Dank. Ich kenn auch die Herren Verfasser; (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich weiß, sie tranken heimlich Wein DIE GRÜNEN) Und predigten öffentlich Wasser. (Beifall bei der PDS) Das Wort für die PDS- Vizepräsidentin Petra Bläss: Noch ein Wort zur Angleichung der Löhne in Ost und Fraktion hat jetzt der Kollege Gerhard Jüttemann. West: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat in seiner jüngsten Studie vom 10. Mai erstmalig die Ten- Gerhard Jüttemann (PDS): Frau Präsidentin! Meine denz einer solchen Einkommensangleichung registriert. Damen und Herren! Ihre Zuversicht hinsichtlich der Ent- Die durchschnittlichen Jahreseinkommen der Haushalte wicklung der Realeinkommen Ost, Herr Kanzleramtsmi- Ost seien 1997 – neuere Zahlen standen nicht zur Verfü- nister Schwanitz, würde ich ja gern teilen. Aber die Rea- gung – auf 85 Prozent des Westniveaus angestiegen. lität spricht leider eine andere Sprache. Wie Sie wissen, Interessant ist die Begründung: Neben den steigenden kämpft die ÖTV gegenwärtig unter anderem um dieLöhnen im Westen führt das DIW hier nämlich auch die 9960 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Gerhard Jüttemann (A) seit 1992 rückläufigen Realeinkommen im Westen an. Strategie wird die Angleichung der Lebensverhältnisse (C) Setzt sich diese Tendenz fort, wird die Angleichungin der gewünschten Form, also ohne Abschwung West, je- der Löhne – das Gleiche gilt im Übrigen auch für diedoch nicht zu haben sein. Lebensverhältnisse im Allgemeinen – eine Angleichung Wir halten deshalb die Frage, ob der Jahresbericht zur nach unten sein. Das heißt, das allgemeine Niveau wird deutschen Einheit zukünftig in der bisherigen oder in ei- gesamtgesellschaftlich abgesenkt. Das kann ja wohl we- ner veränderten Form vorgelegt wird, für nicht so ent- der im Interesse der Bevölkerung im Osten noch der im scheidend. Wichtig ist allein der Inhalt; wichtig ist, dass Westen sein. der nächste Bericht endlich eine solche Strategie, verbun- (Beifall bei der PDS) den mit einem Fahrplan zur Angleichung der Lebensver- hältnisse, enthält, den die PDS ebenso kontinuierlich ein- Lassen Sie mich diese Tendenz noch an einem Beispiel fordert, wie sich die Regierung seiner Aufstellung bisher belegen: Am 6. März dieses Jahres erhielt der Betriebsrat verweigert. der niedersächsischen Firma Hemeyer-Verpackungen Bad Lauterberg die Nachricht vom Unternehmer, dass das (Beifall bei der PDS) Werk am 31. Dezember 2000 seine Pforten schließen und Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zu unse- nach Bitterfeld in Sachsen-Anhalt umsiedeln werde. rem FUTOUR-Antrag. Auf nachdrückliche Erinnerung (Susanne Kastner [SPD]: Das gibt es bei uns der PDS hat die Bundesregierung im Zuge der Haushalts- im Westen aber auch!) beratungen 1999 eine Verlängerung des Programm FUTOUR bis 2003 realisiert. Ähnliches vernimmt man aus der Firma Brandt Zwieback aus Hagen, die es nach Thüringen zieht. (Zuruf von der SPD: Das stimmt nicht!) Was ist der Hintergrund solcherUmzüge, die es ge- Besonders der Verband der Innovativen Unternehmen häuft bei kleineren Firmen im ehemals grenznahen Raum hatte auf die prekäre Situation technologieorientierter Un- gibt? Erstens locken natürlich im Osten die Fördermittel ternehmen aufmerksam gemacht. Deshalb hat die PDS die der Gemeinschaftsaufgabe. Zweitens werden im Osten in Bundesregierung aufgefordert, zukünftig ostdeutsche aller Regel weniger Arbeitskräfte eingestellt, als im Wes- industrielle Forschungsvereinigungen und -verbände an ten entlassen werden. Drittens bekommen sie durchweg der Ausgestaltung neuer Förderprogramme zu beteiligen. entschieden weniger Lohn. Viertens schließlich ist der Wie der VIU treten auch wir für eine langfristig angelegte Stand der Mitbestimmung im Osten, also gewerkschaftli- Programmlaufzeit von zehn Jahren ein. Gründern von che Vertretung, gewerkschaftliche Stärke, Betriebsräte technologieorientierten Unternehmen in den neuen Bun- usw., weitaus niedriger, fast null. Das wissen Sie doch desländern, aber auch in strukturschwachen Regionen der (B) selbst. alten Bundesrepublik soll eine Förderung zugesichert(D) werden. Die Förderung soll vorrangig auf die Gründung Unterm Strich heißt das alles nichts anderes, als dass von technologieorientierten Unternehmen mit ökolo- gesamtgesellschaftlich gesehen schon einmal erreichte gisch-sozialer Ausrichtung konzentriert werden, die in soziale Standards abgebaut werden und damit das Ge- regionale und Landesentwicklungskonzeptionen struktur- samtniveau der Lebensverhältnisse gesenkt wird. Dafür politisch eingebunden werden, um so einen ökologisch- werden auch noch staatliche Fördermittel ausgereicht. sozialen Umbau zu unterstützen. (Werner Siemann [CDU/CSU]: So einen Zum CDU-Antrag zur Angleichung der Strompreise Quatsch habe ich schon lange nicht mehr und zur Aussetzung der Stromsteuern im Osten nur ein gehört!) Satz: Das klingt zwar alles recht gut, läuft aber am Ende Die PDS-Fraktion hält solche Vorgänge für einen eindeu- auf nichts anderes als auf die Subventionierung der tigen Missbrauch von öffentlichen Geldern und fordert VEAG-Eigentümer mit öffentlichen Mitteln hinaus. Die- die Veränderung der Förderrichtlinien dahin gehend, dass sen Großkonzernen in Ostdeutschland käme das sicher ein solcher Missbrauch verhindert wird. sehr gelegen; aber letztlich lässt sich mit diesem Antrag nicht ein einziges Problem lösen: nicht das der Überkapa- (Beifall bei der PDS) zitäten, nicht das der Sicherung der Arbeitsplätze bei der Zum ersten Jahresbericht der deutschen Einheit, den VEAG und auch nicht das der ökologischen Energiege- die neue Bundesregierung vorgelegt hat, möchte ich nur winnung. so viel sagen, dass er im Gegensatz zu früheren Berichten In diesem Rahmen möchte ich noch ein anderes Bei- eine Reihe realistischer Einschätzungen des tatsächli-spiel erwähnen. Keine Antwort ist ja auch eine Antwort. chen, in vielen Fragen unbefriedigenden Zustandes ent- In der Fragestunde des brandenburgischen Landtages hält. Man findet in ihm darüber hinaus eine Reihe von kam es zu einem Eklat. Die Landesregierung verweigerte Stichworten und Maßnahmen, die durchaus zur Verbesse- zum zweiten Mal die Antwort auf eine Anfrage der PDS- rung der Situation beitragen könnten. Der entscheidende Abgeordneten Esther Schröder. Diese bestand auf einer Mangel des Berichts ist jedoch, dass er keine erkennbare Offenlegung der Personalstruktur im Landesdienst hin- Strategie enthält, um die Hauptprobleme der neuen Län- sichtlich der Ost- oder Westherkunft der Bediensteten. der in einem klar abgesteckten Zeitraum zu lösen. Hierzu Diese Anfrage hatte sie schon vor Wochen einmal gestellt, gehört der Abbau der Massenarbeitslosigkeit im Zusam- war aber mit der Begründung zurückgewiesen worden, menhang mit einem sich selbst tragenden kontinuierli- dass der dafür notwendige Aufwand nicht angebracht sei chen wirtschaftlichen Aufschwung. Ohne eine solcheund zehn Jahre nach der Wende die geographische Her- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9961

Gerhard Jüttemann (A) kunft keine Rolle mehr spielen dürfe. Die Abgeordnete Dieser Vertrag war die Grundlage für die Einführung (C) äußerte gestern vor dem Parlament den Verdacht, dass ost- der sozialen Marktwirtschaft in der DDR und damit die deutsche Bewerber noch heute schlechtere Karten beim Grundlage für das wirtschaftliche Zusammenwachsen Versuch des Eintritts in den Landesdienst hätten als Be- Deutschlands. Bereits in der letzten Debatte zum Jahres- werber aus den alten Ländern, obwohl sie ihre Ausbildung bericht, die wir am 11. November des letzen Jahres führ- nach der Wende gemacht haben. ten, waren wir uns fraktionsübergreifend einig, dass seit- (Werner Siemann [CDU/CSU]: Wir sind hier dem unbestreitbar große Erfolge beim Aufbau Ost erzielt im Bundestag!) wurden. Diese Erfolge sollten wir nicht kleinreden. Die gleiche Frage könnte man doch einmal den anderen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Landesparlamenten im Osten stellen, wie viele Bedien- Sabine Kaspereit [SPD]: Sagen Sie das einmal stete dort prozentual aus den neuen Bundesländern kom- Ihrem Kollegen Nooke!) men. Hat man denn kein Vertrauen in die Menschen? Ak- – Sie von der SPD können ruhig klatschen. zeptiert man die Bildung, die sie genießen, einfach nicht? Oder ist der wahre Grund, dass wir im Osten einfach noch Am deutlichsten werden die Erfolge, wenn wir uns die nicht anerkannt werden? Es wird höchste Zeit, dass sich Krisenanalyse des letzten Vorsitzenden der Staatlichen hier etwas ändert. Plankommission, Gerhard Schürer, vom 30. Okto- ber 1989 anschauen. Sie enthält zum Beispiel die Aus- Vielen Dank. sage: (Beifall bei der PDS) Allein ein Stoppen der Verschuldung der DDR würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner ist 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar der Kollege Manfred Kolbe, CDU/CSU-Fraktion. machen. Das war die Wahrheit aus Sicht der Staatlichen Plankom- Manfred Kolbe (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Prä- mission der DDR des Jahres 1989. Seitdem haben wir – sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte dank gesamtdeutscher Solidarität und dank der Leis- findet an einem fast historisch zu nennenden Tag statt; tungsbereitschaft in Ost und West – ein großes Stück des denn am gestrigen 18. Mai vor zehn Jahren wurde in Bonn Weges zurückgelegt und viel erreicht. von und Walter Romberg der Staatsvertrag Aber bei der heutigen Debatte muss auch ausgespro- über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und chen werden, dass diewirtschaftliche Angleichung in Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland (B) Deutschland seit Mitte der 90er-Jahre stagniert und unter (D) und der DDR unterzeichnet. Rot-Grün zum Stillstand gekommen ist. Herr Schwanitz (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Herr Schulz, Sie können zwar viele Zahlen vorlegen, neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie kommen aber nicht an der Tatsache vorbei – ich sage Lieber Herr Staatsminister Schwanitz, diese Tatsache hät- das mit Bedacht –, dass seit Mitte der 90er-Jahre die wirt- ten Sie in Ihrer Rede ruhig einmal erwähnen können. schaftliche Angleichung zum Stillstand gekommen ist. Das müssen wir ändern. (Frank Hempel [SPD]: Das machen Sie doch!) Schauen Sie sich einmal die Wachstumsraten an! Sie Dieser Vertrag war ein erster entscheidender Schritt auf müssen sie erst zur Kenntnis nehmen und können sie dann dem Weg zur deutschen Einheit. Mit ihm begann eininterpretieren. Während in der ersten Hälfte der 90er- neuer Abschnitt der deutschen Geschichte. Der Vertrag Jahre die Wirtschaft im Osten mit einer Rate von bis zu entsprach der Forderung nach nationaler Solidarität und 10 Prozent wuchs, wächst sie seit vier Jahren langsamer den Wünschen der Menschen in der DDR nach Freiheit als die im Westen: um 1,7 Prozent gegenüber 2,3 Prozent und Wohlstand. Dieser Vertrag wurde sowohl im Deut- im Jahre 1997; um 2,1 Prozent gegenüber 2,9 Prozent im schen Bundestag als auch in der Volkskammer der DDR Jahre 1998, um 1,2 Prozent gegenüber 1,4 Prozent im fraktionsübergreifend mit großer Mehrheit gebilligt. Jahre 1999 und dieses Jahr voraussichtlich nur noch um Zur historischen Wahrheit gehört aber auch, dass im 2,2 Prozent gegenüber 2,8 Prozent. Seit vier Jahren geht Bundesrat zwei Ministerpräsidenten dagegen stimmten. also die Schere wieder auseinander, Herr Schwanitz. Es handelt sich um den jetzigen Bundeskanzler Schröder (Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz: Solange – er ist nicht mehr anwesend; die Debatte scheint ihn so regieren wir noch gar nicht!) wie damals auch heute nicht zu interessieren – – Sie regieren aber seit fast zwei Jahren. (Ingrid Holzhüter [SPD]: Quatsch!) Nehmen Sie zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt und den ehemaligen Finanzminister Lafontaine. Ich er- Ost je Einwohner. In 1991 betrug es 30 Prozent des West- wähne das der Vollständigkeit halber; denn bei manchen wertes. Bis 1994 stieg es rasant auf 53 Prozent und stag- Debattenbeiträgen der Koalition hatte man heute den Ein- niert seitdem bei rund 55 Prozent des Westwertes. Die druck, Sie hätten die Einheit gegen die CDU erkämpft. Steuerdeckungsquote Ost hatte in 1991 einen Ausgangs- Dem war aber nicht so. punkt von 22,3 Prozent und stieg bis auf 50 Prozent in (Beifall bei der CDU/CSU) 1995. Auf diesem Niveau sind wir geblieben. 9962 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Manfred Kolbe (A) Herr Schulz, das sind die wesentlichen wirtschaftli- Sabine Kaspereit (SPD): Herr Kollege Kolbe, kön- (C) chen Zahlen. Sie können natürlich auch die eine oder an- nen Sie mir bitte die Höhe der Unterdeckung im Verkehrs- dere positive Zahl finden. Aber das sind die wichtigsten wegeplan der alten Bundesregierung nennen? Kerndaten. Im europäischen Rahmen betrachtet lässt sich sagen: Die Wirtschaftskraft im Osten Deutschlands liegt Manfred Kolbe (CDU/CSU): Frau Kollegin, Sie ver- nach wie vor stabil unter 75 Prozent des EU-Durch-wechseln permanent den Verkehrswegeplan mit dem schnitts und damit auf dem Niveau vieler südeuropäischer Haushaltsplan. Der Haushaltsplan ist ein Finanzierungs- Regionen und Länder wie Portugal, Sizilien und Grie- plan; der Verkehrswegeplan ist ein Investitionsplan. Ich chenland. Deutschland droht also, wenn Sie, Herrkann nur feststellen, dass zu unserer Regierungszeit ge- Schwanitz, nicht handeln – Sie haben im Augenblick die baut worden ist – und die Bauten sind auch bezahlt wor- Regierungsverantwortung –, eine dauerhafte wirtschaftli- den –, che Spaltung. Das akzeptieren wir von der Union nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU) Jürgen Türk [F.D.P.]) Anstatt dem Aufbau Ost neue Impulse zu geben, hat die während Sie die Bauten gestoppt haben. An dieser Tatsa- rot-grüne Bundesregierung seit 1998 bei den Investitio- che kommen Sie nicht vorbei. Wenn das so weitergeht, nen überproportional gekürzt. dann warten wir noch 20 Jahre auf eine Autobahn zwi- schen den beiden großen Städten Leipzig und Chemnitz (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) mit einer halben Million und einer drittel Million Ein- Die allgemeine Investitionsquote im Bundeshaushalt wohner. Das ist doch keine zukunftsorientierte Politik. sinkt kontinuierlich – von 12,5 Prozent in 1998 auf (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten 11,6 Prozent in 1999 bis auf 10,6 Prozent im Jahre 2003. der CDU/CSU – Susanne Kastner [SPD]: Wir Das besondere Opfer dieser rückläufigen Investitions- haben auch unter euch zehn Jahre auf eine quote sind die Verkehrswegeinvestitionen Ost. Wir wis- Autobahn gewartet! – Dr. Mathias Schubert sen alle: Verkehrswege sind von ganz besonderer Bedeu- [SPD]: Sie haben sich doch gerade von den Ver- tung für die wirtschaftliche Entwicklung. Unser Kollege kehrsprojekten deutsche Einheit verabschie- aus der CDU-Landesgruppe Sachsen, det!) der hinter mir als Schriftführer sitzt, hat das in der Die ausbleibenden Infrastrukturmaßnahmen behindern Schkeuditzer Erklärung im Januar dieses Jahres für die die weitere wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands Landesgruppe überzeugend herausgearbeitet: Ohne Ver- und führen sogar dazu, dass die Abwanderung aus dem kehrswegeinvestitionen gibt es keinen wirtschaftlichen (B) Osten, die uns alle ganz besonders große Sorgen macht, (D) Aufschwung. weitergeht. Wir kommen nicht um die Feststellung (Beifall bei der CDU/CSU) herum: Unter Schröder und Schwanitz ist der Aufbau Ost von der Chefsache zur Nebensache degradiert worden. Was aber hat die Bundesregierung unternommen, Herr Die CDU wird dafür sorgen, dass er wieder zur Chefsache Schwanitz? Die Bundesregierung hat am 3. November wird. 1999 ein vom Bundesverkehrsminister – er ist nicht da; ihn scheint das nicht zu interessieren – aufgelegtes Inves- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. titionsprogramm – besser wäre der Name „Investitions- Jürgen Türk [F.D.P.]) verhinderungsprogramm“ gewesen – für die Jahre 1999 bis 2002 beschlossen, Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer Kurzinter- vention erteile ich jetzt das Wort dem Abgeordneten (Sabine Kaspereit [SPD]: Ihre Unterdeckung Otto Schily. haben Sie wohl vergessen!) was, Frau Kaspereit, die Verkehrsinvestitionen in dieser Otto Schily (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen Legislaturperiode um 3,5 Milliarden DM zurückführt. und Herren Kollegen! Der Kollege Jüttemann hat ge- Insbesondere im Osten kürzen Sie. Sie haben die Schie- meint, in die Debatte ein Schreiben aus dem Bundesin- nenanbindung Mitteldeutschlands, das Verkehrsprojekt nenministerium einführen zu müssen. deutsche Einheit Nr. 8, gestoppt. Deswegen haben wir jetzt den Schildbürgerstreich, dass der neue Leipziger (Jürgen Türk [F.D.P.]: Geheimpapier! – Dr.-Ing. Flughafen ohne ICE-Anschluss ist. Paul Krüger [CDU/CSU]: Eine Erwiderung geht doch nur direkt auf die Rede, Frau Präsi- (Rainer Fornahl [SPD]: Ist ja eine Lüge!) dentin! Das ist gar nicht zulässig, was Sie ma- chen, Her Schily!) Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Kolbe, – Lassen Sie mich doch darauf eingehen! Es ist ja interes- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolleginsant, Informationen dazu zu bekommen. Kaspereit? Ich habe nicht die Absicht, mit der Debatte auf das Schlichtungsverfahren im Rahmen der Tarifverhandlun- Manfred Kolbe (CDU/CSU): Wenn es nicht von der gen für den öffentlichen Dienst Einfluss zu nehmen. Aber Redezeit abgeht, ja. einige Feststellungen sind, so denke ich, notwendig. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9963

Bundesminister Otto Schily (A) Das erwähnte Schreiben betrifft die Frage der Perso- die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Das(C) nalgewinnung. Bei dem Absatz, der hier zitiert worden ist, wäre unfassbar gewesen. dürfen Sie folgenden Satz nicht übersehen: (Zuruf von der CDU/CSU: 1990 wäre er trotz- Soweit dies zur Personalgewinnung notwendig ist, dem losgelaufen und hätte das gemacht!) –sohatderMitarbeiterausdemMinisteriumgeschrieben– Zehn Jahre nach der Wende versuchen Sie, mit Taschen- spielertricks westlichen Kollegen Dinge zugute kommen erhebe ich keine Bedenken, wenn dieser Arbeit- zu lassen, und die östlichen Kollegen haben keine nehmer zunächst im Tarifgebiet West eingestellt wird. Chance. Das ist doch die wahre Situation. Ich habe kein Wort falsch vorgelesen. Natürlich sagen Sie, es betreffe Das betrifft meiner Kenntnis nach ganz wenige Fälle, die bloß wenige Fälle. Das können wir schlecht prüfen. Aber man an einer Hand abzählen kann, ist also keine generelle es betrifft Fälle; das ist die Tatsache. Vorgabe, die die Tarifstruktur berührt. (Beifall bei der PDS – Zuruf von der Herr Kollege Jüttemann, der Bund verhält sich in die- CDU/CSU: Herr Schily, es war vergebene Lie- ser Frage solidarisch mit den neuen Bundesländern und besmüh!) den Kommunen. Ich kann nur den Kollegen Milbradt zi- tieren, der an den Tarifgesprächen unmittelbar beteiligt ist. Er weist zu Recht darauf hin, dass er, wenn es um Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächste Rednerin in Transferleistungen geht, zunächst einmal daran denkt, die der Debatte ist jetzt die Kollegin Ingrid Holzhüter für die Transferleistungen für Investitionen zu verwenden und SPD-Fraktion. nicht für Tariferhöhungen, und dass auch der Abstand zur freien Wirtschaft – das Lohnniveau im Osten liegt näm- Ingrid Holzhüter (SPD): Frau Präsidentin! Kollegin- lich bei 75 Prozent des Westniveaus – deutlich erkennbar nen und Kollegen! Ich will eingangs auf Äußerungen wie bleiben muss. Ich glaube nicht, dass wir im öffentlichen „Schönrederei“ usw. zurückkommen. Ich denke, eine an- Dienst eine Anhebung auf 100 Prozent verantworten kön- gemessene Portion Stolz nen, wenn in der freien Wirtschaft nur 75 Prozent gezahlt werden. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Die haben wir gemeinsam!) Das sind die Bedingungen, an denen man sich orien- tieren muss. Man kann sehr viel wünschen; das tue ich in den neuen Ländern ist angebracht. auch. Ich hätte ja persönlich überhaupt nichts dagegen, (Beifall bei der SPD) (B) wenn wir auf 100 Prozent steigern würden. Allerdings (D) sollten dann im Osten netto nicht mehr als 100 Prozent Da leben nämlich flexible, intelligente und fleißige Leute herauskommen. Das wäre auch nicht die richtige Lösung. mit einer Biografie, hinter der sie sich nicht immer ver- stecken müssen nach dem Motto: Das war ja DDR. Ich Ich wäre dankbar, Herr Kollege Jüttemann, wenn Sie denke, wir müssen ein bisschen offensiver mit den Din- die Polemik, die aus Ihren Kreisen in diesem Bereich be- gen umgehen und dürfen nicht so tun, als hätten wir auch trieben wird, etwas zurückfahren könnten und den Men- an dieser Stelle noch die Teilung zwischen gut und böse, schen reinen Wein – Sie haben über Wein und Wasser ge- zwischen intelligent und faul oder wie auch immer. sprochen – über die wahren Gegebenheiten in den neuen Bundesländern einschenken würden. (Jürgen Türk [F.D.P.]: Das haben wir aber (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nicht gemacht!) GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist doch in der Öffentlichkeit oft ein Thema. Wir müs- sen dafür sorgen, dass das endlich aus den Köpfen ver- Vizepräsidentin Petra Bläss: Zur Erwiderung der schwindet, dass hier der eine jammert und da der andere Kollege Jüttemann, bitte. rudert, und dass wir alle daran denken: Wir haben überall sone und solche.

Gerhard Jüttemann (PDS): Ich habe wörtlich vorge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE lesen. Es stimmt ja wohl. Die Frage ist doch: Wie gehen GRÜNEN und der PDS) Sie an die Sache heran? Sie billigen möglicherweise ei- Der Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum nem Beamten, der im Ostteil arbeiten will, zu, über einen Stand der deutschen Einheit setzt im Vergleich zu den Vor- Umweg erst im Tarifgebiet West eingestellt zu werden, gängerberichten deutlich neue Akzente. Es ist der erste aber dann zurück ins Tarifgebiet Ost zu kommen undBericht der neuen Regierung. Er macht deutlich, dass Westgehalt zu bekommen. Es ist doch keinem Normal- beim Aufbau Ost eine Menge erreicht wurde. Durch bürger hier verständlich zu machen, dass heute zwei be- Schwerpunktsetzung ist der vorliegende Bericht der Bun- amtete Schutzpolizisten nebeneinander die gleiche Arbeit desregierung übersichtlicher und lesbarer geworden. machen, von denen der eine länger arbeitet und 15 Pro- zent weniger Lohn kriegt. Das können Sie nach zehn Jah- Lieber Herr Türk, es kann also nun endlich konkret nach- ren Wiedervereinigung niemandem erklären. Versetzen vollzogen werden, welche der aufgeführten Leistungen Sie sich einmal in die Situation. Hätte die alte Bundesre- wirklich in den Aufbau Ost geflossen sind, und der unsin- gierung den Menschen 1990 so etwas erzählt, hätte man nige Mix aus so genannten Transferleistungen, die Ost 9964 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Ingrid Holzhüter (A) und West inzwischen gleichermaßen zustehen, ist endlich Wenn uns die Opposition nun vorwirft, wir würden die (C) verschwunden. Jugendlichen dort nur parken, so hat sie sich durch diese Aussage selbst gründlich disqualifiziert. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Bericht zeigt auch auf, wo es noch drückende Pro- DIE GRÜNEN) bleme bei der Angleichung der Lebensverhältnisse zwi- schen Ost und West gibt und welche mit Priorität ange- Es bleibt notwendig, die gezielten arbeitsmarktpoliti- gangen werden müssen. schen Anstrengungen fortzusetzen. Das Riester-Pro- gramm trägt dazu bei. Doch, wie schon angedeutet, auch Der Aufbau Ost ist von dieser Bundesregierung aus die Wirtschaft muss in dieser Richtung etwas tun. guten Gründen zur Chefsache erklärt worden. Rolf Schwanitz wurde die Aufgabe des Beauftragten der Bun- Aber die Fahrtrichtung stimmt. Ich nenne einige desregierung für die Angelegenheiten der neuen Länder Schlaglichter. Die Aprilbilanz 2000 deutet auf eine Stei- übertragen und es gibt einen neuen Bundestagsausschuss gerung der Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze hin; die für Angelegenheiten der neuen Länder. Damit wird deut- Ausbildungslücke in den neuen Ländern ist jedoch noch lich, wo wir den Aufbau Ost ansiedeln. groß. Mit den neu erarbeiteten Ausbildungsverordnungen in den neuen Berufen ist auch hier ein erster Schritt getan, Vorrangiges Ziel ist und bleibt die Erreichung einer um Ausbildungsprofile und sich schnell verändernde Einheit in der Lebenswirklichkeit und im Bewusstsein der wirtschaftliche Betätigungsfelder neu aufeinander abzu- Menschen; dazu habe ich eingangs schon etwas gesagt. stimmen. Gerade im Bereich der Dienstleistungen zeich- Dieses Ziel haben wir trotz aller Bemühungen noch nicht nen sich weitere Wachstumsfelder ab, die durch das Be- erreicht. Wir versprechen keine Wunder und wir haben rufsbildungsgesetz, die Handwerksordnungen usw. bis auch noch einen langen Weg vor uns. Aber einige Voraus- jetzt nicht erfasst werden. setzungen haben wir schon geschaffen. Wir haben das Das Programm „Ausbildungsplatzentwickler“ des höchste Wachstum seit dem so genannten Einheitsboom, BMBF hat seit seinem Beginn im Juli 1995 einen wesent- wir haben über 3 Prozent mehr Lehrstellen, und wenn wir lichen Beitrag zur Mobilisierung geleistet. Allein im Zeit- den Prognosen glauben dürfen – ich glaube an die Zu- raum vom 1. März bis zum 31. August 1999 wurden über kunft –, dann werden wir demnächst 300 000 neue Jobs 14 000 Ausbildungsplätze zugesagt, von denen in der Re- haben. gel 70 Prozent realisiert werden. Dieses Programm wer- Die Politik der Bundesregierung hat also Erfolg. Die den wir fortführen. Förderprogramme für die berufliche Erstausbildung in (Beifall bei der SPD) (B) den neuen Ländern, auf die ich noch zu sprechen kommen (D) möchte, belegen dies exemplarisch. Auch durch die von den Kammern durchgeführten Pro- gramme „Ausbildungsberater“ und „Lehrstellenwerber“ Leider ist es so, dass die konjunkturellen Impulse in wurden im letzten Jahr mehrere tausend Ausbil- den neuen Ländern und Berlin noch nicht ausreichend dungsplätze geschaffen. zum Tragen gekommen sind. Die vielen Versäumnisse der Vergangenheit lassen sich eben nicht kurzfristig beheben. Für das Programm „Ausbildungsberater“ sind für 2000 Fördermittel in Höhe von 2 Millionen DM eingeplant. Bundeskanzler Schröder hat darauf hingewiesen, dass Das ist doch etwas! es bei den Ausbildungsplatzangeboten im Osten weiterhin (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Probleme gibt. Das liegt, wie ich glaube, daran, dass im Zuge der ostdeutschen Transformationsprozesse ganze Ich möchte an dieser Stelle auf das Riester-Programm Branchen weggebrochen sind, sodass einige Betriebe feh- eingehen. Das Ziel dieses Sofortprogramms war der Ab- len. Aber es gibt, wie auch im Westen, Betriebe, die nicht bau der Jugendarbeitslosigkeit. Es gab bis zum 31. De- ausbilden. Hier müssen wir etwas tun, wobei ich nicht zember 1999 219 055 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. vergesse, dass es für kleine und mittlere Betriebe manch- Allein in Ostdeutschland sind so 72 787 Jugendliche zu mal schwierig ist auszubilden. Da müssen wir ihnen hel- einer Ausbildung gekommen. Auch in diesem Jahr stehen fen, auch durch schon ausgebildete Hightechkräfte, damit wieder 2 Milliarden DM für dieses Programm zur Verfü- sie auf diesem Gebiet noch etwas nachbessern können. gung. Es wird erwartet, dass die Industrie im Osten gerade in (Beifall bei der SPD) diesem Bereich schon bald schneller wachsen wird als im Auch die Zusage der Wirtschaft, bis 2003 60 000 neue Westen. Fachleute bestätigen, dass die neuen Länder bald Ausbildungsplätze im IT-Bereich zur Verfügung zu stel- modernere Strukturen aufweisen werden als die altenlen, weist in die richtige Richtung. Länder. Sie werden also im wahrsten Sinne neue Länder sein. Aber wir brauchen nicht nur IT-Fachleute, sondern auch andere Fachkräfte. Nicht jeder Jugendliche ist ein Noch ein Wort zurüberbetrieblichen Ausbildung. geborener Akademiker. Viele Jugendliche haben eher Diese ist oft besser als ihr Ruf und keine „Discountaus- handwerkliche Fähigkeiten. Auch Jugendliche ohne einen bildung“. Ich höre sogar oft, dass man sich in diesen Be- qualifizierten Schulabschluss dürfen von uns nicht ver- trieben oft sehr viel intensiver um die Auszubildenden nachlässigt werden. Es gibt auch im nicht akademischen kümmert als in den gewinnorientierten Firmen. Raum durchaus zukunftsträchtige Berufe. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9965

Ingrid Holzhüter (A) Wir dürfen nicht vergessen, dass es neben der Unter- Seit der Wiedervereinigung sind beachtliche Fort-(C) qualifizierung noch ein weiteres Handicap gibt: die schritte in der Angleichung der Lebensverhältnisse Überqualifizierung. Das ist gerade in den neuen Ländern zwischen Ost- und Westdeutschen erreicht worden. der Fall. Ich kenne Frauen mit akademischer Ausbildung, Ich finde, das ist eine positive Aussage, die ich aus- denen, wenn sie einen Arbeitsplatz suchen, seitens poten- drücklich unterstreichen will. zieller Arbeitgeber gesagt wird: Sie sind überqualifiziert; Sie sind mir zu teuer. Dann gibt es noch die Menschen, die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und älter als 45 Jahre alt sind und angesichts unseres Jugend- der SPD – Frank Hempel [SPD]: Eine sachli- wahns teilweise überhaupt keine Chancen mehr haben. che!) Wir werden zwar immer älter; aber ab 45 gehören wirDas ist – so muss man hier feststellen – natürlich in erster schon fast zum alten Eisen. Ich packe alles noch hervor- Linie auf die Arbeit der alten Bundesregierung zurückzu- ragend, obwohl ich schon über 45 bin, wie viele von Ih- führen und nicht auf die der neuen Bundesregierung. nen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Die Bundesregierung hat die Probleme auf dem Weg Abgeordneten der F.D.P.) zur Vollendung der inneren deutschen Einheit im Auge und weist dies im vorliegenden Bericht nach. Denn ich hatte heute manchmal den Eindruck, als ob für alle positiv zu verzeichnenden Entwicklungen die jetzige Meine Redezeit ist knapp; aber trotzdem will ich den Regierung verantwortlich sei. Goldenen Plan Ost erwähnen. Ich bin auch Sportpoliti- kerin. Ich denke, dass es ein gutes Zeichen ist, dass wir (Dr. Mathias Schubert [SPD]: Sie waren nicht auch an anderen Stellen zur Gleichheit beitragen möch- von Anfang an da, Herr Kollege! Da hätten Sie ten. mal Herrn Nooke hören müssen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr.-Ing. Ich zähle Ihnen einige Fakten auf, die positiv sind: die Paul Krüger [CDU/CSU]: Viel zu wenig!) Angleichung der sozialen Bedingungen insbesondere im Bereich des Gesundheitswesens, der Aufbau der Kommu- Der Bundeshaushalt steckt natürlich den Rahmen ab. nikations- und Verkehrsnetze, bei denen es noch immer Das wissen Sie so gut wie wir. Trotzdem liefert der vor- viele Defizite gibt, der Wohnungsbau und vor allen Din- liegende Bericht den notwendigen Überblick, was insge- gen die Wohnungssanierung, die Zahl der Existenzgrün- samt noch zu tun ist und was wir tun können. dungen und deren Entwicklung sowie – nicht zu verges- (Jürgen Türk [F.D.P.]: Der Goldene Plan ist sen – die Umwelt- und Altlastensanierung. Diesen Kata- nur noch ein Silbener!) log könnte man erweitern. Ich zähle diese Dinge deshalb (B) auf, damit Sie nicht behaupten können, wir würden alles (D) Der Bericht liefert kompakte Informationen. Denn auch mies machen. Im Gegenteil – Herr Nooke hat deutlich da- wir als Parlament sind aufgefordert, etwas zu tun. Wir rauf hingewiesen –, es gibt eine positive Entwicklung – können und wollen ja nicht alles der Regierung überlas- dies ist immer wieder zu konstatieren – und die haben wir sen. gestaltet. Als so genannter „Wossi“ mit Berliner kommunaler (Beifall bei der CDU/CSU) Erfahrung sage ich Ihnen: Wir sind auf dem richtigen Weg. Deshalb bitte ich um zustimmende Kenntnis-Trotzdem scheint es heute in den neuen Bundesländern nahme des vorliegenden Jahresberichtes. Ich fordere die eine gewisse Stagnation – man möchte fast sagen: eine Bundesregierung auf, uns die Fortführung des Berichtes Resignation – zu geben. Herr Schwanitz, da stimme ich in gleicher Weise zur Kenntnis zu geben. mit Ihrer Einschätzung nicht überein. Ich bedanke mich für die gute Arbeit. Die neue Bundesregierung muss sich fragen lassen: Wo sind die Ursachen für die stagnierende Unterneh- (Beifall bei der SPD – Klaus Haupt [F.D.P.]: mensentwicklung, das stagnierende Wachstum und die Ein bisschen realistischer bitte!) zunehmende Zahl von Insolvenzen zu suchen? Womit Ein bisschen weniger zu jammern und sich etwas mehr zu sind die rückläufigen Investitionen zu begründen? freuen wäre – auch für unser Haus – eine ganz gute Sache. (V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. ) Vielen Dank. Einen Grund dafür hat Herr Kolbe hier aufgezeigt: Der Bundeshaushalt weist rückläufige Investitionszahlen aus. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es ist klar, dass diese daraus resultierenden Einbrüche DIE GRÜNEN) auch den Bausektor belasten. – Was ist der Grund für die Stagnation auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere für die Vizepräsidentin Petra Bläss: Es spricht jetzt der Kol- Stagnation der Zahl der Arbeitslosen bei gleichzeitigem lege Dr. Paul Krüger, Fraktion der CDU/CSU. Wegfall von Arbeitsplätzen in einem enormen Umfang? Zur schlechten Stimmung tragen auch emotionale Fak- Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! toren bei; darauf geht der Bericht ein. Dort steht: Die Ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zitiere aus dem Jah- wirklichung der deutschen Einheit ist mehr als finanzielle resbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deut- Hilfen und wirtschaftliches Wachstum. Dieinnere Ein- schen Einheit. heit braucht auch eine emotionale Basis. –Ich frage 9966 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Dr.-Ing. Paul Krüger (A) mich: Wer ist eigentlich verantwortlich für die schlechte Europas, welches derzeit verwirklicht wird. Ich habe mir (C) Stimmung, die hier eingetreten ist? Die neue Bun-gestern von der Dasa die Zahlen geben lassen. Die DASA desregierung hat es innerhalb eines Jahres geschafft, das gibt an, dass durch dieses Projekt 15 600 direkte Arbeits- Vertrauen, das viele Bürger gerade in Ostdeutschland in plätze und 31 200 indirekte Arbeitsplätze – macht zusam- sie gesetzt haben, massiv und nachhaltig zu erschüttern. men 46 800 Arbeitsplätze – in Deutschland geschaffen Dafür gibt es leider viele Beispiele. werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist doch Traum- neten der F.D.P. – Zuruf von der SPD: An wel- tänzerei!) cher Stelle?) Die Masse dieser Arbeitsplätze wird jedoch nicht in Ost- Lassen Sie mich einige Beispiele dafür aufführen,deutschland entstehen. Im Gegenteil, dort wird fast kein warum die Menschen erkannt haben, dass der Aufbau Ost Arbeitsplatz entstehen, und das, obwohl die Bundesregie- für die neue Bundesregierung nicht Herzens-, sondern rung auf diese Entwicklung natürlich nachhaltig Einfluss nur Chefsache ist. Schauen Sie sich einmalhat; diedenn sie soll auch dieses Projekt fördern, und zwar Mehrbelastungen an! Die Ökosteuer zum Beispiel be- mit einem enormen Investitionsvolumen. Wir wissen alle, lastet die ostdeutschen Haushalte und Unternehmen in be- dass die Flugzeugindustrie in Deutschland mit Unter- sonderem Maße. Die Mineralölsteuererhöhung benach- stützung des Staates aufgebaut worden ist. Trotzdem teiligt die Vermögens- und Einkommensschwachen bei kümmert sich dieser Bundeskanzler, der jetzt leider nicht gleicher Belastung natürlich überproportional. Dies gilt mehr hier ist, keinen Deut darum, dass aufgrund dieses auch für die Flächenländer, die dünn besiedelten Länder Projekts in Ostdeutschland, insbesondere in Mecklen- in Ostdeutschland. burg-Vorpommern, mehr Arbeitsplätze entstehen. Das (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) halte ich für einen politischen Skandal. Genauso ist es mit der mittelständischen Wirtschaft. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist eben nicht so, wie Sie heute gesagt haben. Die mit- Wenn Sie solche Maßnahmen beschließen, dürfen Sie telständische Wirtschaft wird durch die Steuerreform, die sich nicht wundern, dass in der Folge die Konjunktur in Sie gestern verabschiedet haben, verstärkt belastet. Ostdeutschland einbricht, dass die Arbeitslosigkeit nicht (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) sinkt, sondern stagniert, und dass gleichzeitigArbeits- plätze vernichtet werden bzw. nicht entstehen können. Herr Schwanitz, Sie haben nicht Recht, wenn Sie sagen, Eine weitere Folge sind die Abwanderung von Leistungs- in Ostdeutschland gebe es nur kleine Unternehmen. Wir trägern, insbesondere von qualifizierten Jugendlichen, haben nicht nur Existenzen mit kleinen Einkommen bzw. (B) und der Wohnungsleerstand, den wir allenthalben bekla- (D) kleinen Gewinnen. Gerade die Unternehmen im innovati- gen müssen. Herr Nooke ist darauf eingegangen. ven Bereich brauchen Gewinne, die sie wieder einsetzen können, um wachsen zu können. Genau an dieser Stelle Meine Damen und Herren, wir müssen eine positive aber greifen Sie ein. Damit blockieren Sie das Wachstum Stimmung erzeugen. Dass es Beispiele dafür gibt, dass in Ostdeutschland. wir sie erzeugen können, kann ich Ihnen sagen. Ich (Sabine Kaspereit [SPD]: Das ist doch nicht nenne das Programm „FUTOUR“. Die Mittel für wahr!) „FUTOUR“ waren im letzten Haushalt gestrichen wor- den; das Programm sollte 1999 auslaufen. Im Haushalt für Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben 2000 waren keine Mittel dafür enthalten. Wir haben uns den Transrapid auf das Abstellgleis geschoben. Das trifft daraufhin bemüht, mit einem Antrag und durch massive Ostdeutschland ganz besonders hart. Intervention das Programm wieder zu starten. Das ist uns (Beifall bei der CDU/CSU – Sabine Kaspereit nach langem Kampf gelungen. Die Bundesregierung hat [SPD]: Wieso?) das eingesehen. Warum sollte man das von dieser Stelle aus nicht positiv erwähnen? Die Bundesregierung hat un- Man muss es sich einmal vorstellen: 30 Jahre lang ist ent- sere Initiative aufgegriffen und hat das Programm verlän- wickelt worden. Alle möglichen Regierungen haben die- gert. Dadurch können – das hat heute schon jemand ge- ses Projekt unterstützt. Aber jetzt, da es sozusagen baureif sagt – in den neuen Bundesländern viele Arbeitsplätze ist, stellen Sie es auf das Abstellgleis. entstehen. Wir können doch auch anders. Warum orien- (Jörg Tauss [SPD]: Quatsch!) tieren wir uns nicht mittelfristig an diesen positiven Bei- spielen? Das trifft die neuen Länder besonders hart. Deshalb fordere ich Sie und die Bundesregierung auf: (Sabine Kaspereit [SPD]: Warum?) Nehmen Sie in dieser Hinsicht Vernunft an. Sorgen Sie Sie machen auch eine falsche Arbeitsmarktpolitik; da- dafür, dass eine positive Stimmung in den neuen Bundes- rauf ist heute schon eingegangen worden. ländern entstehen kann. Machen Sie eine mittel- standsfreundliche Steuerreform. Realisieren Sie die Trans- (Sabine Kaspereit [SPD]: Das müssen Sie mir rapid-Strecke von Berlin nach Hamburg. Machen Sie eine einmal erklären!) Arbeitsmarktpolitik, die den Arbeitslosen eine echte Ich will noch ein Beispiel nennen, das mich besonders Chance auf Dauerarbeitsplätze sichert. Setzen Sie sich für bekümmert. Der A3XXist das größte Industrieprojekt den A3XX-Standort in Mecklenburg-Vorpommern ein. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9967

