ISSN 0944-6060 ESSENER UNIKATE Berichte aus Forschung und Lehre Umwelt 19 Vitalität einer Region I

Diethard E. Meyer 8 Geofaktor Mensch Dirk Hallenberger 26 Jochen Vogt Und sie erforscht sich doch... Wilfried Loth 34 Sabine Voßkamp Essen im Umbruch Wolfgang Burghardt 44 Zwischen Puszta und Tropen Guido Benno Feige 58 Randolph Kricke Der Pott grünt Petra Podraza Helmut Schuhmacher 68 Das Adersystem Mario Sommerhäuser Wilhelm Kuttler 84 Andreas-Bent Barlag Mehr als städtische Wärmeinseln Von der Revier-Kultur zur Eckart Pankoke 98 Kultur-Region Die industrielle Kulturlandschaft Hans-Werner Wehling 110 des Ruhrgebiets Jörg Schönharting 120 Ausdruck individueller Mobilität Karl Rohe 130 „Libertas Ruhrgebietiensis“?

Universität Essen 2002 INHALT 1 9

EDITORIAL 6 Wilfried Loth

Diethard E. Meyer 8 Eingriffe und Folgen durch Geopotenzialnutzung Geofaktor Mensch Von Menschen ausgehende Umwelteinwirkungen haben vielfach weitreichende geologische Folgen. Besonders im Ballungsraum Ruhrgebiet sind sie unübersehbar und bieten sich zur wissenschaftlichen Untersuchung an, zumal fast alle Natur- raumpotenziale betroffen sind.

Dirk Hallenberger/Jochen Vogt 26 Die Literatur des Ruhrgebiets – Bericht und Ausblick Und sie erforscht Ruhrgebiet/Literaturgebiet? Das geht nicht ganz so flüssig über die Lippen wie andere Werbeformeln. Aber mit der Zeit erforschte sie sich doch, die Sprache und sich doch... Literatur dieser Region. Von der Essener Universität gehen und gingen wichtige Impulse zur Erforschung der Ruhrgebietsliteratur aus, und nicht zufällig ist hier dann auch jüngst die erste und einzige Literaturgeschichte des Ruhrgebiets erschienen.

Wilfried Loth/Sabine Voßkamp 34 Die Bergbaukrise und die Etablierung der Dienstleistungsstadt Essen im Umbruch Der Strukturwandel im Gefolge der Bergbaukrise ging mit einem Verlust an Essener Besonderheiten einher. Offensichtlich war der Abschied von der alten Revierstadt Teil des beträchtlichen Modernisierungsschubs, den die Deutschen im Westen in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebten. Ihn zu analysieren, ist in den letzten Jahren zu einer wichtigen Aufgabe der Historiker geworden. Den Durch- bruch Essens zur Dienstleistungsstadt zu rekonstruieren, heißt gleichzeitig einen Beitrag zum Verständnis jener Veränderungen zu leisten, die unsere Gegenwart mehr als alles andere bestimmen.

Wolfgang Burghardt 44 Böden an der Ruhr Zwischen Puszta Insgesamt sind die neuen Böden der Ruhrstädte durch zwei Merkmale gekenn- zeichnet, die in der ursprünglichen Lößlandschaft nicht zu finden waren. Es ist der und Tropen hohe Steingehalt und der Gehalt an freiem Kalk der Böden. Die Böden der Lößland- schaft waren dagegen steinfrei und schwach sauer. Mit der Entstehung der Städte wandelte sich somit die Bodenlandschaft und bekam den Charakter von Mittel- gebirgsböden. In der Forschung sind die Konsequenzen, besonders der Steingehalte, bisher kaum bearbeitet worden. Für ‚steinreiche‘ Städte gibt es in der Forschung noch viel zu tun.

Guido Benno Feige/ 58 Betrachtungen zur Vegetation Randolph Kricke Aus einer industriell dominierten Region, die kaum Platz für Natur ließ, ist ein Der Pott grünt Städteverbund entstanden, in dem auch Natur und Umwelt einen ihnen zustehen- den Stellenwert gefunden haben. Der Vegetationscharakter des Ruhrgebietes wird in erster Linie nicht durch die verbliebenen natürlichen oder naturnahen Bereiche geprägt, sondern vielmehr durch das Mosaik anthropogener Lebensräume, die durch die in Umwandlung begriffene Industrielandschaft sowie den Siedlungscharakter im Ruhrgebiet geschaffen wurden.

Petra Podraza/Helmut Schuhmacher/ 68 Flüsse und Bäche im Ruhrgebiet Mario Sommerhäuser Die Eigenheiten urbaner Gewässer sind in dem Bewusstsein der Menschen im Das Adersystem Ruhrgebiet stärker verwurzelt als die Schönheit der wenigen noch verbliebenen Gewässer-Relikte. Außer naturfremden „Vorflutern“ sind in fast allen Städten – meist in den Parkanlagen und landwirtschaftlich genutzten Flächen – weitaus weniger überformte Wasserläufe erhalten. Nur partiell abwasserbelastet, nicht oder nur teilweise ausgebaut, haben diese „Stadtbäche“ zum Erhalt einer zumindest als „Grundausstattung natürlicher Bäche“ zu bezeichnenden Tier- und Pflanzenwelt beigetragen. Sie stellen Wanderwege für Pflanzen und Tiere dar, über die sich ihre Lebenswelt „auffrischt“ und weiterentwickelt. 1 9

Wilhelm Kuttler/ 84 Angewandte Stadtklimaforschung Andreas-Bent Barlag Auf der stadtklimatologischen Grundlagenforschung basierend entwickelte sich in Mehr als städtische den vergangenen Jahrzehnten die angewandte Stadtklimatologie als praxisorientier- ter Forschungszweig. Durch zunehmende Urbanisierung und gesteigertes Umwelt- Wärmeinseln bewusstsein erlangten die Wechselwirkungen zwischen Klima, Lufthygiene und Planung im Städtebau eine immer stärker werdende Bedeutung. Das Ruhrgebiet als Ballungsraum bietet sich für stadtklimatologische Untersuchungen besonders an.

Eckart Pankoke 98 Prozesse, Projekte, Konstrukte und Kontrakte kultureller Von der Revier-Kultur Entwicklung im Ballungsraum zur Kultur-Region Eine kulturgeschichtliche und kulturpolitische Selbstverständigung in der Spannung von „Revierkultur“ und „Kulturregion“ fordert die kritische Auseinandersetzung und die provokative wie produktive Begegnung mit der regionalen Geschichte und fördert die Verständigung auf die strukturellen Probleme und kulturellen Program- me. In der Verbindung von industrieller Machbarkeit und der Künstlichkeit kultu- reller Gestaltung wurden Steinhalden, Hochöfen und Fördertürme zu exponierten Kunst-Punkten. Durch ihre Umwidmung zu „Landmarken“ markieren die einstigen Wahrzeichen großer Industriekultur neue Horizonte regionaler Verbundenheit.

Hans-Werner Wehling 110 Historische Entwicklungsphasen und zukünftige Perspektiven Die industrielle Durch hohe Bevölkerungsverluste und die fortschreitende Deindustrialisierung besteht die Chance, im Ruhrgebiet neue Bedingungen zu schaffen. Sowohl in den Kulturlandschaft Jahrzehnten starker Überalterungstendenzen als auch in den Jahrzehnten danach, in denen sich das Ruhrgebiet auf einer niedrigeren Einwohnerzahl wirtschaftlich, des Ruhrgebiets sozial und räumlich konsolidieren muss, könnte der ehemalige industrielle Ballungs- raum zu einem weitgehend offenen Urbanisations- und Experimentierfeld in allen Bereichen werden.

Jörg Schönharting 120 Zur Zukunft des Verkehrs im Ruhrgebiet Ausdruck Meist wird versucht, Stadtautobahnen in Tunnel oder hinter hohen Lärmschutzwän- den zu verstecken, während der Fahrgast des ÖPNV mit dem trostlosen Umfeld individueller Mobilität nicht genutzter Gleisanlagen konfrontiert wird. Der Anspruch, im Verlauf einer Fahrt eine Stadt mit ihren typischen Merkmalen zu erleben, aus Sicht der Kommune Stadtmarketing zu betreiben, kann so nicht erfüllt werden. Verkehrswege als verbin- dende Elemente einer polyzentralen Struktur wahrzunehmen, die ihrerseits Identifi- kation durch ihre Gestaltung und die Gestaltung des Umfeldes stiften, ist bisher noch kaum thematisiert worden.

Karl Rohe 130 Eine sich verändernde Wirklichkeit und die Zukunft der Region „Libertas Regionsneubildung statt Provinzialisierung: Die Pflege einer Ruhrgebietskultur bedarf zukünftig mehr denn je einer Offenheit und einem wachen Blick für die Ruhrgebietiensis“? veränderte und sich stetig verändernde Wirklichkeit in der Region. Wer sich mit Sozialkulturen befasst, und zwar durchaus in zukunftszugewandter Perspektive, kann über die „Großväter/Großmütter“ und die Erfahrungen und Einflüsse, denen sie ausgesetzt waren, nicht schweigen.

HINWEISE 136

INSERENTEN/ABONNEMENT 137

IMPRESSUM 140 ESSENER UNIKATE 19 2002 EDITORIAL

Verehrte Leserinnen und Leser,

vom Ruhrgebiet wissen wir zunächst sche Entscheidungen vorwegnehmen erklären und damit letztlich auch nur, dass es nicht mehr ist, was oder ersetzen, etwa im Hinblick auf mitzugestalten. In den Ingenieur- es einmal war. Fördertürme und Förderungsmaßnahmen oder Ver- und Naturwissenschaften stellt Hochöfen sind verschwunden oder waltungsreformen. Aber sie können die Gestaltung der Umwelt einer außer Betrieb genommen, Politiker darauf aufmerksam machen, worauf Region, die durch das schwerindus- und Wirtschaftsführer reden vom man bei solchen Entscheidungen trielle Zeitalter hindurchgegangen Strukturwandel, der das Ruhrge- achten muss, wenn sie sachgerecht ist, ein wichtiges Forschungsthema biet erfasst habe. Aber wohin geht ausfallen sollen. Präzise Informati- dar. Aber auch die Geistes-, Sozial- dieser Wandel? Was wird aus dem onen, scharfsinnige Analysen und und Wirtschaftswissenschaften Ruhrgebiet, nachdem die Schwerin- das Aufzeigen von Handlungsmög- beschäftigen sich immer wieder mit dustrie nicht mehr die alles prägende lichkeiten: das sind die spezifischen den Entwicklungen, die dieser Raum Lebensmitte darstellt? Wirtschaftlich Leistungen, die die Wissenschaften erfährt. Wissenschaften sind nie nur und in sozialstruktureller Hinsicht in den gesellschaftlichen und politi- abstrakt; sie greifen immer wieder scheint es zu einer Region wie jede schen Diskussionsprozess einzubrin- auf Vergegenständlichungen aus dem andere auch zu mutieren, politisch gen haben. Sie sind besonders auf- Lebensraum zurück, in dem sich war es noch nie eine Einheit, gleich- schlussreich, wenn unterschiedliche Forscher und Studierende bewegen. zeitig identifizieren sich die Men- wissenschaftliche Disziplinen ihre Auf diese Weise ist an der Uni- schen an der Ruhr aber mehr denn spezifischen Erkenntnisse zu einem versität Essen ein starker interdis- je mit ihrer Region. Ist, was einst Problem zusammentragen, wenn das ziplinärer Schwerpunkt „Ruhrge- „das Revier“ hieß, also dabei, zu Problem also aus unterschiedlichen bietsforschung“ entstanden. Er wird einer „Ruhrstadt“ zu werden? Oder Blickwinkeln beleuchtet wird. in dieser Ausgabe der UNIKATE werden auf Dauer ganz andere regi- Interdisziplinäre Ruhrgebiets- mit ausgewählten Beispielen vor- onale Verdichtungen größere Bedeu- forschung in diesem Sinne wird gestellt, die vielfach neues Licht tung erhalten, die Rheinschiene auf unter anderem an der Universität auf das Ruhrgebiet werfen. Die der einen Seite und das alte Westfa- Essen betrieben. Als Universität in Universität Essen lädt damit dazu len auf der anderen? der Region, die im Zuge des Struk- ein, die Region neu zu entdecken. Antworten auf diese Fragen turwandels vor 30 Jahren gegründet Gleichzeitig leistet sie einen Beitrag erwartet man zu Recht von den Wis- wurde, gehört es zu ihren Aufga- zur Diskussion um die Zukunft des senschaften. Sie können nicht politi- ben, diesen Wandel zu begleiten, zu Ruhrgebiets. Wilfried Loth. Foto: André Zelck Wilfried

Zu Beginn spannt der Geologe gen Petra Podraza, Helmut Schuh- Der Verkehr wird gleichwohl weiter Diethard Meyer den Bogen von den macher und Mario Sommerhäuser zunehmen: Darum schlägt der Ver- Gesteinsbildungen des Paläozoikums sowie die Klimatologen Wilhelm kehrswissenschaftler Jörg Schön- bis zu den geologischen Folgen des Kuttler und Andreas-Bent Barlag. harting die Entwicklung neuer Ver- Steinkohlebergbaus wie Bergsen- Sie betonen den großen Reichtum an kehrswege als verbindende Elemente kungen und Versumpfungsgefahr, Potenzialen zur Landschaftsentwick- einer polyzentralen Struktur des die auch noch in den kommenden lung, die das Ruhrgebiet aufweist, Ruhrgebiets vor. Der Politikwissen- Generationen bewältigt werden obwohl sie häufig nicht genügend schaftler Karl Rohe, ehemals Rektor müssen. Die Literaturwissenschaftler wahrgenommen werden. Das Ruhr- der Essener Universität, diskutiert Dirk Hallenberger und Jochen Vogt gebiet, soviel wird aus ihren Beiträ- abschließend die Raummodelle, die beleuchten das Zeitalter des Stein- gen deutlich, verfügt über eine der für die künftige Entwicklung des kohleabbaus und der Stahlgewin- produktivsten landwirtschaftlichen Ruhrgebiets zur Diskussion stehen: nung dort, wo es heute noch präsent Zonen der Welt, über eine uner- Bildung einer Ruhrstadt, Aufteilung ist: in der Erinnerung und in der wartet hohe Biodiversität in sieben zwischen rheinischen und westfäli- Literatur, die darum einen spezifi- großen Grünzügen und vielfachen schen Integrationszentren, Bildung schen Typus der Ruhrgebietsliteratur Zusammenschlüssen bestehender einer Großregion Rhein-Ruhr. Die entwickelt hat. Im realen Leben ist Vegetationsgürtel, über unterschied- Universität Essen, soviel wird dabei dieses Zeitalter Vergangenheit: das liche natürliche Bach- und Flussty- deutlich, wird in jedem Fall eine wird exemplarisch aus dem Beitrag pen, über städtische Wärmeinseln wichtige Rolle bei der Entwicklung der Historiker Wilfried Loth und und Flächen mit Klimafunktionen, der Region zu spielen haben. Sie ist Sabine Voßkamp deutlich, die den deren Ausgleich organisierbar ist. jetzt schon ein Gestaltungsfaktor, Beginn des postindustriellen Zeital- Die kulturelle Umwelt befin- der aus dem Ruhrgebiet nicht mehr ters in der Stadt Essen schildern. det sich, wie der Soziologe Eckart wegzudenken ist. Wie die natürliche Umwelt im Pankoke zeigt, auf dem Weg zur Wilfried Loth Ruhrgebiet der Gegenwart beschaf- Regionalisierung. Dabei wird fen ist, davon berichten der Boden- sich allerdings, wie der Geograph kundler Wolfgang Burghardt, die Hans-Werner Wehling ergänzt, eine Botaniker Guido Benno Feige und Konsolidierung bei einer deutlich Randolph Kricke, die Hydrobiolo- geringeren Einwohnerzahl ergeben. 8 ESSENER UNIKATE 19/2002 9 Diethard E. Meyer. Foto: André Zelck Diethard E. Meyer. 8 ESSENER UNIKATE 19/2002 9

Von Menschen ausgehende Umwelteinwirkungen haben vielfach weitreichende geologische Folgen. Besonders im Ballungsraum Ruhrgebiet sind sie unübersehbar und bieten sich zur wissenschaftlichen Untersuchung an, zumal fast alle Naturraumpotenziale betroffen sind.

Geofaktor Mensch

Eingriffe und Folgen durch Geopotenzialnutzung Von Diethard E. Meyer

u den unverzichtbaren Lebens- potenziale schonender als bisher zu ropäischen Vorkommen. Relativ Zgrundlagen des Menschen gehö- nutzen, die Emissionen von Schad- einfache Lagerungsverhältnisse bei ren neben Wasser, Boden und Luft stoffen weiterhin zu reduzieren, geringer Abbautiefe bedeuten nied- auch die mineralischen Rohstoffe. Altlasten zu sanieren und Reststoffe rige Förderkosten. Wenn jedoch die Ihre Gewinnung reicht – wie beim ohne Belastungen für Pflanzen, Tiere Kohle – wie im Ruhrrevier – aus bis Erdöl und Erdgas bis in tausende und Menschen zu entsorgen. zu 1.500 Metern Tiefe gewonnen von Metern Tiefe. Der Geologe Lebenswichtige Ressourcen wie werden muss, dann sind eine hoch- Hans Cloos hat unsere Erde treffend Erze, Stein- und Braunkohle oder entwickelte Bergbautechnologie, als „Wohn- und Entwicklungsraum“ Baurohstoffe, aber auch Grund- lange bergmännische Erfahrung des Menschen und als „verzweigte wasservorkommen bildeten sich und hohe Investitionen die wich- Kammer seiner Nähr- und Arbeits- in erdgeschichtlichen Zeiträumen. tigste Voraussetzung. Hier nimmt vorräte“ bezeichnet. Aus dieser Jede Lagerstätte nutzbarer Roh- der deutsche Steinkohlenbergbau Schatzkammer wurden weltweit in stoffe verdankt ihre Entstehung dem eine Spitzenstellung ein, die nicht den letzten 50 Jahren mehr Roh- glücklichen Zusammenspiel unter- verloren gehen sollte. Im Ruhr- stoffe gefördert als in den 5.000 schiedlicher geologischer Kräfte und gebiet wurden im Jahr 2000 rund Jahren zuvor! Prozesse. So sind Böden das Ergeb- 78 Prozent der in Deutschland Die Agenda 21 des „Erdgipfels“ nis länger andauernder Verwitte- gewonnenen Steinkohle gefördert. von Rio de Janeiro im Jahr 1992 ent- rungsprozesse. Alle diese Naturgüter Die bis weit unter das Münsterland hält die Forderung nach einer dauer- tragen zur Wertschöpfung bei. Sie reichende Lagerstätte Ruhr umfasst haft umweltgerechten und zugleich werden als Geopotenzial zusammen- 7.500 Quadratkilometer. Hier liegt tragfähigen Entwicklung – vor gefasst. Insgesamt kennzeichnend ist etwa die Hälfte der 42 Milliarden allem auch zugunsten nachfolgen- ihre Standortgebundenheit. Tonnen gewinnbarer Steinkohle in der Generationen. Dieses Ziel kann Die Steinkohlenlagerstätte Ruhr Westeuropa. Die volkswirtschaftli- – auch im Ruhrgebiet – nur erreicht ist eine geologisch recht kompliziert che Bedeutung des Steinkohleberg- werden, wenn es gelingt, die noch gebaute Lagerstätte, insbesondere baus und der Montanindustrie bleibt vorhandenen Naturraum- und Geo- im Vergleich mit vielen außereu- unbestritten. 10 ESSENER UNIKATE 19/2002 11

