Matthias Theodor Vogt

Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume

Eine Vorstudie des Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsen

Dresden und Görlitz 8. Mai 2014 ii

Impressum:

Matthias Theodor Vogt: Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume. Eine Vorstudie des Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsen Dresden und Görlitz, 8. Mai 2014

Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen D-02828 Görlitz Klingewalde 40 Tel. +49/3581/420 94.21 Fax .28 http://www.kultur.org Email: [email protected]

Im Auftrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Sächsischen Landtag Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden

0 Verzeichnisse

0.1 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 0 Verzeichnisse ...... iii 0.1 Inhaltsverzeichnis ...... iii 0.2 Abbildungsverzeichnis ...... v 1 Vorbemerkung ...... 1 2 Hintergründe ...... 2 2.1 Samstag, den 4. November 1989 ...... 2 2.2 Zwecke des SächsKRG I vom 20. Januar 1994 ...... 11 2.3 SächsKRG I (1994) und II (2008) ...... 16 2.4 Eine inter-kommunale Gemeinschaftsleistung ...... 18 3 Primat einer Investition in Köpfe und Vorstellungswelten – Das Kulturland Sachsen im Verhältnis zu den anderen Ländern der Bundesrepublik ...... 27 4 Zur Datenlage ...... 36 5 Szenarien ...... 44 5.1 Externe Parameter für Szenario I (Weiterführung der jetzigen Strukturen) .... 44 5.2 Szenario II (Schließungen) ...... 49 5.2.1 Transformation versus Creative Destruction ...... 49 5.2.2 Kosten des tanzenden Tänzers ...... 51 5.2.3 Realbelastung der öffentlichen Haushalten durch den tanzenden Tänzer ...... 53 5.2.4 Phase II – der Tänzer wird entlassen ...... 55 5.2.5 Phase III – der Tänzer ist auf Dauer ohne Engagement ...... 57 5.2.6 Ineffizienz einer Schließung innerhalb eines Musiktheaterhauses ...... 59 5.3 Szenario III (Eine neue sächsische Kulturpolitik: Resilienzstärkung der Zivilgesellschaft als strategischer Schwerpunkt einer erneuerten sächsischen Kulturpolitik) ...... 60 6 Handlungsempfehlungen ...... 63 6.1 SächsKRVO ...... 63 6.2 Daten zur Erfüllung des gesetzlichen Auftrags aus § 6 Abs. 4 Satz 1 SächsKRG 2010 („Summe der Ausgaben oder der finanzwirksamen iv Matthias Theodor Vogt

Aufwendungen aller vom Kulturraum geförderten Einrichtungen und Maßnahmen“) ...... 63 6.3 Beschluß des Landestages über eine Gesetzesänderung zur Verschiebung des Vorlagetermins der Evaluation nach § 9 SächsKRG möglichst aufgrund fraktionsübergreifender Zustimmung ...... 64 6.4 Planung und Durchführung der Evaluation nach § 9 SächsKRG ...... 65 6.4.1 Arbeitsgruppe StS SMWK, SMUL, SMI, SMF ...... 65 6.4.2 Wiss. Experten ...... 65 6.4.3 Diskursive Öffnung des Evaluationsverfahrens ...... 65 6.4.4 Erweiterung der Fragestellung ...... 66 6.5 Modellprojekt mehrerer europäischer Regionen ...... 67 6.6 Bundesebene ...... 69

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0.2 Abbildungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Förderstruktur des SächsKRG. Quelle: Eigene Darstellung M. Vogt...... 19 Abb. 2: Öffentliche Ausgaben für Kultur 2009 nach Ländern in EUR je Einwohner – Grundmittel. Quelle: Kulturfinanzbericht 2012 des Bundes und der Länder ...... 27 Abb. 3: Verhältnis Anteil Kulturausgaben (Öffentliche Ausgaben für Kultur und Kulturnahe Bereiche 1995 bis 2009 ) und Anteil Einwohner. Sachsen 736 Mio EUR für Kultur und kulturnahe Bereiche entsprechend 164% des Bundesdurchschnittes. Datenquelle: Kulturfinanzbericht 2012, Tabelle 3.1-1 (Kulturausgaben) und Bundesamt für Statistik (Einwohner). Eigene Zusammenstellung und Darstellung IKS...... 28 Abb. 4: Öffentliche Ausgaben für Kultur 1995 bis 2009 nach Ländern und Körperschaftsgruppen – Grundmittel. Anteil am GHH in %. Quelle: Kulturfinanzbericht 2012, Tabelle 3.3-1. Eigene Darstellung IKS...... 29 Abb. 5: Öffentliche Ausgaben für Kultur 1995 bis 2009 nach Ländern und Körperschaftsgruppen – Grundmittel. Anteil am BIP in %. Quelle: Kulturfinanzbericht 2012, Tabelle 3.3-1. Eigene Darstellung IKS...... 30 Abb. 6: Ausgaben für Forschung und Lehre an Hochschulen 2003 gemessen am Bruttoinlandsprodukt. BLK-Bildungsfinanzbericht 2004/2005. S. 85...... 31 Abb. 7: Wiesbadener Index Verbraucherpreise (195 = 100 Basispunkt). Entwicklung Verbraucherpreise bzw. Kaufkraftverlust. Eigene Darstellung IKS nach Daten des Statistischen Bundesamtes. .... 32 Abb. 8: Kamenzer Index Verbraucherpreise (195 = 100 Basispunkt). Entwicklung Verbraucherpreise bzw. Kaufkraftverlust. Eigene Darstellung IKS nach Daten des Sächsischen Statistischen Landesamtes Kamenz...... 32 Abb. 9: Indexierte Gegenüberstellung der Brutto- und Tariflohnentwicklung. Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder, WSI-Tarifarchiv, Darstellung und Berechnung des ifo Instituts. Zitiert nach: Kernthesen des Endberichts zum Forschungsvorhaben „Einkommensentwicklung im Freistaat Sachsen“ des ifo Instituts für Wirtschaftsförderung, Niederlassung Dresden im Auftrag der FDP-Fraktion im Sächsischen Landtag. Ohne Datum. http://www.fdp-sachsen.de/online/ fdp/cisweb4_fdp.nsf/%28File%29/ 1F8A11BEBA598A1CC12577E5004A1805/$File/Kernthesen%20ifo-Studie.pdf ...... 33 Abb. 10: Bildungsfinanzbericht 2013, S. 61,Abbildung 4.3.4-1: Ausgaben der Hochschulen nach Aufgabengebieten in Mrd. EUR...... 34 Abb. 11: Steigerung der gemeindlichen und stadtstaatlichen Ausgaben für Kultur 1995 bis 2009 nach Ländern und Körperschaftsgruppen in Mill. EUR – Grundmittel. Quelle: Kulturfinanzbericht 2012, Tabelle 3.3-3. Eigene Darstellung IKS...... 35 Abb. 12: Kommunalisierungsgrad der öffentlichen Ausgaben für Kultur 2009 nach Ländern in %. . Quelle: Kulturfinanzbericht 2012, Tabelle 3.3-2. Eigene Darstellung IKS...... 35 Abb. 13: Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien 1995 / 2011 Gesamtausgaben in EUR. Quelle: Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen nach Daten des Kulturraums...... 36 Abb. 14: Bekanntmachung der Neufassung des Sächsischen Kulturraumgesetzes vom 18. August 2008. Aufgrund von Artikel 3 des Gesetzes zur Neuordnung der Kulturräume im Freistaat Sachsen vom 20. Juni 2008 (SächsGVBl. S. 371) wird nachstehend der Wortlaut des Gesetzes über die Kulturräume in Sachsen (Sächsisches Kulturraumgesetz – SächsKRG) in der ab 1. August 2008 vi Matthias Theodor Vogt

geltenden Fassung bekannt gemacht. Quelle: Sächsisches Gesetz- und Verordnungslbatt 13/2008...... 41 Abb. 15: Transferleistungen von 2005 bis 2019 in Euro. Quelle: Mitteldeutscher Rundfunk...... 45 Abb. 16: Auswirkung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs auf die Einnahmen Sachsens 2011, in Mio. EUR. Quelle: Sächsisches Staatsministerium der Finanzen: Mittelfristige Finanzplanung des Freistaates Sachsen 2012 – 2016. Dresden 31.07.2012.S. 9...... 46 Abb. 17: Gesamteinnahmen des Freistaates Sachsen 2006 – 2016 nach Höhe und Struktur. Quelle: Sächsisches Staatsministerium der Finanzen: Mittelfristige Finanzplanung des Freistaates Sachsen 2012 – 2016. Dresden 31.07.2012.S. 24...... 47 Abb. 18: Steuereinnahmen der sächsischen Gemeinden, in Mio. EUR. Quelle: Sächsisches Staatsministerium der Finanzen: Mittelfristige Finanzplanung des Freistaates Sachsen 2012 – 2016. Dresden 31.07.2012.S. 44...... 48 Abb. 19: Entwicklung der Finanzausgleichsmasse Sachsen 2007 – 2016. Quelle: ...... 48

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1 Vorbemerkung

In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kulturrat hat das Institut für kulturelle Infra- struktur Sachsen Ende 2013 eine Studie zu Kunst und Kultur als Resilienzfaktoren im Kontext der demographischen Entwicklungen vorgelegt, auf deren Ergebnisse sich das Folgende gelegentlich bezieht: Matthias Theodor Vogt und Olaf Zimmermann (Hrsg.): Verödung? Kulturpolitische Gegenstrategien Beiträge zur Tagung 22./23. November 2013 in Görlitz Edition kulturelle Infrastruktur, Görlitz und Berlin 2013 DOI-Nummer: 10.1696/eki-2013 Im gleichen Forschungszusammenhang bat die Fraktion Bündnis 90 – Die Grünen im Säch- sischen Landtag das Institut, mögliche Szenarien für das Kulturraumgesetz zu untersu- chen, ohne der Evaluation nach § 9 Kulturraumgesetz vorzugreifen. Die im folgenden dargestellte Entwicklung solcher Szenarien konnte nicht so weit ge- bracht werden, wie zunächst erhofft. Grund ist, daß es weder bei den Kulturräumen noch im Ministerium oder im Statistischen Landesamt eine Datenbasis gibt, anhand derer sich die Entwicklung der Kulturräume von 1994/95 bis 2014 nachverfolgen ließe (dazu mehr im Text). Gleichwohl konnten gewisse Beobachtungen getroffen werden, die dem Sächsischen Landtag und der Staatsregierung sowie den Kulturräumen selbst von Nutzen sein mögen.

Matthias Theodor Vogt Dresden und Görlitz, am 8. Mai 2014 2 Matthias Theodor Vogt

2 Hintergründe

2.1 Samstag, den 4. November 1989 Ein dumpfer Ton, wie von vielen Schritten, überlagerte am 4. November 1989 in der Dresdner Kreuzkirche1 die Pausen und leisen Passagen von Frank Martins Kurzoratorium In terra pax.2 Im Sommer 1944 hatte Radio Genf den Komponisten um ein Chorwerk ge- beten. Es sollte am Tage des Waffenstillstandes zum ersten Mal gesendet werden und kam dann am 7. Mai 1945 in Genf zur Uraufführung: Diese Bitte erfüllte mich mit Freude, aber noch mehr vielleicht mit Angst. Denn ich musste nicht nur die Vorstellung von Krieg und Frieden und den Ausdruck allen Leidens und aller Freude vor Augen haben, sondern auch das Gefühl der Völker im Augenblick dieser ungeheuren Erleichte- rung, dieses momentanen Rausches, den diese wunderbare Nachricht verursachen musste. […] Ich glaube nicht, dass ich, während ich dieses Oratorium komponierte, jemals irgendwelche Illusionen über die Art des Friedens hatte, der dem Ende des Krieges folgen würde. Aber dieser Mangel an Il- lusion konnte mich nicht an dem Versuch hindern, den Übergang von tiefster Verzweiflung zur Hoffnung auf eine leuchtende Zukunft auszudrücken. Und das bedeutete dann, dass ich in den Worten Christi die absolute Forderung nach Vergebung – wie sie in seiner Lehre enthalten ist – aussage, ohne die ein wirklicher Friede unfassbar ist. Aber diese Forderung ist so hoch, dass ihre allgemeine Verwirklichung auf Erden ohne das Wunder einer vollständigen Umwandlung des menschlichen Denkens und Fühlens nicht vorstellbar ist. […] Ich schrieb In terra pax von August bis Oktober 1944, zeitweise mit den alliierten Armeen um die Wette laufend. Sie ließen mir leider viel zu viel Zeit.3 Nicht das „Wunder einer vollständigen Umwandlung des menschlichen Denkens und Fühlens“, sondern im genauen Gegenteil der Protest gegen eine solche Umwandlung, im Namen eines autoritären Regimes von oben befohlen, bewegte die Tausende, deren Schritte am 4. November in die Kreuzkirche hallten; mit Kerzen in den Händen und mit Mut in den Herzen, wie ein Beobachter schrieb. Am Tag zuvor hatten die ČSSR- Behörden den DDR-Bürgern die unreglementierte Ausreise in den Westen erlaubt, was

1 In der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek hat sich unter Nr. 10753198N als Überspielung aus dem Kreuzchorarchiv ein Mitschnitt erhalten. Frank Martin: In terra pax, Oratorio breve für 5 Vo- kalsolisten, 2 gemischte Chöre und Orchester (1944). Interpr.: Barbara Hoene, Sopran. Brigitte Pfretz- schner, Alt. Armin Ude, Tenor. Gotthold Schwarz, Bariton. Rolf Wollrad, Baß. Ulrich Schicha, Orgel. Dresdner Kreuzchor. Dresdner Philharmonie. Leitung: Martin Flämig .Aufn.: Kreuzkirche Dresden, 04.11.1989. 2 Aus der Vulgata-Übersetzung der Weihnachtsgeschichte bei Lukas 2,14: „Gloria in altissimis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis | Ehre sei Gott in den Höhen und Friede auf Erden den Men- schen guten Willens“. 3 http://www.universaledition.com/Frank-Martin/komponisten-und- werke/komponist/456/werk/2881/werk_einfuehrung [13.02.2014]. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 3 weitere fünf Tage später bei der SED zu den bekannten Sprachregelungsverwirrungen und damit zum Fall der Berliner Mauer führen sollte. Zu einer Nacht, nur vergleichbar mit dem von Frank Martin vorhergesehenen „Augenblick dieser ungeheueren Erleichte- rung, dieses momentanen Rausches, den diese wunderbare Nachricht verursachen muss- te“. Der Kalte Krieg war zu Ende, ohne Blutvergießen hatte sich die Revolution von unten auch auf dem Gebiet der DDR durchgesetzt. Die Staatssicherheitsbehörden konnten um- gehend besetzt, zum 5. April 1990 eine Freie Volkskammer gewählt und zum 1. Juni freie Kommunalwahlen durchgeführt werden. Am 3. Oktober 1990 um 00:00 Uhr wurden die 1952 aufgelösten Länder wiedergebildet. Sie führten noch in der gleichen Sekunde das Grundgesetz bei sich ein und schlossen damit (innerhalb der Grenzen des Potsdamer Ab- kommens) die deutsche Wiedervereinigung ab – mit Frank Martin ohne „Illusionen über die Art des Friedens […], der dem Ende des Krieges folgen würde“ und, anders als in der Vision Frank Martins, mit Lustrationsgesetzen ohne „absolute Forderung nach Verge- bung“. Die Menschen, deren Schritte am 4. November 1989 in die Kreuzkirche klangen, waren sozial heterogen; heterogener als die polnischen Industriearbeiter 1980 und 1988/89 oder die tschechischen Studenten und Theaterleute im November 1989. So bildete die im Ok- tober 1989 gebildete Dresdner „Gruppe der 20“ nach Berufen und Alter einen Quer- schnitt der Bevölkerung mit Lehrlingen, Studenten, Handwerkern, Arbeitern und Ingeni- euren. Es wäre falsch, die Demonstrierenden in Sachsen ausschließlich in der интеллигенция verorten zu wollen. Auch wenn hier das Dresdner Beispiel herangezogen wurde, wäre es ebenso falsch zu denken, daß die Proteste nur in der Bezirkshauptstadt stattgefunden hätten – man denke für den Bezirk Dresden an Sebnitz oder Meißen (je 20 Einträge in der Chronik der Demonstrationen),4 für den Bezirk Karl-Marx-Stadt an Aue (20) oder Plauen (38), für den Bezirk Leipzig an Torgau (20) oder Wurzen (13). Die „Hoffnung auf eine leuchtende Zukunft“ ging von allen Landesteilen aus und in vielen Bevölkerungsteilen um. Den Boden für die Aufstände hatten die beiden Kirchen, die evangelisch-lutherische bzw. unierte und die römisch-katholische, zwischen Februar 1988 und April 1989 mit der sehr breit angelegten Vorbereitung und Durchführung der „Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR“ im Rahmen des Konziliaren Prozesses wesentlich mitbereitet. Die ratio legis des Freistaates Sachsen im zentralen fünften Halbsatz der Präambel der sächsischen Verfassung von 1992 nimmt

4 Vgl. www.archiv-buergerbewegung.de. 4 Matthias Theodor Vogt diesen Entwicklungspfad wörtlich auf („…von dem Willen geleitet, der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Bewahrung der Schöpfung zu dienen, / hat sich das Volk im Frei- staat Sachsen …“). Daß sich in Volkskammer 5. April, Gemeinden und Landkreisen 1. Juni sowie Landtag 3. Oktober das Verhältnis in der sächsischen Bevölkerung von drei Viertel konfessionslos sowie konfessionsgebunden ein knappes Viertel protestantisch und 4% katholisch quasi umkehrte – beispielsweise bildeten praktizierende Protestanten die übergroße Mehrheit unter den zunächst 48 Landräten, der neue Dresdener Oberbürger- meister Herbert Wagner war als katholischer Vertreter zur Gruppe der 20 gestoßen, das Kabinett Biedenkopf war etwa je zur Hälfte katholisch und protestantisch – hängt einer- seits mit der Bereitschaft zusammen, von Verantwortung nicht nur zu tönen, sondern sie auch zu übernehmen. Andererseits gab es auch ganz pragmatische Gründe: Protestantis- mus beruht seit 15175 und mehr noch seit 1918 auf demokratischem Prozedere, das ge- lernt zu haben politisch weiterhilft. Für Sachsens Kulturpolitik in der ersten Legislaturpe- riode 1990 – 1994 waren diese personalen Zusammenhänge dann entscheidende Voraus- setzungen, konnten sich doch die konfessionsgebundenen Parlamentarier und Landräte ein menschenwürdiges Leben ohne Buch und Klang und Bild nicht vorstellen. Entschei- dender also als das Hervortreten einzelner Seelsorger, etwa beim Zustandekommen der Gruppe der 20 in Dresden oder an der Leipziger Nikolaikirche, war die Verwurzelung keineswegs aller, aber doch sehr vieler unter den Protestierenden in einem besser konfes- sionell als kirchlich zu charakterisierenden und oft ökologischem Geist. Hier war eine wesentliche Quelle des Muts zum Protest. Dem Protest vom Herbst 1989 ging es um Begriff und Praxis der Freiheit: gegen Ent- mündigung und für Verantwortung durch jeden Einzelnen, für die Würde der Person in jenem Sinne, auf dem die bekanntlich christlich inspirierten Art. 1 – 19 des Grundgesetzes beruhen. Benedetto Croce hat darauf verwiesen, daß die ethischen Modelle der Aufklä- rung wesentlich christlichen Prinzipien verhaftet bleiben.6 Mündigkeit7 und personale

5 Vgl. den Abschnitt „Kulturelle Armut und kultureller Reichtum: ein Blick in Sachsens Geschichte, in: Vogt, Matthias Theodor: Kunst und Kultur als Resilienzfaktoren. Zum aktuellen Stand der Forschung. In: Matthias Theodor Vogt und Olaf Zimmermann (Hrsg.):Verödung? Kulturpolitische Gegenstrategien. Beiträge zur Tagung 22./23. November 2013 in Görlitz. Edition kulturelle Infrastruktur, Görlitz und Berlin 2013. S: 35. 6 Vgl. Tschopp, Siliva Serena (2002): Konstituenten europäischer Identität, Luzern. Zit. nach Der Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften zum kulturellen Leben in Deutschland. Gutachten des Instituts für kulturel- le Infrastruktur Sachsen im Auftrag der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages vorgelegt von Prof. Dr. Matthias Theodor Vogt, Görlitz. Publiziert im Anhang zu: Deut- scher (Hg.): Kultur in Deutschland. Schlußbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages. Regensburg 2008, S. 50. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 5

Freiheit sind sowohl konfessionell wie außerkonfessionell jene Prinzipien, die die Protes- tierenden endlich verwirklicht sehen wollten und um derentwillen sie den Weg auf die Straßen fanden. Wo aber hatten jene Prinzipien, um die es am 4. November und an so vielen anderen Da- ten ging, Öffentlichkeit und Verbreitung finden können? Die Ostmedien waren fest in der Hand des Regimes und die Westmedien im „Tal der Ahnungslosen“ oft nicht erreichbar, das Internet war noch nicht verfügbar, das sonntägliche Kanzelwort wurde von vielleicht 8% der Bevölkerung vernommen. Es waren wesentlich die Künste, die die komplexen Fragen von Freiheit transportierten und bei denen zwischen den Zeilen gelesen werden konnte: „In der Volksbühne musste man einmal die Feuerwehr bestellen, weil das Publi- kum nach einer schlechten Kritik [im Parteiorgan Neues Deutschland] vor lauter Interesse ins Theater stürmte“.8 Die Behauptung „Erst die Theater ermöglichten den Mauerfall“9 mag überzogen sein; unfraglich ist, daß der Literatur und der Musik, den Bildenden und den Darstellenden Künsten eine entscheidende Rolle für die Befestigung gedanklicher Freiheit zukam. Die größte Demonstration in der Geschichte der DDR, am gleichen 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, ging von Volksbühne und Deutschem Theater aus. Sie diente 15 Tage später mit als Vorbild für die Prager Theater. Der am 6. Februar 1989 in Polen installierte Runde Tisch (die Idee eines Runden Tisches stammt aus dem Ca- tholic Worker Movement von Peter Maurin und Dorothy Day mit seinen theologisch moti- vierten round-table discussions, von dort hatte sie Eingang in die katholischen Zirkel Polens gefunden und von dort erst in die DDR, dann nach Ungarn) fand am 12. April 1989 sub-