Dr.-Ing. Paul Krüger (A) Dann haben die Menschen in Ostdeutschland und hat nicht Das jahrelange Wirtschaften auf Pump und die sich daraus (C) zuletzt die Wiedervereinigung wieder eine echte Chance. ergebende enorme Zinsbelastung haben dramatische Aus- wirkungen gerade für den Gestaltungsspielraum in Ost- Vielen Dank. deutschland. Es gibt aus meiner Sicht keine Alternative (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei zur Haushaltskonsolidierung. Wenn es uns gelingt – ich Abgeordneten der F.D.P.) bin davon überzeugt, dass es uns gelingt –, die Staatsver- schuldung abzubauen, werden wir die freigesetzten Mit- tel, die wir dann nicht mehr für Zinsen ausgeben müssen, Vizepräsidentin Dr. Antje VollmerDas Wort hat : zum Beispiel in die Infrastruktur der neuen Bundesländer jetzt der Abgeordnete Frank Hempel. lenken. Da haben wir die Mittel, die uns heute fehlen, dringend nötig. Frank Hempel (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren! Werte Kollegen! Ich möchte zuerst zu dem etwas sagen, was Herr Krüger gerade zum Zweitens. Die neue Bundesregierung hat einSteuer- A3XX vorgetragen hat. Herr Krüger, Sie sind bei diesem entlastungsgesetz auf den Weg gebracht, das insbeson- Thema in Ihrer Funktion als Ausschussvorsitzender stets dere den Menschen in Ostdeutschland zugute kommt. so vorgegangen, dass Sie das Fell des Bären immer schon verteilt haben, ehe er überhaupt erlegt war. (Jürgen Türk [F.D.P.]: Woher wisst ihr denn das? Behaupten Sie das nicht immer!) (Beifall bei der SPD – Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie haben ja nicht einmal eine Die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 15 Prozent Flinte in die Hand genommen!) und der erhöhte Steuerfreibetrag stärken gerade die vielen Bezieher niedriger Einkommen Sie wissen ganz genau, dass bis heute dazu keine Ent- scheidung getroffen wurde. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Legen Sie doch einmal Zahlen vor!) (Zuruf von der CDU/CSU: Die Bundesregie- rung hat keine Entscheidung getroffen! – und Familien mit geringem Einkommen. Sie wissen ge- Günter Nooke [CDU/CSU]: Sie wollte ja gar nauso gut wie ich, Herr Türk, dass gerade jene überpro- nicht!) portional in den neuen Bundesländern vorhanden sind. Sie haben in der Anhörung, die Sie veranstaltet haben, (Beifall bei der SPD – Jürgen Türk [F.D.P.]: versucht, die Vertreter von Airbus Industrie zu einer Aus- Aber wir müssen doch auch Arbeitsplätze sage zu nötigen. Sie wissen ganz genau, dass das Vertre- schaffen!) (B) ter der Wirtschaft sind, denen Sie keine Vorschriften ma- – Jawohl! Dies führt zu einer erhöhten Nachfrage im Be- (D) chen können. Den Gefallen, eine Aussage zu treffen, ha- reich des Handels und des Handwerks und stärkt nicht zu- ben sie Ihnen auch nicht getan. Sie haben aber sowohl der letzt die Kaufkraft. Das ist doch ein positiver Effekt, den Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern alswir alle wollen. auch der Bundesregierung bestätigt, dass sie alles getan haben, um eine Ansiedlung vorzubereiten und zu ermög- (Jürgen Türk [F.D.P.]: Das wollen wir auch, lichen. Das wollte ich hier noch einmal gesagt haben. aber nicht nur!) (Beifall bei der SPD – Dr.-Ing. Paul Krüger Wir machen eine Unternehmensteuerreform, von der [CDU/CSU]: Mit welchem Erfolg denn?) die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Ost- deutschland besonders profitieren werden. Entgegen allen Nun zur Sache. Bei der Berichterstattung zum Stand Behauptungen ist dies deshalb der Fall, weil in den neuen der deutschen Einheit konzentriert sich die neue Bundes- Ländern die kleinen und privaten Personengesellschaften regierung künftig auf eine aktuelle und insgesamt auch vorherrschend sind. kürzere und prägnante Darstellung. Wir werden zukünftig die Zahlungsströme herausstellen, die der wirtschaftli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des chen Entwicklung ausschließlich in Ostdeutschland in be- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen sonderer Weise zugute kommen. Da gehören solche Türk [F.D.P.]: Warum macht ihr denn überhaupt Dinge wie BAföG und Kindergeld überhaupt nicht mit hi- einen Unterschied, wenn das so ist?) nein. Das haben Sie, meine Damen und Herren von der Viele Unternehmen kommen, was das Betriebsergeb- Opposition, ja immer in Ihre Zahlenspiele mit hinein ge- nis betrifft, gar nicht erst in die Gelegenheit, den von der nommen. Wir haben uns dann immer über diese großen Union favorisierten gesenkten Spitzensteuersatz zahlen Zahlen gewundert, mit denen Sie argumentiert haben. Ich zu müssen. Das wissen Sie doch ganz genau. begrüße, dass die neue Bundesregierung einen Weg des ehrlichen Umgangs mit den Zahlen gewählt hat. (Jürgen Türk [F.D.P.]: Das sind doch alles Schutzbehauptungen!) Insgesamt – das lässt sich für jedermann erkennen – setzt die Koalitionsregierung neue Maßstäbe beim Auf- Der liegt für so manche Personengesellschaft in ganz wei- bau Ost. Lassen Sie mich das wie folgt begründen: ter Ferne. Denen helfen wir aber nur dadurch, dass wir den Eingangssteuersatz – in Verbindung mit dem Steuerfrei- Erstens. Um in Zukunft, was die Entwicklung der betrag – heruntersetzen. neuen Bundesländer betrifft, noch handlungsfähig zu sein, ist es unumgänglich, die Staatsfinanzen zu sanieren. (Beifall bei der SPD) 9968 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Frank Hempel (A) Hinzu kommt: Die Anrechenbarkeit der Gewerbe-grund der notwendigen Überprüfung und Anpassung an (C) steuer auf die Einkommensteuer führt zu einer Stärkung veränderte Rahmenbedingungen. Die Bundesregierung der Eigenkapitalbasis in den Betrieben. hat mit einem Bündel von Maßnahmen den Aufschwung Ost vorangetrieben. Dabei kommt der Förderung von In- (Jürgen Türk [F.D.P.]: Warum lasst ihr sie nicht gleich wegfallen?) novation, Forschung und Entwicklung sowie deren Ver- netzung mit der Wirtschaft eine große Bedeutung zu. Das schafft Investitionsanreize, die sich längerfristig auch auf dem Arbeitsmarkt niederschlagen werden. Beispielgebend sei hier das Programm Inno-Regio ge- nannt, das regionale Initiativen in einem Wettbewerb mo- Beides – die Haushaltskonsolidierung und die bereits bilisiert. Es hat exemplarische Funktion für eine neue För- im Vorfeld angekündigte Steuerentlastung für die Unter- derpolitik des Bundes. Das muss man doch zur Kenntnis nehmen – hat in Deutschland einen Aufschwung bewirkt, nehmen! wie es ihn seit vielen Jahren nicht mehr gegeben hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Jürgen Türk [F.D.P.]: Das hat etwas mit der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Weltkonjunktur zu tun!) Jürgen Türk [F.D.P.]: Das Einzige, was gut Nach Zeiten der Stagnation gehen dieArbeitslosenzah- war!) len in den alten Ländern deutlich nach unten. Die Preis- Das Programm PRO INNO, das die Forschungskoope- steigerungsraten bleiben stabil. Das ist – nebenbei ge- ration zwischen Unternehmen und mit Forschungsein- sagt – ein besonders sozialer Faktor auch für die Men- richtungen im In- und Ausland einschließlich eines zeit- schen in Ostdeutschland. weiligen Personalaustausches fördert, ist ein weiteres (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beispiel. Daneben tun wir etwas im Bereich der zukunfts- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) orientierten Wirtschaftsförderung. Motor bei dieser Entwicklung ist die Exportwirtschaft. Ich hätte mir gewünscht, die alte Bundesregierung wäre hier ihrer Verantwortung gerecht geworden. Dann Zwar auf niedrigem Niveau, aber doch ebenfalls deut- hätten die neuen Bundesländer heute Vorreiter auf diesem lich – das ist sehr erfreulich, darauf hat der Staatsminister Gebiet sein können. Auch die aktuelle Green-Card-Kam- hingewiesen – entwickeln sich die Exportchancen auch pagne verdeutlicht, dass im Osten Chancen im Zuge der für die ostdeutschen Unternehmen. Wir unterstützen mit Umstrukturierung der Ausbildung vergeben wurden. unserer Fraktion und dem Ausschuss für Angelegenheiten Auch das muss man an dieser Stelle einmal deutlich sa- der neuen Länder einen Antrag zur „Stärkung von Absatz gen. und Export der ostdeutschen Wirtschaft“. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) Es geht uns darum, kleinen Unternehmen und zahlrei- (D) chen Neugründern zu helfen, die nach wie vor erhebliche Die Bundesregierung setzt neue Akzente bei der Schwierigkeiten haben, auf internationalen Märkten Fuß Risikokapitalfinanzierung von Existenzgründern. So wurde zu fassen. Bei ihnen fehlt es oft am Know-how, an ausrei- das ERP-Innovationsprogramm, das von der Kreditan- chenden finanziellen Mitteln und am Einsatz moderner stalt für Wiederaufbau durchgeführt wird, seit Januar 1999 Informationstechnologien. Hier werden wir flankierende um eine Beteiligungsvariante – hier handelt es sich um voll Hilfen anbieten und wir ermuntern die Wirtschaft sowie haftendes Risikokapital anstelle von Bankdarlehen – er- die Regierungen der neuen Länder, ihre Export- und Ab- gänzt. satzhilfen fortzuführen. Man kann beispielsweise Unter- Viertens haben wir bei derArbeitsmarktpolitik ge- stützung bei Messeauftritten im In- und Ausland oder im handelt. Angesichts der immer noch erheblichen Arbeits- Bereich der sprachlichen Hilfestellung leisten. losigkeit in den neuen Ländern ist dies auch unverzicht- Das prognostizierte Wachstum von 2,8 Prozent in die- bar. Mein Wahlkreis liegt in Mecklenburg-Vorpommern sem Jahr und die positiven Aussichten für das nächste Jahr zwischen Müritz und dem Oderhaff, einer landschaftlich sind die Voraussetzung für einen deutlichen Abbau der Ar- sehr reizvollen Gegend. Aber trotz einer aufstrebenden beitslosigkeit, auch im Osten. In Ostdeutschland wird sich Tourismuswirtschaft gibt es dort immer noch eine struktu- dieser Effekt, der in den alten Bundesländern bereits ein- rell bedingte Arbeitslosenquote von 20 bis 25 Prozent. getreten ist, zwar zeitversetzt und von einem niedrigen Daher hat das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Niveau ausgehend, ebenfalls einstellen. Davon bin ich Wettbewerbsfähigkeit eine große Bedeutung für die überzeugt. Überwindung der Arbeitslosigkeit. Erfreulich ist das wirtschaftliche Wachstum in den (Beifall bei Abgeordneten der SPD) neuen Bundesländern im Bereich des verarbeitenden Ge- Erfreulich ist, dass sich alle Bündnispartner ihrer Verant- werbes von 5 Prozent im Jahre 1999. Das Institut für Wirt- wortung bewusst sind. Dies ist keine „Quasselbude“, wie schaftsforschung Halle hält in diesem Jahr 6,5 Prozent für Sie es immer beschrieben haben. Vielmehr zeigen die möglich. Diese Zahlen – dessen bin ich mir bewusst – jüngsten maßvollen Tarifeinigungen in der Bauindustrie werden allerdings durch die nicht befriedigende Entwick- Ostdeutschlands, wie dieser Verantwortung Rechnung ge- lung im Bauhauptgewerbe beeinträchtigt. Das ist hier be- tragen wird. reits mehrere Male angesprochen worden, und wir wissen alle, dass sich hier gegenwärtig noch ein Strukturwandel (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vollzieht. Gerade den arbeitslosen Jugendlichen haben wir mit Drittens. Wir gestalten die Wirtschaftsförderung ge- unserem JUMP-Programm wieder eine Perspektive ge- zielter und effizienter, und zwar gerade vor dem Hinter- geben. Ich war in den Arbeitsämtern meines Wahlkreises. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9969

Frank Hempel (A) In den Gesprächen mit den Leitern dieser Arbeitsämter ist Herr Hempel, so einfach, wie Sie es dargestellt haben (C) mir bestätigt worden, dass diese Initiative greift und dass und wie Sie es sich machen, ist es leider nicht. Wenn so- auch erfolgreiche Eingliederungen in den ersten Arbeits- wohl die Landesregierung als auch die Bundesregierung markt zu verzeichnen waren. nichts weiter tun, als das Konzept für den Standort Ros- All die von mir aufgezeigten Beispiele machen deut- tock/Laage, das dazu dienen sollte, die Endmontage des lich, dass die Bundesregierung neue Akzente setzt, dass Großflugzeuges A3XX dort anzusiedeln, zu übergeben sie gehandelt hat und weiterhin handeln wird, um die Pro- und danach zu schweigen bzw. lediglich auf irgendwel- bleme in Ostdeutschland einer Lösung zuzuführen. chen Veranstaltungen, an denen in der Regel kaum Publi- kum von außen teilnimmt, den Eindruck zu vermitteln versuchen, dass man für diesen Standort kämpfen würde, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Herr Kollege, : dann reicht das nicht. denken Sie bitte an die Redezeit. (Zuruf von der SPD: Die Entscheidung fällt Frank Hempel (SPD): Ich komme gleich zum Ende. – immer noch im Unternehmen!) Dazu bedarf es allerdings auch weiterhin des solidari- Die gesamte Flugzeugindustrie in Deutschland ist schen Handelns aller Bundesländer. Dies gilt auch imdurch massive staatliche Interventionen in den 60er-, Hinblick auf den ab 2004 neu zu gestaltenden Solidar- 70er- und 80er-Jahren entstanden ist. Dies wissen Sie al- pakt II. les. Die Gelder, die gezahlt worden sind, um diese Indus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten trie aufzubauen, gehen in die Milliarden. Es waren brutto des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) etwa 15 Milliarden DM. Es sind Rückzahlungen erfolgt, sodass in diese Industrie netto etwa 10,2 Milliarden DM hi- Den Bemühungen der bayerischen Landesregierung so- neingeflossen sind. Heute wäre dies wegen der internatio- wie Baden-Württembergs, die die Intention haben, sich nalen Wettbewerbskontrolle gar nicht mehr möglich. aus der Verantwortung für Ostdeutschland zu verabschie- den, werden wir auch in Zukunft energisch entge-Das Konsortium Airbus International hat vor, ein neues gentreten. Großflugzeug zu bauen. Der Entwicklungsaufwand (Beifall bei der SPD) beläuft sich auf etwa 11 Milliarden Dollar. Allein in Deutschland entstehen – dies mögen sich alle auf der Die Bundesregierung bemüht sich aus meiner Sicht Zunge zergehen lassen – 46 800 neue Arbeitsplätze; so nach Kräften, den Aufbau Ost voranzutreiben. prognostiziert von der deutschen Airbus. (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?) (B) Wir wollen, dass Mecklenburg-Vorpommern zusätz-(D) Die CDU-geführten Länder müssen sich aber genau über- lich zu dem marginalen Anteil, den die neuen Bundeslän- legen, – der an der Zulieferindustrie haben, trotz Konkurrenz mit den vielen westdeutschen Standorten eine Chance bekommt, dort wieder Flugzeuge zu bauen. In die- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, dies muss nun wirklich der letzte Satz sein. sem Land wurden vor dem Krieg von etwa 20 000 Men- schen Flugzeuge gebaut, so wie im Chemiedreieck die Chemieindustrie und in anderen Regionen, so in Sachsen, Frank Hempel (SPD): – ob sie mit ihrer Ablehnung die Mikroelektronikindustrie angesiedelt war oder ist. der Spar- und Steuerbeschlüsse von letzten Endes die Voraussetzungen für den weiteren Aufbau Ost Da kann man sich darüber streiten, ob es möglich ist, blockieren. einen Endmontageplatz für ein solches Flugzeug auf die grüne Wiese zu setzen. Wir haben uns dafür eingesetzt, Ich danke. und da die Bundesregierung hier nicht gehandelt hat, son- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dern Herr Schröder sich sogar durch aktives Handeln für DIE GRÜNEN) den Hamburger Standort eingesetzt hat, haben wir ge- meint, wir müssen dagegen etwas unternehmen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- Deshalb haben wir mit dem gesamten Ausschuss – tervention erhält der Kollege Krüger das Wort. Sie haben übrigens auch mit Ihren Stimmen – diese Anhörung dann die Möglichkeit zu antworten. durchgeführt und versucht, die Öffentlichkeit darauf auf- merksam zu machen, welcher politische Skandal es ist, Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Herr Hempel, Sie wenn die neue Bundesregierung sich mit keinem Feder- haben mich vorhin direkt angesprochen. Ihre Aussagestrich dafür einsetzt, dass tatsächlich in Mecklenburg- kann ich so nicht stehen lassen. Deshalb bitte ich die Kol- Vorpommern wieder Flugzeugbau stattfindet. legen um Verzeihung, dass ich ihre wertvolle Zeit jetzt (Beifall bei der CDU/CSU) noch in Anspruch nehme. (Jörg Tauss [SPD]: Sie haben uns heute schon Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege genug gelangweilt!) Krüger, eine Kurzintervention dauert wirklich nur drei – Lassen Sie doch Ihre unqualifizierten Störungen. Minuten. 9970 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

(A) Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Dafür werden wir Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- (C) weiter kämpfen, und ich bin auch hoffnungsfroh, dass es schlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der SPD uns gelingen wird, hier zumindest im Zulieferbereich ei- und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Fortsetzung der niges zu tun. Aber wesentlich mehr Engagement durch die Berichterstattung der Bundesregierung zum Stand der Bundesregierung hätte man hier nicht nur erwarten dür- deutschen Einheit auf Drucksache 14/2238 anzunehmen. fen, sondern müssen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden, aber die CDU/CSU hat sich enthalten. Frank Hempel (SPD): Herr Krüger, wir hatten ja Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be- nichts gegen die Anhörung, aber man kann sich dann nicht schlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der hinstellen und die Vertreter von Daimler-Chrysler und CDU/CSU zur Weiterführung des Jahresberichts der Bun- von Airbus Industrie zu einer Aussage nötigen. Das wis- desregierung zum Stand der deutschen Einheit auf Druck- sen Sie doch ganz genau. sache 14/1715 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- (Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Lesen Sie schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – mal die Protokolle!) Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. Sie wissen auch genau, wie sensibel dieses Thema ei-und PDS angenommen worden. gentlich zu behandeln gewesen wäre, denn wenn sich zwei streiten, freut sich in der Regel der Dritte, in diesem Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Fall Toulouse. Drucksache 14/2242 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Zunächst einmal muss das Ding nach Deutschlandverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung kommen, und dann können wir uns darüber unterhalten. so beschlossen. Das war immer unsere Intention. Ansonsten sind wir da überhaupt nicht unterschiedlicher Meinung. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Angelegenheiten der neuen Länder zu dem Antrag Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Sie haben sich da der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Strompreise in strategisch nicht vernünftig verhalten. Das muss ich Ihnen Deutschland angleichen – neue Stromsteuern im Osten immer wieder vorwerfen. aussetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Drucksache 14/1314 abzulehnen. Wer stimmt für diese des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (B) gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der (D) Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Danke. Ich CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen wor- schließe damit die Debatte. Wir kommen zu den Abstim- den. mungen und Überweisungen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Zunächst kommen wir zur Beschlussempfehlung des Fraktion der CDU/CSU zur Fortsetzung der Förderung Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder auf technologieorientierter Unternehmensgründungen in den Drucksache 14/2608 zu drei Vorlagen zum Stand derneuen Ländern auf Drucksache 14/2954. deutschen Einheit. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1594 schlussempfehlung, den Jahresbericht 1999 der Bundes- für erledigt zu erklären. Wer stimmt dem zu? – Gegen- regierung zum Stand der deutschen Einheit zur Kenntnis stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – ist einstimmig angenommen. Gegenstimmen? – Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft (Zuruf von der SPD: Nicht zur Kenntnis ge- und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur nommen? – Gegenruf des Abg. Dr. Peter bedarfsgerechten Weiterentwicklung der Förderung und Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben das über- Unterstützung von technologieorientierten Unterneh- haupt nicht gelesen! Lesen Sie mal, was da drin- mensgründungen: Der Ausschuss empfiehlt unter Buch- steht!) stabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/2152 abzulehnen. Wer stimmt für diese Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen dergen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des CDU/CSU angenommen worden. ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen (Zuruf von der SPD: Zu faul zum Lesen!) worden.

– Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ja sehr spät. Ich Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: bemühe mich, die Verhandlungen hier bei allem, was pas- siert, einigermaßen zügig durchzubringen. Bitte unter- Aktuelle Stunde stützen Sie mich doch dabei. auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9971

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Haltung der Bundesregierung, insbesondere des haben Stellungnahmen der Christdemokraten. Wir haben (C) deutschen Außenministers Joseph Fischer, zu Stellungnahmen der Freien Demokraten. den europapolitischen Aussagen des Bürgers (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE Joschka Fischer am 12. Mai 2000 GRÜNEN]: Von Herrn Genscher!) (Heiterkeit – Detlev von Larcher [SPD]: – Es gibt aber bisher, Herr Schlauch, überhaupt keine Stel- Bürger Fischer!) lungnahme vonseiten der Grünen zu Herrn Fischers Vor- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der schlägen. Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann. (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Denen hat es (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Sprache verschlagen!) NEN]: Jetzt kommt wahrscheinlich der Bürger Ich kann nur sagen, dass das eine schwache Vorstellung Haussmann!) ist. Herr Fischer, große Initiativen waren immer Initiativen Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Frau Präsidentin! zweier oder dreier Länder. Ich erinnere an die Colombo- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Außenminis- Genscher-Initiative, die sehr wichtig war. Ich erinnere an ter ist rechtzeitig zurück aus Indien, von einer sehr wichti- die Initiative von Herrn Genscher zum Weimarer Dreieck gen Reise, die wir ausdrücklich begrüßen, und wir haben mit Herrn Kubiczewski und Herrn Dumas. Die Frage ist: heute wenigstens kurz die Möglichkeit, sehr wichtige eu- Inwieweit ist das ein persönlicher deutscher Alleingang? ropapolitische Vorstellungen dort zu diskutieren, wo sie Inwieweit sind das Vorstellungen, die unser wichtigster eigentlich hingehören, nämlich im Parlament, meinePartner, Frankreich, teilt, was bei solchen Initiativen im- Damen und Herren. mer entscheidend ist? (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Der entscheidende Punkt aber ist, Herr Fischer: Sie Peter Hintze [CDU/CSU]: Da gehört es hin!) machen den dritten vor dem ersten Schritt. Heute geht es darum, zu fragen, welche Zwischenschritte es gibt. Wo Seit langer Zeit fordert die F.D.P. eine Grundsatzdis- bleibt die Umsetzung? Visionen sind gut, meine Damen kussion über Ziele und Finalität des europäischen Inte- und Herren. Aber in zehn Jahren haben die Grünen mit der grationsprozesses. Insofern, Herr Fischer – damit hierkonkreten Gestaltung der Regierungspolitik in Sachen keine Missverständnisse entstehen –, begrüßen wir eine Europa sowieso nichts mehr zu tun, meine Damen und grundsätzliche Diskussion über Europa ausdrücklich. Es Herren. gibt in Ihren Überlegungen ja auch eine Menge guter Vor- (B) stellungen von Herrn Genscher, von Herrn Kinkel: Ver- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) fassungsidee, föderative Struktur. Das ist wahrlich nichts NEN]: Das ist ein so kleinkarierter Knabe! – Neues. Am Gedenktag von Robert Schuman ist aus Zuruf von der SPD: Hochmut kommt vor dem Joschka Fischer kein zweiter Robert Schuman entstanden, Fall!) aber es ist eine solide Grundlage. Deshalb, verehrte Sozialdemokraten, fordere ich Herrn Wir haben heute nicht die Zeit, über die ganze Sache zu Fischer auf: Kehren Sie zu einer realistischen Europapol- sprechen. Aber es gibt zwei wichtige Knackpunkte. Ers- itik zurück! Derzeit gehen von Deutschland keine kon- tens. Die F.D.P. wendet sich gegen jede aufgewärmtekreten Fortschritte aus. Form einer Kerneuropaidee. Wir wollen umgekehrt, dass Herr Schlauch, nehmen Sie zur Kenntnis, dass die wir möglichst viele Versuche machen, alle Länder einzu- F.D.P. die Grünen bei den letzten wichtigen Wahlen ge- beziehen. Wir sind auch gar nicht der Meinung, dassschlagen hat und dass die Freidemokraten inzwischen die die sechs Gründerländer die integrationsfreundlichsten dritte Kraft sind! Länder sind, Herr Fischer. Wir sollten Länder wie die skandinavischen Länder, insbesondere Finnland und an- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) dere Länder, in der Avantgarde nicht ausschließen. Die Zustimmung zu Europa ist bei uns und in den (Beifall bei der F.D.P.) neuen Beitrittsstaaten Osteuropas rückläufig. Wir brau- chen endlich konkrete Schritte. Wir brauchen eine Zweitens. Der Zweikammervorschlag bedarf einerdeutsch-französische Initiative. äußerst sorgfältigen Erörterung. Es ist eine gute Idee. Die- ser Punkt sollte aber nicht außerhalb des Parlamentes, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sondern hier diskutiert werden; denn er betrifft unsere Herr Fischer, beenden Sie die unsägliche Behandlung Möglichkeiten, unsere Rechte in vitaler Weise. Österreichs, Der Kernpunkt der Aktuellen Stunde ist jedoch folgen- (Zuruf von der SPD: Jetzt fängt das auch noch der: Warum sind dies nur Äußerungen von Ihnen privat in an!) der Universität? Dagegen haben wir nichts, aber warum die inzwischen in vielen kleinen Staaten, insbesondere sind dies keine Vorschläge der Bundesregierung? auch in Osteuropa, die Befürchtung ausgelöst hat, dass (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) große Staaten mit kleinen immer so umgehen könnten. Meine Damen und Herren, es ist doch interessant: (Rita Grießhaber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir haben Stellungnahmen der Sozialdemokraten. Wir NEN]: Sie sind doch gegen Alleingänge!) 9972 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Dr. Helmut Haussmann (A) Das ist ein ernstes Problem. Reden Sie einmal mit Vertre- Es handelt sich schließlich um eine Diskussion. Wir wa- (C) tern der baltischen Staaten über dieses Problem! ren uns darüber einig, dass wir auch hier im Parlament eine breit angelegte Debatte führen müssen. Die gegen- (Beifall bei der F.D.P.) wärtige Regierungskonferenz zeigt auch – ich möchte auf Wann wird endlich der konkrete Zeitplan für dieIhre Rede eingehen, Herr Dr. Haussmann –: Eine größer Osterweiterung vorgelegt? werdende Europäische Union, die wir alle wollen, benötigt nicht nur eine andere Statik, sondern vor allem (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) auch eine andere Perspektive und eine Vision. Diese hat Die Debatte, die in Polen über Europa geführt wird, ist Joschka Fischer vor einer Woche sehr deutlich zum Aus- äußerst negativ. druck gebracht. Es ist nicht zuletzt Ihre Aufgabe, Herr Fischer, als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Außen- und Europaminister die Stabilität der europä- DIE GRÜNEN – Dr. Helmut Haussmann ischen Währung, das wichtigste europäische Projekt, zu [F.D.P.]: Leider nicht hier!) verteidigen. Heute hat der Euro erneut einen historischen Tiefstand erreicht: unter 0,90 US-Dollar! Selbst die Euro- Vor wenigen Tagen haben wir uns – insofern gibt es ei- päische Zentralbank, die zu Recht zu politischer Neutra- nen Konsens – der Rede Robert Schumans und seiner Ge- lität verpflichtet ist, hat heute mitgeteilt: Die Euro-danken erinnert. Dabei ist auch das Thema einer europä- Schwäche ist hausgemacht. Die Euro-Staaten kommen ischen Föderation aufgegriffen worden. Es ist in der Tat bei der Lösung ihrer Arbeitsmarktprobleme nicht voran. wichtig, eine breit angelegte Diskussion über die Frage zu Wir brauchen ernsthafte reformerische Anstrengungen, führen: Was bedeutet eigentlich „europäische Födera- damit vor Einführung des europäischen Geldes der Euro tion“? Natürlich kann man über manches, was Sie, Herr wieder stärker wird. Außenminister, gesagt haben, unterschiedlicher Auffas- sung sein. Aber mit den Fragen: „Wie nehme ich die Bür- Dies sind die konkreten Schritte, die wir von Ihnen er- gerinnen und Bürger bei diesem Prozess in Europa mit? warten. Wir erwarten nicht nur Visionen von Ihnen. Diese Warum erscheint vielen bei uns Europa als superferne Schritte müssen bitte im Namen der Bundesregierung und Bürokratie?“ ist ein wichtiger Anstoß gegeben worden. nicht im Namen eines Privatmannes angekündigt und ge- Über diesen Anstoß sollten wir in den folgenden Debatten tan werden. im Bundestag und an anderen Stellen diskutieren. Vielen Dank. Weil gelegentlich – zu Recht oder zu Unrecht – Kritik (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) geäußert worden ist, will ich gar nicht auf die vielen Mäkeleien aus den Reihen der CDU/CSU, die es vor al- (B) lem in Presseveröffentlichungen gegeben hat, eingehen; (D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat stattdessen will ich mich auf einen wesentlichen Punkt jetzt der Abgeordnete Günter Gloser. konzentrieren: Joschka Fischer hat davon gesprochen – es ist wichtig, das herauszuheben –, dass es mit ihm kein Kerneuropa als Exklusivklub gibt. Dies haben andere Günter Gloser (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Unionsbürgerinnen und -bürger, auch aus Ihrer Fraktion, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Haussmann, vor einigen Jahren ganz anders gesehen; insofern ist das was wollen Sie eigentlich? Einmal beklagen Sie dasein ganz deutliches Signal gegenüber anderen. Fehlen von Visionen bei der Bundesregierung in Sachen Europapolitik. Dann wird von einem überzeugten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Europäer etwas ausgeführt. Anschließend fordern Sie DIE GRÜNEN) wieder konkrete Schritte. Ich frage nur: Was wollen wir Der Leitsatz dieser Diskussion muss lauten: Differen- eigentlich mehr? Endlich ist eine Debatte über Europa zierung in der Europäischen Union ohne Diskriminierung angestoßen worden, deren Fehlen wir in der Vergangen- anderer. Diese Europäische Union ist in der Tat auch bei heit ständig beklagt haben. Jetzt ist sie endlich da! dieser Vision offen für andere Länder. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir Sozialdemokraten fanden und finden diese Rede DIE GRÜNEN – Dr. Helmut Haussmann zukunftsweisend. Es war vor allem eine integrations- [F.D.P.]: Doch nicht von der Bundesregierung!) freundliche Rede, die es verdient, einer breiten Debatte Die Rede, mit der diese Debatte angestoßen worden ist, unterzogen zu werden. Ich wünsche mir vor allem, dass hat ein überzeugter Unionsbürger und Europäer, unser wir dies in den nächsten Wochen – das müssen wir in die- Außenminister, gehalten. Ich finde, diese Debatte ist auch sem Parlament entsprechend regeln – tun werden. Ich überfällig. Es ist notwendig, dass wir diese Debatte über hoffe zugleich, Herr Außenminister, dass Ihre fulminante Europa im Parlament und in unserem Land führen. Es ist Rede vor der Humboldt-Universität einen Impuls für die auch notwendig, dass unsere Partner diese Debattelaufende Regierungskonferenz gibt. führen. Dabei können sicherlich nicht alle Fragen in den nächs- Herr Fischer hat es vor einer Woche in seiner Rede auf ten Monaten geklärt werden. Vor dem Hintergrund des- den Punkt gebracht: Ist die Europäische Union mit künf- sen, was wir in den nächsten Jahren in Europa leisten tig 27 oder mehr Mitgliedstaaten noch tragfähig, wenn die müssen, ist es wichtig, dass wir auf der Regierungskonfe- bisher üblichen Methoden der Integration angewandtrenz in konkreten Punkten weiterkommen. Signale aus werden? Man muss nicht alle seine Überlegungen teilen. den verschiedenen Mitgliedstaaten und von Regierungen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9973