Die durch Rohstoffgewinnung verursachten direkten und indirekten Folgewirkungen haben die gesamte Bergbauregion des „Reviers“ betrof- fen. Ohne die Industrialisierung, deren wichtigster Motor die Stein- kohle war, wäre diese Region heute eher landwirtschaftlich geprägt. Wenn in diesem Beitrag der Geo- faktor Mensch in den Mittelpunkt gestellt wird, dann vor allem deshalb, weil am Beispiel des Ruhrgebietes die herausragende Rolle des Homo sapiens als Umgestalter der Natur und ihrer Ökosysteme aufgezeigt werden kann. Die Aufgabe der heutigen Umweltgeologie besteht darin, die Wechselbeziehungen zwischen Natur und Umwelt zu analysieren. Darüber hinaus sind verlässliche Bewertungskriterien für die Umweltsanierung zu erar- beiten. Selbstverständlich müssen dabei auch die sozioökonomischen, umweltrechtlichen und ökologischen Rahmenbedingungen berücksich- tigt werden. Erst bei ganzheitlicher Betrachtung lassen sich Nutzungs- und Zielkonflikte bereits im Vorfeld von Landschafts- und Wirtschafts- planungen erkennen. Das Ruhrrevier war und ist Europas größter montan-industriel- ler Ballungsraum. Er verdankt seine Existenz eindeutig der Steinkohle. Sie war Motor der industriellen Entwicklung in Deutschland. Die ab 1850 aufblühende Eisen- und Stahl- industrie im Ruhrgebiet gründete sich wesentlich auf die unmittelbare Verfügbarkeit von Steinkohlenkoks. Montanindustrielle Ballungsräume wie das Ruhrgebiet sind samt ihren Randregionen Spitzenverbraucher von Gütern und Rohstoffen jeder Art. Zugleich sind sie aber auch Gewinnungsgebiete volkswirtschaft- lich unverzichtbarer mineralischer Rohstoffe wie Steinkohle, Erze, Kalksteine und anderer Massen- rohstoffe. Im Ruhrgebiet wird die Steinkohle heute ausschließlich unter Tage gewonnen. Dabei haben die Fördertiefen seit etwa 1850 mit dem (1) Bergarbeiterdenkmal „Steile Lagerung“ des Bildhauers Max Kratz an der Freiheit in Essen zur Ehrung der Bergleute und ihrer schwierigen Vordringen des Steinkohlenberg- Arbeit unter Tage, errichtet am 1. September 1980. baus von der Ruhr zur Emscher und 10 ESSENER UNIKATE 19/2002 11

schließlich zur Lippe ständig zuge- Eingriffe Folgewirkungen nommen. Allein von 1970 bis 1990 nahm die mittlere Gewinnungstiefe Landwirtschaft Pflügen, Düngung von 754 Metern auf 903 Meter zu; Moorkultivierung heute liegt sie bereits bei rund 1.000 Monokulturen Metern. Im Zuge der Bergbau-Nord- • Bodenveränderungen wanderung werden im Bereich der chemisch und physikalisch Lippe-Mulde Fördertiefen bis 1.200 • Bodenwasserhaushalt Meter unter Flur und im Bergwerk • Bodenerosion (verstärkt) Ost sogar bis 1.500 Meter erreicht. Direkte Einwirkungen gingen Verkehrswegebau Straßen-, Kanal-, Tunnelbau vom Abbau selbst aus, wie früher • Bodenversiegelung beim Pingenbau an der Erdober- • Zerschneidung von Geoökosystemen fläche. Dabei wurden gewach- sene Biotope und Biozönosen am Wasserbau Staudämme, Talsperren, Flussregulierung, Abbauort zerstört. Hinzu kommt Kanalbau der Flächenanspruch durch Förder- • Wasserhaushalt einrichtungen, Transportwege und • Strömungsdynamik Aufbereitungsanlagen. Die Nutzung • Veränderung der Ökosysteme der Steinkohle führte zur Emission von festen und gasförmigen Schad- Städtebau Hohe Besiedlungsdichte Häuser und Infrastrukturen stoffen (z. B. Ruß, CO2, CO, SO2, Stickoxide, Schwermetalle). Hieraus • Flächenversiegelung ergaben sich starke Belastungen des • Bodenaufhöhungen • Hausmüllkumulation Bodens, der Luft und der Vorfluter, • Ökosystemvernichtung sofern nicht hochaufwendige techni- sche Einrichtungen diese Schadstoffe Rohstoffgewinnung Techrosion und Massenverlagerung im Tagebau zurückhalten – wie heute Filteran- und Bergbau lagen zur Abscheidung von Stäuben • Subsidenz/Bergsenkung und Schwefel beim Betrieb von Koh- • Haldenkörper, Reststoffdeponien lekraftwerken oder durch wirksame • Störung der geologischen Lagerungsverhältnisse Abwasserkläranlagen. Derartige • Grundwasserabsenkung Folgewirkungen des untertägigen • Störung der Hydraulik und Geochemie der Bergbaus führen zu längerfristigen, Oberflächenwässer meist irreversiblen Veränderungen im Naturhaushalt (Litho-, Pedo-, Industrie Aufbereitung und Produktion Hydro- und Klimasystem). So • Schadstofffreisetzung in Wasser, Boden und Luft werden insbesondere durch Berg- • Grundwasserbelastungen senkung, Grundwasserabsenkung, • Altlasten Deposition bergbaulicher Abfall- produkte (Steinkohlebergehalden) sowie durch rohstoffspezifische (2) Eingriffe des Menschen und ihre Folgewirkungen im Ruhrgebiet. Emissionen bei der Gewinnung und Aufbereitung zahlreiche hydrogeo- logische und geochemische Faktoren in den letzten 150 bis 200 Jahren ent- mit der Entwicklung der Technik, maßgeblich verändert. Dadurch scheidend gesteuert hat. Zu diesem des Verkehrs und der Naturwissen- ergaben und ergeben sich weiterhin Geopotenzial zählen auch zahlreiche schaften verbunden. Blickt man in gravierende ökologische Folgen und andere mineralische Rohstoffe wie die Zukunft, so müssen vor allem Risiken – letztlich auch für die Men- Kies und Sand, aber auch Kalksteine, die ökologischen und umwelt- schen im Ruhrgebiet selbst. Dolomite und andere Massenroh- geologischen Folgewirkungen Wer den Strukturwandel im stoffe. Sie wurden vor allem für die betrachtet werden, zumal fast alle Ruhrgebiet in den letzten Jahrzehn- Bauindustrie, die Erzverhüttung, Naturraumpotenziale betroffen sind. ten verfolgt hat, dem wird bewusst, die chemische Industrie sowie die Manche der bisherigen Lösungen dass das im Ruhrgebiet selbst und Gießereien benötigt. Die Geschichte von Umweltproblemen werden sich seiner Umgebung reichlich vorhan- ihrer Nutzung seit dem ausgehenden allerdings eines Tages als „Verschie- dene Geopotenzial die Entwicklung 18. Jahrhundert ist auf das Engste bebahnhof“ entpuppen. 12 ESSENER UNIKATE 19/2002 13

Die in Zukunft zu bewältigenden ein folgenschweres Versäumnis. Der mit starken Veränderungen der Aufgaben betreffen insbesondere heute geforderten Nachhaltigkeit natürlichen geologischen Gegeben- die Böden, die Oberflächengewässer (sustainable development) wurde heiten – wie Geomorphologie, Lage- und das Grundwasser. Aber auch wenig Rechnung getragen. Erst seit rungsverband der Gesteine, Stoffbe- die Begrünung von Steinkohleberge- 1970 hat hier ein Umdenken einge- stand oder Wasserhaushalt – verbun- halden, die Sanierung von Bergsen- setzt, dem zögernd Taten folgten. den. Da das Ruhrgebiet bis in 1.200 kungsgebieten, die Rekultivierung Die Bedeutung der Geowissenschaf- Meter Tiefe bei einer flächenmäßigen von zahlreichen Altstandorten ten mit allen ihren Teildisziplinen für Dimension von mehreren tausend (z. B. Zechen, Kokereien, Hütten- Wirtschaft, Industrie und Forschung Quadratkilometern die am besten werke) und die Wiedernutzung alter ist unübersehbar. Geowissenschaft- erkundete Lagerstätte der Welt ist, Industrieflächen (Brachflächenrecy- liche Erkenntnisse sind vor allem im lässt sich hier die Rolle des Geofak- cling) sind weiterhin vordringliche Bergbau, im Sektor Rohstoffgewin- tors Mensch besonders eindrucksvoll Aufgaben. Ferner ist eine umwelt- nung, in der Energiewirtschaft sowie darstellen. freundliche Beseitigung anfallender im Bauwesen, in der Landwirtschaft, Im Bereich des Rohstoffabbaus Reststoffe erforderlich (z. B. Filter- Wasserwirtschaft oder auch im Um- an der Erdoberfläche sowie in größe- stäube, industrielle Prozessabfälle, welt- und Naturschutz die Basis rer Tiefe führt dieser anthropogene kontaminierte Böden). Die meisten für Planung und praktisches Han- Eingriff primär zu großen Massen- der gravierenden Folgewirkungen deln. Aber auch die Eingriffe in die defiziten und zu einer weiträumigen sind unumkehrbar. Somit werden Umwelt, deren Folgenabschätzung Verlagerung der in flüssiger (Erdöl, sich auch künftige Generationen und Sanierungsvorhaben erfordern Wasser), gasförmiger (Erdgas) oder mit der Bewältigung von Problemen geologisches Know-how. fester Form (Steinkohle, Erze) und den damit verbundenen hohen Die Gewinnung nutzbarer gewonnenen Rohstoffe. Diese Kosten konfrontiert sehen. Geowis- mineralischer Rohstoffe durch den spezielle Form anthropogener senschaftliche Forschungsarbeiten Menschen aus Bereichen nahe der Massenverlagerung markiert in der müssen deshalb solide Grundlagen- Erdoberfläche erfolgt bereits seit Regel den Beginn einer langen Kette kenntnisse liefern, aber auch alle Jahrtausenden. Doch erst mit ver- sekundärer – etwa mit dem Weiter- diese praktischen Aufgaben flankie- besserten Fördertechnologien und transport der Rohstoffe verbundener rend begleiten. dem Einsatz wirksamerer Techniken – sowie tertiärer, vor allem mit der zur Wasserhebung war weltweit bei Rohstoffaufbereitung, Veredlung Geofaktor Mensch der Gewinnung von Rohstoffen ein und effektiven Nutzung dieser Stoffe Vordringen zu immer größeren För- verknüpfter Massenverlagerungen.1 Seit Beginn des Industriezeital- dertiefen möglich. Während bei der Die unmittelbar mit dem von Meyer ters wurde der Mensch zu einem der landwirtschaftlichen Nutzung des 1989 als „Techrosion“ definierten bedeutendsten geologischen Fak- Bodens das Relief der Erdoberfläche Abbauprozess verbundene Massen- toren auf der Erde. Diese Tatsache weitgehend erhalten bleibt, ist heute verlagerung führt zu irreversiblen aus der Betrachtung des Naturge- fast jede Form der Rohstoffgewin- Umweltauswirkungen. In Zeit und schehens ausgeklammert oder meist nung nahe der Erdoberfläche oder Raum betrachtet, erreichen diese nicht berücksichtigt zu haben, ist aus dem tieferen Gesteinsuntergrund bergbaulich bedingten Veränderun-

NORDWESTEN Lippe Dorsten Emscher

Lippe-Mulde Vestischer Emscher- Gelsenkirchener Sattel Mulde Sattel

(3) Querprofil durch die oberkarbonische Schichtenfolge des Ruhrgebiets mit überlagerndem Deckgebirge. 12 ESSENER UNIKATE 19/2002 13

gen in Regionen wie dem Ruhrgebiet war während der Elster- und Saale- Schichten des jüngeren Oberkarbons geradezu geologische Dimensionen. Eiszeit das Tal der Ruhr, welches (Namur C bis Westfal D) abgelagert Es können sich daher erst in sehr bereits existierte, ganz mit Eis worden war. Damit war das breite, langen Zeiträumen (102 bis 104 Jahre) ausgefüllt. Geologisch betrachtet ganz Europa durchziehende varis- natürliche Gleichgewichtsbedingun- sind es drei große tektonische und zische Gebirge entstanden, das ab gen wiedereinstellen. regionalgeologische Einheiten, die der Wende Karbon/Perm vor ca. 300 Vom Menschen ausgehende das Ruhrgebiet beherrschen und die Millionen Jahren stark abgetragen Umwelteinwirkungen haben vielfach dreidimensional betrachtet werden wurde. weitreichende geologische Folgen. müssen: Der im Grundgebirge gene- Die direkte Umgestaltung der Erd- 1. das paläozoische Grundge- rell Südwest-Nordost gerichtete oberfläche, aber auch der indirekte birge des Schiefergebirges (Devon- Längsverlauf der Schichten wird als Eingriff in heutige geodynamische Karbon) „Streichen“ bezeichnet. Es entspricht Prozesse führt langfristig zu einer 2. das Deckgebirge des Münster- dem Verlauf der großen Sattel- und Verschiebung der von biotischen und länder Kreidebeckens (Permo-Trias, Muldenstrukturen. Dieser spiegelt abiotischen Faktoren gesteuerten Oberkreide) sich auch deutlich im morphologi- Gleichgewichte. Die sich ergebenden 3. die Grabenstruktur der Nie- schen Relief beiderseits der Ruhr Umweltbelastungen haben letztlich derrheinischen Senke (Tertiär-Quar- wider, wo die bis mehrere Zehner schwerwiegende Rückwirkungen für tär). Meter mächtigen relativ verwit- den Menschen selbst.2 Das Grundgebirge ist überall terungsbeständigen karbonischen unter dem Ruhrgebiet und dem Sandsteine als Härtlingsrücken der Geologische und bergbauliche Münsterland vorhanden. Es tritt genannten Richtung folgen. An den Situation im Überblick jedoch nur im Süden beiderseits der meist senkrecht oder diagonal zum Ruhr sowie weiter südlich – hier als Generalstreichen verlaufenden tekto- Das Ruhrrevier umfasst unter- Rheinisches Schiefergebirge bezeich- nischen Verwerfungen („Störungen“) schiedliche landschaftsräumliche net – direkt an die Tagesoberfläche. wurden die Sättel und Mulden seit- Einheiten. Die geographischen Dieses variszische Faltengebirge lich versetzt. So entstanden quer zur Bezeichnungen decken sich nicht mit allen seinen Sätteln (nach oben Längsausrichtung der Faltenstruktu- immer genau mit den Grenzen der gewölbte Falten) und Mulden (nach ren so genannte Horste, Gräben und regionalgeologischen Einheiten, unten gewölbt) besteht vor allem Staffelbrüche. Diese „Zerblockung“ denn sowohl das Relief als auch die aus Schichten des Devons (z. B. im des Steinkohlengebirges bedeutet, Gewässer und ihre Ablagerungen Velberter Raum) sowie des Unter- dass gleich alte Schichten und Flöze wurden durch relativ junge Prozesse und Oberkarbons. Die Faltung an diesen Störungen um teilweise geprägt. Dies geschah vor allem dieser viele tausend Meter mächti- Hunderte von Metern gegeneinan- während der einzelnen Eiszeiten im gen Schichtfolge begann bereits im der versetzt sind. Der Abbau wurde Quartär, als sich Gletscher mehrfach Oberdevon vor über 350 Millionen dadurch sehr erschwert. Durch die bis zur Ruhr vorschoben – zuletzt Jahren und endete im jüngsten Ober- vor allem in den Sattelstrukturen vor rund 150.000 Jahren. Bei den karbon vor 295 Millionen Jahren, intensive Faltung wurden die Flöze weitesten Eisvorstößen nach Süden nachdem die Steinkohle in führenden zum Teil bis zur Senkrechten auf-

Gelsenkirchen Essen Wattenscheid Ruhr Hattingen SÜDOSTEN

Essener Wattenscheider Bochumer Stockumer Wittener Mulde Mulde Mulde Sattel Mulde

Erläuterung: Der mittlere Teil des Profils ist an der Geologischen Wand im Essener Grugapark als 14 Meter langes Natursteinrelief dargestellt. 14 ESSENER UNIKATE 19/2002 15

Zahl der Beschäftigten Beschäftigte Gründung der 600 im Ruhrbergbau Ruhrkohle AG x 1000 500

400

300

124.733 (1985) 200 98.675 (1990) 70.520 (1995) 100 40.675 (2000) 50

1800 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 n. Chr.

(4) Entwicklung der Beschäftigtenzahlen im Ruhrbergbau. Quellen: Wiggering 1993 und bislang unveröffentlichte Angaben der DSK (Deutsche Steinkohle)

Anzahl der Bergwerke Gründung der 300 fördernden Bergwerke Ruhrkohle AG im Ruhrgebiet

200

100 80 19 Bergwerke (1990) 60 9 Bergwerke (2000) 40 8 Bergwerke (2001) 20 7 Bergwerke (2002)

1800 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 19801990 2000 n. Chr.

(5) Entwicklung der Bergwerkschließung. Quellen: Wiggering 1993 und bislang unveröffentlichte Angaben der DSK (Deutsche Steinkohle)

Mio t/Jahr Kohleförderung Gründung der 150 Kohleförderung Ruhrkohle AG im Ruhrgebiet

100

64 (1985)

54,6 (1990)

45,7 (1993)

50 38 (1996)

25,9 (2000)

1800 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 n. Chr.

(6) Entwicklung der Kohleförderung. Quellen: Wiggering 1993 und bislang unveröffentlichte Angaben der DSK (Deutsche Steinkohle) 14 ESSENER UNIKATE 19/2002 15

gerichtet. Das Bergarbeiterdenkmal steine fast genau Ost-West (Haar- verbreitet. Im Norden finden sich „steile Lagerung“ von Max Kratz strang). Die weicheren tonig-mer- lokal über den Oberkreideschichten zeigt, wie schwierig die Arbeit des geligen Schichten verlaufen diesen Grundmoränenreste sowie holozäne Bergmanns früher war (Abb. 1). parallel. Da sie tiefer erodiert sind, Dünensande oder torfige Ablage- Heute wird im Ruhrgebiet folgen ihnen wichtige Verkehrs- rungen. Viele dieser mineralischen wegen der Vollmechanisierung der wege – wie der alte Salzhandelsweg Rohstoffe wurden verstärkt seit 1850 Strebe (Schildausbau, hydraulische „Hellweg“. Die Hellweg-Börden wirtschaftlich genutzt. Zahlreiche Stempel, Schnitt der Kohle mit sind von fruchtbarem Löß bedeckt, Sand- und Kiesvorkommen stehen Walzenschrämmladern) nur noch der die Kreide-Schichten verhüllt. auch noch heute im Abbau. dort Kohle abgebaut, wo die Flöze Durch das flache Einfallen der Krei- mit einer mittleren Dicke von 2,20 deschichten nach Norden schwillt Entstehung der Steinkohle Metern relativ flach geneigt liegen. das Deckgebirge auf über 400 Meter Im Jahr 1960 lag die durchschnitt- im mittleren Revier und weiter zur Das Oberkarbon ist weltweit liche gebaute Flözdicke bei 1,05 Lippe im Gebiet Hohe Mark bis auf die kohlenreichste Formation in Metern. Dies ist vor allem in den 1.100 Meter an. Dieser „Kreidekeil“ der Erdgeschichte, wie bereits der mehrere Kilometer breiten koffer- lässt den abbaufähigen Bereich des Name (lat. carbo = Kohle) für diese förmigen Sätteln und Mulden der Steinkohlengebirges – bei einer pro- geologische Periode verdeutlicht. Fall. Hingegen musste im südlichen jektierten Abbautiefe bis 1.500 Meter In dieser Zeit vor rund 325 bis 295 Revier der Abbau auf vielen Zechen unter Normalnull nach Norden Millionen Jahren kam es – nach der zu Beginn der 70er Jahre eingestellt generell schrumpfen. An dieser Stelle Eroberung der Festländer durch werden. Wegen des dort vorherr- stehen dem Bergbau höchstens noch die ersten Landpflanzen seit Beginn schenden engen Faltenbaus – bei 400 bis 500 Meter kohleführende des Devons vor rund 400 Millionen zugleich starker Flözneigung – war Schichten zur Verfügung. Im west- Jahren – zu einer geradezu explo- ein mechanisierter Abbau bergbau- lichen Bereich der Lippe-Mulde ist sionsartigen Entfaltung der Pflan- technisch nicht möglich oder unwirt- aufgrund einer wesentlich günsti- zenwelt im Oberkarbon: Bärlappge- schaftlich. Steinkohlevorräte wären geren bruchtektonisch bedingten wächse, Farnsamer und Siegelbäume hier durchaus noch vorhanden gewe- Situation das Deckgebirge zum Teil erreichten bereits Baumgröße. sen. In Essen, der einst zechenreichs- nur 300 bis 500 Meter mächtig, so Beiderseits des damaligen Äquators ten Stadt in Europa, wurde 1986 mit dass dort bis zu 1.000 Meter mächti- kam es unter entsprechend günstigen der Zeche Zollverein die letzte Zeche ges Steinkohlengebirge erschließbar klimatischen und geologischen Rah- stillgelegt. In Dortmund wird eben- ist (z. B. Zeche Prosper/Haniel). menbedingungen zur Ausbreitung falls seit 15 Jahren keine Kohle mehr Mit Ausnahme des Bergwerks Ost ausgedehnter Waldmoore. Deren gefördert. (Monopol bei Kamen) liegen alle för- abgestorbene Biomasse führte zur Unmittelbar über dem alten dernden Bergwerke im nördlichen Bildung mächtiger Torfschichten, variszisch gefalteten Gebirgssockel Revier in der breiten Lippe-Mulde. die durch Überlagerung mächtiger liegt das jüngere Deckgebirge mit Der jüngste Teil des Deckge- Kies-, Sand- und Tonschichten den unterschiedlichen Sedimentgesteinen birges besteht aus Ablagerungen Prozess der Inkohlung vom Braun- aus der Perm-, Trias- und Kreidezeit. der Tertiär – und Quartärzeit. Sie kohlen- bis zum anthrazitischen Das Perm (Zechstein) tritt im Raum bedecken weite Bereiche insbeson- Steinkohlenstadium durchliefen. Wesel als ca. 500 Meter mächtiges dere im mittleren und nördlichen Entscheidend war die Temperatur- Steinsalzlager (Salzbergwerk Borth) Ruhrgebiet. Aber auch im Süden zunahme innerhalb der absinkenden auf. Im Nordwesten ist in der Tiefe verhüllen sie teilweise das flöz- gesamten Schichtfolge zur Tiefe hin. Buntsandstein (Untere Trias) durch führende Karbon, sodass in den Das Rheinisch-westfälische Bohrungen nachgewiesen. Das jün- dortigen Bergschadensgebieten oft Steinkohlenrevier ist nur ein relativ gere Deckgebirge wird aus Schichten nur anhand von Pingenzügen der schmaler Abschnitt eines riesigen der Oberkreidezeit aufgebaut. Im Flözverlauf an der Erdoberfläche zu „Kohlengürtels“, der sich nach südlichen Ruhrrevier zwischen Mül- verfolgen ist. Im Wesentlichen han- Westen über das Aachener Revier, heim und Unna liegt die Oberkreide delt es sich um gröber- bis feinkör- Südholland, Belgien und Nord- direkt auf dem Karbon des Steinkoh- nige Lockersedimente in Form von frankreich bis nach Südengland und lengebirges. Kiesen, Sanden, Schluffen, Tonen Wales – vor Öffnung des Atlantiks Da die Oberkreide-Schichten oder auch mergeligen Ablagerun- sogar bis nach Nordamerika (Appa- durch leichte tektonische Einkip- gen (z. B. Grundmoräne). In weiten lachen) erstreckt. Nach Osten lässt pung bedingt mit ca. drei bis fünf Teilen des Reviers ist der vom Wind sich dieser Gürtel bis nach Polen Grad nach Norden einfallen, verlau- aus dem Gletschervorland herbei- (Oberschlesisches Steinkohlenrevier) fen die Rippen der verwitterungsre- transportierte, zum Teil bis zwölf verfolgen. Die Gesamtlänge dieses sistenteren Mergelkalke und Kalk- Meter mächtige fruchtbare Löß europäischen Kohlegürtels beträgt 16 ESSENER UNIKATE 19/2002 17