7 Der Begriff der Mündigkeit – „Den Weg mir selbst zu finden und die Richtung“ (Schiller) – gehört zu jenen Zentraltermini der deutschen Geistesgeschichte, die nur außerordentlich schwer in andere Spra- chen zu übersetzen sind. Etymologisch leitet er sich ab von der altgermanischen mund, der Obhut des Haushaltsvorstandes bzw. eines Rechtsvertreter (Vogt) für seine ‚Mündel‘, die impuberes des Römischen Rechts. Der Begriff machte dann Karriere durch Imannuel Kants (1724 – 1804) Definition der Aufklä- rung als Ausgang aus selbst verschuldeter Unmündigkeit. An ihn sollte mit ebenfalls großer Wirkung Theodor Wiesengrund Adorno (1903 – 1969) in seiner „Erziehung zur Mündigkeit“ anschließen. Der Terminus „Volljährigkeit“, den es notwendigerweise in allen Sprachen gibt, meint das Eintreten eines Zustandes (nämlich der Rechtsfähigkeit, nach Ablauf einer gewissen Anzahl von Jahren). Im Unter- schied hierzu meint der Begriff „Mündigkeit“ den geistigen Prozeß eines Mündigwerdens. Dieser ist nicht selbstverständlich. Ohne ihn ist eine Existenz sehr wohl möglich, nur eben nicht im Sinne der bürgerstolzen Aufklärung. (zitiert aus Vogt, Matthias Theodor (2013): Demokratie ist auch eine Frage der Sprache, in: Dirk Dalberg (Hrsg.): Die Freiheit des Wortes – Wissenschaft und demokratische Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages von Anton Sterbling, Rothenburg/OL 2013. [online: http://kultur.org/Doi101696/vogt-2013a.pdf].) 8 Tobi Müller: Erst die Theater ermöglichten den Mauerfall. Die Welt: 23.10.2009. 9 Ibid. 6 Matthias Theodor Vogt tilen Reflex in „Die Ritter der Tafelrunde“ von Christoph Hein am Staatsschauspiel Dresden. Ein Jahr später, am 4. April 1990, legte eine Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ aus Vertretern aller am Runden Tisch mitwirkenden Parteien und politischen Bewegun- gen unter Einbeziehung auch westdeutscher Verfassungsexperten den „Entwurf einer Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“ vor, der wesentlich am Grundge- setz orientiert war. Art. 20 dieses Verfassungsentwurfs setzt sich (a) von Art. 18 Verf DDR deutlichst ab, nimmt (b) den Kunstartikel der Weimarer Reichsverfassung erkenn- bar auf und geht (c) in puncto Förderung über Art. 5 GG hinaus. Letzterer hatte einge- denk der Willkürherrschaft der Nationalsozialisten den Einfluß des Staates in artibus mi- nimieren wollen, was heute zu lebhaften Diskussionen über die (Wieder-) Einführung eines Kunstförderungsabsatzes in Art. 5 GG führt. Aauf Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 VerfE DDR wurde bei diesen Diskussionen bislang nicht rekurriert. Artikel 20 VerfE DDR vom 4. April 1990: (1) Die Kunst ist frei. (2) Das kulturelle Leben sowie die Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes werden gefördert. In den Haushalten des Bun- des, der Länder und der Träger der Kommunalautonomie sind die dafür erforderlichen Mittel vor- zusehen.10 Artikel 18 Verf DDR vom 6. April 1968 (i.d.F.v. 7. Oktober 1974) (1) Die sozialistische National- kultur gehört zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft. Die Deutsche Demokratische Republik fördert und schützt die sozialistische Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft dient. Sie bekämpft die imperialistische Unkultur, die der psychologischen Kriegführung und der Herabwürdigung des Menschen dient. Die sozialistische Gesellschaft fördert das kulturvolle Leben der Werktätigen, pflegt alle humanistischen Werte des nationalen Kulturerbes und der Weltkultur und entwickelt die sozialistische Nationalkultur als Sa- che des ganzen Volkes. (2) Die Förderung der Künste, der künstlerischen Interessen und Fähigkei- ten aller Werktätigen und die Verbreitung künstlerischer Werke und Leistungen sind Obliegenhei- ten des Staates und aller gesellschaftlichen Kräfte. Das künstlerische Schaffen beruht auf einer en- gen Verbindung der Kulturschaffenden mit dem Leben des Volkes. (3) Körperkultur, Sport und Touristik als Element der sozialistischen Kultur dienen der allseitigen körperlichen und geistigen Entwicklung der Bürger. Artikel 142 WRV vom 11. August 1919: Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil. Art. 5 GG vom 23. Mai 1949: (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. Auf Landesebene hatte wenige Tage zuvor und ebenfalls aus der Bürgerrechtsbewegung heraus die „Gruppe der 20“ am 29./30. März 1990 einen Verfassungsentwurf für Sachsen

10 Unter anderem unter http://www.glasnost.de/verfass/9004verfass.html. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 7 in der Dresdner Tageszeitung „Die Union“ veröffentlicht. Er ging in den Gohrischen Entwurf ein, der eine der Keimzellen der späteren sächsischen Verfassung bildete. Hatte es dort geheißen: Artikel 1 Grundlegende Staatsziele) Verfassung des Landes Sachsen (Gohrischer Entwurf vom 5. August 1990 gez. Heitmann / Vaatz): Sachsen ist ein Land im deutschen Bundesstaat. Das Land ist ein demokratischer, ökologisch orientierter, sozialer Rechtsstaat. Das Land ist ein Kulturstaat..11 so synthetisierte dann 1992 Art. 1 SächsV mit der durchaus weitergehenden Legaldefiniti- on des Freistaates als „der Kultur verpflichteter […] Rechtsstaat“ i.V.m. Art. 11 in gewis- ser Weise die Überlegungen der Runden Tische mit den Vorgaben des Einigungsvertra- ges: Artikel 1 Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992: Der Freistaat Sachsen ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Er ist ein demokratischer, dem Schutz der natürlichen Lebens- grundlagen und der Kultur verpflichteter sozialer Rechtsstaat. Artikel 11 SächsV: (1) Das Land fördert das kulturelle, das künstlerische und wissenschaftliche Schaffen, die sportliche Betätigung sowie den Austausch auf diesen Gebieten. (2) Die Teilnahme an der Kultur in ihrer Vielfalt und am Sport ist dem gesamten Volk zu ermöglichen. Zu diesem Zweck werden öffentlich zugängliche Museen, Bibliotheken, Archive, Gedenkstätten, Theater, Sportstät- ten, musikalische und weitere kulturelle Einrichtungen sowie allgemein zugängliche Universitäten, Hochschulen, Schulen und andere Bildungseinrichtungen unterhalten. (3) Denkmale und andere Kulturgüter stehen unter dem Schutz und der Pflege des Landes. Für ihr Verbleiben in Sachsen setzt sich das Land ein. (Der Terminus Land in der Verfassung meint nota bene sowohl die Territorialkörperschaf- ten des Staates und der Kommunen bzw. ihrer Gliederungen als auch die Bürger selbst und ihre Personalkörperschaften: Art. 11 SächsV stellt horribile dictu kein Verbot für nicht- staatliche Trägerschaften dar, sondern bezeichnet ein allen Ebenen gemeinsames Ziel.) Die Hoffnung gerade vieler Theaterleute im Frühjahr 1990 auf einen Dritten Weg, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, ging nicht in Erfüllung; nicht wegen sowjetischer Panzer wie beim Prager Frühling 1968, sondern aufgrund des Ruins von Wirtschaft, Inf- rastrukturen und Ökologie der DDR. Dieser vollständige Ruin schloß einen anderen Weg als den der brüderlichen Hilfe aus dem Westen durch den Beitritt zum Grundgesetz und dessen Strukturen und folgendem Solidarpakt I, II kategorisch aus. Auf die auch in Art. 146 GG n.F. angekündigte Verfassung wartet das deutsche Volk allerdings noch immer; den Experten war die Gemengelage Anfang sowie Mitte der 90er Jahre zu heikel, dann überlagerten Hoffnungen auf eine europäische Verfassung den innerdeutschen Diskurs. Überdies wird mit der fehlenden Verfassung der Passus ‚Schuldenbegleichung erst nach

11 Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 5, S. 439. 8 Matthias Theodor Vogt einem Friedensvertrag’ aus dem Londoner Schuldenabkommen nach wie vor unterlaufen. Aktuell gibt es keine Diskussionen dazu. Im administrativen Bereich waren ‚Sonderlösungen Ost‘ nicht vorgesehen, eine Ausnah- me machte die Kultur. In Art. 35 Einigungsvertrag – der als loi constitutionelle jeglicher Bundes- und Landesgesetzgebung seit dem 3. Oktober 1990 vorausgeht12 – wird (a) die Bundesrepublik zum Kulturstaat aufgewertet, (b) der unbestimmte Rechtsterminus „kul- turelle Substanz“ eingeführt, (c) der Bund zum kulturpolitischen Akteur in Einzelfällen ernannt und (d) eine Übergangsfinanzierung installiert, die eine „finanzierte Bedenkzeit“ (bis August 1994) schaffen sollte: Artikel 35 Kultur Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokra- tischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom 31. August 1990 (BGBl. 1990 II S. 889) (1) In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur - trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland - eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozeß der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Eini- gung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftli- chen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab. Vorrangiges Ziel der Auswär- tigen Kulturpolitik ist der Kulturaustausch auf der Grundlage partnerschaftlicher Zusammenarbeit. (2) Die kulturelle Substanz in dem in Artikel 3 genannten Gebiet darf keinen Schaden nehmen. (3) Die Erfüllung der kulturellen Aufgaben einschließlich ihrer Finanzierung ist zu sichern, wobei Schutz und Förderung von Kultur und Kunst den neuen Ländern und Kommunen entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes obliegen. (4) Die bisher zentral geleiteten kulturellen Einrichtungen gehen in die Trägerschaft der Länder o- der Kommunen über, in denen sie gelegen sind. Eine Mitfinanzierung durch den Bund wird in Ausnahmefällen, insbesondere im Land Berlin, nicht ausgeschlossen. (5) Die durch die Nachkriegsereignisse getrennten Teile der ehemals staatlichen preußischen Samm- lungen (unter anderem Staatliche Museen, Staatsbibliotheken, Geheimes Staatsarchiv, Ibero- Amerikanisches Institut, Staatliches Institut für Musikforschung) sind in Berlin wieder zusammen- zuführen. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übernimmt die vorläufige Trägerschaft. Auch für die künftige Regelung ist eine umfassende Trägerschaft für die ehemals staatlichen preußischen Sammlungen in Berlin zu finden. (6) Der Kulturfonds wird zur Förderung von Kultur, Kunst und Künstlern übergangsweise bis zum 31. Dezember 1994 in dem in Artikel 3 genannten Gebiet weitergeführt. Eine Mitfinanzierung durch den Bund im Rahmen der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes wird nicht ausge-

12 Vgl. Vogt, Matthias Theodor: Perspektiven der Kulturpolitik in Deutschland. In: Kulturpolitische Umschau. Hrsg. Jörg-Dieter Gauger im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung. St. Augustin. Teil I Heft 2-3 / Juni 1998, S. 74-84; Teil II Heft 4-5 / März 1990 S. 90-105. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 9

schlossen. Über eine Nachfolgeeinrichtung ist im Rahmen der Verhandlungen über den Beitritt der Länder der in Artikel 1 Abs. 1 genannten Länder zur Kulturstiftung der Länder zu verhandeln. (7) Zum Ausgleich der Auswirkungen der Teilung Deutschlands kann der Bund übergangsweise zur Förderung der kulturellen Infrastruktur einzelne kulturelle Maßnahmen und Einrichtungen in dem in Artikel 3 genannten Gebiet mitfinanzieren. Für die Praxis der Kulturförderung wichtiger aber als der Einigungsvertrag war das Über- rollen der westdeutschen Differenzierung zwischen kommunalen „Pflichtaufgaben“ und „freiwilligen Aufgaben“, wobei letztere von den Aufsichtsbehörden erst dann genehmigt werden dürfen, wenn die Pflichtaufgaben vollständig ausfinanziert sind. Wie sich während des langsamen Aufbaus der Regierungspräsidien und kreislichen Prüfungsämter zeigt, war dies bei einem kommunalen Infrastrukturbedarf, der etwa bei der Wasser- und Abwasser- versorgung teilweise auf dem Investitionsstand 1913 beruhte, unter Umständen gleichbe- deutend mit einem Verbot kommunaler Kunstförderung. Damit wiederum war Art. 35 (3) EV ausgehebelt. Für die Praxis der Kulturförderung ebenfalls wichtiger als der Einigungsvertrag war das Überrollen der Landesplanung durch das Konzept der Zentralen Orte mit ihrer „Verede- lung der Einwohner“ (so der auf ein hochproblematisches historisches Mißverständnis [s.u.] zurückgehende Fachterminus). Die DDR-Strukturen seit 1952 waren zwar durch und durch zentralisiert gewesen: am Kulturministerium hingen die Kulturabteilungen der Bezirke, an diesen die Kulturabteilungen der (staatlich eingegliederten, nicht-autonomen) Landkreise, an diesen die Kulturabteilungen der (ebenfalls staatlich eingegliederten, nicht- autonomen) kleineren Gemeinden. Da aber lt. Artikel 18 Verf DDR die „sozialistische Nationalkultur […] zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft [gehört]“ und folglich niemand von ihr ausgeschlossen werden durfte, erstreckte sich die kulturelle Inf- rastruktur mit ihren Kulturhäusern, Dorfkinos und Dorfbibliotheken über die gesamte Landesfläche. Das System war nominell zentralistisch, wies aber eine verblüffende Tie- fenverästelung auf. Demgegenüber beruhen die aus dem Westen der Republik übernom- menen Grundsätze der Landesraumplanung (a) auf dem Konzept der Zentralen Orte (Walter Christaller 1933), denen ein sog. Bedeutungsüberschuss gegenüber dem umgebenden Ge- biet zuerkannt wird, und (b) auf dem Gesetz der progressiven Parallelität von Ausgaben und Be- völkerungsmassierung (Arnold Brecht 1932), demzufolge mit steigender Bevölkerungsdichte die öffentlichen Pro-Kopf-Ausgaben steigen würden und also höhere Prokopf- Zuwendungen erforderlich seien. Das Brechtsche Gesetz ist ein einziges Mißverständnis, dessen historischer Pfad stets übersehen wird.13 Umgekehrt gedacht leuchtet es spätestens

13 It is one of the problems of science and culture policies within (parliamentary) democratic systems (in this respect they are similar to monarchic ones) that they tend to aggravate the peripetal tendencies 10 Matthias Theodor Vogt in Zeiten demographischer Schuldebatten unmittelbar ein, daß ein Schülerbeförderungs- system auf dem Kamm des Erzgebirges teurer zu stehen kommt als wenn im Zentrum von Leipzig ein paar Straßenblöcke genügen, um zwei Regelklassen zu füllen. Mit dem Konzept der „Wachstumskerne“ (sprich Dresden, Leipzig und Chemnitz) wurden die Christaller-Brecht-Logik zur Grundlage der sächsischen Landesplanung und das Erzge- birge zum Naherholungsgebiet der Großstadt Chemnitz stilisiert. Das System war und ist nominell föderalistisch, wies und weist aber ein verblüffendes Kappungsmoment bei der Tiefenverästelung auf. Wenn es im Westen der Republik in Gemeinden unterhalb von 100.000 Einwohnern sowie auf Landkreisebene mit Ausnahme des Museumssystems kaum kulturelle Infrastruktur gibt, warum und mit welchen Mitteln sollte sie dann im finanziell ungleich schwächeren Beitrittsgebiet betrieben werden? Zunächst einmal aber sollte 1990 ff. den Theatern und weiteren Kultureinrichtungen nicht jenes Schicksal beschieden sein, welches den Theatern der Trizone, der späteren Bundesrepublik, mit dem Tag der Währungsreform 1948 widerfahren war. Hatte sich bis zum 20. Juni 1948 eine ungeheure Zahl von Ensembles (man spricht von 2.800, so viele wie vielleicht nie zuvor in der deutschen Geschichte) eines regen Zuspruch des Publi- kums erfreuen können, ausgehungert wie dieses nach der NS-Abschottung war und mit

which sustain the brain drain towards their political and economic centres. The underlying rule is the Brecht Law of the progressive parallelism between expenditures and population massing; originally part of a lecture held by Arnold Brecht (1884-1977) in Berlin in 1932 to defend Germany against the Allied’s desire for higher reparation payments. It was published in the same year.24 Looking closely at25 at the empirical material Brecht used, one sees immediately that 10 out of the 17 Länder at this time show a similar ratio, i.e. between 40 and 170 people per square kilometre. Only the ‘Red ’ (330), and the City States Lübeck (430), Bremen (1.300), and Hamburg (2,700) are exceptions, which Brecht uses for his rule (actually Bremen and Hamburg have almost the same expenditures per capita, although the concentration level is one to two). Nevertheless, it is exactly this rule – never tested em- pirically – which is nowadays used in Germany for the highly contested German Financial Transfer Mechanism between the 16 Länder and the Bund giving to the City States Berlin, Bremen and Ham- burg a so-called ‘nobilification of inhabitants’ at 135%. Illustration 1: Arnold Brecht 1932: Expendi- tures per head in relation to the Population Concentration in the 14 Deutsche Länder. Black dots: the 14 Länder; straight line: hypothetical regression at a gradient of 0,0797, equivalent to a need of eight Pfennige more per additional inhabitant. Source: Kähler, Jürgen: Das Brecht’sche Gesetz der Staatausgaben. In: Claus-Dieter Krohn / Corinna R. Unger (Hgg.): Arnold Brecht 1884-1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart: 2006, p. 8-106; ill. p. 89. (Zitiert nach: Matthias Theodor Vogt, Katarzyna Plebańczyk, Massimo Squillante, Irena Alperyte (editors): Brain Gain through Culture? Researching the Development of Middle Size Cities in , Lithuania, Italy, Hungary, Germany, and France. Proceedings of the International Study Week Görlitz 2012 and of the Students’ Moot Court at the Landgericht Görlitz. DOI 10.1696/KOL-2012. Görlitz 2012 [online: http://kultur.org/images/brain_gain_2012_130226.pdf]) Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 11 hohem Interesse an geistigen Fragen, so brach dieses Interesse und brach dieser Zuspruch ab, als durch die neue Währung materielle Güter erreichbar wurden und die Gesellschaft sich für das Wirtschaftswunder rüstete. Anders in Sachsen 1990 ff.: die Publikumszählun- gen der Kultureinrichtungen mußten zwar von den toten Seelen der Betriebsbesucher bereinigt und auf einem neuen, nominell und faktisch niedrigeren Niveau stabilisiert wer- den, denn die offenen Grenzen lockten ebenso wie die neuen Medien und Kaufangebote, speziell die Rentner erhielten einen gewissen Nachteilsausgleich durch Doppelverdiener- renten, gleichzeitig erreichten die Arbeitslosenzahlen Rekordwerte. Die kulturelle Infra- struktur an sich aber mit ihren Theatern, Orchestern, Museen, Bibliotheken und Kultur- häusern bzw. bald auch Soziokulturzentren konnte durch die erstmals von der Bundes- ebene gemeinsam mit den Ländern aufgelegten Substanzerhaltungs- und Infrastruktur- programme sowie den kommunalen Anstrengungen getreu dem Gebot aus Art. 35 (2) EV fürs erste in ihren Strukturen konserviert werden. Ein dumpfer Ton, wie von vielen Schritten, hatte am 4. November 1989 in der Dresdner Kreuzkirche die Pausen und leisen Passagen von Frank Martins Kurzoratorium In terra pax überlagert. Zwei Jahre später hatten sich die Hoffnungen der Protestierenden auf ei- nen Rechtsstaat und die Gewährung bürgerlicher Freiheit soweit erfüllt, wie dies einem demokratisch verfaßten Staatswesen gelingen kann. Aber es blieb die Warnung von Ernst- Wolfgang Böckenförde an Freistaat, Gemeinden und Landkreise: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit auf- zugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.14

2.2 Zwecke des SächsKRG I vom 20. Januar 1994 Mit Friedrich Karl von Savigny ist bei der Auslegung eines Gesetzes zunächst nach Sinn und Zweck der Vorschrift zur fragen, der ratio legis. Mit einer auf Carl von Clausewitz15 zurückgehenden Terminologie wäre zu differenzieren zwischen (a) dem Zweck eines Ge- setzes als dessen Auslegungs- und Umsetzungs-Kernprinzip, (b) den Zielen, die zur Er-

14 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. 1976, S. 60. 15 Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Dümmlers Verlag, Berlin, 1832 [Posthum von seiner Witwe herausge- geben]. 12 Matthias Theodor Vogt reichung dieses Zweckes postuliert werden, und (c) den Mitteln, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen. Der Unterzeichnete konzipierte unter dem (hier stellvertretend genannten)16 Eindruck der Aufführung von Frank Martins In terra pax am 4. November 1989 in der Dresdner Kreuzkirche die sächsischen Kulturräume als Instrument jener Freiheit, von der Böcken- förde ausführt: Als freiheitlicher Staat kann er [...] nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern ge- währt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesell- schaft, reguliert. Doch wie kann der freiheitliche Staat die moralische Substanz des Einzelnen und seinen personalen Enkulturationsprozeß17 stärken? Wie kann er Hilfe zur Entwicklung geistiger Freiheit und Verantwortungsbereitschaft so anbieten, daß sie – um nicht in die Autoritäts- falle zu gehen – ebensogut angenommen wie ausgeschlagen werden kann? Mit den Mit- teln der politischen Bildung von Landeszentrale und Schulunterricht sicher nicht in hin- reichendem Umfang. Mit den Mitteln der Künste durchaus: Wenn denn diese die ihnen verfassungsrechtlich zugestandene Freiheit als Verantwortung gegenüber der Gesellschaft auffassen. Wenn es sie denn in einer für den genannten Anspruch hinreichenden Qualität gibt. Wenn sie denn hinreichend über das ganze Territorium verteilt und erreichbar sind. Wenn sie denn ein hinreichendes und nach Alter und Schichtung heterogenes Publikum erreichen. Dann können die Künste als Motoren für die Freiheit des geistigen Lebens wirken und die Ver- pflichtung gegenüber jenen, die im Vorfeld des 9. Novembers 1989 auf die Straße gingen und auch für die Künste Freiheit erreichten, erfüllen. Eine Präambel weisen unserer Kenntnis nach in Sachsen nur die Verfassung, das Sorben- gesetz und das Kulturraumgesetz18 auf. Präambeln bieten den Vorteil, daß aus ihnen die

