MMag. Dr. Florian Marlon Auernig

Von helden lobebæren und ritern lobesam Mittelalterliche Heldenidentitäten im Kontext der höfischen Kultur am Beispiel des Nibelungenliedes

DIPLOMARBEIT

zur Erlangung des akademischen Grades

Magister der Philosophie

Studium: Lehramtsstudium UF Englisch UF Deutsch

Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Begutachterin Univ.-Prof. Dr. Sabine Seelbach Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Institut für Germanistik

Klagenfurt, Februar 2017

Eidesstattliche Erklärung Ich versichere an Eides statt, dass ich - die eingereichte wissenschaftliche Arbeit selbstständig verfasst und andere als die angegebenen Hilfsmittel nicht benutzt habe,

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- die Arbeit bisher weder im Inland noch im Ausland einer Prüfungsbehörde vorgelegt habe und

- zur Plagiatskontrolle eine digitale Version der Arbeit eingereicht habe, die mit der gedruckten Version übereinstimmt.

Ich bin mir bewusst, dass eine tatsachenwidrige Erklärung rechtliche Folgen haben wird.

______(Unterschrift) (Ort, Datum)

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Inhalt

1. Einleitung ...... 4 2. Eine rechtschaffende Eberkeule mit der köstlichen Soße der französischen Küche: zur Hybridität des Nibelungenliedes ...... 8 3. Zur Heldendichtung ...... 14 3.1. Historische Bezüge ...... 19 3.2. Zum Heldenbegriff ...... 24 3.3. Zur Disposition des Helden: Hybris ...... 27 3.4. Genealogisches Denken: Stammbaum und Ruhm...... 31 3.5. Deterministische Konzepte: Schicksal und Prophezeiungen ...... 36 4. Zum Ritterroman ...... 40 4.1. Zum Ritterbegriff ...... 55 4.2. Höfische Erziehung: zuht ...... 60 4.3. Tugendhafte Mitte: mâze ...... 64 4.4. Soziales Prestige: êre ...... 71 4.5. Beidseitige Verpflichtung: triuwe ...... 76 5. Zwischenresümee ...... 80 6. Das im Kontext narrativer Identitätskonstitution ...... 82 6.1. Rüdiger von Bechelaren ...... 90 6.2. Siegfried von Xanten ...... 100 6.3. von Tronje ...... 113 7. Abschlussbetrachtung ...... 127 Bibliographie ...... 130

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1. Einleitung

Bis heute gehört das Nibelungenlied nicht nur zu den bekanntesten, sondern auch zu den meist beforschten literarischen Werken des Mittelalters. Eine vergleichsweise breite Überlieferung von 36 Handschriften zeugt von seiner Popularität zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert1, bevor es weitgehend in Vergessenheit geriet und in der Romantik wiederentdeckt wurde. Gelehrte wie Karl Lachmann, Jacob Grimm und Johann Jakob Bodmer schufen Grundlagen der Nibelungenforschung, die teilweise heute noch diskutiert werden. Zu dieser Zeit, in der „das deutsche Bildungsbürgertum den Nationalgedanken, dessen spezifischer Vertreter es war, zu verdichten [begann], […] wurden die Nibelungenprojekte des Mittelalters zum nationalen Mythos“2, der durch politische Propaganda instrumentalisiert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts fortwirkte. Dieses problematische Erbe führte zu einer weitgehenden Tabuisierung des Werkes in der Nachkriegszeit3. Erst seit den 1970er Jahren lässt sich nicht zuletzt durch Studien von Forschern wie Helmut Brackert, Werner Wunderlich, Otfried Ehrismann, Klaus von See und Jan de Vries wieder vermehrtes akademisches Interesse feststellen4, wobei in den letzten Jahrzehnten vor allem „sozialgeschichtliche, mentalitätsgeschichtliche, diskursanalytische u.a. Erkenntnisinteressen“5 dominieren. Das Nibelungenlied „nimmt in der vor- und außerwissenschaftlichen Rezeptionsgeschichte deutschsprachiger Literatur […] seit Beginn des 19. Jahrhunderts die erste Stelle ein“6 und im Zuge der zunehmenden Popularität von Fantasyliteratur seit den 1990er Jahren finden sich sowohl einzelne Motive, als auch Neubearbeitungen des Nibelungenstoffes im literarischen Kontext immer wieder.

Bereits dieser grobe Abriss seiner Rezeptionsgeschichte zeigt, wie sehr das Nibelungenlied seit seiner Niederschrift um 1200 fasziniert, irritiert und polarisiert. Es ist „eine Geschichte der Kontroversen, die […] vielfältige Verständnismöglichkeiten und Betrachtungsperspektiven“7 eröffnet. Schon für die Zeitgenossen warf dieses Epos, in dem sich archaische Verhaltensmuster mit ihren barbarischen Gewaltausbrüchen mit ritterlichen Tugenden und höfischer Diplomatie

1 Vgl. Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik: Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2015, S.33 ff. 2 Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied. München: Verlag C.H. Beck 2005, S.84 – 85. 3 Vgl. Helmut Brackert, Hannelore Christ, Horst Holzschuh: Einleitung. Zur gesellschaftlichen Funktion mittelalterlicher Literatur in der Schule. In: Helmut Brackert, Hannelore Christ, Horst Holzschuh (Hg.): Literatur in der Schule Band I: Mittelalteriche Texte im Unterricht. München: C.H. Beck 1973, S.54 ff. 4 Vgl. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied. Stuttgart: Reclam 1997, S.290. 5 Ebd.S.297. 6 Siegfried Grosse: Nachwort. In: Ursula Schulze (Hg.): Das Nibelungenlied. Stuttgart: Reclam 2011, S. 936. 7 Ebd. S.9. 4 kreuzen, moralische Fragen auf, was Joachim Heinzle durch die Existenz der Klage bestätigt sieht: Sie „liefert eine Verständnisperspektive, einen Sinnzusammenhang, den das Nibelungenlied selbst nicht zu bieten hatte, […] indem [ihr Verfasser] einen christlich motivierten Zusammenhang von Gut und Böse konstruierte, auf den sich das im Nibelungenlied Erzählte erklärend beziehen ließ“8 und auch Jan-Dirk Müller bezeichnet die Klage als „Zeugnis einer Irritation, eines Traumas, das unablässig neues Reden produziert“9. Auch heute noch irritiert es, wenn der höfisch erzogene Siegfried bei seiner Ankunft in Worms auf den Willkommensgruß des Königs mit aggressiven Forderungen reagiert10, oder wenn Hagen nur wenige Strophen nach dem Kindesmord als „der aller beste degen“11 gelobt wird.

Max Wehrli bezeichnet das Nibelungenlied als „erratische[n] Block in der literarisch-geistigen Landschaft um 1200“12 und verweist damit auf seine außergewöhnliche Stellung im Kanon mittelalterlicher Literatur. Die Einzigartigkeit des Nibelungenliedes beruht nicht zuletzt auf seiner hybriden Machart, in der sich Elemente aus unterschiedlichen narrativen Traditionen wie Mosaiksteine zu einem eindrucksvollen Gesamtbild zusammensetzen. Das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit widmet sich dieser Heterogenität, in der nicht alle Aspekte gleichermaßen miteinander harmonieren, und gibt einen skizzenhaften Überblick über Forschungsansätze und tendenzielle Kategorisierungen, die von eindeutigen Verortungen im Heldenepos bis zur Definition als höfischer Roman ein breites Spektrum mit feinen Nuancierungen abdecken. So unterschiedlich die jeweiligen Gewichtungen der einzelnen Elemente auch sein mögen, so stimmen die meisten Definitionsansätze doch darin überein, dass die beiden wesentlichen poetischen Gattungen im Hinblick auf das Nibelungenlied das Heldenepos und der Ritterroman sind. Jede dieser Gattungen vermittelt natürlich ihre eigenen ethischen Ideale und diesem Umstand wird im Folgenden Rechnung getragen: Nachdem im dritten Kapitel ein Überblick über die wesentlichsten Merkmale von Heldendichtung im Allgemeinen und Heldenepik im Besonderen gegeben wird, verengt sich der Fokus auf den Hauptprotagonisten dieser Gattung. Was ist unter dem Begriff Held eigentlich zu verstehen und wie hat sich dieses Konzept im Laufe der Zeit gewandelt? In welchen Punkten unterscheidet sich Heldenidentität im klassischen Sinn von ihrem alltagssprachlichen Gebrauch? Welche Aspekte finden sich in

8 Joachim Heinzle: Das Nibelungenlied: Eine Einführung. München: Artemis Verlag 1987, S.91. 9 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG 2015, S.178. 10 Vgl. Das Nibelungenlied: Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B. Ursula Schulze (Hrsg.) Stuttgart: Reclam 2011, S.36 ff. (3, 108 ff.). 11 Ursula Schulze (Hrsg.) „Das Nibelungenlied“ S.686 (39, 2371) 12 Max Wehrli: Die „Klage“ und der Untergang der Nibelungen. In: Bernhard Sowinski, Bernhard Schirmer (Hg.): Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Festschrift für Fritz Tschirch zum 70. Geburtstag. Böhlau Verlag Köln 1972, S.97. 5 unterschiedlichen Formen von Heldendichtung und könnten somit als Konstanten in der Konstitution von Heldenidentität gelten?

Der nächste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit dem Ritterroman, wobei nach einem historischen Gattungsüberblick die Idealfigur des Ritters, wie sie in den Werken des Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach, aber auch in den Vorlagen von Chretien de Troyes auftritt, analysiert wird. Ihre ethischen Grundfesten – zuht und mâze – stehen in einem bezeichnenden Widerspruch zu den heroischen Handlungsmustern, die zumeist auf Grenzüberschreitung im weitesten Sinn abzielen. In dieser konträr angelegten Ethik spiegeln sich natürlich soziohistorische Entwicklungen der jeweiligen Epochen, die sich in keinem luftleeren Raum vollzogen, sondern von gesellschaftlichen und politischen Faktoren beeinflusst sind. Während der Held aus der Dichtung der Völkerwanderungszeit den archaischen Verhaltensmustern einer kriegerischen Epoche verschrieben ist, zeichnet sich das Verhalten des mittelalterlichen Ritters durch seinen Bezug zu Tugenden aus, wie sie für den Fortbestand der höfischen Kultur konstitutiv sind. In Anbetracht der überwältigenden Menge an Sekundärliteratur zu diesem Thema wurde hierbei größtenteils auf Literaturgeschichten und allgemeine Einführungen zurückgegriffen, die einen kondensierten, fasslichen Überblick über den derzeitigen Forschungsstand bieten.

In den Helden des Nibelungenliedes kreuzen sich diese konträren Ideale in vielfältiger Weise. Am deutlichsten tritt dies in den Figuren Siegfried und Hagen zutage, den „ruhmreichen Helden der Vergangenheit“, die „unter dem Schirm des adligen Lebens spannungsreich […] aufeinandertreffen“13 und die gewissermaßen den Facettenreichtum und die damit einhergehende Brüchigkeit des gesamten Werkes personifizieren. Für beide gibt es Vorlagen in der Heldenepik, etwa in den Heldenliedern, die im Zusammenhang mit der späteren Edda überliefert worden sind, doch dies ist das erste Mal, dass sie sich im konventionalisierten Rahmen höfischer Etikette und aristokratischer Diplomatie gegenübertreten.

Den Abschluss der vorliegenden Arbeit bildet eine Untersuchung, inwiefern sich die bisher herausgearbeiteten Ergebnisse auf diese Figuren anwenden lassen, bzw. an welchen Punkten die Spannungen zwischen typisch heroischen und ritterlichen Verhaltensmustern offen zutage treten. Dabei geht es jedoch um keine poetische Entzauberung im Sinne eines kleingeistigen Sezierens und willkürlichen Interpretierens narrativer Details. Es gilt, in einer Formulierung von Friedrich Neumann, sich davor zu hüten, „das Nibelungenlied als Steinbruch für den

13 Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.58. 6

Aufbau älterer Sagendichtungen zu benutzen“14, bzw. im Sinne einer experimentellen Anordnung zu beobachten, wie die heldenepischen mit den höfischen Elementen reagieren. Vielmehr soll ein Bewusstsein für die kunstvolle Verarbeitung von Elementen aus unterschiedlichen narrativen Traditionen geschaffen, bzw. geschärft werden, in der wie in einem Werk der klassischen Musik gerade auch die disharmonischen Momente für den Gesamteindruck konstitutiv sind. Und gerade der Umstand, dass die harmonische Auflösung dieser Dissonanzen im Nibelungenlied zumeist ausbleibt, macht es auch heute noch zu einem der faszinierendsten Werke seiner Epoche.

14 Friedrich Neumann: Das Nibelungenlied und seine Zeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1967, S.60. 7

2. Eine rechtschaffende Eberkeule mit der köstlichen Soße der französischen Küche: zur Hybridität des Nibelungenliedes

Das Nibelungenlied nimmt innerhalb des Kanons mittelalterlicher Literatur eine besondere Stellung ein. Adaptionen durch Richard Wagner, Friedrich Hebbel, Fritz Lang, aber auch durch populärkulturelle Autoren wie Wolfgang Hohlbein oder Sabina Trooger legen Zeugnis von der ungebrochenen Aktualität des Stoffes ab. Seit seiner Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert wurde es unter anderem von Johann Jacob Bodmer und Karl Simrock als deutsche Ilias bezeichnet15 und laut Jan-Dirk Müller ist „die Sage so populär wie kaum eine andere aus dem deutschen Mittelalter16. Hermann Reichert sieht alleine schon in der kontroversen Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes einen Beleg für seine zeitlose literarische Qualität17 und für Jan de Vries ist es schlichtweg „die Krone und der Ruhm des germanischen Epos“18. Wer Das Nibelungenlied liest, liest in einer Formulierung von Otfried Ehrismann „in der Geschichte der Deutschen. Es leuchtet, zusammen mit seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, in drei weite historische Räume, die germanische Vorgeschichte, die Geschichte des mittelalterlichen römischen Reiches und die deutsche Nationalgeschichte“19. Diese Charakterisierungen deuten bereits die Komplexität und Inhomogenität dieses Werkes an, in dem sich unterschiedliche Erzähltraditionen mit ihren jeweiligen narrativen Konventionen, Motiven und Wertesystemen kreuzen. Sowohl Elemente des Heldenepos mit seiner archaischen Charakterzeichnung, kompromisslosen Konflikteskalation und schließlich dem heroischen Untergang, als auch Motive des höfischen Romans, wie Lehnsverhältnisse, ritterlicher Ehrenkodex und die Minnethematik verbinden sich zu einer Dichtung, deren Facettenreichtum bis heute irritiert und fasziniert, wovon nicht zuletzt die schier unüberschaubare Menge an Forschungsliteratur beeindruckend Zeugnis ablegt.

Die Inhomogenität des Werkes hängt eng mit seiner Entstehungsgeschichte zusammen. Mittelalterliche Heldendichtung wurde etwa ab der Mitte des 12. Jahrhunderts verschriftlicht, woraus sich eine Kombination von Elementen aus unterschiedlichen Erzähltraditionen ergibt. Neben den archaischen Motiven aus mündlich tradierten Heldensagen und –liedern finden sich Gattungselemente des höfischen Romans und des Minnesangs, weswegen Elisabeth Lienert von

15 Vgl. Max Wehrli: Die „Klage“ und der Untergang der Nibelungen (Anm.12), S.96. 16 Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang: Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen: Niemeyer 1998, S.6. 17 Vgl. Hermann Reichert: Das Nibelungenlied: Text und Einführung. Berlin: de Gruyter 2005, S.321. 18 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage. Bern: Francke Verlag 1961, S.84. 19 Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.7. 8 einer „gattungsmäßig hybride[n] Heldendichtung“20 spricht. Das Nibelungenlied könnte hierfür als exemplarisch gelten:

Es verbindet den heroischen Stoff, die heldenepische Untergangsstruktur, heldenepische Motive wie Rache und Gewalteskalation, heroische Heldenkonzeptionen mit höfischen Festen, höfischer Etikette und höfischen Prunkgewändern, mit einigen höfisierten Figuren und insbesondere mit der höfischen Konzeptualisierung der Liebe.21

In ähnlicher Weise definiert Heinz Sieburg Das Nibelungenlied als „Hybrid, und je nachdem, ob man es aus der einen oder anderen Perspektive betrachtet, changiert es in wechselnden Spiegelungen“22. Diese formale wie inhaltliche Ambivalenz reflektiert einen bewegten Prozess, in dem „die schriftliche Abfassung des Textes um 1200 […] einen vorläufigen Schlusspunkt unter eine stoffgeschichtliche Entwicklung [setzt], die bis in die vorliterarische […] Zeit der Völkerwanderung zurückverweist“23. Während der Stoff tief in oralen Erzähltraditionen verwurzelt ist, ist die Form seiner Verschriftlichung zu hohem Maße von den literarischen Konventionen um 1200 geprägt, woraus in vielerlei Hinsicht eine gewisse Uneinheitlichkeit entsteht: „Vierhundert Jahre nach dem tritt uns zum ersten Mal wieder germanische Heroik zutage, gleichzeitig mit der modernen höfischen Kunst der Minne, der mâze, des märchenhaften Artusrittertums“24 und wird zu einem vielschichtigen Werk hoher Komplexität verdichtet.

Die Hybridität des Nibelungenlieds wird in der mediävistischen Forschung immer wieder thematisiert und je nach Autor finden sich unterschiedliche Ansätze einer tendenziellen Kategorisierung. Während es sich für Andreas Heusler inhaltlich wie stilistisch eindeutig um ein Heldenepos handelt25, kommt Helmut de Boor zu dem Urteil: „Das Nibelungenlied ist ein höfischer Roman; höfisch-ritterliches Verhalten, Zucht, Maße, adelige Schönheit und Pracht der Erscheinung beherrschen das ganze Gedicht“26. Dem gegenüber vertritt J. K. Bostock die Meinung, „der Dichter sei ein strenger Christ gewesen, der in seinem durchaus negativ zu verstehenden Werk nur die Wirkung von Hoffart, Übermut und Gottlosigkeit, die

20 Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.13. 21 Ebd. S. 14. 22 Heinz Sieburg: Frühe Grenzgänger. auf dem Weg zur hochmittelalterlichen Schriftkultur. In: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.): Grenzräume der Schrift. Bielefeld: Transkript Verlag 2008, S.69. 23 Ebd. S.70. 24 Max Wehrli: Die „Klage“ und der Untergang der Nibelungen (Anm.12), S.96. 25 Vgl. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.68 ff. 26 Zitiert in: ebd. S.109. 9

Selbstzerstörung ichsüchtiger und verblendeter Charaktere habe zeigen wollen“27. In ähnlicher Weise sieht Gottfried Weber darin eine „bittere Kritik am höfischen Zeitgeist“28 unter der „Perspektive der Desillusionierung und Zerstörung des Ritterlichen, seiner Werte und seines Gott-Welt-Mensch-Bildes“29. Auch für Max Wehrli sind „die höfischen Partien zu dünn, zu sehr bloß aufgesetzt, als dass sie ein Alibi und Gegengewicht gegen heroische Brutalität sein könnten“30 und laut Helmut Brackert zielt das Werk „offenbar auf eine Desillusionierung der höfischen Welt“31 ab. Hildegart Bartel hingegen sieht im Nibelungenlied „die Kollision zweier Bewusstseinsstufen, der archaischen und der höfischen; und dieser Zusammenprall werde handelnd bis zur Vernichtung ausgetragen, weil die objektiven Verhältnisse als nicht veränderbar erscheinen“32 und Jan de Vries bedient sich einer kulinarischen Metapher: „das Nibelungenlied ist eine rechtschaffende Eberkeule, aber begossen mit der köstlichen Soße der französischen Küche!“33

Die Inhomogenität der beiden Komponenten beginnt bereits im Formalen: „Heldenepik stammt aus mündlich-illiteraler Tradition; der höfische Roman ist eine genuin schriftliterarische Form mit schriftlichen Quellen“34. Diese unterschiedlichen Traditionen haben natürlich weitreichende Implikationen. Während sich etwa der Autor im höfischen Roman für gewöhnlich zu erkennen gibt, bleibt er in den Heldenepen anonym, was einen konträren Werkbegriff impliziert: In der schriftlichen Tradition spielen Autorenschaft und Vorlagen, sowie intertextuelle Bezüge (man denke hierbei etwa an den Dichterexkurs in Gottfrieds Tristan oder an die Anspielungen auf Erec in Wolframs Parzival) eine wesentliche Rolle, „heldenepische Poetik mutet archaischer und der Mündlichkeit stärker verhaftet an als die des höfischen Romans“35. Die Anonymität des Autors kann durchaus als heldenepisches Gattungsphänomen bezeichnet werden und verweist auf die orale Tradition, in der Volks- und Heldenlieder nicht einem einzelnen Dichter zugeschrieben wurden, sondern geistiges Allgemeingut darstellten. Otto Höfler erklärt dies mit dem „Glauben an die Wirklichkeit der alten mære“36, die somit gewissermaßen etwas natürlich Gewachsenes, und nichts künstlich

27 Max Wehrli: Die „Klage“ und der Untergang der Nibelungen (Anm.12), S.96. 28 Ebd. S.97. 29 Gottfried Weber: Das Nibelungenlied: Problem und Idee. Stuttgart: Metzler 1963, S.22. 30 Max Wehrli: Die „Klage“ und der Untergang der Nibelungen (Anm.12), S.99. 31 Helmut Brackert: Heldische Treue, Heldische Tapferkeit, Heldisches Schicksal: Die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes im Deutschunterricht. In: Helmut Brackert, Hannelore Christ, Horst Holzschuh (Hg.): Literatur in der Schule Band I: Mittelalteriche Texte im Unterricht. München: C.H. Beck 1973, S.84. 32 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.111. 33 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.87. 34 Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.16. 35 Ebd. S.17. 36 Hermann Reichert: Das Nibelungenlied (Anm.17), S.341. 10

Verfertigtes sind. Hanspeter Padrutt interpretiert in ähnlicher Weise Homer als den Urheber der Ilias vor dem Hintergrund eines Kunstverständnisses, das im Dichter nicht das kreative Genie der Sturm-und-Drang-Zeit sieht, sondern vielmehr den Vermittler einer über Jahrhunderte gewachsenen Tradition37. Tatsächlich wird in der Homer-Forschung vielfach die Meinung vertreten, dass gewisse Passagen der Ilias, wie etwa der Schiffskatalog (2,484 – 877) wesentlich älter als der Rest des Epos seien. Für Reichert ist dies ein Anzeichen dafür, „dass in der vorhomerischen mündlichen Dichtung vor allem Interesse an der poetischen Verewigung wirklicher Ereignisse bestand“38 und dass sich vor diesem Hintergrund die Frage nach der Urheberschaft im neuzeitlichen Sinn überhaupt nicht gestellt hat. Laut Klaus von See ist dieser Katalog „für die damaligen Griechen von besonderer religiöser Bedeutung gewesen, da er […] ein Verzeichnis der Heroen mit der Angabe ihrer Heimat […] enthielt“39. Es handelte sich somit um relevante Information, deren Eingliederung in das Epos vor dem Hintergrund zeitgenössischer Poetologie für niemanden zum Problem wurde.

Einer der ersten, der in der Homer-Forschung diese Position einer kompilatorischen Funktion des Autors vertrat, war Friedrich August Wolf, der 1795 in seiner Schrift Prolegomena ad Homerum die Ilias als „heterogenes Gebilde, eine sekundäre Verbindung traditioneller, ehedem mündlich tradierter Lieder verschiedener Verfasser, die einzelne Episoden des erzählten Geschehens behandelten“40, bezeichnet. Nicht zuletzt durch Wolfs Schüler Karl Lachmann erlangte diese These am Beginn der germanistischen Nibelungen-Forschung großen Einfluss41. Schlagworte, wie historische Authentizität und Fiktionalität erhalten somit im Kontext von Heldendichtung eine eigene Bedeutung, die sich in dieser Form nicht auf andere literarische Traditionen übertragen lässt.

Gleichzeitig ist das Nibelungenlied jedoch auch ein „Buchepos, [das] ohne Kenntnis der antiken Großepik, insbesondere von Vergils Aeneis nicht denkbar [ist]“42. Es ist, in einer Formulierung von Friedrich Neumann, „trotz alles Schauerlichen den Erlebnismöglichkeiten einer anspruchsvollen Hofgesellschaft zugeordnet, was in den Gebärden, dem Lebensstil und der

37 Vgl. Hanspeter Padrutt: Der epochale Winter – Zeitgemäße Betrachtungen. Zürich: Diogenes Verlag 1997.S. 221. 38 Hermann Reichert: Das Nibelungenlied (Anm.17), S.341. 39 Klaus von See: Germanische Heldensage: Stoffe, Probleme, Methoden; Eine Einführung. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1971, S.36. 40 Joachim Heinzle: Traditionelles Erzählen: Zur Poetik des „Nibelungenliedes“ mit einem Exkurs über „Leerstellen“ und „Löcher“. In: Thordis Hennings, Manuela Niesner, Christoph Roth, Christian Schneider (Hg.): Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Festschrift für Fritz Peter Knapp zum 65. Geburtstag. Berlin: de Gruyter, 2009, S. 60. 41 Vgl. ebd. S.60. 42 Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.47. 11

Sprache seiner Gestalten sinnfällig wird“43 und weist zahlreiche Elemente des Ritterromans auf. In formeller Hinsicht ist dies an narrativen Techniken, wie der des ordo artificialis (nicht chronologisches Erzählen, etwa in Rückblenden) oder intertextuellen Bezügen zum altfranzösischen Chanson de geste (etwa das Szenenzitat aus der Chanson d’Aliscans, als Hagen sich wie ein Richter Siegfrieds Schwert über die Knie legt und Kriemhild den Gruß verweigert) nachweisbar44, während auf inhaltlicher Ebene das „sich unerbittlich durchsetzende heroische Geschehen“ mit der „auf der Vorderbühne spielende[n] höfische[n] Handlung am Wormser Hof“ verschränkt wurde45. Die Rahmenbedingungen spiegeln somit die Gepflogenheiten des höfischen Romans um 1200 wider, die sich in genretypischen Narrationskonventionen niederschlagen. So werden „Feste und Botenfahrten […] mit einer mitunter ermüdenden Weitschweifigkeit beschrieben […]“ und „Einzelheiten von Kleidung und Rüstung erheischen strophenlang unsere Aufmerksamkeit“46, während ein archetypischer Held wie Siegfried als höfisch stilisierter Minneritter geschildert wird. Bei allen heldenepischen Elementen darf der kulturhistorische Rahmen, in dem das Werk verschriftlicht wurde, nicht vergessen werden, wie Neumann betont: „Das Nibelungenlied erwächst in der Ritterkultur, die um das Jahr 1200 von den Höfen ausstrahlt“47.

Für Florian Kragl basiert die Ambivalenz des Nibelungenliedes darauf, dass „ein chronometrisch-historischer Aspekt mit einem emphatischen Aspekt verhandelt wird“48. Der chronometrisch-historische Aspekt bezieht sich auf die geschichtlichen Elemente aus der Völkerwanderungszeit, während der emphatische Aspekt „dessen Interpretation sowie die inhaltliche Füllung der dabei verbliebenden blinden Flecken, also etwa die Anbindung oder Ausgrenzung aus der kulturellen Situation“49 betrifft. Diese Aspekte stehen in einem dynamischen Verhältnis negativer Proportionalität zueinander, so dass manchmal die wuchtige Gewalt archaischer Heldensage und manchmal die stilisierte Eleganz des höfischen Romans im Vordergrund steht, woraus „eine hohe Komplexität, Variabilität und auch Deutungsoffenheit der Vergangenheitsentwürfe [entsteht]“50.

43 Friedrich Neumann: Das Nibelungenlied in seiner Zeit (Anm.14), S.64. 44 Vgl. Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.47. 45 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.83. 46 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.85 – 86. 47 Friedrich Neumann: Das Nibelungenlied in seiner Zeit (Anm.14), S.9. 48 Florian Kragl: Die Geschichtlichkeit der Heldendichtung. Wien: Fassbaender 2010, S.40. 49 Ebd. S.40. 50 Ebd.S.41. 12

Max Wehrli verweist in diesem Zusammenhang auf die Widersprüchlichkeit zwischen dem höfischen Ambiente und der archaischen Figurenzeichnung:

Der [höfische] Roman, mit seiner figuralen Durchsichtigkeit, lebt in der Spannung von matiere und sen, rede und meine, er kombiniert idealiter oder märchenhaft; er schickt seine Helden ins Abenteuer, er vollzieht mit ihnen ein erzählerisches Experiment, er tendiert auf die Utopie, er verantwortet das Geschehen weithin persönlich. Im Nibelungenlied aber bleibt die alte heroische Einheit bestehen: die Geschlossenheit des Geschehens, das als reales und eigenes vom Publikum wie vom anonymen Dichter geglaubt wird, mit Helden, die ihrerseits geschlossene kleine Machtzentren sind und die unproblematisch ihr Schicksal vollziehen in Übermut, Grimm, Trotz oder Schwäche.51

Diese Kollision zweier Welten mit ihren jeweiligen Wertesystemen und ethischen Idealen beginnt laut Jan-Dirk Müller bereits mit der Ankündigung der wunder in der berühmten ersten Strophe, welche „die Hörer aus der Alltäglichkeit des Hier und Jetzt hinausführt, das sich jedoch im Lebensumkreis einer feudalen Kriegergesellschaft bewegt“52. Der „Registerwechsel zwischen höfischer Ordnung und heroischer Sagenwelt“53 bestimmt den weiteren Erzählverlauf ebenso wie die stets präsente Ambivalenz zwischen „höfische[m] Ritter und […] Heros“54.

Die Charakterisierung der Hauptprotagonisten bildet also einen interessanten Kristallisationspunkt der Heterogenität und Komplexität als Grundfesten des Nibelungenliedes. In ihr manifestiert sich eine Widersprüchlichkeit, die das wohl berühmteste literarische Werk des deutschen Mittelalters bis heute faszinierend macht. Um jedoch den Blick für diese Brüchigkeit zu schärfen, bedarf es zuvor einer eingehenderen Betrachtung der einzelnen Komponenten, in der wesentliche Charakteristika und Gattungskonventionen sichtbar gemacht werden sollen.

51 Max Wehrli: Die „Klage“ und der Untergang der Nibelungen (Anm.12), S.99. 52 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.83. 53 Ebd. S.86. 54 Ebd. S.85. 13

3. Zur Heldendichtung

Der Begriff Heldendichtung bezeichnet einen äußerst vielschichtigen Komplex von Erzählungen „unterschiedlichen Formats und verschiedener Traditionen“55, der von episodenhaften Liedern über umfangreiche Epen bis hin zu Prosaadaptierungen ein breites Spektrum narrativer Poesie abdeckt. Heldendichtung ist ein globales Phänomen, das sich in unterschiedlichsten Kulturkreisen findet: zu den bekanntesten europäischen Vertretern zählen neben dem Nibelungenlied Ilias und Odyssee von Homer, die Heldenlieder aus der nordischen Edda, das altfranzösische Chanson de Roland, sowie das Hildebrandslied56. Bereits bei dieser willkürlich getroffenen Auswahl fällt als verbindendes Element eine starke Affinität zur Mündlichkeit auf: diese drückt sich einerseits in den Bezeichnungen (Lied, Chanson) und andererseits in der Strukturierung aus: Die einzelnen Abschnitte der finnischen Kalevala sind in Gesänge gegliedert, ebenso wie die Epen Homers und die berühmte erste Zeile der Ilias beschwört den Gesang einer Göttin: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peliden Achilleus“57.

Literaturhistorisch geht das Heldenepos tatsächlich auf mündliche Erzähltraditionen zurück. Dieter Kartschoke weist darauf hin, dass „germanische Heldendichtung […] nur in wenigen Einzelfällen aufgezeichnet worden [ist]“58. Während lediglich vier Texte – Finnburgslied, Beowulf, Waldere, Hildebrandslied – überliefert sind, ist die Existenz einer liedhaften germanischen Heldendichtung seit Tacitus mehrfach bezeugt59. So heißt es etwa in der Germania aus dem Jahre 98 nach Christus: „In alten Liedern, die bei ihnen [den Germanen] die einzige Gattung der Geschichte oder der Annalen ist, feiern sie den Gott Tuisto, der aus der Erde entsprossen ist“60. Bereits aus dieser knappen Formulierung wird die kulturelle Bedeutung dieser Lieder ersichtlich, die sich nicht in künstlerischer Unterhaltung erschöpft, sondern als kollektiver Erinnerungsträger die Konstitution einer gemeinsamen Vergangenheit ermöglicht. Ebenfalls von Tacitus stammt der Beleg, dass „der germanische Held Arminius noch hundert Jahre nach seinem Tod in Liedern besungen wurde“61, womit trotz aller inhaltlicher Varianz

55 Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter: Eine Einführung. Berlin: de Gruyter 2008, S.3. 56 Vgl. Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.9. 57 Homer: Ilias / Odyssee. Augsburg: Weltbild Verlag GmbH. 2000, S.7. 58 Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2000, S.124. 59 Vgl. ebd. S.124. 60 Zitiert in: Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter (Anm.55), S.18. 61 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.83. 14 der illiteralen Form die Beständigkeit gewisser Elemente über weite Zeiträume hinweg angedeutet wird.

In der Erforschung mündlicher Traditionen ist man natürlich immer wieder auf Theorien und Mutmaßungen angewiesen, die sich kaum eindeutig beweisen oder widerlegen lassen. Dementsprechend gibt es unterschiedliche Theorien und Erklärungsmodelle zur Entstehung jener Zeugnisse von Heldendichtung, die uns überliefert sind. Als ursprünglichste Form heroischer Dichtung wird das Heldenlied angenommen. Es handelt sich dabei um episodenhafte Fragmente, die - laut der einflussreichen Theorie von Karl Lachmann - später zu Liedzyklen, wie der nordischen Edda zusammengefasst wurden62. Die skandinavischen Heldenlieder sind „auf 100 – 180 stabreimende Langzeilen beschränkt, die ganze Handlung […] in geradliniger Darstellung und schnellem Szenenwechsel vorführend, gipfelnd in einprägsamen bildhaft gesehenen Situationen und knappen Dialogen“63. Wesentlich ist hierbei – wie die Bezeichnung Heldenlied ja bereits andeutet – der Vortrag:

Für den Vortrag des altgermanischen Heldenliedes nimmt man musikalische Begleitung an, die man sich eher rezitativisch zu denken hat. Die Tatsache, dass der Wandalenkönig Gelimer um eine Harfe bittet, damit er, als er von den Herulern belagert wird, ein Klagelied anstimmen kann, wird man nicht als einen Beweis für das gesungene Heldenlied heranziehen können. Jordanes berichtet jedoch, dass es Brauch bei West- und Ostgoten gewesen sei, die Taten der Vorfahren mit Gesang und Harfenspiel zu verherrlichen. Hierzu passt auch der Bericht des Beowulf, dass die Finnsage zu den Klängen des Lustholzes (=Harfe) vorgetragen wurde.64

Die Wurzeln des Heldenliedes werden „in Preislied und Totenklage“ angenommen, von denen der römische Geschichtsschreiber Jordanes berichtet, dass sie im 6. Jahrhundert auf und Theoderich gesungen wurden und die „nach dem Zeugnis des Venantius Fortunatus auch die Alemannen und Baiern gekannt haben“65. Neben dem Lob der Vorzüge und Tugenden wurden in diesen Liedern auch die Verdienste der Verstorbenen besungen und somit Zeugnis von historisch wichtigen Taten und Ereignissen abgelegt. Das Heldenlied diente also keineswegs nur dem Zeitvertreib und der Unterhaltung, sondern erfüllte „eine besondere Funktion im Leben des kriegerischen Adels“66. Jan de Vries listet eine Reihe von Zeugnissen für die Bedeutsamkeit ihres Vortrags von Rom über Kontinentaleuropa bis Irland auf und betont wiederholt die

62 Vgl. Charlotte Bretscher-Gisiger (Hg.): Lexikon Literatur des Mittelalters Band 1: Themen und Gattungen. Stuttgart: Metzler 2002, S.270. 63 Klaus von See: Germanische Heldensage (Anm.39), S.20. 64 Heiko Uecker: Germanische Heldensage. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1972, S.20. 65 Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter (Anm.58), S.124 – 125. 66 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.230. 15

Ehrerbietung, die man den Skalden und Rhapsoden entgegenbrachte67. Durch Verschriftlichung und Überlieferung bildete sich eine „Tendenz zur Zyklenbildung“, wie sie sich etwa am „Epenkreis um “ veranschaulichen lässt.68 Einzelne episodenhafte Lieder werden in diesem Prozess zu einem Liederzyklus zusammengefasst und gegebenenfalls vereinheitlicht um ein (mehr oder weniger) homogenes Ganzes zu ergeben.

Diese Theorie wurde im 19. Jahrhundert von Karl Lachmann entwickelt und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Andreas Heusler in Frage gestellt, der davon ausging, dass „das kurze epische Lied bereits die gesamte Geschichte in nuce erzählte, gleichzeitig aber die Möglichkeit zur poetischen Erweiterung in sich trug“69. Heusler meinte, mit Hilfe der einzelnen Skaldenlieder, von denen die meisten wohl am „Anfang der Vikingerzeit, im 9./10. Jh., entstanden sind, das altgermanische Heldenlied, wie es auf dem Kontinent bei Goten, Langobarden und Burgunden fünfhundert Jahre zuvor, während der Völkerwanderungszeit und kurz danach lebte, rekonstruieren zu können“70. In Zusammenhang mit der Nibelungenlied-Forschung wurde Heuslers These durch die Tatsache gestützt, dass das Epos sich in zwei „von Anfang an getrennte Teile auseinandernehmen lässt“71, die nachträglich vom unbekannten Bearbeiter zusammengefügt worden sind:

Heusler kommt zu der Folgerung: im 5. Jahrhundert gab es zwei kurze Heldenlieder: ein fränkisches Brünhildlied und ein Lied vom Burgundenuntergang; diese hätten dann über einige Zwischenstufen zu zwei österreichischen Gedichten geführt, deren Inhalt die erste und zweite Heirat Kriemhilds war; aus ihrer Verbindung soll in den Jahren 1200 – 1205 das uns überlieferte Nibelungenlied entstanden sein. Eine Spur der frühesten Lieder des 5. Jahrhunderts sollten die Eddalieder über und Atli sein.72

Während also Karl Lachmann das Heldenepos als Kompilation einzelner Lieder versteht, führt Andreas Heusler seine Entstehung auf das Ausbauen und Anschwellen eines vorhandenen Erzählkerns zurück. Victor Millet verweist auf die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts immer wieder aufgezeigten methodischen Mängel beider Ansätze, die zwar von modifizierbaren, doch letzten Endes klar definierbaren narrativen Entitäten ausgehen: „Zweifellos besaßen die germanischen Völker narrative Traditionen in mündlicher Überlieferung, aber wahrscheinlich

67 Vgl. ebd. S.229 – 232. 68 Joachim Bumke: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990, S.261. 69 Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter (Anm.55), S.21. 70 Klaus von See: Germanische Heldensage (Anm.39), S.20. 71 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.62. 72 Ebd. S.64. 16 waren sie nicht Träger einer unbeweglichen geschichtlichen Erinnerung, sondern erzählten Geschichten, die dem Wechsel der Zeiten angepasst wurden“73.

Es liegt in der Natur der mündlichen Überlieferung, dass sie sich durch einen „bedeutsamen Grad an Unbeständigkeit“ auszeichnet, der sich unter anderem in einem beträchtlichen Spektrum an „Varianten und Alternativen“ im Vortrag niederschlägt74. Der Inhalt der Heldenlieder wurde den gegebenen Umständen angepasst, bzw. je nach Bedarf ausgebaut oder gekürzt. Diese Flexibilität in Inhalt und Form kann als Charakteristikum der meisten schriftlosen Kulturen angenommen werden. Hans Blumenberg hat dafür das Schlagwort der Arbeit am Mythos geprägt und erläutert dies in seinem gleichnamigen Buch am Beispiel der Werke Homers und Hesiods: Als Vorlage für die mythischen Grundmuster als deren nachhaltigste Urheber sie gelten, diente bereits etwas ungeheuer Ausgereiftes in Form von Gesängen und Sagen, die sie durch die Verschriftlichung gewissermaßen zu etwas Endgültigem machten. Davor war der Mythos in seiner mündlichen Tradierung variabel und wurde je nach Situation modifiziert. Homer kann somit nicht als Erfinder von Ilias und Odyssee definiert werden, sondern vielmehr als Sprachrohr einer weit zurückreichenden Tradition75. In diesem Sinne bezeichnet de Vries Homer nicht als den Anfangspunkt europäischer Heldendichtung, sondern vielmehr als Endpunkt: „Die Geschichten über Achilleus und Odysseus sind Jahrhunderte lang besungen und überliefert worden, ehe sie in die vollendete Form kristallisierten, die Homer ihnen verliehen hat“76. Indem diese Geschichten verschriftlicht worden sind, wurde etwas Variierbares, Dynamisches in eine statische Form überführt, die gewissermaßen den aktuellen Aggregatzustand einer unabgeschlossenen Erzählung unzähliger Urheber abbildete.

In ähnlicher Weise interpretiert Florian Kragl die erste Zeile der *A und *C Handschrift des Nibelungenliedes – „uns ist in alten mæren wunders vil geseit“ als „ein Paradebeispiel für kollektive Erinnerung, für kulturelles Gedächtnis“77, wobei die gewählte Form des Zustandspassivs beachtenswert ist: „nicht ein Ich erzählt einem Du, nicht ein Erzähler seinem Publikum, kein Autor seiner Leserschaft“78. Elisabeth Lienert verortet die Eingangsstrophe „im Spannungsfeld von kollektiver Tradition und aktueller Rezeptionssituation: die alten maere[n]

73 Ebd. S.22. 74 Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter (Anm.55), S.52. 75 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1979, S.172. 76 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.19. 77 Florian Kragl: Die Geschichtlichkeit der Heldendichtung (Anm.48), S.12. 78 Ebd. S.12. 17 werden unpersönlich, ohne Bezug auf einen Autor, in zeitliche Distanz gerückt“79. Es geht hier also nicht um die kreative Leistung eines Einzelnen, sondern vielmehr wird die Teilhabe an einer überindividuellen Tradition impliziert. Auch Joachim Heinzle definiert als wesentlich für die heroische Überlieferung, dass „sie eine Form der kollektiven Erinnerung ist, in der sich eine Gemeinschaft – ein Stamm, ein Volk, eine Nation – zu der Zeit in Beziehung setzt, in der sie sich formiert hat“80.