1.800 Kilometer. Im Ruhrrevier Flöze mit dem höchsten C-Gehalt Ruhrgebiet von 1970 bis in die 80er erstreckt sich das Abbaugebiet aus (bis über 90 Prozent) bzw. gerings- Jahre Hunderte von Erkundungs- dem linksrheinischen Gebiet (Kamp- ten Gasgehalt (bis unter 10 Prozent) bohrungen in einem Areal von über Lintfort, Moers) über 100 Kilometer kommen in den Oberen Sprock- 7.500 Quadratkilometern niederge- bis in den Raum Hamm/Ahlen. höveler Schichten vor, in denen die bracht. Die geophysikalische und Die ursprünglich größte Breite des Kohleführung zögerlich einsetzte. geologische Auswertung ergab, Reviers von über 40 Kilometern ist Diese Tatsache kommt auch in meist dass noch enorme Steinkohlevor- heute auf die Hälfte geschrumpft. sehr geringer Flözdicke, in geringer räte im nördlichen Ruhrgebiet und Insgesamt bildete sich dieses Flözzahl pro 100 Meter Gesteins- im Münsterland bis 1.500 Meter europäische Steinkohlenbecken mit säule und hohem Ascheanteil der Tiefe lagern – insgesamt 420 Milli- seiner insgesamt über 5.000 bis 6.000 Kohle zum Ausdruck. Die enorme arden Tonnen! Allerdings wären in Meter mächtigen Schichtenfolge als Mächtigkeit der überlagernden Zukunft kaum mehr als ein Zwan- breite „paralische“ Senke im Vorland Schichten und somit die große Ver- zigstel dieser Vorräte gewinnbar. Die des seit rund 315 Millionen Jahren senkungstiefe bewirkte, dass die in Deutschland geologisch gesicher- verstärkt aufsteigenden variszischen Inkohlung mit der zur Tiefe hin stei- ten und gewinnbaren Vorräte von Gebirges. Als paralisch wird ein genden Temperatur – im Oberkar- ca. 23 Milliarden Tonnen dürften flacher kontinentaler Ablagerungs- bon wahrscheinlich um ein Grad pro – legt man die voraussehbaren tech- raum in Meeresnähe bezeichnet, der 15 Meter – zunahm. Heute nimmt nisch-ökonomischen Rahmendaten auch selbst immer wieder vom Meer die Temperatur in Mitteleuropa um zugrunde – keineswegs in vollem überflutet wird. Während im Unter- ca. ein Grad pro 33 Meter Tiefe zu Umfang abbauwürdig sein, obwohl karbon – also 355 bis 325 Millionen („geothermische Tiefenstufe“). sich über 75 Prozent dieser Vorräte Jahre vor heute – in diesem bis zu Dieser gesamte Sedimentsta- in flacher Lagerung befinden. Unter mehreren hundert Kilometer breiten pel des Karbons wurde schließlich diesem Aspekt ist die Steinkohle Ablagerungsraum das Meer vor- von der generell nach Norden „ein nachhaltiger Energieträger“, herrschte, kam es durch zunehmende wandernden Gebirgsbildung mit wie dies auch auf dem Deutschen Einschüttung von gröberem Abtra- erfasst. Durch diese „orogene Welle“ Steinkohlentag in Essen Ende 2001 gungsschutt aus dem im Süden auf- wurden die ursprünglich horizontal betont wurde. In der Tat stellt diese steigenden variszischen Gebirge zu abgelagerten Schichten mit ihren Lagerstätte im Ruhrgebiet die weit- einer allmählichen Verflachung des wenige Zentimeter bis maximal fünf aus größte und langfristig nutzbare Meeresraums. Auf diese Weise konn- Meter mächtigen Steinkohleflözen Energiereserve Deutschlands dar ten sich bereits im älteren Ober- in Falten gelegt, deren Verlauf im – insbesondere unter dem Blickwin- karbon, dem Namur C, die ersten Ruhrgebiet etwa Nordost-Südwest kel der Versorgungssicherheit. Waldmoore ausbreiten. Im Ruhrge- gerichtet ist. Sowohl die Lage der biet werden die ältesten Flöze – wie großen Faltenstrukturen, die man Bergbaugeschichte: Daten und Gottessegen, Besserdich oder Neu- als Hauptsättel und Hauptmulden Fakten flöz – wie sie im großen Steinbruch bezeichnet, als auch die tektoni- Rauen in Witten-Gedern zu sehen schen Störungen waren – neben der Im römischen Xanten wurden sind von einer 1.800 bis 2.000 Meter schwankenden Kohleführung der Bäder wahrscheinlich schon mit mächtigen „flözleeren“ Oberkarbon- Schichten zwischen anderthalb bis Steinkohle von der Ruhr beheizt. Ein Schichtfolge unterlagert. Das darü- sechs Metern (maximal acht Metern) Abbau ist aber erst im Jahr 1129 in ber folgende „Flözführende“, in dem Kohlemächtigkeit pro 100 Meter Duisburg urkundlich belegt. Zahl- mehr als 300 Flöze innerhalb einer Schichtfolge – ausschlaggebend für reiche Stollen im Ruhrtal, wo bei- vor allem aus Ton-, Schluff- und die bergbauliche Praxis. Aus dem derseits der Ruhr das flözführende Sandsteinen bestehenden Schichtse- Verlauf der Faltenstrukturen sowie Oberkarbon zutage tritt, waren mit rie vorkommen, erreicht insgesamt aus dem Verlauf der Störungen quer die ersten Gewinnungsorte. Hier bis zu 3.200 Meter Mächtigkeit. zum Faltenbau resultiert ein schach- begann der gezielte Steinkohlen- Die flözführende Schichtfolge brettartiges Gliederungsmuster der bergbau. Er kann im Raum Dort- reicht vom „Liegenden“ (Namur C) Steinkohlenlagerstätten. Zum Teil mund bis in das 13. Jahrhundert bis zum „Hangenden“ (Westfal D). spiegelt sich dieses Muster auch in zurückverfolgt werden. Zunächst Die jüngsten im Ruhrgebiet noch der Wirtschafts- und Siedlungsge- wurde die Steinkohle vor allem für erschlossenen Schichten sind die schichte des Ruhrgebietes wider. den Hausbrand, spätestens seit dem Lembecker Schichten, deren Flamm- Das Deckgebirge der Ober- 14. Jahrhundert auch für Feuer der kohlen den höchsten Gasgehalt und kreide schwillt nach Norden auf Schmiedeesse („Esskohlen“) genutzt. somit den relativ geringsten Inkoh- über 1.000 Meter an (Raum Hal- Eine sehr alte Gewinnungsart war lungsgrad aufweisen. Die ältesten tern). Hier wurden im nördlichen der Pingenbau. Hierbei wurden 16 ESSENER UNIKATE 19/2002 17

kleine Gruben entlang der an der Jahre später förderten 198 Zechen Kohleförderung im Gebiet südlich Erdoberfläche „ausbeißenden“ im Revier bereits zwei Millionen der Emscher erfolgte, betrug dieser Kohlenbänke (erst in jüngerer Zeit Tonnen Steinkohle. Die Zahl der im Anteil 1979 nur noch zehn Prozent. „Flötze“ bzw. „Flöze“ genannt) Bergbau Beschäftigten lag damals Wie sich in jüngster Zeit die Zahl der abgebaut. Der Name „Pütt“ rührt bei 122.000. Die erste ausführliche Zechen, der im Bergbau Beschäftig- übrigens von dieser Art des Abbaus geologische Beschreibung des Ruhr- ten sowie die Kohleförderung ent- her (lat. puteus = Grube bzw. Brun- karbons mit einer Flözkarte erschien wickelte zeigen die Diagramme der nen). Doch erst mit dem Stollenbau 1859. Die folgenden vier Jahrzehnte Abbildungen 4, 5 und 6. konnte man an den Talhängen der bis 1900 waren geprägt von einer Die Fördertechnologie machte Ruhr die Flöze im Gebirgsstrei- ständig steigenden Förderung und eine Steigerung der Schichtleistung chen bis tiefer in den Berg hinein einer Ausweitung der Abbaugebiete pro Mann unter Tage zwischen 1957 verfolgen. Hierzu mussten jedoch nach Westen bis auf die linke Rhein- und heute um etwa das Vierfache kostspielige Entwässerungsstollen seite sowie weiter nach Norden möglich. Im Jahr 2000 lag sie bei 6,7 („Erbstollen“) angelegt werden. bis in den Raum Recklinghausen. Tonnen je Mann und Schicht. Im Ruhrgebiet förderte man Während 1870 der Bergbau bis zur Die bergbautechnische sowie die im Jahr 1804 rund 380.000 Tonnen Emscher vorrückte, wurde um 1900 wirtschaftlich-industrielle Entwick- Kohle auf 229 Zechen. Die Einfüh- die Lippezone zwischen Wesel und lung verliefen im Ruhrgebiet in inte- rung der künstlichen Bewetterung, Hamm erreicht. ressanter Weise parallel. Begründet der erste Einsatz von Dampfmaschi- Der enorm steigende Koksbedarf liegt diese Tatsache maßgeblich im nen (1801) zur Wasserhaltung und für die Eisenverhüttung in Hoch- geologisch-tektonischen Aufbau der zur Kohleförderung (1809) sowie die öfen, die zunehmende Erzeugung Lagerstätte Ruhr sowie ihrer Erkun- gelungene Koksbrennerei (seit 1789) von Nebenprodukten (Kohledestil- dungs- und Erschließungsgeschichte. markieren den rasanten technischen lation zur Teergewinnung ab 1883, So wurden in der Anfangsphase bei- Fortschritt in dieser Zeit (Huske Treibstoffgewinnung aus Kohle seit derseits der Ruhr Kohlenarten ange- 1987). Um 1820 wurden im südli- 1913) begleiteten diesen Aufstieg. Im troffen, die sich am besten für Haus- chen Ruhrgebiet die karbonatischen Jahr 1939 wurden 130,2 Millionen brand und Schmiedezwecke eigneten Kohleneisensteine („Blackband“) Tonnen Steinkohle im Revier geför- (Anthrazit, Mager- und Esskohlen). als Eisenerze mit dem Hauptmineral dert – die höchste Jahresförderung Mit dem Aufblühen von Eisen- und

Siderit (FeCO3) entdeckt. Dieser im Ruhrbergbau überhaupt! Nach Stahlindustrie waren die Fettkohlen heimische Rohstoff bildete die Basis dem Zweiten Weltkrieg wurden begehrt, die sich bei der Verkokung für die rasch aufblühende Eisenin- 1957 „nur“ noch 123,2 Millionen „fett“ aufblähten und so die am dustrie im Ruhrgebiet. Mit Koks aus Tonnen erreicht, nachdem die För- besten verkokbaren Steinkohlen Ruhrkohle wurden diese Erze ab dermenge 1945 auf 33,4 Millionen waren. Da diese Fettkohlen sich vor 1849 erstmals mit Erfolg verhüttet Tonnen gesunken war. Diese Menge allem in den Bochumer Schichten (Friedrich-Wilhelms-Hütte in Mül- entsprach 82,5 Prozent der mit fanden, führte die Nordwanderung heim). Damit war der Aufstieg der 149,4 Millionen Tonnen höchsten in den Emscherraum zu deren weit- Stahlindustrie und der Gießereien Förderung aller vier Steinkohlenre- räumigen Abbau im mittleren Revier. vorprogrammiert. viere in der Bundesrepublik (Ruhr, Die Fettkohlen bildeten gleichsam Von ganz entscheidender Bedeu- Saar, Aachen, Ibbenbüren). Etwa das „Rückgrat“ des Reviers über tung war jedoch der Vorstoß in ein Drittel der Kohle wurde im Jahr Jahrzehnte. Noch 1970 belief sich das Steinkohlengebirge unterhalb 1957 bereits mechanisch gewonnen. die Fettkohleförderung auf ca. 75 der Kreidebedeckung im südlichen Nach der Gründung der Ruhrkohle Prozent der Gesamtfördermenge Ruhrgebiet. Dass sich das Steinkoh- (RAG) im Jahr 1968 existieren nur von 91 Millionen Tonnen. Durch die lengebirge darunter nach Norden noch 52 Bergwerke und 29 Koke- Verlagerung der Hauptförderung fortsetzte, war bereits 1806 durch reien. Im Jahr 1957 waren es noch von der Emscher- zur Lippezone von Hövel erkannt worden. Doch 61 Kokereistandorte. Die Zahl der rückten aber auch zunehmend die erst in den Jahren 1832 und 1839 Großschachtanlagen nahm hingegen stärker gashaltigen Kohlen, die sich wurde diese „Mergeldecke“ auf heu- deutlich zu. Indessen mussten im am besten für die Stromerzeugung tigen Essener Gebiet durchstoßen. südlichen Revier große Zechen – vor in Großkraftwerken eigneten, in den Hier begann ab 1842 eine regelmä- allem wegen ungünstiger geologi- Fokus des wirtschaftlichen Interes- ßige Kohleförderung (Zeche Graf scher Lagerungsverhältnisse – beim ses. Währenddessen ging der Koks- Beust in Essen). Um 1840 erreichte weiteren Mechanisierungsprozess bedarf infolge des Niedergangs der der Bergbau auf der Linie Duis- (Einsatz des vollmechanischen Streb- Stahlindustrie stärker zurück. Bei der burg-Essen-Bochum-Dortmund- ausbaus) stillgelegt werden. Wäh- Verkokung fielen die wichtigen Aus- Unna die Hellwegzone. Etwa zehn rend 1956 noch rund 50 Prozent der gangsprodukte für den bedeutenden 18 ESSENER UNIKATE 19/2002 19

(7) Auf dem Campus der Universität Essen: Block aus Ruhrsandstein mit großen Strudellöchern – von der Küste des Oberkreidemeeres bei Mülheim-Broich (Kassenberg Steinbruch Rauen).

Industriezweig der Kohlechemie Christian Levin, in Gladbeck auf stoffe unter Tage wurden sie über an. Im Gefolge des Strukturwandels der Zeche Graf Moltke und in Marl- viele Jahrhunderte beiderseits der kam es jedoch zur Schließung der Hüls auf der Zeche Auguste Victoria Ruhr abgebaut. Zahlreiche Burgen, meisten Kokereistandorte. Heute (Schacht Stein V). Die Haupterze Klosteranlagen, Kirchen, Rathäuser arbeitet nur noch eine Kokerei im waren hier vor allem silberhaltige und Brücken, aber auch ältere Fab- Revier. Bleiglanz (PbS) und Zinkblende rikanlagen, Bergbaugebäude und (ZnS) neben anderen Erzmineralen. Wohnhäuser wurden aus diesem Mineralische Rohstoffe und Zwischen 1938 und 1962 wurden Ruhrsandstein erbaut. Die meisten Wasser-Ressourcen im Ruhrgebiet rund fünf Millionen Tonnen Roherze „Ruhrsandstein“-Gebäude stehen gefördert. Seither liegt der Erzberg- heute unter Denkmalsschutz. Eine Das Ruhrgebiet ist lagerstätten- bau still, obwohl noch beachtliche Reihe dieser stillgelegten Steinbrü- kundlich gesehen auch eine Erzpro- Vorräte vorhanden sind. che ist am Geologisch-bergbau- vinz – wenngleich nicht so bedeu- Von großer Bedeutung war auch kundlichen Wanderweg zwischen tend wie benachbarte Reviere (z. B. der Abbau des „Ruhrsandsteins“. Essen-Heisingen und Essen-Werden Siegerland). Zu den wichtigen nutz- Diese sehr harten oberkarbonischen gut erschlossen und mit Erläute- baren Rohstoffen zählen neben der Sandsteine wurden in zahlreichen rungstafeln versehen.3 Diese alten Steinkohle und den bereits im 18./19. Steinbrüchen zwischen Witten- Steinbrüche bieten einen ausgezeich- Jahrhundert nahe der Erdoberfläche Herdecke und Mülheim – zuletzt neten Einblick in Schichtaufbau abgebauten Eisenerzen (Raseneisen- am Kassenberg in Mülheim-Broich und Entstehungsgeschichte des erze im Emscher- und Lippe-Tal; – gewonnen. Ein über sechs Tonnen flözführenden Karbons. Ferner sind Spateisensteine und Kohleneisen- schwerer Ruhrsandsteinblock aus hier wichtige Dokumente der Berg- steine im Oberkarbon) bedeutende dem dortigen Steinbruch Rauen liegt baugeschichte zu sehen, wie z. B. Vorkommen von Blei-Zink-Erzen. mitten im Campus der Universität alte Stollenmundlöcher. Hier sei vor Diese Erze wurden auf drei Zechen in Essen (Abb. 7). Als Bruch- und allem auch auf den Bergbaukundli- abgebaut: in Essen auf der Zeche Werksteine, aber auch als Versatz- chen Wanderweg im Muttental bei 18 ESSENER UNIKATE 19/2002 19

geogen technogen Ablagerungen junger Vulkanausbrüche Steinkohlebergehalden basaltische Aschentuffe klastische Sedimentgesteine • unverwitterte Minerale, Gesteinsglas • unverwitterte Minerale (v. a. Silikate wie Feldspäte, Augit, Olivin) (v. a. Silikate wie Tonminerale; Glimmer, Quarz) • z. T. starke Erosion bei Pyroklastika (durch vulka- • starke Erosion an Böschungen frisch geschütte- nische Prozesse zerbrochenes Material) teten Bergematerials (technogen zerbrochen) • Boden fehlt • Boden fehlt oder wird aufgebracht • zögernd einsetzende Rohbodenbildung • Bergematerial als Substrat für Rohböden • geringe Konzentration leicht löslicher Salze • hohe Konzentration leicht löslicher Salze (v. a. Chloride) —> rasche Auswaschung • hohes Potenzial mineralischer Nährstoffe • niedriges Potenzial mineralischer Nährstoffe

• Silikatverwitterung • Sulfidverwitterung (Pyrit FeS2) —> Schwefelsäu- re- und Sulfatbildung —> Auswaschung • bei Verwitterung pH-Tendenz basisch • starke pH-Wert-Absenkung (bis pH 2) • Rohbodenbildung v. a. durch physikalisch- • langsam fortschreitende Rohbodenbildung chemische Verwitterung (klimaabhängig) durch Gesteinszerfall und Mineralumbildung • langsame bis z. T. sehr rasche Besiedlung durch • Primärsukzession der Pflanzen zögernd ein- niedere Pflanzen und Tiere setzend oder Pioniervegetation durch Ansaat (Spezialmischungen) • hochwertige Böden, nachhaltig fruchtbar • bodenverbessernde Maßnahmen durch Zufuhr von Kalk, Dolomit, Phosphaten notwendig • geringe bis keine Trockengefährdung • erhöhte Trockengefährdung • Boden- und Vegetationsdecke in wenigen Jahr- • Boden und Vegetationsdecke in mehreren Jahr- zehnten zehnten

(8) Vergleich geogener und technogener Prozesse im Verwitterungskreislauf.

Witten-Gedern sowie auf den Geo- Sande für Gießereizwecke eingesetzt. Bergschäden noch auf andere Weise logischen Garten in Bochum hinge- Hier entstanden größere Tagebaue. gefährdet werden. wiesen. Dort wurden auf der ehema- Eine der wichtigsten Ressourcen ligen Zeche Friederica seit 1868 auch für die Industrie und die Bevölke- Der Mensch als geologischer jene Kohleneisensteine abgebaut, die rung war und ist das Wasser. Für Faktor im Ruhrgebiet anfänglich als heimisches Eisenerz die Wasserversorgung des westli- mit Ruhrkoks verhüttet wurden. chen Reviers haben die nördlich Der heutige Mensch ist zweifel- Die oberkarbonischen Tonsteine der Lippe verbreiteten Halterner los zu einen der wirksamsten geolo- im südlichen Ruhrgebiet, die mer- Sande besondere Bedeutung. Diese gischen Faktoren auf der Erde aufge- geligen Tone der Tertiärzeit, wie sie kaum verfestigten, z. T. sehr reinen stiegen. Diese Tatsache wird bereits am Ostrand der Niederrheinischen Quarzsande mit recht hohen Poren- bei der Betrachtung des Umfangs der Bucht oder im Raum Dorsten- volumen gehören der Oberkreide mit der Rohstoffgewinnung weltweit Schermbeck im nördlichen Revier (Santon) an. Ihre Verbreitung verbundenen Massenverlagerungen vorkommen, sowie Sandmergel und erstreckt sich über ein Areal von fast augenfällig. Am Beispiel des Ruhrge- Mergel der Oberkreide – bis hin zum 900 Quadratkilometern. Hier wird biets wird besonders klar, wie stark Löß und Lößlehm des Quartär – das Grundwasser durch etwa hun- die Inanspruchnahme des gesamten wurden für Ziegeleizwecke gewon- dert Meter tiefe Brunnen aus einem Naturraum- und Geopotenzials nen. Hochreine Quarzsande, wie Grundwasserspeicher gewonnen, der war. Keine Frage ist, dass deren sie noch heute im Raum Haltern bei lokal bis 250 Meter Tiefe reicht. Bei Folgewirkungen die Landschaft des Sythen in Oberkreideschichten abge- der Nordwanderung des Bergbaus Reviers auf viele Jahrzehnte oder baut werden, wurden speziell in der in den Lippe-Raum darf dieses wert- Jahrhunderte hinaus maßgeblich Glasindustrie, andere hochwertige volle Wasserreservoir weder durch beeinflussen werden. Selbst wenn 20 ESSENER UNIKATE 19/2002 21