Günter Gloser (A) zeigen, dass Sie einen wichtigen Impuls gegeben haben. schleunigung; sie ist eine Idee, wie wir Europa effizienter, (C) Sie haben sich nicht hinter diplomatischen Floskeln ver- transparenter und handlungsfähiger machen können. Sie schanzt, sondern Herzblut für dieses Europa gezeigt. Ich wollen ja auch, dass diejenigen, die das wollen, das auch glaube, das ist auch für die laufende Debatte wichtig. können. Vielleicht liegt darin die Chance zu einem ge- meinsamen Projekt. „Gravitationszentrum“, „Kompe- Vielen Dank. tenzabgrenzung“ und „Verfassungsvertrag“ sind Begriffe, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die in der Union entwickelt worden sind und erfreulicher- DIE GRÜNEN) weise bei Ihnen auftauchen. Auch das will ich in dieser Debatte einmal sagen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat (Beifall bei der CDU/CSU) jetzt der Abgeordnete Peter Hintze. In der Tat seltsam ist – Herr Kollege Haussmann hat es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – angesprochen – die Trennung zwischen dem Bundes- Zuruf von der SPD: Vorschusslorbeeren!) außenminister Fischer und dem Bürger Fischer. Ich will hierüber gar keine Scherze machen. Aber gerade der Bun- desaußenminister und die gesamte Bundesregierung sind Peter Hintze (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine gefordert, aus dem lähmenden Stillstand in der Regie- sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und rungskonferenz, für den die Regierung Mitverantwortung Kollegen! Ihre Rede in der Humboldt-Universität, Herr trägt, in ganz konkreten Fragen herauszukommen. Sie Bundesaußenminister, war ein wichtiger Beitrag zu der können nicht einfach sagen: Ich verabschiede mich von Frage, wie Europa in Zukunft aussehen könnte. Es ist gut, meinem Amt und trage eine große Vision vor, weil ich mit dass wir im Parlament Gelegenheit haben, einmal über die der konkreten Wirklichkeit nicht fertig werde. Vielmehr damit verbundenen Gedanken zu sprechen. sind hier im Parlament und zusammen mit den europä- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ischen Partnern Initiativen zu entwickeln, wie wir konkret zu mehr Integration und zu einer klaren Kompetenzab- Ich unterstütze dabei ausdrücklich Ihre Idee einesgrenzung zwischen Europa und den Nationalstaaten und Verfassungskompromisses zwischen den Nationalstaaten damit zu einer höheren Effizienz und Transparenz in Eu- und Europa. Wir sollten ein wenig die Hitze aus der De- ropa kommen. Wir wollen Ihnen nicht durchgehen lassen, batte nehmen. Wir sind im Plenarsaal des Deutschen Bun- dass Sie zwar eine Vision liefern, die wir gerne diskutie- destages, im Reichstagsgebäude; auf der einen Seite be- ren und auch interessant finden, dass zugleich aber auf der findet sich die Bundesflagge und auf der anderen Seite die Regierungskonferenz die konkreten Dinge auf der Strecke Europaflagge. Diese historische Synthese zwischen Eu- bleiben. (B) ropa und den Nationalstaaten kommt in diesem Raum (D) symbolisch zum Ausdruck. Ich finde es interessant, die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) von Ihnen aufgeworfenen Ideen einmal weiterzudenken. Jetzt möchte ich in kurzen Stichworten darauf hinwei- (Beifall bei der CDU/CSU) sen, dass die Risiken und Nebenwirkungen Ihres Planes natürlich auch im Blick zu halten sind. Ein Binnenmarkt, Unser Ziel sind die vereinigten Nationalstaaten von Eu- der sich in Kerne auflöste, wäre das Gegenteil dessen, was ropa. wir wollen; darauf ist eben schon einmal hingewiesen Ich muss allerdings auch ein kritisches Wort in die De- worden. Kern-Europa muss eine Zugewinnchance in sich batte einführen. Herr Kollege Gloser und andere Kollegen bergen und als Integrationskern ausgestaltet werden. Es haben im Vorfeld Äußerungen gemacht, die den Sachver- darf keinen Rückfall in das Intergouvernementale geben, halt nicht treffen. Mit Ihrem Vorschlag zur Schaffung ei- sondern wir müssen hin zu mehr Integration. Darauf müs- ner europäischen Föderation, Herr Bundesaußenminister, sen wir gemeinsam achten. und mit der Ausgestaltung dieses Vorschlages sind Sie – (Beifall bei der CDU/CSU) das muss ich Ihnen sagen – auf dem Boden der Program- matik angekommen, die CDU und CSU in den letzten Ich persönlich halte übrigens die Euro-Zone schon für ei- Jahren entwickelt haben. Das begrüßen wir. nen solchen Kern, aus dem heraus sich das entwickeln kann. (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Roth Warum ist Europa so schwerfällig? Zwei Punkte: Ers- [Heringen] [SPD]: Von der Sie sich jetzt wieder tens gibt es eine ungute Kompetenzvermischung zwi- entfernen!) schen Europa und den Nationalstaaten und zweitens keine Dabei erscheint uns aber kritikwürdig, dass Sie den klare Gewaltenteilung, sondern ein Durcheinander von Denkanstoß, der beispielsweise in dem von WolfgangExekutive und Legislative im Rat. Hierzu Folgendes wie- Schäuble und Karl Lamers erarbeiteten Papier vorgelegt derum nur in Stichworten: Ihre negative Bewertung der wurde, nämlich die Idee eines Kerneuropas, absolutersten Kammer, also des Europäischen Parlaments, teile falsch interpretieren. Kein Mensch, der diese Papiere ge- ich ausdrücklich nicht. Das Parlament ist der wahre Ge- lesen hat, kommt zu einer solchen Interpretation, wie sie winner von Amsterdam. Es ist auch kompetenter und ef- bedauernswerterweise Herr Gloser vorgenommen hat. fektiver geworden. Ihr Vorschlag eines Parlamentes aus Natürlich ist die Idee der Union von einem Kerneuropa – Doppelmandataren führte zu einem gelähmten Riesen; im Gegensatz zu dem, was Sie ihr unterstellen – eine Idee dann würde man weder die Aufgaben in Brüssel noch die des Integrationszugewinnes und der Integrationsbe-in Berlin richtig wahrnehmen können, insbesondere nicht 9974 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Peter Hintze (A) die Kontrollfunktion. Deswegen bin ich für eine Stärkung Ein Kabinett stimmt über Gesetzentwürfe, über Haushalte (C) des Europäischen Parlaments. und politische Maßnahmen, aber nicht über Visionen ab. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Was? Sie werden immer bescheidener?) Der letzte Gedanke: Die Minister und ihre Beamten fühlen sich – das ist eine Entwicklung, an der wir auch un- Insofern können wir durchaus nachvollziehen, dass Ihnen seren Anteil haben – im Rat quasi allzuständig: für die eu- während Ihrer 16-jährigen Regierungszeit der Sinn für vi- ropäische Gesetzgebung, für die europäische Exekutive, sionäre Politik ziemlich abhanden gekommen ist. also für das Erlassen und das Durchführen von Gesetzen. Sie haben auch im Rahmen der jetzt bestehenden Verträge (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sie werden eine Chance, diese zweite Kammer, also den allgemeinen aber bescheiden!) Rat, so auszugestalten, dass es mit dieser Vermischung ein Viele diesbezügliche Erfahrungen haben Sie ja nicht ge- Ende hat und hier ein Fortschritt eintritt. Wir laden Sie ein, macht. Ihre Vision in den Handlungsfeldern, auf denen Sie han- deln können, ein Stück weit Wirklichkeit werden zu las- Eröffnen Sie also keine Nebenkriegsschauplätze, son- sen. Dabei sollte der Privatmann Fischer dem Bundes- dern stellen Sie sich der Debatte über das, was angestoßen außenminister Fischer vielleicht ein paar Tipps für die Re- worden ist! gierungskonferenz geben und dafür sorgen, dass es zu (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Tun wir doch!) mehr Kompetenzabgrenzung, einer stärkeren Selbstbe- schränkung des Rates, zu höherer Effizienz und mehrDazu ist die Aktuelle Stunde nicht der richtige Ort. Transparenz kommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Weg zu den Vereinigten Nationalstaaten von sowie bei Abgeordneten der SPD) Europa lohnt eine gemeinsame Anstrengung. Es war in Ich frage mich, warum Sie sich geweigert haben, hier in diesem Hause immer Tradition, dass wir in den großen diesem Hause darüber eine vereinbarte Debatte zu führen. Fragen der Europapolitik zusammenzufinden versuchten, dass wir zusammen diskutierten und das Ergebnis der (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: In der nächs- Diskussion gemeinsam vertraten. Ihr Plan bietet einen ten Sitzungswoche gerne!) Ansatzpunkt für eine solche gemeinsame Initiative. Las- Wir hätten dann Zeit gehabt, auch inhaltlich tiefer gehend sen Sie uns sie angehen! zu diskutieren. (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜND- (Zuruf von der CDU/CSU: Hat doch kein NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) Mensch verweigert!) (B) (D) Nein, Sie eröffnen Nebenkriegsschauplätze, um mit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat lockeren Sprüchen über das, was diese Rede enthält, hin- jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing. wegzutäuschen. Das ist ein Punkt, der hier nicht in Ver- gessenheit geraten darf. Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Zur Sache!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir hat sich bisher noch nicht erschlossen, was eigentlich die Die Rede enthält Visionen. Das ist der notwendige Ratio dieser Aktuellen Stunde sein soll. Denkanstoß. Sie aber entfachen eine Neiddebatte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Haben wir und bei der SPD) gerade nicht nötig! Uns geht es gut!) Ist es wirklich der Vorwurf, dass der Außenminister als Ihre einzige Vision besteht offensichtlich in der Hoffnung Unionsbürger eine wegweisende Rede hält? Das rechtfer- auf erneute Regierungsbeteiligung. Das haben Sie ja auch tigt wohl wirklich keine Aktuelle Stunde. hier ganz deutlich zum Ausdruck gebracht. Sie müssen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu der Bedeutung dass es keine Kritik, sondern Unterstützung zum Beispiel dieser Rede sagen. Ich glaube, dass die Bedeutung erstens aus dem Bundeskanzleramt gab. Das war oft in den Zei- darin liegt, dass die vor sich hindümpelnde Europadebatte tungen zu lesen. Insofern konstruieren Sie Widersprüche nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa wirk- innerhalb der Regierung, die keineswegs existieren. Dann lich einen ganz kräftigen Impuls erhalten hat. wurde die Haltung der Fraktionen angesprochen. Ich kann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihnen davon berichten, dass der europapolitische Spre- und bei der SPD) cher der SPD und der der Grünen, also Herr Kollege Gloser und ich, bei dieser Rede anwesend waren. Das zeigen auch die positiven Reaktionen in den anderen EU-Ländern. Dort ist dieser Ball aufgenommen worden. (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Wieso waren Ich hoffe, dass auch Sie diesen Ball in Zukunft inhaltlich wir nicht eingeladen?) und politisch aufnehmen, Ich habe in einer Erklärung, die auch über den Ticker lief, (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Balla, balla!) unmittelbar nach der Rede diese Rede sehr begrüßt und gehe auch weiterhin davon aus, dass diese Rede einen mitdiskutieren und nicht Debatten über Nebenkriegs- enormen Schub für die europapolitische Debatte darstellt. schauplätze führen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9975

Christian Sterzing (A) Zweitens liegt die Bedeutung darin, dass mit dieser Ich habe auch eine plausible Erklärung dafür, warum (C) Rede ein Tabubruch einherging, weil endlich offen über eine Trennung zwischen dem Außenminister und dem Pri- „Finalität“ gesprochen und diskutiert wurde und nicht ge- vatmann Fischer vorgenommen wurde: Das ist ein Me- meinsam geschwiegen wurde. Das Schweigen ist ja ein dientrick, auf den wir alle abgefahren sind. Element, das Ihre Europapolitik in den letzten Jahren sehr stark geprägt hat. (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Wir nicht!) (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Die war um Auch ich war natürlich außerordentlich neugierig, was der Klassen besser!) Privatmann Fischer im Gegensatz zum Außenminister Fischer sagen kann. Der Trick ist gelungen; denn wir de- Es wird endlich eine Debatte geführt, wie wir über Re- battieren heute über dieses Thema. gierungskonferenzen hinaus zu einer gemeinsamen Vor- stellung von Europa kommen. Dieser tabuisierte Bereich (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Selbst er hat es wurde nun offen zur Diskussion gestellt. Ich kann Sie nur verstanden!) auffordern: Beteiligen Sie sich ernsthaft an dieser De- Schluss mit diesen Vorbemerkungen, zur Sache selbst: batte! Für mich hatte und hat das Ziel „Vereinigte Staaten von (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Gerne, damit Europa“ – Außenminister Fischer benutzt ja diesen Be- haben wir kein Problem!) griff nicht; ich glaube, er benutzt ihn bewusst nicht –, ein Der dritte wichtige Punkt ist, dass es Joschka Fischer föderatives Staatswesen, begründet auf Wohlfahrt und in seiner Rede gelungen ist, sehr verschiedene und isoliert Demokratie, eine ganz starke Anziehungskraft, wenn- geführte europapolitische Diskurse zusammenzuführen. gleich ich zugeben muss: Ich habe mir das Zustandekom- Es gab die Debatte um ein Kerneuropa, es gibt die Debatte men immer ganz anders vorgestellt. Es gibt darüber auch um Kompetenzen innerhalb Europas, es gibt den Verfas- eine längere theoretische Debatte in der Linken. sungsdiskurs, Diskussionen über die Demokratisierung der EU und die Föderalismusdebatte. Alle diese Debatten Die Vereinigten Staaten von Europa, gegründet auf wurden relativ isoliert geführt. Aber in dem Entwurf, in eine demokratische Verfassung, bedingen – ich glaube, dieser Vision einer Föderation Europa ist es gelungen, al- hier hat Fischer Recht – einen Vertrag, der die Rechte der les, was bisher puzzlehaft nebeneinander lag, zusammen- Nationalstaaten und der Föderation demokratisch und zu- zufügen. Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb hat die gleich sensibel bestimmt. Nationalstaat und europäische Rede eine solche Bewegung ausgelöst und einen solchen Integration können in ein neues, sinnvolles und beidersei- Anstoß gegeben, der die Debatte in Europa hoffentlich tig nützliches Verhältnis gebracht werden. Die europä- dauerhaft bereichert. ische Einheit – das ist meine feste Überzeugung – muss (B) eine Einheit in der Vielfalt sein und darf sich nicht auf(D) Insofern hoffe ich, dass dieser Anstoß, der der Debatte Zentralisierung gründen. damit gegeben worden ist, sich nicht auf die heutige Ak- tuelle Stunde beschränkt. Ich kann Sie nur auffordern, mit (Beifall bei der PDS) uns gemeinsam diesen Ball aufzunehmen, ihn weiterzu- Einheit in der Vielfalt ist die Chance für einen gemeinsa- spielen men Weg zu einem geeinten Europa. (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Deshalb sind Ein föderales Europa – dieser Gedanke ist in der Rede wir ja hier!) des Außenministers nicht vorhanden – braucht in diesem und das Momentum, das dadurch ausgelöst wurde, auf- Sinne eine europäische Staatsbürgerschaft. Ich kann mir rechtzuerhalten. So kann ein weiterer Schub in Richtung gut vorstellen, dass wir alle über eine doppelte Staatsbür- Integration ausgelöst werden. gerschaft verfügen werden: eine nationalstaatliche und Vielen Dank. eine europäische. Gerade dieser Gedanke einer gemeinsa- men Staatsbürgerschaft weist über nationalstaatliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Identitäten hinaus. Ich weiß sehr gut, dass diese Fragen und der SPD) auch in der politischen Linken Europas höchst umstritten sind. In der politischen Linken habe ich viele Freunde, die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat sich mit solchen Gedanken nur wenig anfreunden können. jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke. Ich halte allerdings diese Gedanken für zukunftsfähig und perspektivisch.

Wolfgang Gehrcke (PDS): Liebe Kolleginnen und Obwohl ich, wie ich gerade ausgeführt habe, den An- Kollegen! Ich finde die Formulierung des Themas dieser stoß des Außenministers interessant finde, liest sich seine Aktuellen Stunde ausgesprochen witzig. Es ist dochRede – so war mein Eindruck; ich habe sie nicht gehört, vielleicht schon eine Stunde wert, dass man zu einemsondern gelesen – über weite Teile sehr blutleer. In dieser witzig formulierten Thema reden kann. Rede kommen die Menschen – die tatsächlichen Men- schen, um die es ja geht – gar nicht vor. Die in Europa le- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten benden Menschen sind bei Außenminister Fischer offen- der F.D.P. – Michael Roth [Heringen] [SPD]: kundig nur eine Fiktion, irgendeine Komponente ange- Das war es dann aber auch schon!) sichts dessen, was als Motor der Integration angesehen – Okay, das war es dann auch schon. wird. 9976 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Wolfgang Gehrcke (A) Der Außenminister benennt drei Faktoren: den Euro, wird, einmal geschaffen, seine eigene Dynamik entfalten. (C) das gemeinsame Recht und die gemeinsame Militärpoli- Das wäre aus meiner Sicht kein Weg zur Integration, son- tik. Zugegeben: Das sind wichtige Faktoren. Aber es fin- dern ein Hindernis auf diesem Weg. det sich kein Wort über gemeinsame Beschäftigungs- und Einen letzten Satz: Ich würde sehr vorsichtig mit dem Sozialpolitik, über kooperative Bildungspolitik und ver- Begriff der „Finalität“ dieses Prozesses sein. Ich hoffe, nünftige Umweltpolitik. Ein Mehr an Erwerbsarbeit, so- dass er unumkehrbar ist; sichergestellt ist es noch nicht. zialer Sicherung, Umweltstandards und Bildung, ein Es wird keine Finalität eines solchen Weges geben, wenn Mehr an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oder er ein Prozess bleibt – genauso wie es kein Ende der Ge- Schwesterlichkeit könnte die Menschen für Europa auf- schichte gibt. Es wird ein offener, zu gestaltender Prozess schließen und den Menschen Ängste vor Europa nehmen. bleiben, der noch nicht final ist. (Beifall der Abg. Dr. [PDS]) (Beifall bei der PDS) Das müssen wir erreichen. Ein vereintes Europa von oben wird es nicht geben. Wir müssen die Ängste vor diesem Europa gemeinsam abbauen. Darüber fand sich in der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat Rede kein Wort. jetzt der Kollege Michael Roth. In der Rede von Außenminister Fischer – ich sollte vielleicht „Privatperson Fischer“ sagen – wird auch nicht Michael Roth (Heringen) (SPD): Frau Präsidentin! darüber nachgedacht – das hat mich schon sehr gewundert –, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehrcke, warum Rassismus, Nationalismus und Rechtsextremis- merken Sie sich diesen Tag: Die PDS-Fraktion hat selten mus in Europa zunehmen, obwohl deren Bekämpfung ein so viel Applaus von der F.D.P. erhalten. Das wird sicher- wichtiger Schritt zum vereinten Europa wäre. Der Bun- lich in die Annalen Ihrer Fraktion eingehen. despräsident hat das in seiner Rede am gleichen Tag ge- (Beifall bei Abgeordneten der PDS sowie des tan. Mit dem Timing müssen sich andere auseinander set- Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) zen. – Galt der Beifall jetzt mir, Herr Westerwelle? (Beifall bei Abgeordneten der PDS und der F.D.P.) (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Der galt Ih- nen, damit Sie einen schönen Tag haben! – Hei- Offensichtlich hat der Außenminister Europas Grenzen terkeit) fest im Kopf. Aber gehören nicht Weißrussland, die Ukraine und auch Russland zu Europa? Zumindest nach- – Wunderbar, der Tag wird gut. (B) denken muss man wohl darüber. Es darf nicht zu einer Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist – ich sage das (D) Abschottung kommen. Das europäische Haus, daseinmal in aller Offenheit – eigentlich schnurzpiepegal, ob jetzt gebaut werden muss, wird immer – wie ich hoffe: zukunftsweisende Reden von Unionsbürgern, Europäern gute – Nachbarn haben. oder Warum, so frage ich, sollen europäische Interventions- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Taxifahrern?) kräfte, für die nach den Worten des Außenministers der Kosovo der Anstoß war, uns Europäer – verzahnt mit der glücklicherweise bundesdeutschen Außenministern ge- NATO – zusammen bringen? Die militärische Zusam- halten werden. Es kommt auf den Inhalt an. Es ist etwas menarbeit wird Europa nicht einigen. Wenn Europa und vorgetragen worden, was sicherlich einer langen und in- Frieden in Europa und gegenüber der Welt nicht mehr in tensiven Debatte bedarf, vor allem auch hier im Bundes- einem Atemzug genannt werden können, dann nimmt Eu- tag. Insofern freue ich mich auch ein bisschen über die ropa Schaden. Aktuelle Stunde, Ich glaube, dass das Europa, das der Außenminister (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Ja, bitte, vorgestellt hat, von oben gedacht ist. Mein Europa soll also doch!) von unten wachsen. Noch besser wäre es, wenn an diesem weil sie mir Gelegenheit gibt, etwas zu dem einen oder Europa von oben und unten gleichzeitig gearbeitet würde. anderen Punkt anmerken zu dürfen. Lassen Sie mich einen letzten Gedanken sagen. Wenn Die Verfassungsdebatte ist belebt worden. Die Vor- man die Vereinigten Staaten von Europa ernsthaft will, schläge des Außenministers betten sich ja in zahlreiche muss dieser Prozess für alle Länder offen sein: für kleine andere Vorschläge ein: Helmut Schmidt, Valéry Giscard und große Staaten, für Länder der ersten Stunde und für d´Estaing, Jacques Delors, die drei Weisen haben etwas Länder, die später hinzukommen, für Länder aus demvorgelegt, Außenminister Védrine hat sich geäußert, kürz- Osten und für die aus dem Süden. lich gab es eine Veröffentlichung des Hochschulinstitutes Florenz, in der es auch um die zukünftige Struktur der Eu- Dass die deutsch-französische Zusammenarbeit dabei ei- ropäischen Verträge geht. Ich finde diese Einbettung wun- nen herausragenden Platz einnimmt, ist historisch er- derbar. wachsen, begründbar und nicht zu ersetzen. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten haben wir be- Ich finde es auch gut, Herr Kollege Hintze, wenn Sie reits heute. Ich glaube aber, dass das etwas anderes ist als hier vor dem Bundestag erklären, dass wir zur Zusam- der Vorschlag eines Kerneuropas. Mit einer Trennung in menarbeit bereit sein müssen, und Ihre Bereitschaft dazu Kern und Rest entstünde ein Bündnis im Bündnis. Dies unterbreiten, wobei ich im Augenblick das Problem Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9977

Michael Roth (Heringen) (A) weniger aufseiten der Koalitionsfraktionen sehe. Mich Ich halte auch nichts von einem Streit um Terminolo- (C) treibt eher die Sorge um, dass aus dem Süden dieser Re- gien. Wir sollten uns über die Frage unterhalten: Was ist publik immer wieder Schwadronaden bis nach Berlin vor- eigentlich unser Ziel? Das wurde auch in dieser Rede klar dringen, die alles andere als integrationsfreundlich sind. anvisiert. Wir wollen ein demokratischeres, ein hand- Insofern müssen Sie einmal in Ihren eigenen Reihen für lungsfähigeres und ein bürgernäheres Europa. Remedur, für Ordnung sorgen Wir sollten auch gar keine Angst vor Begriffen haben. (Beifall der Abg. [SPD]) Ich habe kein Problem damit, von einer europäischen Ver- fassung zu reden. Auch von der Föderation kann man re- und klare Vorschläge unterbreiten. Das ist zumindest die den. Begriffe sind nicht das Entscheidende. Es geht da- Meinung der SPD-Fraktion. rum: Was steht hinter diesen Begriffen? Ich will eine Anmerkung zu den Vorschlägen für ein Einen Punkt sehe ich allerdings – das ist auch schon er- Kerneuropa machen. Herr Lamers hat diesbezüglich vor wähnt worden – etwas anders als der Kollege Fischer. ein paar Jahren etwas sehr Kluges zum Ausdruck ge-Wenn wir eine Parlamentarisierung in Europa anstreben, bracht. Jedoch haben Sie damals – im Gegensatz zum sollten wir nicht abgehen von dem Weg der direkten Außenminister Fischer – einen massiven Fehler gemacht. demokratischen Legitimation der Mitglieder des Europä- Sie haben nämlich in Ihrem Papier explizit einige Mit- ischen Parlaments. gliedstaaten benannt, die diesem Kerneuropa angehören sollen; andere wiederum haben Sie nicht genannt. Dann (Beifall bei der F.D.P.) sind Sie sehr umständlich wieder zurückgerudert. IchIch glaube, dass die Bundestagsabgeordneten wahrlich meine, die Fairness gebietet es, Herr Lamers, dass heute genug zu tun haben und nicht noch einzelne Aufgaben in noch einmal deutlich gesagt wird: Der Nukleus, das „Gra- Brüssel übernehmen sollten. Das ist meine ganz persönli- vitationszentrum“, von dem Herr Fischer gesprochen hat, che Auffassung. Nur mit einer Parlamentarisierung ma- meint etwas anderes als die Ideen, die Sie im Rahmen Ih- chen wir auch für die Bürgerinnen und Bürger deutlich, rer Vorschläge zu einem Kerneuropa unterbreitet haben. worum es bei einer Europawahl geht. Im Augenblick ist das nicht klar. Wenn sich bei einer Wahl des Europäischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Parlaments dann irgendwann in der Konsequenz eine BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Karl neue Mehrheit widerspiegelt und deutlich wird, wer über- Lamers [CDU/CSU]: Das ist Unfug!) haupt in der europäischen Regierung sitzt, welche politi- Die Verfassungsdebatte ist meines Erachtens notwen- sche Kraft in Europa gestalterisch tätig wird, haben wir dig, weil wir bei unseren zahlreichen Debatten hier im eine ganze Menge erreicht. (B) Bundestag über die Regierungskonferenzen an einem re- Ich glaube, das war eine mutige Rede. Europa braucht (D) lativ enttäuschenden Punkt angelangt sind. Wir hangeln Mut und Europa braucht mutige Bürgerinnen und Bürger. uns bei jeder Regierungskonferenz von einem kurz- und Wenn einer unter den mutigen Bürgerinnen und Bürgern mittelfristigen Problem zum nächsten, dann Joschka Fischer heißt, ist das meines Erachtens (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Leider!) nichts Schlechtes, sondern etwas sehr Gutes. obwohl wir wissen, dass wir auf den Regierungskonfe- Vielen Dank. renzen – auch in Nizza – nicht alles Notwendige auf den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weg bringen können, was die Bürgerinnen und Bürger DIE GRÜNEN) von uns erwarten. Umso wichtiger ist es, dass wir neben den kurz- und mittelfristigen Schritten, die auf den Re- gierungskonferenzen auf den Weg gebracht werden, eine Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat langfristige Perspektive entwickeln. Das ist mit der Rede jetzt der Abgeordnete Guido Westerwelle. von Außenminister Fischer geschehen. (Angela Marquardt [PDS]: Müssen wir jetzt Ich appelliere auch an Offenheit. Es gibt nun einmal in klatschen?) Europa verschiedene Denkschulen, es gibt auch verschie- dene Modelle. Es gibt eine eher intergouvernementale Li- Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Frau Präsidentin! nie und eine eher integrationsfreundliche Linie. In der Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Fischer, Bundesrepublik gilt eher die zweite Linie. Wir solltenSie haben am Freitag eine wirklich bemerkenswerte Rede diese Differenzen auch nicht unter den Tisch kehren. gehalten, die Anerkennung verdient. Wir hätten uns diese Es muss mit unseren Partnern in Europa ganz offen Rede vom deutschen Außenminister gewünscht und über diese verschiedenen Modelle geredet werden. Nur darüber reden wir hier. wenn wir Argumente kraftvoll und überzeugend herüber- (Beifall bei der F.D.P.) bringen, können wir auch überzeugen für unsere Linie und für die Vorschläge, die von Vertretern der Bundesre- Sie sprachen in Ihrer Rede selber von Einschränkun- gierung und von Vertretern des Bundestages gemachtgen, denen Sie unterliegen. Sie sagten, das sei Ihre per- werden. sönliche Zukunftsvision. Sie sagten dort, den Außenmi- nister würden Sie jetzt definitiv weit hinter sich lassen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wie geht das eigentlich, wenn man Außenminister ist? DIE GRÜNEN) Sie sprachen von der beengenden Rolle des deutschen 9978 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Dr. Guido Westerwelle (A) Außenministers, die es Ihnen nicht erlaube, derartige zu- warum Sie vor einer Woche, kurz vor der Wahl, unbedingt (C) kunftsträchtige Ausführungen zu machen. Wer beengtin der Humboldt-Universität sprechen wollten: Sie? Was beengt Sie? Beengt Sie die Bundesregierung? (Günter Gloser [SPD]: Legende!) Beengt Sie der Kanzler? Beengt Sie Ihre eigene Partei, so etwas hier zu sagen? Sie haben sich davon eine Wirkung erhofft. Ich finde es, offen gestanden, einen reichlich fragwürdigen Akt, dass (Karl Lamers [CDU/CSU]: Die bestimmt! – Sie am selben Tag wie der Bundespräsident eine Konkur- Horst Kubatschka [SPD]: Sie nicht!) renzrede zu seiner Berliner Rede halten mussten. Das Ich finde, es ist notwendig, dass jemand Anstöße gibt. bleibt Ihnen überlassen. Es ist in meinen Augen eine Stil- Das ist zu Recht gewürdigt worden, übrigens ausdrück- frage. Die Verfassungsorgane, Privatmann Fischer und lich auch von der Fraktion der Freien Demokraten. Aber Bundespräsident Rau werden sich damit noch auseinan- es ist notwendig, meine Damen und Herren, dass dann im der setzen. Deutschen Bundestag eine solche Debatte stattfindet. Was Es ist wirklich eine bemerkenswerte Debatte, die Sie ist das denn für ein Parlamentsverständnis, wenn man hier angestoßen haben; das soll anerkannt werden. Aber es ist eine Debatte beantragt, weil ein Privatmann eine Rede auch mein Parlamentsverständnis, dass Sie als deutscher hält, der zufällig noch Minister ist? Setzt man eigentlich Außenminister, wenn Sie solche Anstöße geben, gegen- als Minister mal einen Hut auf und setzt ihn dann wieder über diesem Parlament, das Sie als Regierungsmitglied ab und wenn man ihn abgesetzt hat, darf man sagen, was schließlich zu kontrollieren hat, erklären: „Das ist unser man will, und wenn man ihn aufgesetzt hat, darf man nur Weg“ oder „Das ist nicht unser Weg“, auch damit wir, sagen, was andere ihm vorgegeben haben? wenn wir uns als Parlamentarier mit Ihren einzelnen Vor- (Rita Grießhaber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schlägen auseinander setzen möchten, wie es Herr Kol- NEN]: Das fehlt noch, Fischer mit Hut!) lege Roth und andere vorhin getan haben, nicht damit ver- tröstet werden können: Das hat der Außenminister gar Wir wünschten, dass solche zukunftsträchtigen Aus- nicht gesagt, das geht Sie als Abgeordnete gar nichts an. führungen – und das waren sie – die Politik der Bundes- regierung wären und nicht die Politik des Privatmannes Diese Rede hatte zu Recht eine große internationale Joschka Fischer. Wirkung. Sie hätten sie deswegen auch mit Ihren Amts- kollegen, wenigstens mit einigen von ihnen, abstimmen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) müssen. So muss man, aus unserer Sicht jedenfalls, Sie haben angekündigt, hier zu sprechen. Sie stehen europapolitische Initiativen starten. Die Bundesregierung auch auf der Rednerliste und das ist gut. Allein das zeigt, fährt schlecht damit, wenn sie zunächst einmal, gewisser- dass die von uns beantragte Debatte hier Sinn macht. Sie maßen als Minenhund, den Privatmann Fischer dem (B) haben jetzt gleich die Gelegenheit, hier zu sprechen, übri- Außenminister Fischer vorgehen lässt, bevor sie sich viel- (D) gens dann als Außenminister Fischer. Kommen Sie nicht leicht anschließend verhaftet fühlt. auf die Idee, gleich als Privatmann zu uns zu sprechen. Der deutsche Bundeskanzler hat, wie wir vom Regie- (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P.) rungssprecher erfahren durften, im Kabinett mit freundli- chem Nicken darauf reagiert. Dann hätten wir das auch Hier sprechen Sie als Außenminister und wir möchten hier gern einmal gehört! Sie sprechen jetzt gleich. Sagen gleich von Ihnen als Außenminister hören: Sind die klu- Sie zu uns, zum Deutschen Bundestag, zu dem Verfas- gen Ausführungen der künftige Leitfaden der europä- sungsorgan Bundestag, zu den Volksvertreterinnen und ischen Politik der deutschen Bundesregierung? Ich finde Volksvertretern, die wir alle gewählt sind: Das ist der Kurs es ausgesprochen interessant, was der Langstreckenläufer der Regierung. Fischer uns zu erzählen hat, aber die Außenministermei- nung ist gefragt. Wenn jemand Außenminister ist, muss er (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch wie ein Außenminister handeln. NEN]: Das ist aber arg regierungsfixiert!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Dann haben Sie auch unseren Respekt und unsere Aner- der CDU/CSU) kennung dafür. Der frühere deutsche Außenminister Hans-Dietrich (Beifall bei der F.D.P.) Genscher, der Ehrenvorsitzende der F.D.P., hat das, wie Aber bei der Vorstellung, dass der Außenminister als ich finde, in einem bemerkenswerten Artikel im „Tages- Privatmann reden kann, weil er sich ansonsten zu beengt spiegel“ in dieser Woche öffentlich ausgeführt. Ehre,fühlt, kann man nur sagen: Machen Sie sich frei, Herr wem Ehre gebührt. Er sagt dort: Fischer, geistig gesehen! Die Bundesregierung gewinnt damit nach anfängli- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten cher Abstinenz europapolitisches Profil. Fischers Vorstellungen sind weit reichend; sie werden auch der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜND- Widerspruch hervorrufen, aber die Richtung stimmt. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Keinen Satz zum In- halt! Nur Formalkram! Schwach, sehr schwach!) (Beifall bei der F.D.P.)

