Fußball-WM SNAPS / ACTION PRESS SNAPS / ACTION Torwart Kahn, Teamchef Völler „Wahnsinnige Verantwortung“

DEUTSCHE ELF Allein dort oben Alle setzen auf . Er ist der populärste deutsche Nationalspieler, er gilt als der beste Torwart der Welt. Aber das reicht ihm noch lange nicht. Von Alexander Osang

Vor ein paar Tagen trafen „Wer zu viel redet, dem hört man nicht gezogen wie bei keinem anderen. Am Ende und Oli- mehr zu“, sagt er. „Man kann keine Höhe- sitzt er gedankenverloren noch eine Weile ver Kahn in Japan auf- punkte mehr setzen.“ auf der Getränkekiste. Selbst wenn er nur einander. Beide haben Sein Teamchef Rudi Völler beantwortet im Gras liegt, scheint er irgendetwas Wich- früher beim FC Bayern auch Fragen, die ihm niemand gestellt hat. tiges, Vorentscheidendes zu tun. Manchmal zusammen gespielt. Kahn Oliver Kahn antwortet nur, wenn er ge- erscheint Völler an seiner Seite, als wolle er ist jetzt Nationaltorwart, fragt wird. Manchmal nicht mal dann. Er überprüfen, dass er nicht allein ist. Helmer arbeitet fürs Fern- versucht das „man“ in seiner Rede immer Vor ein paar Tagen wurde Kahn gefragt, sehen. Er fragte Kahn öfter durch ein „ich“ zu ersetzen. „Man“, wer ihm eigentlich noch etwas sagen kann. nach dem Training in Miyazaki, ob er einen sagt er, habe gesagt. Kahn will „Ja, wer kann mir noch was sagen? Ich Trailer für die „Harald Schmidt Show“ auf- Präsenz zeigen, wie er es nennt. Was auf denke, darüber mache ich mir am Anfang sagen könne. Kahn kniff die Augen zu- dem Platz funktioniert, muss im Leben des Turniers eigentlich keine Gedanken. sammen und hob den Kopf in den Himmel, nicht schlecht sein. Ihm reicht es nicht Das Einzige, was mich beschäftigt, ist, was wo sich dunkle Regenzeitwolken zusam- mehr, nur den Torraum zu beherrschen. kann man tun, um erfolgreich zu sein“, menschoben. Dann sah er auf Helmer her- Der Torwart war immer schon eine sagte er. ab, schüttelte den Kopf und ging. Er sagte wichtige Figur im deutschen Fußball. Es Mit anderen Worten, es gibt da nieman- kein Wort. Helmer redete noch ein biss- gab Kämpfe zwischen Tilkowski und Mai- den mehr. Kahn, 32, ist allein dort oben. Er chen weiter, aber wohl nur, um sich selbst er, zwischen Stein und Schumacher, zwi- hat sich durchgesetzt. Er hat hart und lan- zu beruhigen. Er hatte eine kleine weiße schen Illgner und Köpke. Die Brasilianer ge dafür gearbeitet. Plastiktüte in der Hand. Er stand verloren verlassen sich auf ihre Stürmer. In Deutsch- „Ich habe in all den Jahren gelernt, den am Spielfeldrand. Sein ehemaliger Spiel- land kann man auch als Torwart berühmt Druck anzunehmen. Als Torwart musst du kamerad lief zum Bus, auf dem Rücken werden. Aber so wichtig wie Oliver Kahn immer jemanden verdrängen. Als Feld- hingen noch ein paar Grashalme vom Trai- war noch nie ein deutscher Torwart. Er ist spieler kann man auch auf eine andere ning. Es schien so, als hätten sich die bei- die große Hoffnung und versucht sie auch Position ausweichen. Als Torwart nicht. In den duelliert. Demnach war Helmer tot. darzustellen. meinem Leben ging es immer nur darum, Oliver Kahn hat sich entschieden, nicht Im Training schleicht Kahn wie ein Löwe mich durchzusetzen“, sagt Kahn. „Ich weiß mehr so viel mit Medienleuten zu reden. über den Platz. Seine Turnhosen sind hoch- auch nicht, ob das gut ist.“

200 der spiegel 23/2002 Kahn ging ins Fitness-Center und wurde groß und stark. Er versuchte, in die „un- trainierbaren Bereiche“ vorzustoßen, wie es sein Vater nannte. Er wollte Bälle errei- chen, die als unhaltbar galten. Er klebte sich Mutmachsprüche an seine Zimmer- wände. Aber als er in die KSC-Männer- mannschaft aufschloss, waren da schon zwei. Alexander Famulla, der erste Tor- wart, und Stefan Wimmer, der zweite. Wimmer war der Sohn der Karlsruher Tor- wartlegende Rudi Wimmer. Es heißt, Kahn habe einmal auf der Tribüne des KSC erklärt, dass er die beiden anderen in die Tasche stecke. „Olli hat jeden, der Handschuhe anhat- te, als Feind betrachtet“, sagt Wimmer. „Wir waren sehr verschieden. Vielleicht war ich talentierter. Er war sicher härter.“ Kahn hat sein erstes Bundesligaspiel ver- loren. Das zweite auch. Einige schrieben ihn ab. Aber dann brachte ihn sein Trainer Winfried Schäfer gegen Bochum in der Halbzeitpause für Famulla, der zwei Feh- ler gemacht hatte. Die Tür ging plötzlich auf. Darauf warten Torhüter manchmal ein Leben lang. Kahn stellte sich hinein.