oder junge Sedimentbildung – sind Technogene Massenverlagerung ebenso zu berücksichtigen wie spezi- elle geoökologische Standortfaktoren Produktion und umweltgeochemische Vorgänge. Dies gilt zum Beispiel bei der Remo- Techrosion bilisation von Schwermetallen (Blei, Zink, Kupfer, Cadmium, Nickel) Technogener Deponierung Deposition oder anderen toxischen Elementen Teilkreislauf wie Arsen, welche die Pflanzen- und Geopotenzial Tierwelt enorm belasten können. mineralischer Aus umweltgeologischer Perspek- Rohstoffe Technogene Konzentration tive ist der Baldeneysee – dieser vor fast 70 Jahren künstlich angelegte Stausee der Ruhr – ein instruktives Verwitterung Abfall- Fallbeispiel. Hier wurden in einem konditionierung Forschungsprojekt die Sedimente, die sich im See von 1934 bis 1977 Tiefversenkung ablagerten, geochemisch untersucht. Erosion In den bis zu vier Metern mächtigen Seeablagerungen aus Schluffen ließ sich die Industriegeschichte anhand der variierenden Schwermetall- Transport konzentrationen (z. T. um mehr als das zehnfache normaler Gehalte) über vier Jahrzehnte ablesen.4 Hier Sedimentation kommt es ganz wesentlich darauf an, die anthropogen beeinflussten Erosion und technogenen Teilkreisläufe län- gerfristig in den natürlichen exogen- geodynamischen Kreislauf einmün- Natürlicher Verfestigung den zu lassen (Abb. 9). Exogener und Diagenese Bei der Rohstoffgewinnung Verwitterung Endogener lassen sich primäre, sekundäre und Kreislauf tertiäre Folgewirkungen unter- scheiden. Als primär sind z. B. die durch direkte Boden- und Biotop- tektonische Gesteine Absenkung zerstörung sowie durch Relief- und Minerale Wasserhaushaltsveränderung beding- ten Biotop- und Artenverluste zu bezeichnen. Auch Störungen von Stoffveränderung Gebirgsbildung Pflanzen- und Tiergesellschaften Hebung am Ort des Abbaus und dessen unmittelbarer Umgebung gehören dazu. Sekundäre Folgewirkungen (9) Anbindung des technosphärischen Kreislaufs an den natürlichen Stoffkreislauf. treten immer dann ein, wenn zum Beispiel durch Verwitterung von der Bergbau in Zukunft ganz einge- zur kostenträchtigen Beseitigung Sulfiden starke Säuren – wie z. B. stellt wird, müssen weite Regionen umweltgeochemischer Belastungen auf Bergehalden – entstehen. Auch im Ruhrgebiet nach wie vor durch müssen von künftigen Generationen Aktivitäten beim Rohstofftransport, ständige Polderwirtschaft vor einer in Kauf genommen werden. Ande- bei der Aufbereitung – etwa beim Versumpfung bewahrt werden. Viele rerseits gilt es, die verbliebenen Res- Brennen von Zementrohstoffen oder unumkehrbare Veränderungen im sourcen bewusst sparsamer als bisher dem Abrösten von Erzen – werden Boden- und Wasserhaushalt, ein zu nutzen. Schadstoffe freigesetzt. Sie führen hohes Defizit bei der Versorgung Die vom Menschen sehr stark zu einer allmählichen Anreiche- der Region mit Baurohstoffen aus beeinflussten aktuogeologischen rung, d. h. zur Geoakkumulation unmittelbarer Umgebung bis hin Prozesse – wie Erosion, Transport in Sedimenten. Sie können von dort 20 ESSENER UNIKATE 19/2002 21

wieder in die Nahrungskette gelan- und biotischen Ökofaktoren ausge- denen eine oft stark wechselnde Zahl gen. Die Folge können belastende wirkt. von Flözen bei zum Teil erheblich toxische und sogar letale Wirkun- Um die bisherigen Aus- und schwankender Gesamtmächtigkeit gen bei Pflanze, Tier und Mensch Folgewirkungen im Hinblick auf übereinander abgebaut wird, kommt sein. Als tertiäre Folgewirkungen das Naturraumpotenzial und die es zu regional unterschiedlichen sind Schädigungen aufzufassen, die komplexeren Wechselwirkungen im Absenkungsbeträgen, die im Ruhr- längerfristig zu Veränderungen des Naturhaushalt – insbesondere auch revier von mehreren Metern (in Stoffhaushalts führen. Infolge wilder in Bezug auf zukünftige Planun- den älteren, vor allem südlich der Verfüllung von Sand- und Kiesgru- gen – zu erfassen, müssen zunächst Ruhr gelegenen Abbaugebieten) ben mit Material aus der Rohstoff- alle bisherigen Fördervolumina von bis zu über 20 Metern (maximal 24 veredelung (z. B. Bergematerialien, Steinkohle, Nebengestein („Berge- Metern!) in den Kernzonen zwi- Filterstäuben, Kraftwerksaschen, material“) und Grundwasser sowie schen Ruhr und Lippe schwanken. Verhüttungsschlacken) können die flächenmäßige Inanspruchnahme Das Zusammenbrechen der berg- sie später auf Ökosysteme bzw. der Region (z. B. Böden, Gewässer) baulich geschaffenen Hohlräume Biotope „durchschlagen“. Heute samt aller bisherigen Belastungen (Strebe, alte Förderstrecken) in der erfolgt teilweise eine Tieflagerung betrachtet werden. Abgesehen von Tiefe verursacht somit eine ungleich- von Abfällen wie Filterstäube und den speziellen regionalgeologischen förmige Landsenkung („Subsi- Klärschlämmen in stillgelegten Gru- Rahmenbedingungen in den ein- denz“) an der Erdoberfläche. Die benbauen der Zechen. Als tertiäre zelnen Steinkohlenrevieren spielen Bergsenkung führt zu vertikalen Folgewirkung wären auch die durch beim untertägigen Abbau grund- und horizontalen Verstellungen der

CO2-Erhöhung bedingte globale sätzlich die folgenden Faktoren die ursprünglichen Landoberfläche. Klimaerwärmung und alle hierdurch wichtigste Rolle: Dementsprechend wird das topogra- potenziell bewirkten Einflüsse auf Tiefenlage der gewinnbaren phische Relief samt den Vorflutern die Biosphäre und Anthroposphäre Steinkohlenflöze, Flözmächtigkeit (Flüsse, Bäche) in einer Weise ver- zu bewerten. Immerhin ist vor allem und stoffliche Zusammensetzung der stellt, dass eine natürliche Drainage durch die Verbrennung fossiler Kohle sowie die tektonischen Lage- der Oberflächengewässer nicht mehr

Energierohstoffe der CO2-Gehalt rungsverhältnisse. Ferner kommt es erfolgen kann. Das Gefälle der Vor- der Atmosphäre von 285 ppm in auf die Standfestigkeit des „Stein- fluter, also der Flüsse Ruhr, Emscher, vorindustrieller Zeit auf heute rund kohlengebirges“, die Vorratssituation Lippe und ihrer Nebenflüsse bzw. 370 ppm angestiegen. („bauwürdige Vorräte“) sowie Art -bäche, wird mit allen daraus sich Für die großen deutschen und Mächtigkeit des Deckgebirges ergebenden Konsequenzen gestört. Reviere (Ruhr, Saar, Aachen, Osna- an. Hinzu kommen die wichtigsten Seit dem Übergang zum Tiefbau, brück-Ibbenbüren), in denen im Flözeigenschaften wie Kohlequalität bei dem die Talsohle der großen Vor- Jahr 2000 insgesamt 33,3 Millionen (Anteile von Faser-, Glanz-, Matt- fluter unterschritten wurde, und der Tonnen Kohle gewonnen wurden, und Streifenkohle), der Reifegrad seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis gilt, dass sich allein aufgrund der und Gasgehalt, die Asche- und heute anhaltenden Nordwanderung regionalen Lagerstättenausdehnung, Schwefelgehalte, die Verkokungs- des Steinkohlenbergbaus im Ruhrre- des fast flächendeckenden Abbaus, eignung sowie die verunreinigenden vier wurde davon ein Areal von rund der bisherigen Flächeninanspruch- „Bergemittel“ im Flöz. Weitere berg- 4.000 Quadratkilometern betrof- nahme (Abbaufelder, Betriebsflä- baulich entscheidende Faktoren sind fen. Die Fläche der Grubenfelder chen, Haldenflächen usw.) sowie der die Menge der zufließenden Gruben- aller Bergwerke der Ruhrkohle AG großräumigen stofflichen Verände- wässer („Sümpfungswässer“) sowie betrug im Jahr 1988 insgesamt 3.044 rungen im Bereich der Erdkruste die technischen und wirtschaftlichen Quadratkilometer; davon waren zu (Grubenwasserhebung, Steinkoh- Rahmenbedingungen. diesem Zeitpunkt 794 Quadratkilo- lenförderung, Zutageförderung von Erst in der Gesamtschau dieser meter in Betrieb. So hat die bishe- Nebengestein) Massenverlagerungen Faktoren wird eine Beurteilung aller rige Steinkohlenförderung zu einer in einer gewaltigen Größenord- in der Vergangenheit aufgetretenen Veränderung des landschaftlichen nung ergaben (Tab. 8). Im Laufe Umweltbelastungen sowie der künf- Reliefs und des gesamten ober- und der letzten 100 bis 200 Jahre haben tig zu erwartenden Beeinträchtigun- unterirdischen Wasserhaushalts auf die Folgewirkungen im Ruhrgebiet gen möglich. mehreren tausend Quadratkilome- praktisch sämtliche Naturraum- und tern Fläche geführt. Mit diesen Ein- Nutzungspotenziale der Lithos- Folgen des Massendefizits: griffen veränderten sich auch viele phäre, Pedosphäre, Hydrosphäre Bergsenkung der entscheidenden Steuerfaktoren und Biosphäre betroffen. Diese Ver- für die sich an der Erdoberfläche änderungen haben sich zwangsläufig Durch den Abbau der Steinkohle abspielenden aktuogeologischen auch auf fast sämtliche abiotischen in den einzelnen Grubenfeldern, in Prozesse wie zum Beispiel bei der 22 ESSENER UNIKATE 19/2002 23

Verwitterung und Abtragung sowie ist, wurde in zunehmendem Maße Universität Essen an der Versuchs- hinsichtlich der Transport- und Sedi- auch taubes Gestein „mitgeschnit- halde Waltrop durchgeführt. Sie mentationsbedingungen (Abb. 10). ten“. Liegt zum Beispiel die Kohle- haben auch die Chancen für die Ent- Das Ausmaß der Subsidenz wird mächtigkeit bei zwei Metern, dann wicklung wertvoller Sekundärbio- deutlich, wenn man die kumula- werden heute Bergemächtigkeiten tope auf Haldenbrachflächen aufzei- tive Fördermenge der Steinkohle von bis zu einem Meter in Kauf gen können. Die Möglichkeit, durch im gesamten Ruhrgebiet im Zeit- genommen. Natürlich erhöhte sich Phosphatmaterial-Zumischung raum von 1800 bis 2000 betrachtet dadurch im Zeitraum 1940 bis 1990 – wie P-haltigen Reststoffen aus der (Tab. 11). Sie betrug in diesen knapp ständig die Menge der bei der Koh- Stahlerzeugung – den Versauerungs- 200 Jahren insgesamt 9,94 Milliar- leaufbereitung anfallenden Grob- prozess zu verlangsamen und so den den Tonnen. Dies entspricht einem und Flotationswaschberge. Größten- Sulfataustrag zu minimieren, wurden Gesamtvolumen von über sieben teils wurde dieses grobstückige bis jüngst durch Laborexperimente geo- Kubikkilometern. Hinzu müssen feinkörnige Material, das aus Ton-, chemisch nachgewiesen.7 noch die mit der Kohle vor allem in Silt- und Sandsteinen mit Kohle- Welcher Art sind die Umwelt- den letzten Jahrzehnten verstärkt resten besteht, aufgehaldet. In der belastungen dieser Steinkohleberge- zutage geförderten Bergematerialien ersten Generation waren es Spitz- halden, deren Höhen meist mehrere gerechnet werden, deren ursprüngli- kegelhalden in Zechennähe, die auf- Zehner bis über hundert Meter ches Festgesteinsvolumen über 2,64 grund der lockeren Schüttung durch erreichen, und deren Grundflächen Kubikkilometer beträgt, sodass sich Förderbänder ebenso wie später die früher bei fünf bis sieben Hektar, das insgesamt im Ruhrrevier unter tafelbergförmigen Halden der zwei- heute aber bereits bis zu 100 Hektar Tage geschaffene Massendefizit auf ten Generation zu Haldenschwel- (= ein Quadratkilometer) betragen? fast zehn Kubikkilometer beläuft! bränden neigten. Viele der „bren- Insbesondere hat der fortschreitende Das gesamte Senkungsvolumen im nenden“ Halden mussten abgetragen Mechanisierungsprozess zu einem Ruhrgebiet seit Beginn des Bergbaus werden, um Umweltbelastungen starken mengenmäßigen Anwachsen beträgt über achteinhalb Kubik- durch Rauch- und Schwelgase zu dieser „Waschberge“ geführt. Die kilometer. Vermindert man dieses unterbinden. Eine Selbstentzündung Großhalden verändern das Land- Volumen um das Schüttvolumen wurde infolge Sauerstoffzutritts und schaftsbild massiv. Ein Beispiel dafür des Bergematerials auf Halden, so die dadurch einsetzende Oxidation ist die Halde Hoheward in Herten- ergibt sich an der Erdoberfläche bis des Pyrits (Schwefelsulfid) in der Süd. Als künstliche Aufschüttungen heute ein effektives Massendefizit Restkohle und im Nebengestein fehlen diesen Halden ein gewach- von überschlägig sechs bis sieben begünstigt. sener Boden, ein geregelter Grund- Kubikkilometern. Dieses verteilt Seit über 20 Jahren werden wasserhaushalt sowie eine natürliche sich unregelmäßig auf das gesamte Großhalden als Landschaftsbau- Vegetationsdecke. Damit steht das Abbauareal. Die Zahl registrierter werke gestaltet und systematisch Haldenrelief zunächst nicht im Bergschadensfälle betrug in den 90er begrünt. Eingehende geologisch- Gleichgewicht mit den natürlichen Jahren bis zu 30.000. Die Schäden mineralogische, hydrogeologische, Niederschlags- und Abflussverhält- werden von der RAG (Ruhrkohle bodenkundliche und ökologische nissen. Die angestrebte Integration AG) reguliert; über 90 Prozent der Untersuchungen waren grundle- der Bergehalden in die Landschaft zu regulierenden Schadensfälle liegen gende Voraussetzung. Als techno- hängt jedoch nicht allein von ihrer im Kostenrahmen unter 5.000 Euro. gene Aufschüttungen weisen die äußeren Form ab. Ausschlaggebend Auch im südlichen Revier können Bergehalden Eigenschaften auf, die für die Umweltverträglichkeit sind noch jederzeit vom Altbergbau sie auch heute noch zu problema- vor allem bestimmte hydrogeoche- geschaffene oberflächennahe Hohl- tischen Gebilden machen.5 Insbe- mische, bodenkundliche und bio- räume einbrechen und zeitweise zu sondere führen die hohen Eisensul- logische Faktoren. Von ihnen hängt

Verkehrsbehinderungen führen. fidgehalte in Form von Pyrit (FeS2) letztlich eine dauerhafte, über die bei der Verwitterung des Halden- Pioniervegetation sich hinaus ent- Bergehaldenprobleme materials zu starker Schwefelsäure- wickelnde Vegetationsdecke ab. Bei

bildung (H2SO4) und damit zu einer fortschreitender Verwitterung und Bei der Bergwerkserschließung drastischen Versauerung (pH-Wert- Auswaschung des Bergematerials und der Kohlegewinnung fallen Absenkung bis unter pH 2). Ein erhöht sich die Salzbelastung des zwangsläufig auch taube Gesteins- rascher Bodenbildungsprozess sowie versickernden und frei abfließenden massen an. Diese bezeichnet man eine dauerhafte Begrünung werden Wassers im Umfeld einer Halde kurz als „Berge“. Da bei vollme- durch diesen Säureschub erschwert.6 bis zu mehreren hundert Metern chanisiertem Abbau im Streb eine Weitere umfangreiche ökologische Entfernung. Die drainierten Hal- Mindeststrebhöhe – und damit eine Versuche wurden von einer inter- denwässer führen in der Regel sehr Mindestflözdicke – erforderlich disziplinären Arbeitsgruppe an der hohe Gehalte an Salzen (vor allem 22 ESSENER UNIKATE 19/2002 23

Ökonomische, planerische, politische, sozio-kulturelle Abbaus zu verstärkter Aufhaldung, Rahmenbedingungen obwohl die Förderung inzwischen von 123,2 Millionen Tonnen Stein- kohle im Jahre 1957 auf 25,9 Millio- Lagerstättennutzung nen Tonnen im Jahr 2000 gesunken ist. Im rund 4.450 Quadratkilometer großen KVR-Gebiet lag die Gesamt- zahl der Halden zu Beginn der 70er Geologie der verfügbare Lagerstätte Technologien Jahre bei 170. Um 1960 gab es im Revier 140 bewirtschaftete Bergehal- Abbauverfahren den. Im Jahr 1980 wurden 30 Groß- Förderungsverfahren Lagerungsverhältnisse Aufbereitungsverfahren halden beschickt; im Jahr 2000 waren nur noch 13 Großhalden in Betrieb. Schüttverfahren Während der Anteil der Berge an der Rohförderung 1940 etwa 18 Prozent Lithofazies Meliorationsverfahren und 1960 ca. 33 Prozent betragen Begrünungsverfahren hat, stieg er bis 1990 auf rund 47 Grundwasserschutzverfahren Prozent. Heute werden pro Tonne geförderte Steinkohle ca. 0,9 Tonnen Gestein mitgefördert. So werden auch in den nächsten 20 Jahren zur bisherigen Haldengesamtfläche von Klima über 30 Quadratkilometern weitere Flächen von mindestens fünf bis zehn Quadratkilometern Größe Kleinklima Fazies Nutzung der Halde beansprucht werden.

Stoffeintrag Eingriffe in das Grundwasser

Im Ruhrgebiet kam es allein

Verwitterung Erosion durch den Bergbau zu drastischen Veränderungen der Grundwassersi- tuation in allen Grundwasserstock- werken. Infolge der tiefreichenden Boden Grund- Ober- Luft „Durchbauung“ des Steinkohlenge- wasser flächen- wasser birges öffneten sich durch Zerbre- chen der Gesteine „Wege“ bis in den tieferen Untergrund, sodass ober- flächennahe Grundwasserspeicher Geofaktoren + Biofaktoren weitgehend entleert wurden. Zahl- reiche Quellen und Bäche im Gebiet des älteren Bergbaus im Süden fielen (10) Entstehung anthropogeologischer Körper am Beispiel der Steinkohle Bergehalden. trocken. Durch die Zentrale Was- Quelle: aus der Dissertation von M. Kerth serhaltung der Ruhrkohle (RAG) werden nach wie vor beispielsweise Chloride, Sulfate), die von der Aus- nisse flossen auch in die Neufassung warme salzhaltige Grubenwässer aus waschung der Ton- und Siltsteine der Haldenrichtlinien ein. z. T. mehr als 400 Metern Tiefe in sowie von der Verwitterung der in Auch zukünftig werden großer Menge zutage gefördert und der Kohle und dem Gestein vor- Naturraumflächen für Halden in die Ruhr eingeleitet. Im mittleren handenen Eisensulfide in Form von beansprucht, wenn nicht größere Revier werden die Grubenwasser-

Pyrit (FeS2) stammen. Umfangreiche Mengen des anfallenden Bergema- zuflüsse durch die teilweise stark geologische und mineralogisch-geo- terials wieder unter Tage als Versatz abdichtenden Emschermergel der chemische Untersuchungen an Ber- eingebracht werden oder für Bau- Kreidezeit, die bis zu 350 bis 400 gematerialien wurden im Fach Geo- zwecke in den Fremdabsatz gehen. Metern mächtig werden, deutlich logie der Universität Essen von 1980 Im Ruhrgebiet kam es gerade mit verringert. Hier fallen im Schnitt nur bis 2000 durchgeführt.8 Die Ergeb- zunehmender Mechanisierung des ein halber bis zehn Kubikmeter pro 24 ESSENER UNIKATE 19/2002 25