16 Das Erleben der Dresdner Martin-Aufführung und wenige Tage später das Miterleben der Samtenen Revolution auf dem Wenzelsplatz, eine Musiktheaterregie im Frühjahr 1989 im noch sozialistischen Bulgarien, eine andere im Frühjahr 1990 im prä-postsowjetischen Moskau fügen sich in zahlreiche Be- gegnungen und Gespräche seit 1983 in Brünn, Prag, Ostberlin, seit 1986 kontinuierlich in Sachsen. 17 Matthias Theodor Vogt: Beitrag der Kultur zur Wohlfahrt. Kleine Erläuterung der beiliegenden Ideenskizze. In [2000a] Matthias Theodor Vogt (Hrsg.): Kultur im ländlichen Raum. Das Beispiel Mittelsachsen. Kulturelle Infrastruktur Band VIII. Leipzig, 2000. http://kultur.org/Doi101696/vogt-2000b.pdf 18 In der Überzeugung, dass die Freiheit des geistigen Lebens und die Freiheit der Künste Ausdruck der 1989 friedlich errungenen Freiheit der Bürger Sachsens sind und für die Zukunftsfähigkeit unserer Ge- sellschaft unverzichtbar bleiben, / im Bewusstsein, wie viel Sachsen der gewachsenen Vielfalt und Of- fenheit seiner Regionen verdankt, die in Zeiten des Übergangs einer Sicherung des kommunalen Ge- Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 13 ratio legis, der Anlaß und vor allem der Zweck der Gesetzgebung erkennbar werden. Die Präambel des Kulturraumgesetzes formuliert den Zweck des Gesetzes in ihrem ersten Satz: Satz 1 Präambel SächsKRG vom 20. Januar 1994: In der Überzeugung, dass die Freiheit des geisti- gen Lebens und die Freiheit der Künste Ausdruck der 1989 friedlich errungenen Freiheit der Bür- ger Sachsens sind und für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft unverzichtbar bleiben […] Streng interpretiert, können somit nur jene Aktivitäten aus den Kulturraummitteln von Staat und Kommunen kofinanziert werden, die dem Anspruch auf Mitwirkung bei Frei- heitsverständnis und Mündigkeit der Bürger als Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft gerecht werden. Da die kulturraumgeförderten Sparten in ihrer Summe oft nur 10% der Einwohner erreichen, aber von 100% der Bürger finanziert werden, ist eine ständige Rückkoppelung an diese Zweckbindung essentiell. Es geht nicht um einen Finanzierungsautomatismus für teure Institutionen, sondern um „geistiges Leben“ (SächsKRG), um der „moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Ge- sellschaft“ (Böckenförde) willen. Als zweite Zwecksetzung des SächsKRG führt die Präambel aus: im Bewusstsein, wie viel Sachsen der gewachsenen Vielfalt und Offenheit seiner Regionen ver- dankt, die in Zeiten des Übergangs einer Sicherung des kommunalen Gestaltungsspielraums bedür- fen, […] Dies ist unserer Kenntnis nach der einzige Gesetzestext Sachsens, der sich ganz bewußt gegen den historischen Irrtum der Christaller-Brecht-Logik und damit gegen den für die sächsischen Landesplanung zentralen Parameter einer ‚Einwohnerveredelung’ stellt. Es gilt, den kommunalen Gestaltungsspielraum auch dort zu sichern, wo keine Skalenerträge durch Einwohnermassierung auftreten, sondern es gilt im Gegenteil mit ins rechnerische Kalkül zu nehmen, daß weite Wege oder lange Rohrlängen die Sicherung des kommuna- len Grundauftrags, nämlich die Daseinsvorsorge für alle Bürger, eher erschweren und Skalenverluste durch geringe Einwohnerzahlen auftreten. „Im Sport (ursprünglich beim Pferderennen) nennen wir ein ‚(positives) Handicap’ eine Vor-Gabe für den leistungs- schwächeren Spieler, um ihm gegenüber dem stärkeren einen Ausgleich zu verschaffen

staltungsspielraums bedürfen, / in der Erkenntnis, dass nach Abschluss der Übergangsfinanzierung Kultur gemäß Artikel 35 Einigungsvertrag eine ergänzende Förderung kommunaler kultureller Einrich- tungen und Maßnahmen auf landesgesetzlicher Grundlage zur Herstellung neuer, finanzierbarer Orga- nisations- und Leistungsstrukturen unverzichtbar ist, / in der Erwartung, dass die Kulturräume bür- gernahe, effiziente und wandlungsfähige Strukturen schaffen, // beschließt der Landtag, ausgehend von den Artikeln 1 und 11 der Sächsischen Verfassung, das nachstehende Gesetz über die Kulturräu- me in Sachsen (Sächsisches Kulturraumgesetz – SächsKRG). 14 Matthias Theodor Vogt und so einen gerechteren Spielverlauf herzustellen.“19 In der Sprache des Sports ließe sich das Kulturraumgesetz als (positives) Handicap zugunsten der gewachsenen Regionen Sachsens vom Vogtland bis in die Oberlausitz beschreiben, finanzwirtschaftlich als Aus- gleich unfairer Ausgangsbedingungen. Streng interpretiert, muß die Differenz der Ausgangsbedingungen der urbanen und der ländlichen Kulturräume 1994 herangezogen werden, um für 2014 erkennen zu können, ob die Praxis der Kulturraumförderung der unterschiedlichen Entwicklung im metropoli- tanen bzw. dem sog. Ländlichen Raum hinreichend Rechnung getragen und das ‚Handi- cap’ des letzteren entsprechend verändert hat. Offenheit ist dabei kein allzu unbestimmter Rechtsbegriff. Im Kontext der Präambel des SächsKRG meint dies einerseits geistige Offenheit (vgl. oben Zweck I), andererseits meint dies in einem quasi ausländerfreien Raum wie Sachsen die praktische Offenheit für andere Lebenszielvorstellungen als die der Bevölkerungsmehrheiten. Nach der Zwecksetzung auf der Primärebene führt die Präambel des SächsKRG zur Ziel- stellung auf der Sekundärebene aus: in der Erkenntnis, dass nach Abschluss der Übergangsfinanzierung Kultur gemäß Artikel 35 Eini- gungsvertrag eine ergänzende Förderung kommunaler kultureller Einrichtungen und Maßnahmen auf landesgesetzlicher Grundlage zur Herstellung neuer, finanzierbarer Organisations- und Leis- tungsstrukturen unverzichtbar ist, […] Der Terminus „kommunal“ ist nicht identisch mit kommunaler Trägerschaft. Er schließt zwar ‚nach oben’ staatliche oder gar zwischenstaatliche Einrichtungen aus, bezieht aber ‚nach unten’ auch Einrichtungen oder Vorhaben in gemischt gemeindlich-bürgerlicher oder in rein bürgerlicher Trägerschaft ein. Ziel des Gesetzes ist eine Veränderung hinweg von den planzentralistisch organisierten Kultur-VEBs der DDR-Periode bzw. (vgl. die Intendanzstrukturen der Theater) der NS-Periode hin zu einer Verantwortungsübernah- me durch die nun wieder autonomen Gemeinden und Gemeindeverbände in Vertretung ihrer Bürger oder, idealerweise, durch letztere unmittelbar. Hintergrund war damals und ist weiterhin der auf die alte Bundesrepublik gemünzte kritische Hinweis von Gerhard Schulze, daß Selbsterhaltung eine häufige Handlungsmaxime der Kulturpolitik sei,20 Eine solche sollte nicht unbesehen importiert werden.

19 Ulf Großmann, Michael Kretschmer MdB, Bernd Lange: Geleitwort. In: Matthias Theodor Vogt und Olaf Zimmermann (Hrsg.): Verödung? Kulturpolitische Gegenstrategien. Beiträge zur Tagung 22./23. No- vember 2013 in Görlitz. Edition kulturelle Infrastruktur, Görlitz und Berlin 2013. S: 5. 20 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main 1992 Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 15

Streng interpretiert, müßte im Verlauf von zwanzig Jahren Kulturraumgesetz ein Beloh- nungsmechanismus für Veränderungen in der geschilderten Richtung aufgebaut worden sein und ein Sanktionsmechanismus für Behörden und andere Subjekte, die sich einer Veränderung zur „Herstellung neuer, finanzierbarer Organisations- und Leistungsstruktu- ren“ entgegengestellt bzw. Beharrungskräfte unterstützt haben. Als ‚weitere’ Zielsetzung des SächsKRG wiederholt die Präambel in etwas anderen Wor- ten (wenn wir uns an die unterschiedlichen Autoren recht entsinnen, sind dies die Worte von Ministerialrat Rengshausen) die erstere. Zunächst wurde die Unverzichtbarkeit postu- liert, nun soll der Wandlungs-Auftrag an die Kulturräume noch deutlicher gemacht wer- den: in der Erwartung, dass die Kulturräume bürgernahe, effiziente und wandlungsfähige Strukturen schaffen […] Streng interpretiert, müßte der Terminus ‚bürgernah’ vor dem Hintergrund massiver de- mographischer und digitaler Transformation intensiv durchdacht werden. Nahe an wem? ist zu fragen, beispielsweise mit Blick auf die aus den ländlichen Gebieten Sachsens mas- siv weggezogenen und weiterhin wegziehenden Gebildeten unter den jungen Frauen oder mit Blick auf die Demenzproblematik unter den Älteren, auch hier besonders den Frauen. Erst dann läßt sich klären, ob die Einrichtungen effektiv / effizient arbeiten (im bekann- ten Bild des Spiegels über den Unterschied der beiden Begriff: „Eine Flasche Champag- ner auf eine umgestürzte Kerze zu gießen, ist effektiv, denn das Feuer ist danach gelöscht. Effizient ist es hingegen nicht, denn ein Glas Wasser hätte es auch getan.“21). Der Cham- pagner-Vorwurf gehört zu den Konstanten deutscher Kulturpolitik, erinnert sei nur an die Haltung von Max Fuchs zur Gattung Oper, also der kostenintensivsten unter den sächsi- schen Kultursparten. Auch solche Vorwürfe müssen überzeugend ausgeräumt werden, um mit Blick auf die nächsten zwanzig Jahre das Kulturraumgesetz wirkungsfest gestalten zu können. Zweck des Kulturraumgesetzes ist die Bewahrung und Entfaltung des Freiheitsbewußt- seins der sächsischen Bürger durch die Künste in sämtlichen Landesteilen, auch und gera- de in seinen nicht-metropolitanen Regionen. Ziel des Kulturraumgesetzes ist die Heran- bildung von Strukturen, die dies ermöglichen.

21 http://www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch/zwiebelfisch-abc-effektiv-effizient-a-311601.html 16 Matthias Theodor Vogt

2.3 SächsKRG I (1994) und II (2008) Die sächsischen Kulturräume verdanken ihre Entstehung einem Problem des Theater- und Orchesterbereichs. Innerhalb des wiedererrichteten Freistaates Sachsen zählte er rund 6.000 Stellen, erheblich mehr als in den westdeutschen Flächenländern üblich. Der Unterzeichnete vereinbarte im Spätwinter 1991/92 mit dem Sächsischen Staatsminis- ter für Wissenschaft und Kunst, Prof. Dr. , und seinem Abteilungs- leiter Kunst, Dr. Reiner Zimmermann, die Einsetzung einer Kommission aus Theater- und Orchesterexperten gemeinsam durch Staatsministerium, Städtetag, Landkreistag und Landesverband Sachsen im Deutschen Bühnenverein, als deren gewählter Sprecher und berufener Geschäftsführer der Unterzeichnete dann fungierte. Die Expertenrunde nannte sich Naumann-Kommission und analysierte die quantitative und qualitative Situation des sächsischen Theater- und Orchesterbereichs. Dabei wurde die Diskrepanz zwischen dem geringen Trägerradius der Einrichtungen und ihrem meist viel größeren Nutzerradius deutlich.22 Gleichzeitig wurde deutlich, daß eine Lösung nur für den Theater- und Or- chesterbereich nicht durchsetzungsfähig gewesen wäre; ein Gesetz über ‚Theaterräume‘ konnte es nicht geben. Vielmehr mußte im Ausgleich für die erstmals im Erzgebirge im September 1992 diskutierte Mitfinanzierung bei den Theatern ein Mitfinanzierungssystem auch bei den Museen, Bibliotheken etc. geschaffen werden. Parallel zu den Arbeiten der Naumann-Kommission berief der Unterzeichnete daher zum 5. November 1992 eine Interparlamentarische Arbeitsgruppe Kulturräume in Sachsen unter Schirmherrschaft des Landtagspräsidenten Dr. Erich Iltgen ein, die so weit wie möglich alle Ebenen, alle parteipolitischen Richtungen und alle Regionen Sachsens umfaßte. Am 10. Dezember 1992 stellten Naumannkommission und Arbeitsgruppe der Öffentlichkeit erstmals das Konzept der sächsischen Kulturräume vor. Ein Jahr später, am 17. Dezem- ber 1993 wurde das SächsKRG vom Sächsischen Landtag in dritter Lesung in Gesetzes- form verabschiedet und am 20. Januar 1994 veröffentlicht. Es trat formal zum 1. August 1994 in Kraft, faktisch wurde die Förderung erst am 30. Juni 1995 rückwirkend für das Gesamtjahr 1995 wirksam. Materialien zur Genese des Gesetzes finden sich bei: Vogt, Matthias Theodor (Hrsg.): Kulturräume in Sachsen, eine Dokumentation. Mit einer photo- graphischen Annäherung von Bertram Kober und dem Rechtsgutachten von Fritz Ossenbühl. Her- ausgeber. Kulturelle Infrastruktur Band I, Universitätsverlag Leipzig, 1. Aufl. 1994, 2. erw. Aufl. 1996, 3. Aufl. 1997.

22 Vogt, Matthias Theodor: Makroperspektivische Überlegungen zu Neuordnung der sächsischen Theater- und Orches- terlandschaft. Nemi 1992. [Sonderdruck, 93 S.]. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 17

Die aktuelle Fassung des Gesetzes findet sich unter http://www.revosax.sachsen.de/GetXHTML.do?sid=2892412183272 Seit 1994 wurde das Gesetz mehrfach überarbeitet, Insbesondere wurde es im Zusam- menhang der Kreisgebietsreform zum 1. August 2008 im Schnitt der Kulturräume radikal verändert, entfristet sowie um die Musikschulförderung und eine gewisse Mehrausstat- tung ergänzt, so daß man von einem SächsKRG II sprechen könnte. SächsKRG I 1994 ff. 0. Vorfassungen (insgesamt 19) 1. Gesetz über die Kulturräume in Sachsen (Sächsisches Kulturraumgesetz – SächsKRG) vom 20. Januar 1994 (SächsGVBl. S. 175), am 1. August 1994 in Kraft getreten [Stammfassung, auf zehn Jahre befristet] 2. Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Kulturräume in Sachsen (1. SächsKRGÄndG) vom 24. Mai 1994 (SächsGVBl. S. 1016), am 1. August 1994 in Kraft getreten 3. Artikel 14 des Gesetzes vom 6. September 1995 (SächsGVBl. S. 281, 284), am 1. Januar 1996 in Kraft getreten 4. Artikel 9 des Gesetzes vom 6. September 1995 (SächsGVBl. S. 285, 286), am 1. Januar 1996 in Kraft getreten 5. Artikel 1 des Gesetzes vom 12. Dezember 1996 (SächsGVBl. S. 537), am 1. Januar 1997 i.K.g. 6. Artikel 12 des Gesetzes vom 14. Dezember 2000 (SächsGVBl. S. 513, 516), am 1. Januar 2001 in Kraft getreten 7. Artikel 29 des Gesetzes vom 28. Juni 2001 (SächsGVBl. S. 426, 429), am 1. Januar 2002 i.K.g. 8. Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Kulturräume in Sachsen (2. Sächs KRGÄndG) vom 13. Dezember 2002 (SächsGVBl. S. 353), am 31. Dezember 2002 in Kraft ge- treten [Verlängerung der Befristung bis zum 31. Dezember 2007] 9. Artikel 10 des Gesetzes vom 7. November 2007 (SächsGVBl. S. 478, 484), am 25. November 2007 in Kraft getreten 10. Drittes Gesetz zur Änderung des Sächsischen Kulturraumgesetzes (3. SächsKRGÄndG) vom 7. November 2007 (SächsGVBl. S. 494), am 25. November 2007 in Kraft getreten [Verlängerung der Befristung bis zum 31. Dezember 2011] SächsKRG II 2008 ff. 11. Gesetz zur Neuordnung der Kulturräume im Freistaat Sachsen vom 20. Juni 2008 (SächsGVBl. S. 371), am 1. August 2008 in Kraft getreten [Entfristung, Neugliederung, Integration Musikschulen, Erhöhung auf 86,7 Mio. EUR, Möglich- keit des Beitritts zum Kulturraum für kreisangehörige Oberzentren sowie die Städte des Ober- zentralen Städteverbundes] 12. Art. 35 Abs. 1Gesetz begleitende Regelungen zum Doppelhaushalt 2011/2012 (Haushaltsbegleit- gesetz 2011/2012) vom 15. Dezember 2010 (SächsGVBl. S. 387, 398), am 1. Januar 2011 in Kraft getreten [Integration Landesbühnen] 18 Matthias Theodor Vogt

Das SächsKRG ist bis heute ein bundes- und europaweites Unikat in der Frage einer Fi- nanzgerechtigkeit für regional bedeutsame Kultureinrichtungen und –vorhaben auf strikt kommunaler Entscheidungsgrundlage. Im Schlußbericht der Enquete-Kommission „Kul- tur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages vom 11.12.2007 heißt es auf S. 142 unter (C) Handlungsempfehlungen: „Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, Kul- turräume zu schaffen, um die Lasten der Kulturfinanzierung zwischen städtischen Zen- tren und ländlichen Umlandgemeinden gerecht zu verteilen und Synergieeffekte zu erzie- len." Beim nicht aufmerksamen Leser könnte allerdings ein Mißverstehen auftreten: das Zitat beschreibt zutreffend den Ausgleich zwischen den Mittelstädten und ihrem klein- städtischen und ländlichen Umfeld. Ein Ausgleich zwischen den Metropolagglomeratio- nen Chemnitz, Leipzig und Dresden mit ihrem jeweiligen Umfeld war und ist jedoch nicht Gegenstand des Gesetzes. § 9 SächsKRG II (2008 ff.) sieht eine regelmäßige Evaluation der Kulturräume in Sachsen im Abstand von sieben Jahren vor; die erste sei bis 31.12.2015 dem Landtag durch die Staatsregierung vorzulegen. Die Festlegung zielt auf eine Handlungsgrundlage für den Sächsischen Landtag mit Blick auf eine Überarbeitung des SächsKRG II oder gegebenen- falls auch auf ein grundhaft neu durchdachtes SächsKRG III unter den künftig aktuellen Rahmenbedingungen der Kultur von regionaler Bedeutung in Sachsen. Beides könnte beispielsweise zum 1. Januar 2017 für den dann anstehenden Doppelhaushalt in Kraft treten. Aufgabe der Evaluation ist es, für die langfristige Gestaltung der sächsischen Kul- turpolitik Handlungsalternativen samt Effekten und Kollateraleffekten durch die Ausfor- mulierung von hypothetischen Szenarien für die Zukunft des SächsKRG zu prüfen.

2.4 Eine inter-kommunale Gemeinschaftsleistung Die strikt subsidiär Förderstruktur für die kommunalen Kultureinrichtungen von regiona- ler Bedeutung sah im SächsKRG I schematisch wie im folgenden Bild aus und hat sich wesentlich auch im SächsKRG II erhalten. Subsidiär bedeutet, daß sich zuerst der ‚Klei- nere’ für eine Förderung in zureichender Höhe entscheiden muß, erst dann kann der ‚Größere’ „helfend“ [subsidium] eingreifen. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 19

Abb. 1: Förderstruktur des SächsKRG. Quelle: Eigene Darstellung M. Vogt.

Von unten her gelesen (mit circa-Werten des Finanzbedarfes): 10% Kleiner Würfel: Eigenanteil der betreffenden Einrichtung; 30% Großer Würfel I: Eigenleistung des Trägers; 30% Großer Würfel II: Zuwendung des Kulturraums aus der Kulturumlage unter den- jenigen Landkreisen, die Mitglieder des betreffenden Kulturraums sind, [nach § 6 Abs. 3 SächsKRG i. d. F. d. Bek. vom 18.08.2008 (Sächsischer Kulturlastenaus- gleich II oder regionaler Kulturlastenausgleich) kann dieser Würfel jetzt halb so groß ausfallen wie der folgende] 30% Großer Würfel III: Zuweisungen aus dem Sächsischen Kulturlastenausgleich I oder inter-regionaler Kulturlastenausgleich nach § 6 Abs. 2SächsKRG i. d. F. d. Bek. vom 18.08.2008. 23

23 § 6 Sächsischer Kulturlastenausgleich SächsKRG i. d. F. d. Bek. vom 18.08.2008. (1) Es wird ein Kulturlastenausgleich vorgenommen. (2) Der Freistaat Sachsen stellt den Kulturräumen zur Förderung der Kulturpflege Zuweisungen in vierteljährlichen Raten nach Maßgabe des jährlichen Staatshaushaltsplanes sowie nach Maßgabe des Gesetzes über den Finanzausgleich mit den Gemeinden und Landkreisen im Freistaat Sachsen (Fi- nanzausgleichsgesetz – FAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Januar 2007 (SächsGVBl. S. 1), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 20. Juni 2008 (SächsGVBl. S. 371, 373), in der jeweils geltenden Fassung, mindestens jedoch 86 700 000 EUR zur Verfügung. Bundeszuschüsse und sonstige Beiträge Dritter bleiben davon unberührt. (3) Durch die Erhebung einer Kulturumlage werden in den ländlichen Kulturräumen die Mitglieder des Kulturraumes an den Lasten der kulturellen Aktivitäten von regionaler Bedeutung angemessen beteiligt. Der Beschluss des Kulturkonventes über die Festsetzung der Kulturumlage nach § 27 FAG in der jeweils geltenden Fassung bedarf der Genehmigung der Rechtsaufsichtsbehörde. (4) Bis zu 2 Prozent der Mittel nach Absatz 2 erhalten die Kulturräume unter Berücksichtigung der Höhe ihres zeitlich beschränkten besonderen Finanzbedarfs für Strukturmaßnahmen einschließlich damit verbundener Personalmaßnahmen und gutachterlicher Untersuchungen sowie für Maßnahmen überregionaler Bedeutung oder zur Verbesserung der Leistungs- und Infrastruktur. Die Zuweisung der übrigen Mittel darf bei den einzelnen Kulturräumen 30 Prozent der Summe der Ausgaben oder 20 Matthias Theodor Vogt

Letzterer nun hat zwei Quellen: (1) Zuweisungen genuiner Staatsmittel aus dem Staats- haushaltsplan (ursprünglich 90 von 150 Mio DM, entsprechend 60% des Sächsischen Kulturlastenausgleich II); sowie (2) ein Vorwegabzug in Höhe von 1% aus der Gesamt- mittel aller Anteile der sächsischen Kommunen aus Steuermitteln, Bundesmitteln, Lan- desmitteln etc., die im Rahmen des Finanzausgleiches des Freistaates mit den Gemeinden und Gemeindeverbände an diese jährlich verausgabt werden (ursprünglich 1% der Ge- samtsumme des FAG entsprechend 60 Mio DM oder 40% des Sächsischen Kulturlasten- ausgleich II; nach der nominellen [aber nicht mehr faktischen] Erhöhung der Landesmit- tel von 46 auf 56 Mio EUR entsprechen die 30 Mio EUR Kommunalmittel einem Anteil von 35%). Im Rahmen dieser wie gesagt schematischen Darstellung ergeben sich für die ursprüngli- che Fassung des SächsKRG folgende Circa-Verteilungen: 10% Eigeneinnahmen aus Ticketverkauf, Spenden, Sponsoring durch Bevölkerung und Unternehmen; 82% Interkommunales Zusammenwirken von (a) Rechtsträger, in der Regel die Sitzge- meinde, (b) den im Kulturraum zusammenarbeitenden Landkreisen, (c) der Ge- meinschaft der sächsischen Kommunen, die sich im Zusammenwirken von Land- kreistag und Städte- und Gemeindetag für den Vorwegabzug von 1% aus dem FAG zugunsten der Kultur entschieden haben; [jetzt faktisch etwa 80%] 18% Zuweisungen aus genuinen Staatsmitteln [jetzt nominell 23%, faktisch etwas über 20%]. In der tatsächlichen Gesamtbilanz für das erste Förderjahr 1995 betrug die Summe aller Einzelhaushalte der regional bedeutsamen und über das SächsKRG geförderten Einrich- tungen 610 Mio DM. Der reale Anteil des Freistaates aus Landes-Eigenmitteln betrug 90 Mio DM entsprechend knapp 15% (genau 14,75%). Dies ist eine entscheidende Zahl, da sie auch im Ländermaßstab durchaus gering ausfällt. Sie zeigt, daß das SächsKRG im we- sentlich eine inter-kommunale Gemeinschaftsleistung darstellt, in der dem Freistaat ledig- lich die Aufgabe eines subsidiär unterstützenden Nebenagenten zufällt.

der finanzwirksamen Aufwendungen aller vom Kulturraum geförderten Einrichtungen und Maß- nahmen nicht übersteigen und sie darf bei den ländlichen Kulturräumen nicht höher sein als das Zweifache der Kulturumlage. Übersteigen die nach Absatz 2 bereitgestellten Mittel die Zuweisungen nach Satz 1 und 2, können mehr als 2 Prozent der Mittel nach Satz 1 vergeben werden. Das Nähere über die Zuweisungen regelt das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst im Einvernehmen mit dem Staatsministerium der Finanzen in einer Rechtsverordnung, insbesondere das Verfahren, den Verteilungsschlüssel und die Kriterien, nach denen Ausgaben oder finanzwirksame Aufwendun- gen der zu fördernden Einrichtungen und Maßnahmen berücksichtigt werden Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 21

Die große Besonderheit ist der inter-kommunale Lastenausgleich durch den Vorwegabzug aus dem Finanzausgleich in Höhe von knapp 10% (genau 9,84%) der Gesamtmittel der Einrichtungen. Er bedeutet, daß jede einzelne sächsische Gemeinde bis hinauf zum Kamm des Erzgebirges auf 1% der ihr nach Art. 28 GG bzw. Art. 82 SächsV zustehen- den Mittel verzichtet, um beispielsweise das Gewandhausorchester mit knapp 100.000 EUR zu unterstützen. In Zahlen von 1995 (umgerechnet in EUR): 17.088.243,87 € Kosten Gewandhausorchester 1995 umgerechnet in EUR (ohne Opernabgeltung 4,7 Mio EUR) 312.070.290,36 € Gesamtaufwand kommunale Kultur Sachsen 5,4758 % Anteil Kosten Gewandhaus an der kommunalen Kultur Sachsens 9,8361 % Anteil des interkommunalen Vorwegabzugs aus dem FAG am Gesamtaufwand 0,5386 % umgerechnet auf das Gewandhausorchester 92.037,30 € Zuwendung aller sächsischen Gemeinden an das Gewandhaus