LORENZ BAADER LORENZ REENTS / SIEMONEIT „Eigentlich hätte er mich bringen müs- Bayern-Profi Kahn (1999) Preisträger Kahn* sen“, sagt Wimmer. „Ich war dran.“ Haare geschnitten, Ferrari gekauft Er glaubt bis heute, dass es eine Intrige von Schäfer gegen seinen Vater war, der damals die A-Jugend trainierte und ein Sein Vater Rolf sitzt in dem flachen, hel- KSC-Profi. Aber er wurde nach einer Sai- Konkurrent für Schäfer war. Kahn glaubt, len Wohnzimmer in Karlsruhe. Sie wohnen son von Trainer Winfried Schäfer aussor- dass Schäfer seinen stärkeren Willen er- seit 1959 in dem Altneubau. Vielleicht zie- tiert und floh von zu Hause. kannt hatte. hen sie demnächst aus, vielleicht nicht. Die „Ich habe den Vergleich mit meinem klei- „Ich wollte es einfach mehr“, sagt er. Tür zu Olivers Kinderzimmer steht offen. nen Bruder einfach nicht mehr ausgehal- Kahn nun der zweite Mann. Wimmer Es ist winzig, seine Schulbücher liegen ten“, sagt er. Axel Kahn spielt in der Lan- verschwand. Er spielt heute in der Lan- noch auf dem Schrank. Rolf Kahn blättert desliga Fußball. Bei Auswärtsspielen be- desliga. Wimmer sagt, dass Famulla nie mit im Fotoalbum. „Er war ja fast weißblond werfen sie ihn mit Bananen, um sich an sei- Kahn auf einem Zimmer schlafen wollte. und irgendwie weich“, sagt er. nem Bruder zu rächen. Sie rufen ihn Olli. „Der hatte Angst, dass er ihm nachts das „Er hatte Babyspeck“, sagt seine Frau. Sie denken, wenn sie ihn schlagen, schlagen Kopfkissen aufs Gesicht drückt.“ „Ja, ja. Aber auch noch mit 12“, sagt sie den FC Bayern. Er kommt aus dem „Er war nicht mein Typ“, sagt Famulla, Kahn. Schatten nicht weg, aber er kann seinen der ein fahles Rauchergesicht hat und einen Rolf Kahn hat auch Fußball gespielt, er Bruder wieder sehen. Er passt ein bisschen schweren polnischen Akzent. Er war pol- hat mit 18 einen Profivertrag bekommen auf, dass sich in den Münchner Discos nicht nischer U21-Nationalspieler und ist bei ei- und den Karlsruher SC mit in die erste die falschen Leute an Oliver heranmachen. ner Westreise in Berlin geblieben. Er war Bundesligasaison geführt. Irgendwann riss „Ich könnte mir vorstellen, zusammen mit nie besonders ehrgeizig, er wollte Spaß ha- ihm ein Oberschenkelmuskel und heilte dem Oliver zu werben. So wie der Gott- ben, sagt er. Famulla kann die beiden Tore nie wieder richtig. Sie musterten ihn aus. schalk mit seinem Bruder“, sagt Axel Kahn. gegen Bochum noch heute beschreiben. Er wurde Vertreter für Wasserfilteranlagen Und dann erzählt er noch, wie er mit seinem „Der erste Ball wurde von Kreuzer ab- und tingelte als Spielertrainer durch klei- Landesligateam einmal die KSC-Amateure gefälscht, der zweite war ein 40-Meter- nere nordbadische Vereine. Sein Sohn saß schlug. „Ich habe drei Torvorlagen gegeben. Schuss, der ist geflattert ohne Ende. Ich immer hinterm Tor. Rolf Kahn hat nie auf- Olli hat zwei Wochen nicht mit mir geredet.“ sah nicht gut aus. Da hat mich Schäfer zur gehört, ihre Karrieren zu vergleichen. Als Oliver Kahn 16 war, musterten sie Halbzeit rausgenommen.“ Noch heute erzählt er, wie er als Schüler ihn aus allen Auswahlmannschaften aus. Famulla war noch ein Jahr zweiter Tor- mit Wolfgang Overath vor 100 000 Zu- Es hieß immer, er sei zu klein und zu wart beim KSC. Er erinnert sich, wie er schauern im Wembleystadion spielte und schwach. „Aus dieser Erniedrigung habe beim Training neben dem Tor warten muss- Jahrzehnte später seinen berühmten Sohn ich meine Motivation gezogen“, sagt Kahn. te. „Olli hat mich nicht reingelassen. Ich beim Torwandschießen im ZDF schlug. Er „Aus der Schmach.