A Kohleförderung: ten existierenden Ökosysteme aus. 1800 – 1990: 9,540 x 109 t (ca. 7,0 km3) Dadurch beeinträchtigt werden auch 1991 – 2000: 0,399 x 109 t (ca. 0,293 km3) viele andere nutzbare Geopotenziale 9,939 x 109 t (ca. 7,3 km3) der Rohstoff- und Wasserwirtschaft B Bergematerialförderung: sowie Bauwerke und Infrastrukturen wie Verkehrsbauten oder Leitungen. 1800 – 1990: 6,625 x 109 t (ca. 2,5 km3) 1991 – 2000: 0,361 x 109 t (ca. 0,146 km3) 6,986 x 109 t (ca. 2,64 km3) Summary C Gesamtmenge Kohle und Bergematerial: Mankind is the custodian of Kohle: 7,30 km3 the earth’s resources! Mineral Bergematerial: 2,64 km3 resources from the earth’s crusts 9,94 km3 are indispensible economic means (davon ca. 0,43 km3 im of existence. The revolutionary Zeitraum 1991 – 2000) development of natural and technical sciences enabled man to extract these (11) Förderbilanz Steinkohle und Bergematerial im Zeitraum 1800 – 2000. nonrenewable resources through usage of highly efficient techniques. Minute an Grubenwässern an – im Die Folge wären Versumpfungen The mass displacement by opencast Unterschied zu ca. 40 Kubikmetern und Seebildungen. Zu den flächen- and underground mining has pro Minute im südlichen Revier, mäßig am stärksten betroffenen grown exponentially in the last wo das Deckgebirge fehlt.9 Da im Gebieten gehörte der Emscher- two centuries. Modern mining nördlichen Ruhrgebiet das Deckge- Lippe-Raum. So mussten im Ein- methods and processing techniques birge zwischen 400 und 1.100 Meter zugsgebiet der Emscher im Jahre contributed to the acceleration of Mächtigkeit besitzt, nimmt in dieser 1953 erst 147 Quadratkilometer industrialisation. Thus, man has Richtung der Grubenwasser-Zufluss (= 17,6 Prozent) durch Polderwirt- become one of the most powerful auf einen Kubikmeter pro Minute schaft künstlich entwässert werden. geological agents. ab. Es sind vor allem die Sandsteine, Im Jahre 1989 waren es bereits 340 The Ruhr area, where 5.4 million die aufgrund ihrer stärkeren Klüf- Quadratkilometer (= 39,0 Prozent people live, is the most important tigkeit wasserdurchlässig sind. Aber des Emscher-Einzugsgebietes). urban-industrial region in Europe. auch auf tektonischen Störungszo- Zusammen mit dem Einzugsgebiet The driver of industrialisation in nen zirkulieren verstärkt Wässer, an der Lippe, wo 1981 bereits 243 this area was the enormous reserve denen hoch mineralisierte Tiefen- Quadratkilometer auf diese Weise of bitumious (hard) coal in the wässer – vor allem Chloridwässer entwässert werden mussten, werden Upper Carboniferous strata. Up mit 1.500 bis 50.000 Milligramm heute im nördlichen Ruhrrevier to now about 10 billion m3 of coal gelöster Stoffe pro Liter – empor- mehr als 800 Quadratkilometer were extracted. The mining history steigen können. Solche Tiefengrund- gepoldert. Diese Aufgabe wird began at least seven centuries ago. wässer werden auch hochgepumpt heute gemeinsam von der Emscher- The demand for coal, iron and und nach dem Passieren von Kläran- genossenschaft und dem Lippever- many other geo-resources increased lagen in die Vorfluter eingeleitet. Sie band wahrgenommen. Auch bei remarkably within the 19th and 20th führen insbesondere auch Barium. der derzeitig stark rückläufigen century. Therefore, the interference Radioökologische Untersuchungen Kohleförderung wird die Fläche of human society with nature and ergaben relativ hohe Konzentratio- künstlich zu entwässernder Areale environmental potential (e. g. soil, nen von Ra226 und Ra228 mit entspre- („Poldergebiete“) künftig noch water, groundwater, landscape) chenden Strahlenbelastungen.10 weiter zunehmen. Würde man alle became more and more detrimental Die Wasserhebung muss aber Pumpen abschalten, so würden Seen until an efficient environmental auch in Zukunft in den Stilllegungs- mit einer Fläche von bis zu 350 bis management program began 30 years bereichen des südlichen Ruhrreviers 400 Quadratkilometern entstehen. ago. durch die Zentrale Wasserhaltung Die das Relief und den Wasserhaus- The focus of this contribution is to der RAG fortgeführt werden. Würde halt beeinflussenden Veränderungen demonstrate the manifold geological das Abpumpen hier endgültig ein- wirken sich sowohl direkt als auch and environmental impacts primarily gestellt, käme es zwangsläufig schon indirekt auf die Böden und ihre caused by hard coal mining in an innerhalb weniger Jahre zu einem Nutzung (z. B. Land- und Forst- area covering more than 4.000 m2 Anstieg des Grundwasserspiegels bis wirtschaft), insbesondere auf die in and up to the depth of 1.500 m. in den Talsohlenbereich der Ruhr. den grundwasserabhängigen Gebie- But land disturbance was not only 24 ESSENER UNIKATE 19/2002 25

Universität-GH Essen 1988. er ein Promotionsstipendium der Stiftung caused by mining activities. Many – Maaßen, H.: Geochemische Eindämmung Volkswagenwerk (Stratigraphie und Fazies am other environmental problems der Pyritoxidation in Steinkohlenbergemateri- Südrand des Rheinischen Schiefergebirges). are due to carbonisation, steel alien durch Phosphatzugabe, Diss. Von 1967-75 arbeitete er als wissenschaftli- Universität-GH Essen 1999. cher Assistent am Geologischen Institut der production, chemical industry, waste – Meyer, D. E./ Wiggering, H.: Universität Bonn, wo er 1969 promovierte. water drainage, or construction. Steinkohlenbergbau – ökologische Folgen, Seit 1975 ist er an der Universität Essen im All these activitites resulted in the Risiken und Chancen, in: Wiggering, Fach Geologie in Forschung und Lehre tätig, pollution of air; geomorphological H., Kerth, M. (Hrsg.): Bergehalden des zunächst als Akademischer Oberrat, seit 1990 Steinkohlenbergbaus., Vieweg, Braunschweig/ als Studiendirektor im Hochschuldienst. Wis- features changed irreversibly (e. g. Wiesbaden 1991, 1-8. senschaftliche Arbeiten verfasste er zur Strati- land subsidence, regional ground – Meyer, D. E.: Der geologische Wanderweg graphie, Tektonik, Sedimentologie und Paläo- water flow, coal mining waste heaps). am Baldeneysee im Ruhrtal bei Essen, Mittl. geographie sowie zur Regionalen und Ange- Geol. Ges. Essen, 10/1981, 7 – 21. wandten Geologie (Lagerstätten mineralischer Although coal mining will continue – Meyer, D. E.: Massenverlagerung Rohstoffe, Ingenieur- und Hydrogeologie). in the future long-term impacts must durch Rohstoffgewinnung und ihre Seit 1975 liegt sein Schwerpunkt im Bereich be minimised and complex ecological umweltgeologischen Folgen. Z. dt. geol. Ges. Umweltgeologie. Forschungsarbeiten wurden 137/1986, 188-193. vor allem in Mitteleuropa (Rheinisches damages mitigated through – Meyer, D. E.: Rohstoffgewinnung Schiefergebirge, Ruhrgebiet), Asien (Türkei, rehabilitation in order to create a – ökologische Folgen, Risiken und Chancen. Nepal, Afghanistan) und Nordwestafrika stable postmining landscape. Applied Verhandlungen der GfÖ, Band XVII/1989, (Marokko) durchgeführt. Die Aktivitäten in geoscientific research, especially in 21-29. diesen Regionen konzentrierten sich auf Bei- – Meyer, D. E.: Aus- und Folgewirkungen träge zu den tektonisch-paläogeographischen environmental geology can provide des Steinkohlenbergbaus, in: H. Wiggering Beziehungen im Bereich der Mitteleuropäi- databases for geoecological future (Hrsg.): Steinkohlenbergbau, Ernst & Sohn, schen Kristallinzone sowie zur Faziesanalyse planning. The eminent vitality of Berlin 1993, 116-121. paläozoischer Sedimentationsräume. Weitere – Meyer, D. E.: Geologische Aufschlüsse, Studien bezogen sich auf die Karbonatmik- the Ruhr area can only be secured Naturdenkmale und Lehrpfade – ihre rofazies in Flach- und Tiefsee-Sedimenten, through institution of an integrated Bedeutung für die Gesellschaft, Geol. Jb. A insbesondere in Ablagerungen der Unter- und biogeochemical cycle that addresses 144/1996, 5 – 34. Oberkreide des Atlantiks (Marokko). In der – Neumann-Mahlkau, P./Wiggering, Türkei wurden tektonische Probleme längs natural and anthropogenic processes. H.: Bergeverwitterung: Voraussetzung der Nordanatolischen Erdbebenlinie bearbei- der Bodenbildung auf Bergehalden des tet. Darüber hinaus konzentrierte sich Meyer Ruhrgebietes, Kommunalverband Ruhrgebiet, auf die Lösung von Umweltproblemen in Anmerkungen Essen 1986. Bergbaufolgelandschaften und die Klärung – Niehaus, H.-Th.: Anthropogene Einflüsse von Naturschutzfragen (u. a. Konzeption und 1) Meyer 1986 auf die Sedimentation im Baldeneysee (Essen/ Anlage von geologischen Lehrpfaden). Die 2) Meyer 1986, 1993 Ruhr), Diss. Universität-GH Essen 1981. Forschungen in Nepal waren Teil eines Ent- 3) Meyer 1981, 1996 – Schmid, S.: Untersuchung wicklungsprojektes (Technische Hilfe). Das 4) Niehaus 1981 zur Radionuklidelastung von Marokkoprojekt fand im Rahmen des interna- 5) Meyer/Wiggering 1991 Oberflächenwässern, Sedimenten und Böden tionalen Deep Sea Drilling Program (DSDP/ 6) Kerth 1989 als Folge des Steinkohlenbergbaus im Ruhr- IPOD) statt. Interdisziplinär ausgerichtet 7) Maassen 1999 Revier, Diss. Universität Essen 2001. waren auch petrographisch-mineralogische 8) u. a. Wiggering 1984, Kerth 1988, Finke – Schweisfurth, M.: die Verwendung von Forschungsarbeiten zur Entwicklung sym- 1992, Dölling 1995, Schweisfurth 1996, Steinkohlebergematerial im Deponiebau, Diss. biotischer Baustoffe und zur Konstruktion Maassen 1999, Schmid 2001 Universität GH Essen 1996. künstlicher Riffe. 9) Hahne/Schmidt 1982 – Stach, E., Mackowsky, M.-Th. et al. 10) Wiegand 2001 (Hrsg.): Stach’s Textbook of Coal Petrology, Borntraeger, Berlin/Stuttgart 1975. – Wiegand, J.: A guideline for the evaluation of the soil radon potential etc., Environmental Literatur Geology 40/2001, 949-963. – Wiggering, H.: Mechanismen bei der – Dölling, M.: Bindungsformen und Mobilität Verwitterung aufgehaldeter Sedimente (Berge) ausgewählter Schwermetalle in Abhängigkeit des Oberkarbons, Diss. Universität-GH des Verwitterungsgrades aufgehaldeter Ton-, Essen 1984. Silt- und Sandsteine (Berge des Oberkarbons), – Wiggering, H./Kerth, M. (Hrsg.): Diss. Universität-GH Essen 1995. Bergehalden des Steinkohlenbergbaus etc., – Finke, G.: Mobilität des Elementes Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden 1991. Aluminium bei der Verwitterung von – Wiggering, H. (Hrsg.): Steinkohlenbergbau, pyrithaltigem Steinkohlenbergematerial, Diss. Steinkohle als Grundstoff, Energieträger und Universität-GH Essen 1992. Umweltfaktor, Ernst & Sohn, Berlin 1993. – Hahne, C./Schmidt, R.: Die Geologie des Niederrheinisch-Westfälischen Steinkohlengebietes, Glückauf, Essen 1982. – Huske, J.: Die Steinkohlenzechen im Der Autor Ruhrrevier. Daten und Fakten von den Anfängen bis 1986, Veröff. aus dem Diethard E. Meyer wurde 1938 in Berlin- Deutschen Bergbau-Museum, Nr. 40, Bochum Steglitz geboren. Nach dem Schulbesuch in 1987. Quedlinburg (1944-46) und Marl (1946-58) – Kerth, M.: Die Pyritverwitterung studierte er Geologie in Göttingen (1958-60) im Steinkohlenbergematerial und ihre und Bonn (1960-64). Nach seinem Abschluss umweltgeologischen Folgen, Diss. als Diplom-Geologe im Jahr 1964 erhielt 26 ESSENER UNIKATE 19/2002 27

Ruhrgebiet/Literaturgebiet? Das geht nicht ganz so flüssig über die Lippen wie andere Werbeformeln. Aber mit der Zeit erforschte sie sich doch, die Sprache und Literatur dieser Region. Von der Essener Universität gehen und gingen wichtige Impulse zur Erforschung der Ruhrgebietsliteratur aus, und nicht zufällig ist hier dann auch jüngst die erste und einzige Literaturgeschichte des Ruhrgebiets erschienen.

Und sie erforscht sich doch…

Die Literatur des Ruhrgebiets – Bericht und Ausblick Von Dirk Hallenberger und Jochen Vogt

ür die Universität Essen, die und Emscher. Während sich, um nun veranstaltungen, Untersuchungen Fin jeder Beziehung ‚mitten im exemplarisch im Fach Germanistik und Projekte zum Themenkomplex Ruhrgebiet’ liegt, ist es gewiss nicht zu bleiben, die Nachbaruniversitäten „Literatur und Ruhrgebiet“ wurden abwegig, sich wissenschaftlich mit in Bochum und Duisburg vor allem von der germanistischen Literatur- der eigenen Region zu beschäftigen um die Ruhrgebietssprache in his- wissenschaft in Essen seit Anfang – selbstverständlich ist es jedoch torischer und aktueller Dimension der achtziger Jahre durchgeführt und auch nicht, oder doch nicht für bemühten, gingen von der Essener waren wesentlich mit dem Namen alle Fächer. Während etwa für die Universität wichtige Impulse zur von Erhard Schütz verknüpft, der Industrie- und Sozialgeschichte die Erforschung der Ruhrgebietsliteratur das Ruhrgebiet und seine Literatur Forschungsgegenstände unüberseh- aus, und nicht zufällig ist hier dann inzwischen von der Humboldt- bar vor der Tür liegen, wird man auch jüngst die erste und einzige Universität zu Berlin aus verfolgt. in der Sprach- und Literaturwis- Literaturgeschichte des Ruhrgebiets Vor allem zwei Projektlinien, eine senschaft etwas länger nachdenken. erschienen (Industrie und Heimat historisch-dokumentarische und eine Ruhrgebiet/Literaturgebiet? Das 2000). didaktisch orientierte, waren dabei geht nicht ganz so flüssig über die Bevor wir diese neuere Unter- von Bedeutung. Lippen wie andere Werbeformeln. suchung vorstellen, sei ein kleiner Aber mit der Zeit erforschte sie sich Rückblick erlaubt. Er soll zeigen, Ruhrland-Dokumente doch, die Sprache und Literatur wie sich einzelne Mosaiksteine dieser Region, nicht gleich in der allmählich in größere Zusammen- Zum einen die von Heinz Reif Gründungsphase, jedoch spätestens hänge fügten und wie dabei vielfach und Erhard Schütz herausgegebene in der Konsolidierungsphase der Neuland betreten werden musste, Reihe Ruhrland-Dokumente, die neuen Institute im ehemals hoch- weil wissenschaftliche Vorstudien vergriffene oder vergessene Texte schulfreien Raum zwischen Ruhr kaum vorhanden waren. Erste Lehr- aus der Geschichte des Ruhrgebiets 26 ESSENER UNIKATE 19/2002 27 Jochen Vogt. Foto: Gisela Kern Jochen Vogt. 28 ESSENER UNIKATE 19/2002 29 wieder zugänglich machte. Autobio- aler Lage im Ruhrgebiet.Der letzte Die ersten beiden Bände der graphien, Romane, Reportagen oder Band der Ruhrland-Dokumente Reihe versammeln historische und Zeitschriften sollten als historische umfasst eine von Erhard Schütz aktuelle Reportagen aus dem Ruhr- Quellen der Industrieregion auf und Jochen Vogt herausgegebene gebiet. Dabei sucht Zwischen Dort- diese Weise neu entdeckt werden. In Textauswahl der Theater-Zeitschrift mund und Duisburg ... (1987, für die Zusammenarbeit mit dem Ruhrland- Der Scheinwerfer (1986), die nun Sekundarstufe II) die gesamte Ent- museum der Stadt Essen (das schon die lange verschollenen „Blätter wicklung von den zwanziger Jahren einmal, um 1940, eine Schriftenreihe der Städtischen Bühnen Essen“ in bis in die jüngste Gegenwart exem- mit literarischen Texten herausgab) ihren wesentlichen Beiträgen wieder plarisch abzudecken.4 Bei uns im wurden drei Bände veröffentlicht, zugänglich macht.3 Der umfang- Revier (1988, für die Sekundarstufe die dann leider keine Fortsetzung reiche Band, der in einem von der I) legt hingegen einen gegenwartsbe- mehr fanden. In dem Reportagen- Universität Essen geförderten Pro- zogenen Schwerpunkt.5 band Kohlenpott (zuerst 1931) wirft jekt erarbeitet wurde („Literatur in Form und Tradition der Repor- der Dortmunder Arbeiterjournalist der Medienkonkurrenz“), macht tage sind besonders eng mit der Georg Schwarz (1896-1943) einen uns mit einem seinerzeit überregio- Geschichte des Ruhrgebiets ver- mehr als kritischen Blick auf seine nal bedeutsamen Diskussionsorgan knüpft. Spätestens seit den heftigen Heimatregion und stimmt dabei in bekannt. Als „Forum der Neuen politischen Krisen und Auseinan- manchen Analysen mit Erik Regers Sachlichkeit“ konnte Der Scheinwer- dersetzungen in der jungen Wei- großem Industrieroman (Union der fer (1927-1933), herausgegeben von marer Republik (Ruhrkampf 1920, festen Hand 1931) überein.1 Aus dem Dramaturgen Hannes Küpper Ruhrbesatzung 1923) entdeckten streng sozialistischer Perspektive und verschiedentlich dominiert vom die deutschen Reporter das Revier. widmet sich Schwarz verschie- ständigen Mitarbeiter Erik Reger, Die literarische Gebrauchsform der densten Aspekten der damaligen eine beachtliche Zahl renommierter Reportage mit ihrem (zumindest Revier-Gegenwart: den dramatischen Autoren der Moderne und Avant- theoretisch formulierten) Anspruch Folgen der Rationalisierung, den garde aufbieten – von Heinrich auf Wahrheit und Objektivität „Versagern der Verkehrstechnik“, Mann über Joseph Roth, Ernst schien besonders geeignet, dieser aber auch dem „Sonntag im Ruhr- Jünger und Bertolt Brecht bis zu befremdlichen Industrieregion in tal“, der sich vom Klassenstandpunkt Theodor Wiesengrund-Adorno und ihrer Vielfalt und Veränderung auf aus weit weniger idyllisch ausnimmt Alban Berg –, die zu wesentlichen die Spur zu kommen. Zumeist aus als zunächst vermutet. Fragen aus den Bereichen Theater, der Ferne angelockt und daher eine Als zweites Ruhrland-Doku- Literatur, Musik, Film oder Archi- Außenperspektive einnehmend, ment wurde eine weitere Revier- tektur pointiert und oftmals streit- versuchten sich die Reporter – unter Reportage neu ediert. Die Schwarze lustig Stellung nahmen. ihnen einige illustre Namen – immer Sphinx (zuerst 1949) des berühmten wieder aufs Neue. Schon früh, zur Funk- und Fernsehmannes Peter Das Ruhrgebiet. Materialien beginnenden Blütezeit einer „lite- von Zahn (1913-2001) wirft einen für den Unterricht rarischen Reportage“, kam der anschaulichen Blick auf das Ruhr- „rasende“ Egon Erwin Kisch ins gebiet der unmittelbaren Nach- Sind die Ruhrland-Dokumente Revier, ihm folgten unter anderen kriegszeit.2 Genauer gesagt: auf den als „solide Arbeitsmaterialien für Joseph Roth und Heinrich Hauser Status des „rätselhaften“ Reviers, Schulen, Gruppen der Erwach- aus Berlin, später dann Heinrich eben der „Schwarzen Sphinx“, zur senenbildung und alle diejenigen Böll (aus Köln, wie man weiß, aber Zeit der Währungsreform 1948, der gedacht, die sich an der gemeinsamen mit Altenessener Familienwurzeln) entscheidenden Wende von Demon- Erschließung der Ruhrgebietsge- oder der Frankfurter Horst Krüger. tage zu Wiederaufbau. Von Zahns schichte beteiligen wollen“ (aus Auf diese Weise bleiben ihre Namen Band beruht weitgehend auf eigener dem Vorwort), so ist die Reihe Das bis heute mit dem Ruhrgebiet ver- Recherche, auf Interviews mit Poli- Ruhrgebiet in erster Linie für den bunden; ihre Texte ermöglichen bis tikern, Wirtschafts- und Gewerk- schulischen Unterricht konzipiert. heute „einen genaueren Blick auf schaftsführern, aber auch auf Alltag- Diese Reihe, von Klaus-Michael die Bedingungen und Probleme der seindrücken und Momentaufnahmen Bogdal, Erhard Schütz und Jochen literarischen Verarbeitung von gesell- der Lebens- und Arbeitssituation der Vogt in Kooperation mit dem Kom- schaftlicher Wirklichkeit überhaupt“ Menschen, die der Autor während munalverband Ruhrgebiet herausge- (aus der Vorbemerkung). seiner Zeit vor Ort gewann. Dem so geben, stellt Texte und Materialien Daneben gab Erhard Schütz eine montierten, nicht eigentlich authen- zum „Thema Ruhrgebiet“ für den repräsentative Sammlung heraus, die tischen Bericht geht es hauptsächlich Deutschunterricht oder auch für unter dem Titel Die Ruhrprovinz – um den Zusammenhang von wirt- fachübergreifende Projekte zur Ver- das Land der Städte (1987) die wich- schaftlicher Entwicklung und sozi- fügung. tigsten Reportagen und Berichte von 28 ESSENER UNIKATE 19/2002 29