Umgekehrt verzichtet die Stadt Leipzig auf 1% ihrer FAG-Mittel, um das Eduard-von- Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz mit immerhin 1.000 EUR zu unterstützen. 4.601.626,93 € Aufwand Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz 1995 umgerechnet in EUR 312.070.290,36 € Gesamtaufwand kommunale Kultur Sachsen 1,4745% Anteil EvW-Theater an der kommunalen Kultur Sachsens 9,8361% Anteil des interkommunalen Vorwegabzugs aus dem FAG am Gesamtaufwand 0,1450% umgerechnet auf das EvW-Theater 6.674,09 € Zuwendung aller sächsischen Gemeinden an das an das EvW-Theater 14,5000% Anteil Leipzig am FAG 967,74 € Zuwendung der Stadt Leipzig an das EvW-Theater

Es gibt kein zweites Beispiel in Europa für eine derartige Solidarleisung aller Gemeinden und Gemeindeverbände eines Landes zugunsten ihrer Kultur. Im ersten Förderjahr 1995 betrug der Anteil der verschiedenen kommunalen Ebenen rund 500 Mio DM bzw. 82%. Dadurch, daß entsprechend der Empfehlung von Fritz Os- senbühl die Lasten auf möglichst viele Schultern verteilt wurden – (a) Rechtsträger plus Sitzgemeinde, sofern nicht bereits identisch; (b) Verbund der regionalen Landkreise im Kulturraum mit ihrer Kulturumlage; (c) Verbund aller Gemeinden und Gemeindeverbän- de im FAG – wurde die Schulterung dieser Lasten möglich. Die Verteilung der Kosten der kommunalen Kultur zwischen den urbanen Kulturräumen Chemnitz, Leipzig, Dresden mit 1/3 der sächsischen Einwohnern einerseits und den da- 22 Matthias Theodor Vogt mals acht ländlichen Kulturräumen mit 2/3 der sächsischen Einwohnern andererseits war 60% zu 40% (362 Mio DM zu 248 Mio DM). Dies mag auf den ersten Blick wie eine Un- gleichbehandlung aussehen – auf jeden Metropoleinwohner entfiel das Vierfache des An- teils eines Bürgers im nicht-metropolitanen Raum. Der Aufwand für Kommunalkultur betrug in Gesamtsachsen pro Kopf 1995 umgerechnet 67 EUR pro Kopf, in den ländli- chen Kulturräumen 38 EUR und in den urbanen Kulturräumen 148 EUR (dies sind 393% des Prokopfbetrages in den ländlichen Kulturräumen). Einwohner Aufwand Kommunalkultur pro Kopf Urban zu (umgerechnet in EUR) Ländlich Gesamtsachsen 4.606.805 100,00% 312.070.290,36€ 100,00% 67,74€ 100,00% Urbane KR 1.248.644 27,10% 185.244.539,66€ 59,36% 148,36€ 219,01% 393% Ländliche KR 3.358.161 72,90% 126.825.750,70€ 40,64% 37,77€ 55,75%

Hier ist aber zu berücksichtigen, daß dies keine von Politik oder Verwaltung aus der Luft gegriffene Größe war. Die Position „Aufwand Kommunalkultur“ bildet die tatsächlichen Kosten ab von Einrichtungen. Fast die Hälfte der sächsischen Theatereinrichtungen ha- ben sich einer mehr als zweihundertjährigen (!) Tradition herausgebildet (bei den beiden Kommunalchören handelt es sich um eine achthundertjährige Tradition). Das Verhältnis ist also eine reales, mit der die Politik adäquat umzugehen hat. Vielmehr läßt sich umge- kehrt sagen, daß die 2/3 der sächsischen Einwohner gewissermaßen im Windschatten von Gewandhaus und anderen Metropoleinrichtungen im Rahmen des SächsKRG die Chance erhielten, die von ihnen ebenfalls über viele Jahrhunderte entwickelten Kulturein- richtungen ebenfalls hinüberzuretten in die völlig neuartig strukturierte Rechtsepoche nach der Wiedervereinigung. Insofern sind die 40% für den anteiligen Kulturaufwand in den ländlichen Kulturräumen keine Schlechterbehandlung der Bürger außerhalb der Met- ropolen, sondern ein sensationelles Ergebnis gemessen an der (fehlenden) Dichte der kul- turellen Infrastruktur im ländlichen Raum der alten Bundesrepublik. Der reale Kulturaufwand war also der Ausgangspunkt bei den Fördermechanismen des SächsKRG I. Hierbei ist entscheidend, daß der Gesamtaufwand erfaßt und zugrundege- legt wurde, heißt es doch in der Präambel des SächsKRG, daß die Kulturräume bürgerna- he und effiziente Strukturen schaffen sollen. Indem der Gesamtaufwand abgebildet wur- de, also die Gesamtheit aller Mittel, mit denen die betreffende Einrichtung dann an die Bürger herantreten können, wurde ein Mechanismus geschaffen, der Erfolge der Einrich- tungen am Kassenhäuschen, bei Freundeskreisen und Sponsoren positiv belohnt und zwar bezogen nicht auf die Einzeleinrichtungen, sondern auf die Gesamtanstrengung ei- nes Kulturraums. Beispielsweise spielte 1995 der Frohnauer Hammer im Erzgebirge Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 23

341.000 DM von seinem Gesamtaufwand von 446.000 DM selbständig ein, es verblieb ein Restbetrag an Zuschuß von 108.000 DM oder 24%. Hätte sich Sachsens Kulturpolitik nur an diesem Restbetrag orientiert und hiervon einen gewissen Anteil über den Kultur- lastenausgleich übernommen, wären die Eigenanstrengungen des Frohnauer Hammers bestraft worden. Indem nun aber ministeriumsseitig eine vollständige Erfassung des Auf- wands aller Einrichtungen und Projekte von regionaler Bedeutung vorgenommen wurde und der aggregierte Aufwand für den Kulturraum als Zuweisungsgrundlage genutzt wur- de, hatte der Kulturraum Mittel, um das nahegelegene Adam-Ries-Museum in Annaberg- Buchholz mit einem Eigenerwirtschaftungsgrad von nur 14,8%, aber mit einer unfraglich höheren kulturgeschichtlichen Bedeutung zu unterstützen. Sparsamkeit, Bürgernähe, Effi- zienz wurden erfaßt und belohnt. Aus diesem Grund wird in § 6 Abs. 4 S. 2 der Fassung des SächsKRG [II] i. d. F. d. Bek. vom 18.08.2008 vom zuständigen Ministerium explizit eine Vollkostenstatistik gefordert – zu erfassen ist die „Summe der Ausgaben oder der finanzwirksamen Aufwendungen aller vom Kulturraum geförderten Einrichtungen und Maßnahmen“. Es genügt also nicht, die Kommunalausgaben zu aggregieren, wie dies das Statistische Landesamt tut. Vielmehr sind die Kosten, die letztlich den Bürgern Kultur ermöglichen, in ihrer Gesamtheit an der Quelle zu erfassen. (In der untenstehenden Formel erscheint der Gesamtaufwand des

Kulturraums Zwickau als gk im Verhältnis zum Gesamtaufwand G aller sächsischen Kommunen, also 33 Mio zu 598 Mio). Der zweite Parameter für die Zuwendung an die Kulturräume im Interregionalen Kultur- lastenausgleich war die Einwohnerstärke, wie sie für das FAG Jahr für Jahr durch das Sta- tistische Landesamt zusammengetragen war. Wer mehr Bürger hat, braucht auch mehr Mittel für sie. (In der untenstehenden Formel erscheint die Einwohnerzahl des Kultur- raums Zwickau als ek im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl E aller sächsischen Kom- munen, also 0,4 Mio zu 4,6 Mio). Der dritte Parameter nun ist ebenfalls entscheidend: der relative Reichtum bzw. im Fall vieler Landkreise deren relative Armut ist zwingend als Verteilungsgrundlage zu berück- sichtigen. Wer arm ist, dessen Anstrengungen sind wie das Scherflein der Witwe im Mat- thäus-Evangelium von besonderem Wert und verdienen besondere Anerkennung. (In der untenstehenden Formel erscheinen die sog. Umlagegrundlagen des Kulturraums Zwickau als uk im Verhältnis zur Gesamtumlagenzahl U aller sächsischen Kommunen, also 0,5 Mrd. zu 9,4 Mrd. Zähler). Der vierte Parameter schließlich berücksichtig, daß es neben den Kommunen einen wei- teren wesentlichen Akteur der Kulturpolitik gibt, den Freistaat Sachsen mit seinen Staatli- 24 Matthias Theodor Vogt chen Kunstsammlungen, seinen Staatstheatern etc. sowie den Bund mit immerhin dem einen Militärgeschichtlichen Museum. Deren Aufwand wurde unter dem Rubrum „Zent- rale Einrichtungen“ ebenfalls erfaßt. Da es für die Dresdner Bürger auf das Theatererleb- nis ankommt und die Frage der Trägerschaft für sie irrelevant ist, hat die Stadt Dresden einen uneinholbaren Vorteil gegenüber allen anderen sächsischen Kommunen: als Rechts- träger von Staatskapelle, Staatsoper, Staatsschauspiel übernimmt der Freistaat die Lasten dieser Einrichtungen unmittelbar, die Kommune braucht nur noch ergänzend mit Phil- harmonie, Staatsoperette (die tatsächlich so heißt, obwohl sie kommunal getragen ist) und Theater der Jungen Generation zu wirken. Dadurch hat sie Mittel frei, um auch das bür- gerliche Societätstheater oder das Derevo-Theater dauerhaft zu unterstützen. Um ein ge- rechtes Verhältnis herzustellen, wurde die Hälfte des staatlichen Gesamtaufwands Kultur dem kommunalen Gesamtaufwand Kultur gegenübergestellt, mindestens 25% des kom- munalen Aufwands bleiben aber stehen. (In der untenstehenden Formel erscheinen die von den Bürgern des Kulturraums Zwickau nutzbaren zentralen Angebote als nk mit Null). Was aber, wenn einzelne Kulturräume (1995 war dies im Vogtland der Fall) sich nicht an die Vorgabe hielten, daß die Zuweisung aus Dresden nicht größer ausfallen dürfe als die im Kulturraum von den Land- und Stadtkreisen erhobene Umlage. In diesem Fall wurde gekappt und die freiwerdenden Mittel auf die restlichen Kulturräume adäquat verteilt. Die bereits angesprochene Formel wurde aus der Not geboren. Nach der Verabschiedung am 17. Dezember 1993 hatte das Staatsministerium über ein halbes Jahr Zeit, eine Rechtsverordnung und Fördervorschriften für die praktische Umsetzung des Gesetzes zu entwickeln und per Kabinettsbeschluß ins Amtsblatt zu bringen. Alleine: bis zum Inkraft- treten des Gesetzes am 1. August 1994 war nichts geschehen. Auch nicht bis Jahresende. Auch nicht bis April 1995. Da platzte den Kulturräumen der Kragen und Glauchau berei- tete eine Verfassungsklage vor. Daraufhin wurde der Unterzeichnete wieder ins Ministeri- um zurückgeholt. Er stellte die erwähnte Vollkostenstatistik zusammen und erarbeitete gemeinsam mit einer ganzen Runde von Juristen die Verwaltungsvorschriften. Pünktlich zum 30. Juni 1995 war alles fertig und wurde der Unterzeichnete gebeten, die Zuwen- dungsbescheide über zusammen 150 Mio DM zu unterfertigen (was etwas kurios war, da er formal gesehen keine Zeichnungsbefugnis hatte). Für die bereits angesprochen Formel

Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 25

schrieb der Unterzeichnete ein kleines Computerprogramm. Dies war insofern ein revolu- tionärer Akt, als im Prinzip sämtliche Parameter objektiv erfaßbar waren und die Maschi- ne selbsttätig den Zuwendungsbetrag ausrechnete. Einwohner und Umlagegrundlagen waren die gleichen wie im FAG. Für die zentralen Einrichtungen des Landes Sachsens und des Bundes lagen Haushaltspläne vor. Nicht objektiv gelöst werden konnte aber die Frage, welche kommunalen Einrichtungen denn „regionale Bedeutung“ aufwiesen und welche nicht. Hier nun ist der entscheidende Punkt, warum im SächsKRG dem Staatsministerium eine aus der Rechtsaufsicht resultie- rende Gesamtverantwortung zugewiesen ist. Ähnlich wie das Sozialministerium nicht Träger der diversen privaten und kommunalen oder kirchlichen Krankenhäuser ist, aber 26 Matthias Theodor Vogt im Rahmen seiner Gesamtverantwortung eine Gesamtplanung erstellt und laufend fort- schreibt, müssen auch bei den Kulturräumen aus einer nicht sich selbst begünstigenden Position heraus nur vergleichbare Einrichtungen in den Katalog mitaufgenommen wer- den. Ansonsten würde sich, wenn ein Kulturraum so viel Einrichtungen von nur lokaler Bedeutung anführt, wie er nur kann, eine Schieflage zu demjenigen Kulturraum ergeben, der nur die herausragenden Einrichtungen und Projekte anführt. Diese Gesamtverantwor- tung ist nur durch eine laufende Begleitung vor Ort zu erreichen, die Summe der Einzel- fallentscheidungen ist gegenüber Landkreistag und Städtetag bzw. den Kulturräumen ob- jektiv nachvollziehbar darzulegen. Mit 80% des Aufwandes ist das System der Kulturraumförderung tatsächlich als inter- kommunale Gemeinschaftsleistung der sächsischen Gemeinden und Gemeindeverbände anzusprechen. Die Ebene des Freistaates bleibt jedoch in vierfacher Hinsicht in die inter- kommunale Gemeinschaftsleistung eingebunden: (1) der Landtag als Geldgeber komple- mentär zu der Gemeinschaftsanstrengung der Kommunen im FAG, (2) das Staatsministe- rium als Verantwortlicher für die vom Gesetz geforderte Vollkostenstatistik, (3) das Staatsministerium als Verantwortlicher für eine objektiv nachvollziehbare Auswahl der zu berücksichtigenden Einrichtungen und Projekte von regionaler Bedeutung, (3) das Staatsministerium als Rechtsaufsichtsbehörde, gegebenenfalls im Einvernehmen mit an- deren Staatsministerien.

Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 27

3 Primat einer Investition in Köpfe und Vorstellungswelten – Das Kulturland Sachsen im Verhältnis zu den anderen Ländern der Bundesrepublik

Eine Kulturstatistik im Sinne der oben angesprochenen Vollkostenstatistik existiert für die Bundesrepublik und ihre Länder und Kommunen bis heute nicht. Erfaßt werden durch das Bundesamt für Statistik Wiesbaden und die statistischen Landesämter lediglich die öffentlichen Ausgaben für Kultur, und zwar aggregiert nach Funktionskennziffern. Durch den Kulturfinanzbericht 2012 des Bundes und der Länder liegen für das Haus- haltsjahr 2009 Vergleichszahlen vor. Ihnen zufolge sind die drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen mit ihrer hohen Einwohner- und Einrichtungsdichte auf engem Raum Spitzenreiter. Berlin kommt mit 175 EUR pro Einwohner und Jahr auf fast das Doppelte des deutschen Durchschnittes von 96 EUR. Mit fast dem gleichen Betrag (169 EUR pro Einwohner) führt Sachsen unter den Flächenländern mit weitem Abstand.

Abb. 2: Öffentliche Ausgaben für Kultur 2009 nach Ländern in EUR je Einwohner – Grundmittel. Quelle: Kulturfinanzbericht 2012 des Bundes und der Länder

Kulturell gesehen, erscheint Sachsen als größerer Stadtstaat. Dies entspricht zum einen der Geschichte seiner über fünf Jahrhunderte erst protestantisch-bürgerlich, dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker rot geprägten Klein-, Mittel- und Großstädte, 28 Matthias Theodor Vogt zum anderen dem non-ruralen Selbstverständnis seiner Bürger. Von ihnen finden gerade einmal 2 Prozent ihr Auskommen in Fisch-, Forst- und Landwirtschaft, die anderen 98% aber in ebenfalls modernen Produktionsunternehmen (27%) und vor allem der Dienstleis- tungsbranche (71%). Der ländliche Raum findet in Sachsen kaum statt. Er ist eine admi- nistrative Fiktion, abgeleitet vom Begriff Landkreis, der eher durch den (allerdings sperri- gen) Begriff des non-metropolitanen Raums zu ersetzen wäre. Urbanes Selbstverständnis dominiert bei jenen 81% der sächsischen Bevölkerung, die in Gemeinden größer 5.000 Einwohnern wohnen. Auch bei den restlichen 19%, die in Landstädten und Landgemein- den wohnen, kann rurales Selbstverständnis nicht a priori unterstellt werden, zumal nicht bei der jüngeren, vermutlich ausnahmslos digital vernetzten Bevölkerung. Die ‚Stadtstaat- stellung‘ Sachsens resultiert noch stärker als bei den Prokopfausgaben, wenn man die post-sozialistischen Länder (mit Ausnahme des post-friderizianischen Brandenburgs und von Mecklenburg-Vorpommern, also genauer gesagt die mitteldeutschen Länder) ins Verhältnis zu den Flächenländern der alten Bundesrepublik setzt. Mit 164% des Bundes- schnittes nimmt Sachsen Platz zwei unter den „vier Stadtstaaten“ ein, noch vor Hamburg und Bremen. (Durch die Bundesfinanzierung eines wichtigen Teils der Berliner Kulturein- richtungen ist das Ranking verschoben; ohne die mit dem Geist des Grundgesetzes schwer vereinbare Bundesfinanzierung nimmt Sachsen den ersten Platz unter den Län- dern ein, Berlin vermutlich den vierten).

Verhältnis Anteil Kulturausgaben (Öffentliche Ausgaben für Kultur und Kulturnahe Bereiche 1995 bis 2009 ) und Anteil Einwohner

200,00%

180,00%

160,00%

140,00%

120,00%

100,00%

80,00%

60,00%

40,00%

20,00%

0,00%

Berlin Bremen Hessen Bayern Sachsen Hamburg Thüringen Saarland Brandenburg Sachsen-Anhalt Rheinland-PfalzNiedersachsen Länder insgesamt Schleswig-Holstein Baden-Württemberg Nordrhein-Westfalen Mecklenburg-Vorpommern

Abb. 3: Verhältnis Anteil Kulturausgaben (Öffentliche Ausgaben für Kultur und Kulturnahe Bereiche 1995 bis 2009 ) und Anteil Einwohner. Sachsen 736 Mio EUR für Kultur und kulturnahe Be- reiche entsprechend 164% des Bundesdurchschnittes. Datenquelle: Kulturfinanzbericht 2012, Tabelle 3.1-1 (Kulturausgaben) und Bundesamt für Statistik (Einwohner). Eigene Zusammen- stellung und Darstellung IKS. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 29

Der Primat der Kultur hat ihren Preis. Der Anteil der Kultur an den öffentlichen Haus- halten liegt im Durchschnitt der Länder bei 2,03%. In Sachsen liegt er bei 3,86% und da- mit fast dem Doppelten, deutlich vor Hamburg mit 2,92%.

Öffentliche Ausgaben für Kultur 1995 bis 2009 nach Ländern und Körperschaftsgruppen – Grundmittel Anteil am GHH in %

4,50

4,00

3,50

3,00

2,50

2,00

1,50

1,00

0,50

0,00

Berlin Bremen Hessen Bayern Sachsen Hamburg Thüringen Saarland Brandenburg Sachsen-Anhalt Niedersachsen Länder insgesamt Schleswig-Holstein Baden-Württemberg Nordrhein-Westfalen

Mecklenburg-Vorpommern

Abb. 4: Öffentliche Ausgaben für Kultur 1995 bis 2009 nach Ländern und Körperschaftsgruppen – Grundmittel. Anteil am GHH in %. Quelle: Kulturfinanzbericht 2012, Tabelle 3.3-1. Eigene Darstellung IKS.

Ähnlich anschaulich ist der Anteil am Bruttoinlandsprodukt und damit die Investition nicht nur in die Kulturwirtschaft im öffentlichen Sinn, sondern in den in Sachsen eben- falls großen kreativen Sektor. Er liegt in Sachsen bei 0,79%, gefolgt von Thüringen mit 0,63%. Dementsprechend kamen die Studien von Matthias Bönsel und Wolfgang Dons- bach Wolfgang Donsbach zu den ökonomischen Wirkungen der Staatsoper24 und der Staatsoperette25 sowie die des Unterzeichneten zu denen in Dresden26 und im sog. ländli-

24 Matthias Bönsel [Viventure business + culture solutions, Hamburg] und Wolfgang Donsbach [Institut für Kommunikationswissenschaft TU Dresden]: Wirtschaftliche Bedeutung der Semperoper für Dresden und die Region. Eine Studie im Auftrag der Sächsischen Staatsoper Dresden. Herausgeber: Semperoper – Sächsische Staatsoper Dresden. 25 Matthias Bönsel [Viventure business + culture solutions, Hamburg] und Wolfgang Donsbach [Institut für Kommunikationswissenschaft TU Dresden]: Operette im Zentrum. Potentialanalyse wirtschaftliche Auswir- 30 Matthias Theodor Vogt chen Raum Mittelsachsens27 zu beeindruckenden Ergebnissen bei der Umwegrentabilität der sächsischen Kulturförderung.

Öffentliche Ausgaben für Kultur 1995 bis 2009 nach Ländern und Körperschaftsgruppen – Grundmittel Anteil am BIP in %

0,90

0,80

0,70

0,60

0,50

0,40

0,30

0,20

0,10

0,00

Berlin Bremen Bayern Hessen Sachsen Thüringen Hamburg Saarland Brandenburg Sachsen-Anhalt Niedersachsen Länder insgesamt Schleswig-Holstein Baden-Württemberg Nordrhein-Westfalen

Mecklenburg-Vorpommern

Abb. 5: Öffentliche Ausgaben für Kultur 1995 bis 2009 nach Ländern und Körperschaftsgruppen – Grundmittel. Anteil am BIP in %. Quelle: Kulturfinanzbericht 2012, Tabelle 3.3-1. Eigene Darstellung IKS.

Die Kulturförderung korreliert mit den Ausgaben für Forschung und Lehre an Hoch- schulen gemessen am Bruttoinlandsprodukt. In der Forschung war Sachsen 2003 (im ak- tuellen Bildungsfinanzbericht 2014 ist diese Art der Darstellung nicht mehr erhalten) un- ter den Flächenländern Spitzenreiter bei der Forschung, bei der Lehre war es dies gemein- sam mit Mecklenburg-Vorpommern.

kungen. Eine Studie im Auftrag der Staatsoperette Dresden. Herausgeber: Staatsoperette Dresden. Dresden, April 2008. 26 Ulrich Blum, Stefan Müller, Matthias Theodor Vogt (Hrsg.): Kultur und Wirtschaft in Dresden. Im Auftrag des Sächsischen Kultursenates. Kulturelle Infrastruktur Band VI. Leipzig 1997. 27 Matthias Theodor Vogt (Hrsg.): Kultur im ländlichen Raum. Das Beispiel Mittelsachsen. Leipzig, 2000. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 31

Abb. 6: Ausgaben für Forschung und Lehre an Hochschulen 2003 gemessen am Bruttoinlandsprodukt. BLK-Bildungsfinanzbericht 2004/2005. S. 85.