79 Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.37. 80 Joachim Heinzle: Unsterblicher Heldengesang: Die Nibelungen als nationaler Mythos der Deutschen. In: Reinhard Brandt, Steffen Schmidt (Hg.): Mythos und Mythologie. Berlin: Akademie Verlag 2004, S.187. 18

3.1. Historische Bezüge

Ein wesentliches Kriterium von Heldendichtung besteht somit in ihrem Bezug zum heroic age. Dieser Begriff wurde 1912 von Hector Munro Chadwick geprägt und bezeichnet eine „kriegerisch bewegte, geschichtlich folgeträchtige heroische Frühzeit, in der sich die jeweilige Gemeinschaft konstituiert oder konsolidiert“81. Für Millet stellt es einen ausschlaggebenden Faktor dar, „dass alle diese Traditionen [heroischer Dichtung] Geschichten erzählen, die angeblich von dieser Epoche handeln, zugleich aber von einem Publikum gehört werden, das in einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung lebt“82. Dies trifft etwa auch auf die erste Strophe des Nibelungenlieds zu, in der von den berühmten alten mæren83 die Rede ist, wodurch von vornherein eine gewisse Distanz geschaffen wird, welche der Erzählung eine besondere Aura von Bedeutsamkeit verleiht. Für Kontinentaleuropa spielt hierbei die Völkerwanderungszeit eine entscheidende Rolle und dementsprechend definiert Klaus von See die germanische Heldensage inhaltlich als „dichterisch stilisierte Erzählung von Ereignissen, die der germanischen Völkerwanderungszeit zugeschrieben werden, der Zeit also, die man mit dem Einfall der Hunnen ca. 375 n.Chr. und der Eroberung Oberitaliens durch die Langobarden 568 zu begrenzen pflegt“84. Laut Heiko Uecker haben „an nahezu allen germanischen Heldensagen […] historische Personen oder Ereignisse aus der Völkerwanderungszeit einen Anteil“85. Für Jacob Grimm und Karl Lachmann war die Durchdringung historischer Ereignisse mit mythischen Elementen der Ursprung von Heldendichtung, während Heusler die „Umwandlung der politischen Geschichte in menschliche Konflikte“ als wesentliches Element ihrer Entstehung annimmt86.

Jedenfalls kann angenommen werden, dass es trotz der Variabilität mündlicher Überlieferung und unterschiedlicher Nuancierung inhaltlicher Motive Elemente gab, die beständig weitertradiert wurden und schließlich verschriftlicht wurden. In seinem Artikel Unsterblicher Heldengesang: Die Nibelungen als nationaler Mythos der Deutschen illustriert Joachim Heinzle diese Beständigkeit gewisser Elemente anhand des Nibelungenliedes:

So ist die Geschichte der Heldensagen eine Geschichte immer neuer Aneignungen, und zwar in dem strikten Sinn, dass das je und je Angeeignete für verbindlich und bedeutsam genommen wurde. Wäre die

81 Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.9. 82 Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter (Anm.55), S.5. 83 Das Nibelungenlied S.6 (1). 84 Klaus von See: Germanische Heldensage (Anm.39), S.9. 85 Heiko Uecker: Germanische Heldensage (Anm.64), S.11. 86 Ebd. S.11. 19

Nibelungen-Sage bloß als unverbindliche poetische Erfindung goutiert worden, als eine Art unterhaltsames Grusel-Objekt, dann hätte sie nicht überlebt. Bis sie um 1200 im Nibelungenlied (oder wenig früher in einer Vorgängerdichtung) zu Pergament gebracht wurde, ist sie ausschließlich mündlich tradiert worden, und das war nur möglich, weil man sie als Vorzeitkunde ernstnahm.87

Heinzle beruft sich in seinem Artikel auf den von Ursula Schaefer geprägten Begriff der „strukturellen Amnesie“, der zufolge „Traditions-Inhalte unweigerlich dem Vergessen anheimfallen, wenn sie keinen verbindlichen Bezug zur jeweiligen Gegenwart mehr haben“88. Die historischen Bezüge waren somit kein schmückendes Beiwerk, sondern wurden vom zeitgenössischen Publikum als geschichtliche Tatsachen verstanden und auch heute noch lassen sich Figuren und Motive konkreten historischen Persönlichkeiten und Ereignissen zuordnen:

Dietrich von Bern, Etzel, Ermrich aus Nibelungen- und Dietrichüberlieferung sind die Sagenentsprechungen des Ostgotenkönigs Theoderich des Großen (König 493 – 526), des Hunnenkönigs Attila († 453), des Gotenkönigs Ermanarich († 375). Der Burgundenuntergang im „Nibelungenlied“ geht letztlich zurück auf die Vernichtung des mittelrheinischen Burgundenreiches 436/437, die Rabenschlacht […] wohl auf die Belagerung Odoakers durch Theoderich in Ravenna (491 – 493) und die Schlacht am Nedao (454).89

Natürlich handelt es sich hierbei nicht um die detaillierte oder (wie auch immer man diesen Begriff definieren mag) objektive Wiedergabe historischer Daten und Fakten, sondern um eine gattungstypische Transformation, in deren Verlauf „Geschehen […] in Verwandtenkonflikte überführt, durch elementare menschliche Verhaltensweisen motiviert [wird]“90. Dadurch erfolgt eine Engführung der politischen und der privaten Sphäre, in der historische Ereignisse auf individuelle Vorgänge zurückgeführt werden. Dabei ist auffällig, dass der Heldendichtung, „obwohl sie doch vorwiegend von Herrschern, von Regierenden handelt, jeder Gedanke an eine Staatsräson, an eine politische Ethik [fehlt]. Von königlichen Pflichten und Rücksichten gegenüber dem Volk ist nie die Rede“91. Vielmehr finden sich zahlreiche Beispiele, in denen ein Volk durch königliche Willkür oder Rachegelüste in den Untergang getrieben wird, wie etwa am Ende des Nibelungenliedes: „Es besteht durchaus keine Notwendigkeit in der Annahme [von Kriemhilds] Einladung, weder eine politische, noch eine ethische; es handelt

87 Joachim Heinzle: Unsterblicher Heldengesang (Anm.80), S.188. 88 Ebd. S.188. 89 Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.18. 90 Ebd. S.18. 91 Klaus von See: Germanische Heldensage (Anm.39), S.65 – 66. 20 sich überhaupt nicht um eine bewusste Entscheidung, sondern um ein rauschhaft vermessenes Spiel mit der tödlichen Gefahr“92.

Ein weiteres Charakteristikum ist das Zusammenziehen der Helden auf zwei oder höchstens drei Generationen: „Auf diese Weise kann Dietrich von Bern, der sich auf den historischen Ostgotenkönig Theoderich († 526) bezieht, der Neffe Ermanarichs sein († 375), als Verbannter an Hof († 543) ziehen und dort den Untergang der Burgunden (435) erleben“93. Die Forschung des 19. Jahrhunderts (mit Lachmann, Heusler und Baesecke als ihre prominentesten Vertreter) führt dieses Zusammentreffen auf eine Kette historischer Irrtümer und Verwechslungen zurück:

Italien habe als alte Heimat und Herrschaft Theoderichs verstanden werden können, weil Italien schon früher einmal – im Anfang des 5. Jhs. – von dem Westgotenkönig Alarich erobert worden war; die Verbindung Theoderichs mit Attila sei dadurch zustande gekommen, dass Theoderich mit seinem Vater Theodemer ineinsgesetzt worden sei, der tatsächlich unter der Oberherrschaft des Hunnenkönigs gestanden habe; der Aufenthalt des vertriebenen Dietrich am hunnischen Herrscherhof schließlich sei ein Reflex der Tatsache, dass Theoderich in seiner Jugend einige Zeit als Geisel am Hofe des byzantinischen Kaisers zugebracht habe.94

In ähnlicher Weise argumentiert Heiko Uecker, dass im Zuge der Poetisierung des historischen Stoffes die Unkenntnis genauer Daten und Fakten durch künstlerische Gestaltung kompensiert wird: „am Anfang steht die Geschichtsüberlieferung, geformt in der Darstellung persönlicher Konflikte. Mit dem Ende der Völkerwanderungszeit und dem fortschreitenden Verlust historischer Kenntnisse beginnt die Literarisierung“95. Ein Einspruch gegen diese Theorien, die Heldendichtung zum Produkt von Fehlinterpretationen und Irrtümern erklären, wurde etwa von Dietrich von Kralik formuliert, der den Ursprung der Heldensage in „frei erfundene[r] Dichtung“ verortet, „die erst allmählich – auf Grund zufälliger Ähnlichkeiten des Handlungsverlaufs oder vor allem eines oder einiger Namen – an geschichtliche Begebenheiten nachträglich angeglichen worden sei“96.

Die Mechanismen, die historische Gegebenheiten mit Motiven aus Volksliedern und Mythologie zu Heldendichtung verwoben haben, lassen sich in einer allgemein verbindlichen Weise heute nicht mehr rekonstruieren. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang

92 Ebd. S.68. 93 Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter (Anm.55), S.6. 94 Klaus von See: Germanische Heldensage (Anm.39), S.63 – 64. 95 Heiko Uecker: Germanische Heldensage (Anm.64), S.13. 96 Klaus von See: Germanische Heldensage (Anm.39), S.64. 21 weniger von „festen Merkmalsbündel[n]“ (im Sinne klar definierbarer Motive und Fakten) als von einem dynamischen „Traditionszusammenhang“97 im Sinne eines kulturellen Gedächtnisses nach Jan Assmann sprechen, für das eine gewisse Unschärfe von Daten und Fakten geradezu konstitutiv ist98. Heldenepik ist für Assmann „die bevorzugte Gattung des kulturellen Gedächtnisses im Rahmen einer bestimmten Gesellschaftsform. Diese Gesellschaftsform ist […] aristokratisch, kriegerisch und individualistisch geprägt“99. Es geht beim kulturellen Gedächtnis weder um akribische Geschichtsforschung, noch um „Mythen und Wundererzählungen“ sondern um „Kodifikation von Erinnerung“100. Das könnte auch einer der Gründe dafür sein, warum das heroic age für gewöhnlich weit in einer nebulösen Vergangenheit zurückliegt, die wenig mit der tatsächlichen historischen Situation der Rezipienten gemein hat. So hebt etwa die Völuspa, das erste Lied im Zyklus der nordischen Edda, mit folgenden Versen an:

Allen Edlen gebiet´ ich Andacht, Hohen und Niedern von Heimdalls Geschlecht; Ich will Walvaters Wirken künden, Die ältesten Sagen, der ich mich entsinne101

Neben den deutlichen Spuren konzeptioneller Mündlichkeit ist hier der dezidierte Hinweis auf das hohe Alter des Folgenden bedeutsam. Auf Millets Hinweis auf die konstitutive Bedeutung der fernen Vergangenheit und die veränderte politische Situation von Protagonisten und Rezipienten wurde in diesem Zusammenhang bereits verwiesen. Das Nibelungenlied betont diese zeitliche Distanz bereits in der ersten Strophe, in der von den alten mæren die Rede ist, in denen uns noch dazu wunders vil geseit ist, was nicht gerade auf eine alltägliche Erzählung hindeutet. Für Otfried Ehrismann eröffnet der Epiker „im Gestus des Rhapsoden, des fahrenden Sängers, einen gemeinschaftsstiftenden Diskurs über die heroische Zeit der Ahnen“102. Darin wird von Helden und deren Taten berichtet, wobei sich kaum eindeutige Definitionen finden. Der Heldenbegriff scheint für die damalige Zeit so selbstverständlich zu sein, dass ein Verständnis beim Publikum vorausgesetzt werden konnte und auch heute noch scheint seine

97 Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.15. 98 Vgl. ebd. S.178. 99Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Verlag C.H. Beck 1992, S.274. 100 Ebd. S.274. 101 Manfred Stange (Hrsg.): Die Edda. Götterlieder, Heldenlieder und Spruchweisheiten der Germanen. Wiesbaden: Marix Verlag 2004, S.13. 102 Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.11. 22 weite Verbreitung und häufige Verwendung eine unproblematische Eindeutigkeit zu implizieren. Doch lassen sich jahrhundertealte Konzepte ohne weiteres auf den alltagssprachlichen Gebrauch der Gegenwart übertragen?

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3.2. Zum Heldenbegriff

Im alltäglichen Sprachgebrauch ist der Begriff Held von einer gewissen semantischen Unschärfe gekennzeichnet. Man spricht von tragischen Helden, von Romanhelden, von Sporthelden, von Helden der Arbeit, von Alltagshelden, von Actionhelden, von Antihelden und dergleichen mehr, zumeist ohne sich darüber im Klaren zu sein, was dieses Wort, das sich offenbar auf so viele unterschiedliche Bereiche anwenden lässt, eigentlich bedeutet. Am ehesten werden damit Eigenschaften wie Tapferkeit, Mut und Standhaftigkeit in Verbindung gebracht, doch auch diese Zuschreibungen sind seit der Prägung des Begriffs als „Hauptperson einer Erzählung oder eines Dramas“ in einer Theaterrezension aus dem Jahre 1729 fraglich geworden103. Man hat es also hierbei mit einem semantisch sehr offenen Begriff zu tun, der gerade deshalb in unterschiedlichsten Kontexten anwendbar ist.

Etymologisch betrachtet lässt sich feststellen, dass diese semantische Unschärfe von Anfang an zu dem Begriff gehört. In seiner ursprünglichen Form stammt er aus dem Altniederdeutschen, lautet heliđos und wird synonym mit den Worten man, gumon, erlos und uueros verwendet, die allesamt schlicht Mann bedeuten104. Es ist also „eine Bezeichnung des männlichen Menschen schlechthin“105, ohne darüber hinaus auf besondere Eigenschaften hinzuweisen. Klaus von See sieht hierin einen markanten Unterschied zum griechischen Begriff heros (ἥρως), der bereits bei Hesiod explizit mit Halbgott (ἥμίϑεος) in Verbindung gebracht wird und damit eine Beziehung zu Mythos und Kult nahelegt106, die etymologisch bei der deutschen Bezeichnung fehlt.

Der Umstand, dass heliđos ausschließlich im Stabreim vorkommt und in Rechtstexten, wie dem Sachsenspiegel oder dem Schwabenspiegel überhaupt nicht auftaucht, legt nahe, dass es sich um einen Begriff aus der Dichtersprache handelt, der im alltäglichen Sprachgebrauch selten verwendet wurde. Tatsächlich ist es auch der poetische Kontext, der das Wort entscheidend prägen sollte, nämlich „in mittelhochdeutschen epischen Texten des 12. Jahrhunderts“, in denen er „innerhalb einer kurzen Zeitspanne mit zunehmender Häufigkeit gebraucht wird“107. Zu dieser Zeit lässt sich auch eine semantische Einengung des Begriffs als Antonym zu zage

103 Herbert Kolb: Der Name des Helden: Betrachtungen zur Geltung und Geschichte eines Wortes. In: Bernhard Sowinski, Bernhard Schirmer (Hg.): Zeiten und Formen in Sprache und Dichtung. Festschrift für Fritz Tschirch zum 70. Geburtstag. Böhlau Verlag Köln 1972, S.398. 104 Vgl. ebd. S.398. 105 Ebd. S.398. 106 Klaus von See: Germanische Heldensage (Anm.39), S.10. 107 Herbert Kolb: Der Name des Helden (Anm.103), S.400. 24 beobachten108, durch die Eigenschaften wie Mut und Tapferkeit stärker in den Vordergrund treten. Herbert Kolb führt die nach wie vor bestehende Reduzierung auf den literarischen Bereich darauf zurück, dass „das ständisch und real gebundene Wort riter zur Bezeichnung des Begriffs Krieger/kämpfender, kampfbereiter Mann immer stärker aufkommt und zu helt teils in eine gewisse Konkurrenz, teils in eine partielle Synonymik tritt“109. Ursula Schulze zufolge ist es zwar durchaus kein Einzelfall, dass „Wolfram von Eschenbach Parzival, den helt (4,19) rühmend vorstellt, doch lässt sich trotzdem eine allmähliche Verengung des Bedeutungshorizonts auf „Krieger aus alter einheimischer Heldensage“ feststellen110. Diese sprachlichen Entwicklungen lassen sich auch anhand der unterschiedlichen Handschriften des Nibelungenlieds belegen: So weist Friedrich Panzer darauf hin, dass der Schreiber der Handschrift *C in 88 von 299 Fällen den Begriff helt in riter, degen, recke oder herre geändert hat, was er jedoch nicht als „Entheroisierung“ des Stoffes interpretiert, sondern als Hinweis darauf, „dass man bereits damals nicht in der Lage gewesen sei, die Trennschärfe zwischen den Bezeichnungen zu spüren“111. Die Änderungen seien auch ein Hinweis darauf, dass helt als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurde.

Während sich die Eigenschaften des Ritterideals in Form von Verhaltensnormen und Tugendkatalogen relativ klar definieren lassen, fällt es beim Helden wesentlich schwerer, eine verbindliche Charakterisierung vorzunehmen:

Was ist ein Held, was zeichnet ihn aus? Eine eindeutige Definition ist nicht einfach und man tut besser daran, ihn zu beschreiben […]: der Held verfügt über Eigenschaften, die ihn dazu befähigen, sichtbar zu machen, was dem Menschen möglich ist. Da er größere körperliche und geistige Gaben besitzt, kann er Taten vollbringen, die jedem anderen verwehrt sind. Diese Kräfte hat er mitunter, weil er göttlicher Abstammung ist. Mehr als nach allem anderen strebt der Held nach Ehre, nicht nur nach seiner persönlichen, sondern auch nach der der Familie und der Nachkommen. Deswegen erwirbt er das Lob der nachfolgenden Generationen: den Ruhm. Der Held endet meistens tragisch […], da ihn sein heroisches Temperament daran hindert, sich freiwillig einer stärkeren Macht zu unterwerfen. Die Tragik seines Untergangs (häufig noch dazu in jungen Jahren) wird durch seine Vorbildhaftigkeit gemildert.112

108 Vgl. Christa Agnes Tuczay: Helt und kühner degen – Untadelige Männlichkeit zwischen Aggression und Angst im literarischen Diskurs. In: Barbara Hindinger, Martin-M. Langner (Hg.): Ich bin ein Mann! Wer ist es mehr? Männlichkeitskonzepte in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Iudicum, München 2011. 109 Herbert Kolb: Der Name des Helden (Anm.103), S.401. 110 Ursula Schulze Nachwort in „Das Nibelungenlied“ S.975. 111 Ebd. S.975 – 976. 112 Heiko Uecker: Germanische Heldensage (Anm.64), S.3. 25

Während sich in dieser knappen Beschreibung von Uecker mit dem Streben nach Ruhm und Ehre, sowie der Vorbildwirkung Elemente finden, die sich auch auf das ritterliche Ideal anwenden ließen, werden auch die Unterschiede sichtbar: Der Held wird durch eine Maßlosigkeit ausgezeichnet, die ihn in radikaler Weise aus der Gesellschaft hervorhebt. In diesem Sinne charakterisiert auch Elisabeth Lienert: „Ein Held ist ein das Maß des Gewöhnlichen überragender Mensch von außerordentlichen Fähigkeiten und außergewöhnlichem Einsatz“113. Aufgrund seiner Eigenschaften ist es dem Helden kaum möglich, sich den Strukturen eines übergeordneten Bezugssystems – sei es theologisch oder auch politisch – unterzuordnen: „Selbstmächtigkeit, Selbstbehauptung und Exorbitanz des Helden sprengen alle Normen“114 und machen ihn mitunter trotz seiner Vorbildhaftigkeit zu einem unverträglichen Zeitgenossen: „seine grundsätzliche Andersartigkeit, sein unbekümmertes, bisweilen ungebremst aggressives und asoziales Verhalten machen ihn bei aller Bewunderung, die ihm entgegengebracht wird, gleichzeitig auch zum einsamen Außenseiter“115. Auch Klaus von See definiert Grenzüberschreitungen im weitesten Sinne als konstitutiv für Heldenidentität: „Brutalität, Verwandtenmord und Verrat sind charakteristische Züge besonders der griechischen und der germanischen Heldendichtung. Es scheint, dass der Held die Möglichkeiten dessen absteckt, was der Mensch in extremen Äußerungsformen wollen und tun kann“116. Seine Unfähigkeit, sich Normen unterzuordnen, führt häufig zu Konflikten unterschiedlichster Art. Somit kann seit den tragischen Helden der Antike die Hybris als wesentliches heroisches Charakteristikum definiert werden.

113 Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.9. 114 Ebd. S.10. 115 Franziska Küenzlen, Anna Mühlherr, Heike Sahm: Themenorientierte Literaturdidaktik: Helden im Mittelalter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S.10. 116 Klaus von See Was ist Heldendichtung? In: Klaus von See (Hg.): Europäische Heldendichtung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978, S. 38. 26

3.3. Zur Disposition des Helden: Hybris

Seit den Anfangstagen der europäischen Dichtung stellt die Hybris (ϋβρίς), bzw. ihre verhängnisvollen Folgen ein zentrales literarisches Motiv dar. Das Wort bezeichnet „sowohl die Haltung, die zum frevlerischen Übergriff über das menschliche Maß hinaus drängt, als auch konkret die einzelnen Formen solcher Übergriffe“117. Übersetzt wird der Begriff zumeist mit Frevel oder Übermut. Bereits der vorsokratische Philosoph Heraklit (ca. 520 – 460 v. Chr.) warnt vor der Übertretung des menschlichen Maßes: „Υβριν χρη σβεννύναι μαλλον ή πυρχαϊήν“ (Hybris soll man löschen mehr noch als Feuersbrunst)118 und bereits in den frühesten erhaltenen Zeugnissen griechischer Dichtung nimmt der Begriff eine prominente Stellung ein. So befindet Jan de Vries über die Ilias: „Homer hat sein Gedicht als ein Bild der hybris geschaffen, die den Menschen zum Verderben führt“119 und illustriert dies anhand von Helden, wie Achilleus, Patroklos, Agamemnon und Diomedes, die immer wieder „das Maß des Zulässigen“ überschreiten120. In der Odyssee findet sich der Begriff wiederholt zur Beschreibung des anmaßenden Verhaltens von Penelopes Freiern, wie etwa in der folgenden Schilderung Telemachs:

Denn feindselige Männer erfüllen die Wohnung und schlachten Meine Ziegen und Schaf´ und mein schwerwandelndes Hornvieh´, Freier meiner Mutter, voll übermütigen Trotzes121

Walter Kaufmann verweist darauf, dass das griechische Verb hybrizein (ϋβριζειν) bei Homer „zügellos werden oder sich austoben [bedeutet] und auch auf Flüsse, wuchernde Pflanzen und überfütterte Esel, die schreien und aufstampfen, angewandt [wird]“122. Häufig wird der Begriff als Antonym zu Δίκη (Sitte, Ordnung, Recht) und zu σωφροσύνη (Mäßigung, Besonnenheit, Selbstbeherrschung) verwendet123. In diesem Sinne setzt sich auch Platon mit der Hybris auseinander. Im Phaidon weist Sokrates den Kebes darauf hin, dass die Seelen derer, deren Leben nicht im Zeichen der Mäßigung steht, sich in einer unvorteilhaften Reinkarnation wiederfinden werden und wie bei Homer muss auch hier der Esel als Negativbeispiel herhalten:

117Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 3: G – H. Basel /Stuttgart: Schwabe & Co. Verlag 1974, S.1234. 118 Laura M. Marciano (Hrsg.): Die Vorsokratiker Band I: Thales, Anaximander, Anaximenes, Pythagoras und die Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit. Düsseldorf: Artemis & Winkler 2011, S.328 – 329. 119 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.26. 120 Ebd. S.26. 121 Homer: Odyssee (Anm.57), S.480 (iv, 365-368). 122 Walter Kaufmann: Tragödie und Philosophie. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1980, S.74. 123 Vgl. ebd. S.74. 27

„wie, die sich ohne alle Scheu der Völlerei und des Übermuts und Trunkes befleißigen, solche begeben sich wohl natürlich in Esel und ähnliche Arten von Tieren“124. Im Phaidros hingegen betont er die mannigfaltigen Formen, in denen die Hybris das Ideal eines maßvollen, vernünftigen Lebens bedroht:

Wenn aber die Begierde vernunftlos hinzieht zur Lust und in uns herrscht, wird diese Herrschaft Frevel genannt. Der Frevel aber ist vielnamig; denn er ist vielteilig und vielartig. Und die von diesen Arten zufällig den Vorzug gewonnen, trägt ihren eigenen Namen zur Benennung auf den, der sie besitzt hinüber, einen weder schönen noch wünschenswerten.125

Die Vernunft wird hier dezidiert der Hybris gegenübergestellt. Das Bewusstsein des Philosophen, dass seine Erkenntnismöglichkeiten in seinem irdischen Dasein begrenzt sind, wirkt dem vielnamigen, frevelhaften Übermut entgegen, wie auch Daniela Hüttinger in Hinblick auf Platons Staat betont: „Der Glaube an und die Suche nach dem Guten, welches im Menschlichen gar nicht erkenn- und erreichbar sein kann, schützt den Philosophen(könig) vor der Hybris“126. Auch bei Platons Schüler Aristoteles findet sich die Warnung vor der Hybris im politischen Kontext, wenn er in seiner Politik auf deren Schädlichkeit für den Staat hinweist. Diejenigen, die dem Frevelmut verfallen sind, lassen sich kaum in das staatliche Gefüge integrieren, denn „[sie verstehen es nicht], sich in irgendeiner Herrschaft beherrschen zu lassen“127.

Für die narrative Tiefenstruktur der griechischen Tragödie ist die Hybris geradezu konstitutiv und sie stellt gewissermaßen den roten Faden dar, der die einzelnen Werke miteinander verbindet: „prüft man alle Stellen bei Aischylos und Sophokles, wo die eine oder andere Form unseres Wortes vorkommt, dann wird deutlich, wie regelmäßig die konkreten Grundbedeutungen den Sinn durchdringen“128. Laut Kaufmann erstrecken sich diese Bedeutungen im Kontext der antiken Dichtung über Begriffe, wie „mutwillige Gewalt“, „Gier“ und „Frevel“129. Paul Tillich erklärt zum Leitmotiv der griechischen Tragödie, dass sich der Mensch „über die Grenzen seines endlichen Seins [erhebt] und […] dadurch den göttlichen

124 Platon: Phaidon / Das Gastmahl / Kratylos. Gunther Eigler (Hg.). Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, S. 95. 125 Platon: Phaidros / Parmenides / Briefe. Gunther Eigler (Hg.). Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981, S.39 – 41. 126 Daniela Hüttinger Zum Begriff des Politischen bei den Griechen. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S.130. 127 Aristoteles: Politik. Frank Schwarz (Hg.). Stuttgart: Reclam 1989, S.225. 128 Walter Kaufmann: Tragödie und Philosophie (Anm.122), S.75. 129 Ebd. S.74. 28

Zorn hervor[ruft], der ihn zerstört“130 und für Max Pohlenz ist die Hybris gar „Lebensnerv der aischyleischen Tragik“131. Laut Vittorio Hösle zeichnen sich die „Heroen des Sophokles als „höchste objektive Leistung und gleichzeitig maßlose[n] Egozentrismus“ aus, die zu „Exzessen“ führen, „die uns Heutige abstoßen“132. In der Mythologie sind es Gestalten wie Tantalus, der den Göttern seinen eigenen Sohn zum Mahl vorgesetzt hat und dafür mit den sprichwörtlichen Qualen bestraft wurde, Sisyphos, dem Albert Camus „Verachtung der Götter“, sowie „leidenschaftlichen Lebenswillen“ attestiert133 oder Ikarus, der sich durch die Ingenieurskunst seines Vaters über die Grenzen seiner körperlichen Beschaffenheit erheben wollte, die den Frevelmut und seine verhängnisvollen Folgen illustrieren. Was all diese Figuren eint, ist ihre Missachtung von Grenzen und Gesetzen, bzw. ihre Weigerung, sich in beengende Gegebenheiten zu fügen. Die Bedeutsamkeit, die in der griechischen Antike der Einhaltung von Grenzen beigemessen wurde, lässt sich etymologisch an dem Begriff κὀσμος illustrieren, der nicht nur Welt, sondern auch Ordnung bedeutet. Friedrich Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von der „griechische[n] Abneigung gegen das Übermaß, [gegen den] freudigen Instinkt der Hybris“134 und greift auch in seiner polemischen Kritik an den zeitgenössischen Zuständen auf das Wort zurück: „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur- Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der unbedenklichen Techniker- und Ingenieur- Erfindsamkeit; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgend einer angeblichen Zweck- und Sittlichkeitsspinne“135.

Hybris hat also immer etwas mit Frevel im Sinne von Grenzüberschreitung zu tun, weswegen ihre Verbindung mit der einleitend dargelegten Heldencharakterisierung naheliegt. In einer Formulierung von Max Wehrli wird „aus verhängnisvoll-großartigem Heldentrotz oder Leichtsinn […] das kirchliche Laster der superbia, der Hybris als der Ursünde“136. In ähnlicher Weise charakterisiert Klaus von See heroische Verhaltensmuster und deren Unvereinbarkeit mit gesellschaftlichen Normen: „Der Held […] handelt aus einem starken Pathos heraus, gibt sich in rauschhaft gesteigertem Geltungsdrang dem Tod hin, handelt nie nach bequemen Nutzen und Vorteil, sondern so, wie man im gewöhnlichen Leben nicht immer handeln würde und

130 Paul Tillich: Systematische Theologie I/II. Berlin: de Gruyter 1987, S.58. 131 Max Pohlenz: Die griechische Tragödie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1954, S. 181. 132 Vittorio Hölse: Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles. Ästhetisch-historische Bemerkungen zur Struktur der attischen Tragödie. Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag 1984, S.117. 133Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2003, S.156. 134 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1882 – 1884. Berlin: de Gruyter 1988, S.295. 135 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1999, S.357. 136 Max Wehrli: Die „Klage“ und der Untergang der Nibelungen (Anm.12), S.106. 29 sollte“137. Im Kontext der höfischen Kultur mit ihren Tugenden mâze und stæte, mit ihrem reichhaltigen Katalog an gesellschaftlichen Verhaltenskonventionen muss der Held, der per definitionem außergewöhnlich ist, anecken.

137 Klaus von See: Germanische Heldensage (Anm.39), S.24. 30

3.4. Genealogisches Denken: Stammbaum und Ruhm

Politisch gesehen unterscheidet sich der neuzeitliche Heldenbegriff in vielerlei Hinsicht von Konzeptionen aus der Vergangenheit. Küenzlen, Mühlherr und Sahm sprechen in diesem Zusammenhang von der „Demokratisierung des Heldentums“, wobei Schlagworte, wie „Bürgerpflicht zum Handeln“ oder „Nicht-Wegschauen“ im Sinne von Zivilcourage eine wichtige Rolle spielen138. Heutzutage kann jeder ein Held sein, „wenn er eigene Interessen zum Wohl anderer in bestimmten Situationen zurück stellt“139, dies beschränkt sich nicht auf häufig zitierte Alltagshelden, wie Feuerwehrmänner, Ärzte oder Polizisten, sondern schließt (zumindest potentiell) jeden einzelnen mit ein. Dass mit dieser Demokratisierung ein massiver Widerspruch zur Exaltiertheit antiker, bzw. mittelalterlicher Heldenkonzeptionen formuliert wird, liegt auf der Hand. Einer der Gründe für diese Umkehrung in der Charakterisierung könnte in den zeitgeschichtlichen Ereignissen des 19./20. Jahrhunderts liegen. Gerade im deutschsprachigen Raum „hat man kein ungebrochenes Verhältnis zum Heldentum und ist deshalb bemüht, den Begriff mit sozialen Tugenden wie Zivilcourage und kollektivem Handeln zu besetzen“140. Vielen ist im Kontext der ideologischen Vereinnahmung des Heldenbegriffs der Appell an die Wehrmacht, in dem Hermann Göring am 30. Januar 1943 im Berliner Sportpalast die aussichtlose Lage in Stalingrad zum „größte[n] Heroenkampf unserer Geschichte“141 stilisiert und sich in weitere Folge auf das Nibelungenlied bezieht, das er als „gewaltiges Heldenlied von einem Kampf ohnegleichen“142 bezeichnet, in Erinnerung. Die Ideologisierung des Begriffs im didaktischen Kontext trug ihr übriges zur seiner Problematisierung bei. So heißt es etwa in einem Aufsatz mit dem sprechenden Titel Erweckung des Volkes durch seine Dichtung von Severin Rüttgers aus dem Jahr 1933: „Seitdem die Deutschen ihren Führer gefunden und erkannt haben, fühlen sie wieder, was heldisches Wesen meint und fordert, sind unter ihnen tausend Helden aufgeweckt worden, ist namenloses Heldenwerk tausendfach gelebt und vollendet worden“143. Die Grundsteine dessen, was später als Demokratisierung des Heldentums bezeichnet wird, werden bereits hier gelegt, an anderer Stelle schreibt Rüttgers, dass „Heldentum […] in jedem Kreis des Menschlichen“, also auch abseits von „Führertum in Staat und Krieg“ möglich sei144.

138 Küenzlen, Mühlherr, Sahm: Themenorientierte Literaturdidaktik: Helden im Mittelalter (Anm.115), S.16. 139 Ebd.. S.17. 140 Ebd. S.17. 141 Zitiert in: Helmut Brackert Heldische Treue, Heldische Tapferkeit, Heldisches Schicksal (Anm.31), S.72. 142 Ebd. S.72. 143 Zitiert in: Brackert, Christ, Holzschuh: Einleitung (Anm.3), S.54. 144 Ebd. S.53 31

Heldendichtung im engeren Sinn kann mit Victor Millet einem „spezifisch aristokratischen Stoffkreis“145 zugeordnet werden: „Die einzelnen Geschichten erzählen von Helden, die einer Oberschicht von Königen und Prinzen angehören“146. Auch Jan de Vries sieht im klassischen Helden das „Idealbild einer kriegerischen Aristokratie“147 verwirklicht. Man hat es hier also nicht mit den Alltagshelden im dargelegten Sinne zu tun, sondern mit einer elitären Oberschicht, die sich bereits durch ihren Stammbaum vom Durchschnitt unterscheidet.

In den Heldenepen der Antike spielt Genealogie eine zentrale Rolle, wobei der Verweis auf göttliche Vorfahren oft wesentlich ist. Bereits in der erste Zeile aus der Ilias wird Achill als Pelide (Sohn des Peleus) bezeichnet und nach seinem Sieg über den trojanischen Krieger Asteropaios (der als seinen Urahn den Flussgott Axios nennt) erläutert er im 21. Gesang stolz seinen Stammbaum:

Lieg also! Schwer magst du des hocherhabnen Kronion Söhne mit Streit angehen, obgleich vom Strome du abstammst! Denn du rühmst dich entstammt von des Stroms breitwallendem Herrscher; Doch ich preise mich selbst vom gewaltigen Zeus zu entstammen. Mich ja erzeugte der Herrscher des myrmidonischen Volkes, Peleus, Aiakos´ Sohn, und den Aiakos zeugte Kronion. Drum, wie mächtig Zeus vor den meerabrauschenden Strömen, So mächtig ist auch Zeus´ Geschlecht vor den Söhnen des Stromes148

Die Analogie von Zeus´ Macht und Zeus´ Geschlecht verdeutlicht, dass der Verweis auf den Stammbaum sich nicht auf eine leere Prahlerei mit dem berühmten Urahn reduzieren lässt, sondern, dass dessen Macht im Nachkommen unmittelbar präsent ist. An diesem Punkt wird ein wesentlicher Unterschied zu Heldenidentitäten im germanischen Kulturraum augenfällig: „Der Heros ist nicht nur ein zu höchster Potenz gesteigerter Mensch, er ist ein Halbgott, er empfängt einen Kult, er ist Gegenstand einer Heiligenverehrung“149. Davon abgesehen lassen sich hinsichtlich der Bedeutsamkeit von Stammbäumen und Ahnenreihen jedoch durchaus auch Parallelen finden. So weist etwa Hans Kuhn auf die zentrale Bedeutung eines vornehmen

145 Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter (Anm.55), S.10. 146 Ebd. S.10. 147 Jan de Vries: Betrachtungen zum Märchen besonders in seinem Verhältnis zu Heldensage und Mythos. Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia Academia Scientiarum Fennica 1954, S.78. 148 Homer: Ilias (Anm.57), S.361. 149Jan de Vries: Betrachtungen zum Märchen besonders in seinem Verhältnis zu Heldensage und Mythos (Anm.147), S.79. 32

Stammbaums in der isländischen Heldendichtung hin150. Tatsächlich finden sich in der Edda zahlreiche Verweise auf die Väter und Ahnen von Helden. So ist es etwa bezeichnend, dass die erste Frage, die der Drache Fafnir an Sigurd richtet, als dieser seine Höhle aufsucht, um ihn zu erschlagen, lautet: „Welcher Gesell erzeugte dich, welcher Sippe entstammst du?“, worauf dieser sich mit den Worten „Sigurd heiß´ ich, Sigmund hieß mein Vater“ vorstellt151. Sowohl in den Helden- als auch in den Götterliedern der Edda finden sich zahlreiche vergleichbare Stellen, in denen auf Stammbäume verwiesen wird. Diese Tradition gibt es auch im Chanson de geste, der altfranzösischen Heldenepik aus der Zeit Karls des Großen und seiner Nachfolger152. Bereits die Bezeichnung kann als Hinweis gelesen werden, denn das altfranzösische Wort geste bedeutet „nicht nur die Erzählung von denkwürdigen Ereignissen, sondern auch Genealogie“153.

Ein wesentliches Element der Genealogie ist der Ruhm, der sowohl von den Ahnherrn bereits herrührt, als auch an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden soll. Das Heldenideal im klassischen Sinn kann somit folgend zusammengefasst werden: „stark und tapfer zu sein, alle Gegner zu überwinden und damit das Lob nachfolgender Geschlechter zu erwerben“154. Die Denkfigur einer Fortexistenz von Ruhm und Schande nach dem eigenen Tod ist eng mit einem Identitätsverständnis verbunden, das sich in vielerlei Hinsicht von heutigen Konzeptionen unterscheidet:

Der Mensch war noch nicht der Einzelgänger, wie er das später geworden ist. Er war vor allem Mitglied einer Sippe, er war der zeitliche Ring in einer sich ewig fortsetzenden Kette. Ruhm und Schmach vererbten sich auf Enkel und Enkelkinder, ja konnten sogar auf die Ahnen zurückgreifen. Wer hinter seiner Ehre zurückblieb, war ein schwacher Ring in dieser Kette; sie konnte brechen155

Diese Bedeutsamkeit ruhmreicher Taten kann mit Heiko Uecker als Verweis auf die Ursprünge der Heldenepik in den Helden- und Preisliedern, in denen die Taten der Verstorbenen besungen wurden, gewertet werden156. Fest steht jedenfalls, dass ein ruhmreiches Leben auch nach dem

150 Vgl. Hans Kuhn: Kleine Schriften. Aufsätze und Rezensionen aus den Gebieten der germanischen und nordischen Sprach-, Literatur-, und Kulturgeschichte. Zweiter Band: Literaturgeschichte, Heldensage und Heldendichtung, Religions- und Sittengeschichte, Recht und Gesellschaft. Berlin: de Gruyter & Co.1971, S.256. 151 Die Edda (Anm.101), S.186. 152 Vgl. Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.12 ff. 153 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.232. 154 Ebd. S.243. 155 Ebd. S.251. 156 Vgl. Heiko Uecker: Germanische Heldensage (Anm.64), S.15. 33

Tod etwas Beständiges ist, das in den folgenden Generationen fortlebt. So heißt es etwa im Havamal aus der Edda:

Das Vieh stirbt, die Freunde sterben, Endlich stirbt man selbst; Doch eines weiß ich, das immer bleibt: Das Urteil über den Toten157

Wie der Ruhm bleibt auch die Schande bestehen und kann über Generationen hinweg weitervererbt werden. Als Siegfried im Nibelungenlied seine Mörder mit den Worten „di sint dâ von bescholten, swaz ir wirt geborn her nâch disen zîten“158 verflucht, klingt darin ein Echo dieser heroischen Tradition, die den Einzelnen als Glied einer genealogischen Kette versteht, nach. Nicht einmal sein eigener Sohn entgeht der Schmach, an der er durch seine Verwandschaftsbeziehung Anteil hat:

„Nu müeze got erbarmen, deich ie gewan den sun, dem man daz itewîzen sol nâch den zîten tuon, daz sîne mâge iemen mortliche hân erslagen. Moht ich“, sô sprach Sîfrit, „daz sold ich billiche klagen.“159

Heldendichtung im klassischen Sinn ist also oft mit der Geschichte eines bestimmten Geschlechts und dessen Taten (im Guten wie im Bösen) verbunden. Entsprechende Stellen finden sich auch in der Ilias immer wieder, etwa im sechsten Gesang, als Glaukos sich mit den Worten vorstellt:

Aber Hippolochos zeugte mich, ihn rühm´ ich als Vater Dieser sandt´ in Troja mich her und ermahnte mich sorgsam, Immer der erste zu sein und vorzustreben vor andern, Dass ich der Väter Geschlecht nicht schändete, welches die ersten Männer in Ephyre zeugt´ und im weiten Lykierlande160

Der Held wird hier in eine genealogische Kette eingegliedert, die ihn einerseits als Nachkomme eines ruhmreichen Geschlechts in der Vergangenheit verortet und ihm andererseits die Pflicht

157 Die Edda (Anm.101), S.56. 158 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.288 (987). 159 Ebd. S.290 (992). 160 Homer: Ilias (Anm.57), S.103 (6, 205 -210). 34 auferlegt, durch sein Handeln diesen Ruhm für die Zukunft zu sichern. Durch diese zweifache Bezüglichkeit erhält sein Agieren etwas Verbindliches, Beständiges. Ob es in einer Formulierung von de Vries den Menschen „den Weg zu einem höheren und edleren Leben zeigen [kann]“161 ist zu hinterfragen. Fest steht aber, dass Figuren wie Achill, Odysseus, Dietrich von Bern oder Siegfried viele hundert Jahre nach der Verschriftlichung ihrer Taten den meisten noch ein Begriff sind, während die Halbwertszeit der meisten Sport- und Filmhelden unserer Tage für gewöhnlich sehr begrenzt ist. Vom alten Heldenbegriff ist dann nur mehr wenig übriggeblieben: „eigentlich nur, dass er auf einem bestimmten Gebiet alle anderen überragt, ja, vielleicht nur, dass er eine kurze Zeit in den Spalten der Zeitung einen Ehrenplatz erhält“162.