etwa 1920 an versammelt.6 Sie sollte, ken und Unfällen“, aber auch von Eine Literaturgeschichte wie es in der Einleitung heißt, „die „Tieren unter Tage“ erzählen. In des Ruhrgebiets über das Ruhrgebiet geschriebenen diesem Zusammenhang bleibt fest- Porträtstudien in der Vielfalt ihrer zuhalten, dass das Thema Bergbau Bei gründlicher Beschäftigung historischen, räumlichen und sozia- den weitaus größten Anteil an der mit der Literatur des Ruhrgebiets len Aspekte präsentieren – gewisser- traditionellen Ruhrgebietslitera- – einige ihrer Facetten und Spielarten maßen als das Familienalbum dieser tur besitzt.9 Weniger bekannt sein wurden schon genannt – konnte man einzigartigen Arbeitslandschaft mit dürfte, dass es auch eine beachtliche schnell ein Defizit feststellen: dass es ihrer durchaus eigenen, unverwech- Reihe von „Sagen und Märchen aus keine zusammenhängend geschrie- selbaren Geschichte und Physio- dem Ruhrgebiet“ gibt, denen sich bene Literaturgeschichte dieser gnomie. Wobei die Aufnahmen nicht – mit besonderer Blickrichtung auf Region gab. Dieses Desiderat der von Familienangehörigen stammen, den Unterricht in der Grundschule – Forschung wurde in der Vergangen- sondern vom Besuch.“ So finden das Heft Von Nixen, Zwergen und heit hin und wieder eingeklagt; aber sich unter den Autoren bekannte, der Kohlenblume (1993) widmet.10 erst Erhard Schütz gab den Anstoß ja berühmte Namen, die man nicht Der „Krimiszene Ruhrgebiet“, zu einer systematischen Aufarbei- ohne weiteres mit dem Ruhrgebiet also einem nach Umfang und Quali- tung des Materials. assoziiert: Alfred Andersch, Hein- tät gegenwärtig zunehmenden Sektor Erstes Ergebnis eines einschlä- rich Böll, Heinrich Hauser, Egon der Revier-Literatur, nimmt sich gigen Projekts war eine „Annotierte Erwin Kisch, Horst Krüger, Alfons schließlich Schimanski & Co. (1996), Bibliographie zur Literatur über Paquet, Joseph Roth oder Peter von der letzte Band der literaturdidak- das Ruhrgebiet von den Anfängen Zahn. „Dass sie und was sie übers tischen Reihe Das Ruhrgebiet, an.11 bis 1961“, die unter dem Titel Das Ruhrgebiet geschrieben haben“, so „Wie das Ruhrgebiet, so ist auch Ruhrgebiet in der Literatur (1990) Erhard Schütz weiter, „weiß man der Kriminalroman ein Produkt publiziert wurde.12 In der Hauptsa- kaum. Und doch ist es häufig ebenso der Industrialisierung“, schreiben che listet die Bibliographie etwa 600 charakteristisch für das Werk der die Herausgeber Erhard Schütz selbständige Titel aus dem Bereich Autoren wie für die Region und und Jochen Vogt in ihrem Vorwort: der Belletristik auf, die sich inhaltlich ihre Menschen.“ Es ist ein Verdienst „Lange haben beide voneinander oder thematisch in irgendeiner Form dieses „literarischen Lesebuchs“, das keine Notiz genommen, aber desto auf die Region Ruhrgebiet bezie- sich übersichtlich nach verschiede- mehr haben sie zueinandergefun- hen. Das können gattungstechnisch nen, für das Ruhrgebiet typischen den, seit beide begonnen haben, Romane oder Erzählungen sein (die Themen gliedert, die bisher verstreu- sich zu ändern.“ Mehr noch: Der so Hälfte der Einzeltitel), aber auch ten oder vergessenen Texte erstmals genannte Revier-Krimi, entstanden Lyrik, Dramen, Berichte und Repor- umfassend zusammenzubinden in der Nachfolge des neu erwachten tagen, Porträts und Erinnerungen. – nicht zuletzt zur Selbstvergewis- Heimatbewusstseins bzw. Regio- Jedenfalls kamen in dieser ersten serung unserer eigenen regionalen nalismus seit etwa 1970, liegt heute umfassenden Bestandsaufnahme zur Geschichte. nicht nur aufgrund seiner Auflagen- Ruhrgebietsliteratur des besagten Die „Materialien für den Unter- höhe in der Spitzengruppe innerhalb Zeitraums weit mehr Veröffentli- richt“ fanden ihre Fortsetzung des deutschen Sprachraums. Dafür chungen zusammen als erwartet. zunächst in zwei (stark nachge- stehen Autoren und Autorinnen wie Zwar hat die Literatur über das fragten) Bändchen zur Sprache im Werner Schmitz, Sabine Deitmer, Ruhrgebiet nach dieser Übersicht Ruhrgebiet (1990, für die Sekundar- Karr & Wehner oder Jörg Juretzka, nur wenige ,Klassiker’ hervorge- stufen I und II), die über die streng die – von der Kritik anerkannt und bracht, dennoch schien die Aufgabe linguistischen Aspekte durchaus preisgekrönt – weit über das eigentli- lohnenswert, die Geschichte der auch die alltags- oder protolitera- che Revier hinaus, diesseits und jen- Revier-Literatur in ihren Entwick- rische Qualität dieser modernen seits der A 40 Anerkennung finden. lungsschritten und Themenschwer- regionalen Umgangssprache in den Auch die einheimische Westdeutsche punkten zusammenhängend zu Blick rücken.7 Weiter ist das thema- Allgemeine, deren Lektüre ja nicht erschließen. tisch orientierte Heft „Schwarz von immer für spannende Unterhaltung Neben den benachbarten rheini- Kohlendampf die Luft ...“ (1990) zu sorgt, titelte unlängst: „Im Revier schen bzw. westfälischen Literatur- nennen, das „Geschichten aus der blüht Krimi-Kultur“. Tatsächlich geschichten liegt nun unter dem Titel Arbeitswelt des Bergmanns von 1900 ist ein Ende dieses Trends nicht Industrie und Heimat (2000) eine bis zur Gegenwart“ bietet.8 Es han- abzusehen; immer wieder tauchen erste Literaturgeschichte des Ruhr- delt sich um literarische Texte, die neue Namen wie aus dem Nichts auf gebiets vor, die von Dirk Hallenber- ausschließlich von Bergleuten ver- und bringen Unruhe an den ‚Tatort ger als Essener Dissertation erarbei- fasst sind und die vom „Arbeitsplatz Ruhr’. tet wurde.13 Anders als die meisten im Wandel“, von „Gesundheitsrisi- regionalen Literaturgeschichten ist 30 ESSENER UNIKATE 19/2002 31

Industrie und Heimat nicht bio- denden Ruhrgebiets als neuen Stoff auch Arbeiter auf – freilich in erster graphisch, d. h. an den Werken der für die Literatur zu entdecken – im Linie die so genannten Kruppianer. Autoren aus der Region ausgerichtet, Bereich der Lyrik etwa der Bund der Und in Kriegszeiten müssen halt sondern rein thematisch, wenn man Werkleute auf Haus Nyland (1912- auch die Frauen mit ans Werk. Her- so will als Motivgeschichte konzi- 1924). Die Örtlichkeit verweist zwar zogs industrielle Familiensaga war piert. Nicht die Literatur, die aus auf das Münsterland, die Werkleute bis 1945 der populärste und aufla- dem Ruhrgebiet kommt bzw. im waren jedoch außerordentlich fas- genstärkste Revier-Roman und wird, Ruhrgebiet geschrieben worden ist, ziniert von den Vorgängen im rhei- was die Verkaufsziffern angeht, erst steht hier im Mittelpunkt, sondern nisch-westfälischen Industriegebiet. von Günter Wallraffs spektakulärer die Literatur über das Ruhrgebiet, Einer ihrer Mitbegründer, Josef Industrie-Reportage Ganz unten gleichviel ob ihre Verfasser aus Winckler (1881-1966), schuf die (1985) abgelöst. der Region stammen oder nicht. Eisernen Sonette (1914), die er selbst Ein anderer Industrieroman, Die Stichworte „Industrie“ und als die „erste geschlossene deutsche Rauch an der Ruhr (1932) von dem „Heimat“ bilden dabei zwei Pole, Industriedichtung“ bezeichnete. Bochumer Autor Wilhelm Beiel- zwischen denen eine historische Ent- Diese Form von Arbeiterliteratur, stein (1886-1964), gewann den von wicklung von Heimat stattgefunden die so genannte klassische Arbei- der Stadt Essen ausgeschriebenen hat, die man etwa mit der Formel: terdichtung, hatte thematisch mit Preis (1929) für den besten „Ruhr- „Von Heimat neben der Industrie der Arbeiterbewegung nur wenig Roman“. In ihm wird der Versuch zur Heimat in der Industrie“ umrei- gemein. Ideologie und Rezeption unternommen, die einzelnen Stadt- ßen könnte. Erst beide Bereiche gehörten wesentlich dem bür- grenzen aufzusprengen zugunsten (oder Motive) zusammen konturie- gerlichen Kulturbetrieb an. Zum eines – für damalige Zeiten – kühnen ren ungefähr eine Geschichte der Umkreis des Werkleute-Bundes Projekts: einer schienengebundenen Revier-Literatur. Aus dieser Lite- zählte auch Paul Zech (1881-1946), Schnellbahn, die die wichtigsten raturgeschichte werden nun einige der politisch wie literarisch aller- Industriezentren des Reviers auf thematische Schwerpunkte markiert. dings eine gänzlich andere Richtung Minutenabstand zusammenrücken Oftmals wird der Beginn einer einschlug. Zech, der im Ruhrgebiet sollte – eine Art antizipierter Metro- Literatur des Ruhrgebiets mit dem freiwillig als Bergmann gearbeitet rapid. Wie in Bernhard Kellermanns Namen Heinrich Kämpchen (1847- hatte, legte schon früh zwei Gedicht- Zukunftsroman Der Tunnel (1913) 1912) verknüpft. Und tatsächlich bände vor, die von diesen Erfah- stammt auch hier der kühne Plan scheint einiges dafür zu sprechen. rungen geprägt sind und daher zu von einem unerschrockenen Inge- Denn erst mit Kämpchen begann die den ersten literarisch ambitionierten nieur und späteren Industrieführer, Arbeiterdichtung auch das Ruhrge- Texten über das Revier gehören der ihn unter Selbstaufopferung und biet zu erobern. Er gilt als geradezu (Schwarz sind die Wasser der Ruhr Fremdwiderstand im Alleingang, idealtypischer Vertreter der frühen und Das Schwarze Revier, beide aber zum Wohle aller Menschen im Arbeiterdichtung. Heinrich Kämp- 1913). Revier umzusetzen sucht, wie es in chen war Arbeiter, genauer: Berg- Neben dieser Lyrik und einigen Rauch an der Ruhr euphemistisch arbeiter, und schrieb für Arbeiter, Bergarbeiterromanen und -dramen heißt. genauer: für die Leser der Bergarbei- (Emil Rosenow: Die im Schatten Neben den Romanen und einer ter-Zeitung. Auf diese Weise kamen leben 1911) entstanden nun vermehrt Vielzahl von Essays, die in den über 1000 Gedichte zusammen, die Industrieromane. Der erste große, zwanziger Jahren den Fragen um zumeist auf der ersten Seite jenes der sich thematisch mit dem Ruhr- Stadtplanung und -entwicklung Organs der Bergarbeiter-Gewerk- gebiet auseinander setzt, Die Stol- der „Ruhrprovinz“ nachgingen, schaft abgedruckt waren: auch der tenkamps und ihre Frauen (1917), war andererseits mit Rauch an der Form nach eine politische, ja opera- stammt von dem Erfolgsschriftsteller Ruhr die Diskussion um den Roman tive Lyrik. Kämpchen, im Bochumer Rudolf Herzog (1869-1943) und ist über das Ruhrgebiet eröffnet. Der Revier zu Hause, war als Bergmann ein nur dürftig getarnter ,Schlüssel- Ruf nach dem repräsentativen und aktiv an den Auseinandersetzungen roman’ über die „stolzen“ Krupps. umfassenden Ruhrgebietsroman um die Lage der Bergleute beteiligt Ohne sie – das wollte der Autor hielt sich über Jahrzehnte und ist bis und brachte es bis zum Streikführer dem zeitgenössischen Publikum heute nicht endgültig verhallt. Döb- des großen Ausstandes von 1889. klarmachen – ist der Aufstieg deut- lins epochemachender Berlin Ale- Eines seiner Ziele war, zu gewerk- scher Nation kaum zu bewältigen, xanderplatz (1929) spukt seit seinem schaftlicher Organisierung und und so werden nicht nur fast 100 Erscheinen als mögliches Vorbild in Einigkeit der Bergarbeiterschaft auf- Jahre erfolgreicher Firmengeschichte den Köpfen diverser Revier-Auto- zurufen. dargestellt. Spielen die Krupps not- ren. Auch andernorts begann man, wendigerweise auf dieser Ebene die Zumeist wird Erik Reger (1893- „Arbeit“ und „Industrie“ des wer- Hauptrolle, treten im Roman doch 1954) als derjenige angesehen, der 30 ESSENER UNIKATE 19/2002 31

diesem Wunschdenken am nächsten im Mittelpunkt der Betrachtung und gleichbar ist Sturm auf Essen (1930) gekommen ist. Seine Versuche, die Analyse: das einheimische Bürger- von Hans Marchwitza (1890-1965), Strukturen, Widersprüche und Ver- tum. Die Schicht der Angestellten der als Bergmann ins Ruhrgebiet änderungen des Ruhrgebiets in einen und Bildungsbürger musste jedoch gekommen war. Seine Erfahrungen Roman zu fassen, gehören sicherlich Bestandteil einer Gesamtschau des waren in jeder Hinsicht intensiver. zu den programmatisch ambitionier- Ruhrreviers sein, einer „Vivisek- Marchwitza arbeitete seit seinem testen und literarisch avanciertesten. tion der Zeit“, wie Erik Reger sie 14. Lebensjahr im Bergbau und war Reger selbst stellte hohe ästhetische nannte. So kräht Das wachsame aktiv an den Arbeiterstreiks beteiligt Anforderungen an den „Roman“, Hähnchen, im Untertitel als „Pole- und in der „Roten Ruhrarmee“. Sein das heißt: den dokumentarisch-rati- mischer Roman“ ausgewiesen, ent- Roman gilt denn auch als derjenige, onalen Gegenwartsroman. Davon schieden gegen die Provinzialität der die Vorgänge des Ruhrkampfs geben seine „Tragödie“ Union der des Ruhrgebiets und ihre Erschei- am genauesten benennt – bis hin zu festen Hand (1931), ein Industrie- nungsformen: Spießbürgertum und den konkreten Örtlichkeiten der Roman, sowie seine „Posse“ Das Lokalpatriotismus, Bürokratie und Auseinandersetzungen. wachsame Hähnchen (1932), ein Weltstadtgehabe, Mediokrität und Den Romanen Grünbergs und Städte-Roman, auf thematisch unter- geistige Zurückgebliebenheit. Mit Marchwitzas ging es allerdings nicht schiedliche, aber formal ähnliche dieser Haltung, hinter der sich unü- um grundlegende und unverwechsel- Weise beredtes Zeugnis. Beide Werke bersehbar die Hassliebe des Autors bare Darstellungen des Ruhrgebiets zusammengenommen, etwa 1150 zu seiner Heimat versteckt, gewann selbst wie etwa bei Erik Reger. Das Seiten umfassend, könnten gewisser- Reger im Revier nur wenig Anhän- Revier ist in diesen Reportagero- maßen der gesuchte Ruhrroman sein. ger. Auch Das wachsame Hähnchen manen lediglich Schauplatz und Union der festen Hand (siehe ist als Schlüsselroman zu lesen, historische Szenerie. Historisch auch hierzu auch Eckhart Pankokes Bei- wiederum mit dokumentarisch- deswegen, weil die Autoren des trag in diesem Heft), bis heute wohl desillusionierender Absicht im Stil BPRS erst Ende der zwanziger Jahre der beste deutsche Industrieroman der Neuen Sachlichkeit geschrieben. auf den „Bürgerkrieg“ an der Ruhr und seinerzeit schon mit dem bedeu- Vieles von dem, was Erik Reger reagierten, zeitgleich übrigens mit tenden Kleist-Preis prämiert, schil- seinen „Lesern“ präsentiert, hat bis dem Beginn der Massenpublikation dert als „Roman einer Entwicklung“ in unsere Gegenwart hinein Be- von Weltkriegsromanen. in fünf Stationen zwischen 1918 und stand – vor allem was die Mentalitä- Nach 1933 wurden – aus nahe 1928 die gigantische Inthronisierung ten im Ruhrgebiet betrifft. liegenden Gründen – sowohl die der Schwerindustrie im Ruhrgebiet. Eine ganz andere Richtung kritischen Revier-Romane Erik Am Beispiel der Stahlwerke „Risch- vertraten die Autoren aus dem Regers als auch die proletarisch- Zander“, hinter denen sich unschwer Bund proletarisch-revolutionärer revolutionäre Arbeiterliteratur von die Krupp-Werke erkennen lassen, Schriftsteller (1928-1935), der für das den Nationalsozialisten verboten. wo Reger wiederum sieben Jahre Ruhrgebiet besondere Bedeutung Der größere Teil der Ruhrgebietslite- lang als Referent tätig war, und des hatte. Thematisch gesehen – das ratur blieb davon jedoch unbehelligt, später gegründeten geheimen Inte- lag nahe – entdeckten die proletari- da er eher affirmativ, unkritisch und ressenverbandes „Union der festen schen Schriftsteller den Ruhrkampf unpolitisch war: „Versuche einer Hand“ demonstriert dieser Schlüs- von 1920, den größten bewaffneten Heimatkunst der Industrieregion“, selroman, auf welch vielfältigen, Aufstand in der Geschichte der deut- wie Erhard Schütz etliche Romane horizontalen wie vertikalen Ebenen schen Arbeiterbewegung, der zur dieser Provenienz klassifiziert. Dies die Industriemagnaten das wirt- Schlacht zwischen der so genannten trifft vor allem auf die Bergbau- schaftliche, politische und kulturelle Roten Ruhrarmee und den Frei- Literatur im engeren Sinne zu, in Leben an der Ruhr bestimmen – bis korps-Truppen führte. Bekannt der die industrielle Komponente hin zur sich anbahnenden Koo- wurden vor allem zwei Romane über nun völlig zurücktritt, ja selbst der peration mit der NSDAP. In einer den Ruhrkampf. Brennende Ruhr Arbeitsprozess unter Tage kaum Mischung aus authentischem Mate- (1928), aus der Feder des Berliners mehr vorkommt. Statt dessen wurde rial und extrapolierter Fiktion ver- Karl Grünberg (1891-1972), verbin- weiterhin der Konflikt zwischen sucht der Autor ganz im Sinne der det eine fiktive Fabel mit den histori- Landwirtschaft und Montanindustrie Neuen Sachlichkeit, die interessierten schen Ereignissen. Der Autor selbst thematisiert, der meistens zugunsten Leser über ein Stück Wirklichkeit war bis zu diesem Zeitpunkt nie im des Bauerntums entschieden wird. mitten in Deutschland kritisch-desil- Ruhrrevier gewesen, hatte die Ereig- Andererseits verzeichnete das lusionierend aufzuklären. nisse aber gründlichst recherchiert. Thema Bergbau auch positive Was in Union der festen Hand Dies schlug sich positiv in der rea- Zuschreibungen. In den entspre- gänzlich ausgespart wurde, steht listisch-dokumentarischen Gestal- chenden Romanen gibt es noch den dafür in Das wachsame Hähnchen tungsweise des Romans nieder. Ver- bodenständigen und traditions- 32 ESSENER UNIKATE 19/2002 33

oder rekonstruierten Literatur über den vergangenen Alltag: zwischen Kolonie, Kino und Kirche. Auch Max von der Grün (*1926), der „Revier-Goethe“ aus Dortmund, schreibt schon seit geraumer Zeit keine Bergbau-Romane mehr, mit denen er seine durchaus erfolg- reiche literarische Laufbahn – im Umfeld der Dortmunder Gruppe 61 (1961-1972) – einst begann (Irrlicht und Feuer 1963). Neben der Erin- nerungsliteratur des Ruhrgebiets, die in dem Berliner Ralf Rothmann (*1953) zurzeit ihren bedeutendsten Repräsentanten besitzt (Stier 1991, Wäldernacht 1994, Milch und Kohle 2000), müsste die künftige Erfor- schung der neueren Revier-Literatur zumindest drei weitere Spielarten berücksichtigen: zum einen jene Texte, die seit den siebziger Jahren zunehmend das Ruhrdeutsche mit einbeziehen und dessen Literaturfähigkeit beto- nen. Dazu zählen – quer durch alle Gattungen – in vorderster Reihe die „frühen“ Romane (Anita Drö- gemöller 1975) und Theaterstücke (Ahnsberch 1980) von Jürgen Lode- mann sowie zahlreiche Hörspiele und Gedichtbände des Bochumers Werner Streletz (Blues ausser Neem- straße 1999); zum zweiten eine mittlerweile beachtlich angewachsene Zahl von Jugendbüchern, die mit den Beson- derheiten der hiesigen Region und ihrer Geschichte verknüpft sind. Das Spektrum dieser Romane Die erste Literaturgeschichte des Ruhrgebiets, als Motivgeschichte konzipiert. reicht von Stoffen aus der jüngeren Revier-Vergangenheit (Inge Meyer- bewussten „Kohlberg“ mit seinen sches Nebeneinander von Landwirt- Dietrich: Plascha 1988, Jo Pestum: „Kumpels“ von der Ruhr. Sie sind schaft und Industrie plädierte und Die Schwarzfüße 1990) über den mit dem angestammten Boden ver- in dem Dortmunder Walter Vollmer Abenteuerspielplatz der ehemaligen wurzelt, haben ihren „Kotten“, was (1903-1965) seinen Hauptvertreter Zechenkolonien (Max von der Grün: sie halb als Bauern ausweist, und besaß. Vorstadtkrokodile 1976, Hermann sprechen Westfälisch. Das Gegenbild Schulz: Sonnennebel 2000) bis hin hierzu war leicht entwickelt: sich ins Ausblick zu den heutigen Problemzonen Land fressende Großschachtanla- Jugendlicher im Ruhrgebiet (Fuß- gen, fremdes Kapital und auswärtige So wie die Zechen aus dem Stadt- ball-Fanatismus, Ausländerfeindlich- Arbeitskräfte, die hauptsächlich Pol- bild verschwunden oder in Museen keit, Neonazismus); und schließlich nisch sprechen. Auf diesem Hinter- verwandelt sind, so existiert der den bereits angesprochenen Revier- grund entstand während des Dritten Bergbau des Ruhrgebiets literarisch Krimi, der gegenwärtig immer wei- Reichs der so genannte Ruhrlandro- nur noch in der Erinnerungsliteratur, tere Kreise zieht und dabei auffällig man, der erstmals für ein harmoni- einer autobiographisch geleiteten viele Laienschriftsteller unter die 32 ESSENER UNIKATE 19/2002 33