Besser kann man es in wenigen Sätzen nicht ausdrücken. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Für die Bun- Es ist notwendig, dass Sie sich zu Ihrer Rolle alsdesregierung erteile ich nun dem Außenminister Joschka Außenminister bekennen. Natürlich wissen wir alle,Fischer das Wort. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9979

(A) Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Ich habe mich im Gegensatz zu Ihnen, Herr Westerwelle, (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich erinnere etwas intensiver mit der Tradition meines Amtsvorgän- mich an die letzte Debatte, die etwas später am Taggers – von Hans-Dietrich Genscher, der ein bedeutender stattgefunden hat, über die ganz wichtige Frage der Regie- Vorgänger von mir und ein großer Liberaler ist, kann man rungskonferenz, bei der es auch um einen Bedeu-sehr viel lernen, vor allen Dingen, was das jeweilige tungsverlust des Deutschen Bundestages ging; darinVorgehen betrifft – und damit beschäftigt, wie er vorge- waren sich die wenigen anwesenden Europapolitikerin- gangen ist, wenn er einen neuen Akzent setzen wollte, nen und Europapolitiker einig. Jene Debatte hat wenig In- bei dem er nicht so ohne Weiteres davon ausgehen konnte, teresse gefunden. Die heutige Debatte zeigt – das hat der dass es dabei schon um die Schlussabstimmung ging – der Kollege Westerwelle gerade nachhaltig demonstriert –, Beginn einer Debatte ist nach Meinung der dass sie weit über die Europapolitiker hinausreicht. Das jetz-igen Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen ist gut so. keine Schlussabstimmung. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf Folgendes hinweisen: Kollege (Beifall bei der F.D.P. – Heiterkeit bei der Genscher hat in diesem Artikel zu Recht geschrieben, CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Außenminister Fischer habe mit seiner Europarede eine NEN) gute Tradition des Auswärtigen Amtes als Ideengeber und Motor der Europapolitik fortgesetzt. Da kam kein Wort – Dass Sie neuerdings sich selber Beifall klatschen, Herr der Kritik über den Privatmann bzw. den Bundestagsab- Westerwelle, finde ich interessant. Aber bitte. geordneten, den Sie ja sehr gering einschätzen. (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das wäre Auf die deutsch-italienische Initiative für eine Politi- nicht das erste Mal!) sche Union im Jahre 1981 folgte – das ist für mich der ent- Ich möchte das jetzt nicht vertiefen, obwohl ich Lustscheidende Punkt – 1988 der konzeptionelle Vorstoß des hätte; denn Sie haben mich gerade in einer Rede, in der AA, sprich: von Hans-Dietrich Genscher, zur Währungs- mindestens 38-mal das Wort „Außenminister“ vorkam, union. Es war – das ist aus dem Deckblatt ersichtlich und dazu verpflichtet, als Außenminister zu sprechen, und das alle, die damals beteiligt waren, erinnern sich noch sehr will ich auch tun. gut – seine persönliche Initiative. Dafür gab es damals Gründe. Dies war eine Initiative, mit der er völlig Recht (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Gut!) hatte und die später zur Politik der Bundesregierung bzw. Aber gestatten Sie mir doch eine Vorbemerkung. Sie der damaligen Koalition und somit historische Wirklich- keit wurde. Aber angestoßen hatte er dies auf eine ähnli- mögen das glauben oder nicht, aber das hat mit den che Art und Weise wie ich. Wahlen wirklich nichts zu tun gehabt. Die Rede war seit (B) langem geplant. Herr Westerwelle, regen Sie sich also ab. Von Hans-(D) Dietrich Genscher kann man sehr viel lernen. Das kann (Zuruf von der F.D.P.: War das Zufall?) ich Ihnen nur empfehlen. – Dass die F.D.P. das so sieht und dass Sie so denken, kann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- ich ja verstehen. Aber glauben Sie mir – das wissen auch wie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.) Kollegen aus der Opposition, die mich in der Europapoli- tik schon länger kennen –: Erstens bin ich nicht der Mei- Nun zur Sache. Ich freue mich über die heutige Diskus- nung, dass man mit einem solchen Thema landespolitisch sion. Ich würde mich freuen, wenn wir diese Diskussion große Wählerströme bewegen kann, zweitens war diese bei nächster Gelegenheit etwas ausführlicher fortsetzen Rede nicht ohne Risiko, was die öffentliche Reaktion be- könnten. Diese Debatte hat es nicht verdient, sie auf das trifft, und drittens wissen alle, dass es mir hier wirklich Niveau kurzfristiger parteipolitischer Interessen herun- um die Sache geht. Insofern war der 50. Jahrestag einer terzuziehen. bedeutenden und zentralen Rede von Robert Schuman der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eigentliche Anlass. Herr Westerwelle, vielleicht können sowie bei Abgeordneten der SPD und der auch Sie eines Tages nachvollziehen, wie wichtig das für CDU/CSU) einen überzeugten Europäer ist. Interessen werden dann, wenn Entscheidungen anstehen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wichtig genug. Im Rahmen der dann stattfindenden Re- und bei der SPD) gierungskonferenz mag ein solches Vorgehen angemessen sein. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eine weitere Vorbemerkung. Sie haben ja aus dem von Hans- Aber wir stehen doch vor der Situation, dass nach der Dietrich Genscher im „Tagesspiegel“ erschienenen Arti- historischen Herausforderung von 1989/1990, die bis kel zitiert – ich bedanke mich nachdrücklich für diesen heute nicht wirklich durchdacht und bewältigt wurde, Eu- Artikel sowie für das, was Sie, Herr Hintze, gesagt haben; ropa zusammengefunden hat. Nach 1945 gab es zwei zen- ich komme darauf gerne noch einmal zu sprechen –, der trale Entscheidungen, die das Schicksal unseres Konti- die Überschrift „Allons, enfants de l’Europe: Folgtnents grundsätzlich verändert haben, nämlich zum einen Fischers Initiative!“ hatte. Wenn das die Haltung derdie Tatsache, dass die USA auf diesem Kontinent geblie- ben sind. Zum anderen die zentrale Entscheidung von F.D.P. ist, dann bedanke ich mich auch bei der F.D.P. Robert Schuman sowie Jean Monnet und dann auf deut- (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Bitte!) scher Seite von Adenauer und all den anderen Europäern, 9980 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Bundesminister Joseph Fischer (A) statt auf das Prinzip des Gleichgewichts der Mächte zu Aber man kann doch auch beim besten Willen nicht er- (C) setzen, das zu der Katastrophe von zwei Weltkriegen und warten, dass bereits zu Beginn einer Debatte über eine zur Selbstzerstörung Europas geführt hat, in Europa ein solch entscheidende Frage, über die Frage, wie eine neues Prinzip zu kreieren und durchzusetzen, also auf das Union mit 30 Mitgliedstaaten als politisches Subjekt Europa der Integration zu setzen. Dies führte zum Zu- funktionieren kann, fertige Konzepte vorliegen werden. sammenführen der materiellen Interessen mit dem Fern- Zunächst muss die Debatte beginnen. ziel der Vollendung der europäischen Integration und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schaffung eines wie auch immer gestalteten einheitlichen und bei der SPD) Europas. Ich muss mich auch beim Kollegen Lamers bedanken; Von der Erarbeitung dieser Idee ging es im Laufe der denn er hat mich anlässlich eines Abendessens vor vielen Zeit über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hin Monaten auf einen ganz entscheidenden Punkt gebracht. zur Gemeinsamen Schlussakte, schließlich zur Europä- Er hat insistiert und die Notwendigkeit angesprochen, ischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion. dass die Erweiterung nicht zu einem Erlahmen des Inte- Nur, dies hatte einen Nachteil: Erzwungen durch die Tei- grationsprozesses führen darf. Ansonsten nämlich wäre lung Europas und auch Deutschlands war diese Idee im- die Erweiterung selbst gefährdet. Das macht die Schwie- mer nur in Westeuropa zu Hause. Die Ost- und Mitteleu- rigkeit dieses Prozesses aus. ropäer konnten sich nicht daran beteiligen; sie waren durch den Eisernen Vorhang von diesem Projekt getrennt. Wir hatten vor etwa drei Wochen mit Jacques Delors und Richard von Weizsäcker ein Brainstorming, das eben- Die Tatsache, dass 1989/1990 Mauer und Stacheldraht falls überaus nützlich und hilfreich war. Und wenn man gefallen sind, führte dazu, dass wir jetzt vor der histori- noch die Interventionen von Helmut Schmidt und Giscard schen Notwendigkeit der Erweiterung stehen. d’Estaing und die jetzigen Äußerungen des Kommis- (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Die muss sionspräsidenten Prodi hinzunimmt, dann wird doch klar, dann auch kommen!) dass wir angesichts der Herausforderung, eine Union mit 30 Mitgliedstaaten funktionsfähig halten zu müssen, nicht Diese Erweiterung ist beim Europäischen Rat in Helsinki mehr ausschließlich nach der Methode Monnet vorgehen beschlossen worden. Insofern ist die Position, die besagt, können. dass es über die Dimension, über die Außengrenzen der Ich stimme allen zu, Herr Kollege Hintze, die sagen, Union Unklarheiten gebe, nicht richtig. Diese Frage ist dass wir uns nicht auf die Intergouvernementalisierung, durch die Beschlüsse von Helsinki definiert worden. das heißt: auf die Regierungsarbeit, zurückziehen dürfen, Die Verhandlungen mit 12 neuen Kandidaten werden so wichtig sie auch als Bindeglied sein kann. Es stellt sich (B) aufgenommen. Das bedeutet aber in der Konsequenz,letztendlich die Frage der Vergemeinschaftung. Man muss (D) dass sich die Union spätestens jetzt die Frage stellenallerdings die praktischen Probleme berücksichtigen, die muss, wie denn eine Union mit 27 oder gar 30 Mitglied- es schon heute gibt. staaten funktionieren und stark bleiben kann, sich also Herr Kollege Gehrcke, das ist natürlich ein offener Pro- nicht zurückentwickelt zu Handlungsunfähigkeit oderzess. Man kommt aber an einen Punkt, wo ein neues Ka- Stagnation. pitel aufgeschlagen wird. Das heißt im Klartext: In dem (Beifall des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Moment, da sich Teile der Europäischen Union oder die [F.D.P.]) ganze Union entscheiden, den Schritt zur Vollendung der Union zu gehen, wird ein Kapitel beendet und ein neues Ich halte die Erweiterung historisch für unverzichtbar. Eu- aufgeschlagen. Das bedeutet Finalität. Meine These ist, ropas Sicherheit darf nicht zwei Prinzipien folgen; das dass wir uns in den praktischen Problemen festlaufen wer- würde den Integrationsprozess gefährden. Dies zwingt den, wenn wir die Finalitätsdebatte heute nicht beginnen, uns diese Debatte auf. weil wir als Europäer, als überzeugte Integrationisten an- Es war übrigens mein Kollege Hubert Védrine, der mir gesichts dieser historischen Herausforderung kneifen diese Frage zum ersten Mal gestellt hat. Und die Diskus- werden. Und diesen Prozess habe ich mit meiner Rede sion zwischen uns läuft bereits seit November 1998. Die versucht anzustoßen. Planungsstäbe wurden eingeschaltet, mehr und mehr aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch die Minister selbst. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ein bilateraler Besuch von mir in Portugal hat schließ- CDU/CSU) lich dazu geführt, dass die Präsidentschaft diese Diskus- Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Eu- sion zum ersten Mal auch beim Informellen Rat auf den ropäer – ich lege das jetzt bewusst überparteilich an, Azoren im Kreise der Kollegen eröffnet hat. Das war eine weil sich dies nicht an Parteigrenzen festmacht – versu- hervorragende Diskussion, in der genau diese Themen chen müssen, die rationalen Gründe, die hinter der Euro- besprochen wurden. All das, was dort zusammengeflos- Skepsis stecken, zu berücksichtigen. Ganz entscheidend sen ist, wurde mit der französischen Seite auf der Ebene sind in diesem Zusammenhang – das halte ich für ratio- der Außenminister und der Mitarbeiterinnen und Mitar- nal – die Intransparenz – so erscheint es den Bürgern – des beiter seit November 1998 intensivst diskutiert, ohne dass europäischen Institutionen- und Entscheidungsgeflech- eine Harmonisierung unserer Positionen stattgefunden tes, die Angst, etwas zu verlieren, was man kennt, wo hat. man sich zu Hause fühlt, was auch den Charakter einer Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9981

Bundesminister Joseph Fischer (A) Schutzgarantie hat, zum Beispiel soziale Schutzgarantie bringt man die politischen Eliten, die von den Bürgerin- (C) oder Grundrechtsschutzgarantie, gegenüber Superstruk- nen und Bürgern aller Parteien identifiziert werden, in die turen, die man nicht durchschaut. Hier hält man an einem Verantwortung für dieses Europa? Es wird nicht funk- Nationalstaat fest und daraus speist sich meines Erachtens tionieren, wenn man hier eine abstrakte Trennung vor- eine Euro-Skepsis, die man ernst nehmen muss. nimmt. Es gibt unterschiedliche Optionen; ich habe sie er- Wenn man gleichzeitig aber weiß, dass an einer Voll- wähnt. Eine haben Sie angesprochen. endung der Integration im 21. Jahrhundert – wie schnell Ich bin der festen Überzeugung: Wir, die wir jetzt diese es auch immer gehen mag – kein Weg vorbeiführt, und Debatte führen, müssten sie auch beispielsweise mit der wenn man gleichzeitig sieht, dass die Nationalstaaten und französischen Seite und mit Partnern aus allen Mitglieds- vor allen Dingen die Nationen mit ihrer Geschichte, ihrer ländern führen. Es sollte eine Debatte zwischen politi- Sprache und ihrer Kultur auf für uns nicht absehbare Zeit schen Eliten sein, die in ihren jeweiligen Ländern Verant- Realität bleiben werden, dann heißt die Aufgabe: Wiewortung tragen. Das Ziel sollte sein, das zusammenzufü- können wir dies in ein europäisches Integrationskonzept gen. zusammenführen? Wir gehen also weg von einer abstrak- ten bundesstaatlichen Konstruktion und hin zu einer Wir werden nie ein einheitliches europäisches Staats- vollen Übertragung der Kernsouveränitäten und der Über- volk, sondern immer nur Staatsvölker haben. Das ist der tragung alles dessen, was unverzichtbar europäisch gere- große Unterschied zu den USA. Das liegt daran, dass Eu- gelt werden muss, auf die europäische Ebene. Dieseropa ein sehr geschichtsträchtiger Kontinent mit unter- Föderation sollte auf selbstbewussten Gliedern, auf Na- schiedlichen Sprachen und Kulturen ist. Deswegen habe tionalstaaten, die fortexistieren werden, gründen. ich an die Konstruktion mit den zwei Kammern gedacht. Wenn jemandem etwas Besseres einfällt, um das Problem (Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.] begibt sich zu lösen, wäre ich dafür offen. Mich interessiert die prak- zum Präsidium) tische Lösung und nicht eine sozusagen nur theoretische Schauen Sie, das war mein Problem mit der Aktuellen Positionierung. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber Stunde. Ich wollte hier meine Position erläutern. Dann in Abwägung aller Faktoren komme ich zu keinem ande- kommt der Parlamentarische Geschäftsführer der F.D.P.- ren Vorschlag. Fraktion und sagt – formal zu Recht übrigens –, dass ich Gestatten Sie mir, dass ich das Folgende auch noch meine Redezeit überschritten hätte. kurz anspreche. Diese europäische Föderation wäre eine (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Weit überschritten!) schlanke Föderation, die sich auf die Kernsouveränitäten und auf das unbedingt europäisch Notwendige konzen- Ich kann meine Position aber nicht in den vorgesehenen trieren würde. Gleichzeitig würde es eine Souveränitäts- acht Minuten darlegen. (B) teilung mit fortexistierenden Nationalstaaten geben. Die- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ses müsste in einem Verfassungsvertrag definiert werden. und bei der SPD – Dr. Helmut Haussmann Das wäre dann die Subsidiarität als Verfassungswirklich- [F.D.P.]: Hätten Sie es gleich hier gemacht!) keit, wie sie etwa auch der Realität unserer Verfassung – Wenn Sie die Kritik vorbringen, ich hätte es hier machen entspricht. sollen, dann können Sie mir jetzt doch nicht sagen: Er re- Wie kann der Weg dorthin aussehen? Der erste Schritt det aber länger als acht Minuten! ist die verstärkte Zusammenarbeit. Das ist der entschei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dende Punkt, an dem diese perspektivische Debatte Aus- und bei der SPD) wirkungen auf die Regierungskonferenz haben wird. Zu dem Treffen mit dem französischen Präsidenten, dem Pre- Sonst muss ich ähnliche Schlagworte produzieren wie an- mierminister und dem Außenminister wollen der Bundes- dere hier. Ich glaube, damit wäre der Sache nicht gedient. kanzler und ich nachher aufbrechen. Das wird dort sicher Ich würde das gern zu Ende bringen. auch eine Rolle spielen. Unser Ziel ist es, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Regierungskonferenz unter französischer Präsidentschaft und bei der SPD) praktisch ein Erfolg wird. Das ist der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt, Kollege Hintze, ist für mich nicht die Kritik an den Europa-Abgeordneten. Ich weiß, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN was sie leisten, wie schwer es ist, was sie tun, und dass es und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der teilweise hervorragend ist, was sie leisten. Vielmehr zielt F.D.P. – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Um meine Kritik auf die Institution – ich habe mich in dieser das geht es!) Frage auch bei anderen Kollegen erkundigt –: Die Anbin- Gleichzeitig wird dieser Erfolg einen weiteren Schritt dung dieses Parlaments an die politische Realität, an die erforderlich machen. Ein Bindeglied wird dabei die ver- Menschen im Land ist völlig unzureichend. stärkte Zusammenarbeit und die Diskussion darüber, wie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sie formal und inhaltlich ausgestaltet wird, sein. Dieser Punkt wird auch über die nächste Regierungskonferenz Das ist keine Schuld des Parlaments; damit Sie mich hier hinaus von Bedeutung sein. nicht missverstehen. Dieses Problem geht zurück auf die von den Sprachen und den Kulturen gezogenen Grenzen. Ich bin der Meinung, dass sich über kurz oder lang die Die entscheidende Frage, die ich mir stelle, lautet: Wie Frage stellen wird, ob Einzelne vorangehen sollen. 9982 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Bundesminister Joseph Fischer (A) Meine Überzeugung ist: Einzelne werden in der Diskus- Wir sollten jetzt nicht in einen Streit über die Geschäfts- (C) sion vorangehen. Wenn dann allerdings die Europäer mer- ordnung eintreten, zumal sonst die Gefahr besteht, dass ken, dass es ernst wird, wie etwa im Zusammenhang mit wir uns nachher wieder verwässern und nicht der Sache der Wirtschafts- und Währungsunion, werden viele nach- angemessen debattieren. ziehen. Das heißt, das Avantgardemodell – ich kann dem Kollegen Lamers nur Recht geben, er hat das in den Me- Herr Minister, Sie haben zweifelsfrei das Verdienst, die dien geäußert – wird ein Movens sein. bislang äußerst enge, ja gefährlich enge, fast beengte und dahinmarodierende Debatte über Europa wieder ange- Aber angesichts der Erfahrungen mit der Wirtschafts- stoßen und ihr – so hoffe ich – eine Perspektive gegeben und Währungsunion glaube ich, ehrlich gesagt, bezüglich zu haben, die der Herausforderung, vor der Europa steht, der praktischen Perspektive nicht mehr, dass ein solcher angemessen ist. Wenn Ihnen das endgültig gelungen sein Kern entstehen wird. Ich glaube eher, dass sich viele der sollte – das hängt nicht nur von uns ab –, dann haben Sie heutigen Mitglieder dafür entscheiden werden. Sie muss sich ein großes Verdienst erworben. Ich bin der Letzte, der dabei offen bleiben für die neuen Mitglieder – auch das nicht bereit wäre, das anzuerkennen. muss völlig klar sein –, sie darf nicht exklusiv, sondern muss inklusiv sein. Sie haben gesagt, wir brauchen angesichts der Oster- weiterung nicht nur ein vertieftes Nachdenken über Eu- Es führt kein direkter Weg von der verstärkten Zusam- ropa, sondern auch Antworten auf eine Herausforderung, menarbeit in die Föderation, in den Verfassungsvertrag, in die, gemessen an den bisherigen Herausforderungen, die Souveränitätsteilung, sondern das wird eines Tages neuer Natur ist. Nun muss ich allerdings ein kritisches ein politisch notwendiger Sprung sein. Er wird noch viele Wort sagen: Das ist schon seit einiger Zeit bekannt, lieber Diskussionen erfordern. Das ist auch die Position desHerr Fischer, und Wolfgang Schäuble und ich haben 1994 Außenministers Joschka Fischer. Ich würde mich freuen, aus genau diesem Grund erwähnt, dass wir mit Blick auf Herr Westerwelle, wenn Sie das so ähnlich sähen. Ichdie Erweiterung, die wir alle in diesem Haus genauso wol- harre Ihrer Unterstützung. len wie Sie, eine Lösung für Europa brauchen, das viel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN differenzierter sein wird, als es sich uns jetzt darbietet. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Wir brauchen differenzierte Formen der Mitgliedschaft. CDU/CSU) Die Frage ist: Sind sie temporär oder dauerhaft und be- finden sie sich im institutionellen Rahmen oder außerhalb desselben? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie haben es si- cherlich gesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab Sie haben uns – das bedaure ich – in Ihrer Rede unter- hier vorne einige Debatten. Ich will Sie nun über denstellt, wir hätten eine dauerhafte Differenzierung gewollt, (B) Sachverhalt aufklären. Normalerweise hat die Bundesre- obwohl das Papier nun wirklich vollkommen eindeutig(D) gierung in einer Aktuellen Stunde ein Rederecht von zehn ist. Damals haben unsere französischen Freunde zu unse- Minuten. Wenn sie darüber hinaus redet, tritt § 44 Abs. 3 rem großen Bedauern unseren Vorschlag diskreditiert, der Geschäftsordnung in Kraft, wenn das eine Fraktion weil sie nicht antworten, sondern ausweichen wollten. Sie beantragt. Das hat soeben die F.D.P. getan, das heißt, es haben das getan, indem sie behaupteten, wir wollten die wird im Anschluss an diese Aktuelle Stunde noch eine anderen dauerhaft ausschließen, obwohl es in Wirklich- Debatte über diesen Punkt geben. Damit verlängert sich keit – das kann ich Ihnen unter vier Augen erzählen – pro- die Debattenzeit über diesen Punkt. minente Franzosen gab, die genau das wollten. Es ist so Es ist aber nicht richtig, Herr Kollege Koppelin – das gewesen, glauben Sie es mir. Sie sollten dies nicht wie- möchte ich Ihnen jetzt sagen –, dass Sie die Präsidentin derholen. Ich sage das nur deswegen – es ist mir fast zu zwingen können, etwas vorzunehmen. Ich halte mich ge- dumm, dies zu sagen –, weil ich meine, dass wir klar fest- nau an die Geschäftsordnung. Sie erwerben nur Rechte. stellen müssen, wo wir einer Meinung sind und wo wir Ich habe nicht die Möglichkeit, den Außenminister zu unterschiedlicher Meinung sind. In diesem Punkt sind wir zwingen, seine Rede zu unterbrechen. Das darf ich näm- ganz klar einer Meinung. Damit will ich es bewenden las- lich laut Geschäftsordnung nicht. sen. Ich glaube, wir haben das jetzt korrekt festgestellt. Im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Übrigen ist das kein Fall, der heute zum ersten Mal auf- neten der F.D.P. und des BÜNDNIS- tritt, sondern er ist bereits bei vielen Regierungsreden in SES 90/DIE GRÜNEN) der Vergangenheit vorgekommen. Das Zweite ist: Einen Verfassungsvertrag haben Da es in der Aktuellen Stunde keine persönlichen Er- Wolfgang Schäuble und ich vor ziemlich genau einem klärungen gibt, rufe ich als nächsten Redner den Kollegen Jahr auch vorgeschlagen. Unser Vorschlag hat viel weni- Karl Lamers auf. ger Furore gemacht, aber wir haben ihn gemacht. Ich freue mich, dass Sie auch hier sagen: Das ist ebenfalls meine Meinung. – Auch Edmund Stoiber hat die Mög- Karl Lamers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Verehrte lichkeit eines Verfassungsvertrages ausdrücklich aner- Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir haben bislang kannt. Dieser hat im Kern die Frage zu beantworten: Wer eine bemerkenswerte und gute Debatte geführt. macht was, und zwar sowohl auf der jeweiligen Ebene als (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜND- auch zwischen den Ebenen? Dies haben Sie sich zu Eigen NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) gemacht. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9983

Karl Lamers (A) Man kann eigentlich auch nicht anders denken, vor al- Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Frau Präsi- (C) len Dingen dann nicht, wenn man wie Sie zu Recht sagt: dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Lamers, Wir brauchen eine Teilung der Souveränitäten und die Na- ich finde das, was Sie gerade gesagt haben, sehr beden- tionalstaaten werden nicht einfach aufgelöst. Dies ist übri- kenswert. Ich möchte daran anknüpfen. Was uns in Eu- gens ein Thema, über das wir noch nachdenken müssen. ropa fehlt – das haben Sie gerade deutlich gesagt –, ist so Es geht nicht nur um den Nationalstaat, sondern auch um etwas wie die Grundlage des europäischen Souveräns und die Nation. Wenngleich beides nicht ganz voneinander zu die Beantwortung der Frage, wer das denn sei. In den Na- trennen ist, sind es doch zwei verschiedene Dinge. tionalstaaten haben wir diesen Souverän sehr wohl. Ge- nau dies ist der Grundgedanke, den Joschka Fischer in den Ich sage dies auch deswegen, lieber Herr Fischer, weil Mittelpunkt seiner Rede gestellt hat und an den er an- ich Ihre soeben zum Ausdruck gebrachte Meinung über knüpft. den europäischen Souverän – so will ich dies einmal nen- nen – nicht ganz teile. Natürlich wird es kein europäisches Jetzt befinden wir uns in einem Staatenverbund oder – Volk geben, wie es heute die nationalen Völker, die Na- wie die Politikwissenschaftler dazu sagen – in einer Mehr- ebenenpolitik, was dies auch immer sei.Gerade in dieser tionen gibt. Aber schon heute haben wir ein europäisches Mehrebenenpolitik sind wir in einem ungeahnten Maße Bewusstsein. Jedenfalls entwickelt sich eine Gemein- effizient, ob Sie als Beispiel den Euro, das Schengener schaft, die sich ihrer selbst bewusst ist. Abkommen oder andere Absprachen, die auf der regula- Übrigens können wir nur dann wählen, wenn wir sie torischen Basis festgehalten worden sind, nehmen. Wir bekommen. Das Europäische Parlament ist in mancher haben dabei ein ungeheures Ausmaß an technischer Effi- Hinsicht ein Vorgriff auf diesen sich entwickelnden euro- zienz. päischen Demos. Aber wenn wir daran nicht glauben, Was aber fehlt – das hat Kollege Lamers eben ange- sieht es sehr schlecht um die Zukunft der Demokratie in sprochen –, ist die Antwort auf die Frage nach der Legiti- Europa aus und wir wollen ja nicht nur ein starkes und ef- mation mit dem Blick auf das, was künftig geschehen soll. fizientes, sondern – wir müssen dies auch wollen – ein de- Das Ganze hat sich jetzt mittlerweile fast bis an den Rand mokratisches Europa, damit es von den Bürgern aner-jener Möglichkeiten der technischen Effizienz entwickelt. kannt wird. Aber was kommt danach? Was soll perspektivisch aus Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Chancen sagen. diesem Europa werden, wenn die bisherigen Grenzen der Sie werden sicher gelesen haben, was Alain Juppé, der westeuropäischen Integration fast erreicht sind? Das ist genau das Problem, nämlich die Legitimationsbasis für neuerdings Berater des französischen Präsidenten für die politisches Handeln. Sie konnte bei dem alten National- Fragen der institutionellen Reformen ist und der ohne je- staat, der noch nicht zu seinem Ende gekommen ist, aber den Zweifel – ich sage es vorsichtig – einer der Eu- (B) an dessen Fundamenten der Legitimation es ja Probleme (D) ropäischsten in dem uns nahe stehenden Lager, ein über- gibt, leicht beschrieben werden. Wie kann eine neue Le- zeugter Europäer ist, gesagt hat: Wir müssen die Frage gitimation für das, was jetzt kommen wird – einerseits die „Wer macht was?“ beantworten. Nun will ich dies nicht Erweiterung, die wir alle wollen, und andererseits aber für mich beanspruchen, aber Alain Juppé und ich haben eben auch das, was als Legitimation formuliert werden über diese Frage sehr eingehend gesprochen. Ich kann Ih- muss –, gefunden werden? Solange wir leben werden und nen nur versichern: Dies ist nicht nur so dahingesagt. Er die, die hier im Plenum sind, ihre Politik machen werden, hat klar erkannt, dass wir in diese Richtung gehen müs- wird es kein europäisches Volk als Legitimationsbasis für sen. das politische Handeln geben. Das ist wohl ziemlich si- Wenn es ihm gelingt, mit Frankreich – von dem Sie zu cher. Recht gesagt haben, dass wir es für jeden europäischen Norbert Elias sagt, was für politische Legitimation Fortschritt brauchen – einen „accord“ zu finden, haben wir nötig sei, sei eine Wir-Identität. Diese Wir-Identität ist erst eine Chance, diese Regierungskonferenz so zu beenden, in Anfängen erkennbar. Insofern – davon müssen wir aus- dass sie sicherstellt – was Sie meiner Meinung nach zu gehen –: Solange wir mittelfristig Politik machen und Recht in unserem persönlichen Gespräch zitiert haben –, Konzeptionen entwickeln, können wir diesen neuen Legi- dass der europäische Einigungsprozess, dass das politi- timationsbedarf durch den alten Gedanken des Souveräns sche Projekt Europa auch nach dieser Erweiterung wei- nicht decken. tergeht. Dies liegt nicht nur im Interesse der heutigen Mit- Wie soll dieser Bedarf, der für die Demokratie unver- glieder, sondern gerade auch im Interesse der zukünftigen zichtbar ist – damit ich hier nicht missverstanden wer- Mitglieder, die zu überzeugen allerdings unsere gemein- de –, gedeckt werden? Ich will nicht darüber reden, dass same und nicht ganz leichte Aufgabe sein wird. wir in der zukünftigen Entwicklung auf eine Legitimation Vielen Dank. verzichten möchten. Es ist sozusagen die Konstituente je- der demokratischen Politik, dass sie auf einen fundamen- (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜND- talen Legitimationsbedarf bezogen sein muss. Wie kann NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei denn dieser Bedarf jetzt gedeckt werden? Abgeordneten der SPD) Wenn Sie sich das, was der Citoyen Joschka Fischer dazu gesagt hat, einmal anschauen, dann wissen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Das Wort hat Sie meiner Meinung nach auch, was die Antwort darauf jetzt der Kollege Gert Weisskirchen. ist: Wir brauchen ein zweites Grundelement neben dieser 9984 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) Idee des Souveräns. Es besteht darin, eine Debatte zu er- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (C) zeugen, Diskurse zu entwickeln. Das ist der zweite Punkt, jetzt der Abgeordnete Klaus Hofbauer. auf den es ankommt. Es könnte doch sein, dass wir in eine Demokratieent- Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! wicklung hineingehen, die sich anders als bisher versteht, Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erlau- nämlich als eine Demokratieentfaltung, die die Amerika- ben Sie mir, als neues Mitglied des Ausschusses für Eu- ner deliberative Demokratie nennen. ropaangelegenheiten einige Anmerkungen zu machen. Wenn Sie einmal lesen, was Jürgen Habermas dazu Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die schreibt, oder wenn Sie sich die gesamte amerikanische Dynamik der Europapolitik erlahmt ist. In der Bevölke- Debatte, angefangen bei den Kommunitaristen überrung nehmen die Zweifel zu, ob das Ziel erreicht werden Richard Rorty bis zu John Rawls – das müsste ja für Li- kann, ein modernes, zukunftsorientiertes, vereintes und berale ein ganz wichtiger Autor sein –, anschauen, dann demokratisch kontrolliertes Europa zu schaffen. Ich habe stellen Sie fest, dass der Grundgedanke eine Erweiterung den Eindruck, dass die Bundesregierung für diese nega- tive Entwicklung in den letzten eineinhalb Jahren die Ver- von Demokratie ist. Aber man kann doch nur dann dieses antwortung trägt. Ziel ansteuern, wenn es Impulse gibt, wenn es Menschen gibt – ob als Außenminister, ob als Staatsbürger –, die (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der diese Debatte erzeugen. Genau das ist der entscheidende SPD: Na, na!) Punkt: Joschka Fischer erzeugt hier eine Debatte und Nehmen wir einmal die Ratspräsidentschaft aus dem kommt genau auf die entscheidenden Punkte, die künftig Jahre 1999: Viele Punkte sind halbherzig angegangen in der Entwicklung Europas wichtig sind. worden. Bei der Osterweiterung wurde zum Beispiel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten überhaupt keine finanzielle Sicherung erreicht. Deutsch- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) land ist nicht mehr der Motor der europäischen Eini- gungspolitik. Deswegen bin ich dankbar dafür, dass Joschka Fischer diese Rede gehalten hat, und ich bin überzeugt da- Deshalb ist es geradezu wohltuend, dass der deutsche von, dass – das zeigt auch unsere Debatte hier – dieser Im- Außenminister zwar nicht in seiner Ministerfunktion, puls seine Folgen haben wird. Ich hoffe sehr, er wird die aber doch als Bürger der Bundesrepublik Vorstellungen Folge haben, dass nicht nur die Verbindungslinie zwi-zur Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses entwickelt hat, die die Bilanz unseres Bundeskanzlers schen Frankreich und Deutschland lebendig ist, die ja als Schröder ein bisschen aufbessert, mit dem Ziel, eine en- Kernelement, als Motor dessen, was Integration heißt, den (B) gagierte, zukunftsorientierte Politik in Europa zu machen. (D) gesamten Integrationsprozess Europas getragen hat, son- Die Rede des Außenministers ist deshalb ein Eingeständ- dern es auch gelingt, diesen Prozess voranzutreiben. nis des Scheiterns der bisherigen Europapolitik der Bun- Nehmen Sie den Begriff, den er, wie ich finde, viel- desregierung. leicht noch einmal überdenken sollte, nämlich den der Fi- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der nalität. Dieser Begriff kommt aus der französischen De- SPD: Es klatscht nur die CSU!) batte. Ich finde, wir sollten an diesem Punkt auch deutlich machen, dass wir einen eigenen Begriff entwickeln könn- Die Handlungsfähigkeit Europas muss gesichert wer- ten. Ich würde viel lieber den Begriff „Zweck“, denden. Die Gefahr der Selbstblockade der Europäischen Immanuel Kant benutzt hat, verwenden. Also: Zu wel- Union droht uns. Die Klärung der europäischen Kompe- chem Zweck treiben wir diese Integration voran? Zu wel- tenzzuordnung – dies ist ein entscheidender Punkt – unter chem Zweck nehmen wir die Erweiterung vor? den bestimmenden Gesichtspunkten der Subsidiarität im Amsterdamer Vertrag duldet keinen weiteren Aufschub. Der wesentliche Zweck muss in einem dringenden drit- Es ist bemerkenswert, sehr geehrter Herr Minister, dass ten Schritt liegen. Der erste Schritt betraf die Integration Sie die langjährige Forderung Bayerns nach einer präzi- der letzten 50 Jahre. Der zweite Schritt wird die Erweite- sen Kompetenzabgrenzung nicht nur aufgegriffen, son- rung sein. Der dritte Schritt muss meiner Meinung nach dern darüber hinaus zu Recht als Hauptachse des Verfas- ein neuer Gründungsakt für Europa sein. Dieser neue po- sungsvertrages bezeichnet haben. litische Gründungsakt kann die Teilung der Souveränität (Beifall bei der CDU/CSU) sein, was Joseph Fischer sagt, um damit eine neue legiti- matorische Basis für ein gemeinsames Europa zu schaf- Deswegen stellen wir die Forderung: Was nicht unbe- fen, die zu einem späteren Zeitpunkt den nach uns kom- dingt EU-einheitlich geregelt werden muss, hat in natio- menden Politikern eine Perspektive eröffnet, damit Eu- naler Kompetenz zu verbleiben, und zwar unabhängig da- ropa seine eigene Souveränität als ein gemeinsamervon, welche Kompetenzen die Kommission inzwischen Souverän wirklich entfalten kann. Insofern ist das, was an sich gezogen hat. Die elementaren Interessen des Bun- Joseph Fischer in Gang gesetzt hat, ein fruchtbarer Pro- des und der deutschen Länder müssen gewahrt werden. zess, den wir dringend brauchen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, die EU-Osterweiterung – DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner ich wohne unmittelbar an der Grenze zu Tschechien; des- Hoyer [F.D.P.]) wegen ist mir die Erweiterung ein Herzensanliegen; wir Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9985