161 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.243. 162 Ebd. S.243. 35

3.5. Deterministische Konzepte: Schicksal und Prophezeiungen

Zu den wesentlichen Merkmalen eines Helden gehört laut Otto Höfler, Felix Genzmer und Jan de Vries „seine Haltung in der Auseinandersetzung mit dem Schicksal“163. So charakterisiert etwa letzterer den Helden als jemanden, der „sich in der drohendsten Gefahr [bewährt]“, letztlich jedoch „einem übermächtigen Schicksal [erliegt]“164 und führt in Heldenlied und Heldensage weiter aus:

Ein Held stirbt jung; darin besteht gerade seine Tragik. Es ist ihm vorausgesagt worden. Und wenngleich in der Hornhaut gepanzert wie Siegfried oder ein Fer Diad, oder fast unverwundbar wie Achilleus, sogar durch unmögliche Bedingungen gegen den Tod gefeit wie der kymrische Held LLew LLaw Gyffes: das Schicksal ist unerbittlich.165

Die Vergeblichkeit im Kampf gegen das Schicksal ist also kein Zeichen mangelnder Heldenhaftigkeit, sondern bildet oft einen integralen Bestandteil von Heldenidentität. Tatsächlich spielt die Prophezeiung eines bedeutsamen Schicksals am Anfang von zahlreichen Heldendichtungen eine wichtige Rolle, wobei diese nicht immer negativ sein muss: Im zweiten Gesang der Ilias verweist Odysseus in Anbetracht der nachlassenden Motivation der achaischen Helden nach neun Jahren Krieg auf eine Voraussagung des Sehers Kalchas:

Warum steht ihr verstummt, ihr hauptumlockten Achaier? Uns erschuf dies Wunder der Macht Zeus´ waltende Vorsicht, Spät von Dauer und spät erfüllt, zu ewigem Nachruhm! […] Also werden wir dort neun Jahr´ kriegen um Troja Doch im zehnten die Stadt voll prächtiger Gassen erobern. So weissagte jener; und nun wird alles vollendet166

Auch Hektor sagt den Untergang Trojas voraus („Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt“167), doch er verfällt in Anbetracht dessen nicht in Resignation und Passivität, denn er lernte „tapferen Mutes immer zu sein und voran mit Trojas Helden zu kämpfen“168. Selbst, wenn das Schicksal unter keinen günstigen Vorzeichen steht, bleibt der Held seinen

163 Klaus von See: Germanische Heldensage (Anm.39), S.167. 164 Jan de Vries: Betrachtungen zum Märchen besonders in seinem Verhältnis zu Heldensage und Mythos (Anm.147), S.78. 165 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.247. 166 Homer: Ilias (Anm.57), S.31 (2,328 – 330). 167 Homer: Ilias (Anm.57), S.109 (6,448). 168 Ebd. S.109 (6, 443-444). 36

Prinzipien treu, zumal sich keine Alternative denken lässt: „Doch dem Verhängnis entrann wohl noch nie der Sterblichen einer, edel oder geringe, nachdem er einmal gezeuget ward“169. Eine ähnliche Haltung des Trotzes und der Unbeugsamkeit findet sich bei Achill: nachdem ihm der nahe Tod von seinem Pferd Xanthos prophezeit wird („Ja, wohl bringen wir jetzt dich Lebenden, starker Achilleus; doch des Verderbens Tag ist nahe dir! Dessen sind wir nicht schuldig, sondern der mächtige Gott und das harte Verhängnis“170) erwidert der Pelide:

Xanthos, warum mir den Tod weissagest du? Solches bedarf’s nicht! Selber weiß ich wohl, dass fern von Vater und Mutter Hier des Todes Verhängnis mich hinrafft. Aber auch so nicht Rast´ ich, bevor ich die Troer genug im Kampfe getummelt! Sprach’s und lenkte voran mit Geschrei die stampfenden Rosse171

In der antiken Heldendichtung wirkt das Wissen um das eigene Schicksal also nicht wie ein Quietiv, sondern eher wie ein Katalysator. Auch in den frühesten Zeugnissen germanischer Heldendichtung spielt der Begriff immer wieder eine Rolle. So ruft sein „bitteres Schicksal“ an, als er mit seinem eigenen Sohn auf dem Schlachtfeld zusammentrifft172 und in der Edda wimmelt es geradezu vor Schicksalsdeterminismen und sich erfüllenden Prophezeiungen. Bereits das erste Lied im Codex Regius trägt den Titel Völuspa, was mit der Seherin Weissagung übersetzt werden kann. Darin wird – von der Erschaffung der Zwerge und Menschen durch die Götter bis zur Vernichtung und Erneuerung der Erde in Ragnarök - ein Überblick über die Geschichte der Welt gegeben. Die deutsche Bezeichnung Götterdämmerung für Ragnarök geht auf einen Übersetzungsfehler von Snorri Sturluson zurück, die ursprüngliche Bedeutung lautet Götterschicksal173. Doch auch auf individueller Ebene spielt die Denkfigur eines festgelegten und damit prophezeibaren Schicksals in der Edda immer wieder eine Rolle. So sucht etwa Sigurd im ersten Lied des Sigurdzyklus (Sigurdarkvida Fafnisbana fyrsta edha Gripisspa) den Seher Gripir auf, der ihm seinen weiteren Werdegang vom Sieg über den Drachen bis zu seiner hinterlistigen Ermordung durch Gunnar, Gutthorm und Högni voraussagt. Gleichmütig nimmt der Held diese düstere Prophezeiung zur Kenntnis ohne darob ihrem

169 Ebd. S.110 (6,487-488). 170 Ebd. S.341 (19,408 – 410). 171 Ebd. S.341 (19,419-424). 172 Jan de Vries: Heldenlied und Heldensage (Anm.18), S.69. 173 Vgl. J.R.R. Tolkien: Introduction to the “Elder Edda”. In: Christopher Tolkien (Hg.): The Legend of Sigurd and . London: Harper Collins 2009, S.26. 37

Überbringer zu zürnen. Dadurch wird das vorhergesagte Schicksal zu etwas objektiv Vorhandenen, der Prophet lediglich zu seinem Medium:

Heil uns beim Scheiden! Das Schicksal bezwingt man nicht. Mir ward Weissagung hier, Gripir, gewährt. Du hättest gerne mehr Glück verheißen Meinem Lebenslauf – hätt´ es an dir nur gelegen174

Gottfried Weber erklärt „untergründig-dämonische Mächte und Kräfte über dem Menschen (Schicksal) und auch gerade im Menschen“ zur „eigentlich wirksame[n] Macht“ in der Entwicklung des heroischen Plots175. Für Klaus von See ist die Schicksalsergebenheit der meisten klassischen Heldengestalten jedoch nicht das Ergebnis einer bewusst getroffenen, freien Entscheidung, sondern entspringt vielmehr „den typischen Verhaltensweisen der Fürsten- und Kriegeraristokratie, d.h. er folgt ständisch gebundenen Konventionen“176, die ihm ein anderes Handlungsmuster überhaupt nicht erlauben würden. In ähnlicher Weise erklärt Helmut Brackert die Motivation der Nibelungen, auch in Angesicht des bevorstehenden Untergangs weiterzukämpfen, anstatt sich zu ergeben:

Es sind objektive Gründe: Siegfrieds Ermordung, der Tod des Etzelsohns, die Ermordung der Troßknechte durch die Burgunden. Es kommt also nicht zu einem Frieden, und zwar nicht nur, weil die Kontrahenten nicht wollen, sondern weil sie objektiv nicht können. Der mittelalterliche êre-Begriff ist so definiert, dass es nicht vom Willen und Bewußtsein des einzelnen abhängt, wann und inwieweit er sich verletzt fühlt. Vielmehr ist hier entscheidend die Verletzung der äußeren Person, d.h. der Rangstellung, die der einzelne in der gesellschaftlichen Hierarchie einnimmt177

Auch Elisabeth Lienert führt die Handlungsmuster der Figuren eher auf zeitgenössische Konventionen als auf archaische Ideale zurück, wenn sie den „Primat der Lehensbindung“ als „eine der Konstanten der nibelungischen Welt“ definiert und somit den Begriff der Nibelungentreue aus mittelalterlichen Verhaltensnormen heraus erklärt178: „Die Fatalität von Gewalteskalation und Untergang ist kein Verhängnis, sondern menschengemacht nach zeittypischen Spielregeln für den Untergang“179. Demgegenüber interpretiert Hermann Reichert Hagens provokantes Verhalten an Etzels Hof als heroische Überzeugung, „dass das Schicksal

174 Die Edda (Anm.101), S.179. 175 Gottfried Weber: Nibelungenlied (Anm.29), S.22. 176 Klaus von See: Germanische Heldensage (Anm.39), S.171. 177 Helmut Brackert: Heldische Treue, heldische Tapferkeit, heldisches Schicksal (Anm.31), S.81. 178 Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.50. 179 Ebd. S.55. 38 unabänderlich sei, man sich aber dadurch, dass man es akzeptiert und noch dazu befördert, Ruhm sichern könne“180. Eine endgültig verbindliche Antwort auf die Frage, ob das Verhalten der Nibelungen und von Hagen eher einem archaischen Heldentum oder den Konventionen höfischer Etikette geschuldet ist, kann es nicht geben, doch sie kann als exemplarisch für die Konstitution von Identität im Nibelungenlied im Besonderen und in der mittelalterlichen Heldenepik im Allgemeinen gelten, in der sich ethische Ideale aus unterschiedlichen kulturhistorischen Epochen kreuzen. Dabei lassen sich „höfische und heroische Normen […] nicht trennscharf unterscheiden“ sondern verbinden sich zu einer paradoxen Untergangsdynamik, in der „triuwe, êre und Gewalt […] Macht und Bestand dieser Welt [garantieren und zerstören]“181.

Der mittelalterliche Held steht kulturhistorisch an einem besonders interessanten Punkt konzeptioneller Entwicklung. Er ist „Kristallisationsfigur, deren Ausprägungen sich zu noch älteren Typen zurückverfolgen lassen und die auch das Grundinventar heutiger Heldenkonzeptionen bereithalten“182. Daraus ergibt sich sowohl eine gewisse Brüchigkeit in der Charakterisierung einzelner Figuren, als auch ein Facettenreichtum, der dem Klischee eines eindimensionalen, stereotypen Heldenbildes widerspricht. Ein wesentlicher Grund für diese Inhomogenität und Komplexität liegt in „Reformulierungen sowie Umakzentuierungen“, in deren Rahmen eine intensive „Arbeit am Archaischen“183 ethische Vorstellungen und Ideale aus der Vergangenheit in den Kontext der zeitgenössischen höfischen Kultur zu integrieren versuchte.

180 Hermann Reichert: Das Nibelungenlied (Anm.17), S.529. 181 Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik (Anm.1), S.54. 182 Küenzlen, Mühlherr, Sahm: Themenorientierte Literaturdidaktik: Helden im Mittelalter (Anm.115), S.9. 183 Ebd. S.9. 39

4. Zum Ritterroman

Obgleich der Verfasser des Nibelungenliedes weder Namen noch Auftraggeber nennt, lassen sich aufgrund von stilistischen, sowie inhaltlichen Merkmalen Ort und Zeit der Entstehung einigermaßen eingrenzen. Die detaillierten Schilderungen der Örtlichkeiten, sowie dialektale Indizien sprechen für den Passauer Bischofshof als Entstehungsort der ersten Fassung184 und Joachim Heinzle führt intertextuelle Verweise, sowie stilistische Elemente als Indikatoren für eine zeitliche Bestimmung an:

Die Reimtechnik – d.h. die Reinheit der Reimbindungen – zeigen im ganzen einen Standard, der in der mittelhochdeutschen Literatur kaum vor den späten achtziger oder frühen neunziger Jahren des 12. Jahrhunderts möglich ist; im Parzival wird in den Versen 420,25 ff. auf Rumolts Rat (Nibelungenlied 1465 ff. bzw. *C 1493 ff. […]) angespielt, und wir können mit einiger Zuversicht annehmen, dass Wolfram diese Passage in den Jahren 1204/1205 gedichtet hat. Nach ca. 1190 und vor ca. 1205: das ist mithin die Zeitspanne, mit der wir für die Abfassung des Nibelungenliedes rechnen müssen.185

Die Verschriftlichung des Nibelungenliedes fällt damit in jene Epoche, in der in einer Formulierung von Hilkert Weddige „zum ersten Male die volkssprachliche Literatur adeliger Laien gleichberechtigt neben die lateinische und volkssprachliche Literatur der Kleriker [tritt]“186 und die Hugo Kuhn als „höfische Klassik“, bzw. „Klassik des Rittertums in der Stauferzeit“187 bezeichnet. Obgleich für diese Bezeichnung „nicht die praktische Teilnahme der staufischen Familie an der deutschen Dichtung wesentlich [ist]“, weist de Boor in einer emphatischen Formulierung darauf hin, dass „der Aufschwung des Lebensgefühls, der aus einer neuen Wertung des menschlichen Daseins hervorging, eng mit dem Aufstieg und dem weltweiten Geltungsgefühl des Staufertums, mit der letzten, kraftvollen Behauptung des universalen Reichsgedankens zusammen[hängt]“188. Um 1170 entstehen die frühesten Zeugnisse höfischer Dichtung und der Umstand, dass nun auch außerhalb des Klerikerstandes geschrieben wird, ist für Hugo Kuhn „eine Revolution im Kleinen“189. Während im Zentrum der überwiegend auf Latein verfassten geistlichen Dichtung „Heilszeit und Heilsraum“ stand,

184 Vgl. Friedrich Neumann: Das Nibelungenlied in seiner Zeit (Anm.14), S.63. 185 Joachim Heinzle: Das Nibelungenlied (Anm.8), S.47. 186 Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik. München: Verlag C.H. Beck 2006, S.187. 187 Hugo Kuhn: Die Klassik des Rittertums in der Stauferzeit. In: Otto Burger (Hg.): Annalen der deutschen Literatur. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine Gemeinschaftsarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Stuttgart: J.B Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1952, S.99. 188 Zitiert in: Hilkert Wedigge „Einführung in die germanistische Mediävistik“ S.187 - 188 189 Hugo Kuhn: Die Klassik des Rittertums in der Stauferzeit (Anm.187), S.102. 40 strebt die höfische Klassik danach, „Weltdienst und Gottesdienst zu vereinen“190 und schafft mit dem Ritterroman eine neue literarische Gattung. Bereits die Bezeichnung deutet auf den revolutionären Gestus: Das Wort Roman leitet sich von romanz ab, das „im Altfranzösischen Werke bezeichnet, die nicht lateinisch abgefasst sind, sondern in der lingua romana, in der Vulgärsprache, so dass sie allgemein verstanden werden konnten“191. Indem ab dem Ende des 12. Jahrhunderts literarische Schriften in deutscher Sprache formuliert wurden, brach kulturgeschichtlich eine neue Ära an, die sich in vielerlei Hinsicht von der Vergangenheit abgrenzte.

Im christlich geprägten Mittelalter war zunächst die lateinische Sprache von universaler Geltung: „seit der Vulgataübersetzung des Hieronymus (345 – 420), seit Augustinus (354 – 430), Leo I d.Gr. (440 – 461) und Gregor I. d.Gr. (590 – 604) sprach, schrieb und dachte die römisch – katholische Kirche lateinisch“192, wodurch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung von reflektierter Textproduktion und -rezeption mündlicher oder schriftlicher Art ausgeschlossen war. Für Hugo Kuhn ist deshalb „jeder deutsche Schrifttext des Mittelalters […] ein Vermittlungsprodukt zwischen mündlich volkssprachlicher Laien – und schriftlich lateinischer Klerikerkultur“193. Zu den frühesten Zeugnissen althochdeutscher Schriftlichkeit gehört das Evangelienbuch des Otfried von Weißenburg, dessen Beweggründe, einen deutschsprachigen Text zu formulieren, Hübner folgendermaßen erläutert:

Die Anregung hätten einige Mönche und eine adelige Dame gegeben, als man sich einmal durch den „anstößigen Gesang der Laien“ (cantus obscenus laicorum) gestört fühlte. Man habe ihn, Otfried gebeten, die Evangelien in der Volkssprache (theodisce) aufzuschreiben, damit ihr Gesangsvortrag (cantus) das Vergnügen an den weltlichen Liedern und ihrem nutzlosen Inhalt zurückdränge.194

Auffällig ist hierbei, dass wie in der Heldenepik, offenbar eine Affinität zur Mündlichkeit besteht: nicht das geschriebene Wort an sich, sondern der Gesangsvortrag soll die geistlichen Inhalte in deutscher Sprache attraktiver gestalten als die weltlichen Lieder. Interessant ist überdies der Umstand, dass Otfried seinem Werk eine Art Vorwort mit dem Titel Cur scriptor hunc librum theodisce dictaverit („Weshalb der Autor dieses Buch auf Deutsch verfasst hat“) voranstellt. Während die Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch als heilig gelten, bedarf es für den Gebrauch des Deutschen einer Rechtfertigung, die Otfried etwa unter Verweis auf

190 Ebd. S.99. 191 Hildegard Emmel: Geschichte des deutschen Romans. Band I. Bern: Francke 1972, S.11. 192 Hilkert Wedigge „Einführung in die germanistische Mediävistik“ S.45. 193 Zitiert in: ebd. S.55. 194 Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur. Eine Einführung. Tübingen: A. Francke Verlag 2006, S.39. 41 die Regelhaftigkeit und innere Ordnung liefert. Für Rüdiger Brandt ist diese Argumentation exemplarisch für das mittelalterliche Verständnis von Ästhetik in der Literatur:

Es kann keine Schönheit ohne Regeln geben. Das ist auch ein Hauptgrund dafür, dass bis ins 14. Jh. hinein viele mittelalterliche Texte nicht in Prosa, sondern in Formen der durch Metrik und Reim gebundenen Rede abgefasst sind. Das betrifft nicht etwa, wie wir das gewohnt sind, nur lyrische Texte, noch nicht einmal nur fiktionale Literatur, sondern sogar Sach- und Fachliteratur.195

Im Laufe der Zeit bildeten sich unterschiedliche Vers- und Strophenformen heraus: so werden etwa in der Heldenepik für gewöhnlich Langverse zu Strophen verbunden. Die Nibelungenstrophe „hat sieben Hebungen, vier im Anvers und drei im Abvers; der letzte Abvers der Strophe hat allerdings vier Hebungen. Die Langverse sind am Ende paarweise gereimt, zwei Langverspaare bilden eine Strophe“196. In der höfischen Dichtung hingegen etabliert sich der höfische Reimpaarvers unter maßgeblichem Einfluss der französischen Literatur197 und auch die im Minnesang gebräuchliche Stollenstrophe entsteht nach dem Vorbild der okzitanischen und französischen Troubadours198. Bereits in formaler Hinsicht lässt sich somit in der höfischen Literatur ein starker französischer Einfluss feststellen. Darüber hinaus erforderte die Handhabung der Konventionen geschriebener Sprache einen hohen Grad an Kunstfertigkeit und Bildung und blieb somit einer kleinen, elitären Gesellschaftsschicht vorbehalten.

Schriftlichkeit war im Mittelalter Sache von Geistlichkeit und Adel, und beschränkte sich damit auf etwa 10 % der Bevölkerung199. Rüdiger Brandt definiert als zentrale Funktion der frühmittelhochdeutschen Literatur (1050 – 1150) „eine Art von Binnenmissionierung des Adels“, in der es der Kirche darum geht, „über ein rein formales Christentum hinaus die weltliche Führungsschicht auch inhaltlich auf die Lehren der Kirche festzulegen“, also im Wesentlichen als ein „zu religiösen Zwecken gehandhabtes Propagandainstrument“200. Auch de Boor bezeichnet als das Hauptanliegen der frühen deutschsprachigen Literatur „die dogmatische Unterbauung der Heilslehre“, wobei sowohl „echte Sorgen um das Seelenheil des Laien“, als auch „politische Werbung um die Herrschaft über seine Seele“ Motivationsgründe

195 Rüdiger Brandt Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft. Eine Einführung. München: Wilhelm Fink Verlag 1999, S.87. 196 Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur (Anm.194), S.172. 197 Vgl. ebd. S.174. 198 Vgl. ebd. S.177. 199 Vgl. Arnulf Krause: Europa im Mittelalter. Wie die Zeit der Kreuzzüge unsere moderne Gesellschaft prägt. Frankfurt am Main: Campus Verlag GmbH 2008, S.179. 200 Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft (Anm.195), S.140. 42 darstellten201. Brandt führt als Beispiel die Millstädter Genesis an, in der die feudale Gesellschaftsordnung unter Berufung auf das erste Buch Mose theologisch legitimiert wird. Demnach sind die unterprivilegierten Bauern (die immerhin ca. 90 % der mittelalterlichen Bevölkerung darstellten) die Nachkommen von Moses´ Sohn Ham, der sich – im Gegensatz zu seinen diskreteren Brüdern Sem und Jafet – über die Nacktheit seines betrunkenen Vaters mokiert, woraufhin er und seine Nachkommen mit dem Fluch lebenslanger Knechtschaft belegt werden. Man hat es also hier nicht mit einer möglichst treuen Übersetzung des alttestamentarischen Originals zu tun, sondern mit einer Umakzentuierung mit einer stark politischen Komponente: die asymmetrische Gesellschaftsordnung ist nicht Folge von Zufall und Willkür, sondern Ergebnis göttlicher Intervention und damit sakrosankt202. Die Bedeutung der ständischen Gesellschaftsordnung ist jedoch nicht auf die geistliche Literatur beschränkt, sondern spielt auch im höfischen Kontext immer wieder eine Rolle. Während in der Artusepik ein gesellschaftliches Idealbild entworfen wird, wird das Skandalöse an der Standeslüge im Nibelungenlied203 erst vor diesem Hintergrund verständlich.

Ab dem 12. Jahrhundert spielt Schriftlichkeit an den weltlichen Fürstenhöfen eine immer wichtigere Rolle. Hübner führt dies in erster Linie auf pragmatische Ursachen, wie „die zunehmende Verschriftlichung der Herrschaftsausübung mittels Urkunden“204 nach dem Vorbild der päpstlichen Kurie, zurück. Somit waren es in erster Linie Hofkleriker und Ministeriale, die in weiterer Folge auch mit der „neue[n] Schriftlichkeit in der Volkssprache“205 betraut waren. Schriftlichkeit, die bisher überwiegend auf die Geistlichkeit beschränkt war, findet sich nun im Kontext weltlicher Herrschaft. Für Kuhn liegt der Ursprung der höfischen Literatur des Mittelalters am Kreuzungspunkt zweier Traditionen: damit sie möglich wurde, „mussten geistliche Buchwelt und ritterliche Sinnenwelt sich schon länger sozial genährt und durchdrungen haben; und auch dann noch war der Anstoß Frankreichs nötig, dass das Rittertum bei uns zur Form fand“206. Damit ist ein wesentlicher Aspekt höfischer Dichtung im Mittelalter angesprochen, der weitreichende Konsequenzen haben sollte. Joachim Bumke zufolge war „auf keinem anderen Gebiet […] der französische Einfluss im 12. Jahrhundert so dominierend wie

201Helmut de Boor: Von der karolingischen zur cluniazenischen Epoche. In: Otto Burger (Hg.): Annalen der deutschen Literatur. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine Gemeinschaftsarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Stuttgart: J.B Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1952, S.69 – 70. 202 Vgl. Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft (Anm.195), S.126 – 129. 203 Vgl. S.104 ff. der vorliegenden Arbeit. 204 Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur (Anm.194), S.44. 205 Ebd. S.45. 206 Hugo Kuhn: Die Klassik des Rittertums in der Stauferzeit (Anm.187), S.102. 43 auf dem der volkssprachlichen Literatur“207. Sowohl der höfische Roman, als auch das Minnelied entstanden „in der Nachahmung und Aneignung französischer Vorbilder“, wodurch sich „im Lauf von nur wenigen Jahrzehnten […] das Erscheinungsbild der weltlichen Literatur vollständig verändert [hat]“208. Die Intensität dieses Einflusses lässt sich unter anderem an den zahlreichen französischen Lehnwörtern ermessen, die zum Teil heute noch gebräuchlich und für eine Beschreibung der höfischen Lebensart unabdingbar sind. Darunter fallen neben Waffenbezeichnungen, wie Harnisch und Lanze Namen für Tänze (auch Tanz ist ein französisches Lehnwort), Termini aus dem Turnier- und Jagdwesen, wie Turnier oder pirschen, aber auch literarische Begriffe, wie Reim209. Auf den Einfluss der französischen Literatur auf Metrik und Reimstrukturen weltlicher mittelhochdeutscher Dichtung wurde bereits hingewiesen und auch inhaltlich orientierten sich viele an diesem Vorbild. Zu den bekanntesten Beispielen zählen zweifellos die Artusromane des Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach, die auf Werken des französischen Autors Chrétien de Troyes beruhen. In der Art und Weise der Stoffbearbeitungen drückt sich ein poetologisches Verständnis aus, das sich radikal von neuzeitlichen Dichterkonzeptionen, die letztendlich im Geniekult der Sturm und Drang-Zeit wurzeln, unterscheidet. Während heutzutage Begriffe wie Originalität und Urheberrecht aus dem Bereich literarischer Dichtung kaum wegzudenken sind, sah sich der mittelalterliche Autor nicht als Erfinder, sondern als Finder seines Stoffes. Von ihm „wird nicht verlangt, dass er etwas Neues, noch nie Dagewesenes, Unerhörtes, mit einem Wort: Originelles präsentiert, sondern er soll sein Publikum mit etwas Altem, per Tradition Bewährtem versehen“210. Tatsächlich beruft sich der Autor in den Prologen höfischer Romane häufig auf seine Quellen. Gottfried von Straßburg legt im Prolog zu Tristan detailliert Zeugnis von seiner intensiven Beschäftigung mit literarischen Vorlagen ab:

Aber als ich gesprochen hân daz sî niht rehte haben gelesen, daz ist, als ich iu sage, gewesen: sine sprâchen in der rihte niht, als Thômas von Britanje giht, der âventiure meister was und an britûnschen buochen las

207 Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Band I und II. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1986, S.120. 208 Ebd. S.120. 209 Vgl. Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft (Anm.195), S.179. 210 Ebd. S.104. 44

aller der lanthêrren leben und ez uns ze künde hât gegeben. Als der von Tristande seit, die rihte und die wârheit begunde ich sêre suochen in beider hande buochen walschen und latînen und begunde mich des pînen, daz ich in sîner rihte rihte diese tihte.211

Gottfried betont also seine Bemühungen, seine Dichtung am Werk des Thomas von Britannien zu orientieren, das er als die einzig wirklich vertrauenswürdige Quelle für den Tristan-Stoff gelten lässt. Die Berufung auf diesen âventiure meister schmälert hier nicht die Leistung des Dichters, der sich an ihm orientiert, sondern legitimiert vielmehr dessen Vorhaben einer Neubearbeitung des Stoffes. Weddige verweist in diesem Zusammenhang auf ein Selbstverständnis des Dichters, das in der Verortung in einer literarischen Tradition die höchsten Ehren sieht: „Der Respekt vor der literarischen Tradition, vor der auctoritas alles Schriftlichen ist so groß, dass die Wahrheit des neu Erzählten geradezu der Legitimation und Beglaubigung durch Berufung auf vorgegebene Quellen bedarf“212. Diese „Verpflichtung auf die Tradition“ scheint laut Brandt „in einigen Fällen so weit gegangen zu sein, dass Autoren, wenn sie doch selbst einen Stoff neu geschaffen haben, eine Quelle fingieren“213. Im Falle von Gottfried ist dies allerdings nicht notwendig, zumal er sich auf eine umfangreiche Tradition von Tristan-Stoffbearbeitungen berufen kann und dies im Prolog auch tut.

Auch Wolfram von Eschenbach deutet am Ende seines Parzival Zeugnis eine akribische Auseinandersetzung mit den früheren Stoffbearbeitungen durch Chrétien de Troyes und Kyot an, wobei er klar Stellung bezieht:

Ob von Troys meister Christjân Disem maere hât unreht getân, daz mac wol zürnen Kyôt, der uns diu rehten maere enbôt. […]

211 Gottfried von Straßburg: Tristan. Stuttgart: Reclam 1996, S.18. 212 Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik (Anm.186), S.191. 213 Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft (Anm.195), S.104. 45

Diu rehten maere uns sint gesant, und dirre âventiure endes zil niht mêr dâ von nu sprechen will ich Wolfram von Eschenbach, wan als dort der meister sprach.214

Unter Berufung auf die Authentizität von Kyots Fassung betont Wolfram, wie eng er sich in seiner eigenen Dichtung an die Vorlage hält.

Auch Hartmann von Aue verweist in den Prologen seiner Schriften gern auf seine literarischen Vorlieben und Motivationen. Besonders bekannt ist der Anfang von Der arme Heinrich, der in vielerlei Hinsicht exemplarisch für das poetologische Verständnis im Mittelalter ist:

Ein ritter sô gelêret was, daz er an den bouchen las, swaz er dar an geschriben vant; der was Hartman genant. Dienstman was er ze Ouwe. Er nam im manige schouwe An mislîchen bouchen; […] Nu beginnet er iu diuten Ein rede, die er geschriben vant215

Bereits in diesen wenigen Zeilen werden tiefgreifende Unterschiede nicht nur zum neuzeitlichen Kunstverständnis, sondern auch zur Poetik der Heldendichtung offenbar. Zunächst stellt sich der Dichter nicht nur namentlich vor, sondern nennt auch seine gesellschaftliche Position und betont darüber hinaus seine Gelehrsamkeit. Demgegenüber gibt der Dichter des Nibelungenliedes (abgesehen von moralischen Wertungen, die man aus bestimmten Formulierungen herauslesen kann) nichts von sich preis. Bedeutsam ist auch Hartmans Quellenverweis: er erzählt uns eine rede, die er geschriben vant. Dieses Naheverhältnis von literarischer Rezeption und Produktion findet sich auch im Prolog zu Iwein:

214 Wolfram von Eschenbach „Parzival“ Bd. II S.670 (16, 827). 215 Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hermann Henne (Hg.). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, S.8. 46

Ein rîter, der gelêret was unde ez an den bouchen las, swenner sîne stunde niht baz bewenden kunde, daz er ouch tihtennes pflac (daz man gerne hœren mac, dâ kêrt er sînen vlîz an: er was genant Hartman und was ein Ouwære), der tihte diz mære216

Auffällig ist hier die fast wörtliche Übereinstimmung mit dem Prolog zu Der arme Heinrich in den ersten beiden Zeilen. Hartmann gibt sich beide Male als gelehrter Ritter zu erkennen, was darauf hindeutet, dass dies keine Selbstverständlichkeit war: „Ritter waren, wie fast alle Nicht- Kleriker, überwiegend illiterat“ und wenn Hartmann seine Belesenheit mehrfach betont, mischt er sich in einer Formulierung von Brandt „in Kompetenzen ein, die eigentlich dem Klerus zustehen“217. Für Weddige ergibt sich „das Neue und Besondere der höfischen Literatur […] daraus, dass sie nicht mehr im Dienste der Kirche steht“218. Im höfischen Roman fand im deutschen Sprachraum erstmals die Dichtkunst von Laien ihren schriftlichen Ausdruck und entwickelte sich zu einer eigenen Kunstform. Auch wenn sich Hartmann in beiden zitierten Prologen als ritter bezeichnet, ist gesellschaftlich betrachtet „nicht der Ritterstand, sondern der Hof […] zum Träger der neuen Literatur geworden“219. In den höfischen Romanen spielt das ritterliche Ideal eine zentrale Rolle, gesellschaftlich handelt es sich dabei jedoch um einen „standesunspezifische[n] Wertbegriff“, der in seiner „Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit“ schwer zu fassen ist220. Wenn sich Hartmann also als Ritter vorstellt, lässt dies kaum Rückschlüsse auf seine gesellschaftliche Position zu221. Der Dienstmann zu Aue verfügte jedenfalls sowohl über die notwendige Bildung, als auch über die Zeit, sich mit literarischen Werken auseinanderzusetzen und sie in weiterer Folge in seinem Sinne umzugestalten. Laut Joachim Bumke war es ein „Glücksfall, dass die Meisterwerke des französischen roman courtois in die Hände der bedeutendsten Dichter der Zeit gelangten. […] Durch Hartmann und

216 Hartmann von Aue: Iwein. Thomas Cramer (Hg.). Berlin: de Gruyter 2001, S.3 (21 – 30). 217 Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft (Anm.195), S.109 – 110. 218 Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik (Anm.186), S.189. 219 Ebd. S.188. 220 Ebd. S.188. 221 Siehe dazu Kapitel 4.1. der vorliegenden Arbeit. 47

Wolfram ist der von Chrétien geschaffene Typ des Artusromans auch in Deutschland gattungsprägend geworden“222.

Wie bei den deutschsprachigen Autoren des Mittelalters ist über die Biographie des Chrétien de Troyes wenig bekannt. Herkunftsname und dialektale Eigenheiten seiner Werke deuten auf die Champagne als Heimat hin, später wirkte er mutmaßlich am Hof von Heinrich, dem II. in England223. Aus seinen Werken lässt sich sowohl auf eine umfangreiche lateinisch-klerikale Bildung, als auch auf eine intime Kenntnis des Hoflebens und seiner Gesellschaft schließen. Im Prolog zu Erec et Enide skizziert er ein poetologisches Verständnis, indem er sich „von den mündlichen Geschichtenerzählern [abgrenzt], die die Stoffe nicht richtig behandeln, weil sie den Zusammenhang der Geschichten zerreißen“224:

Deshalb erklärt Chrétien de Troyes, dass es jedenfalls vernünftig ist, wenn jeder sein Denken und Bemühen darauf richtet, gut zu erzählen und gut zu belehren, und er stellt aus einer Abenteuergeschichte eine sehr schön geordnete Erzählung zusammen. […] Von Erec, dem Sohn Lacs, handelt die Geschichte, die jene vor Königen und Grafen zusammenhanglos zu erzählen und zu verderben pflegen, die vom Erzählen leben wollen. Nun werde ich die Geschichte beginnen, die man niemals vergessen wird, solange die Christenheit besteht: dessen hat sich Chrétien gerühmt.225

Chrétien kritisiert hier dezidiert die mündliche Tradition, die etwa für das Heldenlied von zentraler Bedeutung ist, indem er den Vortrag der Barden und Skalden als defizitär und epischer Dichtung unangemessen erklärt. Erst die schriftliche Bearbeitung durch einen Gelehrten macht aus den fragmentarischen, mündlich tradierten Geschichten ein homogenes Ganzes, das die wahre Bedeutung des Stoffes hervortreten lässt. Chrétien zufolge

beruht der Erkenntniswert der Dichtung auf der wohlüberlegten Form, die der gelehrte Dichter dem Stoff gibt: indem er alles in einen geordneten Zusammenhang bringt, arbeitet er zugleich den Sinn der Geschichte heraus. Die schöne Ordnung des Inhalts, die durch kunstvolle Bearbeitung hergestellt wird, trägt die Bedeutung des Textes.226

Bei der Adaption französischer Vorlagen handelt es sich somit nicht um einfache Übersetzungen, vielmehr wird der Stoff den jeweiligen literarischen Konventionen angepasst.

222 Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.127. 223 Vgl. Volker Mertens: Der deutsche Artusroman. Stuttgart: Reclam 1998, S.25. 224 Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur (Anm.194), S.81. 225 Chrétien de Troyes: Erec und Enide. Ingrid Kasten (Hg.). München: Wilhelm Fink Verlag, 1979, S.13. 226 Ebd. S.81. 48

Die französische Literaturwissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von der „adaption courtoise, d.h. einer Variation der Darstellungsform meist mit dem Ziel größerer Vorbildlichkeit, aber ohne Änderung des Sinns der Geschichte“227. Wenn also deutsche Autoren französische Texte nachdichteten, „haben sie nach der zeitgenössischen Auffassung nicht literarische Übersetzungen produziert, sondern einen schon bearbeiteten Stoff gemäß den Regeln der Dichtkunst neu bearbeitet“228. In ähnlicher freizügiger Weise verfuhren bereits die Übersetzer klerikaler Texte, wenn sie durch inhaltliche wie stilistische Umakzentuierungen den Stoff gemäß den kulturhistorischen Umständen modifizierten. Für Annelie Kreft zeigt sich auch hier das mittelalterliche Verständnis von Urheberschaft in dem Sinn, dass sich der Autor nicht als Urheber, sondern als Formgeber versteht:

Inhalt, bzw. Stoff (materia) und Form (artificium) sind hier disjunktive Elemente. Beim Wiedererzählen wird die Vorlage auf ihre materia reduziert. Als objektive, durch die Tradition der Überlieferung verbürgte und damit verbindliche Größe bildet sie den Gegenstand der Übertragung und das Kriterium für Äquivalenz. Ziel der Übertragung ist die Wiedergabe des Stoffes, bzw. des sins der Vorlage und ihre Anpassung an die jeweilige konkrete zeitgenössische Lebens- und Gebrauchssituation des (Ziel)Publikums.229

Dichterische Eigenleistung bedeutet also im Mittelalter „Umdeutung des Vorgefundenen, […] sinngemäßes Einpassen […], Zusammenfügen des vorhandenen Materials zu einem anderen Sinnganzen“230. Diese Anpassung wirkt sich in unterschiedlicher Weise aus: Vergleicht man etwa Hartmanns Erec mit Erec et Enide von Chrétien, so fällt zunächst der wesentlich größere Umfang der Adaption auf, die mit 10 400 Versen fast doppelt so lang ist wie die Vorlage mit knapp 6900 Versen. Mertens weist darauf hin, dass ein Gutteil dieser Diskrepanz einerseits detaillierten Schilderungen des höfischen Lebens geschuldet ist („die ausführliche Beschreibung von Enites Pferd [schlägt] allein mit knapp 500 Versen zu Buche […], auch das große Turnier nach Erecs Hochzeit ist wesentlich ausgedehnt“231) und andererseits auch die Lesegewohnheiten des hiesigen Publikums berücksichtigt. Mertens führt „die Reduktion der direkten Rede“ und eine damit einhergehende „Ausweitung der Erzählerrolle“ auf die „Rücksichtnahme auf ein literarisch weniger erfahrenes Publikum“ zurück, das „mit zu viel

227 Volker Mertens: Der deutsche Artusroman (Anm.222), S.53. 228 Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur (Anm.194), S.81. 229 Annelie Kreft: Wiedererzählen. In: Britta Bußmann, Albrecht Hausmann, Annelie Kreft, Cornelia Logemann (Hg.): Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin: de Gruyter 2005, S.159. 230 Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik (Anm.186), S.191. 231 Volker Mertens: Der deutsche Artusroman (Anm.222), S. 53. 49

Figurenrede überfordert gewesen wäre und den kommentierenden deutschen Erzähler brauchte“232. Christa Agnes Tuczay attestiert der Version von Hartmann im Vergleich zum französischen Vorbild darüber hinaus eine Herabstimmung der beschriebenen Gewalt zugunsten einer verstärkten Fokussierung auf die höfischen Sitten, wie es sich z.B. an Erecs Auseinandersetzung mit Ider illustrieren lässt: „Während Chrétien diesen ersten dramatischen Kampf Erecs noch drastisch schildert, scheint Hartmann keine Blutorgie im Sinn zu haben, die Gegner sind höflich zueinander, halten sich an die Regeln, der Kampf ist nur angedeutet“233. Die Ritter treten hier somit als zivilisierte, höfisch gebildete Repräsentanten eines Wertesystems auf, das auf einer ganzen Reihe von Konventionen und Verhaltensregeln beruht, wovon auch die martialische Auseinandersetzung nicht ausgenommen ist. Mertens verweist in diesem Zusammenhang auf zahlreiche Änderungen durch Hartmann, „die die Vorbildlichkeit der Personen erhöhen“234 und somit eine idealisierte Gesellschaftsutopie entwerfen. Zusammenfassend könnte man also von einer Stabilisierungstendenz sprechen, die das Idealbild einer moralisch gefestigten, von Sittlichkeit und Ordnung geprägten höfischen Gesellschaft zeichnet.

Was bei allen stilistischen Variationen jedoch unverändert bleibt, ist der „in der Symbolstruktur verankerte Sinn des Romans“, den man auf die Formel der „exemplarischen Integration einer richtigen Beherrschung von Begierde und Gewalt in das Modell des christlichen Herrschers“ bringen könnte235. Sowohl im Erec, als auch im Iwein durchläuft der jeweilige Protagonist einen langwierigen Läuterungsprozess, in dessen Verlauf er die für das mittelalterliche Herrscherideal wesentlichen Eigenschaften maze und staete durch das Bestehen zahlreicher Abenteuer erst entwickeln muss. Charakteristisch für den Artusroman ist hierbei eine narrative Struktur, die als doppelter Cursus bezeichnet wird und die diesen Läuterungsprozess in zweifacher Ausführung vollzieht:

Der Held, ausgezogen, um sich „einen Namen zu machen“, erobert sich mit der Gewinnung der Frau und in ritterlicher Tat die êre und den Glanz der Welt. Artus nimmt ihn unter die Seinen auf; er erfüllt den Anspruch, den die Institution stellt. Blitzartig brechen Schuld, Schulderkenntnis oder Beschuldigung über den Erhobenen herab, und auf einem zweiten Weg, „des longues études“, sinnerfüllter âventiure und tiefgreifenden Selbstverständnisses muss das Verlorene – Frau, Herrschaft, Heil – noch einmal erworben werden, nun zum immerwährenden Besitz.236

232 Ebd. S.53. 233 Christa Agnes Tuczay: Helt und kühner degen (Anm.108), S.56. 234 Volker Mertens: Der deutsche Artusroman (Anm.222), S.84. 235 Ebd. S.60. 236 Zitiert in: Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik (Anm.186), S.197. 50

Sowohl Erec, der nach seinem siegreichen Duell mit Ider Enite in einer feierlichen Zeremonie am Artushof heiratet, als auch Iwein, der nach seinem Sieg über Askalon, den Hüter des magischen Brunnens, dessen Frau Laudine ehelicht, sind trotz ihrer heroischen Taten den Ansprüchen eines besonnen Herrschens noch nicht gewachsen und müssen sich die Fähigkeiten dazu erst in der zweiten Schleife des doppelten Cursus erwerben. Diese spiegelt die Struktur der ersten und wird von Brandt lakonisch folgendermaßen zusammengefasst: „Ausgangssituation HOF; Verletzung der Idealität und EHRVERLUST – deshalb ISOLATION DES BETROFFENEN INDIVIDUUMS und eine Kette von Situationen, in denen sich dieses Individuum vor der Gesellschaft REHABILITIERT“237. Das „ideale Gleichgewicht“ zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, bzw. zwischen den persönlichen Vorlieben und sozialen Verpflichtungen muss in beiden Fällen „auf einer Bewährungs- und Läuterungsfahrt errungen werden“238.