13) Dirk Hallenberger: Industrie und Heimat. Profis schleust. Auch hier werden hand, novels and plays using the Eine Literaturgeschichte des Ruhrgebiets. nahezu alle Subgenres bedient: local dialect (“Ruhrdeutsch”) con- Essen 2000 Sozio-Krimi, Detektivroman (klas- tinue to flourish, as well as stories sisch oder augenzwinkernd), Frauen- for younger readers and finally the Die Autoren Krimi oder „hardboiled“. Manche detective novel: all of them showing Revier-Krimis demonstrieren eine a strong local and regional colour. Jochen Vogt, geb. 1943 in Karlsruhe, pro- verblüffende Ortskenntnis, lesen movierte 1968 an der Ruhr-Universität Bochum und lehrt seit 1973 Germanistik/ sich wie spannende Stadtpläne und Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik zugleich als neue Form literarischer Anmerkungen an der Universität Essen. 1992/93 Gastpro- Heimatkunde. Die A 40 kommt fessor an der Universität Potsdam; weitere dabei fast immer vor, und nicht 1) Georg Schwarz: Kohlenpott 1931. Essen Gastprofesssuren u.a. in Irland, Italien, 1986 (= Ruhrland-Dokumente, 1) Norwegen, Portugal und USA. Seit 1996 selten diktiert diese unverwechsel- 2) Peter von Zahn: Schwarze Sphinx. Bericht gewählter Fachgutachter der DFG für Neuere bare Einrichtung des Ruhrgebiets von Rhein und Ruhr 1949. Essen 1986 deutsche Literaturwissenschaft. Von 1998 das Tempo der Handlung. (= Ruhrland-Dokumente, 3) bis 2000 Präsident der Internationalen Peter 3) Erhard Schütz/ Jochen Vogt (Hg.): Der Weiss-Gesellschaft. Seit 2002 Fellow am Scheinwerfer. Ein Forum der NEUEN Kulturwissenschaftlichen Institut des Landes SACHLICHKEIT 1927-1933. Essen 1986 Nordrhein-Westfalen in Essen (Forschungs- Summary (= Ruhrland-Dokumente, 2) projekt „Amerikanisierung der deutschen 4) Klaus-Michael Bogdal/Erhard Schütz/ Kultur“). Zahlreiche Bücher zur Literatur Jochen Vogt (Hg.): Zwischen Dortmund und des 20. Jahrhunderts, zur Erzählforschung, Since the early eighties, the re- Duisburg ... Reportagen aus dem Ruhrgebiet zur Kriminalliteratur, zur Literaturdidaktik; gional literature of the Ruhr district 1924-1987. Für den Deutschunterricht der zuletzt: „Einladung zur Literaturwissen- has been a topic of research and Sekundarstufe II. Paderborn 1987 schaft“ (3. Aufl. 2002). 5) Klaus-Michael Bogdal/Erhard Schütz/ publications, both scholarly and Jochen Vogt (Hg.): Bei uns im Revier. Dirk Hallenberger, geb. 1955 in Velbert, stu- popular, within the recently founded Nachrichten, Berichte und Reportagen aus dierte an der Ruhr-Universität Bochum und University of Essen’s Department of dem Ruhrgebiet. Für den Deutschunterricht promovierte 1997 an der Universität Essen. der Sekundarstufe I. Paderborn 1988 Arbeitet als wissenschaftlicher Publizist und German Studies. In cooperation with 6) Erhard Schütz (Hg.): Die Ruhrprovinz Lehrbeauftragter an der Universität Essen. the authors of this paper, Profes- – das Land der Städte. Ansichten und Zahlreiche Publikationen zu Ruhrgebiets- sor Erhard Schütz (currently at the Einsichten in den grünen Kohlenpott. themen, zuletzt „Industrie und Heimat. Eine Reportagen und Berichte von den zwanziger Literaturgeschichte des Ruhrgebiets“ (2000). Humboldt-Universität in Berlin) has Jahren bis heute. Köln 1987 reprinted a whole series of literary 7) Dirk Hallenberger/Johannes Volmert (Hg.): documents and anthologies. These „Ruhrdeutsch – dat sacht wat Sache is!“ Die display the often ignored literary Sprache im Ruhrgebiet. Texte und Materialien für den Deutschunterricht der Sekundarstufe tradition of the Ruhr area in a new I. Paderborn 1990 light, marked both by regional Dirk Hallenberger/Johannes Volmert (Hg.): topics like the heavy industry, and „Tuusse ma eem im Kabäusken fitschen ...“ Die Sprache im Ruhrgebiet. Texte und a decidedly modernist view on art Materialien für den Deutschunterricht der and society (“Neue Sachlichkeit”). Sekundarstufe II. Paderborn 1990 A second series, edited by Jochen 8) Eva Koch/Angelika Tocking (Hg.): Vogt and his colleagues, contains "Schwarz von Kohlendampf die Luft ..." Geschichten aus der Arbeitswelt des textbooks on various topics being Bergmanns von 1900 bis zur Gegenwart. Texte widely used in local classrooms from und Materialien für den Deutschunterricht primary school to university level. der Sekundarstufe I. Paderborn 1990 9) Das von H. Walter Kern für die Reihe These include fairy-tales and legends "Das Ruhrgebiet" verfasste Manuskript of the Ruhr; the literary reportage Heinrich Kämpchen - Bergarbeiterdichter since the twenties; detective stories im Ruhrgebiet um 1900 ist leider nicht veröffentlicht worden. of the eighties and nineties. It was 10) Elke Liebs/Elisabeth Egger (Hg.): Von a younger researcher though, Dirk Nixen, Zwergen und der Kohlenblume. Sagen Hallenberger, who undertook the und Märchen aus dem Ruhrgebiet. Texte und task to research and to compose a Materialien für den Deutschunterricht der Primarstufe. Essen 1993 comprehensive 11) Erhard Schütz/Jochen Vogt district’s own literature – from the (Hg.): Schimanski & Co. Krimiszene early beginnings in the middle of Ruhrgebiet. Texte und Materialien für den Deutschunterricht der Sekundarstufe I und II. the 19th century to the present time. Essen 1996 Looking on the literary scene today, 12) Dirk Hallenberger/Dirk van Laak/Erhard the traditional topic of industrial Schütz: Das Ruhrgebiet in der Literatur. Annotierte Bibliographie zur Literatur über labour (and the realistic novel) have das Ruhrgebiet von den Anfängen bis 1961. somewhat disappeared. On the other Essen 1990 34 ESSENER UNIKATE 19/2002 35

Der Strukturwandel im Gefolge der Bergbaukrise ging mit einem Verlust an Essener Besonderheiten einher. Offensichtlich war der Abschied von der alten Revierstadt Teil des beträchtlichen Modernisierungsschubs, den die Deutschen im Westen in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebten. Ihn zu analysieren, ist in den letzten Jahren zu einer wichtigen Aufgabe der Historiker geworden. Den Durchbruch Essens zur Dienstleistungsstadt zu rekonstruieren, heißt gleichzeitig einen Beitrag zum Verständnis jener Veränderungen zu leisten, die unsere Gegenwart mehr als alles andere bestimmen.

Essen im Umbruch

Die Bergbaukrise und die Etablierung der Dienstleistungsstadt Von Wilfried Loth und Sabine Voßkamp

er Strukturwandel an der Ruhr ist, ist in der Tat mit Händen zu eine Verschärfung erlebte. Sie wurde Dwird meist plakativ dargestellt. greifen. Schwieriger ist es hingegen, deutlich, als am 22. Februar 1958 „Für viele“, heißt es etwa in einer den Strukturwandel an der Ruhr zu für 16.000 Bergleute erstmals „Fei- Broschüre über die Stadt Essen beschreiben. Was bedeutete er für die erschichten“, also eine unbezahlte aus dem Jahr 1990, „ist Essen eine Menschen, die ihn erlebt haben? Wie Beurlaubung angeordnet wurden. qualmende Industriestadt, die von wirkte er sich auf das Gesicht einer Betroffen waren neben Zechen in Hochöfen, Förder- und Kühltürmen Stadt wie Essen aus, wie veränderte Unna, Bochum und Mülheim auch beherrscht wird. Die Vorstellung traf er die Gesellschaft? Offensichtlich die Zechen Katharina und Theodor bis vor etwa einem Vierteljahrhun- war der Abschied von der alten Heinrich in Essen. Bis Mitte des dert zu. Heute dagegen ist sie falsch. Revierstadt Teil des beträchtlichen Jahres versiebenfachten sich die Hal- Essen ist zum Dienstleistungs- und Modernisierungsschubs, den die denbestände an Kohle und Koks, bis Verwaltungszentrum des Ruhrge- Deutschen im Westen in den 60er Ende 1958 waren im Ruhrbergbau biets geworden. Slogans wie ,Essen Jahren des vergangenen Jahrhunderts über 2,7 Millionen Feierschichten zu – die Einkaufsstadt’ und ,Essen als erlebten. Ihn zu analysieren, ist in verzeichnen; das entsprach Lohn- Messestadt’ verdeutlichen die heuti- den letzten Jahren zu einer wichtigen einbußen in Höhe von 58 Millionen gen Standbeine der Wirtschaft.“1 Zur Aufgabe der Historiker geworden.2 DM. Bald waren Entlassungen und Absicherung ihrer These verweisen Den Durchbruch Essens zur Dienst- Zechenstilllegungen nicht mehr zu die Autoren auf eine dramatische leistungsstadt zu rekonstruieren, vermeiden.3 Umkehrung der Beschäftigungsver- heißt gleichzeitig einen Beitrag zum In Essen wurde 1959 mit der hältnisse: Waren 1950 noch 63,1 Pro- Verständnis jener Veränderungen zu Zeche Jungmann in Überruhr die zent der Essener Beschäftigten in der leisten, die unsere Gegenwart mehr erste kleinere Anlage geschlossen. Produktion tätig und nur 36,9 Pro- als alles andere bestimmen. 1965/66 waren erstmals größere zent im Dienstleistungsbereich, so Zechen von der Stilllegung betrof- schrumpfte der Anteil der Beschäf- Die Krise des Bergbaus fen: Victoria-Mathias im Stadtbezirk tigten im Produktionsbereich bis Mitte, Helene in Stoppenberg, Lan- 1990 auf 26,3 Prozent, während der Im öffentlichen Bewusstsein genbrahm in Rellinghausen, Sälzer- Anteil der Dienstleister im gleichen wird der Strukturwandel in erster Amalie in Borbeck. Nach dem aber- Zeitraum auf 73,7 Prozent stieg. Linie mit der Krise des Kohleberg- maligen Einbruch im Kohleabsatz Der gewaltige Umbruch, der baus verbunden, die zu Beginn des 1966/67 wurden weitere Anlagen an solchen Indikatoren abzulesen Jahres 1958 einsetzte und 1966/67 in Überruhr, Kray, Altenessen und 34 ESSENER UNIKATE 19/2002 35 Wilfried Loth. Foto: André Zelck Wilfried 36 ESSENER UNIKATE 19/2002 37

Heidhausen geschlossen. 1972 folg- ten die Zechen Katharina in Kray Sozialschichtung in der Stadt Essen im Jahr 1939 und Mathias-Stinnes in Karnap, 1973 die Zechen Carl-Funke in Heidhau- sen und Emil-Fritz in Altenessen. Insgesamt wurden infolge der Berg- baukrise 26 Anlagen auf dem Gebiet des Stadtkreises Essen stillgelegt; allein die Zeche Zollverein arbeitete weiter.4

Soziale Folgen

Entsprechend dramatisch war der Verlust an Arbeitsplätzen im Bergbau- und Energiesektor. Wurden hier im Stadtkreis Essen 1961 noch 49.149 Beschäftigte in 68 Betrieben gezählt, waren es 1970 nur noch 20.730 Beschäftigte in 28 Betrieben. Nicht weniger als 58 Prozent der Arbeitsplätze im Berg- bau und den anliegenden Bereichen gingen im Laufe der 60er Jahre ver- loren. Nicht alle diese Arbeitsplätze konnten durch die Ansiedlung neuer Gewerbe oder die Ausweitung des Dienstleistungssektors ersetzt werden. Insgesamt sank die Zahl der Beschäftigten im gleichen Zeitraum um 12,3 Prozent. Die Erwerbsquote ging von 43,0 auf 39,3 Prozent zurück; sie lag damit geringfügig unter dem Landesdurchschnitt.5 Der Vergleich mit dem Landes- durchschnitt weist allerdings schon Über 75% der ET (Erwerbstätigen) Arbeiter darauf hin, dass die Vorstellung von einem dramatischen Abschied von 70-75% der ET Arbeiter der Schwerindustrie in zweierlei Hinsicht modifiziert werden muss: 60-70% der ET Arbeiter und über 20% Zum einen spielte die Stahlerzeu- der ET Beamte und Angestellte gung in Essen schon seit der Demon- tage des Borbecker Hüttenwerks 60-70% der ET Arbeiter und 25-30% der Firma Krupp nach dem Zweiten der ET Beamte und Angestellte Weltkrieg keine Rolle mehr; der 40-50% der ET Beamte und Angestellte; schrittweise Rückzug der Kohle- unter 40% der ET Arbeiter förderung seit Ende der 50er Jahre stellte also schon den zweiten Struk- 40-45% der ET Beamte und Angestellte; turbruch nach dem Verlust der Stahl- 45-50% der ET Arbeiter herstellung in der Nachkriegszeit dar. Zum anderen war Essen beim Einsetzen der Bergbaukrise ohnehin schon auf dem Weg zum Verwal- tungszentrum und zur Dienstleis- tungsstadt. Die Metropolenfunk- (1) Übersicht über die Sozialschichtung in Essen 1939. tion im Zusammenhang mit der 36 ESSENER UNIKATE 19/2002 37

Dominanz des Krupp-Konzerns bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte dazu geführt, dass zahlreiche Soziale Schichtung im Stadtkreis Essen 1961 Wirtschafts- und Berufsverbände, die Industrie- und Handelskammer und auch die überkommunalen Gladbeck Verbände des Reviers ihren Sitz in Essen genommen hatten. Zudem war Essen Verwaltungssitz einer Reihe von Großunternehmen. 1962 hatten Bottrop vier der zwölf größten Industrieun- ternehmen der Bundesrepublik ihren Gelsenkirchen Sitz in Essen – neben Krupp das RWE, die Rheinischen Stahlwerke und die Gelsenkirchener Bergwerks- AG. Entsprechend erlebte Essen Wattenscheid auch schon vor dem Einsetzen der Krise des Ruhrbergbaus eine starke Mülheim Ausweitung des Dienstleistungs- Bochum bereichs. Von 1939 bis 1965 stieg die Zahl der Beschäftigten im ter- tiären Sektor um 65 Prozent. Von Hattingen-Land 1961 bis 1970 war nur noch ein Zuwachs von knapp acht Prozent zu verzeichnen (genauer gesagt: ein Zuwachs von 13,7 Prozent in den Bereichen Dienste und Verwaltung Kettwig bei einem gleichzeitigen Rückgang Langenberg der Bereiche Handel, Verkehr und Velbert Geldwesen um 7,3 Prozent). In den Hellwegstädten Dortmund und Heiligenhaus Bochum, die einen weit höheren Kompensationsbedarf im Dienstleis- tungsbereich hatten, stieg die Zahl der Arbeitsplätze im tertiären Sektor im gleichen Zeitraum um 20,4 bzw. > 65% der ET (Erwerbstätigen) Arbeiter 16,9 Prozent.6 Die Umschichtung von der 55-65% der ET Arbeiter und Arbeiterbevölkerung zu Gruppen < 25% Beamte und Angestellte von Angestellten und Beamten, die damit verbunden war, ging mit einer 55-65% der ET Arbeiter und starken räumlichen Differenzierung > 30% Beamte und Angestellte einher. Vergleicht man das Verhältnis zwischen Arbeitern auf der einen 45-55% der ET Arbeiter und und Angestellten und Beamten auf > 30% Beamte und Angestellte der anderen Seite in den einzelnen Stadtteilen im Wandel von 1939 zu 35-45% der ET Arbeiter und 1961, so ergibt sich nicht nur ein > 30% Beamte und Angestellte allgemeiner Rückgang des Arbeiter- anteils, sondern auch ein Verlust an < 35% der ET Arbeiter und Homogenität. < 40% Beamte und Angestellte Essen ließ also in den 60er Jahren eine starke räumliche Differenzie- rung erkennen: sowohl zwischen Norden und Süden als auch zwi- (2) Übersicht über die soziale Schichtung in Essen, 1961. 38 ESSENER UNIKATE 19/2002 39 schen traditionellen Arbeiterstadt- gab es wohl im Zuge der allgemeinen pässen der deutschen Produktion teilen, alten Siedlungskernen und Rezession 1966/67 ein deutliches aushelfen sollten. Insgesamt stieg Wohngebieten der oberen sozialen Ansteigen der Arbeitslosenzahlen; der Ausländeranteil an der Essener Schichten. Dabei variierte nicht nur bis zu Beginn der 70er Jahre wurde Bevölkerung von 1957 bis 1969 um der soziale Status der Einwohner von das aber wieder durch die Schaffung das Dreifache, wenn auch nur von Stadtteil zu Stadtteil. Auch in der neuer Arbeitsplätze wettgemacht. 1,05 auf 3,10 Prozent.11 Er blieb also Dichte der Besiedlung gab es große Bergleute mittleren Alters, die noch vergleichsweise gering, wurde Unterschiede. Neben den Stadtteilen keinen neuen Arbeitsplatz fanden, aber als Phänomen überproportio- Südviertel, Südostviertel und Rütten- wurden in Frührente geschickt. 1970 nal wahrgenommen und diskutiert. scheid, die schon in der Gründerzeit erhielten 19 Prozent der Essener Die Essener Neubürger kamen aus des späten 19. Jahrhunderts dicht Bevölkerung Renten, Pensionen oder über zwanzig Staaten, die meisten bebaut worden waren, verzeichneten Sozialhilfe, obwohl nur 14,3 Prozent (in abnehmender Reihenfolge) aus insbesondere die Stadtteile Alten- der Einwohner 65 und mehr Jahre Jugoslawien, Spanien, Italien, der dorf, Frohnhausen und Holsterhau- zählte. Zudem verließen Menschen, Türkei, den Niederlanden und Grie- sen mit ihren Arbeitersiedlungen die keine Arbeit mehr fanden, die chenland. hohe Einwohnerdichten. Stadt. Zunächst waren es nur wenige, Der Abschied von der Arbeiter- Von der Kohlenkrise waren folg- doch seit 1962 wurden es Jahr für stadt machte sich schließlich auch lich die Stadtteile im Norden und Jahr mehr, bis zum Höhepunkt einer auf dem Bildungssektor bemerkbar. Nordwesten in besonderem Maße Abwanderung von 16,2 Prozent im Zwar wies die überwiegende Mehr- betroffen. Viele Einwohner mussten Krisenjahr 1967. Von 1963 ging die heit der Essener Bevölkerung (77,8 jetzt zu entfernten Arbeitsplätzen Gesamtbevölkerung, die 731.497 Prozent) auch Ende der 60er Jahre pilgern. Andere schieden ganz aus erreicht hatte, wieder zurück. 1969 noch einen Volksschulabschluss als dem Erwerbsleben aus, und viele waren es noch 703.728.9 höchsten Schulabschluss auf. Doch verließen auch ihren bisherigen Die Wanderungsverluste betrafen stieg der Anteil der Schülerinnen Wohnort. Gleichzeitig nahm der im Zeitraum von 1964 bis 1965 vor- und Schüler, die ein Gymnasium Trend zur Auflösung der großen wiegend Stadtteile mit einem hohen besuchten, im Zeitraum von 1960 Familienverbände zu. Von 1961 bis Arbeiteranteil und angekündigten bis 1970 von 12,8 auf 18,3 Prozent. 1970 stieg die Zahl der Einpersonen- oder durchgeführten Zechenstillle- Darunter waren immer noch weniger haushalte in Essen um 38,1 Prozent; gungen: Altendorf, Frohnhausen, Mädchen als Jungen (knapp 25 Pro- dabei erreichten die Stadtmitte, das Holsterhausen, Vogelheim, Altenes- zent), doch war der Mädchenanteil Südviertel, Stadtwald und Rütten- sen-Nord und Katernberg; daneben im Laufe des Jahrzehnts um 20 Pro- scheid den geringsten Durchschnitts- war auch Rüttenscheid betroffen. zent gestiegen. Die Zuwächse waren wert der Personen pro Haushalt.7 Der Essener Nordosten verlor bis umso deutlicher, je weniger Arbei- Ein weiterer, oft wenig beachte- 1972 18,2 Prozent der Arbeitsplätze ter in den betreffenden Stadtteilen ter Aspekt der Ausdifferenzierung und verzeichnete 8,8 Prozent weni- wohnten. In Bredeney wohnten die war die Zunahme der gewerblichen ger Einwohner, wodurch auch die meisten Gymnasiasten (42,6 Prozent Landwirtschaft in den südlichen, Wohnbautätigkeit um 8,3 Prozent der Schüler des Stadtteils), während noch ländlich geprägten Stadttei- sank. Demgegenüber konnte der in Vogelheim nur 4,8 Prozent der len: Sie wuchs zwischen 1961 und Süden der Stadt, insbesondere die Schüler ein Gymnasium besuchten.12 1970 um viereinhalb Prozent. Dabei Stadtteile Steele und Überruhr, handelte es sich vor allem um „Gärt- zahlreiche Zuzüge verzeichnen; hier Milieus und Politik nereien, Friedhofs- und Landschafts- wurden auch überproportional viele pflegebetriebe, Tierheime und Reit- neue Wohnungen errichtet.10 Die sozialen Umbrüche im ställe“, also „zumeist um Erwerbs- Abwanderung, Berufswechsel Gefolge der Bergbaukrise trugen zweige, die mit dem Wohlstand und und die generelle Neuorientierung dazu bei, die traditionellen sozi- der Freiheit zum Luxus gewachsen der jüngeren Generation ließen almoralischen Milieus13, die die sind.“8 Die Ausdifferenzierung ging zeitweilig sogar einen Mangel an Essener Gesellschaft geprägt hatten, mit einer Vertiefung der sozialen Arbeitskräften im Bergbau entste- umzuformen – genauer gesagt: Ero- Ungleichheit zwischen nördlichen hen. Er wurde durch die Anwerbung sionsprozesse, die schon seit langem und südlichen Stadtteilen einher. ausländischer Arbeitskräfte kom- eingesetzt hatten, zu beschleunigen, Der Rückgang der Zahl der pensiert. Auch in anderen Arbeitsbe- Unterschiede zwischen den Grup- Arbeitsplätze bedeutete nicht, dass reichen wurde auf die sogenannten pen abzubauen und die Heraufkunft die Bergleute „ins Bergfreie“ fielen, „Gastarbeiter“ zurückgegriffen: neuer Lebensstile zu fördern. Das also arbeitslos wurden. Bis 1966 vorwiegend männliche Arbeitskräfte, gilt sowohl für das katholische stellte die Arbeitslosigkeit in Essen die nach der herrschenden Philo- Arbeitermilieu, das in der Zeit des praktisch kein Problem dar. Danach sophie vorübergehend in den Eng- Kaiserreichs und der Weimarer 38 ESSENER UNIKATE 19/2002 39