Das klare Primat sächsischer Landespolitik einer Investition in Köpfe und Vorstellungs- welten ist das historische Verdienst der Trias Biedenkopf – Milbradt – Meyer ab 1990. Das SächsKRG mit seiner inter-kommunalen Gemeinschaftsleistung der sächsischen Gemeinden und Gemeindeverbände ist der Reflex dieses Primates, um neben der Lan- desebene auch die kommunale Ebene zu einer bundesweiten Spitzenstellung bei der In- vestition in Köpfe und Vorstellungswelten zu veranlassen. (Adenauer hatte als Oberbür- germeister von Köln mit seiner Wiedergründung der mittelalterlichen Universität bewie- sen, daß kommunale Kraftanstrengungen auch im Hochschulbereich möglich sind. Eine analoge Hochschulpolitik würde in Sachsen angesichts der Vernetzungsnotwendigkeiten der Gemeinden und ihrer KMU mit anwendungsbezogener Wissenschaft naheliegen, wurde bislang aber nicht konzipiert). Ein Wettbewerb um die besten Köpfe ist immer auch ein Wettlauf mit der Zeit und mit den Mitbewerbern. Der Wettlauf mit der Zeit hat eine Formel {Ka/Ke = (1+p/100)t ⇔ Ke = Ka 1/(1+p/100)t}28 und einen Namen: Inflation oder Kaufkraftentwertung. Legt man den Wiesbadener Verbraucherpreis-Index zugrunde, haben sich die Preise von 100 Basispunkten (1995) auf 132,1 Basispunkte (2013) entwickelt. Das entspricht einem Kaufkraftverlust von 100 Basispunkten (1995) auf 75,3 Basispunkte (2013). Aufgabe der Politik ist es, mit dieser Entwicklung gleichzuziehen, was mit Blick auf die kalte Progres- sion bei den Steuern nicht immer so schwer fällt, wie es aus den Finanzministerien zu hören ist.

28 Kapital in € = Gegenwärtige Kaufkraft in € = Ka; Kaufkraft in € nach n Jahren = Ke; Inflationsrate p in %; Zeit t in Jahren.). Einen Inflationsrechner findet man unter www. inflation-deutschland.de. 32 Matthias Theodor Vogt

Wiesbadener Index Verbraucherpreise Verbraucherpreise (195 = 100 Basispunkt) Kaufkraftverlust 140,0%

120,0%

100,0%

80,0%

60,0%

40,0%

20,0%

0,0%

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Abb. 7: Wiesbadener Index Verbraucherpreise (195 = 100 Basispunkt). Entwicklung Verbraucherpreise bzw. Kaufkraftverlust. Eigene Darstellung IKS nach Daten des Statistischen Bundesamtes.

Für Sachsen ergibt sich quasi das gleiche Bild. Die Preise entwickeln sich von 100 Basis- punkten (1995) auf 131,8 Basispunkte (2013) und der Kaufkraftverlust von 100 Basis- punkten (1995) auf 75,5 Basispunkte (2013).

Kamenzer Index Verbraucherpreise Sachsen Verbraucherpreise (195 = 100 Basispunkt) Kaufkraftverlust 140,0%

120,0%

100,0%

80,0%

60,0%

40,0%

20,0%

0,0%

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Abb. 8: Kamenzer Index Verbraucherpreise (195 = 100 Basispunkt). Entwicklung Verbraucherpreise bzw. Kaufkraftverlust. Eigene Darstellung IKS nach Daten des Sächsischen Statistischen Lan- desamtes Kamenz.

Der Kamenzer Index entspricht im Kulturbereich aber nicht der Wirklichkeit. Aufgrund der über 20 Jahre verteilten Angleichung der Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst vom 3. Oktober 1990 bis zum 1. Januar 2010 auf nominal 100 Prozent West muß für Sachsens Kulturbereich der ungleich höhere Anstieg der Personalkosten berücksichtigt Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 33 werden. Er entspricht, wenn man die Angaben des ifo-Institutes umrechnet, bei 100 Ba- sispunkten (1995) einem Wert von 160,3 Basispunkten (2010), also einem doppelt so ho- hen Kostenanstieg wie im Kamenzer oder Wiesbadener Index.

Abb. 9: Indexierte Gegenüberstellung der Brutto- und Tariflohnentwicklung. Quelle: Volkswirtschaftli- che Gesamtrechnung der Länder, WSI-Tarifarchiv, Darstellung und Berechnung des ifo Insti- tuts. Zitiert nach: Kernthesen des Endberichts zum Forschungsvorhaben „Einkommensent- wicklung im Freistaat Sachsen“ des ifo Instituts für Wirtschaftsförderung, Niederlassung Dresden im Auftrag der FDP-Fraktion im Sächsischen Landtag. Ohne Datum. http://www.fdp-sachsen.de/online/ fdp/cisweb4_fdp.nsf/%28File%29/ 1F8A11BEBA598A1CC12577E5004A1805/$File/Kernthesen%20ifo-Studie.pdf

Im Hochschulbereich ist die Politik den Kassandra-Rufen des Hochschulverbandes, der Hochchulrektorenkonferenz etc. gefolgt. Bei den Ausgaben für Deutschlands Hochschu- len ist eine Art Explosion zu verzeichnen: von 29,5 Mrd. EUR (2000) auf 43,6 Mrd. EUR (2010) entsprechend einer Steigerung um rund die Hälfte (47,8%) in zehn Jahren. Der Wiesbadener Index verzeichnet für diesen Zeitraum eine Steigerung um 17,5%, die von den Hochschulen um rund das Dreifache überkompensiert werden konnte. 34 Matthias Theodor Vogt

Abb. 10: Bildungsfinanzbericht 2013, S. 61,Abbildung 4.3.4-1: Ausgaben der Hochschulen nach Aufga- bengebieten in Mrd. EUR.

Wie aber sieht die Kompensation bei der Kultur aus? Für den Zeitraum 1995 bis 2009 verzeichnet Wiesbaden einen Preisanstieg auf 125,1 Basispunkte. Im Durchschnitt der Länder und Gemeinden wurde dies mit einem Anstieg der Kulturförderung auf 128 Ba- sispunkte geringfügig überkompensiert. Spitzenreiter waren hier Hessen mit einem An- stieg auf 159% und Baden-Württemberg 157% sowie das Saarland mit 133%. Deutlich zurückgeblieben gegenüber dem Anstieg im Westen und gegenüber dem Anstieg der öf- fentlichen Personalkosten sind die Flächenländer Ost mit 109%. Dies entspricht, gemes- sen an den Einkommenszuwächsen öffentlicher Dienst Ost, einem Realverlust an Leis- tungsfähigkeit von 32%. Bei Sachsens Kultur mit ihrer Nominalsteigerung auf 118% liegt der Realverlust für die Jahre 1995 – 2009 bei 20%. Das ist ein Fünftel der Gesamtmasse. Demgegenüber ist die Kulturförderung in den Flächenländern West im gleichen Zeitraum auf 133% gestiegen, hat also die Inflation von 123% mit einem Zuwachs um ein Zehntel überkompensiert. Sachsens Position im Ländervergleich ist zwar in absoluten Zahlen wie eingangs dargestellt gut, im Zeitraum 1995 – 20009 hat diese Position gegenüber den Mitbewerbern um das rare Gut Aufmerksamkeit faktisch ein Drittel verloren. Dies gilt es für die innersächsischen Diskussionen um den gewünschten Platz Sachsens in Deutsch- land und der Welt zu bedenken. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 35

Steigerung der gemeindlichen und stadtstaatlichen Ausgaben für Kultur 1995 bis 2009 nach Ländern und Körperschaftsgruppen in Mill. EUR – Grundmittel

180% 160% 140% 120% 100% 80% 60% 40% 20% 0%

Berlin Hessen BayernBremen HamburgSaarland Thüringen Sachsen Zusammen Brandenburg NiedersachsenRheinland-Pfalz Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Flächenländer Ost Baden-WürttembergFlächenländer West Nordrhein-Westfalen Mecklenburg-Vorpommern

Abb. 11: Steigerung der gemeindlichen und stadtstaatlichen Ausgaben für Kultur 1995 bis 2009 nach Ländern und Körperschaftsgruppen in Mill. EUR – Grundmittel. Quelle: Kulturfinanzbericht 2012, Tabelle 3.3-3. Eigene Darstellung IKS.

Geradezu erschrecken läßt im Ländervergleich der Kommunalisierungsgrad der öffentli- chen Ausgaben für Kultur. Hier belegen Sachsens Gemeinden 2009 den letzten Platz un- ter allen deutschen Ländern. Es wäre zwar denkbar, daß der Vorwegabzug Kultur im FAG von immerhin rund 30 Mio EUR nicht miteingerechnet wurde, und es ist sicher, daß Teile der kommunalen Kulturpflege derzeit nicht berücksichtigt werden (beispielswei- se die Konzert- und Bühnehalle in Hoyerswerda), aber die nach Daten des aktuellen Kul- turfinanzberichtes erarbeitete Graphik macht deutlich, daß zwischen staatlicher Kultur- pflege einerseits, kommunaler andererseits eine Schieflage entstanden ist, die im Länder- vergleich besonders sichtbar wird. Der Freistaat leistet dasjenige, was seinem historischen Rang entspricht, bei seinen eigenen staatsgetragenen Kultureinrichtungen; die Kommu- nen können trotz Kulturraumgesetz nicht mithalten.

Kommunalisierungsgrad der öffentlichen Ausgaben für Kultur 2009 nach Ländern in %

90,0

80,0

70,0

60,0

50,0

40,0

30,0

20,0

10,0

0,0

Hessen Bayern Thüringen Sachsen Brandenburg Sachsen-AnhaltNiedersachsen Rheinland-Pfalz Schleswig-Holstein Nordrhein-Westfalen Baden-Württemberg

Flächenländer insgesamt Mecklenburg-Vorpommern

Abb. 12: Kommunalisierungsgrad der öffentlichen Ausgaben für Kultur 2009 nach Ländern in %. . Quelle: Kulturfinanzbericht 2012, Tabelle 3.3-2. Eigene Darstellung IKS. 36 Matthias Theodor Vogt

4 Zur Datenlage

Das gegenwärtige Bild der Kulturräume ist in jedem Fall unvollständig, in manchen As- pekten ist es erschütternd. Für die Verlaufskurve 1995 – 2011 (bis zu dem Rechnungsabschlüsse vorliegen) wurden die Daten des Kulturraums Oberlausitz-Niederschlesien bereits Ende 2013 in der Ver- ödungsstudie29 veröffentlicht. Umgerechnet in Euro, sind in diesem Kulturraum die Zah- len für den Theater-, Bibliotheks- und Soziokulturbereich jeweils fast identisch. Anders ausgedrückt: ein Kostenzuwachs von 27% allg. Inflation zuzüglich der Tarifanpassung Ost/West von knapp weiteren 30% wurde an die Einrichtungen weitergegeben und muß- te von diesen kompensiert werden, teils mit Erhöhung der Eigeneinnahmequoten, teils mit Haustarifverträgen (gegenwärtig im Theater Görlitz 19% im Mittel, teilweise waren es in Einzelfällen bis zu 30%), teils durch Personalabbau und andere Strukturmaßnahmen. Am Bereich Projektförderung läßt sich die Drastik dieses Kurses ermessen – ausgerechnet dort, wo über institutionelle Rigiditäten und über tradierte Erwartungsnormen hinaus Ini- tiativen der Bürger und insbesondere der Jungen gefördert werden sollen, haben sich die effektiv zur Verfügung stehenden Gelder mehr als halbiert. Mit einem Anteil von 3% bleibt der Projektanteil weit von der wünschenswerten30 Marge 20% entfernt.

KR Oberlausitz-Niederschlesien 1995 / 2011 Gestamtausgaben in EUR

30.000.000,00

25.000.000,00

20.000.000,00

15.000.000,00

10.000.000,00

5.000.000,00

0,00 Theater, Tiergärten und Projektförderu Museen Musikschulen Bibliotheken Soziokultur Orchester Parks ng, Sonstiges 1995 24.854.767,54 3.965.426,44 5.292.637,91 1.961.057,45 2.162.815,79 2011 25.450.858,18 7.274.697,29 5.497.426,00 5.202.926,25 3.394.601,33 2.034.217,54 1.620.344,89

Abb. 13: Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien 1995 / 2011 Gesamtausgaben in EUR. Quelle: Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen nach Daten des Kulturraums.

29 Matthias Theodor Vogt: Kunst und Kultur als Resilienzfaktoren. Zum aktuellen Stand der Forschung. In: Matthias Theodor Vogt und Olaf Zimmermann (Hrsg.): Verödung? Kulturpolitische Gegenstrategien. Beiträ- ge zur Tagung 22./23. November 2013 in Görlitz. Edition kulturelle Infrastruktur Görlitz und Berlin 2013. S. 13-62. 30 Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag, 1994. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 37

A. Warum aber wurde hier so gespart bzw. mußte hier so gespart werden? Im Haushalts- jahr 1995 erhielt der Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien aus dem Interregionalen Kulturlastenausgleich (also FAG- plus Staatsmittel) 24 Mio DM, das entspricht umge- rechnet 12.271.005 EUR bzw. 16% des Interregionalen Sachsen-Ausgleichs. Im Jahr 2012 standen für letzteren nicht mehr 150 Mio DM (= 76.693.782 EUR) zur Verfügung, son- dern zehn Millionen mehr, nämlich 86.700.000 EUR. Von diesen aber erhielt der Kultur- raum Oberlausitz-Niederschlesien 10.045.081 EUR oder 11.5%. Die Verringerung betrug in absoluten Zahlen 2.226.924 EUR, in relativen betrug die Verringerung ein Drittel sei- nes Anteils. Vor diesem Hintergrund braucht es nicht zu verwundern, daß die beiden Landkreise Bautzen und Görlitz im Kulturkonvent im Frühjahr 2014 größte Schwierigkei- ten hatten, den Comment untereinander zu wahren. B. Warum aber haben sich die Zuweisungen verringert? Auftrag des Gesetzgebers an die Kommunen und insbesondere an die Rechtsträger war es, „bürgernahe und effiziente Strukturen“ zu schaffen. Eine Vielzahl der sächsischen Kommunen hat diese Aufforde- rung des Gesetzgebers erfolgreich umgesetzt, in dem es Einrichtungen, die zuvor als Re- giebetrieb organisiert waren, in privatrechtliche Organsitionsformen überführt hat, im Fall von Görlitz in die einer gemeinnützigen Theater-GmbH. Während aber im Regiebetrieb alle Einnahmen haushalterisch dem Kämmerer zufließen und die Ausgaben vollständig dem Etat des Kulturbürgermeisters zufließen (so daß die Stadt Görlitz zeitweilig an den Kulturprozentsatz des deutschen Spitzenreiters Frankfurt am Main heranreichte), taucht nun unter der Funktionskennziffer Kultur nur noch der genuin städtische Zuwendungs- betrag an die Theater-GmbH auf, und dies sind nicht mehr 100% des Theateretats son- dern aktuell 20% des Etats bei der Stadt sowie 30% bei den beiden Landkreisen(teils indi- rekt über die Kulturumlage). Durch eine rein administrative Maßnahme im Auftrag des Ge- setzgebers hat sich die Anrechnungsgrundlage halbiert. Der Gehorsam der Kommune gegenüber dem Gesetzgeber führt zu einer empfindlichen Bestrafung und nicht zu einer Belohnung. Andere Kommunen, wie die Stadt Hoyerswerda, haben ihre Konzert- und Bühnenhalle in die Form eines selbständigen Betriebs mit multiplen Aufgaben bei der Kämmerei überführt. Für diesen gilt eine abweichende Funktionskennziffer. Dement- sprechend resultiert hier eine administrative Strafe für einen Gehorsam der Kommune gegenüber dem Gesetzgeber in Höhe einer Sanktion von 100%. Andere Kommunen, wie die Stadt Dresden mit dem Europäischen Zentrum Hellerau, haben den Auftrag des Ge- setzgebers nicht umgesetzt. Wäre das Zentrum eine GmbH geworden, wäre es kürzlich von einer Haushaltssperre zu 100% seines Budgets erfaßt worden. Da aber Personalrecht Haushaltsrecht bricht, wurden in diesem Fall nur die ca. 20% Sachmittel erfaßt, das heißt, die Arbeit konnte, wenngleich etwas erschwert, weitergehen. Dies alles ist verkehrte Welt. 38 Matthias Theodor Vogt

Natürlich wäre es unverzeihlich naiv, anzunehmen, daß aufgrund eines Präambelneben- satzes Regierungspräsidien bzw. Landesdirektionen und Städte- bzw. Landkreistag sich zusammensetzen und gemeinsam prüfen würden, in welchen Formen der Auftrag des Gesetzgebers so umgesetzt werden kann, daß der vom Gesetzgeber gewünschte Effekt einer Effizienzsteigerung und nicht der vom Gesetzgeber nicht gewünschte Kollateralef- fekt multipler Schädigung eintritt. Im Sinne der Landesverantwortung wäre eine Koordi- nation jedoch erforderlich. C. Die Landesbühnen Sachsen sind eine staatlich getragene Kultureinrichtung, die ergän- zend zum Kulturraumauftrag betrieben wird und an der Kommunalvertreter über keine Stimmenmehrheit verfügen. Ein solch ergänzender Auftrag würde fachlich durchaus Sinn machen, wenn überwiegend Alten- oder Jugendtheater an nicht von kommunalen Thea- tern erreichten Orten durchgeführt würde und wenn die Steuerung den Kommunen oblä- ge. Solange letzteres nicht der Fall ist, lassen sich die von Fritz Ossenbühl erhobenen Zweifel an der Rechtsgültigkeit der Zweckbindung von Kulturraummitteln für die Lan- desbühnen nicht ausräumen, auch wenn die Mittel nicht aus der allgemeinen kommunalen Finanzmasse (Einzelplan 15, Kapitel 30, Titel 633 20 - 6) bzw. vom Kulturlastenausgleich nach § 21 FAG abgezweigt, sondern innerhalb der zweckgebundenen Mittel im Einzel- plan 12, Kap 05, Titelgruppe 60 verschoben werden, und auch wenn die Klage der Stadt Leipzig vom Verfassungsgericht abschlägig beschieden wurde. Im Effekt jedenfalls wurde die 2008 vom Landtag vorgenommene Erhöhung der Kulturraummittel um 10 Mio EUR zu wichtigen Teilen zurückgenommen. Überdies bindet die Einbeziehung der Musikschulen in die Kulturraumförderung erhebli- che Mittel der Kulturräume, im Fall der Oberlausitz waren es 0 EUR (1995) und 5,5 Mio EUR (2011), bei wie gesagt gleichbleibendem Gesamtetat und deutlich verringerter Lan- des- und FAG-Zuführung. Drittens ist das SächsKRG ein Betriebskostengesetz. Aus Kenntnis praktischer aller Bera- tungen kann der Unterzeichnete versichern, daß Investitionen nicht Intention des Ge- setzgebers waren. (Die Einbeziehung von Investitionen war vielmehr Gegenstand einer umfangreichen und parallel durchgeführten Kulturbautenplanung.) Im Ergebnis der drei Veränderungen wurde der Kulturbereich der Oberlausitz einer star- ken de facto-Reduktion ausgesetzt. D. In § 6 SächsKRG 2008 heißt es: (4) Die Zuweisung der Mittel nach Absatz 2 Buchst. a darf bei den einzelnen Kulturräumen 30 Prozent der Summe der Ausgaben oder der finanzwirksamen Aufwendungen aller vom Kulturraum Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 39

geförderten Einrichtungen und Maßnahmen nicht übersteigen und sie darf bei den ländlichen Kul- turräumen nicht höher sein als das Zweifache der Kulturumlage. Eine Erfassung der „Summe der Ausgaben oder der finanzwirksamen Aufwendungen aller vom Kulturraum geförderten Einrichtungen und Maßnahmen“, also die bereits 1995 angelegten31 Vollkostenstatistik, wird vom Gesetzgeber auch für 2008 ff. zwingend eingefordert. Auf Nachfrage zu aktuellen Daten für die Kulturräume teilte das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst am 4.11.2013 mit: Die von Ihnen erbetenen Angaben liegen im SMWK nicht vor. Das hat verschiedene Gründe:

 Bei der regionalen Kulturpflege handelt es sich um kommunale Selbstverwaltungsangelegenhei- ten (des Kulturraums). Die von Ihnen angesprochenen Zahlen werden für die Arbeit des SMWK nicht benötigt. Es ist das Ziel, Datenerhebungen des Freistaates auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken (Vermeiden unnötiger Bürokratie; außerdem Vermeiden wei- terer statistischer Erhebungen neben denen des Statistischen Landesamtes).

 Für die fünf ländlichen Kulturräume liegen zwar im SMWK immerhin die Förderlisten vor. Dabei handelt es sich jedoch um bloße Planangaben; die Maßnahmen sind zum Teil auch nicht ausfinanziert. Damit sind diese Zahlen für Ihren Zweck nicht belastbar/aussagekräftig. Aus den Förderlisten haben wir auch keine Übersichten aggregiert.

 Daten zu den städtischen Kulturräumen sind ohnehin nicht im SMWK vorhanden (andere rechtliche/organisatorische Ausgangslage). Ich gehe davon aus, dass die von Ihnen angefragten Daten auch im Statistischen Landesamt nicht verfügbar sind. Gegebenenfalls müssten Sie sich also direkt an die Kulturräume wenden. Hinweisen kann ich für den Theaterbereich lediglich auf die jährlich erscheinende Theaterstatistik des Deut- schen Bühnenvereins, die üblicherweise im Theaterbereich für Auswertungen zugrunde gelegt wird. Eine externe und nur als vorläufig zu verstehende juristische Prüfung ergab: Wenn sich der Freistaat mit der Eigenangabe der Kulturräume über die Gesamtzahl der Ausgaben zufrieden gibt, kann dies zumindest als haushaltsrechtlich fahrlässig und das bisherige Verfahren zur Ausgabenfeststellung als völlig unzureichend bezeichnet werden. Im Sinne einer Kontrolle des effektiven Einsatzes der Mittel ist eine Vollkostenstatistik der Ausgaben unabdingbar. Die Selbst- verwaltung der Kulturräume kann hier nicht als Gegenargument herangezogen werden. Da diese Zuweisungen vom Freistaat nur bei Vorliegen gesetzlicher Voraussetzungen erhalten, muss die- ser auch das Vorliegen der Voraussetzungen prüfen können. Konsequent wäre eine Festschreibung von Erhebungsbefugnissen und Statistikpflichten im Gesetz. Wenn infolge von Rechnungs- und Buchhaltungspflichten der Kulturräume die Daten ohnehin vorliegen, wäre der Freistaat zur Datenaggregation und -auswertung verpflichtet. Die Bereitstellung

31 Publiziert in der 3. Auflage von Vogt, Matthias Theodor (Hrsg.): Kulturräume in Sachsen, eine Dokumenta- tion. Mit einer photographischen Annäherung von Bertram Kober und dem Rechtsgutachten von Fritz Ossenbühl. Her- ausgeber. Kulturelle Infrastruktur Band I, Universitätsverlag Leipzig, 3. Aufl. 1997. 40 Matthias Theodor Vogt

zusätzlicher Daten durch die Kulturräume wäre darüber hinaus jedoch mit Vorsicht zu bedenken, falls dadurch Verwaltungskosten/Bürokratie steigen. Beim Statistischen Landesamt liegen lediglich Daten zu den Haushaltsanteilen Kultur bei Freistaat und Kommunen vor. Dies ist ein Landes-Einzelbeitrag zum Kulturfinanzbericht von Bund und Ländern; er spiegelt nicht den tatsächlichen Aufwand für die öffentlich getragenen bzw. mitfinanzierten Kunst- und Kultureinrichtungen wieder, den Bürger, Unternehmen und öffentliche Hand ihnen angedeihen lassen. Dieser wiederum ist der Sockel für den ungleich höheren privatwirtschaftlichen Aufwand Kunst und Kultur, die sog. Kulturwirtschaft. Diese ist ihrerseits Sockel für die auf EU- und Nationalebene viel- beschworene Kreativwirtschaft, die zwingend auf die künstlerischen Hochschulen und eben den Kunstbetrieb angewiesen ist.32 Für die laufende Legislaturperiode gilt, daß der Freistaat Sachsen seiner ‚national-ökonomischen’ Landesgesamtverantwortung in den Ressorts Krankenhauswesen, Verkehrsaufkommen, Kriminalität etc. etc. angemessen nachkommt, indem er, unabhängig von der jeweiligen Trägerschaft, Daten für eine nach- haltige Landesgesamtstrategie erhebt, publiziert und diskutiert. Für den Kulturbereich gilt dies nicht. Versucht man sich einen Überblick über die Entwicklung in den Kulturräumen seit deren erstem vollen Haushaltsjahr 1995 oder ab Inkrafttreten des SächsKRG II 2008 zu ver- schaffen, werden die Daten aufgrund der fehlenden Datenbasis inkohärent. Damit fehlt der anstehenden Evaluation die entscheidende Basis für eine qualifizierte Beurteilung der Entwicklung der Kulturräume. E) Das SächsKRg-Änderungsgesetz 2010 hat in § 6 mehrere Absätze stark verändert. Die Fassung 2008 lautet:

32 Vgl. zu Problemen der Kulturstatistik Vogt, Matthias Theodor: Was ist Kulturpolitik? In: Emil Orzechowski et al. (Hrsg.): Culture management. Kulturmanagement. Zarządzanie kulturą Vol. III (3), Krakau 2010. S. 113-136.[online: http://kultur.org/Doi101696/vogt-2010m.pdf]. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 41

Abb. 14: Bekanntmachung der Neufassung des Sächsischen Kulturraumgesetzes vom 18. August 2008. Aufgrund von Artikel 3 des Gesetzes zur Neuordnung der Kulturräume im Freistaat Sachsen vom 20. Juni 2008 (SächsGVBl. S. 371) wird nachstehend der Wortlaut des Gesetzes über die Kulturräume in Sachsen (Sächsisches Kulturraumgesetz – SächsKRG) in der ab 1. August 2008 geltenden Fassung bekannt gemacht. Quelle: Sächsisches Gesetz- und Verordnungslbatt 13/2008. 42 Matthias Theodor Vogt

Die Fassung 2010 lautet, geändert durch Artikel 15 des G vom 15. Dezember 2010 (Sächs- GVBl. S. 387,398):

Gesetz über die Kulturräume in Sachsen (Sächsisches Kulturraumgesetz – SächsKRG) i. d. F. d. Bek. vom 18.08.2008. SächsGVBl. Jg. 2008 Bl.-Nr. 13 S. 539 Fsn-Nr.: 70-4 Fassung gültig ab: 01.01.2011. § 6 Sächsischer Kulturlastenausgleich (1) Es wird ein jährlicher Kulturlastenausgleich nach Maßgabe des jährlichen Staatshaushaltsplanes so- wie nach Maßgabe des Gesetzes über einen Finanzausgleich mit den Gemeinden und Landkreisen im Freistaat Sachsen (Sächsisches Finanzausgleichsgesetz – SächsFAG) in der Fassung der Be- kanntmachung vom 12. Januar 2009 (SächsGVBl. S. 24), geändert durch Gesetz vom 15. Dezember 2010 (SächsGVBl. S. 406), in der jeweils geltenden Fassung, mindestens jedoch in Höhe von 86 700 000 EUR vorgenommen. (2) Von dem in Absatz 1 genannten Betrag stellt der Freistaat Sachsen a) den Kulturräumen zur Förderung der Kulturpflege Zuweisungen in vierteljährlichen Raten nach Maßgabe des jährlichen Staatshaushaltsplanes sowie nach Maßgabe des Sächsischen Finanzaus- gleichsgesetzes, mindestens jedoch 82 000 000 EUR zur Verfügung. Bundeszuschüsse und sons- tige Beteiligungen Dritter bleiben unberührt; b) kulturellen Einrichtungen nach § 3 Abs. 1 für Investitionen und Strukturmaßnahmen einschließ- lich damit verbundener Personalmaßnahmen Mittel nach Maßgabe des jährlichen Staatshaus- haltsplanes, mindestens jedoch 1 000 000 EUR zur Verfügung. Das Nähere regelt das Staatsmi- nisterium für Wissenschaft und Kunst in einer Verwaltungsvorschrift; c) den Landesbühnen Sachsen für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben Zuschüsse nach Maßgabe des jährlichen Staatshaushaltes, höchstens jedoch 3 700 000 EUR zur Verfügung. (3) Durch die Erhebung einer Kulturumlage werden in den ländlichen Kulturräumen die Mitglieder des Kulturraumes an den Lasten der kulturellen Aktivitäten von regionaler Bedeutung angemessen be- teiligt. (4) 1Die Zuweisung der Mittel nach Absatz 2 Buchst. a darf bei den einzelnen Kulturräu- men 30 Prozent der Summe der Ausgaben oder der finanzwirksamen Aufwendungen aller vom Kulturraum geförderten Einrichtungen und Maßnahmen nicht übersteigen und sie darf bei den ländlichen Kulturräumen nicht höher sein als das Zweifache der Kulturumlage. 2Das Nähere über die Zuweisungen regelt das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst im Einvernehmen mit dem Staatsministerium der Finanzen in einer Rechtsverordnung, insbesondere das Verfahren, den Verteilungsschlüssel und die Kriterien, nach denen Ausgaben oder finanzwirksame Aufwendungen der zu fördernden Einrichtungen und Maßnahmen berücksichtigt werden.2 Die SächsKRVO des SMWK bezieht sich auf § 6 Abs. 4 Satz 4 SächsKRG 2008:

Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst über die Zuwei- sung von Landesmitteln an die Kulturräume (Sächsische Kulturraumverordnung – SächsKR- VO) vom 3. März 2009. Aufgrund von § 6 Abs. 4 Satz 4 des Gesetzes über die Kulturräume in Sachsen (Sächsisches Kulturraumgesetz – SächsKRG ) in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. August 2008 (SächsGVBl. S. 539) wird im Einvernehmen mit dem Staatsministerium der Finanzen verordnet:

§ 1 Bemessung der Landesmittel für die Kulturräume (1) Der Kulturraum kann für Maßnahmen nach § 6 Abs. 4 Satz 1 und 3 SächsKRG Landeszuweisungen erhalten, wenn die Finanzierung anderweitig nicht realisiert werden kann. Die Förderung soll von einer angemessenen Beteiligung der Rechtsträger und Sitzgemeinden abhängig gemacht werden. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 43

Den Satz § 6 Abs. 4 Satz 4 gibt es seit 2010 nicht mehr. Ebenso verweist § 1 Abs. Sächs- KRVO auf § 6 Abs. 4 Satz 1 und 3, die beide geändert wurden, ohne daß die SächsKRVO geändert wurde. Es erhebt sich die Frage, ob die Zuweisungen der Jahre 2010 ff. damit rechtsungültig sind und ob die Beträge strictu sensu zurückgefordert werden müßten. Ei- ne externe und nur als vorläufig zu verstehende juristische Prüfung ergab: Hier müsste noch genauer geprüft werden, ob Übergangsregeln oder Ermessenspielräume vorlie- gen, im Grundsatz gilt jedoch: Wenn eine Verordnung einem formellen Gesetz (Parlamentsgesetz) widerspricht, ist sie rechtswidrig und ein Verwaltungsakt (etwa Zuwendungsbescheid), der zwar mit der VO übereinstimmt, aber dem Gesetz widerspricht, ist ebenfalls rechtswidrig. Dies resultiert aus dem „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“. Rechtswidrige Verwaltungsakte „können“ (müssen nicht) für die Vergangenheit oder auch Zukunft zurückgenommen werden - § 48 Verwal- tungsverfahrensgesetz. Rechtswidrige Verwaltungsakte, die Geldleistungen gewähren, „dürfen nicht“ zurückgenommen werden, wenn der Empfänger auf Bestand vertraut hat und dieser Ver- trauensschutz das öffentliche Interesse an der Rückforderung überwiegt (§48 Abs. 2 VwVfG). Fälle der Zuvielzahlung werden in der Regel daher so belassen. Politisch sinnvoll erscheint dem Unterzeichneten eine schnellstmögliche Anpassung der Verordnung. Eine mögliche Rechtsungültigkeit der Zuwendungen 2010 ff. könnte für die Kommunen allerdings Anlass sein, eine rückwirkende Korrektur der Einbeziehung von Investitionen und der Landesbühnen zu fordern.

44 Matthias Theodor Vogt

5 Szenarien

5.1 Externe Parameter für Szenario I (Weiterführung der jetzigen Strukturen) Nach dem Baumolschen Gesetz können Kultureinrichtungen, insbesondere das Theater- wesen, Kostensteigerungen nur bedingt durch Personalreduktion auffangen; selbst eine Triangel bedarf professionellen Spielens. Der Thüringer Weg, Museen eine wissenschaft- liche Leitung zu verweigern, ist keine Lösung. Die Einrichtungen sind auf einen regelmä- ßigen Inflationsausgleich angewiesen. Da die Verteilungsmasse des SächsKRG in bald zwanzig Jahren Laufzeit nur um 10 Mio. EUR erhöht wurde, hat dies schon in der Ver- gangenheit zu außerordentlichen Anstrengungen aller Beteiligten geführt. Für das Szena- rio I „Weiterführung der jetzigen Strukturen“ wäre eine zumindest partielle Kompensati- on des entgangenen Inflationsausgleich der letzten beiden Jahrzehnte sowie für die Zu- kunft ein regelmäßiger Inflationsausgleich notwendig. Nach dem Ausreizen zahlreicher Einsparungs- und Eigenmittelerhöhungspotentiale wären hierzu zusätzliche Zuführungen aus Landes- und Kommunalmitteln erforderlich. A. Der Anspruch auf Weiterführung der jetzigen Strukturen in der sächsischen Komunal- kultur muß der Schwierigkeit Rechung tragen, daß entscheidende Teile des sächsischen Staatshaushaltes und des Finanzausgleichs mit den Gemeinden und Gemeindeverbänden aus dem Solidarpakt stammen, der 2019 ersatzlos wegfällt. Von 2005 – 2019 werden aus Solidarpakt I / II 26,0 Mrd. EUR nach Sachsen geflossen sein. Dies ist deutlich mehr als in die anderen Länder des Beitrittgebiets: Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 45

Abb. 15: Transferleistungen von 2005 bis 2019 in Euro. Quelle: Mitteldeutscher Rundfunk.

Der Solidarpakt ist Teil eines komplexen Mechanismus von Sonderbedarfs- Bundesergänzungszuweisungen (SoBEZ, § 11 FAG), hier zitiert nach der „Mittelfristigen Finanzplanung“:33 Die SoBEZ zur Deckung von teilungsbedingten Sonderlasten aus dem bestehenden infra- strukturellen Nachholbedarf und zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Fi- nanzkraft (§ 11 Abs. 3 FAG) für die neuen Flächenländer und Berlin bilden den soge- nannten Korb I des Solidarpaktes II und sind bis 2019 befristet. Die SoBEZ wegen überdurchschnittlich hoher Kosten politischer Führung (Pol-BEZ) in Höhe von jährlich 25,6 Mio. EUR (§ 11 Abs. 4 FAG) erhält der Freistaat seit dem Jahr 2005. Sie sollen die Mehrkosten ausgleichen, die entstehen, da Sachsen als relativ kleines Land eine den bevölkerungsreicheren Ländern vergleichbare Verwaltungsstruktur unter- halten muß.

33 Sächsisches Staatsministerium der Finanzen: Mittelfristige Finanzplanung des Freistaates Sachsen 2012 – 2016. Dresden 31.07.2012. 46 Matthias Theodor Vogt

Die SoBEZ zum Ausgleich von Sonderlasten aufgrund struktureller Arbeitslosigkeit so- wie daraus entstehender überproportionaler Lasten bei der Zusammenführung von Ar- beitslosenhilfe und Sozialhilfe (Hartz IV – SoBEZ, § 11 Abs. 3a FAG) dienen der Kom- pensation finanzieller Lasten in Folge der so genannten Hartz IV-Reform in den neuen Flächenländern. B. Weniger als die Hälfte des derzeitigen Staatshaushaltes stammt aus dem Landesanteil am Steueraufkommen (4,8 Mrd. EUR). Wesentliche Teile stammen aus den vier Stufen des Länderfinanzausgleiches. Durch den starken Bevölkerungsschwund wird der einwohnerabhängige Finanzausgleich abnehmen; nach der 5. Regionalisierten Bevölkerungsprognose des Statistischen Landes- amtes Sachsen wird bis 2025 ein Rückgang der Bevölkerung von 4,9 Mio (1990) auf einen Korridor zwischen 3,6 und 2,7 Mio erwartet, das heißt ca. 10% weniger Einwohner als derzeit mit entsprechender Auswirkung auf den Länderfinanzausgleich.

Abb. 16: Auswirkung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs auf die Einnahmen Sachsens 2011, in Mio. EUR. Quelle: Sächsisches Staatsministerium der Finanzen: Mittelfristige Finanzplanung des Freistaates Sachsen 2012 – 2016. Dresden 31.07.2012.S. 9.

C. Aufgrund der EU-Erweiterung gehört Sachsen nicht mehr zu den ärmsten Regionen der Europäischen Union. Im aktuellen Siebenjahresplan 2014-20 haben die Einnahmen von der EU dementsprechend substantiell abgenommen. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 47

D. Der Graphik des SMF zu den Gesamteinnahmen 2006 – 2016 ist zu entnehmen, daß im Wahljahr 2014 kräftige Haushaltszuwächse geplant sind, daß aber die degressiven An- sätze von Bundesergänzungszuweisungen, Länderfinanzausgleich und EU-Einnahmen schon 2015 zu einer Reduktion um gut 4% führen. Dies entspricht einschl. einer voraus- sichtlichen Inflation von 2% einer Nettominderung von etwa 6%.

Abb. 17: Gesamteinnahmen des Freistaates Sachsen 2006 – 2016 nach Höhe und Struktur. Quelle: Säch- sisches Staatsministerium der Finanzen: Mittelfristige Finanzplanung des Freistaates Sachsen 2012 – 2016. Dresden 31.07.2012.S. 24.

E. Die Situation der Kommunalfinanzen ist komplex und kann hier nur skizziert werden. Die Eigensteuereinnahmen der sächsischen Kommunen befinden sich ausweislich der Steuerstatistik und Steuerschätzungen auf einem positiven Entwicklungspfad. Sie machen allerdings nur einen geringen Teil der Kommunalhaushalte aus. Die Soziallasten der Landkreise und kreisfreien Städte sind erheblich gestiegen; beim Landkreis Görlitz ma- chen sie 60% des Gesamthaushalts aus, er ist damit zu einem ‚Sozialzweckverband mit Nebenaufgaben’ (keine mehr als 8% Anteil) geworden. 48 Matthias Theodor Vogt

Abb. 18: Steuereinnahmen der sächsischen Gemeinden, in Mio. EUR. Quelle: Sächsisches Staatsministe- rium der Finanzen: Mittelfristige Finanzplanung des Freistaates Sachsen 2012 – 2016. Dresden 31.07.2012.S. 44.

Das Auslaufen des Solidarpakts und die Absenkung des Länderfinanzausgleichs werden auch die Kommunen treffen. Die Finanzausgleichsmasse ist – milde ausgedrückt – wilden Sprüngen ausgesetzt, die einer kontinuierlichen Kommunalfinanzentwicklung Probleme bereiten. 2012 konnten nur 2,3 Mrd. EUR verteilt werden, im Wahljahr 2014 sind es 3,0 Mrd. EUR, in den Folgejahren rund 2,7 Mrd. EUR.

Abb. 19: Entwicklung der Finanzausgleichsmasse Sachsen 2007 – 2016. Quelle:

Im Lichte der obigen Ausführungen wird es schwierig sein, den Einrichtungen einen re- gelmäßigen Inflationsausgleich zukommen zu lassen. Dies wiederum trifft die Einrichtun- Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 49 gen in ihrer Struktursubstanz. Daher birgt das Szenario I „Weiterführung der jetzigen Strukturen“ mannigfache Probleme. 5.2 Szenario II (Schließungen) 5.2.1 Transformation versus Creative Destruction A. Die Schließung von Kultureinrichtungen gehört seit einiger Zeit zum Alltag der Bun- desrepublik Deutschland. „Politik und Kultur“, die Zeitung des Deutchen Kulturates pu- bliziert regelmäßig eine Rote Liste bedrohter Kultureinrichtungen: Mit der Roten Liste bedrohter Kultureinrichtungen, einer Analogie zu den bekannten »Roten Lis- ten« bedrohter Tier- und Pflanzenfamilien, werden in jeder Ausgabe gefährdete Kulturinstitutionen, -vereine und -programme vorgestellt. Ziel ist es, auf den Wert einzelner Theater, Museen oder Or- chester, seien sie Teil einer Kommune oder einer Großstadt, hinzuweisen. Oft wird die Bedeutung einer kulturellen Einrichtung den Nutzern erst durch deren Bedrohung deutlich. Erst wenn Empö- rung und schließlich Protest über mögliche Einschnitte oder gar eine Insolvenz entstehen, wird den Verantwortlichen bewusst, wie stark das Museum, Theater oder Orchester mit der Struktur und der Identität des Ortes verbunden ist. Diesen Bewusstseinsprozess gilt es anzuregen.34 Mit Blick auf die Entwicklung von Staats- und Kommunalfinanzen kann für Sachsens Kultur nicht a priori ausgeschlossen werden, daß sich nach dem Institut für Theaterwis- senschaft an der Universität Leipzig und dem Kulturwerk Riesa weitere Einrichtungen auf dieser Liste wiederfinden. Nun findet zumindest die Wirtschaftswissenschaft Interesse an einem Kahlschlag im Sin- ne der „schöpferischen Zerstörung“ Joseph Schumpeters. Dieser führte aus: The opening up of new markets, foreign or domestic, and the organizational development from the craft shop and factory to such concerns as U.S. Steel illustrate the same process of industrial muta- tion [...] that incessantly revolutionizes the economic structure from within, incessantly destroying the old one, incessantly creating a new one. This process of Creative Destruction is the essential fact about capitalism. It is what capitalism consists in and what every capitalist concern has got to live in. 35

34 http://www.kulturrat.de/detail.php?detail=2396&rubrik=5 35 Schumpeter, Joseph A. Capitalism, Socialismand Democracy [1942]. London 1994, S. 82–83. „Die Eröff- nung neuer, fremder oder einheimischer Märkte und die organisatorische Entwicklung vom Hand- werksbetrieb und der Fabrik zu solchen Konzernen wie dem U.S.-Steel illustrieren den gleichen Pro- zess einer industriellen Mutation – wenn ich diesen biologischen Ausdruck verwenden darf –, der un- aufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert , unaufhörlich die alte Struktur zer- stört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muss auch jedes ka- pitalistische Gebilde leben.“ Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Stuttgart 2005. 50 Matthias Theodor Vogt

Die Kulturpolitik ist gut beraten, eine solch nüchterne Perspektive nicht reflexartig abzu- gezählt, gewogen, zerteilt [und den – מנא ,מנא, תקל, ופרסין) tun als Mene mene tekel u-pharsin Persern überlassen]). Klar war 1992/93 beim Konsultationsprozeß zum SächsKRG, daß die in rund fünf Jahrhunderten aufgebaute kulturelle Infrastruktur Gefahr lief, durch den Systemwechsel entscheidend beeinträchtig und bis zur Unerkennbarkeit verkleinert zu werden. Hätte man nicht – dank der zu selten genannten Herren von Köckritz und Ackermann vom Bundesinnenministerium – die „finanzierte Bedenkzeit“ des Substan- zerhaltungs- und Infrastrukturprogramm mit ihren jährlich 120 Mio DM vom Bund zu- gunsten Sachsens gehabt und hätte man nicht diese Zeit dann auch tatsächlich für eine Neubesinnung im Rahmen des Kulturraumgesetzes genutzt, hätte man statt dessen ein- fachheitshalber westdeutsche Ausstattungsmaßstäbe angelegt, dann wäre Sachsens Kultur in der Fläche ein ähnliches Schicksal beschieden worden wie dem brandenburgischen Theatersystem. Coburg hatte nach 1918 bei seinem Anschluß an Bayern den Erhalt des Kultursystems zur Voraussetzung gemacht und sticht nun aus dem restlichen Franken substantiell hervor. Die Beitrittsländer hatten Analoges im Einigungsvertrag versucht, one daß es ihnen gelungen war. Sie mußten sich ab Ende 1994 selber kümmern. Die sächsische Kulturraum-Lösung versprach Kontinuität bei den Bibliotheken, den Mu- seen, den Theatern, den Tierparks, sowie später den Musikschulen, und Unterstützung beim Aufbau der Soziokulturzentren. Der Preis war eine institutionelle Kontinuität, die an sich dem kreativen Prozeß (der ja den Künsten noch viel mehr eignet als den von Schumpeter beschriebenen Kapitalunternehmen) diametral entgegensteht. Die institutio- nelle Kontinuität bei den Kultureinrichtungen erbrachte aber sehr bald ein zentrales Kapi- tal: nämlich Vertrauen in die neue Rechts- und Gesellschaftsordnung. Die Kreativität der Künstler wandte sich an vielen Orten, und zwar positiv, den neuen Bedingungen zu. Dies ist umso bemerkenswerter, als gleichzeitig eine Kapitalsünde der Staatsregierung, der ge- scheiterte Entlassungsversuch allzu systemnaher Lehrer, zu einer Revolte der Lehrerschaft führte und zu einem doppelt unseligen Kompromiß. Den Lehrern wurde durch die Re- duktion von Lehrauftrag und Gehalt eine Art Strafe für den Systemwechsel auferlegt. Damit hatten ausgerechnet diejenigen, die für die geistige Ausrichtung der jungen Sachsen wesentlich verantwortlich waren, nachvollziehbarerweise Probleme, sich über das neue System zu freuen. Gleichzeitig wurde ein Einstellungsstop verhängt, der einen demogra- phischen Baum der Lehrerschaft erzeugte mit einer Nullkurve über fast zwanzig Jahre hinweg, die nur mit der eines vom Krieg heimgesuchten Landes verglichen werden kann. In Sachsens staatlichen Schulen wurde durch politisches Versagen eine institutionelle Kontinuität produziert, die, wie von Schumpeter prognostiziert, sich Luft in einer wahren Flut von Privatschulgründen machte, die das staatliche Schulsystem nun auch noch Teile Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 51 der Schülerschaft beraubte. Sachsens Hochschulsystem wiederum geriet zu Teilen in eine ganz andere institutionelle Kontinuität hinein; die der westdeutschen Berufungs- und For- schungsfördersysteme. Die durch den Einsatz von Biedenkopf und Meyer akquirierten und neu aufgebauten Forschungseinrichtungen dagegen konnten in einem Maß internati- onales Personal rekrutieren, das einen wesentlichen Grund für ihre heutige Exzellenz dar- stellt; hier erwies sich die radikale Trennung vom sowjetischen Modell der Akademien als fruchtbar. Zumindest im Theater- und Museumsbereich mit seinen regelmäßigen Metamorphosen ist die kreative Erneuerung, wie man Schumpeter vielleicht variieren darf, in das System eingebaut. Die Intendanten wechseln in der Regel aller fünf Jahre und bringen einen ganz neuen Stab und neue Darsteller mit. Sänger und Dirigenten dienen sich allmählich vom Provinztheater über das mittlere Haus zum Staatstheater hoch. Museumsleiter kann man nicht studieren, sondern wächst an verschiedenen Häusern vom Volontär zum wissen- schaftlichen Mitarbeiter und Direktionsassistenzen bis hin zur erfahrenen Leitungsper- sönlichkeit mit wenig Zeit für eigene Ausstellungsvorhaben. Kurz: in einer Gesamtper- spektive erweist sich, daß die Kontinuität der Existenz von Häusern die entscheidende Voraussetzung dafür ist, daß Wechsel stattfinden und neue Kreativität sich entzünden kann. Dies evolutionäre Moment der mitteleuropäischen Kunstszene findet seinen recht- lichen Ausdruck in den Normalverträgen Solo am Theater, dem einzigen vom Gesetz her gestatteten Kettenarbeitsvertrag in der Bundesrepublik. Kulturpolitik steht vor der absur- den Herausforderung, daß sie, wenn sie Wandel unterstützen will, erst durch systemische Kontinuität das Vertrauen der Kunstschaffenden erringen und damit Kreatives auslösen kann. Wenn, und dieses Wenn ist entscheidend, an den Institutionen Freiräume für die Verpflichtung externer Gäste und für den Alltag überstrahlende Projekte vorhanden sind. Wenn nicht, kann die Zerstörung im Wortsinn die kreativere Lösung sein, so wie im Zu- sammenhang des Kulturraumgesetzes am Theater Döbeln mit Blick auf die neue Lösung Freiberg/Döbeln praktiziert. Also Ersetzung durch ein Neues, und nicht – um im Buch Daniel – zu bleiben, das Feld den Persern überlassend.