Am Ende ist die Harmonie wieder hergestellt und der Protagonist wird als idealer Herrscher beschrieben, der sein Land mit Besonnenheit und Weitsicht regiert. So schildert Hartmann die Inthronisierung von Erec, der nach seinem schmählichen verligen die Tugenden eines würdigen Regenten in zahlreichen Herausforderungen und Abenteuern erst mühsam erlangen musste, in den schillerndsten Farben:

hie emphienc er lobelîche die krône von dem rîche der sîn vater, der künec Lac, unz an in mit êren phlac, wan er vil manege tugent begie. ouchn wart dehein vrumer vater nie mit sînem sune baz ersat. wer zæme baz an sîner stat? got segene im sîn rîche: er hât ez billîche.239

Der lange Weg, den Erec nun hinter sich hat, war also nicht vergebens, sondern ermöglichte erst eine Entwicklung, an deren Ende ein idealer König steht. In diesem Sinne bezeichnet Heinz Sieburg die Artusepik als „eine optimistische, das gute und ehrenvolle Leben mit seinen

237 Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft (Anm.195), S.190. 238 Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik (Anm.186), S.200. 239 Hartmann von Aue: Erec. Volker Mertens (Hg.). Stuttgart: Reclam 2008, S.568-570 (10064 -10073). 51

Möglichkeiten und Erfordernissen bejahende Literatur“, die letztendlich darauf abzielt, „die Gesellschaft ihrer Erzählungen zu stabilisieren“240. Dies geschieht in erster Linie durch das Lob der Vorzüge des geläuterten Herrschers, bei dem man das Land in guten Händen weiß. Jürgen Wolf sieht im „Hinweis auf die Gnade Gottes“ direkt im Anschluss an die „Verwirklichung der idealen Herrschaft“ eine transzendentale Legitimation, die „eine Perspektive zur Legende, zu einer christlichen Sicht des Rittertums zu öffnen [scheint]“241. Im Zusatz f (nach der Einteilung von Henrici) schildert Hartmann am Ende von Iwein jedoch auch konkrete Maßnahmen, die der neue König zum Wohle seines Reiches trifft:

er stiffte reichleich spital vn auch chloster mit seinem gut lost er vil geuangen aus panden in allen seinen landen benam der werd furste gut mangem man sein armut er hiez mangen guten weg prukk vn notdurfftigen steg machen durch der leute not czol vn vmbgelt er verpot vn waz dem lande schaden tut242

In der Artusepik findet nach de Boor „die höfisch-ritterliche Gesellschaft ihren idealen Ausdruck“243, indem sie eine Utopie skizziert, in der jeder in Sicherheit und Zufriedenheit leben kann. Weddige bezeichnet sie als einen „geordnete[n] Kosmos, der auf der Einhaltung überkommener Rechtsbräuche beruht, die den Einzelnen vor Willkür schützt“244 und Rolf Bräuer verortet die Abenteuer der Artusritter explizit im Rahmen idealisierter Hofkultur: „hier erscheint der feudaladelige Hof selbst mit seinem Normenkanon adeliger Lebenshaltung und Daseinswerte äußerlich wie innerlich als Ausgangs- und Zielpunkt epischer Gestaltung“245. Die

240 Heinz Sieburg: Literatur des Mittelalters. Berlin: Akademie Verlag 2010, S.127 – 128. 241 Jürgen Wolf: Einführung in das Werk Hartmanns von Aue. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S.69. 242 Hartmann von Aue: Iwein (Anm.215), S.151-152. 243 Helmut de Boor: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170 – 1250. München: C.H. Beck 1991, S.62. 244 Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik (Anm.186), S.204. 245 Rolf Bräuer: Erec und Enite – der Beginn des deutschen Artusromans. In: Kurt Böttcher u.a. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. Band 2: Mitte des 12. bis Mitte des 13. Jahrhunderts. Berlin: Volk und Wissen 1990, S.199. 52

Schwierigkeiten, diesem weitläufigen Normenkanon zu entsprechen, werden hierbei auf inhaltlicher Ebene thematisiert: Das vorläufige Scheitern von Erec und Iwein demonstriert exemplarisch die verheerenden Folgen von Willkür und Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Verpflichtungen. Indem Erec sich verliget und Iwein sich verrîtet, halten beide die mâze nicht ein, die für das Ideal eines gedeihlichen Zusammenlebens am Hof eine wesentliche Voraussetzung darstellt. Sowohl der Verlust, als auch in der Folge die Wiederherstellung dieses Idealzustandes, ist dem Protagonisten zu verdanken, der seine Heldentaten nicht nur um seiner persönlichen Entwicklung willen vollzogen hat, sondern zum Wohle der Gesellschaft: „Aventiure bedeutet also Ausstrahlen und Wiederheimkehren zu einem Zentrum festlicher Gemeinschaft“246: Der Artusritter etabliert am Ende der Erzählung jenen Idealzustand, den sein unreifes Verhalten zu Beginn der zweiten Schleife des doppelten Cursus gefährdete. Man hat es also in einer Formulierung von Mertens mit dem „Identitätsfindungsprozess eines Adeligen“ zu tun, „der mit den dunklen Mächten von Begierde und Gewalt fertig wird und dessen Weg bei der Rezeption des Romans erlebnishaft nachvollzogen wird“247. In diesem Sinne hat die literarische Ritterfigur Vorbildcharakter, indem an ihr ein Läuterungsprozess demonstriert wird, der von menschlichen Schwächen über einen Weg voller Gefahren und Herausforderungen auf den Thron idealisierter Herrschertugenden führt. Auffallend ist in diesem Zusammenhang die Fiktionalität von Zeit und Raum, in deren Rahmen reale ethische Fragestellungen aufgeworfen werden. Im Gegensatz zur Heldendichtung, für die sowohl historische Bezüge, als auch geographische Zuordnungen charakteristisch sind248, stellt der Artushof einen äußerst nebulösen Gravitationspunkt ritterlicher Abenteuer dar. Für Max Wehrli bedeutet „der Artusroman die Befreiung der Erzähler von aller geschichtlichen Bindung, sei es eines nationalen Mythus wie in der Heldendichtung, sei es überhaupt der reale, verpflichtende Alltag, zu dem ja auch die politische und wirtschaftliche, die bürgerliche, bäuerliche und geistliche Welt gehören“249.

Nichtsdestotrotz wird „der Held [des Ritterromans] als Vorbild gepriesen, seine Tugend zur Nachahmung empfohlen, oder es wird ein warnendes Beispiel aufgestellt“250. Wolfgang Spiewok spricht hierbei von einer „Erziehungsfunktion“ der höfischen Literatur, da sie ihr Publikum

246 Ebd. S.63. 247 Volker Mertens: Der deutsche Artusroman (Anm.222), S.62. 248 Vgl. Kapitel 3.1 der vorliegenden Arbeit. 249 Max Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Stuttgart: Reclam 1997, S.273. 250 Gert Kaiser: Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung: Die Artusromane Hartmanns von Aue. Wiesbaden: Verlagsgesellschaft Athenaion 1978, S.17. 53

durch die Gestaltung von literarischen Vorbildern zu bestimmten Anschauungen, Empfinden, Haltungen veranlassen will, die sie wiederum als achtungsgebietende, ihren bevorrechteten Stand würdig vertretende Mitglieder des Adels erscheinen lassen. Zum literarischen Held avanciert der Ritter, der in seinem Handeln, in seinem Auftreten, in seinen Empfindungen als Prototyp vorbildhafter, idealer Adelsexistenz ausgeformt wird.251

In seinem Artikel Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems kommt Gustav Ehrismann ebenfalls zu dem Schluss: „Im litterarischen urteil der zeit waren die beiden tendenzen des ergötzens und belehrens nicht getrennt, die helden der romane waren zugleich sittliche vorbilder“252. Gert Kaiser führt diesen hohen Stellenwert, den moralische Ideale in der mittelalterlichen Literatur spielen, nicht zuletzt auf die eingangs erwähnte Emanzipation der Schriftlichkeit vom klerikalen Kontext zurück: „In dem Maße, in dem die Literatur des Hochmittelalters sich von nur-religiösen Themen und Stoffen löst […] in eben dem Maße treibt die alte Grundfrage: Wie soll man sich richtig verhalten in dieser Welt? mit unerhörter Intensität hervor, verlangt nach Antwort, nach neuer Besetzung der leer gewordenen Stellen“253. Waren es vormals Heilige und Märtyrer, deren idealtypisches Leben und Tod zum Vorbild genommen werden sollte, tritt nun in der höfischen Epik der Ritter als Maßstab tugendhaften Verhaltens auf.

251 Wolfgang Spiewok: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters. Greifswald: Reineke Verlag 1994.S.65. 252 Gustav Ehrismann Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 56 (1919), S.194. 253 Gert Kaiser: Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung (Anm.250), S.29. 54

4.1. Zum Ritterbegriff

Der Begriff Ritter (die Formen rîter und ritter wurden synonym benutzt) lässt sich ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts belegen. Zumal sich das Wort in althochdeutschen Texten nicht findet, ist davon auszugehen, dass es sich um eine Neubildung handelt, die vermutlich unter dem Einfluss des lateinischen Begriffs miles und des französischen chevalier entstanden ist. Im klassischen Latein bezeichnet miles einen Krieger, bzw. einfachen Soldaten, wobei der Gedanke des Kriegsdienstes eine wesentliche Rolle spielt: militare bedeutet „Kriegsdienst tun“, bzw. allgemein „dienen“254. Im Laufe des 10. und 11. Jahrhundert erfuhr der Begriff eine Bedeutungsveränderung, die sich vor allem in zwei Aspekten manifestiert: einerseits „konnte miles jetzt auch den adeligen Vasallen, den Lehnsmann, bezeichnen“ und andererseits „wurde es üblich, nicht mehr alle Krieger als milites zu bezeichnen, sondern nur noch diejenigen, die als schwergewappnete Reiter kämpften“255. Diese semantische Verschiebung überschneidet sich mit der Bedeutung des französischen Wortes chevalier, das „um 1160 bis 1180, in den Versromanen von Chrétien de Troyes […] zum Zentralbegriff des neuen höfischen Gesellschaftsideals [wurde]“256. Wie chevalier bezeichnet Ritter zunächst einmal einfach einen berittenen Mann. Die Komplexität, die diesem Begriff jedoch ab dem Ende des 12. Jahrhundert zu eigen ist, belegen zeitgenössische Textzeugen. Im bereits zitierten Prolog zu Der arme Heinrich257 bezeichnet sich Hartmann von Aue innerhalb von wenigen Zeilen sowohl als ritter, als auch als dienstman, was gesellschaftlich dem mittellateinischen ministerialis entspricht. Ein Ministeriale „ist im Mittelalter bis zum 13. Jh. jemand von unfreiem Stand, der im Dienst eines Adeligen steht“258. Gleichzeitig wird aber auch der herre Erec, der bereits zu Beginn des Romans als Königssohn vorgestellt wird259, als Ritter bezeichnet260. Dienstverhältnis und Herrschaft, „die in der sozial- und rechtsgeschichtlichen Realität grundverschieden sind, schließen in der Fiktion also einander nicht aus: der Ritterbegriff scheint beide Momente zu einer neuen Einheit zu integrieren“261. In dieser paradox anmutenden Verschmelzung zweier komplementärer Standesidentitäten spiegeln sich soziologische Entwicklungen, die erstmalig so etwas wie gesellschaftliche Mobilität ermöglichten: „aus den Dienstleuten entstand im 12. Jahrhundert in fortschreitender Einschränkung der Verpflichtungen die Ritterschaft, der niedere

254 Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.65 – 66. 255 Ebd. S.65. 256 Ebd. S.66. 257 Vgl. S. 40 der vorliegenden Arbeit. 258 Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft (Anm.195), S.180. 259 Hartmann von Aue: Erec (Anm.239), S.6 (3). 260 Vgl. z.B. ebd. S.149 (2560). 261 Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik (Anm.186), S.172. 55

Adel (mit der Reichsministerialität an der Spitze), den der Mangel an Freiheit von den edelfreien Grafen und Herren abgrenzte“262. Der Ritterstand bildet somit „eine neue, unterste Stufe der öffentlichen Diensthierarchie“ und führt zu einer Dynamisierung des Ständeverständnisses: „Adeliger ist man, Ritter wird man“263. In dieser konzisen Formulierung klingt ein Aspekt an, der für die literarische Ritterfigur wesentlich werden sollte: dass einem das Rittertum nicht in die Wiege gelegt ist, sondern durch harte Bewährungsproben erobert werden muss. Gesellschaftlich betrachtet sagt der Rittertitel wenig über seinen Träger aus:

Könige und Fürsten wurden (seit dem 11. Jahrhundert) ebenso zu Rittern erhoben wie Edelleute niedrigster Stufen oder (später) verdiente Juristen, Soldaten und Bürgersleute; […] Adel und Ritterwürde haben ursprünglich nichts miteinander zu tun, aber im 13. Jahrhundert galt es für einen Hochadeligen und König als Makel (indignum), die Ritterwürde nicht zu besitzen. Es gelingt sozialen Aufsteigern, im Laufe des 12. Jahrhunderts über den Erwerb des Rittertitels Aufnahme in den Adel zu finden, in dem sie auf der untersten Stufe Platz nehmen.264

Zum Ritter ist man also nicht geboren, vielmehr zeugt dieser Titel von besonderen Leistungen, die man vollbracht hat, um sich der feierlichen Zeremonie der schwertleite würdig zu erweisen. In weiterer Folge liegt es am Ritter, sein vorbildliches Verhalten immer wieder unter Beweis zu stellen, um dem sozialen Prestige seines Titels Genüge zu tun. In der Literatur geschieht dies in den sogenannten aventiuren. Der Umstand, dass innerhalb der höfischen Gesellschaft die Kenntnis dessen, was mit diesem Begriff gemeint ist, vorausgesetzt werden kann, deutet bereits auf seinen zentralen Stellenwert in der höfischen Literatur hin. Dass er jedoch außerhalb der Zivilisation nicht jedem bekannt ist, erfährt z.B. der Ritter Kalogrenant in Hartmanns Iwein, als er einem ungehiure erst erklären muss, was es mit einer aventiure auf sich hat:

dô sprach der ungehiure „âventiure? Was ist daz?“ „daz will ich dir bescheiden baz. nû sich wie ich gewâfent bin: ich heize ein riter und hân den sin daz ich suochende rîte einen man der mit mir strîte, der gewâfent sî als ich. daz prîset in, und sleht er mich:

262 Werner Paravicini: Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters. München: Oldenburg 2011, S.22. 263 Ebd. S.3. 264 Ebd. S.4. 56

gesige aber ich im an, sô hât man mich vür einen man, und wirde werder danne ich sî.265

Hier geht es also um eine Bewährungsprobe, aus welcher der Sieger mit erhöhtem Ansehen hervorgeht. Auf die Bedeutung sozialen Ansehens im Sinne der ritterlichen êre wird an gegebener Stelle noch genauer eingegangen. Was die aventiure betrifft, soll hier nur festgehalten werden, dass sie dem Ritter die Möglichkeit bietet, seine Fähigkeiten und Tugenden unter Beweis zu stellen. Etymologisch stammt der Begriff vom lateinischen aventura („was geschehen soll“) ab und erscheint im Ritterroman „als Strukturelement und damit Teil eines höheren Sinnzusammenhangs“266. Es handelt sich dabei also nicht um ein Abenteuer, das dem Helden zufällig zustößt, sondern um „eine von ihm aus eigenem Antrieb gesuchte und durch wunderbare Fügung für ihn allein bestimmte gefahrvolle Bewährungsprobe, in der er durch ethisch motivierte ritterl. Waffentat seine Defizienz überwindet und stufenweise zum Garant einer sinnerfüllten Ordnung aufsteigt“267. Diese narrative Grundstruktur lässt sich anhand der Artusromane von Hartmann und Wolfram besonders deutlich illustrieren: Sowohl Erec und Iwein, als auch Parzival entwickeln sich im Laufe ihrer aventiuren zu idealtypischen Rittern und als Regenten zu Repräsentanten höfischer Ordnung.

Diese Ordnung ist von höchster Stelle sanktioniert: auf die theologische Legitimation am Ende von Erec wurde bereits verwiesen und generell spielten klerikale Vorstellung für die Konstituierung des ritterlichen Ideals eine wesentliche Rolle. Laut Peter Somogyi und Jürgen Wolf bildet „die Ausformung des ritterlichen Ethos durch christlich-kirchliche Einflussnahmen […] den Abschluss der Entwicklung vom Krieger zum Ritter“ und stellt „eine der großen Pazifizierungsmaßnahmen des Frühmittelalters dar“268. Für Volker Mertens markiert dieser Aspekt den entscheidenden Unterschied zu Kriegeridealen der Antike: „die Ritterlehre orientiert sich am Konzept der militia Christi, dem Einsatz des Ritters für die Kirche, für die Schwachen und Armen“269. Handlungsideal des christlichen Ritters ist nicht das egoistische Streben nach Ruhm und Ehre, sondern die Repräsentation eines breitgefächerten

265 Hartmann von Aue: Iwein (Anm.215), S.12 (526 – 537). 266 Norbert Angermann (Hg.): Lexikon des Mittelalters. Band I. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1980, Sp.1289 f. 267 Ebd. Sp.1289. 268 Peter Somogyi, Jürgen Wolf: Einleitung. In: Jörg Arentzen, Uwe Ruberg (Hg.): Die Ritteridee in der deutschen Literatur des Mittelalters. Eine kommentierte Anthologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011, S.xxi – xxii. 269 Volker Mertens: Der deutsche Artusroman (Anm.222), S.153 – 154. 57

Tugendkatalogs: „Streben nach Reichtum und Macht erscheinen hier als Lohn für sittliches Handeln, sind ein Kämpfen mit und für Gott“, was zu der Entstehung einer „christliche[n] Laienkultur“ führte270. Natürlich ist der Ritter ein Krieger und kein Mönch, doch sein Handeln beruht auf christlichem Ethos. Der miles christianus versteht sich als „der Streiter Gottes, schützt die Kirche und ihre Güter, er kämpft gegen die Heiden, hält seine Hand über die Schwachen, Witwen und Waisen und errichtet selbstlos Gottes Ordnung auf Erden“271.

Ein weiterer Aspekt, der den martialischen Ritter zu einem höfisch verträglichen Zeitgenossen macht, ist das komplexe Konzept der mittelalterlichen minne. Auf den gemeinsamen Ursprung von Ritterroman und Minnesang in der französischen Literatur wurde bereits hingewiesen und inhaltlich spielt das minne-Motiv immer wieder eine zentrale Rolle (am prominentesten natürlich in Gottfrieds Tristan, aber auch in den Artusromanen von Hartmann kann die Beziehung der Protagonisten zu ihren Geliebten als Katalysator der Handlung verstanden werden). Laut Joachim Bumke war das Minnekonzept entscheidend für die Herausbildung des adeligen Ritterbegriffs:

Im Mittelpunkt der in ihren Anfängen rein aristokratischen Minneidee steht der Dienstgedanke. Der adelige Herr begibt sich seiner Herrenrechte und tritt in den Dienst einer Dame: er dient um Minnelohn, und es ist eine Auszeichnung für ihn, Diener zu heißen. Wenn man nun ein Wort suchte, um diesen adeligen Diener zu bezeichnen, bot sich das Dienstwort ritter beinah von selbst an. Der höfische Minnedienst könnte auch verständlich machen, dass der Rittername im adeligen Bereich nicht nur geduldet war, sondern sogleich einen stolzen Klang bekam272.

Indem sich der berittene Krieger freiwillig einem feinmaschig reglementierten Dienstverhältnis unterwirft, lässt er seinen martialisch/archaischen Ursprung zurück und etabliert sich als respektables Mitglied der Gesellschaft. Bumke sieht in dieser gewissermaßen domestizierten Form des Kriegerischen „die wesentlichen Elemente des höfischen Minneritters vereint: Adel und Dienstgedanke“273.

Dem Kriegsdienst leistenden Reiter sind somit gewissermaßen die Zähne gezogen, indem er in der mittelalterlichen Literatur einerseits den minne-Dienst erfüllt und andererseits als idealisierter Herrscher am Ende seines Läuterungswegs die bestmögliche Regentschaft für alle

270 Otto Brunner: Die ritterlich-höfische Kultur (Anm.296), S.150. 271 Arno Borst: Das Rittertum im Hochmittelalter. In: Arno Borst (Hg.): Das Rittertum im Mittelalter. Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S.222 – 223. 272 Joachim Bumke: Der adelige Ritter. In: Arno Borst (Hg.): Das Rittertum im Mittelalter. Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S.274. 273 Ebd. S.276. 58

Gesellschaftsschichten garantiert. Doch um dieses hehre Amt ausüben zu können, ist ein umfangreicher Katalog an Tugenden und Verhaltensnormen notwendig, die uns aus heutiger Perspektive seltsam erscheinen mögen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Fachmeinungen, inwiefern es sich dabei um ein verbindliches, klar strukturiertes System handelte, das speziell für den Ritterstand konkrete Verhaltensnormen formulierte, auseinandergehen. Während Gustav Ehrismann von einer auf antiken Konzepten beruhenden Moralphilosophie als Grundlage eines ritterlichen Tugendsystems ausgeht274, zweifelt etwa Ernst Robert Curtius an einer solchen Annahme: „Das sogenannte Tugendsystem des Ritters ist wohl kaum ein System gewesen. Es enthält ethisch-ästhetische Kategorien weltlicher Art, die sich zum Teil lange vor dem Entstehen des Rittertums herausgebildet hatten“275. Fest steht jedenfalls, dass sich in den Ritterromanen gewisse Eigenschaften immer wieder finden und somit ein Ideal nahelegen, das durch die Untersuchung von vier wesentlichen Aspekten im Folgenden genauer beleuchtet werden soll.

274 Vgl. Gustav Ehrismann Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems (Anm.252), S.137 – 216. 275 Ernst Robert Curtius: Das „ritterliche Tugendsystem“. In: Günter Eifler (Hg.): Ritterliches Tugendsystem. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S.142. 59

4.2. Höfische Erziehung: zuht

Die höfische Erziehung nimmt in mehreren Ritterromanen als Topos eine zentrale Stellung ein: Im Parzival schildert Wolfram den mühsamen Weg vom unbedarften Landkind zum wohlerzogenen Ritter, Gottfrieds Tristan erlangt an Markes Hof dank seines vorbildlichen Betragens die Gunst seines Onkels und auf die Bildung des rîters Hartmann wurde bereits hingewiesen. Die höfische Erziehung, die zuht, scheint also für das ritterliche Selbstverständnis eine wichtige Rolle zu spielen. Wilhelm Wühr führt dies auf die bereits erwähnte soziale Mobilität, die der sich konstituierende Ritterstand ermöglichte, zurück:

Es ist eine oft beobachtete Erscheinung der Sozialgeschichte, dass neue Schichten von Menschen, die aus untergeordneten Anfängen in einen sozial höheren, vorgezeichneten Rang vorrücken, die ständischen Ideale und Sitten der neuen Stellung mit gesteigertem Eifer und peinlich gewahrter Konvention sich anzueignen bemühen. Es wird etwas Erlerntes, Bewusstes, was vorher etwas selbstverständlich Ererbtes war: mit erhöhtem Stolz und Selbstbewusstsein macht man sich der neuen Stellung damit auch nach außenhin würdig276.

Obgleich der Ritterstand soziologisch betrachtet „ein in sich vielgegliedertes und gestuftes Gebilde“ war, fühlte er sich doch als ideale Einheit, die in einer plastischen Formulierung von de Boor „von den höchsten Trägern der Nation, dem Kaiser und den Fürsten, bis hinab zu dem ärmsten Ministerialen“, reichte277. Als kleinster gemeinsamer Nenner dieser heterogenen Gruppe lassen sich die Begriffe zuht und tugent definieren. Sie „standen im Zentrum des höfischen Tugendwortschatzes“ und besaßen „stark entwickelte Eigenbedeutungen aus der Frühzeit ihrer Wortgeschichte“278. Alle semantischen Akzentuierungen von zuht „lassen sich mühelos auf die Grundbedeutung Zucht im Sinne des Züchtens (von Pflanzen und Tieren) zurückführen“279 und bezeichnen im metaphorischen Gebrauch Erziehung im weitesten Sinn, wobei in der mittelalterlichen Bedeutung der Aspekt eines verbindlichen Wertekodex mitschwingt: „Das Tugendwort zuht bezog sich auf das Ergebnis der Erziehung, den höfischen, kultivierten Menschen, und ist mit erzieherisches Geformtsein, gesittetes Verhalten, Anstand,

276 Wilhelm Wühr: Das abendländische Bildungswesen im Mittelalter. München: Franz Ehrenwirth Verlag 1950, S.87. 277 Helmut de Boor: Hövescheit. Haltung und Stil höfischer Existenz. In: Günter Eifler (Hg.): Ritterliches Tugendsystem. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S.381. 278 Otfried Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne: Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. München: Verlag C.H. Beck 1995, S.248. 279 Ebd. S.251. 60

Bildung, höfische Umgangsformen zu umschreiben“280. Der höfische Mann ist in einer Formulierung von Helmut de Boor „der erzogene Mann. Ein Grundbegriff der höfischen Qualitätslehre ist die Erziehung, die zuht. Sie ist Erziehung des Kindes, begreift aber auch die Formung des erwachsenen Menschen ein, als Bildung und Selbstzucht“281. Wie das Bildungsideal der klassischen Antike „war das Wunschbild der ritterlichen Zeit moralisch- ästhetisch, aber mit metaphysischer Ausrichtung, also die Kalokagathie der Alten in christlicher Prägung“282. Im Unterschied zur geistlichen Bildung jener Zeit handelte es sich hierbei jedoch „nicht um eine literarische oder intellektuelle Erziehung“, sondern um eine „durchaus praktische“, geprägt von „unmittelbarer Lebensnähe“283. So nahm neben der Schulung im Umgang mit Waffen die Vermittlung ethischer Ideale laut Gina Fasoli am Anfang der ritterlichen Ausbildung, im Alter von 10 bis 12 Jahren, eine zentrale Stellung ein:

In diesen Lehrjahren wurden dem Heranwachsenden die ethischen Grundsätze der Ritterklasse geläufig. Sie stimmten mit denen der Feudalklasse überein und stützten sich auf die Begriffe der Ehre, der gegenseitigen Treue zwischen Lehnsherr und Vasall, Ritter und Schildknappe, der Redlichkeit, der Tapferkeit, der Opferbereitschaft und der Großmut gegenüber Freund und Feind. Und es verdient hervorgehoben zu werden, dass dies die einzige Form der Laienerziehung war, bevor sich Privatschulen, von Städten eingerichtete Schulen und Universitäten ausbreiteten284.

Laut Joachim Bumke spielte die Ausbildung intellektueller Fähigkeiten im höfisch-ritterlichen Erziehungsprogramm zunächst kaum eine Rolle, lediglich Prinzen, die in weiterer Folge zur Königsherrschaft bestimmt waren, genossen eine umfassende literarische und wissenschaftliche Bildung285. Erst allmählich wurde von Frankreich und England ausgehend „Sprachkultur ein Merkmal höfischer Erziehung“286, was sich schließlich auch in der Dichtung niederschlug. Gottfried beschreibt etwa seinen Tristan als universell gebildeten Ritter, der neben Deutsch, Französisch und Latein auch zwei keltische Sprachen beherrscht:

„Tristan, ich hôrte dich doch ê britûnsch singen und gâlois, guot latîne und franzois. kanstû die sprâche?“ „hêrre, jâ,

280 Ebd. S.252. 281 Helmut de Boor: Hövescheit. Haltung und Stil höfischer Existenz (Anm.278), S.385. 282 Wilhelm Wühr: Das abendländische Bildungswesen im Mittelalter (Anm.277), S.88. 283 Ebd. S.88. 284 Gina Fasoli: Grundzüge einer Geschichte des Rittertums. In: Arno Borst (Hg.): Das Rittertum im Mittelalter. Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S.206. 285 Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.435. 286 Ebd. S.437. 61

billîche wol.“287

Obgleich es sich bei literarischen Schilderungen natürlich oft um Idealisierungen, die nicht wörtlich zu nehmen sind, handelt, spielen sie in der Forschung – nicht zuletzt aufgrund der spärlichen Überlieferungslage anderer Zeugnisse288 – eine wichtige Rolle in der Rekonstruktion von mittelalterlichen Erziehungskonzepten. Helmut de Boor nennt in diesem Zusammenhang Gottfrieds Tristan „eines der großen künstlerischen Dokumente höfisch-ritterlichen Denkens“289. Zugleich stellt jedoch andererseits auch das Streben nach idealtypischen Eigenschaften und Tugenden, wie sie in der höfischen Literatur geschildert werden, einen wesentlichen Faktor mittelalterlicher Pädagogik dar. Auf den Vorbildcharakter der literarischen Ritterideale auf die höfische Erziehung wurde bereits hingewiesen und Thomasin von Zerklaere rät dezidiert zu einer Orientierung an diesen Vorbildern: „Juncherren suln von Gâwein hœren, Clies, Êrec, Îwein und suln rihten ir jugent gar nâch Gâweins reiner tugent“290. Auch Henning Brinkmanns betont: „Der Dichter ist Erzieher zu höfischer Bildung und sittlichem Handeln. Das gilt besonders für den höfischen Roman. Der Held des Epos wird als Vorbild gepriesen, seine Tugend zur Nachahmung empfohlen“291.

Während die neuzeitlich verstandene Erziehung vor dem Hintergrund der Reformpädagogik maßgeblich auf „Selbstverwirklichung der Individuen, auf Authentizität und Identität, auf Emanzipation und Kritikfähigkeit“292 abzielt, sind ritterliche Erziehung und Bildung vor dem Hintergrund, dass „höfische Kultur […] eine gesellschaftliche Kultur“ darstellt, zu verstehen: „Das Mittelalter kennt nicht das Glück des autonomen Individuums, das sich selbstherrlich nach seinen eigenen Bedingungen und Strebungen zur Persönlichkeit formt. Alle Bildung des Menschen erfolgt in der Gesellschaft und für die Gesellschaft“293. Es geht hierbei also gerade nicht um die Ent-wicklung einzigartiger Fähigkeiten, die im Individuum schlummern und die durch geschickte pädagogisch/didaktische Manipulation ans Tageslicht befördert werden sollen, sondern vielmehr um die Herausbildung jener Qualitäten, die den Ritter zu einem respektablen Mitglied der Gesellschaft machen. Helmut Rücker gibt einen schlaglichthaften

287 Gottfried von Straßburg: Tristan (Anm.210), S. 228 (3690 – 1694). 288 Vgl Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.433. 289 Helmut de Boor: Hövescheit. Haltung und Stil höfischer Existenz (Anm.278), S.381. 290 Heinrich Rückert (Hg.): Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Berlin: de Gruyter 1965, S.29 (1041). 291 Zitiert nach: Gert Kaiser: Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung (Anm.250), S.16 – 17. 292 Klaus-Michael Bogdal: Literaturdidaktik im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft, Schule und Bildungs- und Lerntheorien. In: Klaus-Michael Bogdal, Hermann Korte (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S.9 – 30, S.20. 293 Helmut de Boor: Hövescheit. Haltung und Stil höfischer Existenz (Anm.278), S.385. 62

Überblick über das breite Spektrum an Aspekten, die für einen Repräsentanten höfischer Kultur wesentlich sind:

Der höfische Mensch (den es, wie die höfische Sittlichkeit in dieser Abstraktion freilich nur in der Forschung gibt), schritt im gewissen Sinne choreographisch durch seinen Lebensraum. Bewegung und Gebärden, Gesten und Mienenspiel, Kleidung und Ausrüstung, Verhaltensweisen und Kommunikationsformen waren deutlich bestimmten Gesetzen unterworfen“294.

Die Grundlagen dieser komplexen Verhaltenschoreographie wurde im Zuge der höfischen Erziehung vermittelt, an deren Ende idealerweise der gesellschaftlich versierte Ritter als Repräsentant eines fein nuancierten Tugendkatalogs steht. In einer Formulierung von Otto Brunner „ist in dem adeligen Tugendbegriff der Wille zur Erziehung, zur Menschenbildung mit eingeschlossen“295. Vor diesem Hintergrund ist der erwähnte semantische Zusammenhang zwischen zuht und tugent zu verstehen, in dem Sinne, dass die höfische Erziehung den archaischen Krieger vom zivilisierten Ritter unterscheidet.

294 Helmut Rücker: Mâze und ihre Wortfamilie in der deutschen Literatur bis um 1220. Göppingen: Kümmerle 1975, S.402. 295 Otto Brunner: Die ritterlich-höfische Kultur. In: Arno Borst (Hg.): Das Rittertum im Mittelalter. Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S.144. 63

4.3. Tugendhafte Mitte: mâze

Im Folgenden soll auf einen Begriff eingegangen werden, der in vielfacher Hinsicht als Voraussetzung ritterlicher Tugend angesehen werden kann und damit auch in enger Verbindung mit dem höfischen Erziehungsideal steht. Gustav Ehrismann bezeichnet ihn als „die Grundlage aller höfischen zuht“296und für Otto Brunner drückt er „gesellschaftliche Wohlerzogenheit“297 aus. Es handelt sich dabei um den Moralbegriff mâze der gemeinsam mit stæte „von den Dichtern und Didaktikern, die sich an ein Adelspublikum wandten, mit dem größten Nachdruck genannt wurde“298. Auf die enge Verbindung mit der stæte weist etwa Thomasin von Zerklaere in seiner Lehrdichtung Der welsche Gast hin, indem er sie zu Geschwistern erklärt: „stæte und mâze swester sint, si sint einer tugende kint299.

In der ritterlichen Tugend der stæte spiegelt sich nach mittelalterlicher Überzeugung der „höhere Sinn [einer] göttlichen Weltordnung“, wodurch ihre Befolgung „die grundlage der tugenden“300 ausmacht. Neben dem semantischen Naheverhältnis zur mâze findet sie sich auch immer wieder in Relation zum Begriff triuwe, zu der sie in der mittelalterlichen Literatur häufig zu der Formel stæte triuwe verbunden wird301. Diese semantische Nähe zu zwei Begriffen, die für das ritterliche Tugendverständnis wesentlich sind, impliziert bereits die zentrale Bedeutung, sowie einen weitreichenden Bedeutungshorizont. Ganz allgemein formuliert bedeutet stæte „das Festhalten am Guten“302 und Thomasin betont ihre Bedeutung als Voraussetzung aller weiteren Tugenden: „die andern tugende sint enwiht, und ist dâ bî diu stæte niht“303.

Die mâze entspricht der aristotelischen μεσὁτης im Sinne der „richtige[n] mitte zwischen zwei extremen“304. Zumal extreme Verhaltensformen in der aristotelischen Moralphilosophie stets Untugenden markieren, bedeutet „diese mitte immer eine tugend“ und „insofern ist also die mâze überhaupt bewirkerin der tugend und wiederum dasselbe wie die stæte“305.

Der Stellenwert, den die Einhaltung des rechten Maßes in der Antike hatte, wird etwa daraus ersichtlich, dass Platon sie zu einer Kardinaltugend erklärt, indem sie per Analogieschluss zum

296 Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems (Anm.252), S.151. 297 Otto Brunner: Die ritterlich-höfische Kultur (Anm.296), S.158. 298 Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.418. 299 Heinrich Rückert: Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria (Anm.291), S.336 (12339 – 12340). 300 Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems (Anm.252), S.148. 301 Vgl. Otfried Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne (Anm.279), S.209. 302 Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.418. 303 Zitiert nach Bumke ebd. S.419. 304 Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems (Anm.252), S.148 – 149. 305 Ebd. S.149. 64

Ideal sowohl des individuellen, als auch des allgemeinen Glücks wird: „Lustempfinden und harmonische Einheit sowohl im Menschen selbst, als auch zwischen Mensch und Welt stellte sich, so die Ansicht, nur ein, wenn die Verhältnisse wohlgeordnet waren“306. Im zweiten Buch seiner Nikomachischen Ethik definiert Platons Schüler Aristoteles die Mitte als das Wesentliche jeglicher Tugend:

Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird, und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt. Die Mitte ist die zwischen einem doppelten fehlerhaften Habitus, dem Fehler des Übermaßes und des Mangels; sie ist aber auch noch insofern Mitte, als sie in den Affekten und Handlungen das Mittlere findet und wählt, während die Fehler in dieser Beziehung darin bestehen, dass das rechte Maß nicht erreicht oder überschritten wird. Deshalb ist die Tugend nach ihrer Substanz und ihrem Wesensbegriff Mitte; insofern sie aber das Beste ist und alles gut ausführt, ist sie Äußerstes und Ende.307

Die Einhaltung des rechten Maßes bedeutet somit den moralischen Superlativ im Sinne der bestmöglichen Handlung. Für Otfried Höffe klingt darin ein besonderer Stellenwert des Konzepts der Mitte an, der für das Verständnis der Antike charakteristisch ist: „die Antike versteht die Mitte nicht bloß im mathematischen Sinn eines Punktes, der von zwei gegebenen Punkten oder Linien gleich weit entfernt ist; die Mitte bedeutet auch etwas Vollkommenes“308. Dementsprechend preist Aristoteles in der Nikomachischen Ethik die Mitte wiederholt als das höchste Gut und wesentliche Grundlage moralischen Handelns309.

Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert sieht in der Kompatibilität der moralischen Implikationen dieses antiken Konzepts mit christlichen Vorstellungen den Grund für die Wirkungsmächtigkeit des Begriffspaars mâze und stæte: „Maßgeblich für die Auswahl der Entlehnungen aus der Antike bleibt […] die möglichst genaue Übereinstimmung der Begriffe der heidnischen Philosophen mit denen der christlichen. Cicero, Horaz, Seneca kommen so zu engster Verbindung mit den Kirchenvätern“310. Im welschen Gast, wie auch in den Ritterromanen wird hierbei weniger das antike Vorbild, „sondern der Aufruf zur Anwendung solcher sittlichen Erkenntnisse auf dem Weg durch die Welt zu Gott […] betont“311. Helmut

306 Otfried Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne (Anm.279), S.130. 307 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Günther Bien (Hg.). Hamburg: Felix Meiner Verlag 1995, S. 36 (II, 1107a). 308 Otfried Höffe: Aristoteles. München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1996, S.223. 309 Vgl. ebd. S.223. 310 Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Ritterliche Lebenslehre und antike Ethik. In: Günter Eifler (Hg.): Ritterliches Tugendsystem. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S.173. 311 Ebd. S.173. 65

Rücker weist in diesem Zusammenhang auf die enge Verbindung zur mittelalterlichen Kosmologie basierend auf der Vorstellung einer wohl geordneten Welt hin. Der mâze kommt hierbei insofern eine Schlüsselrolle zu, als dass sie „zum Ausdruck des von Gott der Dingwelt verliehenen Maßes herangezogen wurde und somit auf die metaphysisch begründete Inhärenz fester Ordnungsgesetze in den Dingen selbst verweisen sollte“312. Rudolf Zitzmann zufolge beruht der mittelalterliche ordo-Gedanke auf dem alttestamentarischen Bibelzitat „Omnia in mensura et numero et pondere disposuisti“, das „im mittelalterlichen Schrifttum so häufig anzutreffen [ist], dass [es] als fundamentaler geistiger Gemeinbesitz angesprochen werden darf“313. Das mittelalterliche Weltbild stimmt in dieser Hinsicht mit der antiken Vorstellung des κόσμος im Sinne einer wohlgeordneten Struktur überein und setzt sie mit dem Monotheismus des Christentums in Verbindung: „der Satzkern disposuisti sagt aus, dass alles Tun Gottes ein Ordnen sei. Ordo ist also das Ergebnis solchen Tuns“314. Obgleich diese explizit metaphysische Dimension im Laufe des Mittelalters zugunsten der moralischen an Bedeutung verliert, bleibt sie als kosmologisches Ordnungsprinzip latent im Begriff gegenwärtig315. Heruntergebrochen auf das konkrete Handeln bedeutet mâze „das richtige Maßhalten im Sinne der Mäßigung, die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, die Angemessenheit, die Selbstbeherrschung“316.

Gustav Ehrismann erklärt die mâze zur „Grundbedingung der moralischen und gesellschaftlichen zuht“317 und sie bringt in weiterer Folge „gelücke, heil, […] sælde und êre“318, indem sie subjektiven Befindlichkeiten und Gefühlsausbrüchen einen Riegel vorschiebt und somit ein essentielles Regulierungsinstrument höfischer Etikette darstellt. So mahnt etwa Walther von der Vogelweide selbst in Anbetracht emotionaler Ausnahmezustände zur Mäßigung:

Mir ist lieb, daz sie mich klage -Ze mâze, als ir schœne stê -, ob mán ir mære von mir sage, daz ir dâ von sî sanfte wê. Si sol iemer durch den willen mîn

312 Helmut Rücker: Mâze und ihre Wortfamilie in der deutschen Literatur bis um 1220 (Anm.295), S.297. 313 Rudolf Zitzmann: Der Ordo-Gedanke des mittelalterlichen Weltbildes und Walthers Sprüche im ersten Reichston. In: Günter Eifler (Hg.): Ritterliches Tugendsystem. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S.221. 314 Ebd. S.222. 315 Vgl. Helmut Rücker: Mâze und ihre Wortfamilie in der deutschen Literatur bis um 1220 (Anm.295), S.297. 316 Thordis Hennings: Einführung in das Mittelhochdeutsche. Berlin: de Gruyter 2012, S. 204 – 205. 317 Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems (Anm.252), S.161. 318 Ebd. S.166. 66

Ungefüege swære unde frödie lâzen sîn: Daz stêt senenden frouwen wol, als ichz meine.319

In ähnlicher Weise definiert Gottfried von Straßburg das maßvolle Verhalten als wesentliches Kriterium der wohlerzogenen Frau: „sô rehte saelic sô daz wîp, diu ir leben unde ir lîp an die mâze verlât“320. Bereits an diesen beiden willkürlich herausgegriffenen Beispielen zeigt sich, „dass die mâze als eine der höfischen Grundtugenden viele andere höfische Tugenden anregt“ und etwa bei Walther von der Vogelweide teilweise synonym mit zuht verwendet wird321. Doch natürlich ist dieses Ideal nicht auf die höfische Dame beschränkt, denn das Gebot, „in allen Dingen maßzuhalten und den richtigen Mittelweg zu gehen, fehlte in keiner Ritterlehre“322. Im Gregorius erklärt Hartmann von Aue:

Ritterschaft daz ist ein leben Der im die mâze kann gegeben So enmac nieman baz genesen323

Rücker definiert „die Beachtung des rechten Maßes“ als wesentliches Element höfischer Erziehung und verweist auf ihre weitreichenden Implikationen indem er erklärt, dass sie in ihren „äußerlichen Realisationen […] in fast allen Bereichen der zivilisatorischen Errungenschaften des Rittertums [erscheint]“324. Für Max Wehrli bezeichnet die mâze einen Schlüsselbegriff des Ritterromans, der „unendlich viel mehr bedeutet als den banalen goldenen Mittelweg, nämlich Selbstdisziplin, Sinn für das Richtige und das Rechte, für den Ausgleich der Kräfte und damit auch Voraussetzung des schönen Lebens“325.

In ihrer Funktion als Handlungsregulativ bildete die mâze „normative Grundlage jeder anderen Tugend“326 und spielt damit auch in den Ritterromanen eine wichtige Rolle. So erklärt etwa Hermann Wiegmann die mâze zum „entscheidenden Thema und Ideal“327 der Artusromane im

319 Walther von der Vogelweide: Werke Band 2: Liebeslyrik. Günther Schweikle (Hg.) Stuttgart: Reclam 1998, S.80. 320 Zitiert nach Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.419. 321 Helmut Rücker: Mâze und ihre Wortfamilie in der deutschen Literatur bis um 1220 (Anm.295), S.414. 322 Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.419. 323 Hartmann von Aue: Gregorius. Waltraud Fritsch-Rößler (Hg.). Stuttgart: Reclam 2011, (1531 – 33). 324 Helmut Rücker: Mâze und ihre Wortfamilie in der deutschen Literatur bis um 1220 (Anm.295), S.402 – 403. 325 Max Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter (Anm.249), S.277. 326 Otfried Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne (Anm.279), S.130. 327 Hermann Wiegmann: Abendländische Literaturgeschichte. Die Literatur in Westeuropa von der griechischen und römischen Dichtung der Antike bis zur modernen englischen, französischen, spanischen, italienischen und deutschen Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S.157. 67

Allgemeinen und attestiert den Bearbeitungen durch Hartmann eine besondere Betonung „auf Ehre und Ritterlichkeit, […] auf Zucht und Maze“328. Jürgen Wolf definiert Erec zu Beginn von Hartmanns Roman als „Prototyp des affektkontrollierten, zivilisierten Ritters“329, da dieser auf die Provokationen des Zwergs verhältnismäßig milde reagiert. Trotz der Ehrenbeleidigung lässt Erec es bei einer Tracht Prügel bewenden, obgleich sowohl die Tötung des Zwerges, als auch das Abschlagen der rechten Hand (welche die Peitsche geführt hatte) durchaus rechtens gewesen wäre330. Im Gegensatz zur „primitiven Aggressionsbereitschaft“ des Zwerges „führt Erec […] die zivilisierte Seite des höfischen Rittertums vor“331, die im ersten Abschnitt des Romans ausführlich beschrieben wird. Demgegenüber gibt es in der Forschung auch den Standpuunkt, dass Erec zu Beginn seines Abenteuers noch einiges über ritterliche Tugendideale zu lernen hat. In seinem Artikel Struktur und Person im Artusroman stellt Matthias Meyer fest, dass „Hartmanns Erec […] sicher nicht der fünfundzwanzigjährige, schöne, tapfere und vornehme Superstar der Tafelrunde [ist], den Chrestien einführt“332. Während Erec von Anfang an in allen Situationen souverän agiert, betont Hartmann wiederholt seine Unerfahrenheit und Unsicherheit, was Meyer unter anderem auf den Versuch des Autors zurückführt, „aus Erec einen […] romanhaften Helden zu machen, der von Beginn an sich vom epischen Helden unterscheidet“333. Während letzterer von Anfang an ein Ideal verkörpert, spielt beim Romanhelden die Charakterentwicklung eine zentrale Rolle. Elke Koch weist darauf hin, dass Erec am Anfang des Romans durchaus noch von seinen Affekten beherrscht wird (etwa, als ihm die Beleidigung des Zwerges die Schamesröte ins Gesicht treibt). Erst nach und nach lernt er, seine Emotionen zu kontrollieren, zumal die mâze eine wesentliche Voraussetzung für seine spätere Rolle als gerechter Herrscher darstellt334.