Klaus Hofbauer (A) dürfen nicht nur von der Osterweiterung der EU sprechen, befinden uns längst in einer großen Debatte, die (C) ur- sondern wir können von der Wiedervereinigung Europas sprünglich von der F.D.P.-Fraktion so nicht beantragt sprechen – wird scheitern, wenn die Handlungsfähigkeit worden ist, die aber von ihr hätte beantragt werden kön- der Institutionen nicht sichergestellt werden kann. Für die nen. Wenn ich mich frage: „Wie ist es dazu gekommen?“ Erweiterung der EU muss deshalb der entscheidendeund mir den Titel der Aktuellen Stunde, die Unterschei- Grundsatz lauten und gelten: Gründlichkeit vor Schnel- dung zwischen dem Bürger und dem Außenminister ligkeit. Fischer sowie die Klagen, Herr Fischer müsse doch als Die europäische Einigung ist nicht nur eine Abfolge Außenminister für die Bundesregierung sprechen, vor unzähliger EU-Gipfeltreffen und Regierungskonferen- Augen führe, dann stelle ich fest: Der Außenminister hat zen. Gerade wegen der um sich greifenden Europamüdig- Ihnen, Herr Westerwelle, geradezu eine Lektion in der keit innerhalb der Bevölkerung müssen wir die Menschen Frage „Wie setzt man Themenschwerpunkte?“ erteilt. Er mitnehmen und einbinden. Die positiven Seiten der euro- hat das an einem schönen Beispiel von Herrn Genscher päischen Wiedervereinigung müssen den Menschen ver- deutlich gemacht. Ich denke noch immer, dass die von der mittelt werden. Europa und insbesondere die EU-Ost-Opposition beantragte Debatte ursprünglich in eine an- erweiterung müssen in den Köpfen und auch – erlauben dere Richtung zielte. Aber inzwischen dürften wir alle Sie mir diese Bemerkung – in den Herzen der Menschen wohl die Veröffentlichung der Rede von Herrn Fischer im verankert werden und eine entscheidende Rolle spielen. „Staatsanzeiger“ beantragen. Wir alle schließen uns gerne dem Lob der F.D.P. an. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deshalb, sehr geehrter Herr Minister Fischer, ist Ihr und bei der SPD) vorgeschlagenes System mit einem aus zwei Kammern, Abgeordneten- und Staatenkammer, bestehenden Europä- Nachdem ich dies gesagt habe, lasse ich alles, was ich ischen Parlament als Legislative und mit einer europä- mir noch sonst an Polemik zurechtgelegt hatte, beiseite ischen Regierung als Exekutive grundsätzlich der richtige und trenne zwischen dem Abgeordneten Lippelt und der Weg. Dieser Weg wird zum Beispiel von der Bayerischen Fraktion der Grünen; denn das, was ich jetzt sagen werde, Staatsregierung und auch von unserem Ministerpräsiden- ist mit meiner Fraktion nicht abgestimmt, obwohl ich ten mitgetragen. glaube, dass die Fraktion meinen Ausführungen guten Gewissens zustimmen kann. Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: Ich bin stolz darauf, dass insbesondere die Bayerische Staatsregierung Wir befinden uns in der inhaltlichen Debatte. Deshalb europäische Kompetenz nachweist, dass wir mit Nach- sage ich Folgendes: Es gibt einige Punkte, über die wir druck für Europa eintreten und dass die Europapolitik der weiter diskutieren müssen. Der eine Punkt, mit dem der (B) Bayerischen Staatsregierung und der CSU insgesamtBegriff „Finalität“ eng verbunden ist, betrifft die europä- (D) geradlinig und ehrlich ist. Bereits im Jahre 1993 ist die ischen Grenzen. Dazu sage ich: Es ist ein großes Problem, Bayerische Staatsregierung für ein Mehrkammersystem wenn zu früh über die endgültigen Grenzen der EU dis- eingetreten. kutiert wird; denn die EU ist verpflichtet, für einen Trans- fer von Stabilität in den Raum der ehemaligen Sowjet- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) union zu sorgen. Deshalb, Herr Außenminister, gilt heute ganz besonders: Nicht nur reden, sondern handeln und das als richtig Er- Wenn ich sehe, wie sich die Ukraine an die Vorstellung, kannte in praktische Politik umsetzen! der EU beizutreten, geradezu klammert, dann muss ich auf das hinweisen, was der zuständige EU-Kommissar an- Dass der amtierende Außenminister als Privatmann richtet, wenn er der Türkei eine Beitrittsperspektive eröff- eine Grundsatzrede zur Europapolitik hält, verwirrt uns. net und der Ukraine nicht. Wir sind letztlich auch für die Vermutlich gibt es keine abgestimmte Haltung innerhalb Ausgestaltung der ukrainisch-russischen Grenze verant- der Bundesregierung über die zukünftige Gestaltung der wortlich. Darüber nachzudenken ist eine Reaktion auf den EU. Es stimmt uns nachdenklich, dass die Bundesregie- Prozess, in dem wir stehen. Stabilitätstransfer wird bei rung zum Teil konzeptionslos in die Europadiskussion Regelungen ähnlich dem Schengener Abkommen nicht geht. möglich sein. Deutschland muss sich wieder an die Spitze des euro- Der Außenminister hatte einen persönlichen Grund päischen Einigungsprozesses stellen. Nutzen wir die his- dafür, zu sagen, dass er erst einmal als Privatmann spricht. torische Chance der europäischen Wiedervereinigung! Er hat für das, was er Visionen nennt, Modelle vorgege- Herzlichen Dank. ben: Senat, Bundesrat, Zweikammersystem. Ich denke, dass – im Ergebnis – die „obere“ Kammer früher oder spä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ter eine Staatenkammer sein wird, in der die Europäischen neten der F.D.P.) Räte notwendigerweise vertreten sein müssen. Zur Idee des Doppelmandats möchte ich Folgendes sa- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat gen: Ich habe meine größten Bedenken, wenn wir – wie in jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt. den USA oder anderswo – versuchen, uns über ein Unter- haus mit einer einheitlichen Sprache usw. zu integrieren. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der entscheidende Ort wird das Europäische Parlament Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sein müssen. 9986 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Dr. Helmut Lippelt (A) Dazu kommt ein weiterer Aspekt. Die Imagination der sität eine gute und wichtige Rede gewesen ist. Es war eine (C) Menschen wird durch nichts – auch nicht durch schöne Rede, die nach anderthalb Jahren der manchmal etwas und noch so gute Reden – so sehr gefesselt wie durch Aus- kurzatmigen Politik, dem nationalen Schacher, der in Eu- einandersetzungen. Eine, die wir erlebt haben, fand statt, ropa in den letzten Monaten vorgeherrscht hat, endlich als das Europäische Parlament die Europäische Kommis- eine Perspektive, eine Vision entgegensetzt. Insofern sion, also seine Regierung, abgesetzt hat. Als das geschah, halte ich den Ansatz Ihrer Kritik, Herr Kollege wussten alle, was in Europa vor sich geht. Haussmann, für nicht ganz richtig. Wir haben uns doch Ich bedaure ein bisschen, dass die kurzatmigen Ge- immer die Diskussion um Visionen und Ziele gewünscht. spräche in der Regierungskonferenz die Frage der Kom- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der mission offensichtlich kaum behandeln können. Vor Ab- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – schluss des Vertrages von Amsterdam haben die Franzo- Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Dann hätten sen einmal von einer Zahl zwischen sieben und zehn wir es doch gleich im Parlament machen kön- EU-Kommissaren gesprochen. Auf meine Frage an nen!) Giscard d’Estaing, ob das perspektivisch heiße, dass Frankreich vielleicht einmal keinen Kommissar stelle, Im Übrigen können wir angesichts der Ausführungen antwortete er mit Ja und sagte, dass das damit verbunden nicht nur von der F.D.P., sondern von fast allen Seiten des sein müsse. Hauses mit viel Stolz sagen, dass wir auch jetzt noch ei- nen relativ starken Konsens über Europa haben. Das soll- Nachdem Prodi zum neuen Präsidenten der EU-Kom- ten wir an dieser Stelle einmal deutlich machen. mission berufen worden war – diese schnelle Einigung war wirklich ein Erfolg der jetzigen Bundesregierung –, (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann haben wir, als er seine Kommissare bestimmen wollte, er- [CDU/CSU] sowie bei Abgeordneten der SPD lebt, wo bestimmte Grenzen sind. Es wird ganz wichtig und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und sein, dass sich die Regierungen an diesem Punkt auf Vor- des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) schlagslisten zurückziehen und von festen Nennungen ab- Die Rede von Herrn Fischer birgt viele Konsensmög- rücken. lichkeiten auch für die Zukunft in sich. Unser Land fährt doch niemals besser, als wenn wir mit unseren europä- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege ischen Partnern und in der Welt untereinander einig sind. Lippelt, die Zeit. Dass es trotzdem einige kritische Punkte gibt, braucht dann niemanden zu verwundern. Über sie werden wir uns auseinander setzen; sie sind ebenfalls, wenn ich es richtig Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sehe, fraktionsübergreifend angesprochen worden. (B) Ich komme jetzt zum Ende, Frau Präsidentin. (D) Einig sind wir erstens darin – ich fand es gut, dass die Der Präsident der Kommission sollte wie ein Regie- Bundesregierung das eigentlich zum ersten Mal deutlich rungschef in der Lage sein, sich ein Kabinett zusammen- gemacht hat –, dass das Ziel der Osterweiterung als einer zustellen, das die Mehrheit im neu gewählten Europä- historischen Notwendigkeit, die in unserem Interesse ischen Parlament repräsentiert. liegt, wirklich glaubwürdig herübergekommen ist. Meine Gedanken gehen in eine etwas andere Richtung. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch deshalb habe ich als „privater“ Abgeordneter ge- sprochen. Die Diskussion hatte einen schönen Anfang. Zweitens ist in dieser Rede herübergekommen, dass es Wir müssen für den Anstoß zu dieser Diskussion und für wichtig ist, wenn wir Europa gestalten wollen, zwischen die Debattierlust unseres Außenministers dankbar sein. Kernkompetenzen, die wir nach Europa geben, und den übrigen Kompetenzen, die wir auf der nationalstaatlichen bzw. regionalen Ebene belassen, zu unterscheiden und das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege in einem Verfassungsvertrag niederzulegen. Darüber be- Lippelt, das war doch so ein schöner Schlusspunkt. stand absoluter Konsens, wenn ich das richtig sehe. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Man kann den Gesprächen in Rambouillet nur den Erfolg Schließlich besteht Konsens darüber, dass wir in der ei- einer deutsch-französischen Initiative wünschen. nen oder anderen Form so etwas wie eine Avantgarde, ein Gravitationszentrum oder einen Kern brauchen. Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nichts Neues; das ist auch schon mehrfach gesagt worden. und bei der SPD) Mit dem Euro oder dem Abkommen von Schengen haben wir so etwas schon. Aber dass dieser Kern verstärkt wer- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Meine Auffor- den muss, wenn sich die EU erweitert, wird – das glaube derung an Sie war nur ein Vorschlag. – Das Wort hat jetzt ich herausgehört zu haben – niemand wirklich infrage der Abgeordnete Friedbert Pflüger. stellen. Jetzt stellen sich aber doch auch ein paar kritische Fra- Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! gen. Ich halte Herrn Fischers Bewertung der Möglichkei- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde, dass ten und Chancen der Supranationalität für zu pessimis- die Rede von Joschka Fischer an der Humboldt-Univer- tisch. Gerade wenn wir an Monnet erinnern, müssen wir Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9987

Dr. Friedbert Pflüger (A) doch feststellen, dass die Supranationalität – die Ver- Deshalb ist unbeschadet von allem Positivem, was sich (C) flechtung der Ideen der Zusammenarbeit, zum Beispiel in dieser Rede findet, festzuhalten, dass es fatal wäre, die Schaffung einer Kommission und eines Parlaments wenn in Mittel- und Osteuropa der Eindruck entstünde, auf europäischer Ebene – der eigentliche Integrationsfort- als wären mit dieser Rede Formen von Abwehr und Isolie- schritt war, der überhaupt erst Frieden auf diesem Konti- rung verbunden. Es wäre fatal, wenn wir das, was Herr nent geschaffen und dafür gesorgt hat, dass wir nicht mehr Fischer als die Methode Monnet bezeichnet, links liegen gegeneinander Kriege führen. lassen würden. Wir sollten ihn alle miteinander ein wenig erziehen, damit aus dem guten Kern der Rede etwas wirk- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- lich Vernünftiges für uns alle entwickelt wird. wie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) Vielen Dank. Hier ist Herr Fischer zu pessimistisch, indem er jetzt all das, was sich zukünftig tun soll, auf die intergouverne- (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜND- mentale Ebene, also auf die Ebene zwischen den Regie- NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) rungen, abschiebt. Das macht mich besorgt, denn er fängt dabei schon mit dem Europäischen Parlament an. Natür- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat lich muss man kritisieren, dass das Europäische Parla- jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan. ment nicht so demokratisch und bürgernah ist, wie wir es uns wünschen, dass es über viele parlamentarische Mög- lichkeiten nicht verfügt und dass unsere nationalen Eliten Dietmar Nietan (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- sich oftmals nicht hineinwählen lassen. Wir haben sehr leginnen und Kollegen! Ich glaube, der Beitrag von Herrn gute Europaparlamentarier; aber es könnte noch besser Pflüger hat gerade gezeigt, dass wir uns in der Diskussion sein. Daraus darf man aber nicht den Schluss ziehen, es jetzt auf dem richtigen Weg befinden. Es wurde deutlich, sei klug, ein Doppelmandat zu schaffen und das Europa- dass die Rede des Außenministers, in welcher Eigenschaft parlament, das die Supranationalität mit am besten ver- er sie letztlich auch immer gehalten hat, längst überfällig körpert und eine der größten Errungenschaften des verge- war. meinschafteten europäischen Ansatzes ist, dadurch zu er- (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Er hätte sie setzen, dass nur noch nationale Delegierte nach Brüssel gleich hier halten sollen! Das wäre das Richtige geschickt werden, die dort dann immer einmal auf einer gewesen!) Konferenz zusammensitzen. So würden weder die Kon- trollkompetenzen noch die Gesetzgebung und erst recht – Herr Haussmann, bei jedem Wortbeitrag sagen Sie, er nicht die Demokratie gestärkt. Ich glaube, dies ist derhätte sie gleich hier halten sollen. Ich kann es verstehen, (B) größte Irrtum der ganzen Rede von Herrn Fischer. dass man vielleicht ein wenig beleidigt ist, weil man bei (D) der Rede in der Humboldt-Universität nicht dabei war und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- über sie in der Presse lesen musste. Es macht sich natür- wie des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) lich auch gut, wenn die erstarkten Liberalen jetzt zu so ei- Überhaupt muss man sich fragen, ob das Schaffen von nem wichtigen außenpolitischen Thema eine Aktuelle verschiedenen Avantgarden außerhalb der EU-Verträge Stunde beantragen. Das kann ich verstehen. Ich kann mir nicht letztlich auch die große Gefahr einer Erosion in sich in dem Zusammenhang aber auch nicht die Bemerkung birgt, die Gefahr, dass wir europäische Identität verlieren. verkneifen, dass die Beiträge von Herrn Lamers oder von Es könnte eine Art Europa à la carte werden: Jeder pickt Herrn Pflüger außenpolitisch viel konkreter waren als das, sich die Form der Zusammenarbeit heraus, die er gerade was ich von Ihnen und Herrn Westerwelle gehört habe. gerne hätte. Ich glaube nicht, dass dies der Minister in- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tendierte. Aber die Gefahr ist da, wenn man sozusagen alle zukünftigen Avantgardechancen eines Kerns, der Ich hätte mir gewünscht, dass Sie inhaltlich, wenn Sie weiter voranschreitet, auf der Ebene der zwischenstaatli- schon eine Aktuelle Stunde hierzu beantragen, an die chen Zusammenarbeit und nicht mehr in den Gemein- große Tradition liberaler Außenminister angeknüpft hät- schaftsinstitutionen und dem Gemeinschaftshaushalt an- ten. Diese Chance haben Sie vertan. Sie haben sich in siedelt. Das ist die Gefahr dieser Rede, meine Damen und Erbsenzählerei ergangen, wann wer was in welcher Funk- Herren. tion gesagt hat und ob das alles so richtig war. Sie haben hier eine Chance verpasst Aber das ist nicht mein, sondern Dann muss man sich fragen, was eigentlich die Mittel- Ihr Problem. und Osteuropäer dazu sagen. Ich finde, dass das das Schwierigste ist. Sie geben sich eine ungeheure Mühe, re- (Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle formieren ihre Staaten, nehmen Arbeitslosigkeit in Kauf, [F.D.P.]: Das mache ich an der Humboldt-Uni! um einen unglaublichen Fortschritt zu machen, und be- Da hebe ich dann zu einer solchen Rede an!) kommen dann von Herrn Fischer quasi gesagt: Wenn ihr – Lassen Sie sich da auch einmal einladen, die nehmen Sie nach all diesen Anstrengungen letztlich in der Lage seid, bestimmt auch. in das europäische Mietshaus einzuziehen, dann sind ein (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Das ist schon paar bereits in die europäische Villa eingezogen; ihr seid einmal vorgekommen! Ich war schon einmal an sozusagen Mieter zweiter Klasse. Damit entmutigt man der Humboldt-Uni!) diese Länder. Dem muss man mit allen Mitteln entgegen- wirken. Das sollten wir alle miteinander tun. – Gut, sehr schön. 9988 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Dietmar Nietan (A) Ich möchte die derzeitige konstruktive Diskussion fort- nen dürfen wir nicht immer nur die Risiken, die ein sol- (C) führen und auf das eingehen, was Herr Pflüger gesagt hat. cher dynamischer Prozess mit sich bringt, in den Vorder- Ich halte es für einen ganz wichtigen Punkt, dass die In- grund stellen – damit verunsichern wir die Bürger –, son- teressen, die Gefühlslage und die Geschichte unsererdern wir müssen die Chancen herausarbeiten. Auch darin osteuropäischen Nachbarn sehr ernst zu nehmen sind. Ich liegt eine große Verantwortung für uns alle. glaube, dass es uns als Europapolitikerinnen und Europa- Auch wenn es eben schon angesprochen worden ist, politiker auszeichnen würde, wenn wir auf der Grundlage möchte ich Ihnen sagen: Hören wir auf die Unterüber- der Rede des Außenministers weiterdiskutieren und das, schrift des Artikels des ehemaligen Außenministers Gen- was er angestoßen hat, weiterentwickeln würden, nämlich scher! Diese lautet: „Folgt Fischer“. Lasst uns in diesem wie ein Gravitationszentrum aussehen kann, das nicht zu Sinn konstruktiv diskutieren! einem Europa à la carte und nicht zur Rosinenpickerei führt, und wie man deutlich machen kann, dass es eigent- Vielen Dank. lich im Interesse eines funktionierenden Gravitationszen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ trums sein müsste, dass auch neue Mitglieder der Europä- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ischen Union möglichst schnell in dieses Zentrum vor- CDU/CSU und der F.D.P.) stoßen. Anhand der Reaktionen, insbesondere auch anhand der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Damit ist die Äußerungen des polnischen Außenministers, können wir Aktuelle Stunde beendet. feststellen, dass man in diesen Ländern zwar verunsichert ist, weil man nicht weiß, wohin die Reise führt, aber Ich gebe das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen durchaus auch offen dafür ist, darüber nachzudenken und Koppelin. sich in die Verhandlungen einzubringen, wie die Union so weiterentwickelt werden kann, dass am Ende alle, die Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe wollen, die Chance haben, an diesem Beschleunigungs- Kolleginnen und Kollegen! Nach § 44 Abs. 3 der Ge- prozess teilzunehmen und in dieses Gravitationsfeld hin- schäftsordnung könnte die F.D.P. eine zusätzliche Debatte einzukommen. beantragen, da der Bundesaußenminister seine Redezeit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weit überzogen hat. der CDU/CSU) Es war richtig und gut, dass wir diese Aktuelle Stunde beantragt haben, da der Bundesaußenminister zum ersten Ich möchte auch noch einmal ausdrücklich unterstrei- Mal zu seiner Rede an der Humboldt-Universität in Ber- chen, dass der Außenminister in seiner Rede betont hat, lin in diesem Parlament Stellung nehmen konnte und wir dass dieses Gravitationszentrum wirklich für alle ein Ma- (B) darüber diskutieren konnten. Wir sind dankbar für diese (D) gnet sein soll, der sie förmlich anzieht, sich dort einzu- Diskussion. Die F.D.P. ist der Auffassung, dass dieses bringen. Es lohnt sich, darüber zu diskutieren und zu über- Thema weiter auf der Tagesordnung bleiben muss. legen, wie wir als Parlamentarierinnen und Parlamenta- rier die Regierung dabei unterstützen können, diesDer Bundesaußenminister hat uns davon unterrichtet, umzusetzen. Auch das ist ein wichtiger Punkt, den wir uns dass er einen wichtigen Termin hat. Er hat deshalb vor- immer wieder und auch in der heutigen Debatte klar ma- zeitig die Debatte verlassen müssen. Wir akzeptieren das. chen müssen. (Susanne Kastner [SPD]: Der Punkt wurde ver- Wichtig ist auch, dass man zwischen langfristigen Per- spätet aufgerufen! Dadurch hat sich alles verzö- spektiven, mutigen Visionen und dem, was man so schön gert!) das Tagesgeschäft nennt, unterscheidet. Wir müssen auf- – Frau Kollegin, der Herr Bundesaußenminister hat uns passen, dass die jetzige Rede des Außenministers nicht darüber informiert, dass er einen Termin hat und deshalb zum Anlass genommen wird, zum Beispiel den Forde- die Debatte vorzeitig verlassen muss. Wir akzeptieren das – rungskatalog für die Regierungskonferenz zu überziehen das ist ein Entgegenkommen der Opposition –, weil wir bzw. aufzublähen. Das würde wiederum die Gefahr mit wissen, welchen Termin er wahrnimmt. sich bringen, dass wir durch unsere überzogenen Forde- rungen am Ende weniger erreichen, als wenn wir ge- Wir verzichten also auf eine Debatte nach § 44 Abs. 3 schickt und auf bestimmte Fragen konzentriert verhan- der Geschäftsordnung. Das Thema bleibt aber weiter auf deln würden. Auch in diesem Punkt müssen wir also ab- der Tagesordnung. wägen. (Beifall bei der F.D.P.) Zum Schluss ist gesagt worden – auch das kann ich un- terstreichen –, dass den Worten des Außenministers im- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Vielen Dank. mer Taten folgen müssen. Ich glaube, das gilt nicht nur für Damit sind wir in der Lage, mit der ursprünglich vorgese- den Außenminister und die Regierungsmitglieder, son- henen Tagesordnung fortzufahren. dern für uns alle. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Wir müssen so sensibel über Europa diskutieren, dass Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- das Thema für die Bürgerinnen und Bürger interessant ist gierung eingebrachten Entwurfs einesZweiten und sie nicht abgeschreckt werden. In unseren Diskussio- Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9989

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) – Drucksache 14/3158 – b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-(C) (Erste Beratung 99. Sitzung) richts des Ausschusses für Arbeit und Sozialord- nung (11. Ausschuss) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) NIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 14/3392 – Die Integration von Menschen mit Behinderun- Berichterstattung: gen ist eine dringliche politische und gesell- Abgeordneter Wolfgang Meckelburg schaftliche Aufgabe b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Nolte, gemäß § 96 der Geschäftsordnung Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der – Drucksache 14/3393 – CDU/CSU Berichterstattung: Alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner nicht gegangen – Bilanz der Behindertenpolitik Antje Hermenau – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Jürgen Koppelin Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Dr. Christa Luft Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder Die Abgeordneten Rennebach, Meckelburg, Kolb, chronischen Krankheiten am Leben der Gemein- Deligöz und Grehn haben beantragt, ihre Reden zu Proto- schaft, zur deren Gleichstellung und zum Aus- koll geben zu dürfen.*) Ebenso soll die persönliche Er- gleich behinderungsbedingter Nachteile klärung der Abgeordneten Hinsken, Feibel und Bleser zu Protokoll gegeben werden.**) Sind Sie damit einverstan- (Teilhabesicherungsgesetz – ThSG) den? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. – Drucksachen 14/2237, 14/2234, 14/827, 14/2913 – Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Berichterstattung: desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Fortent- Abg. Silvia Schmidt (Eisleben) wicklung der Altersteilzeit. Der Ausschuss für Arbeit und c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/3392, den gierung Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Bericht der Bundesregierung über die Beschäfti- (B) len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal- gung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst (D) tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- – Drucksache 14/2415 – tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Überweisungsvorschlag: PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) Innenausschuss nommen worden. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Dritte Beratung Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Barnett, Silvia Schmidt (Eisleben), Klaus stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koali- der SPD sowie der Abgeordneten Katrin Göring- tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von Eckardt, Volker Beck (Köln), Grietje Bettin, wei- CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c sowie Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an der Zusatzpunkt 7 auf: Informationsgesellschaft – Gleichberechtigten 18. a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und Zugang zum Fernsehen sichern BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten – Drucksache 14/3382 – Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Der Redner der F.D.P., der Kollege Kolb, hat gebeten, Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie da- – Drucksache 14/3372 – mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir Überweisungsvorschlag: so. Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) Innenausschuss Interfraktionell wurde eine Debattendauer von einer Rechtsausschuss Stunde vereinbart, wobei die PDS sechs Minuten erhalten Ausschuss für Wirtschaft und Technologie soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend derspruch. Dann ist es so beschlossen.

*) Anlage 4 **) Anlage 2 *) Anlage 5 9990 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst Ulrike Mascher (SPD): Herr Seifert, ich habe mit(C) die Abgeordnete Ulrike Mascher. meiner Kollegin, Frau Hendricks, gesprochen, die auch (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Die sitzt aber auf der damals hier geredet hat und mit der Sie bereits eine Dis- Regierungsbank! – Parl. Staatssekretärin Ulrike kussion darüber geführt haben. Nach diesem Gespräch Mascher begibt sich zu ihrem Abgeordneten- steht fest, dass wir unabhängig von diesem Fall auch in platz) anderen Berufsgesetzen prüfen werden, inwieweit darin einschränkende bzw. diskriminierende Regelungen für – Ich rufe die Abgeordnete Ulrike Mascher auf, die gleich- Schwerbehinderte enthalten sind. Ich denke, dies ist ein zeitig Parlamentarische Staatssekretärin ist. guter Anlass, um nicht nur in Bezug auf die Steuerberater, sondern insgesamt in allen Berufsgesetzen, die von ver- Ulrike Mascher (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- schiedenen Ressorts federführend betreut werden, nach- leginnen und Kollegen! Wir haben Freitagnachmittag und zuprüfen, ob sie Regelungen enthalten, die mit Art. 3 Ab- vielleicht ist es bisher schon etwas erschöpfend gewesen. satz 3 des Grundgesetzes, der die Benachteiligung von Der Arbeitsminister hat am 2. Dezem- Behinderten verbietet, übereinstimmen. Sie haben dafür ber vergangenen Jahres in seiner Rede zum Welttag der einen wichtigen Anstoß gegeben und wir werden das Behinderten folgende Feststellung getroffen: überprüfen. Schwerbehinderte Menschen ... sind leistungsfähig (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE und nicht weniger qualifiziert als Nichtbehinderte. GRÜNEN und der PDS) Wenn der Arbeitsplatz richtig ausgewählt oder der Ich wiederhole: Wir wollen die Entwicklung von 1982 Behinderung angepasst ist, wenn Gebrauch gemacht bis 1998 umkehren, die die Erfüllungsquote bei der Be- wird von den technischen Möglichkeiten, um einen schäftigungspflicht von 5,9 Prozent im Jahre 1982 auf Arbeitsplatz oder das Arbeitsumfeld behindertenge- 3,8 Prozent im Jahre 1998 hat sinken lassen. Wir wollen recht auszustatten, dann können Schwerbehinderte eine Entwicklung umkehren, die die Zahl der arbeitslosen die gleiche Leistung erbringen wie Nichtbehinderte. Schwerbehinderten von 93 800 im Jahre 1981 auf 188 500 (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE im Jahre 1998 hat ansteigen lassen. GRÜNEN und der PDS) Eine wesentliche Ursache für den seit Jahren rückläu- An dieser Stelle gab es Beifall im ganzen Haus. figen Anteil Schwerbehinderter an der Zahl der Beschäf- Wir haben also alle gemeinsam die Überzeugung, dass tigten in den Betrieben und Verwaltungen ist die Gestal- eine Integration Schwerbehinderter in das Arbeitsleben tung der Ausgleichsabgabe.Diese Abgabe hat ja nicht möglich ist. Dafür müssen dann aber die Rahmenbedin- nur eine Ausgleichs-, sondern auch eine Antriebsfunktion. (B) gungen stimmen. Wir brauchen das notwendige Instru- Die Entwicklung der letzten 16 Jahre zeigt, dass die Aus- (D) mentarium zur besseren Eingliederung Schwerbehinder- gleichsabgabe nicht mehr so gewirkt hat, wie sie sollte. ter in das Arbeitsleben. Die Koalition hat in der Koaliti- Deswegen sehen wir eine Neugestaltung zur Erhöhung onsvereinbarung angekündigt, dieses Instrumentarium zu der Wirksamkeit des Systems von Beschäftigungspflicht schaffen. Der Ihnen heute vorliegende Gesetzentwurf zur und Ausgleichsabgabe vor. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter löst dieses Versprechen ein. Es ist das Nahziel dieses Gesetzes, Arbeitgeber, die sich um die Beschäftigung Schwerbe- die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten schon in den hinderter bemühen und nur wenig unter der Pflichtquote nächsten zwei bis drei Jahren um rund 50 000 zu verrin- liegen, werden mit der Ausgleichsabgabe nicht stärker be- gern. lastet als bisher. Sie zahlen also weiterhin 200 DM. Ar- beitgeber hingegen, die ihre Beschäftigungspflicht gröb- (Zustimmung bei der SPD) lich verletzen, zum Beispiel überhaupt keinen Schwerbe- Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf die Entwicklung hinderten beschäftigen, haben künftig eine höhere von 1982 bis 1998 umkehren. Ausgleichsabgabe zu zahlen als bisher, bis zu 500 DM monatlich. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Frau Staatsse- (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist immer noch zu kretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen wenig!) Seifert? – Gut, aber es ist doch ein Schritt in die richtige Richtung, Herr Seifert. Ulrike Mascher (SPD): Gerne, Herr Seifert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (PDS): Frau Staatssekretärin, es freut Dr. Ilja Seifert Wir wollen ein gestaffeltes System bei der Ausgleichs- mich, dass Sie das Zitat an den Anfang Ihrer heutigen abgabe. Je höher der Grad der Nichterfüllung, desto höher Rede gesetzt haben. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich die Ausgleichsabgabe. Für Kleinbetriebe ist eine Sonder- im Anschluss daran sozusagen für die Regierung dafür regelung vorgesehen. Arbeitgeber mit bis zu 39 Arbeits- entschuldigen, dass der Deutsche Bundestag in der ver- plätzen haben nach wie vor 200 DM monatlich zu zahlen, gangenen Woche ein Gesetz verabschiedet hat, das es wenn sie keinen Schwerbehinderten beschäftigen. schwerbehinderten Menschen verbietet, Steuerberater zu werden. Ich möchte einmal Ihre Meinung dazu hören, ob Die Arbeitgeber haben in diesem Zusammenhang im- es eine Chance gibt, dies in sehr kurzer Zeit zu revidieren? mer wieder darauf hingewiesen, dass die 6-Prozent-Quote Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9991

Ulrike Mascher (A) nicht bedarfsgerecht, sondern übermäßig sei. Sie haben Ausgleichsabgabe zu finanzierenden Anspruch auf Über- (C) darauf hingewiesen, dass die Beschäftigungspflicht gar nahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz. nicht zu erfüllen sei. Sie haben darauf hingewiesen, die Einzelheiten bleiben einer Rechtsverordnung vorbehal- Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber werde sich ver- ten. Der Rechtsanspruch selbst ist jedoch nicht vom Er- größern, wenn die Quote auf 5 Prozent abgesenkt werde. lass der Verordnung abhängig, er soll ab In-Kraft-Treten Wir wollen mit der Veränderung der Quote die Arbeitge- des Gesetzes gelten. ber jetzt beim Wort nehmen, mehr zu tun als bisher. Die Bundesanstalt für Arbeit und die Hauptfürsorge- (Beifall bei der SPD) stellen sind die beiden wichtigsten Verwaltungen, die für die Integration Schwerbehinderter in Arbeit, für die Be- Aber diese Reduzierung der Pflichtquote ist an eine schaffung und Erhaltung eines Arbeitsplatzes zu sorgen Bedingung geknüpft. Wird die Zahl der arbeitslosenhaben. Wir wollen die Arbeit der Arbeitsverwaltung da- Schwerbehinderten bis Oktober 2002 nicht um 25 Prozent – durch verbessern, dass wir neben einer Verstärkung der das sind rund 50 000 – abgesenkt, dann kehren wir ab Vermittlungs- und Beratungsaktivitäten auch ein neues 1. Januar 2003 automatisch wieder zu der bisherigenInstrument, nämlich Integrationsfachdienste, einsetzen Pflichtquote von 6 Prozent zurück. wollen. Diese neuen Integrationsfachdienste sollen ar- Genauso wichtig wie die Verbesserung des Systems beitslosen Schwerbehinderten, die besondere Schwierig- von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe ist es, keiten haben, in das Arbeitsleben integriert zu werden, zur diese Beschäftigungspflicht auch umzusetzen. Deswegen Verfügung stehen, um ihnen die notwendige aufwendige wollen wir sowohl die Rechte der Schwerbehindertenund personalintensive Unterstützung zu geben. stärken als auch die Rechtstellung der Schwerbehinder- Ein Punkt ist mir besonders wichtig. Verschiedene Kol- tenvertretung in Betrieben und Dienststellen verbessern. leginnen und Kollegen, aber auch Werkstätten für Behin- Innerbetrieblich sollen die Arbeitgeber mit der Schwerbe- derte, Organisationen und Verbände der Behinderten hindertenvertretung und dem Betriebs- oder Personalrat haben die Befürchtung geäußert, dass die von uns allen verbindliche Regelungen zur Integration Schwerbehin- gewünschte Förderung der Beschäftigung von Schwerbe- derter vereinbaren. hinderten, dass die Entwicklung neuer Instrumente, die Weil schwerbehinderte Frauen es bei ihrer Eingliede- Schaffung von Integrationsfirmen, Integrationsabteilun- rung in Arbeit vielfach besonders schwer haben, sollen in gen und Integrationsbetrieben, die Förderung von Werk- der Integrationsvereinbarung Regelungen zur Beschäf- stätten für Behinderte beeinträchtigen könnte. Ich sage tigung eines angemessenen Anteils schwerbehinderter es deshalb noch einmal ganz deutlich: Die Möglichkeit Frauen getroffen werden. zur Förderung insbesondere von Werkstätten für Behin- derte durch den Ausgleichsfonds des Bundesministeriums (B) (Beifall bei der SPD und der PDS) für Arbeit und Sozialordnung im Rahmen des erforderli- (D) Von diesen Vereinbarungen erhalten die Hauptfürsorge- chen Bedarfs und der verfügbaren Mittel bleibt unberührt. stellen und Arbeitsämter Kenntnis. Diese sollen dannDa ändert sich das Gesetz nicht. geeignete Schwerbehinderte vorschlagen. Sie sollen sich Wir wollen aber hinsichtlich des Bedarfs an Werkstät- schon im Vorfeld um die Qualifizierung von Schwerbe- ten für Behinderte eine Erhebung machen, wieweit wir hinderten kümmern, denn Arbeitgeber werden nur geeig- über die 2003 zur Verfügung stehenden 200 000 Plätze in nete Schwerbehinderte einstellen. Schwerbehinderte, die den Werkstätten für Behinderte hinaus noch regionale für den Arbeitsplatz geeignet sind, werden ihren Arbeits- Schwerpunkte für eine Verstärkung des Netzes der Werk- platz auf Dauer behalten. An der Prüfung, ob Arbeits-stätten für Behinderte brauchen. Wir werden Ende dieses plätze mit vorgeschlagenen Schwerbehinderten besetzt Monats erste Gespräche dazu führen. Wir haben uns mit werden können, wird die Schwerbehindertenvertretung den Verbänden darüber verständigt, dass eine solche Be- stärker beteiligt als bisher. darfserhebung notwendig und sinnvoll ist. Um für die 865 000 erwerbstätigen Schwerbehinderten Auch die weiteren besonderen Fördermöglichkeiten die Arbeitsplätze sicherer zu machen, soll auch diebe- für Werkstätten für Behinderte bleiben erhalten. triebliche Prävention ausgebaut werden. Schon bisher gab es Pflichten der Arbeitgeber gegenüber beschäftigten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schwerbehinderten. Diese Pflichten werden zu Rechten DIE GRÜNEN) der Schwerbehinderten umgestaltet: Rechte auf einen be- Arbeitgeber, die ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllen hinderungsgerechten Arbeitsplatz, auf Beschäftigung ent- und Ausgleichsabgaben zu zahlen haben, können diese sprechend den Kenntnissen und Fähigkeiten, auf bevor- durch die Vergabe von Aufträgen an Werkstätten für Be- zugte Teilnahme an innerbetrieblichen Weiterbildungs- hinderte reduzieren. Darüber hinaus sind Arbeitgeber der maßnahmen, auf Erleichterung der Teilnahme öffentlichen an Hand verpflichtet, Aufträge, die von Werk- außerbetrieblichen Fortbildungsmaßnahmen und aufstätten für Behinderte durchgeführt werden können, be- Teilzeitarbeit, wenn die kürzere Arbeitszeit wegen Art vorzugt diesen Werkstätten anzubieten. und Schwere der Behinderung notwendig ist. Ich hoffe, dass damit Klarheit geschaffen worden ist, Ein für Schwerbehinderte besonders wichtiger Schritt dass niemand, weder die Regierung noch die Koalitions- soll bei der Arbeitsassistenz gegangen werden. Schwer- fraktionen, den Bestand und die Weiterentwicklung der behinderte haben künftig gegenüber der Hauptfürsorge- Werkstätten für Behinderte durch die verstärkte Förde- stelle im Rahmen der begleitenden Hilfe einen aus der rung der Beschäftigung von Schwerbehinderten auf dem 9992 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Ulrike Mascher (A) allgemeinen Arbeitsmarkt in irgendeiner Weise ein- Uns ist dieser Antrag vor allem deshalb wichtig, weil (C) schränken oder tangieren will. sich die Regierungskoalition darin ausdrücklich zur Schaffung eines SGB IX bekennt. Leider hat man ja im Alle Beteiligten, Arbeitgeber, Gewerkschaften und Moment den Eindruck, als ob sich bei der Arbeit an die- Behindertenorganisationen, haben dieses Konzept, das sem Vorhaben die gleichen Schwierigkeiten ergeben, wie ich Ihnen jetzt in Kurzform vorgestellt habe, mit ent- auch wir sie hatten. Ich sage „leider“, weil wir natürlich wickelt. Es ist im Dialog entstanden. Das Ergebnis ist ein sehr gerne sehen würden, wenn wir in diesem Bereich ei- Konsens. Dass er erreicht werden konnte, ist beachtlich. nen großen Schritt nach vorne gehen könnten. Ich denke, er lässt uns alle gemeinsam hoffen, dass wir das hochgesteckte Ziel, die Arbeitslosigkeit in zwei bis Wir haben im Moment eher den Eindruck, dass die drei Jahren um rund 50 000 zu reduzieren, tatsächlich er- Rohentwürfe von Mal zu Mal weniger Substanz enthalten reichen. und dass sich das große Ziel, zu einer stärkeren Homoge- nität in der Leistungserbringung und zu einer besseren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verzahnung der Reha- und Eingliederungsleistungen DIE GRÜNEN) zu kommen, immer schwerer erreichen lässt. Ich frage Alle Beteiligten – das sage ich ausdrücklich noch einmal – beispielsweise: Was beinhaltet die Aussage, dass der sind guten Willens. Sozialhilfeträger künftig auch Rehaträger sein wird, kon- kret? Inwieweit gelten die Prinzipien für Rehaleistungen Gehen wir gemeinsam an die Arbeit, verlieren wirdann künftig auch für die heute im BSHG stehenden Leis- keine Zeit, nutzen wir die Chance des sich positiv ent- tungen? wickelnden Arbeitsmarktes auch für die Schwer- behinderten! (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Frau Nolte, Sie haben das Thema verfehlt!) Ich danke Ihnen! – Ich bin bei dem Antrag, in dem unter anderem gefordert (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ worden ist, ein neues SGB IX zu schaffen. Ich bitte, das DIE GRÜNEN – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: zu berücksichtigen. Ich finde das für die weitere Beratung Jetzt geht sie wieder zu ihrem Platz auf der Re- wichtig. gierungsbank! – Abg. Ulrike Mascher [SPD] begibt sich zu ihrem Abgeordnetenplatz) In den vorliegenden Entwürfen ist vom Wunsch- und Wahlrecht wenig zu spüren.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:Herr Kollege (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!) Koppelin, wenn Sie mit den protokollarischen Anweisun- Es besteht keine Klarheit darüber, welche Leistungen des (B) gen fertig sind, können wir hier vielleicht fortfahren. Sozialhilfeträgers als Rehaleistungen bewertet werden(D) Ich habe einige formale Dinge bekannt zu geben. Zum und welche dann vielleicht nur noch zu den Hilfen zum Tagesordnungspunkt 17, Altersteilzeit, teilt die CDU/ Lebensunterhalt zählen. Auch wird nicht deutlich, inwie- CSU mit, dass sie zustimmen wollte. Da lag ein Versehen weit das Nachrangigkeitsproblem geklärt wird. Unklar ist vor. Wir nehmen das protokollarisch zur Kenntnis. Damit auch, ob die zu zahlende Eingliederungshilfe künftig von ist das korrigiert. einem zu erwartenden Erfolg abhängig gemacht wird, wie das bei Rehaleistungen der Fall ist. Außerdem bitten die Abgeordneten Schmidt-Zadel und Strebl, ihre Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt Ich finde, das sind wichtige Fragen, die beantwortet zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einver- werden müssen und auf die in den vorliegenden Entwür- standen? – Das ist der Fall. fen leider nicht klar eingegangen worden ist. Gerade weil die Zahl dieser Fragen eher mehr wird statt weniger, Dann rufe ich jetzt als nächste Rednerin die Abgeord- möchten wir die Regierung ausdrücklich bitten, zumin- nete Claudia Nolte auf. dest in diesem Fall Qualität vor Schnelligkeit gehen zu lassen. Claudia Nolte (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe nur, dass die heutige Debattenzeit nicht ein Omen für die neue Wir werden Ihnen keinen Vorwurf machen für den Fall, Prioritätensetzung in diesem Politikbereich ist. dass der Termin 1. Januar 2001 nicht zu halten ist – das verspreche ich Ihnen –, wenn wir dadurch ein Gesetz er- (Beifall bei der PDS) reichen, das seinen Namen verdient und das wir alle unter- Das erste konkrete Vorhaben dieser Bundesregierung zur stützen können. Behindertenpolitik hätte wahrlich mehr Aufmerksamkeit (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das war verdient. 16 Jahre nicht möglich!) Wir beraten auch über einen Antrag, den alle in diesem Ich habe deshalb schon frühzeitig den Vorschlag ge- Hohen Hause unterstützt haben. Uns ist sehr wichtig, was macht, die Dinge, die man regeln muss, zum Beispiel die in diesem Antrag steht. Integrationsfachdienste, die Integrationsbetriebe und an- deres, notfalls in einer vorgezogenen Novelle zum Schwerbehindertengesetz zu regeln. Daher finde ich es *) Anlage 5 sehr gut, dass die Regierung diese Idee aufgegriffen hat Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9993

Claudia Nolte (A) bzw. selber hatte und wir heute darüber diskutieren kön- fertigt. Ich glaube, dass nur der Protest der Einrichtung(C) nen. Denn uns allen geht es doch so: Wir betrachten die dazu geführt hat, dass die Förderung nicht ausgesetzt bei Schwerbehinderten bestehende hohe Arbeitslosen- wird. quote von 18 Prozent für unhaltbar und erdrückend. Des- Ich denke auch, dass die Begründung, die für diese halb werden wir all das, was dazu dient, etwas zum Posi- Maßnahme angeführt worden ist, nämlich dass man das tiven zu verändern, unterstützen. Ziel hat, 3 500 Mitarbeiter der Werkstatt in den ersten Ar- Aus diesem Grunde stellen wir auch fest: Die Grund- beitsmarkt auszugliedern, was zu Ersparnissen führt, die elemente des vorliegenden Gesetzentwurfes sind richtig. eine Investitionsförderung ermöglichen, vollkommen Wir halten es sehr wohl für akzeptabel, wenn, da die bis- wirklichkeitsfremd ist. Das ist einfach nicht zu erreichen. herigen Regelungen zur Ausgleichsabgabe und Beschäf- tigungsquote nicht zum Erfolg geführt haben, versucht Frau Kollegin Nolte, wird, mit Modifizierungen mehr Anreize zur Beschäfti- Vizepräsidentin Petra Bläss: gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mascher? gung von Schwerbehinderten zu schaffen. Integrations- fachdienste bzw. Integrationsprojekte aufzunehmen war gleichermaßen unser Anliegen. Wir halten den Versuch, Claudia Nolte (CDU/CSU): Ja, wenn Sie die Uhr so- die Mitwirkungsrechte der Schwerbehindertenvertretung fort anhalten. zu stärken und Prävention zu etablieren, für ebenso not- wendige Maßnahmen. Aus Erfahrung sind wir etwas vor- Das mache ich. sichtiger, was die Prognose, 50 000 Schwerbehinderte in Vizepräsidentin Petra Bläss: den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen, anbelangt. Wünschenswert ist dies ganz sicher. Claudia Nolte (CDU/CSU): Gut. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass es leichter ist, allgemeine Grundsätze zu formulieren, als Grundsätze in Ulrike Mascher (SPD): Frau Kollegin Nolte, hat Ih- einen Gesetzestext zu gießen, was dann obendrein noch nen Ihr Kollege Laumann die Beantwortung seiner Frage, Erfolg zeigen soll. Deshalb hoffe ich ganz einfach, dass die schriftlich erfolgen musste, gegeben? wir während der weiteren Beratungen trotz des straffen Zeitplans etwas Zeit für die Details haben werden. Claudia Nolte (CDU/CSU): Die habe ich noch nicht Ich möchte nämlich schon noch nachfragen können, ob bekommen! die vorgesehene Form der Modifizierung von Beschäfti- gungsquote und Ausgleichsabgabeihre Lenkungswir- Ulrike Mascher (SPD): Darin findet sich nämlich eine (B) kung erfüllt. Wenn wir dann Großbetriebe weniger belas- (D) Zahl, die mir am Mittwoch nicht präsent war: Wenn wir ten und den Mittelstand stärker belasten, ist die Len- 50 000 Schwerbehinderte zusätzlich beschäftigen, wer- kungswirkung falsch. Das sollte – insbesondere im den wir durch die Anhebung der Ausgleichsabgabe, die Rahmen der in diesem Zusammenhang stattfindenden bei Nichtbeschäftigung von Schwerbehinderten zu zahlen Anhörungen – noch einmal durchgerechnet werden. ist, immerhin eine Steigerung der jährlichen Einnahmen (V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss) von 180 Millionen DM erreichen. Ich möchte aber beto- nen, dass es unser gemeinsames Ziel sein muss, die Ein- Ich würde auch prüfen, wie der folgende Punkt denn nahmen gegen null fahren zu lassen. Aber die Sorge der nun wirklich geregelt werden soll: Frau Mascher, Sie ha- Werkstätten um ihre Behinderten ist ausgeräumt worden. ben soeben ausdrücklich betont, dass es keine Abstriche Es gibt bezüglich der Förderung kein Moratorium von bei der Förderung von Werkstätten und von Wohnheim- drei Jahren. Ich frage Sie, ob das inzwischen bei Ihnen plätzen für Behinderte gibt. Am Mittwoch dieser Woche angekommen ist. sagten Sie uns aber, die Regierung habe im Rahmen der Modifizierung der Ausgleichsabgabe nicht unbedingt Mehreinnahmen geplant. Nun ist es eine Aufgabe der Ma- Claudia Nolte (CDU/CSU): Frau Mascher, ich nehme thematik: Wenn nicht mehr in den Topf kommt, aber mehr das gerne zur Kenntnis, muss aber darauf hinweisen, dass Leistungen finanziert werden sollen, muss dies zulasten meine Aussagen nicht von mir erfunden wurden. Die Aus- irgendeiner anderen Sache gehen, die heute finanziertsagen erfolgten seitens Ihres Hauses. Wenn das inzwi- wird. Deshalb sind die bei den Verbänden und den ent- schen zurückgenommen worden ist – umso besser. Was sprechenden Einrichtungen, zum Beispiel bei den Werk- die konkreten Zahlen angeht, so hoffe ich, dass uns in der stätten für Behinderte, bestehenden Ängste zu verstehen Anhörung Besseres zur Prüfung vorgelegt wird. – Vielen und gerechtfertigt. Dank. Diese Befürchtung kommt nicht von ungefähr, Frau Dass Integrationsfachdienste und Integrationspro- Mascher. In den Vorbesprechungen zu diesem Gesetzent- jekte institutionell abgesichert werden, ist richtig und not- wurf ist von den Mitarbeitern Ihres Hauses gesagt wor- wendig. Ob die starre Festlegung, dass pro Arbeitsamts- den, dass daran gedacht werde, dieFörderung der bezirk nur ein Integrationsfachdienst tätig sein soll, sinn- Werkstätten für drei Jahre auszusetzen und sie danach, voll ist, wage ich dagegen zu bezweifeln. Wir haben schon wenn Gelder da sind, vielleicht wieder einzuführen. Das heute viele Formen von Fachdiensten, die sich auf Behin- ist es doch, was die Leute aufgeschreckt und ihnen Angst derungsarten spezialisiert haben. Dass die Zusammen- gemacht hat. Von daher sind die Befürchtungen gerecht- führung zu einem Integrationsfachdienst diese Arbeit 9994 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Claudia Nolte (A) effizienter und wirkungsvoller macht, glaube ich nicht. Deswegen verstehe ich nicht, woher dieses Misstrauen(C) Lassen Sie uns auch darüber sprechen, ob diese strenge kommt. Ich nehme an, dass das auch der Grund dafür ist, Festlegung Sinn macht. dass bestimmte Maßnahmen wie etwa die Prävention nicht in der ursprünglich vorgesehenen Form durchge- Ich bin auch immer dann skeptisch, wenn wir aufführt werden – dafür braucht man nämlich die Hauptfür- Rechtsverordnungen verwiesen werden. Das entzieht sich sorgestellen –, dass beispielsweise bei der Vereinbarung dann der parlamentarischen Beratung und Kontrolle.eines Integrationsplans die Hauptfürsorgestellen nicht Deshalb wäre ich doch sehr daran interessiert, von dieser stärker einbezogen werden und nur die Formulierung ge- Praxis Abstand zu nehmen. Das betrifft im Übrigen auch wählt wurde, dass auch sie eingeladen werden können, die Aufnahme der Möglichkeit, einen Arbeitsassistenten oder dass nicht mehr in Bezug auf die Mitarbeit der zu fordern. Wir begrüßen dieses neue Instrument in jedem Hauptfürsorgestellen im Bereich der Integrationsprojekte Fall; es ist notwendig. Näheres sollte aber bitte im Gesetz geregelt wird, bei denen die Zuordnung der Hauptfürsor- und nicht in einer Rechtsverordnung geregelt werden. gestellen zur Bundesanstalt für Arbeit nicht unbedingt (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS]) fachlich begründet erscheint oder nachvollziehbar ist. Ich habe auch Sorge, ob die Umsetzung in dem vorge- Die Beratung wird auch in dem Punkt interessant sein, sehenen Zeithorizont zu schaffen sein wird, gerade wenn inwieweit die Ziele der Prävention und Mitwirkung der ich berücksichtige, dass manche Maßnahmen bis Oktober Schwerbehindertenvertretung wirklich greifen oder ob greifen sollen. nicht nur eine Modifizierung des Verfahrens vorgenom- men wird, der Schwerbehindertenvertretung also eigent- Alles in allem heißt das, dass wir im Anhörungsver- lich gar nicht mehr Rechte eingeräumt werden. fahren noch eine ganze Reihe von Punkten näher betrach- ten müssen. Ich betone noch einmal: Wir werden in die- Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- sem Bereich nur erfolgreich sein, wenn wir konstruktiv tion, mein hauptsächlicher Kritikpunkt – das widerspricht zusammenarbeiten. ein bisschen dem, was Sie, Frau Mascher, sagten, nämlich dass alles abgestimmt sei und in großer Einigkeit erfolge – (Zuruf von der SPD: Ja, das haben wir Ihnen bezieht sich auf eine sehr grundsätzliche Frage. Wenn doch angeboten!) man sich die ersten Konzeptionen dieses Gesetzentwurfes Das Misstrauen, das sich hier niederschlägt, lässt mich anschaut und diese mit dem jetzt vorliegenden Gesetzent- befürchten, dass auch unsere konstruktive Zusammenar- wurf vergleicht, dann stellt man doch erhebliche Verän- beit beim SGB IX dadurch gefährdet werden könnte. Das derungen fest. Diese sind vor allem der Tatsache geschul- wäre sehr bedauerlich. Ich habe die Hoffnung, dass wir in det, dass Sie sich sehr darum bemüht haben, diesen Ge- den Ausschussberatungen stärker einbezogen werden; das (B) (D) setzentwurf von der Zustimmungspflicht zu befreien. fand bei diesen Gesetzen im Übrigen gar nicht statt. Wir werden darauf achten, dass die Länder in einer Art und (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Sie haben aber Weise beteiligt werden, dass sie guten Gewissens zustim- eine schnelle Auffassungsgabe, Frau Nolte!) men können. Dadurch würde dieses Gesetz abgerundet. Da frage ich mich schon: Warum hat Ihr Minister Angst In diesem Sinne vielen Dank für die Aufmerksamkeit. davor, dieses Gesetz mit den Bundesländern in aller Kon- sequenz zu beraten und am Ende zu verabschieden? Sie (Beifall bei der CDU/CSU) müssen sich doch davor fürchten, irgendetwas nicht reali- siert zu bekommen. Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat die Kol- (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Das haben wir legin Ekin Deligöz für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE von Herrn Seehofer gelernt!) GRÜNEN. – Ja, aber wir hatten Gründe. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau (Lachen bei der SPD) Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Nolte, einige Ihrer Fragen sind ja noch offen. Deshalb frage ich: Was sind Ihre Gründe? (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das ist wahr! – Aufgrund seiner Konstruktion bleibt dieses Gesetz ein Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Alle!) Torso; denn bestimmte Dinge können nicht geregelt wer- den. Es sind die Hauptfürsorgestellen,die einen Groß- Deshalb werden wir im Anschluss an diese Debatte heute teil der Aufgaben, die sich aus diesem Gesetz ergeben, noch eine Obleutebesprechung durchführen, um eine An- erledigen müssen. Sie aber müssten, damit dies möglich hörung gerade zu dieser Thematik zu beschließen, in der wird, auch Veränderungen erfahren. dann alle Ihre offenen Fragen beantwortet werden kön- nen. Einer Sache können Sie sich allerdings schon jetzt Nur um die Zustimmungsfreiheit zu erreichen, sind die ganz sicher sein: Die Regierung wird hier in Kooperation Hauptfürsorgestellen aus dem Gesetzentwurf herausge- mit den Betroffenenverbänden und nach Rücksprache mit nommen worden. Ich weiß noch gar nicht, wie Sie das am den Interessenvertretern eine sehr gute, solide Arbeit leis- Ende umsetzen wollen. ten – (Zuruf von der SPD: Frau Nolte, haben Sie (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das wäre das den letzten Gesetzentwurf eigentlich gelesen?) erste Mal!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9995

Ekin Deligöz (A) im Interesse der behinderten Menschen und auch der nicht Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr (C) behinderten Menschen in diesem Lande. Wir wollen Inte- Seifert, bitte. gration verwirklichen und nicht nur in der Theorie Worte darüber verlieren. Dr. Ilja Seifert (PDS): Frau Kollegin Deligöz, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Senkung der Pflichtquote auf 5 Prozent wird in Ihrem jetzt und bei der SPD) vorgelegten Antrag damit begründet, dass es eine realisti- sche Quote sei, die die Arbeitgeber seit langem fordern. Zurück zur Sachlichkeit, die gerade bei dieser Thema- Gleichzeitig sagen Sie, wenn innerhalb von zweieinhalb tik angebracht ist. Arbeitslosigkeit hat in der Tat sehr viele Jahren nicht zusätzliche 50 000 Arbeitsplätze geschaffen Faktoren: Alter, Geschlecht, eine unzureichende Ausbil- werden, wird die Pflichtquote automatisch wieder auf dung, Langzeiterwerbslosigkeit. Wenn man diese Risiko- 6 Prozent erhöht. faktoren zusammen betrachtet, wird man feststellen, dass alle diese Faktoren gleichermaßen auf gehandicapte Per- Können Sie meine Befürchtung entkräften, dass dann, wenn die 50 000 Arbeitsplätze nicht geschaffen werden, sonen zutreffen. Meistens werden gehandicapte, schwer- gesagt wird, die 5 Prozent sind immer noch unrealistisch, behinderte Menschen aus dem Arbeitsleben aktiv ausge- wir müssen sie weiter senken, anstatt sie wieder auf 6 Pro- grenzt, indem man ihnen eine Frühverrentung empfiehlt. zent anzuheben, um damit die Pflicht deutlich zu machen, Sie erhalten keine Chance mehr, in den Arbeitsmarktdie die Gesellschaft gegenüber behinderten Menschen zurückzukehren. Häufig trifft das vor allem diejenigen, hat? Ihre Argumentation kann ich beim besten Willen die etwas älter sind. Manche haben überhaupt gar keine nicht verstehen. Möglichkeit gehabt, ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt zu finden, Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das stimmt!) Kollege Seifert, ich finde es ein wenig bedauerlich, dass weil sie nicht die Möglichkeit hatten, eine Ausbildung ab- Sie immer von vornherein mit Vorwürfen kommen. Zum zuschließen, oder weil sie von vornherein nicht am Ar- einen haben wir gerade diese Problematik im Gesetz beitsmarkt teilhaben konnten. Aus diesem Grunde ist die festgeschrieben, zum anderen werden wir die Situation Arbeitslosigkeit der Schwerbehinderten in diesem nicht verbessern, wenn wir nichts machen. Wir müssen jetzt zu Taten schreiten, um nach vorn zu kommen, um Lande sehr hoch. endlich einmal so etwas wie einen Paradigmenwechsel in Aber es gibt in diesem Zusammenhang auch etwas Er- der Behindertenpolitik zu erreichen. freuliches zu vermelden. Die Zahlen vom März 2000 be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) sagen, dass die Behindertenarbeitslosigkeit im Vergleich und bei der SPD) (D) zum Vormonat um 2,9 Prozent gesunken ist. Wenn wir nicht jetzt handeln, werden wir in zwei Jah- Mit dem heute hier in der ersten Lesung eingebrachten ren eine noch viel schlimmere Situation haben. Gerade Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbe- deshalb ist es jetzt angebracht, diesen Gesetzentwurf ge- hinderter legen wir einen Gesetzentwurf vor, der eine um- meinsam, auch mit Ihrer Unterstützung – ich schätze Ihre fangreiche Integrationsförderung von Menschen mit Han- Unterstützung ganz besonders, weil Sie aus Erfahrung re- dicap vorsieht. Das Ziel, 50 000 neue Arbeitsplätze zu den –, zu verabschieden, schaffen, muss sowohl von der parlamentarischen Seite als auch von der Bundesregierung kritisch begleitet wer- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dem Letz- den. Noch nie wurde ein Gesetzentwurf von einem derart ten muss ich energisch widersprechen! Die Be- großen Konsens in der Gesellschaft getragen wie der Ge- hindertenarbeit in der DDR kennen wir!) setzentwurf, der heute vorliegt. damit wir in diesem Bereich endlich vorankommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich möchte in dieser späten Stunde am Freitagnach- und bei der SPD) mittag zu derAusgleichsabgabe als Strafinstrument zurückkommen. Kein Arbeitgeber in diesem Land ist ge- Wir möchten die Beschäftigungsquote von schwer- zwungen, eine Ausgleichsabgabe zu zahlen. Wenn die behinderten Menschen von 6 Prozent auf 5 Prozent in- Beschäftigungsquote erfüllt ist, wird auch nichts gezahlt. nerhalb kürzester Zeit senken und heben gleichzeitig die Solange aber die Erfüllung dieser Quote in diesem Land Staffelung der Ausgleichsabgabe auf 500 DM an. Die nicht selbstverständlich ist, solange einige Vorbehalte bei Ausgleichsabgabe, von den Arbeitgebern oft als Strafin- den Arbeitgebern vorherrschen, müssen wir – vielleicht strument bezeichnet, ist kein Strafinstrument. leider, vielleicht erst recht – auf dieses Instrument zurück- (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Leider!) greifen. Sie ist eine außerordentliche Möglichkeit der sinnvollen Wir nehmen die Kritik von Arbeitgebern ernst, die da- Lenkung der Unterstützungsleistungen. von sprechen, dass sie zwar gern einen Schwerbehinder- ten einstellen würden, aber niemanden finden. Diese Kri- tik nehmen wir besonders ernst, wenn es darum geht, be- Vizepräsidentin Petra Bläss:Frau Kollegin stimmte Stellen zu besetzen. Wir nehmen sie aber Deligöz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen auch ernst angesichts des ganzen Gewirrs von Förder- Dr. Seifert? und Unterstützungsmöglichkeiten, die in diesem Land 9996 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Ekin Deligöz (A) bestehen, was dazu führt, dass die Arbeitgeber keinenvon uns eingefordert, den Blick endlich einmal zu weiten (C) Überblick mehr haben bzw. ihn verlieren. oder von einer rein institutionellen Förderung in den Son- dereinrichtungen abzugehen. Gerade aufgrund dieser Probleme möchten wir die Bundesanstalt für Arbeit zu einer engeren Zusammenar- Was beabsichtigen wir? Wir wollen die Integrations- beit heranziehen, um diese Probleme gemeinsam zu lö- fachdienste in die Regelfinanzierung übernehmen, wir sen. Wir setzen vor allem auf die Integrationsfachdiens- wollen Integrationsfirmen rechtlich stärken und wir wol- te, die bei der Vermittlung von behinderten Menschen len einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz festschrei- eine gute und wichtige Arbeit leisten. Die herausragenden ben. Das sind unsere Ziele. Für uns sind diese Menschen Vermittlungserfolge – über 60 Prozent – lassen sich da- alle gleichermaßen arbeitsfähig. Das ist unser Ausgangs- rauf zurückführen, dass sie eine gute Vorauswahl treffen punkt. Gerade dafür möchten wir die Rahmenbedingun- und eine berufsbegleitende Beratung machen, dass sie gen schaffen. Profile festschreiben, dass sie auf zahlreiche Arbeits- Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluss marktinstrumente zurückgreifen und für die Arbeitgeber kommen. Der Weg in die Zukunft liegt für uns nicht in zuverlässig sind. Weil sie ein verlässlicher Ansprechpart- dem Entweder-oder zwischen Werkstatt, Integrations- ner sind, möchten wir diese Dienste auch weiterhin unter- diensten, Arbeitsmarkt und institutioneller Förderung, stützen und ausbauen und dafür die Rahmenbedingungen sondern unser Weg ist der goldene Mittelweg. Wir wollen sicherstellen. einerseits die Erwerbsrealität wahrnehmen und darauf Aber es kann nicht richtig sein, dass Beschäftigungs- reagieren und andererseits Rahmenbedingungen schaffen, möglichkeiten für behinderte Menschen nur durch Ap- damit in diesem Bereich tatsächlich Integration stattfin- pelle an das soziale Gewissen geschaffen werden. Das det. Teilhabe, Selbstbestimmung, Integration statt Aus- greift zu kurz. Letztendlich interessiert es den Arbeitgeber grenzung – das sind unsere Leitbilder, das ist unsere Mo- auch nicht, welches Handicap jemand hat, sondern ihn in- tivation. teressiert, ob die Arbeit erledigt wird und ob der Arbeit- Ich freue mich, dass wir diesem Ziel heute einen Schritt nehmer zuverlässig ist. näher gekommen sind und wir in diesem Sinne weiterma- Umso notwendiger ist es, adäquate Arbeitsplätze zu chen können. finden. Nur so lassen sich in einem Betrieb moderne und Danke schön. humane Arbeitsbedingungen so verwirklichen, dass so- wohl die betroffenen Arbeitnehmer als auch der Arbeitge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ber zufrieden sind, Leistungsbereitschaft vorhanden ist und bei der SPD) und auch die übrige Arbeitnehmerschaft in den Betrieben (B) mit den neu eingestellten Arbeitnehmern kooperieren (D) Für die PDS-Fraktion kann. Dies sollte nicht aus einem Zwang heraus gesche- Vizepräsidentin Petra Bläss: spricht jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert. hen, sondern weil man von der Qualität der Bewerber überzeugt ist. Akzeptanz – und damit Unterstützung – le- diglich vonseiten der die Einstellung vornehmenden Per- Dr. Ilja Seifert (PDS): Frau Präsidentin! Meine lieben sonen reicht nicht aus. Der Kollegenkreis ist besonders Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf wichtig. Erst dann, wenn sich in einem Betrieb alle ge- der Tribüne und draußen! Wir haben heute so viele An- meinsam für die Integration einsetzen, wird das Wort „In- träge und andere Dokumente zu dieser Debatte vorliegen, tegration“ mit Leben erfüllt. dass man kaum noch überschauen kann, was davon nun gerade Gegenstand der Diskussion ist. Es handelt sich Der entscheidende Punkt dieser Gesetzesnovelle liegt also im Grunde genommen um eine allgemeine behinder- für mich darin, den Arbeitsmarkt zu stärken, die Mittel tenpolitische Debatte. Insofern ist es in Ordnung, dass des Arbeitsmarktes einzusetzen, Arbeitsassistenz zu ge- sich jeder den Punkt heraussucht, den er für besonders währen, den Aus- und Aufbau von Integrationsfach- wichtig erachtet. diensten zu fördern, Arbeitsmarktprogramme zu ent- wickeln, die besondere Gruppen von Schwerbehinderten Ich finde es gut, dass wir im Bundestag seit dem Re- ansprechen und insbesondere auf die Probleme dergierungswechsel wesentlich häufiger, wesentlich intensi- schwerbehinderten Frauen eingehen, gleich bei der Aus- ver und auch zielorientierter über Behindertenfragen re- bildung anzufangen, schwerbehinderte Jugendliche anzu- den, als das in den vergangenen Jahrzehnten der Fall sprechen und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermögli-war. – Das ist aber jetzt erst einmal genug Lob für euch. chen. An diesem Punkt wird die Notwendigkeit eines Pa- (Heiterkeit bei der SPD – Regina Schmidt- radigmenwechsel in der Behindertenpolitik in diesem Zadel [SPD]: Jetzt kommt es!) Land deutlich. Jetzt müssen wir einmal zur Sache reden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Daran hapert es bisher!) Ich bin etwas überrascht, dass uns immer wieder vor- gehalten wird, wir würden bei der Werkstättenförderung Es reicht nicht aus, dass hier ein paar Sozialpolitike- kürzen und damit Beschäftigungsmöglichkeiten erster rinnen und Sozialpolitiker sitzen und einen guten Vor- und zweiter Klasse schaffen. Oft haben sich die betroffe- schlag unterbreiten, wie wir in der Frage der Beschäfti- nen Organisationen selbst immer wieder gewünscht und gung von schwerbehinderten Menschen vielleicht voran- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9997

Dr. Ilja Seifert (A) kommen, während Ihre Justiz- oder Rechtspolitikerinnen erkennen lässt, die den Menschenrechts- und den Bürger- (C) und -politiker, Ihre Finanzpolitikerinnen und -politiker rechtscharakter des Themas, über das wir hier beraten, nicht einmal wissen, dass Sie hier andauernd von einem deutlich werden ließe. Sie machen daraus eine sozialpoli- Paradigmenwechsel reden. tische Maßnahme, eine bildungspolitische Maßnahme, eine berufspolitische Maßnahme, aber keine wirklich (Susanne Kastner [SPD]: Da unterstellen Sie menschenrechtspolitische Frage. aber etwas, was nicht stimmt!) (Beifall bei der PDS) –Nein, ich kann das schon begründen. Vor einer Woche haben wir hier ein Gesetz verabschie- Das ist der Punkt, den ich Ihnen ankreide. det, das von Ihnen, von Ihrer Regierung vorgelegt worden Wir haben – Frau Kollegin Nolte wies darauf hin – ist, in dem der eindeutig diskriminierende Satz steht, dass heute unter anderem über eine gemeinsame Entschlie- Personen, die körperliche Gebrechen haben – den Begriff ßung abzustimmen, die alle Fraktionen dieses Hauses „körperliche Gebrechen“ gibt es in der Behindertenpoli- eingebracht haben; das will ich noch einmal hervorheben. tik schon seit Jahren nicht mehr – oder bei denen Schwächen der geistigen Fähigkeiten nachgewiesen wer- Zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode konnten sich den alle Fraktionen zu einer gemeinsamen Entschließung durchringen. (Zuruf von der SPD) (Zuruf der Abg. Claudia Nolte [CDU/CSU]) – ja, ich komme gleich dazu –, zu einem bestimmten Be- ruf nicht zugelassen werden können, selbst wenn sie alle – Frau Nolte, Sie sollten das nicht kleinreden. Es war eine ihre Prüfungen bestanden haben. Als das hier im Plenum große Leistung, auch von Ihrer Fraktion, dass Sie über diskutiert wurde, rührte sich keine Hand aus Ihrer Frak- Ihren Schatten gesprungen sind und Ihre ideologischen tion, Ihrer Koalition, wenigstens dem Antrag der PDS zu- Scheuklappen abgenommen haben. zustimmen – und das aus rein parteipolitischen, taktischen Gründen. Diese gemeinsame Entschließung fußt auf drei Anträ- gen: sowohl von Ihnen, der SPD und den Grünen, als auch (Claudia Nolte [CDU/CSU]: So etwas machen von der CDU/CSU und von uns. Mit dem Antrag zum Sie? – Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist ja Teilhabesicherungsgesetz haben wir ein sehr umfangrei- unglaublich!) ches und umfassendes Konzept im Bereich der Behin- Es ist nicht zu akzeptieren, dass Sie Sachfragen hier nicht dertenpolitik vorgelegt, in dem dargestellt wird, wie der ins Kalkül ziehen. Menschenrechtsaspekt, der Bürgerrechtsaspekt zur Gel- tung gebracht werden kann und wie das Verbandsklage- (B) (Beifall bei der PDS) (D) recht, die arbeitspolitischen Maßnahmen, die Änderungen Insofern freue ich mich sehr, Frau Mascher, dass Sie jetzt in vielen Einzelgesetzen und die Finanzierung durchge- angekündigt haben, diesen Fakt in verschiedenen Berufs- gesetzen zu überprüfen. Ich hoffe, dass die Überprüfung setzt werden können. auch zu Änderungen führt. Ich sage noch einmal: Wir brauchen nicht nur das Recht Die zentrale Forderung der behinderten Menschen, die auf Arbeitsassistenz, so wichtig es ist, wir brauchen auch auch dieses Jahr am 5. Mai, dem europaweiten Aktions- eine finanzielle Untersetzung des Rechts auf Arbeits- tag, gestellt wurde, war: Wir brauchen einGleichstel- assistenz. Wir brauchen eine Definition dessen, was Sie lungs- und Diskriminierungsverbotsgesetz. unter notwendiger Arbeitsassistenz verstehen. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS – Claudia Nolte Das haben wir von Ihnen bisher nicht bekommen. Auf un- [CDU/CSU]: Rechtsverordnung!) sere Anfrage an die Bundesregierung – die leider nur vom Wer definiert für wen, welche Assistenz er braucht? Wenn BMJ beantwortet wurde, offenbar ist das etwas anderes das medizinische Aspekte sind – dann gute Nacht. Wenn als die Bundesregierung – antwortete diese: Wir sind ge- das finanzpolitische Aspekte sind – dann Mahlzeit. Wenn rade dabei, den zivilrechtlichen Teil zu bearbeiten, das an- es keine Menschenrechtsaspekte sind, brauchen wir nicht dere geht uns nichts an. ernsthaft darüber zu diskutieren. Ja, gibt es denn etwa keine Diskriminierung im berufs- rechtlichen Teil? Gibt es keine Diskriminierung in allen Lange Rede, kurzer Sinn – ich will meine Redezeit anderen Bereichen des Lebens, zum Beispiel im Bau-nicht zu sehr überziehen –: Sie werden uns auf Ihrer Seite recht, im Personenbeförderungsrecht und so weiter? Ist haben, wenn wir in den praktischen Dingen vorankom- das BMJ dafür nicht zuständig? Es will nicht zuständig men. Sie werden aber die Menschen mit Behinderungen sein, obwohl ein klarer Entwurf der Behindertenjuristin- auf der Straße finden und uns an deren Seite und im Par- nen und -juristen vorliegt, an dem man sich orientieren lament Laut gebend, wenn Sie nur Stückwerk liefern und könnte. keine Konzeption dahinter steht, die uns insgesamt bür- Deshalb: So schön es ist, wenn wir ernsthaft darüber gerrechtlich voranbringt – Menschen mit und ohne Be- nachdenken, wie wir 50 000 schwerbehinderte Menschen hinderungen. innerhalb von zweieinhalb Jahren in Arbeit bekommen – Danke schön. da haben Sie mich voll auf Ihrer Seite –, so unübersehbar bleibt, dass das Stückwerk ist, das keine klare Konzeption (Beifall bei der PDS) 9998 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss:Zu einer Kurzinter- Vizepräsidentin Petra Bläss: Zur Erwiderung Herr (C) vention hat der Kollege Karl-Hermann Haack das Wort. Kollege Dr. Seifert, bitte.

Karl-Hermann Haack (Extertal) (SPD): Frau Präsi- Dr. Ilja Seifert (PDS): Herr Kollege Haack, ich danke dentin! Ich melde mich zu Wort wegen der Aussagen des Ihnen für die Information. Sie haben mir sogar mehrere Kollegen Seifert, die sich auf das Gesetz bezogen, das wir Informationen gegeben. in der letzten Woche verabschiedet haben. Erstens. Wenn das Bundesjustizministerium bzw. die Als Beauftragter für die Belange der Behinderten kann Bundesregierung ein umfassendes Gleichstellungsgesetz ich sagen, dass wir all das in dem Gleichstellungsgesetz vorlegt, das wahrscheinlich sehr knapp formuliert sein regeln werden, was er hier angesprochen hat. Das Pro- kann, dann werden Sie mich auf Ihrer Seite haben. Meine blem liegt darin, dass wir mit allen 16 Ländern über Ge- Linie ist es immer gewesen, die verschiedenen so ge- setze des Bundes reden müssen. Wir müssen alle Gesetze der Länder, die dazugehörigen Verordnungen und Rege- nannten Minderheiten nicht gegeneinander auszuspielen. lungen durchlesen und darauf durchforsten, ob darin anti- Herzlichen Dank! Ich hoffe, dass es bald vorgelegt wird. diskriminierende Vorschriften stehen. Es ist bereits in der Zweitens. Es gibt keinen Grund ich bitte Sie, dies zur Vergangenheit versucht worden, dies in einer Arbeits-Kenntnis zu nehmen –, in der Zeit, in der ein Gleichstel- gruppe zu erarbeiten. Aber nach meinen Recherchen ist lungsgesetz vorbereitet wird, Gesetze zu verabschieden, diese Arbeitsgruppe wegen des großen Arbeitsaufwandes mit denen diskriminierende Tatbestände festgeschrieben sanft entschlafen. Doch jetzt werden wir dies in irgendei- werden. ner Form zu leisten haben. (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das ist aller- Ich sage Ihnen: Wenn wir jetzt ein Gleichstellungsge- dings wahr!) setz machen, dann gibt es mit Sicherheit jemanden, der sagt, dass wir noch etwas vergessen haben. Ich bitte Sie Aber genau das haben Sie in der vergangenen Woche ge- aber, es positiv zu bewerten, dass wir uns auf den Weg ge- macht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Das können macht haben, und uns frühzeitig die Handreichungen zu Sie auch nicht mehr ungeschehen machen. Um solche dis- geben, die notwendig sind, damit ein solches Gesetz Er- kriminierenden Tatbestände zu verbieten, benötigen wir folg hat. kein Diskriminierungsverbotsgesetz. Sie hätten sie ein- Zum Stand der Dinge, die Sie anmahnen, Herr Seifert: fach nicht festschreiben dürfen. Es ist eine endgültige Klärung herbeigeführt worden, dass Erlauben Sie mir – drittens – eine letzte Bemerkung: Frau Justizministerin Däubler-Gmelin ein Dach über ein Geschäftsverteilungspläne mögen für die Regierung sehr (B) „Antidiskriminierungsgesetz“ macht; so der Titel. Dieses wichtig sein. (D) gilt für Menschen mit Behinderungen, für Ausländer, sprachliche, ethnische Minoritäten und für das Problem (Susanne Kastner [SPD]: Für den Ablauf!) der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensge- Aber für Menschen mit Behinderungen ist ausschließlich meinschaften. Darüber hinaus erarbeitet sie den zivil- wichtig, welche Gesetze gelten und in Kraft gesetzt wer- rechtlichen Teil. den und welche Botschaft wir von hier aus vermitteln, Wir haben geklärt, dass in einem Verfahren erarbeitet also ob sie lautet: „Das Ganze ist ein bürokratischer Akt“ wird, wer den allgemeinen Teil des Gleichstellungsgeset- oder ob sie lautet: Wir wollen die Lebensbedingungen für zes unter Einbeziehung dessen, was Frau Däubler-Gmelin Menschen mit und ohne Behinderung verbessern, damit macht, erarbeitet. Dazu habe ich – vereinbarungsgemäß sie so zusammenleben können, wie die Kollegin Deligöz mit der Parlamentarischen Staatssekretärin es Frau beschrieben hat. Man muss sich im Umgang miteinan- Mascher – die dafür zuständigen Parlamentarischender zwanglos wohl fühlen können und einen Behinderten Staatssekretäre der Ministerien für den kommendenauch einmal doof finden dürfen. Auch ich als Behinderter Freitag eingeladen. Ich habe sie gebeten, eine Erklärung muss Nichtbehinderte blöd finden dürfen. Das ist schließ- darüber abzugeben, inwieweit der Entwurf eines Gleich- lich eine Frage von Sympathie und Antipathie. So etwas stellungsgesetzes des Forums behinderter Juristinnen und gibt es zwischen Menschen nun einmal. Wenn man einen Juristen eine Grundlage sein kann. Sie sehen, dass pro- Behinderten doof findet, dann erfüllt man nicht gleich ei- zessual alles gut organisiert ist. nen Diskriminierungstatbestand. Deshalb benötigen die Wenn wir am nächsten Freitag zu einem Ergebnis kom- Behinderten – das möchte ich nicht verhehlen – einen leis- men und uns schriftlich dargelegt wird, was vom jeweili- tungsgesetzlichen Anspruch, der nichts mit der Sozial- gen Ressort geleistet werden kann, dann muss auf Lei- hilfe zu tun hat. Wenn Sie einen solchen Rechtsanspruch tungsebene des Bundesministeriums für Arbeit geprüft nicht sicherstellen, dann bleiben die Behinderten leider werden, welche nächsten Schritte für ein Gleichstellungs- viel zu weit zurück. gesetz unternommen werden können. Nach der Geschäfts- ordnung, nach dem Geschäftsverteilungsplan sind sowohl Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. die Justizministerin als auch der Bundesminister für Ar- (Beifall bei der PDS) beit für ein solches Gesetz zuständig. Das ist der Grund für den längeren Klärungsbedarf. Vizepräsidentin Petra Bläss: Die letzte Rednerin in Vielen Dank. dieser Debatte ist die Kollegin Silvia Schmidt für die (Beifall bei der SPD) SPD-Fraktion. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 9999