“ war acht Jahre älter als er. Aber er hat würde sich wünschen, dass ihm der Junge Er sucht nach starken Worten. In seinen mich da stehen lassen wie ein Kind.“ Sie mal bei den Alte-Herren-Spielen zuschaut. Sätzen betont er Wörter wie Wille, Kraft, haben Famulla später entlassen, als er ver- Er ist immer noch gut am Ball. Aber Oli- Kollektiv und Leistungsgedanke. Er hat letzt war. Er hat heute einen Lotto-Laden ver Kahn war noch nie da. Vielleicht ist die Stimme eines Schwarzweißfilm-Stars, in Schwetzingen. Das Geschäft geht nicht sein Vater der Erste, gegen den er sich voll, singend, mit rollendem R. „Grausam“ so besonders. Aber die Gesundheit sei so- durchsetzen musste. und „schmerzhaft“ spricht er aus wie O. W. wieso das Wichtigste. Rolf Kahn gibt heute ein Anzeigenblatt Fischer. „Famulla war ein guter Kerl“, sagt Kahn. für Lokalsport heraus. Sein anderer Sohn „Aber er hat dann am Ende die Nerven Axel arbeitet bei ihm. Axel Kahn war auch * Bei der Bambi-Verleihung im November 2001 in Berlin. verloren.“

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Was für ein Satz. Er hat schon einen langen Weg hinter 1994 ging Kahn zu den Bayern, wo er sich. Aber er ist noch nicht da. gleich die Nummer eins war. Aber in Deshalb gibt es jetzt einen Manager. der Nationalmannschaft ging das War- Bei Aufnahmen zu einem Sunil-Wer- ten erst los. Kahn hat drei große Tur- bespot, in dem Olivers Mutter vor der niere auf der Bank gesessen. Das erste WM 1998 mitspielte, lernten sie den Mal in den USA 1994. Andreas Köpke, Ludwig Karstens kennen. Der betreut der damals die Nummer zwei hinter Kahn nun. Bodo Illgner war, sagt, dass es schwer „Wie eine Marke, aber menschlich“, ist für einen Spitzenspieler, sich plötz- sagt Karstens. „In einer Zeit, in der lich wieder unterzuordnen. Vorbilder rar sind, haben wir hier eins. „Als zweiter Mann kann dir ja pas- Es ist schon erstaunlich, wie inzwischen sieren, dass der erste eine rote Karte selbst Persönlichkeiten aus Politik und kriegt oder so was. Aber als dritter Wirtschaft Olivers Bekanntschaft su- kannst du gar nichts machen. Olli hat chen. Oliver ist im Augenblick so hoch damals trainiert wie ein Wahnsinniger. gehandelt, dass man aufpassen muss, Er hat sich auf die Bundesligasaison dass ihm nicht schwindlig wird.“ vorbereitet oder was weiß ich“, sagt Karstens führt seinen Schützling an Köpke. Am Ende dieser WM ist Kahn neue Medienerfahrungen heran. Er dann aber doch ausgerastet. Er hat ge- riet ihm zur lockeren Kleidung bei Jo- schrien, dass er so was nie wieder ma- hannes B. Kerner, weil er neben den che. Nie wieder werde er rumsitzen Schlipsträgern Ulrich Meyer und Sky und zusehen. Dumont Akzente setzen könnte. Er hat „So ein Anfall dauert zwei Tage und ein Drehbuch für ein Kahn-Porträt er- dann macht man weiter. Es hat keinen arbeiten lassen, das Michael Steinbre- Zweck, so kurzen Impulsen nachzuge- cher für das ZDF realisierte, und ver- ben. Das habe ich gerade auch dem mittelte den Kontakt zu Sandra Maisch- Mehmet Scholl gesagt. Ich konnte ihn bergers Talkshow. nicht umstimmen, aber ich bin mir si- Vater Rolf Kahn*: „Er war irgendwie weich“ „Maischberger war ein Testlauf. Da cher, dass er in fünf Jahren bereut, nicht war schon hohe Kompetenz gefragt. mit hierhergekommen zu sein“, sagt er. Er hat sie verloren, als sie die Cham- Kanzlerkandidatur. Psychologie. Privatle- Kahn hat weitergemacht. 