Auch in den Beschreibungen gesellschaftlicher Etikette taucht der Begriff immer wieder auf und bezeichnet zumeist das Maßhalten im Sinne institutionalisierter Ordnung. So wird etwa die homogene Gruppierung der Hochzeitsgesellschaft folgend geschildert:

328 Ebd. S.156. 329 Jürgen Wolf: Einführung in das Werk Hartmanns von Aue (Anm.241), S.52. 330 Vgl. ebd. S.52. 331 Ebd. S.49. 332 Matthias Meyer: Struktur und Person im Artusroman. In: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1999, S.151. 333 Ebd. S.155. 334 Vgl. Elke Koch: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin: de Gruyter 2006, S.168 ff. 68

Besunder hâten si sich Gesellet ritterlîchen, die jungen ze ir gelîchen, die alten zuo den alten: diu mâze wart behalten335

In weiterer Folge wird die prunkvolle Kleidung der Gäste mit den Worten „ze der mâze als ouch in gezam“336 beschrieben, die man als Idealisierung der höfischen Kultur als wohlgeordneten Mikrokosmos lesen kann: hier ist jeder an seinem vorgesehenen Platz und handelt in angemessener Weise. Somit stellt mâze einen höchst komplexen Begriff dar, dessen Bedeutungsspektrum vom metaphysischen Bereich über gesellschaftliche Konventionen bis zu moralischen Lehrsätzen reicht. Letzterer Aspekt lässt sich ab dem späten 12. Jahrhundert häufig nachweisen:

Dass „mâze“ als anzustrebende ethische Grundhaltung, die des Menschen Tun und Lassen beeinflussen soll, nicht nur in ausgesprochen lehrhaften Dichtungen und Dichtungspartien gefordert wurde, sondern in vielfältigen Abstufungen zwischen direktem Imperativ und subtil verschlüsseltem, indirektem ethischem Impuls an das Publikum in nahezu alle epischen Dichtungen der hochhöfischen Zeit Eingang fand, kann kaum bestritten werden.337

In diesem Sinne könnte man das Versagen der Protagonisten in Hartmanns Artusromanen als mahnendes Beispiel für unmäßiges Verhalten verstehen. Sowohl im Erec, als auch im Iwein wird die Krise der Hauptfigur am Anfang des zweiten Handlungszyklus durch asymmetrische Gewichtung persönlicher Vorlieben und gesellschaftlicher Pflichten ausgelöst. Wolfgang Spiewok erklärt den „Konflikt zwischen Pflicht und Neigung“338 zum narrativen Gravitationspunkt beider Werke und Leonie Wagenaar definiert fehlende mâze als seine Ursache:

Während Erec den Fehler macht, sich zu verligen, indem er sich ausschließlich der Liebe zu Enite widmet und damit seine Verantwortlichkeiten als Ritter vernachlässigt, nimmt Iwein diese viel zu ernst, und

335 Hartmann von Aue: Erec (Anm.239), S.114 (1945 – 49). 336 Ebd. S.114 (1953). 337 Helmut Rücker: Mâze und ihre Wortfamilie in der deutschen Literatur bis um 1220 (Anm.295), S.305 – 306. 338 Wolfgang Spiewok: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters (Anm.251), S.126. 69

verrîtet sich, so dass seine Laudine diejenige ist, die unter Vernachlässigung zu leiden hat. In beiden Fällen ist richtige mâze der Kern der Lösung.339

Indem Erec durch sein verligen „das persönliche Glück über die Anforderungen der Gesellschaft, bzw. der Herrschaft stellt“340, verfehlt er die Balance zwischen Pflicht und Neigung, was ihm öffentliche Kritik und in weiterer Folge den Verlust seiner êre einbringt. Einerseits wird im verligen Sexualität zum Selbstzweck und damit verwerflich341 und andererseits führt es in gesellschaftliche Isolation, wodurch Erec seinen Aufgaben als Repräsentant ritterlicher zuht nicht mehr nachkommt342, oder in einer konzisen Formulierung von Rolf Bräuer: „Unmaß in der Liebe bedroht durch Ehrverlust Erecs feudalherrliche Existenz“343. Iwein hingegen verfällt dem Laster des gegenteiligen Extrems: „Er verfehlt die rechte Mitte zwischen Liebe und Rittertat durch Überbewertung der kämpferischen Verwirklichung, noch dazu nicht in politischer Funktion, sondern als Selbstzweck“344. In beiden Fällen führt die Verselbstständigung und Überbewertung eines einzelnen Aspekts in die Krise, die durch zahlreiche aventiuren bewältigt werden muss. Am Ende ist die Balance jedoch wieder hergestellt und Arno Borst charakterisiert die Haltung der geläuterten Artusritter als „das Mittelmaß der verständigen Ausgeglichenheit, die Harmonie der Werte und die edle Gebärde“345 und führt den zentralen Stellenwert der mâze im ritterlichen Tugendkatalog auf die Zwischenstellung des Ritterstandes in der Gesellschaft zurück:

Nur in der Zwischenlage zwischen Herrschaft und Dienst blühte das Rittertum, nur in der Epoche zwischen Adelswillkür und Staatsmacht, zwischen 1100 und 1250, nur solange, wie die ritterliche Idee sich mit der sozialen Wirklichkeit des niederen Adels vertrug und verband. […] Zwischen Brutalität und Spiritualität hatte der niedere Adel die Funktion des Ausgleichs und Übergangs, und sein Ideal war eben die Ausgeglichenheit, die mesure und mâze346.

339 Leonie Wagenaar: Die Minne bei Hartmann von Aue: Zum Minnebegriff im Erec und im armen Heinrich. Hamburg: Diplomica Verlag 2015, S.10. 340 Jürgen Wolf: Einführung in das Werk Hartmanns von Aue (Anm.241), S.59. 341 Vgl. ebd. S.59. 342 Vgl. Volker Honemann Erec: Von den Schwierigkeiten, einen mittelalterlichen Roman zu verstehen. In: Volker Honemann, Tomas Tomasek (Hg.): Germanistische Mediävistik. Münster: Lit Verlag 2000, S.107. 343 Rolf Bräuer: Erec und Enite – der Beginn des deutschen Artusromans (Anm.245), S.203. 344 Volker Mertens: Der deutsche Artusroman (Anm.222), S.72. 345 Arno Borst: Das Rittertum im Hochmittelalter (Anm.272), S.238. 346 Ebd. S.242. 70

4.4. Soziales Prestige: êre

Das differenzierte Bedeutungsspektrum des mittelhochdeutschen Begriffs êre deutet bereits seinen zentralen Stellenwert für das ritterliche Tugendsystem an. Gustav Ehrismann subsumiert darunter Konzepte, wie wirde, werdekeit, lob, prîs, ruom, name347. Diese Begriffe kommen in den Ritterromanen des Mittelalters immer wieder vor und stellen gemeinsam mit tugent und mâze „unabdingbare[…] Voraussetzungen“ für das Handeln der Protagonisten dar348. Im Gegensatz zum neuzeitlichen Verständnis von Ehre handelt es sich also bei der mittelhochdeutschen êre nicht um eine mehr oder weniger beliebige, subjektive Kategorie ohne verbindliche Konsequenzen für das alltägliche Handeln, wie Rüdiger Brandt plastisch ausführt:

Heute wäre es möglich, dass jemand sagt: „Meine Frau hat mich verlassen, meine Kinder haben sich von mir abgewendet, meine Firma ist pleite, mein Fernseher ist explodiert und mein Dackel ist gestorben – aber auch, wenn ihr mich verachtet: ich habe immer noch meine Ehre.“ Nach mittelalterlicher Auffassung ist dies (auch ohne Fernseher und Dackel) unsinnig: „Ehre“ ist eine gesellschaftliche Kategorie, die basiert auf bestimmten Voraussetzungen: Stand, Familienverhältnissen, Vermögen usw. Wer über die als Kriterien für Ehre geltenden Eigenschaften verfügt, erhält von der Gesellschaft Ehre zugesprochen; sich selbst kann man keine Ehre zusprechen.349

Vor diesem Hintergrund einer objektiven Kategorie werden die von Gustav Ehrismann genannten Bedeutungsnuancen verständlich. Das soziale Prestige des Ritters konstituiert sich aus der êre, die ihm von seinem gesellschaftlichen Umfeld verliehen wird und die weit mehr bedeutet, als subjektives Selbstbewusstsein und Stolz, die häufig mit dem neuzeitlichen Verständnis von Ehre einhergehen. Friedrich Maurer beschreibt diesen Bedeutungswandel in dem Sinne, dass êre „ursprünglich ganz konkrete äußere Tatsachen und Zusammenhänge [meint] und […] erst allmählich und spät in den uns heute geläufigen inneren, ethisch oder christlich vertieften und psychologisch verfeinerten Sinn [eintreten]“350. Werner Schwarz erklärt den mittelalterlichen êre-Begriff als „das Ansehen, das man in der Welt genießt“ und definiert „die Notwendigkeit, der Ehre in der Welt ihr Recht zu geben“ als zentrales Motivationsmoment des Ritterromans351. Nachdem der Ritterstand, wie bereits erwähnt,

347 Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems (Anm.252), S.155. 348 Otfried Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne (Anm.279), S.66. 349 Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft (Anm.195), S.184. 350 Friedrich Maurer: Tugend und Ehre. In: Günter Eifler (Hg.): Ritterliches Tugendsystem. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S.238. 351 Werner Schwarz: Beiträge zur mittelalterlichen Literatur. Peter Ganz, Timothy McFarland, (Hg.) Amsterdam: Rodopi 1984, S.52. 71 wesentlich auf einem feingesponnenen Netzwerk aus Verhaltensnormen und Konventionen beruht, hängt der Ehrenstatus oft damit zusammen, inwiefern dem Idealschema höfischer Erziehung entsprochen wird. Wenn es sich, wie bei Erec und Iwein, noch dazu um junge Regenten handelt, wiegen Verfehlungen in dieser Hinsicht natürlich umso schwerer, woraus sich auch die Krise erklärt, in die Iwein durch die öffentlichen Schmähworte von Lunete fällt: Daz smæhen daz vrou Lûnete den herren Îweinen tete, daz gæhe wider kêren, der slac sîner êren […] die benâmen sînem lîbe vil gar vreude und den sin352

Iwein verliert seine êre, indem er jene Erwartungshaltungen, die an einen höfischen Ritter gestellt werden (das Einhalten des Abkommens), nicht erfüllt und indem seine Verfehlungen durch Lunete an die Öffentlichkeit gebracht werden. Seine Schuld liegt „in der gesamten Skala der von Hartmann durch Lunetes Mund genannten ethischen und feudalrechtlichen Pflichtverletzungen, wobei das Terminversäumnis nur ein letztes Kettenglied darstellt, das die Frage der Gesamtschuld aufsprengt und öffentlich werden lässt“353. Iwein verfällt daraufhin dem Wahnsinn und zieht sich aus der Gesellschaft in die Wildnis zurück. Der Besitz von Ehre stellt eine wesentliche Voraussetzung dar, „um in der höfischen Welt zu leben“354. Ihr Verlust konnte also für den Ritter, der als heldenhafter Repräsentant einer ganzen Reihe höfischer Tugenden galt, existenzbedrohend sein. In diesem Sinne befindet auch Elke Zinsmeister, dass Iwein durch seinen Eidbruch alle seine bisher aufgebauten gesellschaftlichen Verhältnisse, zuerstört, „und damit auch sein bisheriges ritterliches Leben“355. Etymologisch sind zwei Aspekte der ursprünglichen Wortform era in diesem Kontext von Interesse: zunächst meint sie etwas „von außen Entgegengebrachtes“356, auf das man dementsprechend keinen unbedingten Anspruch stellen und das jederzeit verloren gehen kann. Der zweite wesentliche Aspekt betrifft den Bereich des Sozialen, in dem der Begriff von Anfang an angesiedelt war. Er „scheint ein Wort aus der Gefolgschaftssphäre zu sein, mit dem

352 Hartmann von Aue: Iwein (Anm.215), S.59 (3201 ff.). 353 Rolf Bräuer: Iwein, der Löwenritter – Forderung nach feudaler Herrschaftslegitimation. In: Kurt Böttcher u.a. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. Band 2: Mitte des 12. bis Mitte des 13. Jahrhunderts. Berlin: Volk und Wissen 1990, S.218. 354 Werner Schwarz: Beiträge zur mittelalterlichen Literatur (Anm.348), S.55. 355 Elke Zinsmeister: Literarische Welten. Personenbeziehungen in den Artusromanen Hartmanns von Aue. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2008, S.145. 356 Friedrich Maurer: Tugend und Ehre (Anm.347), S.243. 72 typisch doppelseitigen Inhalt: [er] bedeutet nämlich in den germanischen Entsprechungen (ags. as.) auch Gnade, Hilfe, wie es andererseits Ehrerbietung, ehrfürchtige Scheu meint; das eine wäre die Haltung des Gefolgsherrn dem Mann gegenüber, das andere die des Mannes gegenüber dem Herrn“357. Der Ehrbegriff bezeichnete im Sinne eines Terminus für die Beschreibung hierarchischer sozialer Beziehungen somit ursprünglich das genaue Gegenteil der subjektiven Bedeutung im neuzeitlichen Sprachgebrauch. Die Ehre galt im Mittelalter „als das höchste (ethische) Gut, stets an die Sozietät gebunden“358 und so, wie sie durch öffentliche Schmähungen verloren gehen kann, kann sie auch nur im öffentlichen Raum gewonnen werden. So mehrt Erec seine ritterliche êre in seinem ersten großen Turnier: vil schœnen gewin hete sîn geselleschaft begân, des âne in niht wære getân. sîn genôz des tages manec man der von im dâ vil gewan. grôz was ir bejaget. des wart im dô genâde gesaget und gezam si deste mêre ze sprechen sîn êre359

Der Gewinn von Ehre wird hier dezidiert mit Erecs sozialen Qualitäten im Sinne von Hilfsbereitschaft und Verantwortung in Verbindung gebracht. Darin wirft die endgültige Läuterung des Helden in der zweiten Schleife des doppelten Kursus ihre Schatten voraus. William Henry Jackson betont in diesem Zusammenhang die „repräsentative Funktion“ des Turniers: „der Erfolg des jungen Helden in seinem ersten Turnier […] bestätigt seine kriegerische Tüchtigkeit, und militärisches Training erscheint als ein wichtiger Zweck des Turniers in der Dichtung des 13. Jahrhunderts“360. Das Turnier ermöglicht Erec, seine Fähigkeiten vor aller Welt zu demonstrieren und auf diese Weise ruom und prîs zu erwerben: „die Turniere in der Dichtung des 13. Jahrhunderts werden in der Regel auf einer Ebene neben einer Burg oder Stadt abgehalten und Zuschauer werden immer wieder erwähnt. Das Element der Schaustellung tritt von Anfang an in den bunten Bannern, den bemalten Lanzen und

357 Ebd. S.243. 358 Otfried Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne (Anm.279), S.68. 359 Hartmann von Aue: Erec (Anm.239), S.156 (2705 – 2713). 360 William Henry Jackson: Das Turnier in der deutschen Dichtung des Mittelalters. In: Josef Fleckenstein (Hg.): Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985, S.287. 73

Schildzeichen der Beteiligten hervor“361. Indem er im konventionalisierten Rahmen des höfischen Turniers Kühnheit und Kraft unter Beweis stellt, erweist sich Erec der kommenden Herausforderungen würdig. Êre, bzw. rîterschaft „ist hier allein tapferkeit, die in der bestehung von gefahrvollen abenteuern sich kund tut und die die allgemeine ehrung, den rum bei den menschen, als lohn einbringt“362. Durch sein ritterliches Auftreten am Turnier gewinnt Erec an Ansehen, verliert dieses jedoch wieder durch sein unehrenhaftes Verhalten nach der Hochzeit mit Enite: Erec wente sînen lîp grôzes gemaches durch sîn wîp. die minnete er sô sêre daz er aller êre durch si einen verphlac, unz daz er sich sô gar verlac daz niemen dehein ahte ûf in gehaben mahte.363

Dadurch, dass êre von anderen verliehen und entzogen wird, stellt sie kein frei verfügbares Gut dar, sondern ist „ohne arbeit, ohne Tapferkeit und Mut (manheit), ohne Einsatz des Lebens nicht denkbar“364. In Hartmanns Iwein besteht êre „wie im Erec in der ritterlichen tapferkeit, die sich in den abenteuern offenbart und als arbeit die pflicht des ritters ausmacht gegenüber der faulen bequemlichkeit“365. Die êre wird wiederholt als gerechte Belohnung von Leistung dargestellt: er sprach ezn ist niht wunder umb einen sæligen man der dar nâch gewerben kan und dem vrümekheit ist beschert, ob im vil êren widervert366

Indem hier die êre als logische Konsequenz einer bestimmten Charaktereigenschaft, bzw. daraus resultierenden Verhaltensweise beschrieben wird, berührt sie die Sphäre des Moralischen. Maurer bringt die Verwendung des êre-Begriffs bei Hartmann mit der Tugend in Verbindung, wobei natürlich beide nicht in eins gesetzt werden dürfen; „vielmehr ist immer

361 Ebd. S.277. 362 Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems (Anm.252), S.197 – 198. 363 Hartmann von Aue: Erec (Anm.239), S.170 (2966 – 2973). 364 Otfried Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne (Anm.279), S.66. 365 Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems (Anm.252), S.205. 366 Hartmann von Aue: Iwein (Anm.215), S.52 (2770 ff.). 74 wieder das auf dem vorbildlichen Verhalten ruhende Ansehen gemeint“367. Diese Konzentration auf weltlichen Ruhm machte den Begriff den geistlichen Autoren suspekt. Für die höfischen Dichter hingegen umfasste die êre alles, „was den Ritter in der Welt auszeichnete“ und sie haben ihr insofern einen zentralen Wert zuerkannt, „als sie die Forderung aufstellten, dass höfische Vollkommenheit sowohl den Geboten der christlichen Religion als auch den Erwartungen der Gesellschaft entsprechen müsste“368. Ähnlich wie bei der zuht spielt also auch bei der êre die soziale Komponente eine entscheidende Rolle, wodurch sich die literarische Ritterfigur immer wieder in abenteuerlichen Herausforderungen beweisen muss, um ihr gesellschaftliches Ansehen zu sichern. Vor allem in den Artusromanen wirkt der Ehrverlust als Motivationsmoment für ritterliche Heldentaten, in denen der Protagonist eine ganze Reihe von Tugenden demonstriert und damit seine Zugehörigkeit zum angesehenen Ritterstand legitimiert.

367 Friedrich Maurer: Tugend und Ehre (Anm.347), S.248. 368 Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.428. 75

4.5. Beidseitige Verpflichtung: triuwe

Ein Begriff, der eng mit der êre zusammenhängt, ist die triuwe. Von der engen Verbindung dieser beiden Begriffe zeugt einerseits der Umstand, dass sie in der mittelhochdeutschen Literatur häufig in formelhafter Kombination auftreten (triuwe und êre)369, bzw. manchmal gar synonym verwendet werden370. So bezeichnet etwa Helmut de Boor „Treue und Ehre“ als „die tragenden Grundbegriffe höfischer Ethik“371. Laut Sonja Zöller ragt die triuwe „unter den zahlreichen Eigenschaften, mit denen der ideale Ritter in der mittelhochdeutschen höfischen Dichtung ausgestattet wird, […] als höchste Tugend hervor“372. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem juristischen Bereich und bezeichnete „ein Verhältnis gegenseitiger Verpflichtung zwischen Partnern in Schuldenvertrag, Lehens- oder auch Familienverband“373. Klaus von See bezeichnet triuwe als den „wichtigste[n] ethische[n] Faktor im alten germanischen Recht“374 insofern, als dass sie als Grundlage jeglicher Form von Bündnis, Vertrag oder Übereinkunft im weitesten Sinne diente. Dementsprechend weitläufig gestaltet sich auch das semantische Feld der Wortfamilie:

Das mhd. Substantiv triuwe geht – vermutlich direkt – zurück auf germ. *trewwó, *truwo. Für die vorliterarische Zeit werden Grundbedeutungen mit rechtlichem Gehalt wie „Vertrag“, „feste Abmachung“, „Versprechen“, „Bündnis“, aber auch „Waffenstillstand“ angenommen und kennzeichnen damit ein gegenseitiges Verhältnis zweier Parteien. Ahd. Triuwa und mhd. triuwe sind etymologisch verwandt mit as. treuwa („Treue“, „Frieden“, „Bund“), mnd. trûwe („Treue“, „Wahrhaftigkeit“, „Redlichkeit“, „Eheversprechen“, „Verlobung“), aengl. trêow („Treue“, „Wahrheit“, „Glaube“, Versprechen“), anord. trû und got. triggwa („Bund“, „Bündnis“).375

Im weiten Sinn bedeutet triuwe in der mittelalterlichen Literatur „die Aufrichtigkeit und Festigkeit der Bindungen zwischen Menschen überhaupt, die Liebe zu Gott und die Liebe Gottes zu den Menschen. […] Für den Ritter bestand die triuwe im Einhalten sittlicher

369 Vgl. z.B. Eberhard Otto: Von der Abschließung des Ritterstandes. In: Arno Borst (Hg.): Das Rittertum im Mittelalter. Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S.128. 370 Vgl. Sonja Zöller: Triuwe gegen Kredit. Überlegungen zur mittelhochdeutschen Verserzählung Rittertreue. In: Silvia Bovenschen u.a. (Hg.): Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Berlin: de Gruyter 1997, S.58. 371 Helmut de Boor: Hövescheit. Haltung und Stil höfischer Existenz (Anm.278), S.382. 372 Ebd. S.58. 373 Ebd. S.58. 374 Zitiert nach Simone Schultz-Balluff: triuwe – Verwendungsweisen und semantischer Gehalt im Mittelhochdeutschen. In: Gerhard Krieger (Hg.): Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter. Berlin: Akademie Verlag 2009, S.273. 375 Ebd. S.274 – 275. 76

Verpflichtungen“376. Laut Otfried Ehrismann zählt sie zu den höchsten ritterlichen Tugenden (allein in Wolframs Parzival kommt das Wort über 200 Mal vor377, in den epischen Werken Gottfrieds und Hartmanns findet es sich ebenfalls häufig378), indem sie für die Identitätskonstitution des höfisch Erzogenen wesentlich war: „Die durch die triuwe gestiftete Identität bestand in der Verlässlichkeit (staete) der Person in Bezug auf ihren Charakter, sowie von ihr eingegangenen Bindungen und Verpflichtungen. Sie war an den höfischen Ehrenkodex gekoppelt“379. Dementsprechend wird etwa Iwein in der Schmährede von Lunete Treulosigkeit vorgeworfen380, als seine Verfehlungen öffentlich aufgezählt werden. Brandt betont in diesem Zusammenhang den semantischen Unterschied zum neuzeitlichen Verständnis des Begriffs Treue, der für gewöhnlich im Sinne einer persönlich-subjektiven Entscheidung verstanden wird. „Das mhd. Wort triuwe dagegen ist ein Rechtsterminus, der ein rechtlich geregeltes Verhalten meint, zu dem man verpflichtet ist. Iwein ist seiner Frau untreu geworden – nicht dadurch, dass er sie mit einer anderen Frau betrogen hätte, sondern dadurch, dass er den Vertrag hinsichtlich der Rückkehrpflicht mit ihr gebrochen hat“381. Wie im Falle der êre steht also auch das mittelalterliche Verständnis der triuwe der ursprünglichen Wortbedeutung als etwas Äußerliches, objektiv Vorhandenes, im Gegensatz zum individualisierten, psychologisierten und damit ins Innerliche verlegten Pendant im neuzeitlichen Sprachgebrauch, näher, wobei Karl-Friedrich Kraft allerdings auf Bedeutungserweiterungen hinweist, welche den Begriff im Laufe des Mittelalters zunehmend ethisch aufladen. Während im Althochdeutschen „der vertragsrechtliche Bezugsrahmen, die Gegenseitigkeit, soweit sie im Zusammenhang mit diesem steht, und das daraus abzuleitende Verhalten von Person zu Person“ 382 entscheidend sind und es auch während der mittelhochdeutschen Zeit bleiben, lässt sich darüber hinaus „die Tendenz zur Verwendung des Begriffs in absoluter Bedeutung zur Bezeichnung einer persönlichen Eigenschaft“383 beobachten. Kraft führt diese semantische Erweiterung auf Einflüsse aus dem klerikalen Bereich zurück: „in der geistlichen Dichtung der frühmittelhochdeutschen Zeit, im schillernden Wortgebrauch von triuwe als Bezeichnung für die Wahrhaftigkeit und Treue Gottes und seines Erbarmens im Erlösungswerk öffnet sich das Wort für einen neuen Bedeutungsgehalt“384. Auf den Einfluss der Kirche auf die ethischen

376 Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.418. 377 Vgl. Otfried Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne (Anm.279), S.213. 378 Vgl. Karl-Friedrich O. Kraft: Iweins Triuwe: Zu Ethos und Form der Aventiurenfolge in Hartmanns Iwein. Eine Interpretation. Amsterdam: Rodopi 1979, S.36. 379 Otfried Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne (Anm.279), S.213. 380 Vgl Hartmann von Aue: Iwein (Anm.215), S.59 (3207-08). 381 Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft (Anm.195), S.194. 382 Karl-Friedrich O. Kraft: Iweins Triuwe (Anm.374), S.40. 383 Ebd. S.43. 384 Ebd. S.45. 77

Ideale der miles christianus wurde bereits verwiesen und Gustav Ehrismann betont: „das rittertum ist durch die kirche erzogen worden, die formulierung seiner sittlichen begriffe steht unter dem einfluss des moralsystems der kirche“385. Somit ist es auch naheliegend, dass theologisch geprägte Wortbedeutungen ihren Eingang in die höfische Epik finden. Im religiösen Sinn ist triuwe in einer Formulierung von Walter Johannes Schröder „die positive Ich-Du-Beziehung ohne Bezug auf besondere soziologische Verhältnisse, die einfache angeborene sozialethische Anlage. Von ihr aus ist der Weg zur göttlichen triuwe leicht zu finden, weil Gott im Christlichen Person ist“386. In diesem Sinne definiert Otto Brunner das mittelalterliche Bild des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch in Analogie zu weltlichen Lehensverhältnissen, dass nämlich „Gottes Gnade […] in der Art eines weltlichen Treuverhältnisses verstanden [wird]“387. Diese religiöse Bedeutungskomponente von triuwe steht etwa bei Wolfram von Eschenbach im Vordergrund, als Trevrizent Parzivals Gottesbegriff korrigiert und alle konkreten irdischen Treueverhältnisse mit ihm in Verbindung setzt: „sie werden alle gleichsam an der göttlichen Treue gemessen, werden von göttlicher Treue erfüllt, haben teil an ihr. Alle Treue geht von Gott aus, ebenso wie alle Einsicht von ihm ausgeht“388. François Ganshof weist auf einen bereits angedeuteten Aspekt in der Herausbildung der triuwe als konstitutives Element der tugendhaften Rittergestalt hin: „Die Entwicklung der feudalen Beziehungen und die entscheidende Rolle der gegenseitigen Treue von Vasall und Lehensherr trugen viel zur Entstehung einer eigentümlichen Ritterethik bei, mit der Ehre als zentralem Gedanken, welcher außer Tapferkeit und Kampfesmut auch Verlässlichkeit, Ergebenheit und Opfersinn in sich begriff“389. Die ritterliche triuwe stellt somit einen Kreuzungspunkt unterschiedlicher kulturhistorischer Traditionen dar, der sich in den Worten von Kraft durch „das Nebeneinander von vertragsrechtlichem und ethisiertem Verständnis“ auszeichnet390, was sich in einem breiten Bedeutungsspektrum niederschlägt. Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm finden sich für den mittelhochdeutschen Begriff die Definitionen „mannheit, tapferkeit, ehrgefühl, standhaftigkeit, ritterlichkeit, liebe, güte, freundschaft, hingebung, ehrfurcht, dankbarkeit, freigebigkeit, barmherzigkeit, milde, gemeinsinn, vertrauen, pietät, verschwiegenheit, schamhaftigkeit, gottesfurcht, demut“391. Es gab, in einer Formulierung von

385 Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems (Anm.252), S.177. 386 Walter Johannes Schröder: Seinsethik und Normethik in Wolframs Parzival. In: Günter Eifler (Hg.): Ritterliches Tugendsystem. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S.368. 387 Otto Brunner Die ritterlich-höfische Kultur (Anm.296), S.154. 388 Walter Johannes Schröder: Seinsethik und Normethik in Wolframs Parzival (Anm.382), S.369. 389 François Louis Ganshof: Was ist das Rittertum? In: Arno Borst (Hg.): Das Rittertum im Mittelalter. Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S.137. 390 Karl-Friedrich O. Kraft: Iweins Treue (Anm.374), S.43. 391 Zitiert nach: ebd. S.37. 78

Sonja Zöller „offenbar […] keinen Gesellschaftsbereich, der nicht durch den Moralbegriff der triuwe überhöht wurde“392. Für Max Wehrli bezeichnet triuwe einen zentralen Begriff der höfischen Literatur, für den eine eindeutige alle semantischen Nuancen umfassende Definition nicht möglich ist, zumal sich darin mehrere Lebensbereiche der Ritterfigur kreuzen: „gesellschaftlich als Treue gegen den Dienstherrn, den Freund, die Dame, aber auf dem gemeinsamen Grund einer Erschlossenheit des innersten menschlichen Wesens, als Verlässlichkeit und Einheit der Person, zuletzt aber als ein Stehen in Gott, der selbe ein triuwe ist (Parzival)“393. Als kleinsten gemeinsamen Nenner der kontextabhängigen Ausformungen dieses facettenreichen Begriffs könnte man mit Sonja Zöller seine Bedeutung als „Bürgschaft oder persönliche Haftung, d.h. im Sinne absoluter Zuverlässigkeit von Vertragspartnern“ definieren394. Somit spielt also auch hier, wie bei zuht, mâze und êre die gesellschaftliche Komponente eine wesentliche Rolle. Laut Zöller ist die triuwe „die soziale Verhaltensweise schlechthin: wer nicht triuwelôs im Sinne von ehrlos und damit aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden will, muss sich der zwingenden Macht dieses Begriffs fügen, er muss die triuwe wahren“395.

392 Sonja Zöller: Triuwe gegen Kredit (Anm.366), S.58. 393 Max Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter (Anm.249), S.277. 394 Sonja Zöller: Triuwe gegen Kredit (Anm.366), S.58. 395 Ebd. S.58. 79

5. Zwischenresümee

Ein analytischer Vergleich der beiden narrativen Traditionen, die für die Verschriftlichung des Nibelungenliedes eine wesentliche Rolle spielen, bringt tiefgreifende Unterschiede sowohl formaler, als auch inhaltlicher Natur ans Licht. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden bisher einige der zentralsten Differenzen behandelt und sollen im Folgenden zur besseren Übersicht kontrastiv zusammengefasst werden.

Poetologisch steht der mündlichen Tradition von Heldendichtung mit ihren Heldenliedern und -sagen die dezidierte Schriftlichkeit des Ritterromans gegenüber. Diese findet ihren Ausdruck sowohl in intertextuellen Verweisen auf Stoffbearbeitungen durch andere Dichter, als auch in der selbstbewussten Vorstellung des Verfassers, der sich somit als Glied einer literarischen Tradition zu erkennen gibt. Im Gegensatz dazu bleiben die Autoren der seltenen Zeugnisse verschriftlicher Heldenepik in der Regel anonym, was vielmehr ein Selbstverständnis im Sinne des Sprachrohrs einer überindividuellen kulturellen Kollektivität impliziert.

Während Zeit und Ort der heldenepischen Handlung durch historische Bezüge zumeist einigermaßen klar definiert werden können, spielt sich der Ritterroman (vor allem die Artusdichtungen) oft in einer Parallelwelt ab, die sich kaum an historischen Überlieferungen festmachen lässt. Im Gegensatz zu den Ereignissen der Völkerwanderungszeit, deren Einfluss sich in der europäischen Heldendichtung etwa durch das Auftreten historischer Figuren wie Attila oder Dietrich von Bern manifestiert, sind für die Konstituierung des narrativen Rahmens in den Ritterromanen der matiere de Bretagne häufig Elemente aus der keltischen Mythologie entscheidend.

Der kontextuellen Fiktionalität gegenüber steht die Erziehungsfunktion der Ritterromane, die ihre Protagonisten als idealtypische Vorbilder höfischer Etikette entwirft. Während die Heldenepik „keinen Gedanken an Erziehung und Belehrung verschwendet“396, illustriert der Ritterroman anhand von plastischen Beispielen die Wichtigkeit von ethischen Grundsätzen und Verhaltenskonventionen.

Der mâze als zentrales Ideal des Ritters steht die hybris als wesentliches Charakteristikum des Helden gegenüber. Während in den Taten von Herakles, Achill, Odysseus oder Sigurd ihre das gewöhnliche Maß bei weitem übersteigende Körperkraft, Emotionalität, Klugheit und Tapferkeit zum Ausdruck kommt, stellt die mâze im Sinne der tugendhaften Ausgeglichenheit

396 Gert Kaiser: Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung (Anm.250), S.14. 80 geradezu das Fundament höfischer Ethik dar. Walthers Aufforderung, sich selbst emotionale Ausnahmezustände lediglich ze mâze anmerken zu lassen397, ließe sich Homers Schilderung von Odysseus´ Wiedersehen mit seinem Sohn Telemach nach 20 Jahren Irrfahrt gegenüberstellen: „sie weineten laut und klagender noch als die Vögel“398.

Während die Maßlosigkeit des Helden es schwierig macht, ihn in die auf gegenseitigem Konsens beruhende Struktur einer Gesellschaft zu integrieren, orientiert sich das ritterliche Tugendsystem stark an sozialen Werten. Dies wurde anhand der mittelalterlichen Konzepte von zuht, êre und triuwe illustriert, bei denen die gesellschaftliche Komponente von zentraler Bedeutung ist. Zusammen mit der idealisierenden Darstellungsweise höfischer Kultur (der Artushof als Utopie einer ehrhaften, gerechten Gemeinschaft, Erec und Iwein als idealtypische Herrscher) lässt sich somit von einer gesellschaftlichen Stabilisierungstendenz im Ritterroman sprechen.

Bereits dieser schlaglichtartige Überblick über einige der wesentlichsten Aspekte von Heldendichtung und Ritterroman macht tiefgreifende Unterschiede in formeller wie inhaltlicher Hinsicht deutlich. Im Folgenden soll untersucht werden, wie die Integration dieser heterogenen, teils auch widersprüchlichen Elemente im Nibelungenlied funktioniert.

397 Vgl. S.59 der vorliegenden Arbeit. 398 Homer: Odyssee (Anm.57), S.648 (16, 216). 81

6. Das Nibelungenlied im Kontext narrativer Identitätskonstitution

Auf die Hybridität des Nibelungenliedes wurde im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit bereits eingegangen. Die tiefe Verwurzelung in heldenepischen Traditionen einerseits, sowie die Verschriftlichung im historischen Kontext des Ritterromans andererseits führten zu einem heterogenen Werk, das sich unter dem sezierenden Blick wissenschaftlicher Analyse wie ein kulturhistorisches Kaleidoskop verhält, indem seine überwältigende, mitunter auch irritierende Gesamtwirkung auf die Inkongruenz einzelner Aspekte sprachlicher, stilistischer oder auch inhaltlicher Art zurückgeführt werden kann. So ist ein Werk dieses Umfangs in seiner Gesamtheit ohne Verschriftlichung kaum denkbar; in ihrer Form gemahnt die Nibelungenstrophe dennoch an den mündlichen Vortrag in der Tradition des Heldenliedes. Ebenfalls in dieser Tradition zu verorten ist der anonyme Dichter, der hinter das Werk zurücktritt und es vielmehr als etwas natürlich Gewachsenes, denn als Produkt eigener Kreativität präsentiert; trotzdem finden sich im Epos immer wieder Spuren persönlicher Wertungen, wie man sie auch aus der höfischen Dichtung kennt. Was jedoch vielleicht am stärksten ins Auge fällt, ist der ausgesprochen pessimistische Grundton, welcher das gesamte Werk von den unheilvollen Vorahnungen in der ersten Aventiure bis zur endgültigen Zerstörung des höfischen Gesellschaftssystems in der letzten durchzieht und der in einem markanten Widerspruch zu der optimistischen Gesellschaftsutopie, wie sie etwa in der Arthusepik entworfen wird, steht. Nichtsdestotrotz entfaltet sich die Handlung im Rahmen der höfischen Welt und umfangreiche Schilderungen von Festen, Turnieren, Reichtümern und Kleidern (die so genannten „Schneiderstrophen“399) machen einen Großteil des Textes aus.

Während es keine großen Schwierigkeiten bereitet, stilistische oder allgemein inhaltliche Aspekte in Hinblick auf ihre jeweiligen narrativen Traditionen zu erkennen und analysieren, wirken Inkonsistenzen und Brüche in einzelnen Figuren besonders irritierend. Von der Figurencharakterisierung in epischen Texten wird gemeinhin Stimmigkeit und Konsistenz erwartet, Abweichungen werden schnell als unpassend, bzw. fehlerhaft gewertet. Dementsprechend wird die Heterogenität der Personalidentitäten im Nibelungenlied immer wieder als Makel wahrgenommen. So haben laut Walter Johannes Schröder die Figuren „keine Einheit, keinen bestimmten Charakter“ und trotz „aller Lebensnähe der dichterischen Darstellung etwas Starres, Unwirkliches“400. Karl Bischoff sieht in den Gestalten des

399 Vgl. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.57. 400 Zitiert in: Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung. München: Verlag C.H. Beck 2002, S.218. 82

Nibelungenlieds „keine wirkliche[n] Personen“ im Sinne von „unverwechselbare[n] Charaktere[n], sondern vielmehr „auf dem Spielfeld der Dichtung verschiebbare Figuren“, die lediglich im Kontext des widersprüchlichen Gesamtwerks funktionieren würden401. Auch für Bert Nagel sind die Akteure des Epos „keine streng durchgeführten Charaktere […], sondern Figuren, die zwar einer Grundlinie folgen, aber auch einmal ganz anders sprechen und handeln können, als man von ihnen erwartet“, wodurch sie „nur als poetische“ denkbar seien402. Ein Erklärungsmodell, wonach es sich bei den Figuren im Grunde um heroische Archetypen handle, die nachträglich und oberflächlich höfisiert worden seien, greift nach Nagel zu kurz, „vielmehr ist hier beides, das Altheroische und das Höfisch-Ritterliche ernst genommen“403. Gerade diese Einheit des Widersprüchlichen in den einzelnen Figuren wird in der Forschung oft problematisiert: Jan-Dirk Müller spricht etwa von „Reparaturversuche[n]“, die „punktuell [bleiben]“ und „[sich] widersprechen“404, wenn er über die nur suboptimal geglückte Synthetisierung von heroischen und ritterlichen Eigenschaften in Figuren wie Siegfried oder Hagen schreibt. In ähnlicher Weise betrachtet Hans-Jochen Schiewer das Werk offenbar als pathologischen Fall, wenn er ihm „schmerzliche […] Büche in der Motivationsstruktur“, attestiert, die „auf der Erzählerebene nicht geheilt werden“405 und Joachim Heinzle sieht die Aufgabe des Dichters, aus der „Überlieferung einen literarischen Text zu konstruieren“ als gescheitert an406.