5.2.2 Kosten des tanzenden Tänzers Menetekelrufe sind unwissenschaftlich. Insofern verwundert es, daß die Wissenschaft nach unserer Kenntnis den worst case bislang nicht systematisch untersucht und die tat- sächlichen Auswirkungen einer gänzlichen oder teilweisen Schließung von Einrichtungen zu erfassen versucht hat. 52 Matthias Theodor Vogt

Im Rahmen eines studentischen Forschungsprojektes haben Master-Studenten des Studi- enganges „Kultur und Management Görlitz“36 eruiert, wie komplex es ist, die Auswirkung der Schließung eines Theaters auf die Finanzkreisläufe zu erfassen. Die Angaben stehen daher deutlich unter Vorbehalt, vermitteln jedoch eine gewisse Annäherung. Als Beispiel wurde ein fiktiver Tänzer ausgewählt, da das Ballett als billigste und schwächste Sparte Sparzwängen oft als erstes zum Opfer fällt. Die hier zu behandelnden Zahlen sind in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Sie gewähren einen beredten Einblick in die soziale Wirklichkeit einer Berufsgruppe, die sich seit früher Schulzeit der Ausbildung widmen muß und mit etwa 35 Jahren nicht mehr die Voraussetzungen für den Tanz er- füllt, also einen neuen Beruf erst noch erlernen muß. Im folgenden interessieren insbe- sondere fiskalische Aspekte (Lohnsteuer, Kirchensteuer, Sozialversicherungsbeiträge). Wie würde sich die Schließung der Sparte Tanz auf die öffentlichen Finanzkreisläufe aus- wirken? Der fiktive Tänzer soll dem durchschnittlich vergüteten Mitglied der Tanzkompagnie am Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau/Görlitz entsprechen. Die Tänzer werden mehr- heiltich nach der Mindestvergütung gemäß § 58 Satz 1 Normalvertrag Bühne (NV Bühne) beschäftigt, sie erhalten 1.650 EUR Arbeitnehmerbrutto. Einschließlich der weiteren für die Tanzkompagnie tätigen Mitarbeit ergibt sich eine Durchschnittsbruttogage von 1.914,29 EUR für Personen, die wohlgemerkt alle ein extrem aufwendiges Tanz- bzw. Musikstudium absolviert haben. Der fiktive Tänzer beziehe eben dieses durchschnittliche Arbeitnehmerbrutto, sei 30 Jahre alt, ledig, kinderlos und Mitglied der Kirche.

Personalaufwand 2013/14 für Tanzkompagnie GHT Görlitz/Zittau im Jahr Personalaufwand 14 Pers. (10 Tänzer, 2 Chor., 1 Korrep., 1 Inspiz.) 381.900,00 Personalaufwand pro Person 27.278,57 monatliches Arbeitnehmernetto im Durchschnitt 1.914,29

Die Finanzierung des Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau-Görlitz erfolgte 2011 zu 85% aus Fördermitteln der öffentlichen Hand und zu 15% aus Eigeneinnahmen des Theaters. Schon die Auflistung der tatsächlichen Fördermittel ist komplex und nur sehr mühsam aufzuhellen; vom Transparenzgebot ist selbst die interne und der Öffentlichkeit kaum greifbare Darstellung des Kulturraums weit entfernt; man muß mehrere Quellen zusam- menrechnen. Anschließend ergibt sich folgendes Bild:

36 Katja Rehor, Anna-Lena Roderfeld, Claudia Tronicke, Meike Weid, Otte, Friederike, Jadranka Bagi, Zuzsanna Kovács. Besonderer Dank geht an Philipp Bormann, Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau/Görlitz, und David Zimmermann, Agentur für Arbeit, Dresden. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 53

Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau-Görlitz 2011 förderf. Gesamtausgaben 12.905.870,93 100% Eigeneinnahmen 1.874.558,72 15% Fehlbedarf 11.031.312,21 85% Zuschuss KR ohne Sitzgemeindeanteil 7.039.520,00 55% davon Landkreis Bautzen 19,34% 1.361.474,40 11% davon Landkreis Görlitz 16,70% 1.175.289,53 9% davon FAG 22,63% 1.593.347,76 12% davon SMWK 41,33% 2.909.407,86 23% Zuschuss Sitzgemeinde über Kulturraum 533.000,00 4% Zuschuss Rechtsträger 3.332.909,23 26% Zuschuss Sonstige 125.882,98 1% Summe Kommunen 7.996.020,92 62% Stadt Görlitz 2.565.909,23 20% Landkreis Görlitz I 1.300.000,00 10% Landkreis Görlitz II 1.175.289,53 9% Landkreis Görlitz Gesamt 2.475.289,53 19% Landkreis Bautzen 1.361.474,40 11% FAG 1.593.347,76 12%

5.2.3 Realbelastung der öffentlichen Haushalten durch den tanzenden Tänzer Insgesamt erhält das Theater öffentliche Gelder in Höhe von 11.031.312 EUR. Für einen einzelnen (nach dem Durchschnitt der Tanzkompagnie beschäftigten) Tänzer werden davon im Jahr 27.278,57 EUR aufgewendet, für das Personal der gesamten Kompagnie mit 14 Personen sind es 381.900 EUR. Das Arbeitgeberbrutto von 2.273,21 EUR im Monat entspricht einem Arbeitnehmerbrut- to von 1.914,29 EUR bzw. einem Arbeitnehmernetto von 1.303,99 EUR. [Ein Hinweis: die letzten drei Spalten der folgenden Tabellen sind zu lesen als a) Monat Einzeltänzer, b) Jahr Einzeltänzer, c) Kompagnie Jahr.]

Phase I: Anstellung Durchschnitt Tänzervergütung GHT Monat Jahr Kompagnie Arbeitgeberbrutto 2.273,21 27.278,57 381.900,00 Sozialversicherung Arbeitgeber 18,75% 358,93 4.307,14 60.300,00 Rentenversicherung 9,45% 180,90 2.170,80 30.391,20 Arbeitslosenversicherung 1,50% 28,71 344,57 4.824,00 Krankenversicherung 7,30% 139,74 1.676,91 23.476,80 54 Matthias Theodor Vogt

Pflegeversicherung 0,50% 9,57 114,86 1.608,00 Arbeitnehmerbrutto 1.914,29 22.971,43 321.600,00 Sozialversicherung Arbeitnehmer 20,70% 396,26 4.755,09 66.571,20 Rentenversicherung 9,45% 180,90 2.170,80 30.391,20 Arbeitslosenversicherung 1,50% 28,71 344,57 4.824,00 Krankenversicherung 8,20% 156,97 1.883,66 26.371,20 Pflegeversicherung 1,55% 29,67 356,06 4.984,80 Steuern 214,04 2.568,48 35.958,72 Lohnsteuer 9,85% 188,58 2.262,96 31.681,44 Solidaritätszuschlag 0,54% 10,37 124,44 1.742,16 Kirchensteuer 0,79% 15,09 181,08 2.535,12 Arbeitnehmernetto 1.303,99 15.647,86 219.070,08

Die Kosten verteilen sich nominal zu 15% auf das Theater mit Einnahmen aus dem Spielbetrieb, zu 52% auf die „kommunale Familie“ aus Stadt, Landkreis und FAG sowie zu 23% auf den Freistaat Sachsen. Bund und Sozialversicherungssysteme beteiligen sich nicht an den Kosten eines Stadttheaters und seiner Tänzer.

Kostenverteilung I nominal -2.273,21 -27.278,57 -381.900,00 Theater 15% -330,18 -3.962,17 -55.470,41 Stadt Görlitz 20% -451,95 -5.423,45 -75.928,29 Landkreise 30% -675,80 -8.109,60 -113.534,39 FAG 12% -280,65 -3.367,79 -47.149,05 SMWK 23% -512,46 -6.149,49 -86.092,82 Bund 0% 0,00 0,00 0,00 Sozialversicherungssysteme 0% 0,00 0,00 0,00 Kostenverteilung I nominal nur öff. Hand 100,00% -1.943,03 -23.316,40 -326.429,59

Nun beträgt aber die Staatsquote (die Summe dessen, was Arbeitgeber und Arbeitnehmer an Steuern und Sozialversicherung an die öffentlichen Systeme abführen) in diesem Fall 42,6% bzw. 162 TEUR für die gesamte Kompagnie. Pro Tänzer fließen 2.387,40 EUR EUR über Steuereinnahmen (ohne Kirchensteuer) wieder zurück an Bund, Länder und Kommunen. Weitere 9.062,23 EUR gehen in Form von Sozialabgaben zurück in die Sys- teme.

Rückflüsse in die öff. Systeme gesamt 41,97% 954,14 11.449,63 160.294,80 Summe Steuern Bund, Land, Gemeinde 198,95 2.387,40 33.423,60 Bund 42,50% 84,55 1.014,65 14.205,03 Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 55

Land 42,50% 84,55 1.014,65 14.205,03 Gemeinde 15,00% 29,84 358,11 5.013,54 Summe Sozialversicherungssysteme 755,19 9.062,23 126.871,20

Damit klärt sich nun das Bild der realen Kostenverteilung: Bund und Sozialversicherungs- systeme profitieren mit gut 10.000 EUR von der Anstellung des Tänzers (bzw. mit 140.000 EUR von der Anstellung der Kompagnie). Das Land erhält eine Rückführung von 16% seiner Aufwendungen. Bei den Kommunen ändert sich wenig. Das Theater trägt 30% des sich letztlich ergebenden Saldos (da sich dieses volkswirtschaftlich betrachtet halbiert hat). Der Rückfluß reduziert die Nettoleistung auf 11.600 EUR p.a. an öffentli- chen Mitteln für die Anstellung des Tänzers.

Kostenverteilung II real 57,05% -1.296,91 -15.562,87 -217.880,16 Theater 25% -330,18 -3.962,17 -55.470,41 Stadt Görlitz 33% -422,11 -5.065,34 -70.914,75 Landkreise 52% -675,80 -8.109,60 -113.534,39 FAG 22% -280,65 -3.367,79 -47.149,05 SMWK 33% -427,90 -5.134,84 -71.887,79 Bund -7% 84,55 1.014,65 14.205,03 Sozialversicherungssysteme -58% 755,19 9.062,23 126.871,20 Kostenverteilung II real nur öff. Hand 49,75% -966,72 -11.600,70 -162.409,75

5.2.4 Phase II – der Tänzer wird entlassen Wir kommen zu Phase II. Der fiktive Tänzer wird entlassen, weil das Theater geschlossen oder seine Tanzgruppe aufgelöst wird. Er hat zunächst Anspruch auf die Kombination aus ALG I und ALG II. Sein vorheriges Gehalt war zu gering, um soviel ALG I bekom- men zu können, wie er zur Finanzierung seiner Lebenshaltungskosten benötigt, deshalb erhält er eine Ergänzung aus ALG II. Der Tänzer erhält aus Versicherungs- bzw. Bundesergänzungsmitteln 498,72 EUR sowie 292,28 EUR aus kommunalen Zuwendungen (ergänzendes ALG II). Dies entspricht ei- nem Netto von 791 EUR bzw. für ihn einem Minus von monatlich 36%. Dazu kommt ein Aufwand von 470,00 EUR Sozialversicherungsabgaben (Summe aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbrutto), den die Agentur für Arbeit und damit ebenfalls der Staat über- nimmt, sowie die Kosten der Arbeitsverwaltung, die von externen Fachleuten auf 400 EUR pro Monat und Fall geschätzt werden. Phase II: Beginn der Arbeitslosigkeit Im Monat Im Jahr Kompagnie 56 Matthias Theodor Vogt

Berechnung Arbeitslosengeld I Bruttoeinkommen der letzten Monate 1.303,99 abzg.Sozialversicherungspauschale -21,00% -273,84 abzg. Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag -10,39% -198,95 verbleiben 68,61% 831,20 davon 60% = ALG I (Agentur für Arbeit) 41,16% 498,72 5.984,65 83.785,06 Ergänzung ALG II (aus kommunalen Mitteln) 22,41% 292,28 1.532,40 21.453,60 Einkünfte netto 63,58% 791,00 9.852,00 137.928,00 Sozialversicherung (Pauschale Agentur für 470,00 5.640,00 78.960,00 Arbeit) Aufwand brutto 1.291,00 15.492,00 216.888,00 Kosten der Arbeitsverwaltung ca. 400,00 5.640,00 78.960,00 Aufwand gesamt 1.691,00 15.492,00 216.888,00

Wenn der Tänzer nicht mehr tanzt, wird es teurer für die öffentliche Hand. Die Mehr- aufwendungen der öffentlichen Systeme für den arbeitslosen Tänzer belaufen sich auf jährlich 8.331,30 EUR gegenüber dem Aufwand für den arbeitenden Tänzer, also fast auf das Doppelte. Es wäre aus Sicht des Gesamtsystems für die Gesellschaft weniger aufwen- dig, ihn weiter tanzen zu lassen.

Kostenverteilung Phase II -1.661,00 -19.932,00 -279.048,00 Theater 0% 0,00 0,00 0,00 Stadt Görlitz 0% 0,00 0,00 0,00 Landkreise 18% -292,28 -3.507,35 -49.102,94 FAG 0% 0,00 0,00 0,00 SMWK 0% 0,00 0,00 0,00 Bund 0% 0,00 0,00 0,00 Sozialversicherungssysteme 82% -1.368,72 -16.424,65 -229.945,06 Mehraufwand öff. Hand -694,28 -8.331,30 -116.638,25

Aus Sicht des städtischen Trägers ist eine Entlastung zu verzeichnen, da seine Belastung durch den Theaterzuschuß wegfällt und der Gemeindeanteil an der Lohnsteuer unerheb- lich ist. Der Landkreis ist im Moment noch um 4.600 EUR p.a. entlastet. Ganz neu ins Spiel kommt die Gemeinschaft der Rentenversicherten und mit ihnen der Bund. Im Sinne der Umsatzrentabilität für die städtischen Gewerbetreibenden, Vermieter, Bäcker, Ärzte usw. ist ein Verlust von 36% zu konstatieren. Aus Sicht des Bürgers, der zuvor gerne ins Theater zu einer Tanzaufführung gegangen war, beträgt der Totalverlust 100% – das The- ater ist geschlossen, der Tänzer kann nicht tanzen. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 57

Saldo Phase II zu Phase I Theater 330,18 3.962,17 55.470,41 Stadt Görlitz 422,11 5.065,34 70.914,75 Landkreise 383,52 4.602,25 64.431,44 FAG 280,65 3.367,79 47.149,05 SMWK 427,90 5.134,84 71.887,79 Bund -84,55 -1.014,65 -14.205,03 Sozialversicherungssysteme -2.123,91 -25.486,88 -356.816,26 Mehraufwand öff. Hand -694,28 -8.331,30 -116.638,25

5.2.5 Phase III – der Tänzer ist auf Dauer ohne Engagement In der dritten Phase empfängt der Tänzer ausschließlich Hartz IV, das nach dem Bezugs- zeitraum des ALG I gezahlt wird. Es wird unabhängig vom vorherigen Einkommen ge- zahlt, der Antragsteller hat nur ein Recht darauf, wenn er sein finanzielles Existenzmini- mum nicht selbst bestreiten kann und damit im Sinne des Gesetzes als hilfebedürftig gilt. Hierbei übernimmt die Agentur für Arbeit Kranken- und Pflegeversicherung, Lohnsteu- ern fallen nicht an. Phase III : Hartz IV Im Monat Im Jahr Kompagnie Einkommen (aus Bundes- bzw. AA-mitteln) 391,00 4.692,00 65.688,00 Kosten der Unterkunft (aus kommunalen 400,00 4.800,00 67.200,00 Mitteln) [Schätzwert; für Görlitz angemessen] Einkünfte netto 60,66% 791,00 9.492,00 132.888,00 Versicherungskassenpauschale (Agentur für 150,00 1.800,00 25.200,00 Arbeit) Aufwand brutto 941,00 11.292,00 158.088,00 Kosten der Arbeitsverwaltung ca. 400,00 4.800,00 67.200,00 Aufwand gesamt 1.341,00 16.092,00 225.288,00

Die Kosten für die öffentliche Hand sind nun geringer, liegen aber immer noch bei 16.000 EUR und damit um 4.500 EUR höher als für den tanzenden Tänzer.

Kostenverteilung Phase III -1.341,00 -16.092,00 -225.288,00 Theater 0% 0,00 0,00 0,00 Stadt Görlitz 0% 0,00 0,00 0,00 Landkreise 30% -400,00 -4.800,00 -67.200,00 FAG 0% 0,00 0,00 0,00 SMWK 0% 0,00 0,00 0,00 58 Matthias Theodor Vogt

Bund 0% 0,00 0,00 0,00 Sozialversicherungssysteme 70% -941,00 -11.292,00 -158.088,00 Mehraufwand öff. Hand -374,28 -4.491,30 -62.878,25

Der große Verlierer sind (a) das Finanzamt und damit letztlich die Gemeinschaft der Steuerbürger sowie (b) die Sozialversicherungssysteme. Deren Aufwendungen sind nun höher als die nominalen Aufwendungen der öffentlichen Hand in Phase I für den tanzen- den Tänzer und weitaus höher als deren reale Aufwendungen in Phase I. Die Belastung der Sozialversicherungssysteme durch die dauerhaft arbeitslose Kompagnie beträgt 285.000 EUR pro Jahr, die Gesamtbelastung der öffentlichen Hand durch die tanzende Kompagnie hatte 160.000 EUR pro Jahr betragen.

Saldo Phase III zu Phase I Theater 330,18 3.962,17 55.470,41 Stadt Görlitz 422,11 5.065,34 70.914,75 Landkreise 275,80 3.309,60 46.334,39 FAG 280,65 3.367,79 47.149,05 SMWK 427,90 5.134,84 71.887,79 Bund -84,55 -1.014,65 -14.205,03 Sozialversicherungssysteme -1.696,19 -20.354,23 -284.959,20 Mehraufwand öff. Hand -374,28 -4.491,30 -62.878,25

Das verfügbare Einkommen bleibt bei 791 EUR im Monat. Der Verlust bei der lokalen Umwegrentabilität beträgt damit 36%, sofern der arbeitslose Tänzer in der Stadt wohnen bleibt. Aber was soll er dort, nachdem der einzige Arbeitgeber geschlossen hat? In diesem Fall beträgt der Verlust bei der lokalen Umwegrentabilität die gleichen 100% wie für den theaterinteressierten Bürger. Erst aber wenn der Tänzer wegzieht, reduziert sich die Belastung des Landkreises, der je nach Einzelfall für den langzeitarbeitslosen Tänzer ähnlich viel aufwenden müßte wie für die Teilträgerschaft des Theaters und über die Kulturraumumlage. Dies ist allerdings nur eine Verschiebung zu Lasten eines Drittkreises – in der Regel Berlin. Die eigentliche Frage ist ohnehin: Was würde die Abschaffung einer ganzen Kultursparte für die Stadt, hier Görlitz, als Standort bedeuten?

Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 59

5.2.6 Ineffizienz einer Schließung innerhalb eines Musiktheaterhauses Unter den weiteren Musiktheaterproduktionen (Oper, Operette, Musical) werden im kon- kreten Fall Görlitz drei neue Produktionen sowie zwei bis drei Wiederaufnhamen mit Tänzern herausgebracht, in der Regel mit allen sechs Paaren. Ohne Tänzer gibt es meist nur eine einzige Produktion. Würde das Haus auf ein festes Tanzensemble verzichten, müßte es Aushilfen einkaufen, für die neben dem Honorar Reise- und Aufenthaltskosten auch für die Probenzeiten anfallen würden. Ohnehin sind wenigstens ein Choreograph, der Korrepetitor und der Inspizient für die restliche Arbeit des Hauses unverzichtbar; es könnten also maximal 11 Personen freigesetzt werden. Wie man auch rechnet; selbst für das Haus lohnt sich in einer betriebswirtschaftlichen Perspektive die Auflösung des Tan- zensembles kaum. Würde man auf eine freie Gruppe zurückgreifen, würden Bund und Veranstalter über die Künstlersozialkasse mit ins Spiel kommen; aber schon in der zwei- ten Spielzeit würde das Arbeitsgericht auf Festanstellung erkennen müssen. Volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich ist es am effizientesten, den fiktiven Tänzer bzw. die reale Tanzkompagnie am Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau-Görlitz weiterzu- beschäftigen und tanzen zu lassen – zur Freude gerade der Jüngeren unter den Bürgern.