1998 in Frank- pions League holten. ben. Arbeitslosigkeit. Die gesamte Palette. reich war er bereits besser als Köpke. Er hatte das Spiel fast allein gewonnen. Brisante Aussagen wie die zum Kanzler- „Er war nie unfair“, sagt Köpke. Und er hatte den FC Bayern in letzter Se- kandidaten sprechen wir vorher ab“, sagt Oliver Kahn ist ohne WM-Spiel nach kunde zum Meistertitel angetrieben. Es hat Karstens. Es sieht jetzt so aus, als könne Asien gereist, das kann man sich gar nicht ihn entspannt. hatte be- Kahn sich sowohl Schröder als auch Stoi- vorstellen. Aber manchmal merkt man es. reits bemängelt, dass Kahn nie einen ber vorstellen. Und sogar Fischer. Karstens Bei einem Trainingsspiel im Schwarzwald großen internationalen Titel gewonnen hätte Oliver Kahn auch gern noch einen sprang er, kurz nachdem er zwei Tore habe. Der Fluch war weg, die alten Män- Crashkurs in Japanisch vermittelt. Ein paar kassiert hatte, wütend in den heranren- ner schwiegen endlich. Wörter und ein bisschen zum geschichtli- nenden Jancker. Jancker fiel, krümmte Kahn schloss einen neuen Bayern-Ver- chen Hintergrund. „Leider war dazu keine sich, das Training musste abgebrochen trag über eine Summe ab, die noch kei- Zeit mehr“, sagt Karstens. werden. Niemand verlor ein Wort gegen Zum Glück muss man sagen. Man kann Kahn, obwohl es bis auf die Tribüne ge- „Wer Angst hat, ist wach sich vorstellen, wie Oliver Kahn in der kracht hatte. und konzentriert. Inzwischen DFB-Pressekonferenz ein paar japanische „Ich hatte eine solche Angst, dass ich Weisheiten einstreut. Er ist jetzt so weit den Carsten verletzte. Das war dumm. brauche ich die Angst.“ oben, dass er fallen kann. Journalisten re- Wenn es Scholli gewesen wäre, wäre der gen sich bereits über seinen Ferrari auf. nicht wieder aufgestanden“, sagt Kahn. Es nem Torhüter gezahlt worden war. Zudem Bei manchen gilt er als abgehoben, weil er war ein Fehler, aber es ist schwer, das kann er sich bis 2004 überlegen, ob er 2007 nicht mehr mit jedem redet. Seine staats- gleich zuzugeben. die Nachfolge von Uli Hoeneß als Manager tragenden Bemerkungen auf Pressekonfe- „Bei dem Rhythmus, in dem wir heute des FC Bayern antreten will. renzen werden schon belächelt. Einige spielen, kann ich mir das nicht erlauben. Kahn beschloss, das Leben zu genießen, nehmen ihm übel, was sie aus ihm gemacht Das wird gnadenlos ausgeschlachtet. Ich sagt er. Er ließ sich die Haare schneiden, haben. Wenn Fußballer zwei Sätze fehler- muss an das nächste Spiel denken. Also Koteletten wachsen und kaufte sich einen frei aussprechen können, werden sie gern sag ich manchmal auch bei haltbaren Bäl- Ferrari. Einige vermuten dahinter eine Frau zu Intellektuellen gemacht. Der „Stern“ len: Da war nichts zu machen. Ich stehe un- oder einen Imageberater. sperrte Otto Rehhagel einst zum Streitge- ter großem Druck. Aber ich würde nie an- „Das ist absoluter Blödsinn“, sagt er. spräch mit Walter Jens zusammen. Helmer dere Torhüter kritisieren, wenn die aus- „Und das Gerede über mein Privatleben galt als tiefsinnig, weil er lächelte, als wis- rasten. Ich kenne das“, sagt Kahn. ist doch auch ein Witz. Neulich hat jemand se er mehr, als er sagen kann. Kahn galt aus „Ich habe natürlich Ängste. Der Grad behauptet, in meiner Ehe habe es eine Kri- irgendeinem Grund als Börsenexperte, ob- zwischen Versager und Held ist nirgendwo se gegeben. Ich hab meine Frau im Spaß wohl er sein Geld eher konservativ anlegt. schmaler als beim Torwart. Früher hat mich angerufen und gefragt, ob sie davon weiß. Wer sich so durchs Leben wühlen muss- das extrem belastet. Heute suche ich das Natürlich haben wir ab und zu Probleme, te wie Kahn, wird kein Schöngeist. geradezu. Ich nutze die Angst. Wer Angst aber die gehören einfach zu einer guten Sein Münchner Mercedes-Kennzeichen hat, ist wach und konzentriert. Dafür ist Ehe. Nach Hitzfeld und Effenberg würde begann mit M-OK. Am Auto seines Vaters Angst ja da. Inzwischen brauche ich die das wohl gut ins Bild passen“, sagt Kahn. steht KA-HN. Vielleicht der einzige Grund, Angst. Manchmal frage ich mich: Wo ist nach Karlsruhe zurückzukehren. Kahn hat meine Angst?“ * Mit den Söhnen Oliver (oben) und Axel. keine Lust, irgendjemandem sein Auto oder

der spiegel 23/2002 203 Fußball-WM seinen Hosenschlag zu erklären. Auch sein Vater war nach seinem ersten Profivertrag im Sportwagen durch Karlsruhe kutschiert. „Ich muss mich entscheiden, ob ich die- se wahnsinnige Verantwortung annehme, die die Öffentlichkeit mir aufgeladen hat, oder ob ich vor ihr flüchte. Es ist ein un- geheurer Druck, pausenlos als Überspieler gehandelt zu werden. Aber ich habe das jetzt angenommen. Das hat lange gedauert, bis ich dazu in der Lage war. Es ist schwer, sich seiner Position bewusst zu werden. Manche überhöhen sich, manche machen sich klein. Ich glaube, ich habe mich ge- funden.“ Er weiß, wie die Nationalelf vor dem Fernseher sitzt und sich solche Sachen von ihm anhört. Und er weiß auch, dass einige denken, er habe abgehoben. Kahn sitzt im Mannschaftshotel und streckt die Beine aus. Es ist keiner mehr da, gegen den er sich durchsetzen muss. Nur noch er selbst. Er ist jetzt tief in den un- trainierbaren Bereichen. Sepp Maier sagt, dass Kahn ein besserer Torwart ist, als er jemals war, aber ein schlechterer Golfer. Er begreife nicht, dass man schlecht spielen kann, wenn man sich gut fühlt. „Immer nur Vorbild zu sein macht auch mürbe. Natürlich wünsche ich mir manch- mal, ein einfacher Spieler zu sein. Früher hätte ich problemlos das eine oder andere kritisieren dürfen. Heute muss ich vor- sichtiger sein. Ich muss meiner Mannschaft vielmehr sagen, dass die Größe der Zim- mer keine Rolle spielt. Es ist super hier. Und das Komische ist: Es funktioniert. Selbst bei mir. Das ist faszinierend.“ Das Piano klimpert das „Titanic“-The- ma, Kahn hat sich die Haare gewaschen, sie stehen jetzt bürstenartig vom Kopf ab. Wenn sich sein Gesicht entspannt, ähnelt er seiner Mutter. Nächste Woche kommen seine Eltern und seine Frau nach Japan. Ist es eigentlich wichtig für ihn? „Es ist immer schön, wenn die Familie da ist, aber ich bin viel zu sehr auf meine Aufgabe konzentriert, als dass sie was von mir hätte“, sagt er. Er schweigt einen Moment und sieht aus dem Fenster, hinter dem die Regenzeit beginnt. Er mag Regen. Er ruft seinen Va- ter nicht mehr nach dem Spiel an, um zu fragen, wie er war. Seine Mutter kann sich nicht mehr vorstellen, dass er jemals nach Karlsruhe zurückkommt. Er passt dort nicht mehr hin. Eher ziehen sie nach München. „Ich habe jetzt noch mal eine Erzählung über Abraham Lincoln gelesen“, sagt Kahn plötzlich und lächelt. „Was der Mann an Niederlagen und Rückschlägen einstecken musste, ist wahnsinnig. Und trotzdem ist der immer wieder aufgestanden. Und am Ende ist er Präsident der Vereinigten Staa- ten geworden. So was motiviert mich un- gemein.“ Abraham Lincoln. Der Druck dürfte hoch genug sein. ™ 204