Eine Frage, die sich im Umgang mit einem Text, der in zeitlicher Ferne entstanden ist, immer stellt, ist jene der Angemessenheit der angewendeten Kriterien aktueller Literaturkritik. Werke, die diesen Kriterien nicht entsprechen (wollen), werden leicht als defizitär, bzw. rückständig bewertet. So wunderte sich etwa bereits Jacob Grimm 1835 in einem Überblick über die mittelalterliche Literatur: „man möchte die Nibelungen in eine ganz andere zeit setzen als den Parzifal und Tristan, und doch sah sie Deutschland beinahe zugleich erscheinen“407. Die Zeitgenossenschaft des erratischen Blocks in der literarischen Landschaft des Mittelalters408 mit zwei der prominentesten und elaboriertesten Beispiele des höfischen Romans wird hier als rätselhaft und irritierend empfunden, zu groß scheint die Diskrepanz in narrativer Struktur,

401 Karl Bischoff: Die 14. Aventiure des Nibelungenliedes. Wiesbaden: Steiner 1970, S.3. 402 Bert Nagel: Das Nibelungenlied: Stoff – Form – Epos. Frankfurt am Main: Hirschgraben-Verlag 1970, S.217. 403 Zitiert in: Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.219. 404 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.85. 405 Hans-Jochen Schiewer „Das Nibelungenlied als Hofroman“ S.58. 406 Joachim Heinzle: Das Nibelungenlied (Anm.8), S.65. 407 Zitiert in: Ulrich Wyss: Nibelungische Irritationen. Das Heldenepos in der Literaturgeschichte. In: John Greenfield (Hg.): Das Nibelungenlied. Actas do Simpósio Internacional. 27 de Outubro de 2000. De Gruyter: Porto 2001, S.172. 408 Vgl. Max Wehrli: Die „Klage“ und der Untergang der Nibelungen (Anm 12), S.97. 83

Dramaturgie und Charakterzeichnung. Ulrich Wyss führt in diesem Zusammenhang einen „fundamentalen Gattungsdualismus von Epos und Roman“ an, in dem ersteres „eine heroische Welt heraufbeschwört“, während zweiterer „mit seinen Abenteuern und dem Helden auf der Suche nach […] dem Sinn des Lebens“ einen linearen Handlungsverlauf skizziert409. Dementsprechend gelten auch unterschiedliche Kriterien für Struktur, Handlung und Figuren. Jan-Dirk Müller konstatiert für das Epos „eine Tendenz zur isolierenden szenischen Ausarbeitung“410, die sich in vielfältiger Weise der Forderung nach figuraler Konsistenz über den gesamten Handlungsverlauf hinweg, widersetzt. Anstelle der widerspruchslosen Einheit von Figuren geht es im Epos vielmehr um ein funktionales, demonstratives Erzählen, welches dazu auffordert, „Anforderungen an narrative Schlüssigkeit, wie sie eine entwickelte Schriftkultur als scheinbar selbstverständlich voraussetzt, zu suspendieren“411. Auch Florian Kragl und Christian Schneider attestieren der Heldenepik „eine eigene Logik heroischen Erzählens“, die auf das Prinzip „linear plausibler Verknüpfung […] zugunsten der Überlagerung und Aggregation divergenter Situations- und Handlungselemente“ verzichtet412. Die Handlungen und Situationen definieren somit die Figuren, statt umgekehrt. Vom Roman hingegen wird erwartet, dass sich die Situationen konsequent aus der charakterlichen Disposition seiner Figuren entwickeln:

Wird etwas erzählt, so muss es einen Zusammenhang ergeben, der sich nacherleben lässt; das Publikum muss mitphantasieren können. Statt schroffer Antithesen mit absolutem Anspruch sind jetzt die Übergänge gefragt; dialektische Vermittlungen und Zweideutigkeiten, seelischer Zwiespalt und innerweltliche Tragik, Abenteuer und Gefühle konstituieren die […] Welt der Epik.413

Ulrich Wyss weist in diesem Zusammenhang auf den bemerkenswerten Umstand hin, dass frühe Romane häufig Legendenmotive aufgreifen, was in zweifacher Hinsicht paradox erscheint: einerseits werden sakrale Motive für eine profane Erzählung bearbeitet und andererseits gilt es, „das einzelne Heiligenleben aus seiner peinlichen Kontingenz zu erlösen“, um es „heilsgeschichtlich bedeutsam zu machen“414. Hier wird also quasi ein metaphysischer Rahmen geschaffen, in dem sich die einzelnen Episoden des Heiligenlebens wie Mosaiksteine

409 Ulrich Wyss: Nibelungische Irritationen (Anm.403), S.175. 410 Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang (Anm.16), S.92. 411 Ebd. S.72. 412 Florian Kragl, Christian Schneider: Einleitung. In: Florian Kragl, Christian Schneider (Hg.): Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. Bis 19. Februar 2011. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2013, S.10. 413 Ulrich Wyss: Legenden. In: Volker Mertens, Ulrich Müller (Hg.): Epische Stoffe des Mittelalters. Stuttgart: Kröner 1984, S.49. 414 Ebd. S.50. 84 zu einem sinnvollen Ganzen fügen sollen. Fehlt, wie im Nibelungenlied, ein solcher Rahmen, stehen die Episoden mitunter unvermittelt nebeneinander, was hinsichtlich der Figurencharakterisierung irritierend wirken kann. Fritz Peter Knapp führt als eines der auffälligsten Beispiele Hagens Bericht über die heroische Jugend Siegfrieds an, der in klarem Widerspruch zu seiner höfisch behüteten Kindheit, wie sie in der zweiten Aventiure geschildert wird, steht. Die Diskrepanz zwischen den beiden Siegfriedbildern ist „so eklatant, dass [sie] wohl nur absichtlich stehen gelassen worden sein kann“415 und als Erklärungsmodell bietet sich jene Form der funktionalen Charakterisierung an, die bereits erwähnt wurde. Knapp betont die narrative Unabdingbarkeit der „heroischen Abenteuer Siegfrieds, Gewinn des Hortes, Sieg über den Drachen, Erwerb der Hornhaut für die weitere Handlung“ bei aller inhaltlichen Inkonsistenz416. Man hat es hierbei also mit einem Verständnis von Figurencharakterisierung zu tun, das sich fundamental vom Paradigma des Romans mit seiner Forderung nach Widerspruchsfreiheit und Konsistenz im Umgang mit Figurenidentität unterscheidet.

Wie jedes literarische Werk entsteht auch jeder Kommentar dazu in einem spezifischen kulturhistorischen Kontext. In Bezug auf das Nibelungenlied ist es erstaunlich, dass sich die Irritation über die Heterogenität seiner Figuren hartnäckig über Jahrhunderte hinweg gehalten hat. Die Akzentuierung gewisser charakterlicher Eigenschaften von Hagen und Kriemhild in der Handschrift *C impliziert, dass die moralische Ambivalenz dieser Figuren bereits für das zeitgenössische Publikum irritierend gewesen sein muss417. Indem die Treulosigkeit und Falschheit Hagens in den Vordergrund tritt, wird die Diskrepanz zwischen seiner Rolle als Siegfrieds Mörder im ersten Teil und als „helflicher trôst“418 der Burgunden im zweiten Teil leichter erträglich. Doch auch neuzeitliche Kommentatoren stoßen sich an der Heterogenität der Figuren: das zitierte Urteil von Bischoff stammt aus dem Jahr 1970, das von Müller aus 2015. In beiden Fällen wird impliziert, dass der Autor an seiner herkulischen Aufgabe, zwei unterschiedliche literarische Traditionen in einem konsistenten Werk zu vereinen, gescheitert sei. Eine Kritik dieser Art beruht auf der zunächst banal anmutenden Prämisse, dass ein Werk das Produkt seines Autors ist und sich seine Wirkung auf den Rezipienten restlos auf das Gelingen (oder auch Nichtgelingen) der literarischen Umsetzung seiner Ideen zurückführen lässt. Die Bedeutung wird somit vom Autor konstituiert, der sie in den Text einarbeitet. Dieser

415 Fritz Peter Knapp: Kausallogisches Erzählen unter den weltanschaulichen und pragmatischen Bedingungen des 12. Und 13. Jahrhunderts. In: Florian Kragl, Christian Schneider (Hg.): Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. Bis 19. Februar 2011. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2013, S.205. 416 Ebd. S.204. 417 Vgl. Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.175. 418 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.443 (1523). 85 hermeneutische Ansatz basiert auf der Annahme, dass Bedeutung etwas ist, „das der Text enthält und das ihm durch mehr oder weniger geschickte Manipulationen abgeluchst werden kann wie einem Tresor sein Schatz durch den Dieb“419. Dieses autorenzentrierte Paradigma wurde in der Literaturtheorie durch rezeptionsästhetische Ansätze in den 1960er Jahren in Frage gestellt, indem die Bedeutungskonstitution bei der Rezeption literarischer Werke als dynamischer Wechselwirkungsprozess zwischen Text und Leser verstanden wurde. So besteht der Lesevorgang etwa nach Wolfgang Iser einerseits „aus der Gegebenheit einer komponierten Textgestalt, die andererseits erst durch die im Leser verursachten Reaktionen zur Wirkung gelangt“, was zur Folge hat, dass „Bedeutungen literarischer Texte […] überhaupt erst im Lesevorgang generiert [werden]“420. Ein hermeneutisches Erklärungsmodell, welches die Irritationen, die das Nibelungenlied hervorruft, ausschließlich auf Verfehlungen des Autors zurückführt, wäre demnach nur die eine Seite der Medaille. Auf diese Weise soll die Gebrochenheit seiner Figuren natürlich nicht wegdiskutiert werden, schließlich steht sie im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Sie soll vielmehr als wesentliche literarische Qualität des Werkes wahr- und ernstgenommen, und nicht durch die Unterstellung einer Überforderung des Autors argumentativ neutralisiert werden.

Ähnlich wie das Verständnis von Textrezeption ist auch die Konstitution literarischer Identität (bzw. deren Bewertung) in einem kulturhistorischen Kontext zu verstehen. Traditionell wurde von narrativen Identitätskonstruktionen Konsistenz verlangt. Heinz Abels weist auf die positive alltagssprachliche Konnotation des Begriffs hin, welche dem Individuum „Charakterstärke und die Überzeugung [zuschreibt], dass es im Großen und Ganzen so ist, wie es ist und dass es im Kern auch immer so gewesen ist und sein wird“421. Diese Definition der Identität als charakterlicher Fels in der Brandung ist auf die etymologische Wurzel des Begriffs, identitas, zurückzuführen, welche „die vollkommene Gleichheit“ bezeichnet und ursprünglich „auf die engen Bezirke der spekulativen Metaphysik und formalen Logik“ beschränkt war422. Im

419 Gerhard Härle Grundlagen des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: Marcus Steinbrenner, Johannes Mayer, Bernhard Rank (Hg.): Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander: Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs in Theorie und Praxis. Hohengehren: Schneider Verlag, 2011, S.42. 420 Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. In: Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Wilhelm Fink Verlag 1975, S.229. 421 Heinz Abels: Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S.248. 422 Walter Reese-Schäfer: Einleitung. In: Walter Reese-Schäfer (Hg.): Identität und Interesse. Der Diskurs der Identitätsforschung. Wiesbaden: Springer 1999, S.14. 86 narrativen Kontext gilt eine Figur für gewöhnlich als plausibel, wenn sie in ihren Gedanken und Handlungen konsistent ist und Widersprüchlichkeiten vermieden werden.

Demgegenüber steht das Konzept einer variablen Identität, die sich nicht mehr auf eine klar definierbare Palette von fixierten Charaktereigenschaften reduzieren lässt. Bereits in den neunziger Jahren attestiert Wolfgang Welsch in seinem Aufsatz Identität im Übergang das Ende von homogenen, monolithisch verstandenen Identitätskonzepten423, während Joachim Renn und Jürgen Staub vor einem „übereinfachten Identitätsbegriff“ warnen, dem sie eine „transitorische Identität“ entgegenstellen, um damit der Dynamisierung unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen424. Identität in diesem Sinne verstanden ist keine rigide Entität, sondern vielmehr ein dynamischer Prozess, in dem sich mannigfaltige Entwicklungen im soziologischen und kulturhistorischen Bereich spiegeln. Stefan Neuhaus führt die abnehmende Verbindlichkeit des Identitäts-Begriffs auf historisch/politische Entwicklungen im Laufe des 20. Jahrhunderts zurück: „nach dem Zusammenbruch der großen Ideologien und der Entwicklung einer pluralistischen, marktorientierten Gesellschaft fehlen verbindliche Sinnstiftungssysteme“425 und Wolfgang Kraus sieht darin ein „Zeichen unserer Zeit, in der es nicht mehr möglich ist, sie [die Identität] dauerhaft zu sichern“426. Identität ist somit ein dynamischer, vielschichtiger Begriff geworden, der sich einer fasslichen, fixierenden Definition leicht entzieht. Neuhaus schreibt hierbei gerade der Literatur eine Schlüsselrolle zu: „literarische Texte leisten einen zentralen Beitrag zur Identitätsbildung, weil sie permanent Identitätsbildungsprozesse durchspielen“427. Identität wird somit in erster Linie als potentiell unabschließbarer Prozess verstanden. Als besonders einflussreich für die Literatur haben sich in diesem Zusammenhang die Theorien des Physikers und Philosophen Ernst Mach erwiesen, in denen Identität als sich ständig verändernder, dynamischer Komplex unterschiedlicher Elemente verstanden wird: „Das Ich ist keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit“428, sondern ein temporärer

423 Vgl. Wolfgang Welsch: Identität im Übergang. Philosophische Überlegungen zur aktuellen Affinität von Kunst, Psychiatrie und Gesellschaft. In: Otto Benkert, Peter Gorsen (Hg.): Von Chaos und Ordnung der Seele: Ein interdisziplinärer Dialog über Psychiatrie und moderne Kunst. Heidelberg: Springer 1990, S.91-106. 424 Joachim Renn /Jürgen Staub: Transitorische Identität In: Joachim Renn, Jürgen Straub (Hg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt am Main: Campus 2002, S.13. 425 Stefan Neuhaus: Literatur und Identität. Zur Relevanz der Literaturwissenschaft. In: Christine Magerski, Svjetlan Lacko Vidulić (Hg.): Literaturwissenschaft im Wandel. Aspekte theoretischer und fachlicher Neuorganisation. Wiesbaden: VS Research 2009, S.82. 426 Wolfgang Kraus: Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer narrativen Identität. In: Joachim Renn, Jürgen Straub (Hg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt am Main: Campus 2002, S.160. 427 Stefan Neuhaus: Literatur und Identität (Anm.411) S.90. 428 Ernst Mach: Antimetaphysische Bemerkungen. In: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Jena: Fischer Verlag 1919, S.141. 87

„Zusammenhang der Elemente“429. Sein daraus resultierendes Schlagwort „Das Ich ist unrettbar“430 fand über Schriftsteller wie Hermann Bahr Eingang in die Literaturszene am Anfang des 20. Jahrhunderts und stellte sich im weiteren Verlauf der Literaturgeschichte als überaus wirkungsmächtig heraus.

Auch im narrativen Kontext ist also der oben erwähnte Fels in der Brandung brüchig geworden und postmoderne Autoren wie Flann O’Brien spielen gekonnt mit den Erwartungshaltungen an konsistente Figurencharakterisierungen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob jene Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit, die dem Nibelungenlied immer wieder als Makel angelastet wird, nicht etwas ungeheuer Modernes darstellt: Die Grenzen zwischen archaischem Heldentum und höfischer Ritterlichkeit verschwimmen, die beiden Pole widersprechen einander oft sogar in ein und derselben Figur und verhindern damit die bequeme Kategorisierung unter dem einen oder anderen Überbegriff.

An dieser Stelle soll betont werden, dass sowohl hermeneutische, als auch postmoderne Interpretationsansätze im Kontext eines mittelalterlichen Werkes natürlich hoffnungslos anachronistische Unterfangen darstellen. Doch es geht hier weniger um den Vorrang, bzw. die höhere Angemessenheit dieses oder jenes Ansatzes, sondern vielmehr um die Bewusstmachung ihrer Relativität zugunsten einer stärkeren Fokussierung auf das infrage stehende Werk. Jegliche Bezugnahme auf ein literarisches Werk erfolgt notwendigerweise aus einer bestimmten kulturhistorischen Situation heraus und damit unter einem spezifischen ästhetischen Paradigma. In diesem Sinne kann einer essentialistisch geprägten Kritik an der Widersprüchlichkeit einzelner Elemente des Nibelungenlieds nicht mehr Plausibilität zugesprochen werden als einem Ansatz, der gerade darin das Potential für die Anknüpfung an aktuelle Diskurse sieht, worauf auch Christian Schneider hinweist: „bei näherem Hinsehen zeigt sich schnell, dass etwa die Kriterien einer kausal und/oder psychologisch stimmigen Verknüpfung der Handlungselemente […] gerade in moderner Literatur oft enttäuscht werden“431.

429 Ebd. S.139. 430 Ebd. S.142. 431 Christian Schneider: Narrationis contextus. Erzähllogik, narrative Kohärenz und das Wahrscheinliche in der Sicht der hochmittelalterlichen Poetik. In: Florian Kragl, Christian Schneider (Hg.): Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. Bis 19. Februar 2011. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2013, S.157. 88

Im Folgenden soll jedoch das Werk selbst im Mittelpunkt der Untersuchung stehen und es wird auf einzelne Figuren, die für eine Analyse hinsichtlich ihrer heroischen/ritterlichen Charakterisierung von besonderem Interesse sind, eingegangen.

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6.1. Rüdiger von Bechelaren

Wenngleich Rüdiger von Bechelaren nicht zu den Hauptfiguren des Nibelungenliedes gezählt werden kann, spielt er als Etzels Gefolgsmann und Brautwerber eine wesentliche Rolle in der Vermittlung der beiden Teile des Epos. In seiner Gestalt erstrahlt das ritterliche Tugendsystem in besonderer Weise, indem sich in seinen Handlungen zentrale gesellschaftliche Werte des Mittelalters, wie triuwe, êre oder milte ausdrücken. Ursula Schulze definiert ihn als „höfischen Ritter par excellence“432 und er wird im Text als „riter ûzerkorn“433 und gar als „vater maneger tugende“434 bezeichnet. Laut Norbert Voorwinden begleitet das Epitheton der guote neunmal seinen Namen und kann damit als besonders charakteristisch gelten435. Doch trotz (oder vielleicht gerade wegen) aller höfischen Vorbildlichkeit personifiziert Rüdiger nach Jochen Splett als gebrochene Figur vor allem in ihrem Gewissenskonflikt in der 37. Aventiure einen wesentlichen Aspekt des hybriden Epos436.

Rüdiger tritt zum ersten Mal in der 20. Aventiure auf. Bereits hier werden der Edelmut und die Freigebigkeit des Markgrafen betont: Als Etzel ihn für die Brautwerbung mit Reichtümern aus seiner Schatzkammer ausstatten will, verzichtet er darauf mit den Worten:

gerte ich dînes guotes, daz wære unlobelich.

ich wil dîn bote gerne wesen an den Rîn

mit mîn selbes guote, daz ich hân von der hende dîn437

Im Gegensatz zu den Boten Wärbel und Swemmel, die nicht zögern, das Angebot des Königs anzunehmen438, verzichtet Rüdiger großmütig darauf. Hier klingen bereits zwei wesentliche Elemente an, welche für Rüdiger bis zu seinem Tod in der 37. Aventiure charakteristisch bleiben werden: einerseits ist es seine milte, die etwa im Rahmen des Aufenthalts der Nibelungen in Bechelaren auf ihrem Weg zu Etzels Hof ausgiebig geschildert wird (27. Aventiure). Andererseits ist es seine triuwe gegenüber Etzel, die ihn am Ende dazu bringen wird, gegen seine Freunde, mit denen er seit der Vermählung seiner Tochter mit Giselher auch

432 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.162. 433 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.620 (2146). 434 Ebd. S.636 (2199). 435 Norbert Voorwinden: Zur Herkunft der Rüdiger-Gestalt im Nibelungenlied. In: Arend Quak, Florus van der Rhee (Hg.): Palaeogermanica et Onomastica. Festschrift für J.A. Huisman zum 70. Geburtstag. Amsterdam: Rodopi 1989, S.261. 436 Vgl. Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren. Studien zum zweiten Teil des Nibelungenliedes. Heidelberg: Winter 1968, S.24. 437 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.336 (1150). 438 Vgl. ebd. S.412 (1418). 90 verwandtschaftlich verbunden ist, zu kämpfen und in diesem Kampf zu fallen. Obgleich er ein mächtiger Markgraf ist und hoch in der Gunst seines Lehnsherrn Etzel steht, scheint ihm das Streben nach persönlichem Ruhm fremd zu sein, vielmehr ist er stets bemüht, seine Aufgaben als höfischer Diplomat im Sinne seines Auftraggebers zu erfüllen. Als Etzel eine Werbung um Kriemhild in Erwägung zieht, gibt er ihm bereitwillig Auskunft über den Wormser Hof und die burgundischen Könige, die er nach eigenen Angaben schon lange kennt.

Interessanterweise betont er in Zusammenhang mit Kriemhild als erstes ihre Liebe zu Siegfried („si was in edelen minnen Sîfride undertân“439) mit besonderem Nachdruck. Splett interpretiert Rüdigers Hinweis als Sorge um die êre seines Lehnsherrn: Zumal Kriemhild mit Siegfried einen vorbildlichen, edlen Mann verloren hat, besteht die Möglichkeit, dass sie Etzel abweisen könnte, was natürlich seinem Ansehen schaden würde440. Als tugendhaften Ritter ist ihm die êre seines Lehnsherren ein zentrales Anliegen und von Anfang an zeigt er seine Qualitäten als höfischer Diplomat.

Gleichzeitig wird aber auch eine intime Vertrautheit Rüdigers mit dem burgundischen Hof impliziert: „ich hân erkant von kinde di edelen künege hêr“441. Dieses Motiv wird jedoch in weiterer Folge nicht konsequent aufrechterhalten, denn bei seiner Ankunft in Worms kennt Gunther Rüdiger nicht und fragt, wer der Fremde sei442. Nur mit Hagen verbindet Rüdiger offenbar eine alte Bekanntschaft, worauf auch beim Empfang der Burgunden in Bechelaren angespielt wird443. Nachdem er erkannt worden ist, wird er am Wormser Hof jedenfalls überaus herzlich empfangen: Hagen eilt ihm zur Begrüßung entgegen und Gunther erlaubt ihm, den Grund seines Kommens ohne vorherige Befragung durch seine Ratgeber vorzutragen, was als besondere Ehrerbietung verstanden werden kann444. Nach seiner Ankunft stellt Rüdiger sogleich sein diplomatisches Geschick unter Beweis: als die Rede auf Kriemhild und ihre Trauer um Siegfried kommt, wählt er seine Worte mit Bedacht: „Man sagt mînem herren, Kriemhilt sî âne man, her Sîfrit sî erstorben […]“445. Damit wählt er eine neutrale Formulierung, „um nicht die Erinnerung an die düstere Mordtat heraufzubeschwören“446. Seine Diplomatie und Neutralität führen aber auch zu einer gewissen Naivität, als er in seinem Gespräch unter

439 Ebd. S.336 (1154). 440 Vgl. Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren (Anm.436), S.45. 441 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.334 (1144). 442 Ebd. S 342 (1174). 443 Vgl. ebd. S.480 (1654). 444 Vgl. Regina Toepfer: Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S.213. 445 Das Nibelungenlied (Anm.10), (1196). 446 Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren (Anm.436), S.48. 91 vier Augen Kriemhild von der Heirat überzeugt, wobei allein schon der Umstand, dass sie ihn trotz ihrer offensichtlichen Trauer empfängt, für eine besondere Wertschätzung spricht447. Wie bereits bei der Täuschungshandlung auf Isenstein448 spielt die Kleidersymbolik hierbei eine entscheidende Rolle. Kriemhild empfängt Rüdiger in ihrer alltäglichen Trauerkleidung und verstärkt deren Wirkung durch ihre Tränen, die sie nach wie vor um Siegfried vergießt, was sie in Hinblick auf ihre Vorbehalte gegen die Hochzeit auch zum Ausdruck bringt („jâ verlôs ich ein den besten, den ie vrouwe gewan“449). Damit sind jene Bedenken, die Rüdiger Etzel gegenüber geäußert hat, bestätigt, was ihn als weitsichtigen Menschenkenner erscheinen lässt. Paradoxerweise interpretiert er jedoch den folgenden Wandel in Kriemhilds Haltung völlig falsch: anstelle der von ihm in Aussicht gestellten Überwindung ihrer Trauer durch einen Neuanfang erblickt sie in der Brautwerbung des hunnischen Königs ihre Chance auf Rache.

Die Schlüsselstelle dieser Szene ist laut Bettina Geier Rüdigers Angebot, „Etzel werde ihr Leid ergetzen“450. Während der tugendhafte Werber damit das ehrenvolle Leben an Etzels Hof meint, erkennt Kriemhild darin die lange ersehnte Möglichkeit, als mächtige Königin die Mörder Siegfrieds zur Rechenschaft zu ziehen. Die Art und Weise, wie sie sich im Laufe der Unterhaltung immer zugänglicher für Rüdigers Argumente zeigt, gehört zu den feinsten psychologischen Beschreibungen des gesamten Epos. Um sie vollends für die Hochzeit einzunehmen, schwört er ihr am Ende jenen Eid, der ihm in der 37. Aventiure zum Verhängnis werden soll451: „Sie [Kriemhild] weiß genau, dass sich dieser redliche Mann nicht als Werkzeug ihrer Rache missbrauchen lassen würde. Weil dieser den verborgenen Grund ihres Gesinnungswandels nicht ahnt, kann er die Zweideutigkeit ihrer Worte nicht durchschauen“452.

Diese Diskrepanz zwischen diplomatischem Geschick einerseits und Naivität in Bezug auf die Zweideutigkeit von Kriemhilds wachsender Zugänglichkeit andererseits wird etwa von Werner Hoffmann thematisiert:

Die Ahnungslosigkeit […] zieht ihn […] erbarmungslos in den Sog des Verderbens hinein, in den er zwar schuldlos geraten ist, […] aber doch nicht ohne eigenes Dazutun, insofern man gerade von jemandem in diplomatischer Mission Spürsinn für Hintergründe und untergründige Motive erwarten sollte. Nicht ohne Berechtigung hat man von einer „tragischen Schuld“ Rüdigers gesprochen.453

447 Vgl. Regina Toepfer: Höfische Tragik (Anm.429), S.212. 448 Siehe dazu S.102 ff. der vorliegenden Arbeit. 449 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.358 (1230). 450 Bettina Geier: Täuschungshandlungen im Nibelungenlied. Ein Beitrag zur Differenzierung von List und Betrug. Göppingen: Kümmerle 1999, S.140. 451 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.366 (1255). 452 Bettina Geier: Täuschungshandlungen im Nibelungenlied (Anm.435), S.52. 453 Zitiert in: Regina Toepfer: Höfische Tragik (Anm.429), S.227. 92

Allerdings muss hierbei angemerkt werden, dass von Schuld im Sinne einer moralischen Verfehlung keineswegs die Rede sein kann. Vielmehr scheint Rüdiger die Abgebrühtheit zu fehlen, um die Zweideutigkeit von Kriemhilds Äußerungen zu durchschauen. Man könnte dem Autor an dieser Stelle leicht vorwerfen, in seiner Figurenzeichnung inkonsequent vorgegangen zu sein, indem er den souveränen Diplomaten in dieser wichtigen Situation naiv erscheinen lässt. Mit der gleichen Berechtigung könnte man allerdings diese Naivität jedoch auch als folgerichtig bezeichnen: Für den tugendhaften Rüdiger, der während des gesamten Epos „weder vom Erzähler, noch von den Figuren […] je des übermäßigen Ehrgeizes oder eines gottlosen Verhaltens bezichtigt [wird]“454, wäre Kriemhilds Racheabsicht und der triuwe-Bruch an den engsten Verwandten unvorstellbar, weshalb er gar nicht auf die Idee einer Doppeldeutigkeit von ergetzen kommen würde. Dazu passt auch die Verwunderung Dietrichs von Bern ob Rüdigers Ignoranz, die in der 28. Aventiure erwähnt wird („er wând ez wiste Rüedegêr“455): erst als Kriemhilds Plan konkrete Formen annimmt und die Aggression auf beiden Seiten offensichtlich wird, erkennt auch er, was gespielt wird und gerät somit in den Gewissenskonflikt zwischen seinem Lehnsherrn Etzel und seinen vrieunden. In Hinblick auf den weiteren Handlungsverlauf ist Rüdigers Naivität im Gespräch mit Kriemhild jedenfalls funktional, indem er als Etzels Gesandter die Voraussetzungen für ihre Rache schafft, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Die Freundschaft zwischen Rüdiger und den Burgunden wird im Rahmen ihres Aufenthalts auf seiner Burg in der 27. Aventiure betont und sowohl durch die Vermählung seiner Tochter mit Giselher, als auch durch die Geschenke, die er ihnen mit auf den Weg gibt, besiegelt. Der Umstand, dass die burgundischen Könige die Geschenke von einem Vasallen Etzels annehmen, kann bereits als hohe Wertschätzung Rüdigers verstanden werden456. Gunther bekommt bei dieser Gelegenheit eine Rüstung, Volker 12 Armreife, Hagen den Schild von Rüdigers gefallenen Sohn Nudung und Gernot jenes Schwert, mit dem er Rüdiger erschlagen wird. Dass die Gastfreundschaft und Großzügigkeit des Markgrafen immer wieder mit unheilvollen Vorausdeutungen in Verbindung gebracht wird457, impliziert bereits die Tragik dieser Figur zwischen Freundschaft und Pflichterfüllung. In diesem Sinne sind auch seine Gaben in zweifacher Hinsicht zu verstehen: Einerseits sind sie Ausdruck von unbefangener Freigiebigkeit, wie es besonders bei Hagens Schild zum Ausdruck kommt. Neben seiner stark

454 Ebd. S.228. 455 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.489 (1720). 456 Vgl. Siegfried Grosse: Kommentar. In: Ursula Schulze (Hg.): Das Nibelungenlied. Stuttgart: Reclam 2011, S.834. 457 Vgl. z.B. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.490 (1693). 93 emotionalen Bedeutung als Erinnerung an den gefallenen Sohn ist auch bedeutsam, dass er ihn sich selbst aussucht und dass ihm diese Bitte gewährt wird458. Harald Haferland bezeichnet die Bereitschaft eines Herrschers, seine Gäste ihre Geschenke frei wählen zu lassen als den „Gipfel von Generosität“, indem sie „den großmütigen Verzicht auf kleinliche Rücksichten und die souveräne Vernachlässigung eines Entscheidungsdilemmas [beweist]“459. Andererseits haben Geschenke im Mittelalter immer auch etwas Verbindliches, worauf etwa Jan-Dirk Müller verweist, wenn er in Zusammenhang mit Rüdigers Gewissenskonflikt in der 37. Aventiure von „gegenseitige[r] Verpflichtung durch die Gabe“ schreibt460. Diese Tradition lässt sich in der europäischen Kulturgeschichte weit zurückverfolgen. Bereits im Havamal aus der Älteren Edda wird auf die Reziprozität des Gabentausches, im Guten wie im Bösen, Bezug genommen:

Der Freund soll dem Freunde Freundschaft bewähren Und Gabe gelten mit Gabe. Hohn mit Hohn soll der Held erwidern, Und Losheit mit Lüge461

Diese wechselseitige Bindung ist jedoch nicht nur auf den privaten Bereich beschränkt, sondern hat auch juridische Implikationen. Marcel Mauss erklärt, dass im Germanischen Recht jegliche vertragliche Handlung ein Pfand voraussetzt: „dem Partner wird meist ein geringwertiger Gegenstand gegeben – ein Handschuh, ein Geldstück (Treuegeld), ein Messer –, der zurückgegeben wird, wenn die gelieferte Sache bezahlt ist“462. In Hinblick auf Rüdigers Geschenk an Hagen ist hierbei interessant, dass es sich zumeist um eine „persönliche Sache“ handelt; der Umstand, „dass sie sich in den Händen des Nehmers befindet, drängt den Geber dazu, den Vertrag zu erfüllen“463. Unter diesem Aspekt betrachtet wird die emotionale Komponente des Gabentausches um eine archaische Form vertraglicher Bindung komplementiert.

458 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.490 (1695). 459 Harald Haferland: Das Vertrauen auf den König und das Vertrauen des Königs. Zu einer Archäologie der Skripts, ausgehend von Hartmanns von Aue „Iwein“. In: Wolfram Drews, Christel Meier-Staubach (Hg.): Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster Nr. 39, de Gruyter 2005, S.339. 460 Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang (Anm.16), S.163. 461 Die Edda (Anm.101), S.52. 462 Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1968, S.152. 463 Ebd. S.152. 94

In der Forschung wird der Aufenthalt in Bechelaren für gewöhnlich einerseits als laudatio auf Rüdigers ritterliche Tugendhaftigkeit464 und andererseits als die idyllische Ruhe vor dem Sturm an Etzels Hof465 gewertet.

Friedrich Panzer definiert Rüdigers Rolle an Etzels Hof als die des „Zeremonienmeister[s]“466: nach Kriemhilds Ankunft macht er sie mit den wichtigsten Adeligen und Rittern bekannt und sorgt für angemessenen Umgang. Die Burgunden geleitet er nach ihrem Aufenthalt auf seiner Burg persönlich an Etzels Hof und nimmt am festlichen Empfang teil. Als die feindlichen Spannungen offen zutage treten, versucht er, so lange wie möglich eine neutrale Position einzunehmen: er ergreift „in den Auseinandersetzungen vorerst keine Partei, weil er beiden Seiten die Treue halten will“467. Als der Konflikt eskaliert und Rüdigers Neutralität als Etzels Vasall nicht mehr haltbar ist, bittet er Etzel gar, sein Lehnsverhältnis aufzukündigen, was dieser ihm jedoch mit der rhetorischen Frage „wer hülfe danne mir?“468 abschlägt. Die Bereitschaft des wohlhabenden Markgrafen, auf all sein Hab und Gut zu verzichten und zu Fuß ins Exil zu gehen469 macht die existenzielle Dimension seines Gewissenskonflikts deutlich. Regina Toepfer definiert die triuwe als Rüdigers „treibendes Handlungsmotiv“470 und die Eskalation des Konflikts zwingt ihn zu einer Entscheidung, die notwendigerweise zu einem Treuebruch führen muss. Als sich diese nicht länger aufschieben lässt, betont Rüdiger erneut sein Lehnsverhältnis und zieht daraus die Konsequenz:

ez muoz hiute gelten der Rüdegêres lîp, swaz ir und ouch mîn herre mir liebes habt getân. dar umbe muoz ich ersterben. daz mag niht langer gestân.471

Am Ende entscheidet sich der tugendhafte Rüdiger also für jene Option, die seiner gesellschaftlichen Stellung entspricht, obgleich sie seinen Tod bedeutet. Dieser unlösbare Konflikt zwischen persönlicher Neigung und gesellschaftlicher Verpflichtung illustriert ein Phänomen, welches bereits im Kapitel über die triuwe erwähnt worden ist: dass nämlich die mhd. triuwe im Gegensatz zur Treue im modernen Wortsinn keine subjektive Befindlichkeit,

464 Vgl. z.B. Heinrich Kunstmann: Wer war Rüdiger von Bechelaren? In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 112 (1983), S.245. 465 Vgl. z.B. Friedrich Neumann: Das Nibelungenlied in seiner Zeit (Anm.14), S.67. 466 Friedrich Panzer: Das Nibelungenlied: Entstehung und Gestalt. Stuttgart: Kohlhammer 1955, S.257. 467 Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren (Anm.436), S.71. 468 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.624 (2155). 469 Vgl. ebd. S.622 (2154). 470 Regina Toepfer: Höfische Tragik (Anm.429), S.219. 471 Das Nibelungenlied (Anm.10), S. 624 (2160). 95 sondern eine objektive Gegebenheit bezeichnet472. Rüdiger ist dem Herrscherpaar in doppelter Weise verpflichtet: dem König als seinem Lehnsherren und Kriemhild durch sein Gelöbnis, jegliches ihr zugefügtes Leid zu rächen473. Dem steht seine freundschaftliche Gesinnung den Burgunden gegenüber entgegen. Seine Entscheidung, die Burgunden auf Kriemhilds und Etzels Drängen hin anzugreifen, widerstrebt Rüdiger:

heim zuo mînem hûse ich si geladen hân. trinken und spîse ich in güetlichen bôt und gab in mîne gâbe. wi sol ich râten in den tôt?474

In Anbetracht der Misere und der vielen Toten bricht er in Tränen aus475. Gerd Althoff weist darauf hin, dass solche formelhaften Motive in der mittelalterlichen Literatur häufig vorkommen und nicht unbedingt wörtlich zu verstehen sind: „das ganze weltliche und geistliche Leben des Mittelalters wurde geprägt von Handlungen zeichenhaften Charakters“, welche „die Interaktion“ in unterschiedlichen Gesellschaftsverbänden bestimmten476. So wie die oft übertrieben wirkenden Zeitangaben bei höfischen Festen, die manchmal fünf oder acht Tage dauern477, sind auch solche emotionalen Bekundungen als formelhafte Motive zu lesen, was jedoch nicht ihre Bedeutsamkeit schmälert. Im Zuge dieser Arbeit wurde auf das Motiv des Weinens bereits in Zusammenhang mit seiner Verurteilung durch Walther von der Vogelweide, sowie seine Verwendung in der Odyssee verwiesen. Wie in den homerischen Epen sind die Tränen Rüdigers kein Zeichen von Sentimentalität und Unmännlichkeit, sondern vielmehr „Ausdruck der Treue zu den Gefallenen“478. Die folgende Auseinandersetzung mit einem hunnischen Krieger, der ihn aufgrund seiner Verzagtheit als feige bezeichnet, aktualisiert in komprimierter Weise „Rüdigers Lehnsverhältnis“, sowie „seine Begünstigung und Abhängigkeit von Etzel“479. Als er in seiner existentiellen Krise auch noch mit dem Vorwurf der Feigheit konfrontiert wird, schlägt Rüdiger den Hunnen so heftig, dass dieser stirbt. In dieser Extremsituation lässt sich also selbst der vater maneger tugende von seinen Emotionen überwältigen und das ritterliche Ideal der mâze vermissen480. Allerdings wäre es übereilt, hier

472 Vgl. S.76 ff. der vorliegenden Arbeit. 473 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.366 (1254). 474 Ebd. S. 624 (2156). 475 Vgl. Ebd. S.616 (2132). 476 Gerd Althoff: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbildungen im frühen Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S.185. 477 Vgl. ebd. S.205. 478 Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren (Anm.436), S.78. 479 Regina Toepfer: Höfische Tragik (Anm.429), S.221. 480 Vgl. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.169. 96 von einer Kurzschlusshandlung zu sprechen. Als er danach von Etzel zur Rede gestellt wird, legt Rüdiger besonnen dar, warum er diese Beleidigung nicht hat hinnehmen können: „dâ beswæret er mir den muot, unde hât mir geitewîzet êre unde guot, des ich von dînen handen han sô vil genomen“481. In diesen knappen Worten kommt der ganze Konflikt nochmal zum Ausdruck. Splett betont, dass Rüdigers rabiate Reaktion auf die Ehrenbeleidigung per se noch nicht dem höfischen Ethos widerspricht. Hält man sich den zentralen Stellenwert der êre für die mittelalterliche Gesellschaft vor Augen, sind die mitunter höchst empfindlichen Reaktionen zahlreicher literarischer Ritter auf Ehrenbeleidigungen nicht weiter verwunderlich, „doch zur friedliebenden und versöhnlichen Haltung Rüdigers steht diese seine Handlungsweise im Widerspruch“482. Splett sieht diese unauflösbare Widersprüchlichkeit als exemplarisch für die Art und Weise, wie sich Figurencharakterisierungen im Nibelungenlied immer wieder der Forderung nach Konsistenz entziehen:

Das Problem lässt sich nicht so lösen, dass man den Vorfall verharmlost und ihn psychologisch erklärt, um den einheitlichen Charakter Rüdigers und sein positives Bild zu retten. Es handelt sich hier vielmehr um eine ihm ad hoc zugewiesene Rolle – ein Vorgang, der sich im Nibelungenlied öfters findet.483

Wie an zahlreichen Stellen des Epos geht es hier um situative Demonstration, nicht um charakterliche Konsistenz. Trotz seiner Gespaltenheit in mehrfacher Hinsicht wiegt Rüdigers Lehnsverpflichtung schwerer als seine freundschaftlich/verwandtschaftliche Verbindung und er zieht mit 500 Gefolgsleuten in die Schlacht gegen die Burgunden. Im Motiv des Schildertausches mit Hagen kommt die gegenseitige Achtung und emotionale Verbundenheit ein letztes Mal zum Ausdruck. Dieser gleichermaßen berührende wie komplexe Gestus (auf den in Kapitel 6.3. genauer eingegangen wird) evoziert die Geschenkeübergabe in Bechelaren und zitiert damit ausgerechnet jenes Ereignis, das Rüdiger besonders stark mit seinen jetzigen Feinden verbunden hat. Die gegenseitige Verpflichtung durch Rüdigers Gaben kommt in Hagens und Volkers Weigerung, den Markgrafen anzugreifen, zum Ausdruck. Als wäre durch die Geschenkübergabe ein unausgesprochener Vertrag geschlossen worden, ziehen sich die beiden wohl profiliertesten nibelungischen Krieger aus dem Kampfgeschehen zurück und lassen ihn unbehelligt484. Am Ende erfüllen sich die unheilvollen Prophezeiungen aus der 27. Aventiure und der Markgraf wird ausgerechnet durch jenes Schwert, das er Gernot in

481 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.620 (2143). 482 Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren (Anm.436), S.75. 483 Ebd. S.75. 484 Vgl. Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang (Anm.16), S.163. 97

Bechelaren zum Geschenk gemacht hat, getötet. Es folgt eine Totenklage, die alle involvierten Parteien miteinschließt: der Dichter selbst sieht sich außer Stande, die überwältigende Trauer am Hof in Worte zu fassen485, die Burgunden beweinen heftig sowohl den Tod Gernots als auch Rüdigers486, Dietrich von Bern ruft verzweifelt: „jâne überwinde ich nimmer des künec Etzeln man“487 und Etzel brüllt seinen Schmerz wie ein Löwe hinaus488 - mit einem Wort: alle „klageten ungefuoge des guoten Rüedegêres lîp“489. Die detaillierte Schilderung der Trauer auf allen Seiten lässt ein letztes Mal erkennen, „wie hoch alle den Markgrafen einschätzen“490.

Über mögliche Vorlagen für die Rüdiger-Figur im Nibelungenlied gibt es im Fachdiskurs unterschiedliche Theorien. Während einerseits auf literarische Gestalten, wie den Rüdeger des Spruchdichters Spervogel oder den Roger des Metellus verwiesen wird491, gehen manche Forscher von historischen Vorbildern, wie den Herulerkönig Rudolf oder einen österreichischen Markgrafen mit dem Namen Rüdiger aus492. Interessant ist jedenfalls, dass diese Figur, die für den Fortgang der Handlung eine so zentrale Rolle spielt, in der nordischen Nibelungenüberlieferung fehlt. Weder in den Liedern der älteren Edda, noch in der Volsungssaga tritt sie auf, während es in der Thiðrekssaga zwar eine Figur mit dem ähnlichen Namen Rodingeir gibt, der abgesehen davon jedoch nichts mit dem Markgrafen gemein hat. Im Gegensatz zu der Uneinigkeit in Bezug auf mögliche Vorlagen stimmen die meisten Forscher darin überein, dass der Rüdiger des Nibelungenliedes in seiner vorbildlichen Ritterlichkeit und in seiner Gespaltenheit eine Neuschöpfung des Dichters darstellt, die in besonderer Weise zeitgenössische literarische Konventionen spiegelt:

Eine Figur, an der keine ausgeprägte Geschichte haftete, eignete sich in besonderem Maße dazu, ein spezielles Anliegen zu artikulieren: die Kollision widerstreitender Verpflichtungen, die für viele Adelige im Mittelalter ein aktuelles Problem darstellte. Sie wird an einem Ritter vorgeführt, der die im Nibelungenlied aufgenommenen höfischen Normen voll repräsentiert und einen besonderen Identifikationsanreiz bietet493.

485 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.644 (2230). 486 Vgl. ebd. S.642 (2222). 487 Ebd. S.668 (2312). 488 Vgl. ebd. S.646 (2231). 489 Ebd. S.646 (2231). 490 Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren (Anm.436), S.103. 491 Vgl. z.B. Lutz Mackensen: Die Nibelungen. Sage, Geschichte, ihr Lied und sein Dichter. Stuttgart: Dr. Ernst Hauswedell & Co. 1984, S.164. 492 Vgl. Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren (Anm.436), S.33 – 37. 493 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.164 – 165. 98

Auf die Vorbildfunktion ritterlicher Figuren in der höfischen Dichtung wurde bereits eingegangen494 und es ist frappierend, dass eine so vorbildliche Gestalt letztlich an einem unlösbaren Konflikt zugrunde geht. Wenngleich Rüdiger in vielerlei Hinsicht von allen Figuren des Nibelungenlieds dem Ideal des höfischen, pflichtbewussten Ritters am ehesten entspricht, lassen sich auch bei ihm Elemente des Heroischen (im archaischen Sinne) identifizieren, allen voran das „alte heroische Motiv des Kampfes mit Freunden und Verwandten“495. Regina Toepfer bezeichnet ihn aufgrund seines Treuekonfliktes gar als den „Prototyp eines tragischen Helden“496, der trotz all seiner Vorbildlichkeit und guten Vorsätze Teil der allgemeinen Vernichtungsdynamik wird. In seinem Untergang „feiert sich die Heroenwelt“ in einer Formulierung von Jan-Dirk Müller „auf Kosten der Sieger. […] Sein Triumph als von allen beweinter Held ist identisch mit der Katastrophe des sozialen Systems, in dessen Netz er sich verfangen hat“497. An der Gestalt von Rüdiger zeigt sich, dass die Gebrochenheit der Figuren des Nibelungenlieds nicht immer nur auf unterschiedliche literarische Traditionen zurückgeführt werden kann, sondern mitunter den Finger in die Wunden zeitgenössischer gesellschaftlicher Fragen legt.