(A) Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Frau Präsidentin! Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin(C) Meine Damen und Herren! Ich bin enttäuscht angesichts Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin dessen, was hier vorgetragen worden ist; denn wir haben Nolte? in sehr kurzer Zeit etwas ganz Tolles und qualitativ Hochwertiges geleistet. Das ist meine Überzeugung. Da müssen Sie nicht den Kopf schütteln, Frau Nolte. Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Nein, das muss jetzt nicht sein. Wir können gern im Ausschuss reden. Ich habe (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das müssen Sie heute schon zu viel gehört. mir überlassen!) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wer Un- Von Ihnen habe ich etwas mehr erwartet. Auf der einen sinn behauptet, muss hier befragt werden!) Seite behaupten Sie, für Behinderte zu sprechen. Auf der anderen Seite muss ich erleben, dass Sie für Verunsiche- Es ist einfach sozial ungerecht, wenn Menschen – aus rung sorgen, gerade im Bereich der Förderung von Werk- welchem Grund auch immer – aus der Gesellschaft aus- stätten für Behinderte, über die gestern ausführlich dis- geschlossen werden, wenn wir keine Möglichkeiten zur kutiert worden ist und zu der es auch Pressemitteilungen Integration bieten und ihnen, kurz gesagt, die Teilhabe am vom Bundesarbeitsministerium gibt. Sie möchten zwar gesellschaftlichen Leben verweigern. mitarbeiten, verunsichern aber die Behinderten. Das kön- Wir werden mit unserem Gesetzentwurf einen ersten nen unsere behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger richtigen Schritt gehen, um diese Missstände abzubauen. gar nicht gebrauchen. Es ist wichtig, dass es uns gelingt, innerhalb sehr kurzer (Beifall bei der SPD) Zeit 50 000 Arbeitsplätze für Schwerbehinderte zu schaf- fen. Frau Staatssekretärin Mascher hat schon gesagt, mit Sie behaupten – ich hoffe, Sie haben den letzten Ent- welchen rechtlichen Mitteln wir dieses Ziel erreichen wurf des Gesetzes gelesen; das setze ich natürlich voraus, wollen. Die Zustimmung der Verbände und der Gewerk- wenn sie zu diesem Thema eine Rede halten –, es werde schaften sowie die Mitwirkung der Arbeitgeberverbände nur ein Integrationsfachdienst eingerichtet. Tatsächlich geben uns Recht. steht drin: „mindestens“ – das heißt, es werden mehrere sein. Eine entscheidende Ursache für den großen Anteil der Langzeitarbeitslosen unter den Schwerbehinderten (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Es wird ange- liegt in der unzureichenden Vermittlung und Betreuung. strebt!) Schwerbehinderte brauchen eine gezielte Beratung, Schu- – Lassen Sie mich bitte ausreden! Die Hauptfürsorgestel- lung und Vermittlung, weil sie von vornherein auf dem len sind mit dabei. Das müssten Sie eigentlich vernom- Arbeitsmarkt benachteiligt sind. (B) men haben. (D) Das hat auch die meisten Arbeitsämter und Hauptfürsor- Herr Seifert, über das Teilhabesicherungsgesetz ha- gestellen überfordert. An diesem Punkt setzen wir an. ben wir bereits gesprochen. Ich hoffe, dass Sie, wenn es Jedes Arbeitsamt wird einen Ansprechpartner bekom- um die Schaffung von 50 000 Arbeitsplätzen für Behin- men, der für die Beratung Schwerbehinderter geschult derte geht, genauso engagiert mitarbeiten werden, und wird und nur für deren Belange zuständig ist. Zusätzlich zwar aus einem ganz einfachen Grund: Wenn ein Mensch wird ein breites Netz an Integrationsfachdiensten ge- Arbeit hat, dann ist er nicht auf Sozialhilfe und Almosen schaffen, und zwar wird es für jeden Arbeitsamtbezirk der Gesellschaft angewiesen. Das ist die Grundvor- mindestens einen Fachdienst geben. Der Integrations- aussetzung. Behinderte Menschen wollen nicht nur einen fachdienst kann von einem Verband eingerichtet werden gesetzlichen Anspruch auf Zuwendungen haben; sie wol- und aus einem Verbund mehrerer Verbände bestehen. len auch mitarbeiten. Die Integration Behinderter in das Arbeitsleben ist dieser Regierung besonders gut gelun- Die Integrationsfachdienste werden auf die spezifi- gen, Herr Seifert. schen Bedürfnisse, die Ausbildung, die Fähigkeiten, die Behinderung und die Ansprüche einzelner Schwerbehin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ derter zielorientiert eingehen. Sie werden dem Schwerbe- DIE GRÜNEN) hinderten auch dann noch bei Problemen zur Seite stehen, Ich habe heute trotzdem ein sehr gutes Gefühl, denn wenn er auf dem ersten Arbeitsmarkt bereits Fuß gefasst wir haben – ich habe das bereits am Anfang meiner Rede hat. Wir haben damit auch die Chance, schwerbehinderte erwähnt – einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Ar- Frauen, Schwerbehinderte, die älter als 50 Jahre sind, und beitslosigkeit Schwerbehinderter vorgelegt. Das ist ein gerade Schwerbehinderte in den neuen Bundesländern qualitativ hochwertiger Schritt. Wir werden mit diesem vermehrt in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Gesetz die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter nachhaltig Ich möchte Ihnen kurz ein Beispiel nennen: Ich hatte verringern. Damit haben wir einen großen Schritt zur Ver- neulich ein Gespräch mit dem als Modelleinrichtung rea- wirklichung sozialer Gerechtigkeit getan; denn diejenigen lisierten Integrationsfachdienst in Wittenberg. Dieses Ge- Menschen, die in unserer Gesellschaft ohnehin diskrimi- spräch machte mir einfach Mut. So sagte man mir zum niert sind und benachteiligt werden, trifft die Arbeitslo- Beispiel, dass zunächst etwa 50 Prozent der privaten Fir- sigkeit doppelt schwer. men und Unternehmen nicht einmal wissen, was ein Es gehört zu den Grundelementen unserer Sozialpolitik, Schwerbehindertenausweis ist, was er bedeutet und wel- für die Beseitigung derartiger Ungerechtigkeiten einzu- che Fördermittel sie erhalten können, wenn sie einen treten. Schwerbehinderten einstellen. Nach einem klärenden 10000 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

Silvia Schmidt (Eisleben) (A) Gespräch mit den Unternehmen könnten Unsicherheiten Ich glaube, wir alle hier im Saal sind dieser Meinung. Wir (C) ausgeräumt und Ängste beseitigt werden, sodass einer sind glücklich, dass endlich sehr viele Punkte wie zum Einstellung Schwerbehinderter nichts mehr im WegBeispiel der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz und steht. – In diesem Bereich bestehen erhebliche Defizite, Teilzeitarbeit in unserem Gesetz verankert werden. Zum die wir gemeinsam mit den Verbänden, mit den Gewerk- Schluss betone ich noch einmal: Wir alle müssen gemein- schaften und mit den Arbeitgeberverbänden durch Infor- sam mit den Verbänden, den Arbeitgebern, den Arbeit- mation abbauen müssen. nehmern und den Gewerkschaften dazu beitragen, soziale Gerechtigkeit für die behinderten Mitbürger herzustellen. Übrigens sind wir damit voll im Trend; denn in der ak- Das ist eine Herausforderung an unsere Zivilgesellschaft. tuellen Diversity-Diskussion geht es in vielen großen Un- Wir nehmen diese Herausforderung an. ternehmen der USA schon darum, Talente, verschiedene Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschied- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lichster Gruppen zu nutzen, zum Beispiel in gemeinsamen DIE GRÜNEN) Teams von Männern und Frauen, Behinderten und Nicht- behinderten, Alten und Jungen sowie Menschen verschie- denster Herkunft. Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- sprache. Noch etwas anderes macht mir Mut: Die Vertreter der Integrationsfachdienste sagten mir, dass etwa genauso Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs viele schwerbehinderte Frauen wie schwerbehinderteauf Drucksache 14/3372 an die in der Tagesordnung auf- Männer in Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarktgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander- vermittelt werden konnten. Den Weg der Integrations- weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die fachdienste sollten wir weitergehen. Der Frauenanteil in Überweisung so beschlossen. den Werkstätten für Behinderte liegt bei 42,2 Prozent. Das Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss- ist eine relativ gute Zahl. Aber auch diese Frauen müssen empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialord- den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen. nung auf Drucksache 14/2913. Der Ausschuss empfiehlt Bedenkt man diese erschreckende Benachteiligungunter Buchstabe a die Annahme einer Entschließung. Wer schwerbehinderter Frauen auf dem Arbeitsmarkt, so kann stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – man die Bedeutung von Integrationsfachdiensten, aber Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig auch von Integrationsfirmen und -unternehmen gar nicht angenommen. hoch genug schätzen; denn sie haben bis jetzt 6 000 Ich verweise darauf, dass es eine schriftliche Erklärung Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen geschaf- zur Abstimmung vom Kollegen Dr. Ilja Seifert gibt.*) (B) fen. Zum ersten Mal gibt es für diese Dienste, für diese (D) Firmen und für diese Unternehmen mit unserem Gesetz- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- entwurf eine Rechtssicherheit. schlussempfehlung auf Drucksache 14/2913, folgende Anträge für erledigt zu erklären: Antrag der Fraktionen Das Forschungsprojekt „LIVE“ hat in einer umfang- von SPD und Bündnis 90/Die Grünen „Die Integration reichen Studie herausgestellt, dass Erwerbstätigkeit, Aus- von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche bildung und Beruf bei schwerbehinderten Frauen einen politische und gesellschaftliche Aufgabe“, Drucksa- außerordentlich hohen Stellenwert haben. Ich zitiere die che 14/2237, Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Alte Aussage einer im Rahmen der Studie befragten Frau: Versprechen nicht erfüllt und neue Wege nicht gegangen – Ich glaube, dass Ausbildung für mich einen höheren Bilanz der Behindertenpolitik“, Drucksache 14/2234, so- Stellenwert hat als für viele Nichtbehinderte, weil wie Antrag der Fraktion der PDS auf Vorlage eines Teil- man einfach besser sein muss, um das Gleiche zu be- habesicherungsgesetzes, Drucksache 14/827. kommen wie Nichtbehinderte. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung, diese An- In dieser Studie zeigten sich überwiegend so genannte träge für erledigt zu erklären? – Gegenprobe! – Enthal- gebrochene Berufsbiografien, wobei neben frauentypi- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- schen Gründen wie Erziehungsurlaub vor allem die Be- nommen. hinderung Ursache dafür war – also etwa bei Reduzierung Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf der Stundenzahl –, dass man sich nicht gut gefühlt hat; Drucksachen 14/2415 und 14/3382 an die an der Tages- Teilzeitarbeit gab es erst ab 55 Jahren. Die Studie zeigt ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind weiter, dass bei den befragten Frauen immer großes Be- Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die dauern und oft auch Resignation angesichts ihrer Berufs- Überweisungen so beschlossen. biografien zu finden war. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Frau Kollegin Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Schmidt, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen. tages auf Mittwoch, den 7. Juni 2000, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Ja, das mache ich. (Schluss: 16.13 Uhr) Meine Damen und Herren, Sie sehen, wie dringend notwendig es für den Gesetzgeber ist, endlich zu handeln. *) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10001

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Altmann (Aurich), BÜNDNIS 90/ 19.05.2000 Mosdorf, Siegmar SPD 19.05.2000 Gisela DIE GRÜNEN Müller (Berlin), PDS 19.05.2000 Andres, Gerd SPD 19.05.2000 Manfred Behrendt, Wolfgang SPD 19.05.2000* Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 19.05.2000 DIE GRÜNEN Brudlewsky, Monika CDU/CSU 19.05.2000 Ohl, Eckhard SPD 19.05.2000 Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 19.05.2000* Klaus Ostrowski, Christine PDS 19.05.2000 Bury, Hans Martin SPD 19.05.2000 Oswald, Eduard CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 19.05.2000 Pieper, Cornelia F.D.P. 19.05.2000 Herta Polenz, Ruprecht CDU/CSU 19.05.2000 Doss, Hansjürgen CDU/CSU 19.05.2000 Poß, Joachim SPD 19.05.2000 Dreßler, Rudolf SPD 19.05.2000 Reiche, Katherina CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Dückert, Thea BÜNDNIS 90/ 19.05.2000 Roos, Gudrun SPD 19.05.2000 DIE GRÜNEN Rühe, Volker CDU/CSU 19.05.2000 Fischer (Hamburg), CDU/CSU 19.05.2000 Dirk Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 19.05.2000 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 19.05.2000 (B) Scheffler, Siegfried SPD 19.05.2000 (D) Friedrich (Altenburg), SPD 19.05.2000 Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 19.05.2000 Peter Schmidt (Hitzhofen), BÜNDNIS 90/ 19.05.2000 Friedrich (Bayreuth), F.D.P. 19.05.2000 Albert DIE GRÜNEN Horst Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 19.05.2000 Gebhardt, Fred PDS 19.05.2000 Hans Peter Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 19.05.2000 Hohmann, Martin CDU/CSU 19.05.2000 Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 19.05.2000 Hollerith, Josef CDU/CSU 19.05.2000 Schurer, Ewald SPD 19.05.2000 Dr. Hornhues, CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Solms, Hermann F.D.P. 19.05.2000 Karl-Heinz Otto Hübner, Carsten PDS 19.05.2000 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 19.05.2000 Ibrügger, Lothar SPD 19.05.2000 Dr. Stadler, Max F.D.P. 19.05.2000 Imhof, Barbara SPD 19.05.2000 Steen, Antje-Marie SPD 19.05.2000 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Freiherr von CDU/CSU 19.05.2000 Stetten, Wolfgang Dr. Knake-Werner, PDS 19.05.2000 Heidi Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 19.05.2000 Dr. Küster, Uwe SPD 19.05.2000 Wiesehügel, Klaus SPD 19.05.2000 Lamp, Helmut CDU/CSU 19.05.2000 Wissmann, Matthias CDU/CSU 19.05.2000 Matschie, Christoph SPD 19.05.2000 Dr. Wolf, Winfried PDS 19.05.2000 Mertens, Angelika SPD 19.05.2000 Zierer, Benno CDU/CSU 19.05.2000*

Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 19.05.2000 * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union 10002 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

(A) Anlage 2 Ich habe der Beschlussempfehlung des Ausschusses(C) für Arbeit und Sozialordnung zugestimmt, weil sich hier Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten alle Fraktionen – einschließlich der PDS – im Interesse Ernst Hinsken, Albrecht Feibel und (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf von Menschen mit Behinderung auf einen vernünftigen eines Zweiten Gesetzes zur Fortentwicklung der Kompromiss verständigen konnten. Altersteilzeit (Tagesordnungspunkt 17) Zu wichtigen Forderungen, die Behindertenorganisa- Ich stimme gegen das Gesetz, weil erstens Altersteil- tionen, Selbsthilfegruppen, Wohlfahrtsverbände und Ein- zeit für die kleinen und mittelständischen Betriebe zuzelpersönlichkeiten zum Teil seit über 20 Jahren erheben, kompliziert ist und grundsätzlich nicht den Bedürfnissen konnte im interfraktionellen Antrag, der Bestandteil der des Mittelstandes entspricht, zweitens Altersteilzeit eine Beschlussempfehlung ist, parteiübergreifend Einver- Umverteilung von Arbeit und Geld ist und insbesondere ständnis erzielt werden. den Großunternehmen zugute kommt, drittens durch Al- Dazu gehören zum Beispiel: die Umsetzung des Be- tersteilzeit die Sozialversicherungszweige belastet wer- nachteilungsgebotes des Grundgesetzes in ein wirksames den, weil eine vorzeitige Inanspruchnahme einer Alters- Gleichstellungsgesetz; die Erhöhung der Chancen für rente (zum Beispiel mit Alter 60 wegen Altersteilzeit an- dauerhafte Beschäftigung von Menschen mit Behinde- stelle mit Alter 63/65 ohne Altersteilzeit) mit erheblichen rungen auf dem ersten Arbeitsmarkt; ein harmonisiertes, Beitragsausfällen in der Sozialversicherung (Ausfälle in vereinheitlichtes und transparentes Behindertenrecht; die der Arbeitslosen- und Krankenversicherung sowie in der Klärung der Rechtssystematik der Eingliederungshilfe im gesetzlichen Rentenversicherung nur Teilkompensation Zusammenhang mit der Befreiung von ihrer Nachrangig- durch Abschläge) verbunden ist – damit ist eine Senkung keit; die Weiterentwicklung von Möglichkeiten zur Mo- der Lohnnebenkosten nicht möglich –, viertens bisherige bilität, die Beseitigung von baulichen, sprachlichen und Frühverrentungsmodelle nicht mit einem positiven Be- anderen kommunikativen Barrieren; die Verantwortung schäftigungseffekt verbunden waren, fünftens zum Bei- spiel das Handwerk seine qualifizierten Mitarbeiter auch für behindertenpolitische Fragen im europäischen Rah- über das 60. Lebensjahr hinaus braucht. men. Anstatt der Fortentwicklung der Alterteilzeit sind tief- Mit der Beschlussempfehlung existiert nach meinem greifende Reformen bei allen drei Säulen der Alterssiche- Ermessen eine Grundlage für weiteres gemeinsames Ar- rung dringend notwendig; insbesondere die betriebliche beiten. Diese Chance muss im Interesse der Betroffenen und private Altersvorsorge müssen gestärkt werden.genutzt werden. Dafür sind die Rahmenbedingungen grundlegend zu ver- Ich bin mir bewusst, dass mit der Zustimmung zur Be- bessern. (B) schlussvorlage der Antrag der PDS zur Vorlage eines Teil- (D) habesicherungsgesetzes als erledigt erklärt wird. Deshalb machte ich mir damals im Ausschuss für Arbeit und So- Anlage 3 zialordnung ebenso wie heute im Plenum meine Ent- scheidung, der Beschlussvorlage zuzustimmen, nicht Erklärung nach § 31 GO leicht. Auf der Basis dieses Beschlusses können aber des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (PDS) zur Ab- wichtige Inhalte aus dem PDS-Antrag für ein Teilhabesi- stimmung über die Beschlussempfehlung zu den cherungsgesetz weiter befördert werden. Anträgen: Da sehe ich zum Beispiel solche wichtigen Fragen wie – Die Integration von Menschen mit Behinde- Sicherung der uneingeschränkten Geltung der Menschen- rungen ist eine dringliche politische und ge- und Bürgerrechte für Menschen mit körperlichen, geisti- sellschaftliche Aufgabe, gen, sensorischen und/oder psychischen Beeinträchtigun- gen; Ahndung von diskriminierenden Handlungen, Äuße- – Alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege nicht gegangen – Bilanz der Behindertenpoli- rungen und Verhaltensweisen; Einführung eigener Ver- tik, bandsklagerechte für Behindertenorganisationen vor den Gerichten; Rechtsanspruch auf bedarfsgerechten Aus- – Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der gleich behinderungsbedingter Nachteile, unter anderem vollen Teilhabe von Menschen mit Behinde- durch eine soziale Grundsicherung auf der Basis eines rungen oder chronischen Krankheiten am äquivalenten Behinderten- oder Teilhabesicherungsgel- Leben der Gemeinschaft, zu deren Gleichstel- des, die Einführung von bedarfsdeckenden persönlichen lung und zum Ausgleich behinderungsbe- Budgets, die Gewährleistung einer individuell bezogenen dingter Nachteile und vergüteten persönlichen Assistenz und damit die An- (Tagesordnungspunkt 18 b) erkennung und Umsetzung von Leistungsansprüchen nach dem Finalitätsprinzip. Zu meinem Abstimmungsverhalten in Verbindung mit der Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts Weitere wichtige Fragen betreffen aktive Beschäfti- des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu den An- gungs- und Ausbildungspolitik für Menschen mit Behin- trägen der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen derungen, besondere Unterstützung der doppelt diskrimi- (Drucksache 14/2237), der CDU/CSU (Drucksachenierten behinderten Frauen, stärkere Berücksichtigung 14/2234) und der PDS (Drucksache 14/827) möchte ich der Bedürfnisse und Ansprüche behinderter Kinder und folgende Erklärung abgeben: ihrer Familien, aktive Informations- und Aufklärungs- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10003

(A) pflicht aller Verwaltungsebenen gegenüber den Betroffe- Wer aber versucht, den Konsens der Generationen –(C) nen und Pflicht zur aktiven Beseitigung diskriminierender den wir brauchen – durch Angstmacherei zu zerstören, der Tatbestände bzw. behinderungsbedingter Benachteiligun- hat in diesem Hause nichts verloren. Wer behauptet, Al- gen, Zusammenfassung und Vereinheitlichung der beste- tersteilzeit würde den Druck auf ein frühzeitiges Aus- henden Leistungen für Menschen mit Behinderungen, Be- scheiden für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seitigung bzw. Einschränkung vordergründiger Kosten- erhöhen, wer behauptet, wir wollten sie ins Abseits schie- vorbehalte, die Menschen mit Behinderungen zum Teil ben, der sagt bewusst die Unwahrheit. Es steht außer als „lästige Kostenverursacher“ diffamieren (Rücknahme Frage, dass wir die Erfahrungen der älteren Arbeitnehme- von § 3 a BSHG), Sicherung der vollen Teilhabe am Le- rinnen und Arbeitnehmer brauchen und dass wir den Aus- ben der Gemeinschaft durch Abbau und Beseitigung be- tausch der Generationen brauchen. Davon leben die Be- stehender sowie Verhinderung neuer baulicher, kommu- triebe und davon profitieren die Jungen. Aber beide, die nikativer und sonstiger Barrieren in allen Bereichen des Älteren und die Jungen, brauchen eine Chance. gesellschaftlichen Lebens. Dass Sie, verehrter Kollege Kolb, wie wir bei der Aus- Mit diesen Vorstellungen und Aufgaben sehe ich mich schussberatung erfahren konnten, mit der Bekämpfung in Übereinstimmung – und die Bundesregierung weiter in der Jugendarbeitslosigkeit nichts am Hut haben, die Kol- der Pflicht! – mit den am 20. Dezember 1993 durch die leginnen und Kollegen von der CDU/CSU im Übrigen Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlosse- ebenso wenig, ist uns aus den letzten Jahren ja hinrei- nen „Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chan- chend bekannt. Mit Ihrem Ansinnen, die Älteren gegen cengleichheit für Menschen mit Behinderungen (Standard die Jungen auszuspielen, erreichen sie allerdings eine Rules)“. Die Bundesrepublik Deutschland bekannte sich Qualität, die mir langsam Sorge bereitet. zu deren Umsetzung im nationalstaatlichen Rahmen. Ich Ein zweites Märchen, das Sie in die Welt gesetzt haben, fordere von der Bundesregierung – und werde gemeinsam ist, dass der Mittelstand mit der Altersteilzeit überhaupt mit der PDS meinen Part dazu leisten –, dass die „Standard nichts anfangen kann. Richtig ist: Gerade der Mittelstand Rules“ auch umfassend im Kontext mit Art. 13 des Am- kann die Altersteilzeit nun einführen. Die großen Betriebe sterdamer Vertrages in Deutschland und Europa umge- in Deutschland haben in den letzten Jahren längst olym- setzt werden. piareife Belegschaften zusammengestellt. In vielen Be- trieben können Sie über Fünfzigjährige mit der Lupe su- chen. Anlage 4 Wenn Sie sich der Realität zuwenden, sehen Sie, dass mit den Neuregelungen des vergangenen Jahres nicht al- Zu Protokoll gegebene Reden (B) lein das Verfahren für die Altersteilzeit vereinfacht und(D) Zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset- der Personenkreis ausgeweitet wurde. Es hat sich eine po- zes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit (Ta- sitive Signalwirkung entfaltet, eine Signalwirkung für gesordnungspunkt 17) mehr Kreativität in den Verhandlungen der Tarifvertrags- parteien, weil wir die Spielräume erweitert haben. Alters- teilzeit ist dabei, zu einem Zukunftsmodell zu reifen, das Renate Rennebach (SPD): Wir beraten heute ab- Jung und Alt vereint. Altersteilzeit hat sich etabliert als schließend über die zweite Stufe zur Fortentwicklung der elementarer Bestandteil tarifvertraglicher und betriebli- Altersteilzeit. Das ist in zweierlei Hinsicht bemerkens- cher Regelung. wert. Erstens: Die Koalition hat im vergangenen Jahr ein Gesetz zur Förderung der Altersteilzeit beschlossen und In der Umsetzung der Altersteilzeitregelungen in über damit ein klares Zeichen gesetzt, ein Zeichen für mehr Be- 375 Tarifverträgen hat sich allerdings gezeigt, dass es ei- wegung, für mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt.ner weiteren Verbesserung der gesetzlichen Rahmenbe- Nichts anderes! Ich möchte gleich zu Beginn die polemi- dingungen bedarf. Die Bundesregierung hat sich mit den sche Stimmungsmache aus den Reihen der Opposition Tarifpartnern im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und aufnehmen, weil ich größten Wert darauf lege: Es ist – Wettbewerbsfähigkeit auf eine Ausweitung der Altersteil- ausdrücklich – keine Aufforderung an die älteren Arbeit- zeit verständigt. Gleichzeitig werden die Bedingungen für nehmerinnen und Arbeitnehmer, ihren Arbeitsplatz zudie Förderung durch die Bundesanstalt für Arbeit räumen, weil sie etwa nicht mehr gebraucht würden. Die- gelockert und das Verfahren vereinfacht. Das belegt – und sem Eindruck, der von Handwerkspräsident Philipp im damit komme ich zum zweiten Punkt – die Bereitschaft Schulterschluss mit der F.D.P. öffentlich lanciert wird, und die Fähigkeit der Koalition, flexibel auf die arbeits- trete ich entschieden entgegen. Diese Unterstellung ver- marktpolitischen Entwicklungen zu reagieren und die be- kennt, dass die Bundesregierung mit der Altersteilzeitstehenden Regelungen zu konkretisieren. Wir haben nicht dem Wunsch vieler älterer Beschäftigter nach der Mög- nur ein neues Denken eingeleitet, sondern begleiten den lichkeit eines attraktiven Übergangs aus dem Erwerbsle- Entwicklungsprozess, indem wir die Gesetzeslage anpas- ben entgegenkommt. Es geht schließlich um die Frage, sen. wie dieser gleitende Übergang aus dem Erwerbsleben or- Mit den Regelungen zur Altersteilzeit verbindet sich ganisiert wird, damit gleichzeitig Beschäftigungseffekte eine große Hoffnung für mehr Beschäftigung. Mit der eintreten und Auszubildende übernommen oder Arbeits- zweiten Stufe zur Förderung der Altersteilzeit tragen wir lose in Lohn und Brot kommen. Das ist die Aufgabe, der unseren Teil dazu bei, der Altersteilzeit zu mehr Akzep- wir uns stellen. tanz zu verhelfen. Unsere Zielsetzung ist klar formuliert: 10004 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

(A) Wir wollen den gleitenden Übergang aus dem Erwerbsle- Eine seriöse Prognose darüber, in welchem Maße die (C) ben erleichtern und die Wiederbesetzungsquote erhöhen, Altersteilzeit von den Beschäftigten genutzt wird, ist nicht um zu mehr Beschäftigung zu gelangen. Das können und möglich. Die bisherige Resonanz gibt uns aber die be- wollen wir nicht verordnen. Aber: Wir können die Rah- rechtige Hoffnung, dass die Novellierung zur weiteren menbedingungen so gestalten, dass Altersteilzeit in zu- Ausweitung der Planungssicherheit und der Vereinfa- nehmendem Maße angenommen wird und von Arbeit- chungen, die wir heute beschließen werden, ein Erfolg gebern wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als wird. Die Umsetzung in den Tarifvereinbarungen hat sich Motor für den Generationswechsel in den Betrieben ver- bislang als überaus erfolgreich erwiesen: So gibt es in der standen und anerkannt wird. Druckindustrie erstmals einen Tarifvertrag zur Altersteil- zeit; Metaller und Chemiewerker erhalten am Ende der Lassen Sie mich die Grundzüge des vorliegenden Ge- Altersteilzeit sogar eine Abfindung, und das Land Rhein- setzentwurfs skizzieren. Im Bündnis für Arbeit, Ausbil- land-Pfalz will zusätzliche Lehrer einstellen, weil sich dung und Wettbewerbsfähigkeit wurde vereinbart, dieeine Vielzahl älterer Lehrer – 900 – für die Altersteilzeit Geltungsdauer des Altersteilzeitgesetzes zu verlängern. entschieden haben. Diese Beispiele belegen, dass das Der Gesetzentwurf dient der Umsetzung der gemeinsa- Modell der Altersteilzeit mittlerweile in unterschiedlichen men Erklärung vom 09. Januar 2000. Die Geltungsdauer Varianten praktisch umgesetzt wird. Wenn es gelingt, die wird um fünf Jahre bis 2009 verlängert, um eine langfris- Idee der Altersteilzeit in der vorliegenden Form weiter po- tige betriebliche und individuelle Planung zu ermögli- sitiv zu besetzen, haben wir eine weitere Chance für mehr chen. Die Förderhöchstdauer wird von fünf auf sechs Beschäftigung. Das sollte im Sinne aller sein. Jahre erweitert, um die Akzeptanz der Altersteilzeit bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu erhöhen. Zur Stär- kung der Beschäftigungseffekte wird die für die Förde- Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Die Regie- rung maßgebliche Mindestbeschäftigungsdauer des rungskoalition feiert das zweite Gesetz zur Fortentwick- Wiederbesetzers um ein Jahr von gegenwärtig drei auf lung der Altersteilzeit als erneutes Highlight ihrer Sozial- künftig vier Jahre erhöht. Mit der Verlängerung der Gel- politik. Ich will damit das Instrument der Altersteilzeit zur tungsdauer berücksichtigt die Koalition die demographi- Entlastung des Arbeitsmarktes nicht klein reden. Aber aus sche Entwicklung und die zu erwartenden Entwicklungen zwei Gründen besteht für Rot-Grün keine Veranlassung, sich selber hierfür den sozialpolitischen Lorbeerkranz auf dem Arbeitsmarkt. Die Tatsache, dass der Tarifab- umzuhängen: Denn erstens wird das von Norbert Blüm schluss in der chemischen Industrie bereits eine Laufzeit bereits 1996 eingeführte Altersteilzeitmodell weiterent- bis 2009 vorsieht, belegt schließlich die Akzeptanz unse- wickelt – es ist eben keine Innovation, zu der wir eine res Entwurfs. neue Regierung gebraucht hätten – und zweitens ist die (B) Um das Verfahren weiter zu vereinfachen, führen wir sonstige sozialpolitische Bilanz von Rot-Grün eher ma- (D) eine Verordnung über pauschalisierte Nettobeträge des ger. Altersteilzeitentgelts ein. Diese Vereinfachung hilft vor Das heute zu verabschiedende Gesetz ist die zweite allem kleinen und mittelständischen Unternehmen bei der Fortentwicklung des Instruments der Altersteilzeit binnen Errechnung des individuellen Aufstockungsbetrages. eines halben Jahres. Die erste gesetzliche Fortschreibung Im Zuge der Beratungen hat die Koalition weitere Ver- hat Rot-Grün im Herbst vergangenen Jahres eingebracht fahrensvereinfachungen beschlossen, die auch vonseiten und verabschiedet, die zweite erfolgt heute. Dazwischen der Betriebe gefordert wurden: herrschte sozialpolitischer Winterschlaf; und schaut man auf die so genannten großen Vorhaben der Regierung in Erstens. Die Berechnung der wöchentlichen Arbeits- der Sozialpolitik, dann herrscht immer noch Frühjahrs- zeit wird vereinfacht, um Missbrauch vorzubeugen und müdigkeit. Die beiden Schritte zur Fortentwicklung der die Handhabung der Regelungen insgesamt zu erleich- Altersteilzeit sind aus dem Bündnis für Arbeit angestoßen tern. Dies ist wiederum eine Verbesserung für den Mittel- worden; sie brauchen denselben Anstoß von anderen wie stand. zum Beispiel auch bei der Rentenreform. Hier müssen wir Zweitens. Es werden Übergangsregelungen für Alters- Ihnen Termindruck machen, damit Sie endlich konkrete teilzeitfälle eingeführt, die vor dem Datum des In-Kraft- Angaben zu Ihren Rentenvorstellungen machen. Tretens vereinbart worden sind. Die Regelung sieht vor, Die bisherige Bilanz der rot-grünen Sozialpolitik ist dass die Richtlinien für Altersteilzeitarbeit sowie für die mager. Wenn die SPD-Kollegin Rennebach bei ihrer Ein- Mindestnachbesetzungsdauer nur für Vereinbarungen an- bringungsrede im April meinte „Es weht ein neuer Wind zuwenden sind, die nach In-Kraft-Treten des Gesetzes ge- in unserem Land!“, so trifft dies weder für die Sozialpoli- troffen werden. Die Neuregelung der verlängerten Nach- tik insgesamt noch für das Instrument der Altersteilzeit zu. besetzungsdauer gilt allerdings dann auch für Altfälle, Die Koalition hat eben nicht – wie Frau Rennebach es am wenn die verlängerte Förderdauer bereits angewendet13. April behauptet hat – „mit der Fortentwicklung der Al- wird. tersteilzeit ein neues Denken in Gang gebracht“. Das neue Drittens. Die erleichterten Bedingungen zum Arbeits- Denken hat bereits 1996 begonnen, als Norbert Blüm die losengeld für Arbeitslose über 58 Jahre werden um fünf Altersteilzeit zusammen mit den Vertretern im Bündnis Jahre bis 2006 verlängert. für Arbeit auf den Weg gebracht hat. Altersteilzeit ist da- mals als kostengünstige Alternative zu den vorherigen Viertens. Analog dazu wird die Regelung zur Alters- teuren Frühverrentungswegen entwickelt worden. Und rente nach Altersteilzeitarbeit nach SGB IV geändert. heute ist sie eine tarifvertragliche Alternative zu den nicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10005

(A) finanzierbaren Plänen einer „Rente mit 60“. Es wäre Das Hauptaugenmerk sollten wir bei der Bewertung(C) schön, wenn dies auch von der Koalition mal so deutlich der Altersteilzeit auf das zukünftig wichtiger werdende gesagt würde. Thema „Fachkräftemangel“ richten: Können wir es uns mittelfristig erlauben, immer mehr ältere Arbeitnehmer Die Altersteilzeit ist von Norbert Blüm als ein Instru- mit Erfahrung in den Ruhestand zu schicken? ment für die Tarifpartner geregelt worden. Es war auf Fortentwicklung durch die Tarifvertragsparteien angelegt. Lassen Sie uns den Bericht abwarten und dann gründ- So ist es konsequent, dass dies auch passiert – sowohl zu lich werten! unserer Regierungszeit als auch jetzt. Altersteilzeit ist inzwischen in vielen Tarifverträgen Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Al- vereinbart, in unterschiedlichen Varianten und mit breiter tersteilzeit ist ein Stück Generationengerechtigkeit. Sie Akzeptanz. Dementsprechend wird jetzt mit dem zweiten ermöglicht es älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Fortentwicklungsgesetz – genauso wie beim ersten – die mern, ohne große finanzielle Belastungen aus dem Be- Anwendung des Altersteilzeitmodells noch flexibler ge- rufsleben auszusteigen – gleitend oder auch in einer Blocklösung. Gleichzeitig erleichtert die Altersteilzeit staltet: Die Geltungsdauer der Altersteilzeitförderung jungen Menschen den Einstieg ins Berufsleben. wird verlängert; die Förderhöchstdauer wird von fünf auf sechs Jahre verlängert; es gibt Klarstellungen und Verein- Wir haben zwar heute schon in einigen Branchen einen fachungen gegenüber der ersten Fortentwicklung. Fachkräftemangel. Einen generellen Arbeitskräftemangel aufgrund der demographischen Situation wird es jedoch Damit besteht ein breiterer Rahmen, den die Tarifver- erst in etwa 15 Jahren geben. Es wird demnach weiterhin tragsparteien in eigener Verantwortung und freiwillig nut- einer aktiven Arbeitsmarktpolitik bedürfen, um die Ar- zen können oder nicht. Die CDU/CSU-Fraktion stimmt beitslosigkeit zu bekämpfen und um jungen Menschen den Regelungen des zweite Fortentwicklungsgesetzes zu, eine Chance zu geben. An dieser Erkenntnis kommt eine um den Tarifpartnern diese größere Bandbreite zu ermög- pragmatische Politik nicht vorbei. lichen. Wir stimmen auch der – ursprünglich bis 31. De- zember 2000 befristeten – Verlängerung der Regelung des Die Altersteilzeit boomt, und das ist nicht zuletzt ein § 428 SGB III bis zum 31. Dezember 2005 zu; eine Rege- Erfolg des Bündnisses für Arbeit. Bei den jüngsten Tarif- lung, die es über 58-jährigen Arbeitslosen ermöglicht, Ar- abschlüssen in der chemischen Industrie, im westdeut- beitslosengeld auch dann zu beziehen, wenn sie nichtschen Baugewerbe, in der Metallindustrie und in vielen anderen Branchen ist die Altersteilzeit ein wesentliches mehr arbeitsbereit sind und nicht alle Möglichkeiten nut- Instrument einer beschäftigungsorientierten Tarifpolitik. zen, um ihre Beschäftigungslosigkeit zu beseitigen. Die In Zukunft wird es kaum noch Tarifverträge geben ohne Vermittlungschancen für diesen Personenkreis sind zum (B) die Einführung oder die Verbesserung der Altersteilzeit. (D) jetzigen Zeitpunkt weiterhin ungünstig. Voraussetzung Bisher betreffen tarifvertragliche Regelungen insgesamt für die Arbeitslosengeldzahlung bleibt weiterhin, dass sie 14 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sich verpflichten, zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine 1,4 Millionen nehmen sie in Anspruch. Die Arbeitgeber abschlagsfreie Altersrente in Anspruch zu nehmen. zahlen nicht drauf, wenn sie eine Stelle wieder besetzen. Da wir in den vergangenen Monaten häufig über die Vor allem aber profitieren wir alle: Denn wenn junge Altersteilzeitregelungen diskutiert haben, will ich heute Menschen eine Chance erhalten, werden ihre Talente auf eine breitere positive Würdigung dieses Modells ver- nicht mehr vergeudet. zichten. Anlässlich der Verabschiedung des erste Fortent- Für den Bundeshaushalt ist die Altersteilzeit konkur- wicklungsgesetzes im Dezember 1999 haben wir verein- renzlos kostengünstig: Die Differenz zwischen Aufwand bart, dass nach einem Jahr von der Bundesregierung ein und Einsparung beläuft sich auf gerade mal 20 Millionen Bericht vorgelegt wird. Wir sollten jetzt diesen Bericht Mark – pro Jahr! Wo immer möglich, ist die Altersteilzeit abwarten und dann auch kritische Punkte diskutieren: damit um ein Vielfaches kostengünstiger als die Frühver- rentung oder Arbeitslosigkeit. Wie entwickeln sich die Teilnehmerzahlen und die Kosten für öffentliche Kassen? Die rot-grüne Bundesregierung trägt ihren Teil dazu bei, um die Rahmenbedingungen für die Altersteilzeit Wie kann man das Verblockungsmodell, das überwie- weiter zu verbessern. Vor gut einem Jahr haben wir die gend angewandt wird, zugunsten eines wirklich gleiten- Regelung auf Teilzeitbeschäftigte ausgedehnt. Das den Übergangs in den Ruhestand entwickelt werden? kommt insbesondere Frauen zugute. Wir haben den Nach- In welchen Branchen wird Altersteilzeit angewandt? weis der Wiederbesetzung entbürokratisiert. Das macht Hat sich Altersteilzeit zu einer Regelung entwickelt, die die Regelung nun auch für kleine und mittlere Unterneh- auch vom Handwerk und Mittelstand akzeptiert ist? men handhabbarer. An praktischen Notwendigkeiten ori- entieren sich auch die Änderungen, die wir heute be- In welchem Umfang sind ausscheidende ältere Arbeit- schließen: Wir verlängern beispielsweise die Geltungs- nehmer wirklich durch Arbeitslose und Auszubildende er- dauer und erhöhen die Förderungshöchstzeit auf 6 Jahre. setzt worden? Das steigert die Attraktivität. Wir schaffen pragmatische Wie entwickelt sich die nicht geförderte Altersteilzeit, Übergangsregelungern zwischen der alten und der neuen Regelung. Und wir vereinfachen die Praxis. die lediglich tarifvertraglich vereinbart ist? Regelt sie nur das Ausscheiden oder begünstigt sie auch Neueinstellun- Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Gedanken an- gen? fügen: Meine Fraktion ist der Überzeugung, dass das 10006 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