Aufwand Tanzkompagnie 451.900,00 14 Kompagnie 26.800,00 31.825,00 381.900,00 im Durchschnitt 1.914,29 2.273,21 27.278,57 Sachmittel 70.000,00 60 Matthias Theodor Vogt

5.3 Szenario III (Eine neue sächsische Kulturpolitik: Resilienzstär- kung der Zivilgesellschaft als strategischer Schwerpunkt einer er- neuerten sächsischen Kulturpolitik) Bei Böckenförde hatte es, wie eingangs zitiert, geheißen: „Als freiheitlicher Staat kann er […] nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, regu- liert“. Bei der letzten Bundestagswahl machte eine Partei Furore, die Stimmen aus der Furcht vor einer Heterogenität der Gesellschaft zieht und mit simplen Parolen für eine Homogenität eintritt, die „Alternative für Deutschland“. Nirgendwo in Deutschland konnte sie mit ihren subkomplexen Parolen mehr Anhänger rekrutieren als im Dreilän- dereck Sachsens zu Polen und Tschechien; in Dürrhennersdorf nahe Zittau erreichte sie 15,6%. Die Prognosen für die zum 31. August 2014 anstehende Landtagswahl ergeben ein ähnliches Bild. Die demographischen Verluste von teils einem Drittel und mehr der Einwohnerschaft in entlegenen Dörfern und Landstädtchen führen nicht nur quantitativ zu einer Verödung und zu enormen Skalenverlusten bei der Gewährleistung von Daseinsvorsorge (das Schulsystem, das Trinkwasser- und Abwassersystem, das Verwaltungssystem; alles ist pro Kopf erheblich teurer als in Agglomerationen). Sie stellen auch das politische System vor eine Zerreißprobe und befördern offen freiheitsfeindliche Parteiungen; vor einiger Zeit die NPD, nun die AfD. Sie führen insbesondere qualitativ zu erheblichen Verschiebungen innerhalb der Gesellschaft: insbesondere die Jungen, die Frauen, die Gebildeten wandern ab, ohne daß adäquater Ersatz für sie nachkommen würde. Zurückbleiben dementspre- chend ehe die Alten, die Männer, die Ungebildeten. Die Suche nach hervorragendem Nachwuchs für lokale Ämter, der die Idee des freiheitlichen Staats vor Ort überzeugend umsetzen kann, gestaltet sich dementsprechend schwierig. Das etwas sperrige Wort Funktionselite ist leicht zu übersetzen: statt zu fragen, was der Staat für einen tun kann, fragt die Funktionselite, was sie für die Gesellschaft tun kann. Aus diesem Einsatz wiederum beziehen gerade Jugendliche, wie die jüngsten Daten des Sozioökonomischen Panels und die darauf basierende Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen, ein Mehr an Lebenszufriedenheit. Eine sich selbst verstär- kende Positivspirale wird in Gang gesetzt. Einen wesentlichen Anteil spielen dabei soge- nannte „bildungsorientierte Freizeitangebote“, sprich der Kunst- und Kulturbereich und die kulturelle Bildung. Wie nun verhält es sich mit der Möglichkeit für die Jugend im AfD-Gebiet, für selbstge- wählte Themen im Bereich der „bildungsorientierten Freizeitangebote“ Unterstützung zu Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 61 beantragen? Seitens des Kulturraums, der ja, ganz im Sinne Böckenfördes, begründet worden war, um die „Freiheit des geistigen Lebens und die Freiheit der Künste“ (Präam- bel SächsKRG) zu befördern, sieht die Entwicklung 1995 zu 2011 ernüchternd aus: von umgerechnet 2,16 Mio EUR auf nominell 1,62 Mio EUR (75%) bzw. unter Einrechung des Wiesbadener Index zum Kaufkraftverlust auf real 1,18 Mio EUR (55%), also auf die Hälfte. Der Anteil ist von 5,7% auf 3,2% ebenfalls halbiert. Projektförderung, Sonstiges Real nominal KR 08 Oberlausitz/Niederschlesien 1995 2.162.815,79 2.162.815,79 KR 5 Oberlausitz/Niederschlesien 2011 1.181.307,70 1.620.344,89 55% 75%

Ein zweites Problem ist ein verwaltungstechnisches. Um einen Förderantrag einzureichen, die Gelder abzurufen und vor allem dann eine prüffeste Abrechnung vorzulegen, braucht man nicht nur Abitur, sondern möglichst noch ein Spezialausbildung an der Meißner Verwaltungshochschule. Wie Recherchen ergaben, ist es praktisch unmöglich, mit einem Hauptschulabschluß die Anforderungen an ein rechtsfestes Förder- und Abrechnungsver- fahren zu erfüllen. Der Freistaat Sachsen und seine Kommunen schließen damit einen wichtigen Teil der Bevölkerung von der aktiven Partizipation am Kunst- und Kulturleben aus; und zwar durchaus jenen, unter dem NPD und AfD mit ihren subkomplexen Paro- len bevorzugt (aber weiß Gott nicht ausschließlich! Man denke nur an die vielen Professo- ren) Anhänger bzw. Stimmen rekrutieren. Verwaltungsverfahrenstechnisch werden damit die Gegner der freiheitlichen Rechtsordnung gestärkt. Ein drittes Problem ist ebenfalls verwaltungstechnisch. Der Landtag beschließt traditio- nell Mitte Dezember des Vorjahres über den Haushalt. Es dauert etliche Monate, bis das Ministerium die Zuwendungen an die Kulturräume bereitgestellt hat. Erst dann wiederum kann der Kulturkonvent über die Projekte beraten; unter Umständen werden diese nach- rangig behandelt und erst auf einer späteren Sitzung beschlossen. Dies alles kann sich bis weit in den Frühsommer hineinziehen, während gleichzeitig die Mittel vor Ende des Jah- res verausgabt sein müssen und unmittelbar danach abzurechnen sind. Dementsprechend können Projekte nur von Projektträger mit einer stabilen Infrastruktur, die lange Vorlauf- zeiten abfedern kann, durchgeführt werden. Speziell die Jugend, deren Netzwerke einen geringen Organisationsgrad aufweisen, kann hier tendenziell nicht mithalten. Erfolgreich dagegen im Projektwettbewerb sind Einrichtungen für Zusatzprojekte. Eine Beantragung für das folgende Haushaltjahr wiederum ist nach derzeitiger Verordnungslage nicht mög- lich. 62 Matthias Theodor Vogt

Die Gesetzeslage dagegen sieht für die Kulturräume eine festgeschriebene Mindestaus- stattung unabhängig vom Haushaltsjahr und unabhängig von den Beschlüssen des Land- tage vor (der immer ein Mehr beschließen kann, ein Weniger aber nur durch Veränderung des SächsKRG). Eine Verpflichtungsermächtigung für das folgende und das übernächste Haushaltsjahr wäre folglich kein unüberwindliches Hindernis. Denkbar wäre es folglich, im Rahmen des SächsKRG einen Fonds zur Resilienzstärkung, sprich der Zivilgesellschaft speziell in den ländlichen Kulturräumen aufzulegen. Auf dem Wege der Verpflichtungsermächtigung könnten Mittel für das laufende, das folgende und das übernächste Haushaltsjahr beim SMWK für die Kulturräume abrufbar sein; die übli- che kommunale Gegenfinanzierung immer vorausgesetzt. Antragsberechtigt sollten nur die Kulturräume sein, die sich in einer Arbeitsgruppe mit dem SMF auf ein im Höchstmaß transparentes, einleuchtendes und ohne Verwaltungs- schulung korrekt durchführbares Förderantragsverfahren geeinigt haben. Antragsberechtigt bei den Kulturräumen sollten nur zivilgesellschaftliche Organisationen (Vereine auch ohne größere Rechtsformen, privat getragene Gesellschaften, GbR’s etc.) sein. Die Projekte sollten vorzugsweise einen interkulturellen Bezug im Sinne des Art. 12 Sächsische Verfassung durch Einbezug internationaler Künstler, außersächsischer Zivilge- sellschaft, Immigranten etc. aufweisen. Die Projekte können in Zusammenarbeit mit einer vom Kulturraum gegenwärtig oder früher institutionell geförderten Kultureinrichtung auf dem Gebiet des betreffenden Kul- turraums durchgeführt werden, die eine fachliche Beratung sowie das Overhead einschl. Abwicklung der Gelder übernimmt und hierfür einen festgelegten Anteil von 15% erhält; Personalaufwand in Kunst und Technik kann Teil des Projektantrages sein. Die Projekte sollten auf die Vorstellungswelt zielen. Menschlichem Handeln gehen Vor- stellungen voraus, die dann handlungsleitend oder auch nichthandelns-leitend werden. Die moderne Wirtschaft baut vorgestellte Bedürfnisse auf, die dann mit dem Kauf ihrer Produkte befriedigt werden. Städte und Regionen schaffen ein Bild von sich, um Besu- cher anzuziehen, die Bürger zufrieden zu machen und neue Menschen anzuziehen. So wie der Freistaat seine Hochschulen und Hochkultureinrichtungen als Mittel einer Vorstel- lungspolitik unterhält und die Kommunen ihre Kulturräume und Einrichtungen, so sollte die Zivilgesellschaft in die Lage versetzt werden, ihrerseits das innere und das äußere Bild von Dürrhennersdorf zu verändern.

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6 Handlungsempfehlungen

6.1 SächsKRVO Die Zuwendungen an die Kulturräume in den Haushaltsjahren 2011 bis 2014 im Umfang von 346,8 Mio EUR erfolgten ohne gültige Rechtsgrundlage. Grund ist die fehlende Normenanpassung der SächsKRV0 an die Neufassung des SächsKRG aufgrund von Arti- kel 15 des Gesetzes vom 15. Dezember 2010 (SächsGVBl. S. 387,398). Dieser Befund sollte nicht überbewertet werden; die Empfänger genießen Schutz (siehe oben den Kommentar). Es wird empfohlen, a) durch Anpassung der SächsKRVO einen rechtskonformen Zu- stand ab dem Haushaltsjahr 2014 herzustellen, b) mit den Kulturräumen das Benehmen über deren Anerkennung der Zuwendungen in den Haushaltsjahren 2011 bis 2013 herzu- stellen.

6.2 Daten zur Erfüllung des gesetzlichen Auftrags aus § 6 Abs. 4 Satz 1 SächsKRG 2010 („Summe der Ausgaben oder der finanzwirksamen Aufwendungen aller vom Kulturraum geförderten Einrichtungen und Maßnahmen“) Wie dargestellt, unterliegen Sachsens Kommunen derzeit vielfältigen Sanktionsmechanis- men, wenn sie den Auftrag an sie aus der Präambel des SächsKRG („in der Erwartung, dass die Kulturräume bürgernahe, effiziente und wandlungsfähige Strukturen schaffen“) umsetzen. Grund ist, daß der gesetzliche Auftrag aus § 6 Abs. 4 Satz 1 SächsKRG 2010 („Summe der Ausgaben oder der finanzwirksamen Aufwendungen aller vom Kulturraum geförderten Einrichtungen und Maßnahmen“) derzeit nicht erfüllt wird. Eine einheitliche und ausführliche Datenbasis im Bereich der Kulturfinanzierung und deren regelmäßige Evaluation sind jedoch Voraussetzung für a) die rechtskonforme Zuweisung der Mittel nach § 6 Absatz 2 Buchst. a SächsKRG und b) für die Evaluation nach § 9 SächsKRG. Es wird empfohlen, eine solche einheitliche und ausführliche Datenbasis im Bereich der Kulturfinanzierung zu schaffen, in der a) die kommunalen bzw. kommunal geförderten bzw. zivilgesellschaftlich geführten Einrichtungen und Maßnahmen von regionaler sowie von lokaler Bedeutung, b) aufgrund der Bedeutung der zentralen Einrichtungen für einen Teil der Kulturraummittelvergabe (z.B. Hauptstadtvertrag) auch für die staatlichen und Bundeseinrichtungen zu schaffen. Auf die fortlaufende Diskussion zwischen Kulturräu- men und Staatsministerium um angemessene Berücksichtigung der Gesamthaushalte der 64 Matthias Theodor Vogt

Kultureinrichtungen sowie auf die Problematik der Doppik sei verwiesen; das Vorhaben ist komplex. Es wird empfohlen, die Schaffung einer solchen Datenbasis als Schritt vor der eigentli- chen Evaluation durchzuführen. Zu eruieren ist, welche Maßnahmen in diesem Zusam- menhang geboten sind, welche Strukturen/Ebenen welche Leistungen dafür erbringen können und ob sich ggf. notwendige Investitionen durch eine innovative und nachhaltige Umsetzung auszahlen. Eine Mindestanforderung besteht in der vollständigen Datenaggregation und -auswertung mit Blick auf die Mittelverwendung. Wenn zukunftsorientierte Steuerungsoptionen entwi- ckelt und Entwicklungsdiskurse innerhalb und zwischen den Kulurräumen nicht nur er- möglicht sondern herausgefordert werden sollen, sollten darüber hinaus erstens Daten zur Förderung von der Antragsstellung bis zur Abrechung erfasst werden, um Erfolgsquoten und Tendenzen/Verschiebungen der Kulturentwicklung beobachten zu können. Zwei- tens sollten Parameter zur Umsetzung von Querschnittsaufgaben miteinbezogen werden. Geprüft werden kann die Umsetzung einer teilweise öffentliche Zugänglichkeit der Da- ten. Das heißt Einrichtungen und Träger haben Zugang, die Allgemeinheit nicht. Eine solche Datenressource ermöglicht dem Freistaat ein Controlling über die Mittelverwen- dung und den Kulturräumen ein Controlling über ihre Förderverfahren, beide Ebenen können ihre Gesamtstrategie nachjustieren; sowie eine begleitende Forschung. Sachsen würde mit diesem nachhaltigen Instrument der Kulturpolitik Vorreiter unter den deut- schen Ländern und darüber hinaus werden.

6.3 Beschluß des Landestages über eine Gesetzesänderung zur Ver- schiebung des Vorlagetermins der Evaluation nach § 9 SächsKRG möglichst aufgrund fraktionsübergreifender Zustimmung § 9 SächsKRG sieht vor: Im Abstand von jeweils sieben Jahren prüft die Staatsregierung, ob sich dieses Gesetz im Hinblick auf die Erhaltung und Förderung kultureller Einrichtungen und Maß- nahmen von regionaler Bedeutung bewährt hat. Dabei sind die Sachgerechtigkeit der in diesem Gesetz geregelten Organisations- und Finanzstrukturen, die Anzahl und der Zuschnitt der Kulturräume sowie das Verfahren und die Kriterien zur Verteilung der Landesmittel an die Kulturräume zu untersuchen. Über das Ergebnis der Prüfung ist dem Landtag erstmals bis zum 31. Dezember 2015 zu berichten. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 65

Da a) die hierfür benötigten Daten nicht vorliegen, sondern erst aggregiert werden müs- sen, was eine bestimmte Zeit benötigen wird, und b) Untersuchungen zur Relevanz der Kulturraumförderung gemessen an den Zwecksetzungen der Präambel erst noch erarbei- tet werden müssen, wird empfohlen, daß der Sächsische Landtag im Interesse einer mög- lichst sachdienlichen Untersuchung und zugunsten von Vollständigkeit und Qualität der Vorschläge fraktionsübergreifend ein Kulturraumgesetz-Änderungsgesetz zur Verschie- bung des Vorlagetermins beispielsweise zum 31. Dezember 2016 beschließt.

6.4 Planung und Durchführung der Evaluation nach § 9 SächsKRG 6.4.1 Arbeitsgruppe StS SMWK, SMUL, SMI, SMF Es wird empfohlen, unmittelbar nach Bildung der neuen Staatsregierung im Herbst 2014 für die anstehende Evaluation nach § 9 SächsKRG eine Arbeitsgruppe im SMWK zu gründen, angesiedelt auf Ebene des Staatssekretärs, unter Beteiligung des SMUL, SMF und SMI. Ihre Aufgabe als ‚Taskforce’ ist es, in Zusammenarbeit mit externen Wissen- schaftlern die Evaluation zu planen und zu realisieren.

6.4.2 Wiss. Experten Eine Evaluation ist als wertende Untersuchung auf wissenschaftliche Expertise angewie- sen. Mittels einer externen Beauftragung kann die Untersuchung von einem unabhängigen Standpunkt aus realisiert werden. Notwendig für eine konstruktive Diskussion ist eine Entscheidungsgrundlage, die sich auch kritisch mit dem Handeln der Auftraggeber sowie der Mittelempfänger befaßt und die die Befunde im Kontext weiterer wissenschaftlicher Erkenntnisse auswertet. Ein solcher Ansatz (externe Beauftragung, wissenschaftliche und theoriegeleitete Methoden) ist in anderen Bereichen staatlichen Handelns üblich. Es ist im Interesse Sachsens, eigene Expertise im Land auszubilden. Die Experten sollten mit Sachsens Kulturpolitik und Kulturszene bereits höchst vertraut sein und sollten auch nach der ersten Evaluation für eine Begleitung der aus der Evaluation folgenden Verände- rungen kontinuierlich zur Verfügung stehen – § 9 SächsKRG sieht eine Fortsetzug des Evaluationsverfahrens bereits vor.

6.4.3 Diskursive Öffnung des Evaluationsverfahrens Das Zurateziehen von Experten aus dem Kulturbereich ist kein Ersatz für wissenschaftli- 66 Matthias Theodor Vogt che Expertise, zumal ersteren keine hinreichenden Ressourcen für eigene Analysen zur Verfügung stehen. Eine diskursive Öffnung des Evaluationsverfahrens würde es erlauben, verschiedene Zukunftsentwürfe aus den Perspektiven unterschiedlicher Anspruchsgrup- pen zu beleuchten. Die im Vorfeld der Evaluation begonnenen Diskurse mit Kulturraum- akteuren (Werkstätten der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, dem Sächsischen Kul- tursenat und der Sächsischen Akademie der Künste, dem Institut für kulturelle Infrastruk- tur Sachsen) sollten vertieft und als immanenter Bestandteil der Evaluation angelegt und ausgewertet werden. Dieser partizipative Ansatz konterkariert nicht die Legitimation des Gesetzgebers und birgt vielfältige Vorteile. Der Evaluationsprozess schafft einen Rahmen für den kultur- raumübergreifenden Austausch zwischen Akteuren der Kulturräume, der Kommunen, Landkreise und des Freistaates, sowie Vertreterinnen und Vertretern der Kultureinrich- tungen, -initiativen und verbände zur langfristigen Entwicklung der Kulturräume, zum Vergleich der Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit der sächsischen Kulturräume. Auf diese Weise erhalten Staatsregierung und Landtag eine akteursgetragene, umfassend legi- timierte und vollständige Grundlage für eine Novellierung.

6.4.4 Erweiterung der Fragestellung Für ein zukunftsweisendes Ergebnis sind die Untersuchungsgegenstände über die gesetz- lich unbedingt vorgeschriebenen Fragen hinaus zu erweitern. Letztere sind erstens: das bisher Erreichte überprüfen, zweitens: die Wege hin zu bestimmten Entwicklungszielen für die Kulturräume untersuchen. Dem voraus aber ist die Frage zu klären, was (Kultur-) Politik für den sogenannten ländlichen Raum anstrebt. Hier sind positive Vorstellungen über das Zusammenleben zu formulieren. Empfohlen wird die Entwicklung und kontinuierliche Fortschreibung einer ganzheitli- chen kulturpolitischen Konzeption „Kulturland Sachsen“ im Sinne einer Ausformung der Präambel des SächsKRG und des dort als Auftrag an die sächsische Kultur und ihre För- derer formulierten Menschenbildes. Darauf aufbauend lassen sich eine mittelfristige Strategie zur Erhaltung und Entwicklung der Kulturlandschaft im Freistaat Sachsen im Kontext des Auslaufens des Solidarpaktes sowie Strategien zum Schutz und zur stärkeren Beförderung der kulturellen Infrastruktur in den ländlichen Kulturräumen entwickeln. Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 67

Es gibt verschiedene Handlungsmöglichkeiten, wie mit den sich verändernden Rahmen- bedingungen umgegangen werden kann. Anhand von Szenarien lassen sich wesentliche Fragen beantworten: Wie entwickelten und entwickeln sich zukünftig Kulturangebote und -effekte in Abhängigkeit von der finanziellen Gesamtausstattung, von der Zuteilung der Landesmittel zu den verschiedenen Kulturräumen sowie von strategisch zu bestimmen- den Schwerpunkten der Förderung. Dazu ist Einiges vorbereitend gesagt (vgl. die in der Vorbemerkung genannten Veröffentlichungen), aber längst nicht hinreichend geforscht worden.

6.5 Modellprojekt mehrerer europäischer Regionen Empfohlen wird, mit einem der sächsischen Kulturräume ein Modellprojekt durchzufüh- ren. Entsprechend einer Empfehlung der Sächsischen Staatskanzlei und aufbauend auf Erfahrungen des SMWA (QUALIS) könnte eine wesentliche EU-Finanzierung über das Programm Central unter Beteiligung mehrer Partnerregionen laufen. Die neue För- derrunde wird vorauss. Anfang 2015 beginnen. Das Dilemma des sogenannten ländlichen Raums in Sachsen (also der Landkreise außer- halb der drei Metropolen) sind seine Skalenverluste durch die Binnenmigration und unzu- reichende Immigration. Infrastrukturen für verödende Landstriche sind teurer als solche in Agglomerationen (siehe oben). Durch die Bindung der Zuweisungen (auch die des Kul- turraumgesetzes) an die Einwohnerzahlen der Landkreise verschärfen sich die Skalenver- luste noch mehr. Der Wegzug der Jungen, der Gebildeten, der Mobilitätsbereiten, der Frauen schafft erhebliche Lücken bei der Regeneration von Funktionseliten und untermi- niert die demokratische Verfaßtheit in bereits besorgniserregendem Ausmaß (siehe oben). Ursache der Mobilität sind interessanterweise weniger harte Faktoren wie Arbeitsplätze, Wohnraumversorgung oder Sozialversorgung. Ursache der einseitigen Mobilität vom ländlichen und mittelstädtischen Bereich in die Agglomerationen sind vor allem Vorstel- lungswelten. Diese mentale Prozesse gilt es näher in den Blick zu nehmen. Die hier interessierende Frage ist, welche Art von Kunst und Kultur die Vorstellungswel- ten zugunsten des sog. ländlichen Raumes – der ja faktisch urban geprägt ist und wesent- lich aus Mittelstädten 20.000 – 100.000 Einwohner als Bezugsgröße besteht – umprägen kann. Welche spezifischen Instrumente zur Resilienzstärkung müssen als strategische „Mindestmaßnahme“ ausgebildet werden? Welche Effekte hat eine systematische Stär- 68 Matthias Theodor Vogt kung der Projektförderung (Mittelerhöhung, mehrjährige Mittelbindung, Privilegierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen, Erleichterung und Unterstüt- zung bei der Antragsstellung, Kleinstförderung mit vereinfachten Antrags- und Abre- chungsverfahren)? Welche Optionen zur Steuerung über das SächsKRG sowie zur Um- setzung im Staatshaushalt wären geeignet (Verpflichtungsermächtigung, Fonds, etc.)? Und nicht zuletzt wäre zu fragen, durch welche Regelungen die organisatorische und künstleri- sche Erneuerung der Kultureinrichtungen begünstigt werden kann? Welche Querschnitts- aufgaben lassen sich aus verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ableiten (bspw. Migration, Alterung der Gesellschaft), welche kulturelle Bildungsaufgaben? Welche Vorgaben oder welche Hilfsleistungen des Freistaates sind sinnvoll, um auch mit den Mit- teln der Kulturpolitik die Reaktionsfähigkeit und die selbsttätige Erneuerung der Kom- munen zu unterstützen? Diese Fragestellungen lassen bereits erkennen, daß die derzeitige Raumplanung in der Bundesrepublik zu kurz greift, als es ein Nebeneinander von Planungsregionen und von Kulturverantwortlichkeiten gibt, erstere dem Innenministerium, letztere dem für Kunst und Kultur zuständigen Ministerium zugeordnet, erstere mit den hard facts wie Verkehrs- wegeplanung etc. etc. zuständig, letztere für die kulturelle Infrastruktur und damit für die soft facts. Im Denken und damit Handeln der Menschen kommt aber beides zusammen; beides hat „Raumfolgen“, um den zentralen Terminus der Raumplanung aufzugreifen. Dementsprechend ist eine Kommunikation zwischen den sächsischen Planungsregionen (in Sachsen seit 2006 kommunalisiert) und den sächsischen Kulturräumen zu empfehlen; beide werden auf der Ebene der Landräte gesteuert. Die Perspektive im Modellprojekt sollte (vgl. oben die Tänzer-Studie) als „volkswirt- schaftliche“ angelegt sein: zu fragen ist nach der Summe der Effekte, die sich für Bürger, Künstler, Kommunen, Freistaat, Bund und Sozialversicherungen materiell und immateri- ell ergeben. Wenn die Sächsische Verfassung vom „Land“ spricht, meint sie alle Ebenen und deren Wohlergehen. Es sei an die Warnung von Ernst-Wolfgang Böckenförde an Freistaat, Gemeinden und Landkreise erinnert: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln Entwicklungspfade der Sächsischen Kulturräume 69

des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit auf- zugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.37 Wie schnell ganze Landstriche „in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen“ vermögen, zeigen die Vorgänge im Grenzbereich („u Kraina“) zwischen der tradierten russischen Gesetzesferne und dem post-habsburgischen Raum. Es ist im Interesse unseres Landes, gerade in den von den demographischen Entwicklungen geprüften Teilen des Freistaates vermehrt in positive Resilienzkreisläufe, also ein überwiegend kulturelles Phänomen, zu investieren und sich hierbei der Hilfe möglichst vieler Akteure der Gesellschaft zu versi- chern.

6.6 Bundesebene Auf Schlußfolgerungen aus dem Koalitionsvertrag CDU-CSU-SPD vom 27.11.2013

Ab 2020 ist ein weiterentwickeltes System der Förderung strukturschwacher Regionen erforderlich. Ein solches System muss sich auf die strukturschwachen Regionen in den jeweiligen Bundesländern38 konzentrieren und daher die Differenzierung zwischen Ost und West beseitigen. Die Grundlagen für ein solches System wollen wir in dieser Legislaturperiode erarbeiten, damit Planungssicherheit für die Zeit nach 2019 für die Länder und Regionen herrscht. Unser Ziel sind gleichwertige Lebensverhältnis- se in ganz Deutschland. in Richtung eines Solidarpakt III für verödende Regionen in der gesamten Bundesrepub- lik wurde in der eingangs zitierten Verödungsstudie39 bereits hingewiesen. Hierbei würden sich die sächsischen Kulturräume als Modellregionen anbieten.

37 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. 1976, S. 60. 38 Wir weisen angelegentlich darauf hin, daß der Begriff „Bundesländer“ nicht durch das Grundgesetzt gedeckt ist, dort ist von „Bund und den Ländern“ die Rede. 39 Vgl. Ulf Großmann, Michael Kretschmer MdB, Bernd Lange: Geleitwort. In: Matthias Theodor Vogt und Olaf Zimmermann (Hrsg.): Verödung? Kulturpolitische Gegenstrategien. Edition kulturelle Infrastruktur, Görlitz und Berlin 2013