494 Vgl. Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit.. 495 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.162. 496 Regina Toepfer: Höfische Tragik (Anm.429), S.212. 497 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.113. 99

6.2. Siegfried von Xanten

Siegfried von Xanten kann als einer der wesentlichen Gravitationspunkte der Handlung des ersten Teils des Nibelungenlieds definiert werden, indem er als Königssohn, Drachentöter, Minneritter, Brautwerber und schließlich Betrugsopfer in zentrale Handlungsstränge des Textes verstrickt ist. Der Dichter sah sich somit mit der Aufgabe konfrontiert, eine beträchtliche Bandbreite verschiedener Rollen in einer Figur zu vereinen.

Vorgestellt wird Siegfried in der zweiten Aventiure als höfischer Ritter, der, wie Kriemhild, wohlbehütet und gut erzogen an einem mächtigen Königshof aufwächst. Edward R. Haymes weist darauf hin, dass „der Dichter […] viel weiter als notwendig [geht], um diese geschützte Erziehung unmissverständlich darzustellen“498. Der Prunk des Königshofs in Xanten spiegelt die Pracht seines Wormser Pendants, welches als Kriemhilds Kinderstube in der ersten Aventiure geschildert wird. Besonders in Hinblick auf die literarischen Vorbilder Siegfrieds ist diese starke Akzentuierung der höfischen Umgebung auffällig. So wuchs der nordische Sigurd in der Wildnis auf und verbrachte seine Jugend mit Kämpfen gegen Zwerge, Riesen und Drachen anstelle der Erziehung in höfischer Etikette und ritterlichen Umgangsformen. Heroische Kühnheit bestimmt sein Handeln anstelle von tugendhafter Selbstbeherrschung. Nachdem der junge Sigurd den Drachen Fafnir besiegt hat, bekennt er freimütig:

Mich reizte mein Mut; die Hände vollbrachten’s Und mein scharfes Schwert. Keiner ist kühn im Alter, Wer in der Kindheit schon feig war499

In der Prosa Edda wird beschrieben, wie der Held nach dem Tod seines Vaters Sigmund von dem grimmigen Zwerg Regin in dessen Schmiede aufgezogen wird500. In ähnlicher Weise schildert Das Lied vom Hürnen Seyfried, welches um 1530 in Nürnberg gedruckt wurde, die Jugendgeschichte des Helden, die im Nibelungenlied lediglich angedeutet wird. Ralph Breyer attestiert den beiden Werken ein „komplementäres Verhältnis“, indem im Lied vom Hürnen Seyfried heroische Motive, wie man sie aus der Edda kennt (Drachenkampf, Jungfrauenbefreiung) eine zentrale Stellung einnehmen, während höfische Diplomatie kaum

498 Edward R. Haymes: Das Nibelungenlied. Geschichte und Interpretation. München: Fink 1999, S.68. 499 Die Edda (Anm.101), S.187. 500 Ebd. S.328. 100 eine Rolle spielt501. Zwar ist auch Seyfried ein niederländischer Königssohn, doch verlässt er bereits in jungen Jahren auf der Suche nach Abenteuern den elterlichen Hof:

Also schied er von dannen, Der junge, küne man. Do lag vor eynem walde Ein Dorff, das lieff er an, Do kam er zuᵒ eym Schmide, Dem wolt er dienen recht, Im schlahen auff das eysen, Als ein ander Schmidtknecht502

Bemerkenswerter Weise verzichtet der Königssohn hier freiwillig auf die Annehmlichkeiten und Privilegien des Hofes und wird zum Knecht eines zwielichtigen Schmiedes, um in weiterer Folge Ruhm zu gewinnen. Wie in der Edda stehen hier also jene Aspekte im Vordergrund, die in der Charakterisierung des Siegfried im Nibelungenlied nur vereinzelt zu Tage treten.

Auch in der vermutlich Anfang der 1930er Jahre entstandenen Bearbeitung des Wölsung- Stoffes durch J.R.R. Tolkien werden die rauen Umstände von Sigurds Kindheit und Jugend betont. Zu seiner Zeit als Professor für Angelsächsische Literatur in Oxford verfasste er zwei längere Prosagedichte (Völsungakviða en nýja und Guðrúnarkviða en nýja), die sich in stilistischer Anlehnung an die Lieder der Älteren Edda mit den Sagen um Sigurd, bzw. Gudrun (die der Figur der Kriemhild entspricht) auseinandersetzen. Über die Geburt Sigurds in Wildnis und Exil heißt es darin:

Wind was wailing, Waves were crying, Sigrlinn sorrowful, When a son she bore. Sigurd golden As a sun shining, forth came he fair in a far country503

501 Ralph Breyer: Über „Das Lied vom Hürnen Seyfrid. In: Siegfried Holzbauer (Hg.): Das Lied vom Hürnen Seyfried. Klagenfurt: Wieser Verlag 2001, S.74. 502 Siegfried Holzbauer (Hg.): Das Lied vom Hürnen Seyfried. Klagenfurt: Wieser Verlag 2001, S.112. 503 J.R.R. Tolkien: The legend of Sigurd and Gudrun. London: Harper Collins 2009, S.97. 101

Dieser Start ins Leben zwischen ungezähmter Natur und einer verrauchten Schmiede, zwischen prekären Umständen und archaischen Heldentaten steht in einem bemerkenswerten Widerspruch mit der behüteten Jugend Siegfrieds am Königshof zu Xanten. Ein Nachhall davon findet sich in der dritten Aventiure, als Hagen von Siegfrieds heroischen Jugendabenteuern erzählt504. Doch obgleich seine übermenschliche Kraft und die Macht, die ihm der Nibelungenhort verleiht, wesentliche narrative Strukturelemente ausmachen, wird ihr Ursprung in einer mythisch anmutenden Vergangenheit in einer Handvoll von Versen lediglich grob umrissen, vielmehr gerät die Vorstellung Siegfrieds im Nibelungenlied zu „einem Muster des neuen adeligen Menschenbildes“505. Somit kann der Siegfried-Figur also von Anfang an eine gewisse Brüchigkeit in der Charakterisierung attestiert werden, in der heldenepische Motive und Elemente des Ritterromans unvermittelt nebeneinander stehen.

Nachdem seine höfische Erziehung in der feierlichen Zeremonie der Schwertleite ihren Abschluss gefunden hat, bricht Siegfried zum Wormser Hof auf. Sein Motiv ist ein klassisches des Ritterromans: von minne erfüllt will er um Kriemhild werben506, doch seine „Ankunft in Worms gehört zu den befremdlichsten Szenen in unserem Epos“507. Anstatt eines diplomatischen Königssohns tritt hier ein anmaßender Eroberer auf, der auf die Gastfreundschaft von Gunther mit wüsten Forderungen reagiert. Otfried Ehrismann sieht darin „eine Reizrede im Sinne der älteren heroischen Epik“, in der beide Seiten ihr Profil schärfen und ihre Ehrhaftigkeit unter Beweis stellen508. Die Situation droht zu eskalieren, als Siegfried Gunther zum Zweikampf um dessen Ländereien herausfordert509. Obgleich diese Herausforderung vor dem Hintergrund der höflichen Haltung der Burgunden irritierend wirkt, war „für das zeitgenössische Publikum […] ein Ehrenbeweis durch Kräftemessen kaum befremdlich“510. Gunther lehnt jedenfalls die Herausforderung unter Verweis auf sein Erbrecht ab und lässt sich somit unter Berufung auf bewährte politische Konventionen auf gar keine Auseinandersetzung mit dem Neuankömmling aus Xanten ein. Bereits dieser erste Kontakt Siegfrieds mit dem Wormser Hof kann als exemplarisch für seine Bereitschaft gelesen werden, „die bestehende Ordnung in Frage zu stellen“511, oder in einer Formulierung von Bernhard

504 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.31 ff. (84 ff.). 505 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.147. 506 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.19 (42 ff.). 507 Edward R. Haymes: Das Nibelungenlied (Anm.474), S.69. 508 Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.43. 509 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.36 (110). 510 Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.44. 511 Edward R. Haymes: Das Nibelungenlied (Anm.474), S.70. 102

Burger: „mit Siegfrieds Abwehr burgundischer Gastlichkeit, mit dieser Brüskierung guter Sitten, beginnt sein desintegratives Handeln“512.

Nachdem sich der Aufruhr nach seiner Ankunft gelegt hat, wirkt Siegfried wie ausgewechselt: Im Sachsenkrieg erweist er sich als loyaler und treuer Helfer von König Gunther und rettet das burgundische Reich sowohl durch seine Tapferkeit, als auch durch diplomatisches Geschick aus einer politisch schwierigen Situation. Eng mit seinen Diensten verbunden ist die Betonung des minne-Motivs, welches für die Siegfried-Figur des Nibelungenliedes konstitutiv genannt werden kann. Einerseits macht er vor der Werbefahrt nach Isenstein kein Hehl aus seiner wahren Motivation („Jâne lob ichz niht sô verre durch die liebe dîn, sô durch dîne swester, daz schœne magedîn“513), andererseits wird er in seiner Rolle als wohl erzogener Königssohn, fähiger Feldherr und loyaler Helfer als idealer Gemahl Kriemhilds charakterisiert, deren Falkentraum ihn von Anfang an zum tragischen Helden prädestiniert. Haymes führt die auffällige Charakterisierung Siegfrieds als Minneritter auf die zeitgenössische literarische Tendenz einer Synthese aus Minnesang und höfischem Roman zurück514 und laut Schulze trägt die Minnethematik in „besonderer Weise“ zur adaption courtoise des Nibelungenliedes bei515. Tatsächlich ist die Intensität der Zuneigung, die der Held aus Xanten für Kriemhild empfindet, beachtlich. Bereits kurz nach seiner Ankunft in Worms bekennt er: „diu ist mir sam mîn sêle und sô mîn selbes lîp“516. In der Forschungsliteratur wird die minne zwischen Siegfried und Kriemhild oft mit dem hybris-Begriff in Verbindung gebracht517. Man hat es hier wirklich mit einer Form von minne zu tun, die jegliches Maß übersteigt: Um Kriemhild zur Frau zu bekommen, hilft Siegfried Gunther auf seiner Brautwerbefahrt auf Isenstein, auf seinen Rat hin wird die Standeslüge begangen518 und durch seine List und Stärke kann der burgundische König den Wettkampf mit Brünhild bestehen. Ein solcher Tauschhandel (die Hand der Schwester für politische Hilfestellung) war zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich und entsprach durchaus den Konventionen der höfischen Gesellschaft519. Durch das Motiv des Betrugs entwickelt sich jedoch eine Eigendynamik mit unabsehbaren Folgen.

512 Bernhard Burger: Die Grundlegung des Untergangsgeschehens im Nibelungenlied. Stuttgart: Hochschul Verlag 1985, S.63. 513 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.114 (386). 514 Vgl. Edward R. Haymes: Das Nibelungenlied (Anm.474), S.66 ff. 515 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.145. 516 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.114 (386). 517 Vgl. z.B. Horst Brunner: Das Nibelungenlied. In: Dorothea Klein, Sabine Schneider (Hg.): Lektüren für das 21. Jahrhundert. Schlüsseltexte der deutschen Literatur von 1200 bis 1990. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2000, S.9. 518 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.114 (384). 519 Vgl. Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.66. 103

Der Betrug beginnt damit, dass Siegfried sich auf Isenstein als Gefolgsmann Gunthers ausgibt. Bernhard Burger situiert die Standeslüge „außerhalb höfischer Ordnung“, sie ist „ausgeprägte inordinatio“520. Wenn man sich die Bedeutsamkeit, die der ständischen Ordnung im Mittelalter zugeschrieben wird, vor Augen hält, wird das Skandalöse an diesem scheinbar harmlosen Betrug deutlich. Die Vorstellung, dass gesellschaftliche Ordnung kein Werk von Zufall und Willkür darstelle, sondern gottgewollt sei, war seit dem 10. Jahrhundert weit verbreitet521, womit ihre Missachtung weit schwerer wog, als wenn man sie unter heutigen Umständen bewerten würde. Indem Siegfried dazu bereit ist, sich aus Liebe zu Kriemhild als Gunthers Gefolgsmann auszugeben, setzt er sich über jene Gesetze hinweg, die das Fundament der christlich geprägten mittelalterlichen Gesellschaft ausmachen. In einer Formulierung von Walter Falk war es „etwas Ungeheuerliches […], was Siegfried im Dienst der Hohen Minne vollbracht hatte. Seine Tat war ohne Vergleich“522. Die Bedeutsamkeit des mittelalterlichen Standesdenkens findet in der szenischen Gestaltung, welche Standeslüge konterkariert, ihren Ausdruck: während Hagen und Dankwart schwarz gekleidet auf Isenstein auftreten, heben sich „die Werber von höfischem Geblüt“ durch ihre strahlend weiße Kleidung „augenfällig von den Vasallen ab“523. Auch Brünhild lässt sich im ersten Moment nicht täuschen und hält Siegfried für den Werber.

Ein wesentliches Element der Standeslüge stellt der Steigbügeldienst Siegfrieds dar. In einem Gestus der Unterwerfung führt Siegfried nach der Ankunft auf Isenstein Gunthers Pferd und assistiert somit dem König beim Aufsitzen. Für das zeitgenössische Publikum „veranschaulichte der Zügel- und Bügeldienst als rechtssymbolische Handlung die lehnsrechtliche Unterordnung“524. Einmal mehr hat man es hier mit einem Beispiel des „demonstrativen Charakter[s] mittelalterlichen Verhaltens“525, wie es bereits anhand von Rüdigers Tränen im vorherigen Kapitel illustriert worden ist, zu tun. Ursula Schulze verweist in diesem Zusammenhang auf Friedrich Barbarossas erstes Zusammentreffen mit Papst Hadrian IV 1155 oder den Sachsenspiegel des Eike von Repgow526. Der Steigbügeldienst kann somit als politischer Gestus mit weitreichenden Implikationen verstanden werden.

520 Bernhard Burger: Die Grundlegung des Untergangsgeschehens im Nibelungenlied (Anm.488), S.107. 521 Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur (Anm.206), S.39. 522 Walter Falk Das Nibelungenlied in seiner Epoche. Revision eines romantischen Mythos. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1974, S.153. 523 Bernhard Burger: Die Grundlegung des Untergangsgeschehens im Nibelungenlied (Anm.488), S.108. 524 Ursula Schulze: Gunther sî mîn herre, und ich sî sîn man. In: Christoph Fasbender (Hg.): Nibelungenlied und Nibelungenklage: Neue Wege der Forschung. Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, S.87. 525 Gerd Althoff: Verwandte, Freunde und Getreue (Anm.474), S.182. 526 Vgl. Ursula Schulze: Gunther sî mîn herre, und ich sî sîn man (Anm.522), S.87. 104

Die Missachtung gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten war bereits in der Dichtung der Antike ein wesentliches Merkmal der hybris und ihre Konsequenzen lieferten den Stoff für zahlreiche Tragödien527. Im Nibelungenlied lässt sich eine ähnliche narrative Tiefenstruktur beobachten: durch die Standeslüge auf Isenstein werden die Regeln des höfischen Feudalsystems negiert, wodurch eine Dynamik in Gang gesetzt wird, die letzten Endes im Untergang der Burgunden resultiert. Joachim Heinzle weist darauf hin, dass die Standeslüge zwar eine wesentliche Voraussetzung für den weiteren Handlungsverlauf darstellt, ihr eigentlicher Sinn im Rahmen der Werbungsfahrt aber rätselhaft bleibt. Als burgundischer König wäre Gunther in jedem Fall ein geeigneter Anwärter und auch der folgende Betrug beim Wettkampf wäre ohne die Standeslüge genauso möglich gewesen528. Demgegenüber führt Otfried Ehrismann die Täuschung auf die übliche hierarchische Struktur in solchen Situationen zurück: „es kann bei der Werbung nur einen Herrn geben, und der Werber muss unter ihm stehen“529. Abgesehen von den divergierenden Fachmeinungen ist hier vor allem eines auffällig: Siegfried, der bei seiner Ankunft in Worms noch so großen Wert auf seine Ebenbürtigkeit mit Gunther gelegt hat, schlägt aus freien Stücken den Betrug vor, der ihn zum Vasallen erniedrigt und begibt sich damit „in eine Situation jenseits von Recht und Wahrheit“530. Dieses Dilemma, welches den als so tugendhaft und makellos vorgestellten Helden immer tiefer in ein Netz aus Lügen und Intrigen verstrickt, wird zu den „hervorragendsten erzählerischen Eigenleistungen des Nibelungenepikers“ gezählt, für das „keinerlei stoffliche Vorlagen bekannt [sind]“531. Auch hierin spiegeln sich also jene drängenden gesellschaftlich/politischen zeitgenössischen Fragestellungen, die auch in der spezifischen Akzentuierung der Rüdiger-Figur durch den Dichter des Nibelungenlieds zutage treten. Vor allem aber kann auch dies als Beispiel für den funktional/demonstrativen Charakter einer Handlung gelesen werden, die unter dem Paradigma kohärenter Figurenzeichnung rätselhaft erscheint. Während Siegfrieds Täuschungsmanöver zu seinem anmaßenden früheren Auftreten in Widerspruch steht, macht es für den weiteren Handlungsverlauf durchaus Sinn.

Siegfried fungiert bei den Täuschungen sowohl als Initiator, als auch als Hauptakteur: Er schlägt die Standeslüge vor und er gewinnt den Wettkampf für Gunther. Letzterer hebt den Betrug von einer höfischen auf die archaische Ebene eines körperlichen Kräftemessens, in dem sich in Wahrheit zwei Kontrahenten gegenüberstehen, die aufgrund ihrer Maßlosigkeit beide

527 Vgl. S.28 der vorliegenden Arbeit. 528 Vgl. Joachim Heinzle: Das Nibelungenlied (Anm.8), S.70. 529 Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung (Anm.396), S.80. 530 Ebd. S.80. 531 Bettina Geier: Täuschungshandlungen im Nibelungenlied (Anm.435), S.59-60. 105 nicht in den wohlgeordneten Kosmos feudaler Ordnung passen: „Die schreckenserregende Seite Siegfrieds besitzt in Brünhild […] ein weibliches Pendant“532 und wie bei ihm wird auch bei ihr das höfische Erscheinungsbild wiederholt betont: ihre betörende Schönheit wird immer wieder erwähnt533, ebenso wie ihre prächtigen Kleider und Reichtümer534. Und auch hier ist die höfische Fassade mitunter recht dünn: der Wettkampf zwischen den beiden wirkt wie der Zusammenprall zweier Naturgewalten: Brünhilds Schild ist so schwer, dass er von vier Männern getragen werden muss535, ein ähnlich beschaffener Speer wird mühelos durch die Luft geschleudert536, ebenso wie ein Felsen, den zwölf Männer kaum schleppen können537. In Anbetracht ihrer übermenschlichen Kraft bezeichnet selbst der abgebrühte Hagen sie als „des tîvels wîp“538.

Obgleich er sich expliziter moralischer Urteile enthält, bietet die Wettkampfszene für Bettina Geier „genügend Hinweise, die erkennen lassen, dass der Dichter die Vorgehensweise als nicht akzeptabel nach damaligem Wertedenken beurteilt“539. Sprachlich lässt sich dies anhand der Häufung negativ konnotierter Begriffe, wie list, verborgen, tougenlîche oder geslichen belegen540, inhaltlich werden trotz ihrer übermenschlichen Kraft „der höfische […] Charakter Brünhilds und ihr[e] Integrität“541 immer wieder betont, wodurch der Betrug der Burgunden moralisch umso schwerer wiegt. Indem Siegfried Gunther die Eroberung Brünhilds ermöglicht hat, wird ihm Kriemhilds Hand zugesprochen und der Tauschhandel findet seine Erfüllung. Um der minne Willen war er ohne zu zögern zum Betrug bereit, sein unehrenhaftes Verhalten wird ihm zu keinem Zeitpunkt problematisch. Dieses Ethos, welches die Durchsetzung eigener Interessen über moralische Überlegungen stellt, findet sich auch in der antiken Dichtung immer wieder. So wird etwa in der Ilias die Ermordung von zwölf schlafenden thrakischen Soldaten durch Odysseus und Diomedes als lobenswerte Heldentat beschrieben, ohne, dass der Angriff auf die Wehrlosen dabei zum ethischen Problem würde542. In ähnlicher Weise nimmt Siegfried den Betrug an der integren Königin ohne weiteres in Kauf, um sein Ziel zu erreichen.

532 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.184. 533 Vgl. z.B. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.98 (324), S.116 (390). 534 Vgl. z.B. ebd. S.122 (415), S.128 (432). 535 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.128 (435). 536 Ebd. S.130 (438). 537 Ebd. S.132 (447). 538 Ebd. S.128 (436). 539 Bettina Geier: Täuschungshandlungen im Nibelungenlied (Anm.435), S.69. 540 Vgl. ebd. S.64. 541 Ebd. S.68. 542 Vgl. Homer: Ilias (Anm.57), S.171 (10, 470 ff.). 106

Durch das Motiv der Doppelhochzeit in Worms, sowie die Wiederholung von Brünhilds Überwältigung durch Siegfried in der zweiten Hochzeitsnacht543 wird der Zusammenhang zwischen dem vielschichtigen Betrug an Brünhild und der Ehe von Siegfried und Kriemhild deutlich zum Ausdruck gebracht544. Nachdem die übermenschliche Kraft Brünhilds in der ersten Hochzeitsnacht inmitten des engmaschigen Netzwerks höfischer Konvention in einer derben Groteske mit dem Ergebnis von Gunthers Erniedrigung durch die höfische Fassade bricht, wird sie in der zweiten ausgerechnet von ihrem archaisch/heroischen Gegenstück am Wormser Hof zum Zwecke der Wiederherstellung traditioneller Ordnung niedergerungen und unterworfen.

Diese Ordnung ist jedoch nur von kurzer Dauer und es kann laut Ursula Schulze als bezeichnend für Das Nibelungenlied gelten, dass sich der Streit der beiden Königinnen - im Gegensatz zur Bearbeitung dieses Motivs im Alten Sigurdlied oder der Thiðrekssaga - im Rahmen eines höfischen Festes entzündet545. Auch hierbei tritt die Ambivalenz Siegfrieds zutage: Während er bisher als glühender Minneritter charakterisiert wurde, zeigt er sich nun ob der Vorwürfe gegenüber Kriemhild gereizt („man sol vrouwen ziehen“, sprach Sîfrit der degen, „daz si üppecliche sprüche lâzen under wegen“546) und schreckt auch vor körperlicher Züchtigung seiner Frau nicht zurück547. Dieses grobe Verhalten steht natürlich in frappierendem Widerspruch zu den Idealen der hohen Minne, die ihn zu seinem Aufbruch vom Königshof in Xanten bewegen548 und sein weiteres Handeln bei der Werbung um Kriemhild bestimmen.

In heldenepischer Tradition wird Siegfrieds Tod früh (bereits in der elften Strophe des Epos) prophezeit und hängt wie ein Damoklesschwert über dem Königssohn aus Xanten. Und in heldenepischer Tradition legen ausgerechnet jene Handlungen, die scheinbar in seinem Interesse erfolgen, das Fundament für die Besiegelung seines Schicksals. Nach ihrem prophetischen Traum nimmt Kriemhild sich vor, keinen Mann zu nehmen („âne recken minne, sô wil ich immer sîn“549), um somit Mord und Leid zu entgehen. Die Voraussetzung ihrer Eroberung ist somit das Brechen dieses Vorsatzes und sie wird erst nach langwierigem Werben und aufwändige Diensthandlungen geschaffen. Es ist für Siegfried kein leichtes, Kriemhild zu erobern, sondern erfordert seinen politischen Beistand (im Krieg gegen die Sachsen und

543 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.194 (662 ff.). 544 Vgl. Walter Falk: Das Nibelungenlied in seiner Epoche (Anm.498), S.153. 545 Vgl. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.207. 546 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.252 (859). 547 Ebd. S.260 (891). 548 Vgl. ebd. S.18 (45). 549 Ebd. S.8 (13). 107

Dänen), Geduld (erst nach dem Sieg kommt es zur ersten Begegnung) und kompromisslose Loyalität bis zur Selbstverleugnung auf der Werbungsfahrt nach Isenstein. Er scheut also keinerlei Mühen und Entbehrungen, um schließlich Kriemhilds Hand zu erlangen und auf seine Charakterisierung als Minneritter wird in der Fachliteratur immer wieder eingegangen550. Falk weist darauf hin, dass „der Dichter seine Siegfriedgestalt nicht nur oberflächlich mit Elementen des Minnedienstes ausgeschmückt [hat], sondern auch als symbolischen Träger der aus dem Minnedienst sich ergebenden Konflikte [darstellt]“551. Die minne ist im Nibelungenlied ein ambivalenter Begriff, auf dessen enge Verbindung mit Unglück und Tod in zahlreichen Strophen angespielt wird. Dementsprechend stehen auch die Bemühungen und Dienste des Minneritters unter keinem guten Stern und Siegfried verstrickt sich im Laufe der Erzählung immer tiefer in ein Netz aus Täuschungen und Lügen, bis er schließlich durch eine höfische Intrige ermordet wird.

Auch die Vorzeichen des Mordes gemahnen an narrative Elemente aus der Heldenepik. Nachdem mit weiteren unheilverkündenden Träumen Kriemhilds die Symbolik aus der ersten Aventiure in Erinnerung gerufen wird, besiegelt die Besorgte mit dem Verrat der einzigen verwundbaren Stelle an Siegfrieds Körper dessen Schicksal. In der Dichtung der Antike finden sich zahlreiche Beispiele für vergebliche Interventionen gegen Prophezeiungen, die letztendlich die Voraussetzungen für ihren Vollzug erst schaffen. Als etwa dem König von Theben durch das Orakel von Delphi der Mord durch seinen eigenen Sohn prophezeit wird, setzt er gerade dadurch, dass er ihn in der Fremde aussetzt, jene Kausalkette in Gang, die zu dem verhängnisvollen Zusammentreffen führt, in dessen Verlauf Ödipus ihn als vermeintlichen Wegelagerer tötet552.

Die Beschreibung des Mordes passt stimmig zur Ambivalenz der Siegfriedfigur. Der Schauplatz beinhaltet zahlreiche Elemente eines locus amoenus: ein lichter Wald, eine klare Quelle plätschert unter einer hochgewachsenen Linde553. Ehrisman weist darauf hin, dass sich dieses Motiv etwa auch in Hartmanns Iwein (V.572 ff.) oder Gottfrieds Tristan (V.16882 ff.) findet und in der mittelalterlichen Literatur für gewöhnlich für Liebesszenen eingesetzt wird554. Doch im Nibelungenlied wirft diese idyllische Schilderung einen düsteren Schatten, denn es

550 Vgl. z.B. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.145 ff., Lutz Mackensen: Die Nibelungen (Anm.467), S.138 ff., Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.65 ff. 551 Walter Falk: Das Nibelungenlied in seiner Epoche (Anm.498), S.146. 552 Vgl. Gustav Schwab: Sagen des klassischen Altertums. München: Droemersche Verlagsanstalt 2001, S.212 ff. 553 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.284 (969 ff.). 554 Vgl. Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung (Anm.396), S.150. 108 war ein Lindenblatt, das beim Bad im Blute des Drachen zwischen Siegfrieds Schulterblätter fiel und ihn an dieser Stelle verwundbar machte555.

Die Jagd spielte in der höfischen Kultur eine zentrale Rolle556 , eines der eindrucksvollsten literarischen Zeugnisse dafür ist die Schilderung der profunden Kenntnisse von Gottfrieds Tristan557. Der unerkannte Neffe des Königs erklärt dem höfischen Jägermeister detailliert, wie man einen erlegten Hirsch entbästet, enthäutet und zerlegt und gibt damit seine höfische Erziehung zu erkennen:

der meister sach den jungen gast Vil guotlîche lachende an, wan er was selbe ein höfscher man und erkante al die vuoge wol, die guot man erkennen sol558

Hier bietet die Jagd eine Gelegenheit, die zuht des Ritters zu demonstrieren, womit der Grundstein für die freundliche Aufnahme an Markes Hof gelegt wird. Der Jagdstil Siegfrieds steht dazu in grellem Kontrast:

Wie ein Berserker, fern jeder höfisch kultivierten Jagd, erlegt Siegfried die Tiere des Waldes – schlichtweg barbarisch. Hier trübt der Epiker seine bisherige Zeichnung zugunsten eines stilistischen Effekts ein, denn die „wilde“ Szene soll im Kleinformat die große Schlacht am Hunnenhof abbilden, in der der barbarische Rausch am Töten gleichfalls die Oberhand gewinnen wird559.

Auch hier treffen also jene beiden Elemente, die für die Charakterisierung Siegfrieds konstitutiv sind, aufeinander: das Waldidyll eines locus amoenus wird zum Schauplatz barbarischer Gewalt. In seinem maßlosen Jagdeifer erlegt Siegfried so viele Tiere, dass es der Jagdgesellschaft unheimlich wird560, darunter einen Bären und sogar einen Löwen. Einmal mehr inszeniert der Autor Siegfried in seiner „strahlende[n] Heiterkeit“561 und ermöglicht ein letztes Mal „eine Aristie Siegfrieds als des besten Jägers, dem […] keine Beute entgeht, der Tiere aller Art, sogar einen Löwen, erlegt und den ganzen Wald zu entvölkern droht“562. Hier

555 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.264 (899). 556 Vgl. Rüdiger Brandt: Grundkurs germanistische Mediävistik/Literaturwissenschaft (Anm.195), S.179. 557 Vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan (Anm.210), S.176 ff. (2760 ff.). 558 Ebd. S.178 (2831). 559 Otfried Ehrisman: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.67. 560 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.274 (937). 561 Lutz Mackensen: Die Nibelungen (Anm.467), S.141. 562 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.219. 109 werden die übermenschlichen Eigenschaften, die jeglichen Rahmen sprengen und die in ihrer Maßlosigkeit humoristische Züge annehmen, überschwänglich inszeniert. Über all dem schwebt jedoch wie ein Damoklesschwert die drohende Katastrophe. Mit dem „Motiv des gejagten Jägers“ kontrastiert der Epiker „den ahnungslosen Helden mit der Welt des planvollen Verrats“563 und situiert Siegfried damit genau in jenem Spannungsfeld zwischen archaischem Heroismus und höfischer Politik, das von Anfang an für seine Charakterisierung konstitutiv ist.

Die Todesszene Siegfrieds umfasst insgesamt 18 Strophen und wird in der Forschung unterschiedlich bewertet. Während Ursula Schulze sie als „unheroischen Tod ohne Möglichkeit zur kämpferischen Gegenwehr wie ein Tier des Waldes“ bezeichnet564, verweist Lutz Mackensen auf das letzte Aufbäumen „seine[r] ungeheuere[n] Lebenskraft“, als der tödlich Verwundete versucht, seine Mörder mit dem Schild zu erschlagen und damit ein letztes Mal „die riesigen Ausmaße seines Mutes und seiner Kampfkraft“ demonstriert565. Otfried Ehrismann interpretiert den pathetischen Todeskampf des Helden als Versuch des Epikers, dessen „Schuld zu verdrängen und ihm ein ehrendes Andenken zu wahren“566. Tatsächlich klagt der Sterbende seine Mörder mit letzter Kraft an, bezeichnet sie als „vil bœsen zagen“, die ihren Verwandten auf übelste Weise hintergangen haben567 und stellt mit bitterem Zynismus fest, womit ihm seine treuen Dienste vergolten werden („waz helfent mîniu dienest, daz ir mich habt erslagen?“568). Der Epiker selbst leitet die Mordszene mit der ironischen Bemerkung „dô engalt er sîne zühte“569 ein und lässt im weiteren Verlauf der Schilderung keinerlei Zweifel an seinem moralischen Urteil570. Der „naive Held“ ist in einer Formulierung von Ehrismann „an den Intrigen des Hofes zerbrochen“571 und Siegfried selbst stellt klar, dass er nur durch den hinterhältigen Plan zu Fall gebracht werden konnte: „het ich an iu erkennet den mortlichen sit, ich hete wol behalten vor iu mînen lîp“572. Verschwiegen wird hierbei allerdings, dass Siegfried selbst in hinterlistige Intrigen und Täuschungen verstrickt war; dass die Standeslüge, welche die ganze Untergangsdynamik ins Rollen brachte, seine Idee war und er sich selbst, geblendet durch seine maßlose minne, zu einem Instrument höfischer Machtspiele erniedrigen ließ. Seine bedingungslose Dienstbereitschaft kommt ein letztes Mal zum Ausdruck, als er nach dem

563 Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung (Anm.396), S.150. 564 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.219. 565 Lutz Mackensen: Die Nibelungen (Anm.467), S.142. 566 Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung (Anm.396), S.151. 567 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.288 (986). 568 Ebd. S.288 (986). 569 Ebd. S.286 (977). 570 Vgl. Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung (Anm.396), S.151. 571 Ebd. S.151. 572 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.290 (991). 110

Wettrennen zur Quelle trotz seines Durstes Gunther den Vortritt lässt573. Laut Bettina Geier werden auf diese Weise „die Situation bei der Ermordung Siegrieds und die Situation bei der Initialtäuschung auf Isenstein parallelisiert“ wodurch der Epiker den Zusammenhang zwischen beiden betont574: einerseits ordnet sich Siegfried in beiden Situationen freiwillig unter und andererseits ist der Mord eine Konsequenz des ständischen Täuschungsmanövers. Für Edward Haymes ist dieser letzte Unterwerfungsgestus exemplarisch und es ist bedeutsam, dass Siegfried „hier im Zuge einer letzten Dienstleistung mit seinem Leben dafür zahlt, dass er seine königliche Würde so vollständig hinter höfisch-chevalreske Werte stellen konnte“575. Sowohl in der Heldenepik, als auch im Ritterroman spielt die adelige Herkunft des Protagonisten eine wesentliche Rolle: auf den königlich/göttlichen Stammbaum antiker Helden, wie Achill, Hector oder Diomedes wurde im Kapitel 3.4. der vorliegenden Arbeit bereits verwiesen und auch in den Ritterromanen findet sich immer wieder die Betonung adeliger Abkunft: Erec ist der Sohn des Königs Lac576, im Tristan und Parzival wird die Geschichte der adeligen Vorfahren in zahlreichen Versen detailliert dargelegt. Indem Siegfried seinen Status öffentlich verleugnet, verstößt er also gegen Konventionen in der Heldencharakterisierung beiderlei literarischer Gattungen. Man kann mit Stephen Jaeger den hinterhältigen Mord als „heroische Kritik an höfischen Werten“ lesen577, doch übersieht man damit allzu leicht Siegfrieds federführende Rolle bei den Betrugshandlungen. Eine Reduktion auf archaischen Heroismus würde zu kurz greifen, denn die höfische Intrige ist für Siegfried gleichermaßen konstitutiv wie seine übermenschlichen Heldentaten. In der Mordszene wird dieser Aspekt jedoch ausgeblendet. Siegfried bricht den moralischen Stab über Gunther und Hagen, erklärt ob dieser Tat all ihre Verwandten und Nachkommen als der Schmach unterworfen578 und appelliert mit dem letzten Atemzug an Gunthers triuwe, dass er sich wenigstens um Kriemhild kümmern möge579. Damit beruft er sich ein letztes Mal auf ein zentrales Element des ritterlichen Tugendsystems, bevor die Schilderung seines Todes „mit einer sentimentalisierenden […] Strophe abgeschlossen [wird]“580.

In ihrer Verflechtung heroischer und höfischer Motive passt die Schilderung von Siegfrieds Tod stimmig zu dieser ambivalenten Figur, in der heterogene Aspekte beiderlei narrativer

573 Ebd. S.284 (975). 574 Bettina Geier: Täuschungshandlungen im Nibelungenlied (Anm.435), S.120. 575 Edward R. Haymes: Das Nibelungenlied (Anm.474), S.88. 576 Vgl. Hartmann von Aue: Erec (Anm.239), S.6 (2). 577 Zitiert in: Edward R. Haymes: Das Nibelungenlied (Anm.474), S.88. 578 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.290 (992). 579 Ebd. S.290 (993). 580 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.222. 111

Traditionen vereint werden: heldenepische hybris und ritterliche tugent; höfische minne und archaische Leidenschaft; bedingungslose triuwe und pragmatische list. Dementsprechend unterschiedlich fällt auch die Bewertung in der Forschung aus: während etwa Schulze und Müller die Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit in der Charakterisierung betonen581, befindet Mackensen, dass es „wenig Gestalten in unserer Dichtung [gibt], die ihrem Dichter so glaubwürdig gelungen sind wie dieser Siegfried“582. Vor dem Hintergrund aktueller Theorien von narrativer Identitätskonstitution, die sich von traditionellen Ansätzen, basierend auf rigiden Identitätsmodellen, entfernen, stellt sich die Frage, ob es zwischen den zitierten Positionen überhaupt einen Widerspruch geben muss. Vielleicht ist der Siegfried des Nibelungenlieds gerade aufgrund seiner Widersprüchlichkeit glaubwürdig und in Zeiten schwindender verbindlicher Bezugs- und Wertesysteme aktueller denn je.

581 Vgl. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.150, Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.85. 582 Lutz Mackensen: Die Nibelungen (Anm.467), S.143. 112

6.3. Hagen von Tronje

Als Siegfried seinen Eltern in der dritten Aventiure eröffnet, dass er vorhat, nach Worms zu reiten um dort um die Hand von Kriemhild zu werben, warnt ihn sein Vater Siegmund vor dem degen Hagen, „der […] mit ubermüete der hôchverte pflegen [kan]“583. Es ist schon auffällig, dass die Beschreibung der Mitglieder des Wormser Hofes nicht mit den drei Königen, sondern mit deren Vasall und seinem bemerkenswerten ubermüete beginnt, woran sich unmittelbar eine düstere Vorausdeutung anschließt.

Ursprünglich handelt es sich beim Begriff übermuot um eine Übersetzung des lateinischen superbia mitsamt all seinen theologischen Implikationen. Laut Müller treten diese bei der volkssprachlichen Übersetzung zunehmend in den Hintergrund, wodurch sich auch die Konnotation ändert: „was die Kleriker als sündhafte Selbstüberhebung geißeln, ist für den Adel u.U. Ausweis von Herrschaftsfähigkeit“584. Im Spannungsfeld zwischen Kirche und Staat, zwischen klerikalem Katechismus und höfischer Herrschaft bleibt der Begriff ambivalent. Müller definiert ihn im Nibelungenlied als „das Bewusstsein der Überlegenheit, das hinter Aggression steht“585, das einerseits natürlich mit der christlichen Tugend humilitas in Widerspruch steht, andererseits aber häufig eine notwendige Voraussetzung für die Durchsetzung von (politischen) Interessen darstellt. Ehrismann zufolge baut das Wort im Nibelungenlied „sein eigenes Bedeutungsfeld auf“ und bildet den Gravitationspunkt von Begriffen, wie „Unachtsamkeit, Leichtfertigkeit, Überheblichkeit, Egozentrik“586. Als neuhochdeutsche Entsprechung dieses Begriffskomplexes könnte der Stolz gelten, wobei einerseits zu beachten ist, dass „der Stolz für die mittelalterlichen Menschen ein wesentlicher Bestandteil des adeligen Standesbewusstseins war“587, der Begriff im Epos andererseits (im Gegensatz zu hôher muot) zumeist negativ konnotiert ist: „wer übermuot/übermüete hat, denkt an den Vorteil und die Lust des Augenblicks, weniger an die möglichen, auch für ihn schlimmen Folgen seines Handelns“588. In dem Begriff treffen also adeliges Standesbewusstsein und unreflektierte Impulsivität aufeinander, was eine explosive Mischung ergeben kann. Im Nibelungenlied taucht er immer wieder in Zusammenhang mit Aggressivität und Rücksichtslosigkeit auf, etwa unmittelbar vor Siegfrieds anmaßendem ersten Auftritt in Worms

583 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.20 (52). 584 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.133. 585 Ebd. S.133. 586 Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung (Anm.396), S.114. 587 Ebd. S.114. 588 Vgl. ebd. S.114. 113

(„lebt iemen ubermüeter, des enwas niht nôt, denne wære Sîvrit und di sîne man“589) oder bezogen auf Brünhild, als sie in ihrem Streit mit Kriemhild von deren Tränen ungerührt bleibt („Brünhilt diu schœne mit übermüete saz. swaz geweinte Kriemhilt, unmær was ir daz“590). Es kommt wohl auch nicht von ungefähr, dass mit Siegfried, Brünhild und Hagen ausgerechnet jene Figuren genannt sind, die am tiefsten in der Tradition der Heldenepik verwurzelt sind und sich dementsprechend sperrig in die Konventionen des höfischen Lebens, basierend auf Idealen, wie zuht und mâze, einfügen: „Hochvert[ig]e site scheint ein Merkmal der Heroen zu sein und so wie übermüete alle ihre Aktionen zu charakterisieren“591. Mackensen sieht in diesem Kontext einen Zusammenhang mit jener Maßlosigkeit, die im bereits dargelegten Sinne der Hybris in der Heldendichtung nahesteht592.