(A) Grundkonzept, das hinter der Altersteilzeit steckt, Zu- bisher ja eher als Verfechter der Altersteilzeit bekannt,(C) kunft hat. Wir wünschen uns die Möglichkeit einer Le- nähren die Befürchtung, dass da noch einiges auf uns zu- bensphasenteilzeit. Wir möchten es unterstützen, wenn kommt – nicht zu vergessen auch die für kleine und mitt- Menschen zeitweise ihre Arbeitszeit reduzieren oder ihre lere Unternehmen schlechte Handhabbarkeit. Diese Un- bisherige Erwerbsbiographie unterbrechen und so lange ternehmen werden auch in Zukunft nur selten von der anderen die Möglichkeit zur Arbeit oder zur praktischen Möglichkeit der Altersteilzeit Gebrauch machen. Die Al- Qualifikation eröffnen – während sie sich selbst zum Bei- tersteilzeit ist eine Regelung für die Großen – die Kanz- spiel extern weiterbilden, mehr Zeit für ihre Kinder oder lerunternehmen – nicht für den Mittelstand. für die Pflege von Angehörigen nehmen oder sich eine Aber selbst wenn das Gesetz handhabbar wäre: Kleine persönliche Auszeit gönnen. Hier können wir, wie schon und mittlere Unternehmen, etwa ein Handwerksunterneh- bei der Altersteilzeit, solidarische Rahmenbedingungen men, werden von der Altersteilzeit keinen Gebrauch ma- setzen, die den Menschen mehr Freiheit in ihrer Lebens- chen wollen. Denn: Jeder ältere Mitarbeiter trägt ein gestaltung und mehr Lebensqualität ermöglichen. großes Stück Betriebserfahrung in sich. – Erfahrungen, Die Koalition und insbesondere wir Grüne schaffen die jüngere Mitarbeiter, die so genannten Wiederbesetzer, Regelungen, damit nicht das Recht des Stärkeren gilt,nicht haben, wenn überhaupt Facharbeiter auf dem Ar- sondern damit möglichst viele Menschen möglichst viele beitsmarkt verfügbar wären. Eine frühere Verrentung die- Freiheitsspielräume erhalten. Es geht also nicht um weni- ser Leistungsträger würde sich somit nachteilig für das ger, sondern um ein Maximum an Freiheit für alle. Und Unternehmen auswirken. Ein irisches Sprichwort bringt daran werden wir weiter arbeiten. es auf den Punkt: „Ein neuer Besen kehrt gut, aber der alte kennt die Ecken.“ Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Grundsätzlich hat sich Schließlich sollten wir einen weiteren Punkt nicht an der skeptischen und ablehnenden Haltung der F.D.P.- übersehen: Professor Schneider von der Uni Linz hat in Fraktion zur Altersteilzeit nichts geändert. Wir habenseinen Studien klar herausgearbeitet, dass es einen deutli- diese schon bei der Beratung des ersten Gesetzes zur Fort- chen Zusammenhang zwischen Arbeitszeitverkürzung entwicklung der Altersteilzeit zum Ausdruck gebracht. und Schwarzarbeit gibt. Handwerker in der Nähe etwa von VW-Standorten mussten bei der seinerzeitigen Ver- Auch jetzt ist festzustellen: Der Gesetzentwurf leistet kürzung der Wochenarbeitszeit schmerzhafte Erfahrun- weder einen Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeits- gen machen. Das wird bei einer Ausweitung der Alters- losigkeit noch einen Beitrag zur Senkung der Lohnneben- teilzeit nicht anders sein. Das ist ja vollkommen ver- kosten. Das glauben sie offensichtlich auch selbst nicht. ständlich: Sie wollen Menschen zur Ruhe setzen, die sich Denn unter „Zielsetzung“ räumen sie in ihrem Gesetzent- für die Arbeit eigentlich noch durchaus fit fühlen. Es liegt (B) wurf in entwaffnender Offenheit ein: Der Entwurf dient doch in der Natur des Menschen, dass er sich für die viele (D) der Umsetzung der gemeinsamen Erklärung der Partner freie Zeit eine ihn ausfüllende Beschäftigung sucht. Leid- im Bündnis für Arbeit vom 9. Januar 2000. tragende sind dann wieder einmal mittelständische Unter- Nur, das ist keine ausreichende Begründung. Ichnehmen, also die, die ohnehin die Hauptlast bei den Steu- meine, der Deutsche Bundestag sollte sich nicht zumern und der Sozialversicherung tragen. Handlanger machen lassen – Handlanger einer Runde von Ich glaube, es ist an der Zeit, den Menschen endlich zu Funktionären ohne Mandat und demokratische Legitima- sagen: Die Altersteilzeit ist ein teurer Weg, ein Irrweg. tion. Dafür sollten wir als Parlamentarier gemeinsam ein- Wir sollten den Mut haben, offen zu sagen, was den Ren- treten und kämpfen. tenexperten – mit Blick auf die Lebensarbeitszeit – hinter Denn in diesen Zirkeln findet – ohne ausreichende Be- verschlossenen Türen längst klar ist: Wir werden zukünf- teiligung des Mittelstandes – Interessenvertretung purtig nicht kürzer arbeiten können, sondern wieder länger statt. Insbesondere die Grünen als angeblich „basisde- arbeiten müssen. mokratische Partei“ müssten das eigentlich ablehnen. Wir lehnen den Gesetzentwurf wegen des grundlegend Stattdessen erleben wir hier eine gigantische Koalition falschen Ansatzes ab. aus SPD, Grünen, CDU/CSU und PDS. Aber zum Glück gibt es mit der F. D.P. eine Partei in Deutschland, die nicht jede Konsenssauce Beifall klatschend mitrührt. Dr. Klaus Grehn (PDS): Wir unterstützen die Koali- tionsfraktionen in ihrer Absicht, mehr Arbeitsplätze zu Wir sind mit unserer Ablehnung nicht allein. Der Mit- schaffen und gleichzeitig die Übergänge ins Rentensys- telstand, auch der ZDH, lehnt dieses Machwerk ebenfalls tem zu erleichtern. Ob dies mit dem vorgelegten Gesetz ab. Die Gründe sind gut nachvollziehbar. Das Gesetz be- gelingt, ist nicht eindeutig zu bestimmen, Zweifel sind al- lastet kleine und mittlere Unternehmen, die über die oh- lemal berechtigt. Jene Kolleginnen und Kollegen aus den nehin schon viel zu hohen Lohnnebenkosten die Frühver- Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P., die Fundamental- rentung der überzähligen Mitarbeiter der großen bezahlen kritik an dem Gesetz üben, seien die Realitäten auf dem müssen. Bereits in diesem Jahr muss die Bundesanstalt für Arbeitsmarkt ins Gedächtnis zurückgerufen! Im April wa- Arbeit laut Pressemitteilung vom 28. Januar 2000 für die ren von den mehr als 3,9 Millionen Arbeitslosen 22 Pro- Altersteilzeit 300 Millionen DM ausgeben. Zu den eben- zent oder rund 900 Tausend älter als 55 Jahre alt. Und das falls nicht unerheblichen Belastungen für die Renten- und trotz aller Maßnahmen, um gerade in diesem Bereich das Krankenversicherung schweigen sie sich im Gesetzesent- Ausmaß zu lindern. Erinnern Sie sich an die 900 000 in wurf aus. Auch zunehmende Bauchschmerzen der BDA, den NBL in den Vorruhestand geschickten Menschen, an Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10007

(A) die 100 000, die die so genannte 58er-Regelung (Früh- so liest sich auch diese Verpflichtung auf dem Papier sehr (C) verrentung) in Anspruch genommen haben. Diese Ent- gut. Die Praxis indes sah dagegen bislang leider eher trau- wicklung ist nicht von den älteren Arbeitnehmern gewollt. rig aus: Im Gegenteil! Diese Menschen wollen arbeiten. Ihre Ar- Von 1982 bis 1998 – also in der Zeit der Regierung beitslosigkeit ist Folge einer rigiden Beschäftigungspoli- tik in Unternehmen und des dort sich rasch ausbreitenden Kohl – ist die Zahl der beschäftigten Schwerbehinderten Jugendwahns. Im Übrigen zeigt die geringe Inan-um über 21 Prozent gesunken. Die Quote der beschäftig- spruchnahme der Möglichkeit von Altersteilzeit, dass die ten Schwerbehinderten sank in dieser Zeit von 5,8 Prozent älteren Arbeitnehmer eigentlich lieber ihre Arbeitsplätze im Jahre 1981 auf 3,8 Prozent im Jahre 1998. Die Zahl der behalten wollen. Wir glauben, dass es noch eine weitere arbeitslosen Schwerbehinderten hat sich in der gleichen Reihe von Gründen gibt, dass das AltersteilzeitgesetzZeit mehr als verdoppelt – ein wahres Armutszeugnis! nicht so wahrgenommen wird, wie wir es uns, im Inte- Man kann diese Zahlen eigentlich nicht oft genug hier resse der jungen Menschen, die eine Chance zum Einstieg im Hause wiederholen. Belegen sie doch ganz eindeutig: in das Berufsleben bekommen müssen, wünschen. Dazu Unsere Vorgängerregierung hat uns einen behindertenpo- gehört vor allem die unzulängliche finanzielle Ausstat- litischen Scherbenhaufen hinterlassen. Schwerbehinderte tung, die vielen Älteren es gar nicht ermöglicht das Ge- wurden nicht in die Arbeitswelt integriert, sie wurden aus- setz in Anspruch zu nehmen. 70 Prozent des Vollzeitnet- gegrenzt. tos sind allgemein schon zu wenig; für unter und prekär Beschäftigte, für untertariflich Bezahlte, vor allem für Für die neue Regierungskoalition war daher klar: Hier Frauen käme die Inanspruchnahme einem Marsch in un- muss etwas geschehen. Die Integration behinderter Men- erträgliche Armut gleich. Hinzu kommt, dass die Renten- schen in Beruf und Ausbildung – und damit die gleichbe- beiträge in der Folge geringer ausfallen. Richtig ist, dass rechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – darf die Geltungsdauer um 5 Jahre verlängert wird und so eine nicht länger nur ein Lippenbekenntnis in behindertenpo- Entlastung des Arbeitsmarktes ermöglicht. Sinnvoll ist litischen Sonntagsreden sein. Es muss konkret und schnell auch die Förderdauer von 5 auf 6 Jahre zu erhöhen, damit etwas unternommen werden. ältere Beschäftigte ein Jahr früher verkürzt arbeiten kön- nen und die Lücke zwischen Förderanspruch als älterer Schon die Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober Arbeitsloser und Renteneintritt zu schließen sowie die 1998 sah daher vor, durch Verbesserungen bei der Ein- Rentenabschläge zu verringern. gliederung Behinderter dem Benachteiligungsverbot Gel- tung zu verschaffen. Dieses Versprechen werden wir zü- Konsequent ist es, die Beschäftigung derjenigen, die gig einlösen. für Ältere nachrücken von 3 auf 4 Jahre zu verlängern. Er- (B) reicht werden soll, dass sich künftig 40 000 ältere Be- Heute – nach noch nicht einmal der Hälfte der Wahl- (D) schäftigte für diesen Weg entschließen. Diese Größenord- periode – beraten wir bereits in erster Lesung den Entwurf nung ist angesichts der 1,5 Millionen, die von der Bun- eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit desanstalt für Arbeit festgestellt wurden, bescheiden. Die Schwerbehinderter. Unser ehrgeiziges Ziel: die Zahl der Differenz zwischen diesen beiden Zahlen zeigt, welche arbeitslosen Schwerbehinderten innerhalb der nächsten Bewegung auf dem Arbeitsmarkt möglich wäre. Zugleich 24 bis 36 Monate um 50 000 zu verringern. wird deutlich, dass es weiterer Reformen in der Alters- Das Gesetz soll zum 1. Oktober 2000 in Kraft treten. teilzeit bedarf, um den Arbeitsmarkt merklich zu entla- Meine Damen und Herren von der F.D.P. und Union, die sten. Insgesamt wäre ein individueller Rechtsanspruch rot-grüne Koalition hat damit in nur einer halben Legisla- auf Altersteilzeit dringend geboten, nicht nur wenn Tarif- turperiode mehr für die Integration der Schwerbehinder- vertrag, Betriebsvereinbarung oder Vergleichbares be- ten getan als Sie in 16 Jahren. steht. Auch wenn eine solche Entwicklung mehr in Rich- tung von Renten mit 60 ginge, es würde vielen Beschäf- Der Gesetzentwurf dafür ist gut, er erfüllt seinen tigten, gerade auch jenen, die in nicht tariflich geregelten Zweck. Und auch das möchte ich herausstreichen: Der Bereichen arbeiten, eine Chance eröffnen früher kürzer zu vorliegende Gesetzentwurf ist ganz wesentlich auch das treten. Ergebnis eines intensiven Dialoges mit betroffenen Men- schen selbst, mit ihren Verbänden und Organisationen. Dies zeigt: Die jahrelang herrschende Sprachbarriere zwi- Anlage 5 schen Politik und Betroffenen wurde endlich aufgebro- chen; ein intensiver, konstruktiv-kritischer und – wie Sie Zu Protokoll gegebene Reden sehen werden – auch fruchtbarer Austausch hat begonnen. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Auf diesem Wege konnten in den vergangenen Monaten Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehin- viele wertvolle Anregungen aus Gesprächen und Erfah- derter (Tagesordnungspunkt 18) rungen aus der Praxis eingearbeitet und der vorliegende Gesetzentwurf optimiert werden. Regina Schmidt-Zadel (SPD): Aus Art. 3 Abs. 3 Die vorliegende Gesetzesnovelle schafft nun die Rah- Grundgesetz ergibt sich die Verpflichtung für Politik und menbedingungen zur Entstehung einiger Tausend neuer Gesellschaft, sich aktiv für die Integration behinderter Arbeitsplätze für Schwerbehinderte. Wie wollen wir diese Menschen in die Berufswelt einzusetzen. Wie vieles,Aufgabe meistern? Nach sorgfältiger Abwägung der mög- wenn es um die Belange der behinderten Menschen geht, lichen Instrumente liegt folgendes Maßnahmenbündel auf 10008 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

(A) dem Tisch: Das bisherige System von Beschäftigungs- ständige Firmen, unternehmensinterne Betriebe oder Ab- (C) pflicht und Ausgleichsabgabe wird umgestaltet und effek- teilungen zur Beschäftigung von Schwerbehinderten, de- tiver gemacht. Die Zahlen über die Beschäftigungren Eingliederung in eine sonstige Beschäftigung auf dem Schwerbehinderter und die Erfüllungsquote bei der Be- allgemeinen Arbeitsmarkt auf besondere Schwierigkeiten schäftigungspflicht in den vergangenen rund 20 Jahren stößt. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Integrationsunter- zeigen klar: Wir brauchen ein deutliches Signal an die Ar- nehmen über das bisherige Förderinstrumentarium hinaus beitgeber, viel mehr als bislang für die Integration von künftig zusätzlich zu fördern. Vorgesehen sind Förderleis- Schwerbehinderten zu tun. tungen, die erheblich dazu beitragen können, die Wettbe- werbsfähigkeit solcher Unternehmen zu sichern – also Die Absenkung des Pflichtsatzes von 6 auf 5 Prozent Leistungen für Aufbau, Erweiterung, Modernisierung und ist so ein Signal und ich hoffe, es wird von den Arbeitge- Ausstattung einschließlich betriebswirtschaftlicher Bera- bern auch verstanden. Wir sind ihnen in diesem Punkt tung. § 53 a Abs. 3 wurde dabei so gestaltet, dass gut funk- entgegengekommen und wir erwarten jetzt auch das ent- tionierende Integrationsunternehmen keine Arbeitsplätze sprechende Entgegenkommen der Arbeitgeber. Diefür Schwerbehinderte abbauen müssen. Darauf möchte Pflichtquote ist um einen Prozentpunkt gesenkt worden; ich an dieser Stelle ausdrücklich hinweisen, weil es hier aber die moralische Messlatte, diese abgesenkte Quote Befürchtungen seitens der Integrationsfirmen gegeben nun auch wirklich zu erfüllen, liegt umso höher. Ich hoffe, hat. Festgelegt ist nun, dass Integrationsunternehmen die Wirtschaft ist sich dieser Verantwortung bewusst. mindestens 25 Prozent Schwerbehinderte beschäftigen Des Weiteren sieht der Gesetzentwurf vor, die Rechte müssen; ihr Anteil soll in der Regel 50 Prozent nicht über- der Schwerbehinderten und deren Vertretung zu stärken steigen. In Ausnahmefällen, in denen zum Beispiel beste- und durch besondere Verpflichtungen der Arbeitgeberhende Integrations- oder Selbsthilfefirmen in der Praxis auszubauen. Konkret bedeutet dies: Arbeitgeber werden bewiesen haben, dass wirtschaftliche Ergebnisse auch mit künftig verpflichtet, mit der Schwerbehindertenvertre- einem höheren Anteil an beschäftigten Schwerbehinder- tung eine umfassende Integrationsvereinbarung abzu-ten erreicht werden können, soll auch ein höherer Anteil schließen und dabei auch Regelungen zur Beschäftigung möglich sein. von schwerbehinderten Frauen zu treffen. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehin- Der Gesetzentwurf stärkt die betriebliche Prävention derter, die Integration behinderter Menschen in die Ar- durch die Stärkung der Schwerbehindertenvertretung in beitswelt, ist auch vor dem Hintergrund des allgemeinen den Betrieben. Rückgangs der Arbeitslosigkeit eine moralische Ver- pflichtung. Die Arbeitsmarktzahlen der letzten Monate Die Dienstleistungen der Bundesanstalt für Arbeit und und die optimistischen Prognosen für die kommenden (B) der Hauptfürsorgestellen werden intensiviert und besser Jahre lassen einen spürbaren Abbau der Arbeitslosigkeit (D) genutzt. In allen Arbeitsämtern werden dafür besondere erwarten. Da dürfen die Schwerbehinderten nicht am Stellen eingerichtet, die Arbeitgebern schnell und kompe- Rande stehen. Ohne die im vorliegenden Gesetzentwurf tent helfen. Durch Einbeziehung von Integrationsfach- enthaltenen Maßnahmen würde die Schere künftig noch diensten sollen Arbeitsämter bei der Vermittlung Schwer- weiter auseinander klaffen, die Benachteiligung behin- behinderter entlastet werden. Die Bundesanstalt fürderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt noch gravierender Arbeit hat darauf hinzuwirken, dass solche Integrations- sein. fachdienste in ausreichender Zahl eingerichtet werden. Sie soll grundsätzlich in jedem Arbeitsamtsbezirk einen Lassen Sie uns gemeinsam – Gesetzgeber und Wirt- Integrationsfachdienst eines Trägers oder eines Verbun- schaft – alles tun, damit auch die Schwerbehinderten ihren des verschiedener Träger beauftragen, der berufsbeglei- Platz in der Arbeitswelt finden. tende und psychosoziale Dienste umfasst, trägerübergrei- fend tätig wird und auch von der regional zuständigen Matthäus Strebl (CDU/CSU): Durch das Diskrimi- Hauptfürsorgestelle beauftragt ist. Der Gesetzentwurfnierungsverbot im Grundgesetz ist in den letzten Jahren stellt dabei sicher, dass die vorhandene Trägervielfalt er- ein neues Bewusstsein in der Behindertenpolitik eingetre- halten und zugleich ein Verbundsystem mit einem ein- ten: Es geht heute weniger um „Fürsorge“ als um die heitlichen Ansprechpartner für Hilfesuchende aufgebaut Selbstbestimmung des behinderten Menschen. wird. Wir unterstützen das Anliegen, in einem eigenen Sozi- Ein weiteres Anliegen aus der Praxis war, dass ratsu- algesetzbuch IX das Behindertenrecht zu straffen und ef- chende Personen künftig nicht nur in Form einer Zuwei- fizienter zu gestalten. Dabei stehen wir in einem engen sung durch das Arbeitsamt die Leistungen des Integrati- Dialog mit den Fachverbänden. onsfachdienstes in Anspruch nehmen können. Ratsu- Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung und der län- chende oder deren Angehörige sollten vielmehr die geren Lebenserwartung wird das Behindertenthema, wird Möglichkeit haben, sich selbst direkt an den Dienst zu die Pflegebedürftigkeit und werden chronische Krankhei- wenden. Diese Frage sollten wir in den anstehenden Be- ten zunehmen. Deshalb ist Behindertenpolitik auch Vor- ratungen in den Ausschüssen noch diskutieren. sorgepolitik. Wir wollen mit dafür sorgen, dass ein Zum Schluss noch einige Anmerkungen zu den in der Höchstmaß an Lebensqualität auch für den behinderten Novelle vorgesehenen Verbesserungen für die zahlrei- Menschen sichergestellt wird. Dazu bedarf es einer ge- chen und für Schwerbehinderte so wichtigen Integrati- meinsamen Strategie von Bundes-, Landes- und Kommu- onsunternehmen. Integrationsunternehmen sind selbst- nalpolitik. Es bedarf auch des Miteinanders der Tarifpart- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10009

(A) ner, um mehr Beschäftigungschancen für behinderte Starten Sie eine wirkliche Beschäftigungsoffensive(C) Menschen zu erreichen. durch die Nutzung der neuen elektronischen Medien, in- dem Sie die kleinen Personenunternehmen steuerlich Die unionsgeführte Bundesregierung hat dafür gesorgt, stärker fördern. Damit nutzen Sie auch der Integration von dass die Bundesbehörden ihre Beschäftigungsquote von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt. 6 Prozent seit Jahren erfüllen. Die SPD hat mit großen Ankündigungen eine neue Qualität der Behindertenpoli- Arbeitsplätze entstehen nicht durch staatlichen Zwang; tik angekündigt. Davon ist heute wenig zu spüren. Für die sie entstehen, wenn ein Unternehmen Perspektiven auf 7 Millionen behinderter Menschen und ihre Angehörigen dem Markt hat und wenn es unbürokratisch über die Hil- hat sich 20 Monate nach dem Regierungswechsel nichts fen bei der Einstellung von Schwerstbehinderten infor- verändert. Der Versuch, mit der Beschäftigungsquote JoJo miert wird. zu spielen, ist noch keine neue Qualität. Das ist der alte Durch die neuen elektronischen Heimarbeitsplätze und sozialdemokratische Glaube daran, dass durch staatliche die Förderung von Nachbarschaftsbüros können zu- Reglementierung menschliche Probleme zu lösen sind. kunftsfähige und produktive Arbeitsplätze auch für Be- Wir unterstützen eine realistische Quote, die dannhinderte entstehen. Die Chancen der neuen Technologien aber nicht nur vom Bund und den unionsregierten Län- kann man aber im Gesetzentwurf der Bundesregierung dern wie Bayern, sondern auch bei den SPD-regierten kaum finden. Ländern und Kommunen durchgesetzt wird. Deshalb ist Neue Qualität der Behindertenpolitik heißt für uns: es verwunderlich, dass die Bundesregierung den Bundes- weg von der Betreuung, hin zu einem selbstbestimmten ländern kaum Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt hat. Leben. Dazu wäre die Bereitstellung eines persönliches Herr Riester mogelt sich an einer soliden Abstimmung mit Budgets der richtige Weg. Der Behinderte soll nicht Bitt- den unionsgeführten Bundesländern vorbei. Offenkundig steller, er soll auf dem Dienstleistungsmarkt auftretender hat die Bundesregierung Angst vor zuviel Kompetenz. Kunde sein. Wir wollen einen fairen Wettbewerb der Kritische Begleitung unerwünscht. Dienstleister für den Menschen. Eines ist überhaupt nicht nachvollziehbar: Wie wollen In Großbritannien und in den Niederlanden hat sich Sie die bestehenden Werkstätten für behinderte, neue In- dies bewährt. Lasst uns eine parteiübergreifende, europä- tegrationsfirmen und persönliche Assistenz aus einer Aus- ische Bestandsaufnahme einer effizienten und am Men- gleichsabgabe finanzieren, bei der Sie davon ausgehen, schen orientierten Behindertenpolitik erarbeiten. Dies dass sie durch eine verstärkte Vermittlung sinken wird? wäre eine solide Grundlage und würde den Menschen hel- Mit weniger Einnahmen mehr Ausgaben zu finanzieren, fen, ohne neue Bürokratien und Reglementierungen zu das ist Voodoo-Finanzierung. (B) schaffen. (D) Im Interesse unserer gemeinsamen Zielsetzung bitte Beseitigen Sie die Nachrangigkeit bei der Eingliede- ich Sie: Streichen Sie den Finanzierungsvorbehalt, den sie rungshilfe – dies ist auch der erklärte Wunsch aller Be- im SGB IX vorgesehen haben. Dies ist auch der erklärte hindertenverbände – und legen Sie das vor, was Sie vor Wille aller Fachverbände in der Behindertenintegration. der Wahl angekündigt haben: ein Gleichstellungsgesetz Der Bund hat sich in den letzten 20 Monaten massiv mit einem klaren zeitlichen Rahmen. 20 Monate nach dem zulasten der Länder und Kommunen finanziell entlastet. Regierungswechsel ist es Zeit zu handeln. Geben Sie einen Teil dieses Geldes in eine Behinderten- politik, die nicht nur schöne Wünsche verkündet, sondern Dr. Heinrich L. Kolb (F.D.P.): Lassen Sie mich ein- praktisch und effizient hilft. Und gaukeln Sie den Men- leitend festhalten: Uns allen liegt die Verbesserung der schen nicht vor, dass dies zum Nulltarif möglich ist. Arbeits- und lntegrationschancen behinderter Menschen Wir werden darauf achten, dass neue Einrichtungen, am Herzen. „Arbeit ist dem Menschen ein Bedürfnis wie die Sie planen, nicht zulasten der bestehenden und be- Essen und Schlafen“, erkannte schon Wilhelm von Hum- währten Werkstätten gehen. Wir wollen kein Ausspielen boldt. Oft ist der Arbeitsplatz für behinderte Menschen die der einen gegen die anderen bei sinkender Finanzierungs- entscheidende Basis, von der aus sie sich ihre Integration grundlage und verschärftem Verteilungskonflikt. Wirin die Gesellschaft und damit mehr Lebensqualität erar- wollen ein sinnvolles Miteinander! Lassen Sie uns ge- beiten. Ich bezweifele jedoch, dass Ihr Gesetzentwurf den meinsam dafür sorgen, dass beispielsweise Integrations- behinderten Menschen in diesem Ansinnen nützt. firmen oder -abteilungen in die bestehenden Werkstätten Lassen Sie mich mehrere Punkte in Ihrem Gesetzent- gelegt werden, sodass eine Vernetzung stattfindet undwurf nennen, die das Ziel nicht nur verfehlen, sondern auch hier Synergieeffekte genutzt werden können. konterkarieren. Wir unterstützen nachhaltig das Ziel, 50 000 Schwerst- Erstens. Die Einführung der Integrationsfachdienste behinderte auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Ihre wird unseres Erachtens zu einer Verschlechterung der Fi- Arbeitslosigkeit ist die Folge der allgemeinen Arbeitslo- nanzsituation der Behindertenwerkstätten führen. Wenn sigkeit. Für die Einstellungen sind die Arbeitgeber und die der Anteil der Ausgleichsausgabe, der bisher den Behin- Betriebs- und Personalräte zuständig. Hier sollte überlegt dertenwerkstätten zukam, jetzt Integrationsfachdienste werden, ob zuviel Regulierung nicht auch ein Einstel- und -projekte sowie die Übernahme der Kosten für eine lungshindernis ist. Es gilt der Grundsatz: „Weniger ist notwendige Arbeitsassistenz finanzieren soll, werden mehr.“ neue Plätze in den Behindertenwerkstätten nicht mehr zu 10010 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000

(A) schaffen sein. Die Bundesregierung hat ja auch schon er- getreu dem rot-grünen Motto: „Warum einfach, wenn es (C) klärt, es würden nur noch schwerpunktmäßig neue Be- auch kompliziert geht“, wird dieses Integrationsvereinba- hindertenwerkstätten geschaffen. In der Fläche wird es rungsverfahren vorgeschrieben. zur Verwaltung des Status quo kommen. Sie nehmen den Ich sage Ihnen jetzt schon voraus: Leider werden sich Behindertenwerkstätten die erforderlichen Mittel weg, viele kleine und mittlere Unternehmer die Frage stellen, um neue Instrumente zu schaffen. Diese reine Umvertei- ob sie noch einen fünften Schwerbehinderten einstellen, lung von Mitteln auf dem Rücken der Schwächsten unse- wenn Sie den damit verbundenen bürokratischen Auf- rer Gesellschaft ist keine innovative Politik. wand nach den §§ 14 b und c SchwbG auslösen. Ich Frage auch: Wie sieht es mit den notwendigen In- Auch die Konzeption des in § 14 Abs. 4 SchwbG vor- vestitionen in die stationäre Behindertenhilfe, in Wohn- gesehenen Anspruches auf Teilzeitarbeit wird viele Un- und Betreuungsstätten aus? Wie soll das finanziert wer- ternehmer abschrecken, stellt doch Ihre Formulierung den? Zu dieser Frage gibt Ihr Gesetzentwurf nur nebulöse nicht deutlich genug klar, dass dieser Anspruch für den Antworten. Ich befürchte, die Behinderten werden wie- Arbeitgeber zumutbar sein muss und nicht mit unverhält- dereinmal in die Sozialhilfe verwiesen. Denn wenn sta- nismäßigen Anforderungen verbunden sein darf. tionäre Behindertenhilfe, wenn Wohn- und Betreuungs- stätten nicht mehr durch die Sonderabgabe finanziert Eins steht jetzt schon fest: Mit diesen Vorschriften tun werden, müssen die überörtlichen Soziahilfeträger ein- Sie den Betroffenen keinen Gefallen. springen. Die Probleme bei der Integration Behinderter bestehen Zweitens. Die Anerkennung von Integrationsunterneh- doch nicht in fehlenden Regeln, wie Sie in Ihrem rot-grü- men wird im neuen § 53 a SchwbG von Quoten abhän- nen Glauben an die Heilsbringung durch Gesetze meinen. gig gemacht. Der Anteil der Schwerbehinderten muss Im Gegenteil: Ihr Gesetz wird zeigen: Je mehr sie regeln, mindestens 25 Prozent betragen und soll 50 Prozent nicht desto weniger Arbeitsplätze entstehen. Da unterscheidet überschreiten. Die Sollvorschrift von 50 Prozent ist un- sich der Arbeitsmarkt für Behinderte nicht wesentlich von sinnig. Alle jetzt bekannten, derzeit in Deutschland exis- dem für Nichtbehinderte. Sie quotieren, verwalten und tierenden Integrationsunternehmen beschäftigen mehr als bürokratisieren. Das zieht sich durch alle hier vorliegen- 50 Prozent, in der Regel zwischen 55 und 60 Prozent den Anträge. Eine Vorschrift hier, eine Quote dort und Schwerbehinderte. Die im Gesetz vorgesehene Quotie- eine Kommission oder Vertretung, die alles regelt, muss rung würde damit Arbeitsplätze für Schwerbehinderte in auch noch geschaffen werden. Es gipfelt in der Forderung den existierenden Integrationsfirmen gefährden. Wollen an die privaten Fernsehsender, einen bestimmten Prozent- Sie etwa, dass schon bestehende lntegrationsfirmen jetzt satz von Sendungen mit Untertiteln oder Gebärdendol- Behinderte entlassen müssen? metschern zu versehen. (B) (D) Die 50-Prozent-Deckelung verkennt auch die Tatsa- Sie sollten einmal in Erwägung ziehen, dass die vielen che, dass nach Branche, Zusammensetzung der Aufträge Vorschriften eben keine Vor-, sondern Nachteile für die und Anforderung an die Qualifikation der Mitarbeiter nur Behinderten darstellen. Ich nenne hier nur den Kündi- ganz verschiedene Beschäftigungsquoten wirtschaftlich gungsschutz. Wir wissen ja alle, dass bereits der reguläre tragfähig sind. Kündigungsschutz ein Einstellungshemmnis insbeson- dere für kleine und mittlere Unternehmen ist. Und Ihr Ge- Diese Fragen werden wir intensiv im Gesetzgebungs- setzentwurf geht ja von einer Beschäftigungspflicht erst verfahren diskutieren müssen. ab 20 Beschäftigten aus. Die kleineren Betriebe lassen Sie Drittens. Ihre Absicht, das innerbetriebliche Verhältnis außen vor. Dieses Potenzial könnten Sie aber auch in den des Arbeitgebers zu seinem schwerbehinderten Arbeit- Dienst der Sache stellen, wenn Sie bereit wären, Verände- nehmer gesetzlich zu regeln, halten wir für vollkommen rungen am geltenden Recht vorzunehmen. unsinnig und inakzeptabel bürokratisch. Das ganze Kon- Der besondere Schutz, den unsere behinderten Arbeit- strukt der neuen §§ 14 ff. SchwbG, welche die Pflichten nehmer genießen, verhindert die Einstellung ganz massiv. des Arbeitgebers und Rechte des Schwerbehinderten fest- Weil nämlich jeder Unternehmer immer daran denkt, dass schreibt, halten wir für verfehlt. es durchaus zu einer Situation kommen kann, wo es not- Die in § 14 b SchwbG vorgesehene Integrationsverein- wendig wird, das Arbeitsverhältnis wieder zu lösen. Und barung ist ein Paradebeispiel für die Neigung der rot-grü- hier wird es bei einem behinderten Mitarbeiter sehr nen Koalition zu möglichst bürokratisch-komplizierten schwierig. Lösungen. Der Arbeitgeber soll mit der Schwerbehinder- Dieses Problem werden Sie mit keiner Ausgleichsab- tenvertretung eine verbindliche Integrationsplanung zu gabe der Welt lösen können. Das können Sie nur dann Arbeitsplatzgestaltung, Gestaltung des Arbeitsumfeldes, lösen, wenn Sie mit einer anderen Einstellung auf Be- Arbeitszeit und -organisation entwickeln. Dem Arbeits- hinderte zugehen. Sie wollen Behinderte grundsätzlich amt muss dies übermittelt werden. Welches Misstrauen bevormunden und glauben nicht daran, dass auch Behin- gegenüber freier unternehmerischer Entscheidung spricht derte Menschen sind, die sich eigenständig durchsetzen aus dieser Konzeption. können und auch wollen. Ich wiederum glaube genau das. Ihre Gesetzgebung ist ein Klotz am Bein der Behinderten, Meinen Sie nicht, dass jeder Arbeitgeber, der sich über- die Sie damit in ihrer Entwicklung nur weiter behindern. legt, ob er einen Schwerbehinderten einstellt, nicht genau über diese Fragen nachdenkt und dies dann mit seinem Lösen Sie ihre gedanklichen Fesseln und denken Sie schwerbehinderten Arbeitnehmer bespricht? Aber nein, positiv. Wenn Sie in Arbeitgebern grundsätzlich schlechte Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Mai 2000 10011

(A) Menschen sehen, die Behinderte nur widerwillig einstel- Drucksache 14/2952 Nr. 2.20 (C) len und dann sowieso am liebsten sofort wieder entlassen Drucksache 14/3050 Nr. 2.6 Drucksache 14/3050 Nr. 2.14 wollen und daher mit Gewalt daran gehindert werden Drucksache 14/3050 Nr. 2.17 müssen, dann werden Sie auch keinerlei Erfolge bei der Drucksache 14/3146 Nr. 2.1 Bekämpfung der – leider zu hohen – Arbeitslosigkeit Drucksache 14/3146 Nr. 2.2 Schwerbehinderter erzielen können. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Drucksache 14/1016 Nr. 1.2 Anlage 6 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Drucksache 14/2747 Nr. 2.1 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitge- Drucksache 14/2747 Nr. 2.2 Drucksache 14/2747 Nr. 2.17 teilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorlagen Drucksache 14/2747 Nr. 2.18 bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament Drucksache 14/2747 Nr. 2.20 zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgese- Drucksache 14/2747 Nr. 2.21 hen hat. Drucksache 14/2747 Nr. 2.22 Drucksache 14/2747 Nr. 2.23 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/2747 Nr. 2.26 Drucksache 14/2747 Nr. 2.27 Drucksache 14/2817 Nr. 2.12 Drucksache 14/2747 Nr. 2.45 Drucksache 14/2817 Nr. 2.23 Drucksache 14/2747 Nr. 2.47 Druck: MuK. Medien-und Kommunikations GmbH, Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44 ISSN 0722-7980