Die Erstnennung Hagens durch Siegmund deutet dessen herausragende Stellung am Wormser Hof an. Er ist der wichtigste Ratgeber der Könige, seine profunden diplomatisch/politischen Kenntnisse blitzen immer wieder auf, „dem sint kunt diu rîche und ouch diu vremden lant“593. Volker Mertens sieht in dieser Bemerkung „das Pendant zu Siegfrieds Weitgereistheit (er versuochte vil der rîche [Str.21] und verweist auf eine beiden gemeinsame Dimension: die Teilhabe an Fremdem, ja Mythischem“594. Und tatsächlich muten seine blitzschnelle Auffassungsgabe, sowie sein umfangreiches Wissen in manchen Situationen geradezu übermenschlich an: Als Siegfried mit seinen elf Begleitern in Worms ankommt, erkennt er ihn sofort, obwohl er ihn nach eigenen Angaben noch nie gesehen hat595, ebenso weiß er sogleich, dass es sich bei Etzels Werber um Kriemhilds Hand um Rüdiger von Bechelaren handelt596 und identifiziert Etzels Gesandte Wärbel und Swemmel vor allen anderen Mitgliedern des Hofes597. Mackensen vermutet, dass die erstaunlichen Personen- und Ortskenntnisse von Hagen teilweise mit dessen Vorgeschichte, wie sie im lateinischen Epos Waltharius geschildert werden, erklärt werden können. Darin wird erzählt, „wieso er den Hunnenhof so gut kennt, den weiten Weg zur Etzelburg weiß, mit Wärbel und Schwemmel bekannt ist“598. Doch Hagens Verständnis für politische Verhältnisse und Entwicklungen, die anderen verborgen bleiben, reicht noch weiter:

589 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.24 (66). 590 Ebd. S.320 (1097). 591 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.134. 592 Vgl. Lutz Mackensen: Die Nibelungen (Anm.467), S.142. 593 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.28 (80). 594 Volker Mertens Hagens Wissen – Siegfrieds Tod. Zu Hagens Erzählung von Jungsiegfrieds Abenteuern. In: Harald Haferland, Michael Mecklenburg (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. München: Wilhelm Fink Verlag 1996, S.64. 595 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.30 (84). 596 Vgl. ebd. S.344 (1177). 597 Vgl. ebd. S.416 (1429). 598 Lutz Mackensen: Die Nibelungen (Anm.467), S.144. 114

Im Krieg gegen die Sachsen und Dänen ist es seine Idee, sich an Siegfried um Unterstützung zu wenden599 und als einziger durchschaut er die mörderische Absicht, die hinter Kriemhilds Einladung an Etzels Hof steht600.

Als mögliche literarische Vorlage für Hagen wird oft Högni aus den Liedern der Älteren Edda gehandelt. Auch hier ist die Funktion als Ratgeber (nicht nur in politischen Belangen) zentral. So heißt es etwa im dritten Sigurd-Lied über König Gunnar, nachdem sich Brynhild ihm verweigert:

Gleich lange bedacht´ er dieses wie jenes. Das war selten geschehen vordem, Dass der Königswürde ein Weib entsagte. Da hieß er Högni heischen zum Gespräch, Denn volles Vertrauen trug er dem.601

In politischen wie in anderen misslichen Lebenslagen steht Högni als zuverlässiger Ratgeber zur Verfügung. Zu dem unbedingten Vertrauen zwischen Gunnar und Högni kommt in der Älteren Edda ihre Blutsverwandtschaft: sie sind Brüder und damit gleichrangig. Wie der Hagen des Nibelungenlieds mit dem Wormser Königshaus verwandt ist, geht aus dem Epos nicht eindeutig hervor. Der Umstand, dass er an manchen Stellen als mâc bezeichnet wird602, legt eine Verwandtschaft nahe, das genaue Verhältnis bleibt jedoch im Dunkeln. Im Verlauf der Handlung agiert er jedenfalls nicht als mâc etwa Kriemhilds oder Giselhers, sondern in erster Linie als man Gunthers. Nach Müller ist er „durch seine Position als erster Vasall und Helfer der burgundischen Könige definiert. […] Als Charakter wäre er zwiespältig, als Vertreter einer Position im Herrschaftsgefüge handelt er völlig konsequent“603.

Bereits bei seinem ersten Auftritt wird sein strategisches Denken deutlich: Nachdem er über die Heldentaten des jungen Siegfried berichtet hat, fügt er als Nachsatz hinzu: „sîn lîp, der ist sô küene, man sol in holden hân“604. Einerseits klingt darin ein utilitaristisches Denken an, dem alle Mittel zur Sicherung und Steigerung der politischen Macht des Königs recht sind, andererseits schwingt im Wort holt/holde laut Ehrismann auch der Kommendationsbegriff mit,

599 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.48 (149). 600 Vgl. ebd. S.422 (1456). 601 Die Edda (Anm.101), S.203 (27,14). 602 Vgl. z.B. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.262 (895). 603 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.105. 604 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.34 (99). 115 der für ein Verständnis der Beziehungen zwischen den Figuren im weiteren Verlauf der Geschichte wesentlich ist605.

Walter Falk bezeichnet Hagen als „Anwalt der Ehre“606. Durch den öffentlichen Streit der Königinnen ist die Ehre Brünhilds, die durch die Hochzeit mit Gunther zu seiner Herrin geworden ist, verletzt worden. Nachdem ihm Brünhild unter Tränen ihr Leid geklagt hat, verspricht er, sich an Kriemhilds Mann zu rächen607, den anfänglichen Widerstand des Königs bricht er, indem er ihm erheblichen Machtzuwachs durch Siegfrieds Tod in Aussicht stellt608. Wieder einmal scheint Hagen der einzige zu sein, der die politische Tragweite von Kriemhilds Anschuldigungen erfasst:

Die Königin wurde öffentlich bezichtigt, ihre Jungfräulichkeit durch Siegfried verloren zu haben; diese Anschuldigung wurde zudem durch Beweise erhärtet, die auch durch Siegfrieds Eid nicht aus der Welt geschafft wurden. Nicht Hagen allein empfindet die Ungeheuerlichkeit der Anschuldigung, auch die Gefolgsleute reagieren entsprechend: do waren in unmuote genuoge Guntheres man (871, 4). Hagen ist sofort klar, dass Siegfried eine potentielle Gefahr für den Königshof darstellt und deswegen beseitigt werden muss609.

Auf den zentralen Stellenwert des êre-Begriffs in der höfischen Gesellschaft des Mittelalters wurde in Kapitel 4.3. bereits eingegangen und Ritterromane wie Erec oder Iwein illustrieren nachdrücklich, wie verhängnisvoll sich der Verlust von êre auf das Leben am Hof auswirken kann. Im Gegensatz zur Motivierung in der Edda, in der Brynhild aus Eifersucht den Vorwurf des Ehebruchs Sigurds erfindet, wird der Streit im Nibelungenlied zu einem Politikum, bei dem Ansehen und Zukunft des Hofes auf dem Spiel stehen. Auffällig ist zudem, dass trotz Hagens federführender Rolle bei der Planung und Ausführung des Mordes, Brünhild dreimal als Initiatorin genannt wird610. Formulierungen, wie „daz het gerâten Brünhilt, des künic Guntheres wîp“611 oder „ez hât gerâten Brünhilt, daz ez hât Hagen getân“612 lassen keinen Zweifel daran, dass Hagen nicht in Eigenregie, sondern als Vasall seiner Herrin gehandelt hat. Einerseits ist dies für die Gesamtkomposition des Werkes wichtig: bereits in der vierten Strophe wird der Untergang der Burgunden „von zweier edelen frouwen nît“ prophezeit613 und die

605 Vgl. Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung (Anm.396), S.116. 606 Walter Falk: Das Nibelungenlied in seiner Epoche (Anm.498), S.183. 607 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.252 (861). 608 Vgl. ebd. S.254 (867). 609 Bettina Geier: Täuschungshandlungen im Nibelungenlied (Anm.435), S.106. 610 Vgl. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.215 ff. 611 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.268 (914). 612 Ebd. S.294 (1007). 613 Ebd. S.6 (4). 116

„Sinneinschreibung des Mordes als Brünhilds Rache bildet das Pendant zu Kriemhilds Rache im zweiten Teil“614. Andererseits ist Hagen trotz seiner zentralen Bedeutung für die narrative Struktur des Epos (er steht in einer Formulierung von Edward Haymes „immer im Mittelpunkt […] der narrativen Kamera“615) nur ein Vasall und steht damit hierarchisch – trotz seiner implizierten Verwandtschaft mit der Königsfamilie – unter ihr. Trotzdem geht der Epiker mit ihm strenger ins Gericht als mit der Auftraggeberin des Mordes: Die Erfragung von Siegfrieds verwundbarer Stelle bezeichnet er als „meinræte“, als den hinterhältigsten Verrat, den je ein Recke begangen hat616, er brach „sîne triuwe vil sêre an Sîfriden“617. Mertens führt die starke Akzentuierung und damit einhergehende Verurteilung von Hagens Rolle bei dem Mord auf narrative Grundstrukturen des Epos zurück. Dem zufolge wird Hagen von Anfang an als Gegenspieler Siegfrieds aufgebaut (vgl. hierzu auch Mackensen, der die Gegensätzlichkeit ihrer Rollen betont: „was jener [Siegfried] nur spielt, ist er [Hagen] in der Tat: ein Vasall“618). Wenn man mit Theodore Anderson davon ausgeht, dass Siegfried stirbt, weil es die heldenepische Tradition verlangt, „so ist es eben diese Dimension, die der Erzähler aktualisiert, indem er Hagen als den mythischen Widerpart des mythischen Heroen in der 3. Aventiure inszeniert“619. Man hat es hier also mit zweierlei Formen der Motivation zu tun. Einerseits geschieht der Mord aus metanarrativen Gründen: Einem archetypischen Helden wie Siegfried muss ein ebensolcher Widersacher gegenübergestellt werden, durch dessen Hand er schließlich den Heldentod sterben kann. Andererseits ist der Mord eine logische Konsequenz aus der Figurenkonstellation am Wormser Hof in Kombination mit den herrschenden Gesellschaftsverhältnissen. Als Vasall zu triuwe und der Verteidigung der êre von König und Königin verpflichtet, bleibt Hagen nichts anderes übrig als zu handeln. Und er tut dies mit aller Konsequenz. Als Gunther nach der Bluttat Gewissensbisse plagen, wird er brüsk zurechtgewiesen:

Dô sprach der grimme Hagene: „jâne weiz ich, waz er kleit. allez hât nu ende, unser sorge unt unser leit. wir vinden ir vil wênic, di getürren uns bestân. wol mich, deich sîner hêrschaft ze râte hân getân.“620

614 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.216. 615 Edward R. Haymes: Das Nibelungenlied (Anm.474), S.99. 616 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.264 (903). 617 Ebd. S.282 (968). 618 Lutz Mackensen: Die Nibelungen (Anm.467), S.143. 619 Volker Mertens: Hagens Wissen – Siegfrieds Tod (Anm.569), S.65. 620 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.290 (990). 117

Während Gunther in Anbetracht der verwandtschaftlichen triuwe, zu der er Siegfried eigentlich verpflichtet wäre, ins Grübeln kommt, sind seinem man solche Bedenken fremd und er sieht in der Tat lediglich die Vorteile, die dem Hof daraus erwachsen. Bereits die Orchestrierung der Jagd spiegelt laut Althoff die utilitaristische Skrupellosigkeit Hagens: „dies macht die Tat zum Gipfel der Ruchlosigkeit, da mit der Jagd die Sphäre der friedfertigen Geselligkeit missbraucht wurde, zu der man eigentlich aufbrach, um seine Verbundenheit zu stärken“621 Einmal mehr lässt sich hier das im Nibelungenlied immer wieder anklingende „Widerspiel zwischen bewusster Intention und verselbstständigter, gegenläufiger Wirkung“ attestieren. Mit seiner moralisch zweifellos diskutablen Tat beabsichtigte er eine Stärkung des Wormser Königshofes, einerseits durch die Wiederherstellung von Brünhilds êre und andererseits durch die Erlangung des Nibelungenhortes622, doch ihr Ergebnis wird die vollständige Vernichtung des Burgundischen Adelsgeschlechts in Etzels Saal sein. In der Forschung kann Hagens ehrliches Bemühen um das Wohl des Reiches bei allen übrigen Unterschieden in der Bewertung dieser Figur (die alle Nuancierungen zwischen „wahrhaft germanischer Erhabenheit“ bis zu „Schurke“ abdeckt) als kleinster gemeinsamer Nenner bezeichnet werden, der etwa von Siegfried Beyschlag, Friedrich Maurer oder Heinz Rupp betont wird623. In der Regel wird Hagen als ein Vasall ohne moralische Bedenken interpretiert, der in machiavellischer Manier das Ideal der Macht über ethische Überlegungen stellt und auch kein Hehl daraus macht.

Doch diese opportunistische Haltung schlägt immer wieder in eine rücksichtslose Form heroischer Schicksalsverachtung um. Nicht nur, dass er sich nach dem halbherzig durchgeführten Ablenkungsmanöver mit den Räubern offen zum Mord an Siegfried bekennt624, sondern er tut dies im Zuge einer provokanten Geste mit dessen Schwert Balmung, nachdem er der Königin den Gruß verweigert hat625. In dieser Situation, in der er als „der übermüete Hagene“ bezeichnet wird626, offenbart sich eine andere Seite des kühlen Strategen und vorausplanenden Denkers. Hier geht es nicht mehr darum, die Macht des burgundischen Königshofes zu vermehren, oder auch nur darum, in Anbetracht der bevorstehenden Katastrophe Schadensbegrenzung zu betreiben. Vielmehr geht es darum, dem Schicksal in der berühmten Formulierung von Ludwig van Beethoven „in den Rachen zu greifen“627 im Sinne eines heroischen, trotzigen Aufbäumens in sicherer Gewissheit seiner Vergeblichkeit. So

621 Gerd Althoff: Verwandte, Freunde und Getreue (Anm. 472), S.185. 622 Vgl. Walter Falk: Das Nibelungenlied in seiner Epoche (Anm.498), S.193. 623 Vgl. ebd. S.180. 624 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.518 (1787). 625 Vgl. ebd. S. 516 (1780). 626 Ebd. S.516 (1780). 627 Ludwig Schiedermair: Der junge Beethoven. Hildesheim: Georg Olms Verlag 1978, S.313. 118 reagiert er etwa auf die Überbringung von Kriemhilds Einladung durch die Gesandten von Etzel mit jener Weitsichtigkeit, die sich für den langjährigen und bewährten Berater des Königs ziemt: im Gegensatz zu seinen übrigen Gefolgsleuten, die ihm raten, „daz er wol möhte rîten in Etzeln lant“628, durchschaut Hagen Kriemhilds Racheabsicht sofort und spricht sich gegen die Reise aus. Er warnt Gunther davor, dass er „di êre und ouch den lîp“629 aufs Spiel setzt, wenn er die Einladung annimmt und schätzt damit die Situation auf den ersten Blick richtig ein. Als jedoch Giselher vorschlägt, die Reise ohne Hagen anzutreten, zieht er dessen Zorn auf sich:

Dô begonde zürnen von Tronege der degen: „ine wil, daz ir iemen füeret ûf den wegen, der getürre rîten mit iu ze hove baz. sît ir niht welt erwinden, ich sol iu wol erzeigen daz.“630

Den impliziten Vorwurf, dass er sich davor fürchten würde, mit an Etzels Hof zu reisen („und lâzet, di getürren, zuo mîner swester mit uns varn“631), kann Hagen nicht auf sich sitzen lassen, denn dies würde seine êre beschädigen. Indem er Gunther immerhin dazu überreden kann, mit einem ansehnlichen Heer an Etzels Hof zu reisen, lässt sich in diesem ersten Stadium noch von einem Versuch der Schadensbegrenzung sprechen: Hagen durchschaut Kriemhilds Racheplan und trifft Vorkehrungen zur Verteidigung.

In der Bestätigung von Hagens warnenden Worten durch den prophetischen Traum von Ute („mir ist getroumet hînte von angestlicher nôt, wi allez diz gefügele in disem lande wære tôt“632) klingt jene Teilhabe an Fremdem, ja Mythischen an, die bereits in Mertens´ Figurencharakterisierung zitiert worden ist. Hagens pragmatische Warnung vor Kriemhilds Racheabsicht findet hier ihre mythische Entsprechung in Form einer fatalistischen Vorhersage, wie sie bereits in Utes Deutung von Kriemhilds Falkentraumes geschehen ist. Noch deutlicher tritt seine Verbindung mit dem Mythischen in der 25. Aventiure zutage, als er auf die weissagenden merewîp trifft. Haymes verortet diese Szene in der heldenepischen Tradition, indem er das Zusammentreffen mit übersinnlichen Wesen und deren Prophezeiung zu den wesentlichen Merkmalen heroischer Dichtung zählt633. Interessanterweise ist es laut Gottfried Weber auch die einzige Stelle im Nibelungenlied, an der Hagen als ritter bezeichnet wird634,

628 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.422 (1455). 629 Ebd. S.424 (1458). 630 Ebd. S.424 (1461). 631 Ebd. S.424 (1460). 632 Ebd. S.436 (1506). 633 Vgl. Edward R. Haymes: Das Nibelungenlied (Anm.474), S.102. 634 Vgl. Gottfried Weber: Nibelungenlied (Anm.29), S.234. 119 also ausgerechnet in einem Kontext, der sich stark durch heldenepische Motive auszeichnet. Zunächst zweifelt Hagen an der Weissagung und macht die Probe aufs Exempel, als er den Kaplan, dem als Einzigen eine sichere Rückkehr nach Worms prophezeit wurde635, in die Donau wirft. Als sich der arme Kerl mit Müh und Not ans Ufer retten kann, sind alle Zweifel beseitigt („dâ bî sach wol Hagen, daz sîn niht wære rât, daz im für wâr sageten diu wilden merewîp“636) und Hagen zerstört nach der Überfahrt in einer symbolträchtigen Geste das Boot, das die Burgunder über die Donau brachte. Ehrismann verweist auf dieses Motiv im „Grönländischen Atlilied“ und bei Alexander den Großen, „der nach dem Übergang über den Euphrat die Brücke zerstörte, um seinem Heer jeden Rückzug abzuschneiden“637, auch in Anbetracht dieser schockierenden Tat eine durchaus schmeichelhafte Parallelisierung. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch die Änderung der Beurteilung Hagens durch den Erzähler. Wird er im Kontext von Siegfrieds Ermordung noch nachdrücklich und wiederholt der „untriuwe“ bezichtigt638, ist er nun der „Nibelungen helflicher trôst“639 und seine Tapferkeit und Verlässlichkeit werden immer wieder betont640. Seit dem Hortraub werden die Burgunden als Nibelungen bezeichnet und Hagen reitet ihnen voran641. Mit dem Begriff Nibelungen wird von nun an „nicht mehr eine Dynastie bezeichnet, sondern die Träger eines gens aus der Heroenwelt“642. Der sagenhafte Hort, der für Siegfrieds heroischen Werdegang (im Sinne der narrativen Struktur Bewährungsprobe – Machtgewinn – tragischer Tod) konstitutiv war, ist nun auf die Burgunder übergegangen und er soll am Ende auch ihnen kein Glück bringen. Kurt Hübner hat für dieses Motiv der Übertragung eines bestimmten Verhängnisses den Begriff der „mythischen Substanz“ geprägt643. Ein Beispiel aus der griechischen Mythologie sind etwa die Tantaliden: durch die frevelhafte Tat ihres Ahnherrn (der den Göttern seinen eigenen Sohn zum Essen vorsetzt um ihre Allwissenheit zu testen) kommt ein Fluch auf das gesamte Geschlecht, der generationenübergreifend wirksam bleibt. Bis zu Orestes, dem letzten Nachkommen des Tantalos sind ihm zahlreiche Generationen unterworfen und ihr Schicksal von Mord und Gewalt bestimmt. Doch die Übertragung der mythischen Substanz ist laut Hübner nicht auf Verwandtschaftsverhältnisse beschränkt, wie er an der Ödipussage illustriert, in der die

635 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.446 (1539). 636 Ebd. S.458 (1577). 637 Gottfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung. München: Verlag C.H. Beck 2002, S.170. 638 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.256 (873). 639 Ebd. S.442 (1523). 640 Vgl. ebd. S.462 (1596). 641 Vgl. ebd. S.442 (1523). 642 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.166. 643 Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos. München: Verlag C. H. Beck 1985, S.174. 120

Freveltat eines Einzelnen ganz Theben korrumpiert, ebenso wie seine Sühne alle Thebaner erlösen kann644.

Der Namenswechsel im Nibelungenlied kommt nach Ehrismann der narrativen Struktur des Epos entgegen: „der Tod des einen, des Nibelungenherrschers, bildet den Tod der vielen Nibelungen voraus“645. Während der Fokus im ersten Teil auf Siegfried und seinen Bemühungen um Kriemhild liegt, steht im zweiten das Schicksal von Hagen und den nunmehr als Nibelungen bezeichneten Burgunden im Mittelpunkt. In beiden Fällen steht eine unheilvolle Prophezeiung in Form eines Traums am Anfang, die sich nach und nach vollzieht und in beiden Fällen steht am Ende eine Glorifizierung des jeweiligen Helden trotz seiner moralisch oft fragwürdigen Handlungen. Aus dieser Perspektive wird die erstaunliche Änderung von Hagens Bewertung durch den Erzähler etwas verständlicher.

Auf ihrem Weg nach Etzelburg kehren die Nibelungen in Bechelaren ein. Ihr Aufenthalt bei Markgraf Rüdiger bietet ein letztes Mal den Rahmen für eine Beschreibung höfischer Konventionen und Sitten. So wird etwa die milte des Gastgebers betont und es gibt detaillierte Schilderungen seiner Gastfreundschaft. Hagen schlägt vor, Rüdigers Tochter (deren Name im Nibelungenlied nicht genannt wird und die in der Klage Dietlind heißt) mit Giselher zu vermählen646, was in der Forschung unterschiedlich bewertet wird: Mohr und Ehrismann deuten dies als taktisches Manöver: durch die Heirat käme es zu einer politischen Verbindung zwischen Worms und Bechelaren. Ähnlich wie Kriemhild 13 Jahre zuvor geht es Hagen darum, Verbündete zu gewinnen647. Splett und Grosse hingegen sehen in diesem Zusammenhang keinerlei politisches Kalkül. Einerseits wird bereits im Vorfeld eine gewisse Sympathie zwischen Giselher und Rüdigers Tochter angedeutet und andererseits rät Hagen zu der Vermählung „vil harte güetlichen“648, womit er nach Siegfried Grosse „warmherzige Züge“ an den Tag legt649.

Abgesehen davon, ob die Hochzeitspläne aus taktischen Überlegungen, oder menschlicher Anteilnahme geschmiedet werden, ist es in jedem Fall erstaunlich, dass man sich nach der Prophezeiung der merewîp und der Zerstörung des Bootes überhaupt Gedanken um die Zukunft macht. Jochen Splett erklärt dies mit der „Ausstrahlungskraft der friedlichen Atmosphäre in Bechelaren“, welche den Dichter Hagens Wissen um den Burgunderuntergang vergessen

644 Vgl. ebd. S.327. 645 Gottfried Ehrismann: Nibelungenlied (Anm.611), S.168. 646 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.486 (1675). 647 Vgl. Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung (Anm.396), S.172. 648 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.486 (1674). 649 Siegfried Grosse: Kommentar. (Anm.441), S.832. 121 lasse650. In diesem Zusammenhang sei auf die besondere Verbindung zwischen Hagen und Rüdiger verwiesen: Bei der Ankunft in Bechelaren wird Hagen aufgrund ihrer langen Bekanntschaft besonders herzlich begrüßt651 und beim Abschied mit einem besonderen Geschenk bedacht. Er (dessen Äußeres im Übrigen in dieser Aventiure als so düster bezeichnet wird, dass Rüdigers Tochter ihm zunächst keinen Willkommenskuss geben will652) bekommt den Schild von Rüdigers gefallenen Sohn Nudung, was durchaus als Auszeichnung verstanden werden kann („diu gâbe was mit êren an den recken gewant“653). Diesem Schild, sowie den Implikationen seiner Übergabe, kommt gegen Ende des Epos noch eine wesentliche Bedeutung zu, worauf zu gegebener Stelle noch eingegangen wird.

Nach dem retardierenden Element in Bechelaren erreichen die Nibelungen Etzels Hof, wo es mit den warmherzigen Zügen auf beiden Seiten bald vorbei ist. Kriemhild versucht wiederholt, die Hunnen auf einen Angriff auf die Nibelungen einzuschwören und Hagen reagiert auf die feindliche Umgebung mit einer Provokation nach der anderen. Die Lage eskaliert mit der Ermordung des nibelungischen Trosses und dem Ausbruch des offenen Kampfes im Saal. Die „höfische Ordnung“ geht in einer Formulierung von Müller „nicht einfach zu Bruch, ihr Untergang wird als blutiges Gegenfest gefeiert“654. In Anbetracht der ausufernden Gewalt und deren detaillierter Beschreibung ist dieser Befund sicherlich richtig, doch es darf nicht vergessen werden, dass selbst in diesem „Rausch der Vernichtung“655 Elemente der höfischen Kultur Bestand haben. So weigern sich etwa die Nibelungen trotz der Aussicht auf freies Geleit unter Verweis auf die triuwe, Hagen als Geißel auszuliefern656. Diese Engführung des Gegensätzlichen – in diesem Fall der archaischen Barbarei mit einem zentralen Wert des ritterlichen Tugendsystems – kann als exemplarisch für die irritierende Heterogenität des Nibelungenliedes bezeichnet werden. In kaum einer Figur ist dieser Zwiespalt deutlicher personifiziert als in Hagen. Unmittelbar vor dem Ausbruch der Kämpfe tötet er skrupellos den Sohn von Kriemhild und Etzel und als Kriemhild den Saal in Brand stecken lässt, fordert er die Nibelungen auf, das Blut der Gefallenen zu trinken. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. In der berührenden Konfrontation mit Rüdiger, der in seiner Funktion als Vasall Etzels

650 Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren (Anm.436), S.69. 651 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.480 (1654). 652 Vgl. ebd. S.482 (1662). 653 Ebd. S.492 (1698). 654 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.171. 655 Ebd. S.167. 656 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.608 (2103). 122 gezwungen wird, gegen die Nibelungen zu kämpfen, wird deutlich, dass es ein grober Kurzschluss wäre, Hagen auf seine Rolle als Provokateur und Aggressor zu reduzieren.

Auf Rüdigers moralisches Dilemma wurde im betreffenden Kapitel bereits eingegangen: seine lehensrechtlichen Verpflichtungen zwingen ihn dazu, gegen seine Freunde, die er nur ein paar Aventiuren zuvor aufs herzlichste bewirtet hat, zu kämpfen. Als er den Saal betritt, stellt er gleich klar: „ê dô wâren wir vriunde. der triuwen wil ich ledec sîn“657. Sein innerer Zwiespalt tritt jedoch in der folgenden (zunächst verbalen) Konfrontation immer wieder zu tage, etwa, wenn er sich den Tod wünscht, um nicht gegen seine Freunde kämpfen zu müssen658. Motive, wie êre und triuwe klingen immer wieder an und für eine Weile befindet sich der Konflikt in der Schwebe. Zuletzt kündigt ihm Giselher das verwandtschaftliche Verhältnis auf, zumal für ihn „die Treue zu den Blutsverwandten höher steht als die zu seinem Schwiegervater“659. An dieser Stelle, an der alles gesagt zu sein scheint und die beiden Parteien im Begriff sind, sich aufeinander zu stürzen, ergreift Hagen das Wort. Er bittet Rüdiger um seinen Schild, weil sein eigener, den er als Geschenk in Bechelaren erhalten hatte, in den Kämpfen zerschlagen wurde und er verwendet dabei nicht das sonst übliche Ihr, sondern das vertrauliche Du:

Daz es got von himele geruochen wolde, daz ich schilt sô guoten noch tragen solde, sô den du hâst vor hende, vil edel Rüedegêr, sô bedorft ich in den stürmen deheiner halsberge mêr660

Die Bedeutung dieser Geste geht weit über eine rein pragmatische Dimension hinaus. Angesichts der Vielzahl an erschlagenen Kriegern im Saal dürfte an Waffen und Schilden wahrlich kein Mangel herrschen661, doch es geht hier um etwas Anderes: „Hagen ermöglicht ihm durch seine Bitte, die Freundschaft in einer sichtbaren Tat zu beweisen. […] [Er] verschafft durch diese symbolische Geste seinem Gegner allgemeine Anerkennung, was Gunther und Gernot trotz ihren lobenden Worten nicht gelungen war“662. Somit schafft er für Rüdiger in seinem Dilemma eine Möglichkeit, seine êre behalten, ohne seine Lehnspflicht zu vernachlässigen. Gleichzeitig tragen beide jener reziproken Verpflichtung, jenem unausgesprochenen Vertrag, Rechnung, der mit der Geschenkübergabe in Bechelaren

657 Ebd. S.628 (2172). 658 Vgl. ebd. S.630 (2180). 659 Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren (Anm.436), S.95. 660 Das Nibelungenlied (Anm.10), S. 634 (2192). 661 Vgl. Jochen Splett: Rüdiger von Bechelaren (Anm.436), S.96. 662 Ebd. S.96. 123 geschlossen wurde. Diese Bindung kommt etwa in Hagens Ausruf „nu lôn iu got von himele, vil edel Rüedegêr!“663 nach der neuerlichen Schildübergabe, sowie seiner (und Vokers) Weigerung, den Markgrafen im folgenden Kampf anzugreifen, zum Ausdruck. Für Ursula Schulze „bewahrt [Hagen] hier die Treue, die er Siegfried gegenüber gebrochen hatte, und bringt sein Verständnis für die Zwangslage des Freundes zum Ausdruck“664 und Lutz Mackensen sieht im Schildertausch in einer emphatischen Formulierung gar die „Peripathie“ Hagens:

Die Gaben sind getauscht, die Freundschaft hat gesiegt. Menschlichkeit geht über Ideen. Rüdeger hat sein Innerstes bezwungen; er war der Mann zu solchem Sieg über sich selbst. Aber auch Hagen hat sich überwunden, sein Misstrauen, seine Menschenverachtung, seine Unzugänglichkeit, seinen Starrsinn. Dies ist seine Aristie […]665

Auch Otfried Ehrismann interpretiert die Geste als den „tiefen[n] Wunsch, dass der Gegner überleben möge; da ist tiefe Freundschaft und heroische Resignation, Trauer überdeckt von der Vasallenpflicht“666. Letztere, die in Zusammenhang mit Hagen immer eine so wichtige Rolle gespielt hat, scheint an diesem Punkt der Erzählung brüchig geworden zu sein, den er gelobt, Rüdiger nicht anzugreifen, selbst, wenn dieser alle Burgunden erschlagen würde667 - eine bemerkenswerte Aussage, vor allem in Anbetracht der starken Fokussierung auf Hagens Vasallenrolle in der Forschung668. Kurz vor dem Ende blitzt somit ein Persönlichkeitsaspekt auf, den man dieser Figur, deren Verhalten sich so oft durch Skrupellosigkeit, Egoismus und Rücksichtslosigkeit, in einem Wort durch übermuot, ausgezeichnet hat, kaum zugetraut hätte.

Ähnlich wie Siegfried ist auch Hagen kein heroischer Tod bestimmt. Während der eine hinterrücks ermordet wird, stirbt der andere hilflos von der Hand einer Frau, was dann auch sogleich Hildebrand auf den Plan ruft:

„Wâffen“, sprach der fürste, „wi ist nu tôt gelegen von eines wîbes handen der aller beste degen, der ie kom ze sturme oder ie schilt getruoc! swi vîent ich im wære, ez ist mir leide genuoc.“669

663 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.636 (2196). 664 Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.174. 665 Lutz Mackensen: Die Nibelungen (Anm.467), S.148. 666 Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung (Anm.396), S.191. 667 Vgl. Das Nibelungenlied (Anm.10), S.636 (2198). 668 Vgl. z.B. Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.111, Walter Falk: Das Nibelungenlied in seiner Epoche (Anm.498), S.183, Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.58. 669 Das Nibelungenlied (Anm.10), S.686 (2371). 124

Wie bei Siegfried findet auch hier eine Glorifizierung des Toten statt: Hagen ist der aller beste degen und sogar König Etzel, dessen eigener Sohn nur kurz zuvor von Hagen ermordet wurde, empfindet Trauer ob Hagens Tod670. Es wäre jedoch vorschnell, diese Trauer im Sinne einer neuzeitlichen Sentimentalität zu verstehen, denn es geht hierbei vielmehr um die unheroische Art seines Todes: „wie Hagen im Namen des Burgundenhofes sich zum Arm der Gerechtigkeit erhob, als er Siegfried, der leichtfertig mit den Werten des Feudalsystems umsprang, ermordete und sich damit ins Unrecht setzte, so setzte sich Kriemhild ins Unrecht, als sie den Mörder richtete“671. Es ist die Auflösung eines archaischen Wertesystems, personifiziert durch den tapfersten Held, die hier beklagt wird.

In einem möglicherweise noch größeren Ausmaß als Rüdiger und Siegfried wirkt Hagen widersprüchlich und irritierend. Die Ineinssetzung eines treuen Vasallen, politischen Strategen, skrupellosen Mörders, schützenden Helden, verständnisvollen Freundes und ruchlosen Provokateurs sperrt sich gegen das Ideal einer homogenen literarischen Persönlichkeit im Sinne einer konsistenten Charakterzeichnung. Führt man sich die Tendenz zu einer situativ/demonstrativen Figurencharakterisierung in heldenepischer Dichtung, wie sie im 6. Kapitel beschrieben wurde, vor Augen, wird klar, dass gerade eine Figur, die über weite Teile eines umfangreichen Werkes (und eine dementsprechende Vielzahl unterschiedlicher Situationen) handlungsbestimmend ist, besonders brüchig und heterogen wirkt.

Doch die vielfältigen Probleme, die eine solche Figur bei den Rezipienten auslösen muss, sind kein Phänomen der Neuzeit. Sowohl die Handschrift *C des Nibelungenliedes, als auch die Nibelungenklage versuchen dieses Dilemma zu lösen, indem sie Hagen zum eindeutigen Bösewicht stilisieren und damit seine fordernde Ambivalenz neutralisieren672. Die moralische Aufwertung Kriemhilds geht mit der entsprechenden Abwertung Hagens einher, der im Vergleich zu den Fassungen A und B vom Erzähler wesentlich öfter der ungetriuwe bezichtigt wird. Komplementär dazu wird Kriemhilds Rache ihrer unsterblichen triuwe zu Siegfried zugeschrieben673. Müller versteht die Existenz dieser Bearbeitungen als Indiz dafür, „wie anstößig der Stoff für die Welt um 1200 gewesen sein muss, so dass es immer wieder neue Anläufe zu seiner Bewältigung und Retuschierung […] gab“674. In der Figur des Hagen erfüllt

670 Vgl. ebd. S.686 (2370). 671 Otfried Ehrismann: Nibelungenlied: Epoche-Werk-Wirkung (Anm.396), S.203. 672 Vgl. Edward R. Haymes: Das Nibelungenlied (Anm.474), S.99. 673 Vgl. Ursula Schulze: Das Nibelungenlied (Anm.4), S.47 – 48. 674 Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.175. 125 der Dichter in einer Formulierung von Ehrismann „nicht unsere Vorstellung von einer stringenten Erzählung“675 und genau darin liegt ihre Faszination.

675 Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied (Anm.2), S.60. 126

7. Abschlussbetrachtung

Ein dermaßen monumentales und komplexes Werk wie das Nibelungenlied eignet sich in vielfältiger Weise für literaturwissenschaftliche Forschung, wovon die überwältigende Menge an einschlägigen Fachpublikationen in beeindruckender Weise Zeugnis ablegt. Studien zu narrativen Strukturen, historischen Bezügen oder seiner einzigartigen Stellung im überlieferten Korpus der mittelalterlichen Literatur liegen in einem kaum noch überschaubaren Ausmaß vor und scheinen, alleine schon aufgrund ihrer Quantität, jeglichen erdenklichen Themenbereich in Zusammenhang mit diesem Werk abzudecken. Dies wirft in gewisser Weise die Frage nach der Legitimation einer weiteren Studie auf.

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht jene nicht immer als harmonisch zu bezeichnende Symbiose von heldenepischen Motiven und Elementen des Ritterromans, die wie kaum ein anderer Aspekt des Werks die Einzigartigkeit des Nibelungenliedes im Kanon der mittelalterlichen Literatur ausmacht. Aus den teils kontradiktorischen ethischen Implikationen der beiden literarischen Traditionen ergibt sich eine Widersprüchlichkeit, die sich sowohl in großräumigen Erzählstrukturen, in denen die höfischen Schneiderstrophen unter dem Damoklesschwert sich erfüllender Prophezeiungen in heldenepischer Tradition stehen, als auch in der inkohärenten Handlungsweise konkreter Figuren manifestiert. Dies wurde anhand der Charakterisierung von Rüdiger, Siegfried und Hagen unter Bezug auf entsprechende Elemente in den jeweiligen narrativen Traditionen illustriert, ohne dass dabei jedoch ein Anspruch auf ein wie auch immer geartetes definitives Erklärungsmodell erhoben würde. Weder eine implizit in den Text eingeschriebene Kritik an der Oberflächlichkeit des höfischen Wertesystems, wie sie von manchen Interpreten nahegelegt wird676, noch eine wie auch immer begründete Unfähigkeit des Autors, im Sinne einer traditionell verstandenen Hermeneutik glaubwürdige und plausible Charaktere zu erschaffen, sollen jene Irritation erklärbar machen und damit neutralisieren, die seit Jahrhunderten einen Gutteil der Faszinationen dieses Werks ausmacht.

Versteht man die Rezeption von Literatur in konsequenter Weise unter dem rezeptionsästhetischen Paradigma, wie es von Jauß, Fuhrmann und Iser dargelegt wurde, entzieht sich auch der am intensivsten beforschte und -kommentierte Text einer abschließenden und allgemein verbindlichen Sinnzuschreibung. Lesen als dynamischer, wechselseitiger Prozess von Sinnkonstitution zwischen Text und Rezipienten bedeutet ein kontinuierliches Hinterfragen von Deutungen, ein permanentes Brüchigwerden von vorläufigen Sicherheiten,

676 Vgl. z.B. Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied (Anm.9), S.94. 127 ein ständiges Aufwerfen von Fragen. In diesem Licht betrachtet spiegelt auch die plausibelste und schlüssigste Interpretation lediglich eine bestimmte Lesart wider, die unter Umständen versucht, die irritierende Fraglichkeit dieses hybriden Werkes mittels kulturhistorischer, genealogischer oder literaturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle zu neutralisieren. Doch möglicherweise ist es gerade diese Fraglichkeit im Sinne der Verweigerung einer beruhigenden Auflösung von irritierenden Widersprüchen, die am Nibelungenlied bis heute fasziniert. Wie im zweiten Kapitel dargelegt, mangelt es in der Forschung beileibe nicht an Studien, die diese Widersprüchlichkeit thematisieren, analysieren und häufig auch – implizit oder explizit – bewerten. In vielen Fällen wird dem unbekannten Dichter vorgeworfen, in seiner Synthese zweier unterschiedlicher literarischer Traditionen nicht konsequent genug vorgegangen zu sein, dass unter der Widersprüchlichkeit in der Figurencharakterisierung die Glaubwürdigkeit leide, und dergleichen mehr. Solche Erklärungsmodelle sind für gewöhnlich stark von werkästhetisch ausgerichteten literaturwissenschaftlichen Theorien beeinflusst, welche die Wirkung eines Werkes auf die Intention des Autors, bzw. sein Geschick bei der künstlerischen Umsetzung reduzieren. Nimmt man jedoch die häufig zitierten, jedoch selten konsequent angewandten rezeptionsästhetischen Ansätze tatsächlich ernst, so verschiebt sich der Fokus und an die Stelle eines Fehlersuchens nach Inkonsistenzen und Nachlässigkeiten des Autors tritt ein kindliches Staunen über Siegfried, der sowohl Minneritter, als auch Berserker ist, oder über Hagen, den untriuwen man und helflichen trôst in einem. Bekanntermaßen definiert Platon das Staunen als den Anfang der Philosophie677 und übertragen auf literarische Rezeption könnte man dies zu einer Aufforderung umformulieren, die Widersprüchlichkeiten und Irritationen in der Figurencharakterisierung des Nibelungenliedes nicht einfach auf eine Überforderung des Autors im Angesicht zweier literarischer Traditionen, die sich in vielerlei Hinsicht widersprechen, zu schieben und sie damit als Makel zu verstehen, sondern sich bewusst diesem Spannungsfeld konträrer literarischer Konventionen auszusetzen und ihm standzuhalten. Andernfalls wird suggeriert, dass das Nibelungenlied in den drei Fassungen, in denen es überliefert ist, lediglich den fehlerhaften, inkonsequenten Versuch einer Verschriftlichung alter Geschichten unter dem Paradigma zeitgenössischer literarischer Gewohnheiten darstellt, der gemessen an den Maßstäben konsistenter Figurencharakterisierung und stringenter Narration, als gescheitert beurteilt werden muss, dass also ein besseres, in seinen Charakterbeschreibungen plausibleres Nibelungenlied möglich gewesen wäre. Aber ein Siegfried, dessen minne der mâze des ritterlichen Tugendsystems entspricht, wäre wenig

677 Vgl. Platon: Theaitetos. In: Olof Gigon (Hg.): Spätdialoge I: Theaitetos, Der Sophist, Der Staatsmann, Kratylos. Zürich und München: Artemis Verlag 1974, S.26. 128 aufregend, ein Rüdiger ohne den Gewissenskonflikt zwischen lehnsrechtlicher Verpflichtungen und emotionaler Verbundenheit wäre kaum interessant und ein Hagen reduziert auf seine hinterhältige Boshaftigkeit vermutlich klischeehaft und langweilig. Vor diesem Hintergrund betrachtet stellt die oft zitierte Widersprüchlichkeit und Gebrochenheit der Figuren keinen Mangel, sondern gerade jene Bereicherung dar, die ihnen jene Komplexität und Tiefe verleiht, die auch heute noch Laien, wie Wissenschaftler in ihren Bann schlägt. Gerade in Zeiten schwindender Bezugssysteme in allen Lebensbereichen, der immer beschränkter werdenden Gültigkeit von Erklärungsmodellen und Sinnzuschreibungen und postmoderner Auflösung traditioneller Erzählstrukturen in der Literatur ist dieses Werk mit seinen ambivalenten Figuren und deren entsprechenden Relationen vielleicht aktueller denn je.

Bei einer solchen Argumentation besteht die Gefahr, einer gewissen Beliebigkeit zu verfallen. Wie es im Zuge der vorliegenden Arbeit auch geschehen ist, lassen sich gewisse Schilderungen und Handlungen natürlich bestimmten literarischen Traditionen zuordnen. Solange es sich um Elemente handelt, die sich deutlich voneinander abgrenzen lassen, verursacht dies kaum Schwierigkeiten. Die Koexistenz einander offenbar widersprechender Charakteristika in ein und derselben Figur wird oft als problematisch empfunden. Ein alternativer Zugang wäre es, diese Elemente (in der Diktion von Ernst Mach) gerade in ihrer Unterschiedlichkeit als konstitutiv für die jeweilige Figurencharakteristik zu begreifen. Unter diesem Gesichtspunkt beschreibt das Zitat des vorsokratischen Philosophen Heraklit „sie verstehen nicht, wie das Auseinanderstrebende mit sich selbst übereinstimmt: rückstrebige Fügung wie bei Bogen und Leier“678 die oft abwertende Haltung einer Literaturkritik im Zeichen des hermeneutischen Paradigmas vielleicht treffender als argumentative Versuche einer mehr oder weniger plausiblen Rechtfertigung. Denn die nunmehr jahrhundertealte Faszination und Überzeugungskraft der Helden und Ritter, der Untreuen und Tugendhaften, der Archaischen und Höfischen, liegt gerade in jener Irritation, die man in Anlehnung an das berühmte Schlagwort des englischen Dichters William Blake, „opposition is true friendship“679 als die gelungene Synthese des scheinbar Unvereinbaren bezeichnen kann.

678 Laura M. Marciano (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Bd. I (Anm.118), S.303. 679 David Erdman, (Hg.): The complete poetry and Prose of William Blake. New York: Anchor books 1988, S.42. 129

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