Republik die stärkste Prägekraft in Ruhrgebiet insgesamt, entstand zum Gerade im katholischen Bereich der Industriestadt entfaltet hatte, als ersten Mal ein ausgeprägtes regi- ist die Beschleunigung, die die Mili- auch für das sozialistische Arbeiter- onales Selbstbewusstsein. Private euerosion im Zuge der Bergbaukrise milieu in seinen verschiedenen orga- Teilhabe am Wohlstand und seinen erfahren hat, aber besonders augen- nisatorischen Ausprägungen und das Gestaltungsmöglichkeiten ließen die fällig. Eine sozialwissenschaftliche schmale, aber einflussreiche Essener milieuspezifischen Kulturen verblas- Untersuchung zu Religion und Neubürgertum. sen. Gesellschaft im Ruhrgebiet, die 1974 Die Zerstörung des institutio- Freilich waren dies eher schlei- in der gerade gegründeten Essener nellen Rahmens der weltanschaulich chende Wandlungsprozesse als dra- Universität vorgelegt wurde, kon- geprägten Arbeiterbewegungen matische Brüche. Die traditionellen statierte für die 60er Jahre einen durch den Nationalsozialismus Milieus verschwanden nicht von allgemeinen Einbruch in der Religi- hatte hier schon Einiges bewirkt, heute auf morgen, und sie machten, osität der jüngeren Generation und ebenso die Evakuierungen und die zumal in den Siedlungskernen der eine „entschiedene Lösung von her- kriegsbedingte Abwesenheit der Stadt, auch weiterhin ihren Einfluss kömmlichen religiösen Formen.“15 Soldaten, die Bildung der Einheits- geltend. So lassen sich für das Wahl- Generell verlor die religiöse Bindung gewerkschaft und die Etablierung verhalten der Essener, wenn man an Bedeutung. Der Prozentsatz der

Jahre Geburten-, Wanderungs- Bevölkerungszu- bzw. Einwohner Steuerüber- gewinn bzw. -abnahme (Jahresmittelwert) schuss (-) -verlust (-) weibl. männl. gesamt 1956 3,2 13,9 17,7 16,4 17,0 696.025 1957 3,8 12,0 15,8 16,0 15,9 707.285 1958 4,4 6,0 12,5 8,1 10,4 716.937 1959 4,4 -1,9 7,9 -3,3 2,6 722.322 1960 3,9 -1,2 4,2 0,9 2,7 722.661 1961 4,3 3,2 6,3 8,8 7,5 727.080 1962 3,8 -1,6 2,0 2,3 2,1 730.984 1963 3,6 -4,0 -0,4 -0,2 -0,5 731.497 1964 4,3 -4,8 -0,6 -0,4 -0,5 731.345 1965 3,3 -7,6 -2,8 -6,0 -4,3 729.571 1966 2,8 -14,0 -7,6 -15,2 -11,3 724.243 1967 2,3 -16,2 -9,6 -18,8 -13,9 713.835 1968 -0,0 -6,3 -5,6 -7,1 -6,3 706.858 1969 -0,7 -2,6 -5,3 -1,1 -3,3 703.728

(3) Bevölkerungsentwicklung im Stadtkreis Essen 1956 bis 1969.

der CDU als interkonfessioneller nach Stadtteilen differenziert, für die Essener Katholiken, die regelmäßig Sammlungsbewegung nach dem 40er und 50er Jahre noch milieutypi- den Sonntagsgottesdienst besuchten, Zweiten Weltkrieg, das Hinzutre- sche Muster nachweisen. Der regel- sank auf 33,4 Prozent 1963/64 und ten der vielen Neubergleute in den mäßige sonntägliche Gottesdienstbe- 21,4 Prozent 1972.16 Interessanter- Jahren des Wiederaufbaus und der such, im Allgemeinen ein Indiz für weise gaben dabei 1963/64 48,0 Pro- weitere Zustrom von Flüchtlingen, Milieubindung, belief sich bei den zent der Katholiken an, sie würden der bis zum Beginn der Bergbaukrise Katholiken des Essener Stadtkreises jeden Sonntag den Gottesdienst anhielt, schließlich der Wechsel in 1958 noch auf 37,5 Prozent. Die in besuchen, über 14 Prozent mehr, als den Dienstleistungsbereich, der in der Katholischen Arbeiterbewegung tatsächlich Besucher zu verzeich- Essen früher als anderswo verstärkt (KAB) zusammengeschlossenen nen waren. Der soziale Druck war stattfand. Schon in den 50er Jahren Knappen- und Arbeitervereine also noch stark, während die innere war eine stärker schichtenspezifi- hatten im ersten Nachkriegsjahr- Überzeugung schon nachgelassen sche, nicht mehr an unterschiedliche zehnt noch Mitgliederzuwächse zu hatte. Herkunftsmilieus gebundene Selbst- verzeichnen, und auch die katholi- Neben dem generellen Abwärts- verortung der Arbeiter festzustellen. schen Jugendverbände und pfarrli- trend zeigten sich aber auch milieu- Gleichzeitig wuchs schichtenüber- chen Jugendgruppen fanden regen bedingte Unterschiede. Das Dekanat greifend die Identifikation mit dem Zuspruch.14 Stoppenberg, von der Bergbaukrise 40 ESSENER UNIKATE 19/2002 41 am stärksten betroffen und mit den Mittelschichten der Dienstleis- und erst gegen Ende der 60er Jahre überdurchschnittlich hohen Arbei- tungsgesellschaft. Die zitierte sozi- näherte sich die Höhe des SPD- teranteilen in der Bevölkerung, ver- alwissenschaftliche Untersuchung Stimmenanteils von Frauen an die zeichnete die niedrigste Beteiligung registrierte ausgeprägte Religiosität der Männer an. am sonntäglichen Gottesdienst. Bor- bei 54 Prozent der Beamten und 41 Politisch ergab sich daraus eine beck, ebenfalls eine ehemalige Hoch- Prozent in der Gruppe der Rentner, Sozialdemokratisierung der Stadt, burg des katholischen Arbeitermi- Selbständigen und Angestellten, die dem allgemeinen Trend im Ruhr- lieus, hatte 1964 einen tiefen Ein- dagegen nur 26 Prozent bei den gebiet etwas hinterher hinkte. In den bruch, um dann nach einem kurzen Arbeitern.19 In den Stadtteilen mit Bundestagswahlen 1953 und 1957 Anstieg zum allgemeinen Abwärts- hohem Arbeiteranteil lag der Stim- konnte die CDU die meisten Stim- trend zurückzukehren. Dagegen menanteil der SPD deutlich über men auf sich vereinigen. Die SPD stieg in Werden und im Dekanat dem Durchschnitt des Stadtkreises, überflügelte die CDU 1961 und trat Essen Mitte 1965/66 die Zahl der in den Stadtteilen mit niedrigem damit in einen Aufwärtstrend, der Gottesdienstbesucher; danach ging Arbeiteranteil ebenso deutlich dar- bis 1972 anhielt. Der CDU-Stim- sie stetig zurück, in Essen-Mitte unter. Dabei korrespondierte der menanteil sank unter 40 Prozent und wesentlich stärker als in Werden, das jeweilige Grad der Abweichung näherte sich bis 1972 der 30-Pro- über den gesamten Zeitraum weit nahezu vollständig mit der sozialen zent-Marke an. Ähnlich verhielt es über dem Durchschnitt lag. Das Zusammensetzung der entsprechen- sich bei den Landtagswahlen, wobei katholische Bergarbeitermilieu im den Stadtteilgruppe. hier der Stimmenanteil der SPD Norden der Stadt schrumpfte zur Auf dem Weg vom katholischen schon in den 50er Jahren deutlich Restgröße zusammen: Die Arbeiter Bergarbeitermilieu zum Mittel- über dem der CDU lag. Den höchs- machten nur noch sechs Prozent der schichten-Katholizismus scheinen ten Stimmenanteil erzielte die SPD regelmäßigen Kirchgänger der Jahre die Frauen eine retardierende und 1966 mit 59,1 Prozent.21 1963/64 aus.17 transformierende Rolle gespielt zu Bezeichnend für die Verspätung Dem entsprechen auch die haben. Pastoralsoziologische Unter- im Aufwärtstrend der Sozialdemo- Veränderungen im Wahlverhalten. suchungen20 konstatierten schon bei kratie (und damit ein Indiz für den Bereits in den 50er Jahren war zu der Gründung des Bistums Essen im Vorsprung Essens im Anteil am beobachten, dass die Sozialdemo- Jahr 1958 einen überproportionalen Dienstleistungssektor wie für die kratie in den überwiegend katholi- Frauenanteil bei den sonntäglichen zunächst noch verbliebene Präge- schen Bergbauvierteln des Essener Gottesdienstbesuchen. In „ausge- kraft des Arbeiterkatholizismus) ist Nordens und Westens schneller und sprochenen Arbeiterpfarreien“ war der durchweg etwas geringere Anteil mehr Wähler erobern konnte als der Männeranteil, besonders bei jün- der SPD-Stimmen und entsprechend in Stadtteilen wie Heisingen oder geren Männern, noch niedriger; Pen- höhere Anteil der CDU-Stimmen Werden.18 In den 60er Jahren lagen sionäre und Rentner stellten jeweils im Verhältnis zu den Gesamter- die Stimmenanteile, die für die CDU die höchsten Anteile. Bei höheren gebnissen des Kommunalverbands abgegeben wurden, in den Stadttei- Beamten und leitenden Angestell- Ruhrgebiet. So erreichte die SPD auf len des Nordens und Westens immer ten auf der einen Seite des sozialen KVR-Ebene beispielsweise in den noch über dem Durchschnitt der Spektrums und Vorarbeitern sowie Landtagswahlen von 1966 nur 57,2 Gesamtstadt. Sie gingen aber deut- Bergbauarbeitern auf der anderen Prozent. In den Kommunalwah- lich zurück, etwa von 50,6 Prozent Seite wurde die geringste Teilnahme len lag die CDU auf KVR-Ebene in den Gemeindewahlen von 1961 an Gottesdiensten verzeichnet. Auch nahezu konstant bei etwa 39 Pro- auf 45,3 Prozent 1969 in Borbeck zu Beginn der 70er Jahre machten zent, während die SPD 1956 die 50- und von 49,2 auf 41,5 Prozent in Frauen noch über 60 Prozent der Prozent-Marke überschritt und dann Bedingrade. Demgegenüber stieg der Gottesdienstteilnehmer aus. 1961 und 1969 leichte Einbußen Stimmenanteil der CDU in Werden Auch hier zeigt sich eine Ent- hinnehmen musste. In Essen hinge- im gleichen Zeitraum von 46,1 auf sprechung im Wahlverhalten: Wäh- gen war seit 1961 ein Aufwärtstrend 50,3 Prozent. In den ebenfalls im rend der 60er Jahre lag der Stim- der SPD zu verzeichnen, während Ruhrtal gelegenen Stadtteilen Heid- menanteil der SPD bei den Frauen die CDU stärker als im Durchschnitt hausen und Kupferdreh pendelte der durchschnittlich um 10 Prozent des Ruhrgebiets abnahm.22 Anteil an CDU-Stimmen auf einem unter dem Stimmenanteil bei den Zu verdanken hatte die SPD in hohen Niveau um ca. 50 Prozent. Männern; bei der CDU verhielt es Essen ihren vergleichsweise späten Ein Verschwinden des katholi- sich mit nahezu gleichem Abstand Erfolg nicht zuletzt einem Form- schen Milieus ist aus diesen Zahlen umgekehrt. Erst in den Landtags- wandel des sozialdemokratischen nicht abzulesen, wohl aber eine Ver- wahlen von 1962 konnte die SPD bei Milieus, der fast schon einer Neu- bürgerlichung oder genauer gesagt: den weiblichen Wählern ein besse- gründung gleichkam. Die pragma- eine zunehmende Orientierung an res Ergebnis als die CDU erzielen, tische Zusammenarbeit in der Ein- 40 ESSENER UNIKATE 19/2002 41

55 desebene 1966 bei und damit zur Bil- dung der ersten sozialdemokratisch 50 geführten Landesregierung unter Ministerpräsident Heinz Kühn. Dass Bedingrade diese die politische Gestaltung des Frintrop 45 Strukturwandels konsequenter in Dellwig Angriff nahm als die Vorgängerregie- Gerschede 40 Borbeck rung, stabilisierte dann die Hegemo- Gesamtstadt nie des neuen sozialdemokratischen Werden Milieus. Sein Erfolg wurde sinnfällig, 35 als Gustav Heinemann im März 1969 mit den Stimmen von SPD und FDP zum Bundespräsidenten gewählt 30 GW 1961 GW 1964 GW 1969 wurde: ein Vertreter des protestan- tischen Bürgertums in Essen, der (4) Stimmenanteile der CDU bei den Gemeindewahlen (GW) 1961/64/69 in fünf Essener Stadtteilen in Prozent. in den ersten Nachkriegsjahren als CDU-Oberbürgermeister die Stadt regiert hatte und jetzt als SPD-Bun- 65 desminister für die Öffnung der sozialdemokratischen Partei für neue 60 Schichten stand. Nicht nur das neue sozialdemo- Bedingrade kratische Milieu, auch der bürgerlich 55 Frintrop gewordene Katholizismus, der jetzt Dellwig eine Teilgruppe des CDU-nahen Gerschede 50 Bürgertums bildete, waren wesent- Borbeck lich pluraler, offener und unverbind- Gesamtstadt licher als die sozialmoralischen Mili- Werden 45 eus der klassischen Industriegesell- schaft. Eine gewisse Fremdheit zwi- 40 schen den unterschiedlichen Grup- pen der städtischen Gesellschaft aber blieb – nicht zuletzt, weil es an einer 35 milieuübergreifenden Integrations- GW 1961 GW 1964 GW 1969 instanz fehlte. Das Essener Bürger- (5) Stimmenanteile der SPD bei den Gemeindewahlen (GW) tum nahm diese Funktion weniger 1961/64/69 in fünf Essener Stadtteilen in Prozent. denn je wahr: Seine Repräsentanten waren von der politischen Macht in der Stadt verdrängt worden, und die heitsgewerkschaft und das Gewicht, den Tag: Die IG Bergbau verzichtete Menschen in den Vorstandsetagen das der Montanmitbestimmung bei angesichts der Bergbaukrise auf die der großen Konzerne blickten auf der Regelung der Alltagswirklich- Forderung nach Sozialisierung des ihre weltweiten Unternehmungen, keit in den Betrieben wie in den Bergbaus, und die SPD des Ruhrge- nicht auf die Stadt, in der sich ihre Stadtvierteln zukam, hatten zur biets entwickelte sich zu einer Partei Verwaltungszentralen befanden. Integration des alten sozialistischen der kleinen Leute, in der Sonder- Integrationsleistungen, etwa des Milieukerns in ein in jeder Hinsicht interessen des Bergbaus hinter den „Ruhrbischofs“ Hengsbach oder plurales, auf praktische Lösungen Interessen der Verbraucher und der Westdeutschen Allgemeinen hin orientiertes Solidaritätsmilieu einem allgemeinen Interesse an Ver- Zeitung, bezogen sich stärker auf geführt, das politisch und kulturell besserung der Lebensqualität und das Ruhrgebiet insgesamt und stilbildend wirkte.23 Dieses Milieu verstärkter Bildung zurückstehen weniger auf die Stadt. bewährte sich in der Bergbaukrise, mussten.24 Der Strukturwandel im Gefolge indem es soziale Abfederungen des Die Erfolge, die die SPD-Poli- der Bergbaukrise ging also mit einem massenhaften Ausscheidens aus dem tiker mit diesem Kurs erzielten, Verlust an Essener Besonderheiten Bergbauberuf zu organisieren ver- wurden von den Wählern honoriert. einher. Für das materielle Fortkom- stand. Dabei legte es erneut einen Der Stimmenzuwachs in Essen trug men der Essener, für individuellen erfolgsorientierten Pragmatismus an zum Durchbruch der SPD auf Lan- Aufstieg und Teilhabe an der bun- 42 ESSENER UNIKATE 19/2002 43

desdeutschen Wohlstandsgesellschaft 75 war das kein Nachteil. Nur man- gelte es eben, langfristig gesehen, an 70 Möglichkeiten, die engere Umwelt

65 aktiv und eigenverantwortlich zu gestalten. 60

55 Summary 50 In recent years, historians have 45 become interested in the structural

40 changes brought about by significant modernisation. In particular, the 35 Ruhr area of the 1960s and 1970s shows the dramatic impact of 30 deindustrialisation on the socio- 25 economic infrastructure. For the GW 56 BW 57 LW 58 GW 61 BW 61 LW 62 GW 64 BW 65 LW 66 BW 69 GW 69 LW 70 city of Essen, structural change meant a further expansion of the

Bedingrade BW = Bundestagswahlen tertiary sector, but also profound Frintrop LW = Landtagswahlen transformations in the lives of its Dellwig GW = Gemeindewahlen inhabitants. From 1958 onwards, the Gerschede crisis in the mining industry led to Borbeck closures of almost all of the coal-pits Gesamtstadt in Essen. The social changes brought Werden about by this crisis have influenced the development of new life-styles (6) Stimmenanteile der SPD in den Wahlen von 1956 bis 1970 and speeded up the erosion of im Stadtkreis Essen und den 6 Stadtteilgruppen. traditional communities (like the community of Catholic coal-miners). The majority of Essen’s social groups

65 were successfully integrated into a new social-democratic milieu, albeit 60 at a later stage than in other parts of the Ruhr area, and Ruhr Catholicism 55 became an increasingly middle-class 50 phenomenon. Initiatives directed at religious and cultural integration 45 (e. g. of the ”Bishop of the Ruhr”

40 Hengsbach, or the Westdeutsche Allgemeine Zeitung) were aimed at 35 the Ruhr area as a whole, so that in the course of this development Essen 30 has lost some of its particularities. 25

20 Anmerkungen GW 61 BW 61 LW 62 GW 64 BW 65 LW 66 BW 69 GW 69 LW 70 1) Forschungs- und Entwicklungsimpulse Essen, Gemeinschaftsstand auf dem Männeranteil SPD-Stimmen Frauenanteil SPD-Stimmen Innovationsmarkt Forschung und Männeranteil CDU-Stimmen Frauenanteil CDU-Stimmen Technologie, Hannover Messe Industrie ’90, 8. 2) Vgl. Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen (7) Wahlergebnisse der SPD und CDU von 1961 bis 1970 Gesellschaften, Hamburg 2000. in Essen nach Geschlecht. 3) Vgl. Andreas Schlieper, 150 Jahre 42 ESSENER UNIKATE 19/2002 43

Ruhrgebiet. Ein Kapitel deutscher Untersuchungen in einer Industriegesellschaft, Seit 1986 ist er ordentlicher Professor für Wirtschaftsgeschichte, Düsseldorf 1986, Essen 1974, 128. Neuere Geschichte an der Universität 172; Industriegewerkschaft Bergbau, 16) Kirchliche Statistik des Bistums Essen, Essen. Von 1993 bis 1997 war er Präsident Hauptvorstand, Denkschrift zur Lage im Daten der statistischen Jahreserhebungen des Kulturwissenschaftlichen Instituts im Steinkohlenbergbau der Bundesrepublik, 1958 bis 1994, Hg. vom Institut für kirchliche Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, Bochum, 15. Januar 1959 (StA E 45 19305b), Sozialforschung im Bistum Essen, 1995, 12- wo er bis zum Frühjahr 2000 zugleich eine 1. 20. Studiengruppe zu den Zukunftsproblemen 4) Vgl. Gerhard Cordes, Zechenstilllegungen 17) Vgl. ebd. sowie Kirchliche der Europäischen Union leitete. Wilfried im Ruhrgebiet (1900-1968). Die Folgenutzung Sozialforschung im Bistum Essen, Auf der Loth ist Vorsitzender der Verbindungsgruppe auf ehemaligen Bergbaubetriebsflächen, Essen Suche nach Gemeinde. Kirchenbesuch und der Historiker bei der Kommission der 1972 (Schriftenreihe SVR Nr. 34), Anlagen I Kirchlichkeit im Ruhrgebiet, Essen o. J. Europäischen Gemeinschaften und Sprecher und II; Presse- und Informationsamt der Stadt [1970], 118ff. des DFG-Graduiertenkollegs „Europäische Essen (Hg.), Die Stadt Essen, Essen 1983, 194. 18) Vgl. Hartmut Pietsch, Parteien und Gesellschaft“ an der Universität Essen. 5) Stadt Essen, Amt für Statistik und Wahlen Wahlen in Essen seit 1948, in: Das Münster (Hg.), Versicherungspflichtig beschäftigte am Hellweg 25, 1972, 59-74. Sabine Voßkamp studierte Neuere Geschichte, Arbeitnehmer in Essen am 31.12.1976. 19) Vgl. Boos-Nünning / Golomb, Religiöses Geographie und Anglistik an der Universität Entwicklung 1961-1970-1976, Essen 1978 Verhalten im Wandel, S. 134. Essen. Seit Abschluss des Studiums mit dem (Statistisches Sonderheft 1/1978), 7ff; 20) Vgl. für das Folgende: Magister Artium 2001 ist Sabine Voßkamp als Untersuchung zur Erstellung eines Struktur- Pastoralsoziologisches Institut des Erzbistums Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für und Entwicklungsplanes für die Wirtschaft Paderborn und des Bistums Essen, Sozial-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte der Stadt Essen. Tabellenband, Wibera Pastoralsoziologische Untersuchung der Stadt der Universität Essen beschäftigt und Wirtschaftsberatung AG, hg. im Auftrag Essen, Bericht 4 A, Essen 1961, 87-91. arbeitet an einer Dissertation zum Thema des Oberstadtdirektors der Stadt Essen vom 21) Stadt Essen, Amt für Statistik und „Katholizismus, Vertriebenenproblematik und Amt für Entwicklungsplanung, Düsseldorf Wahlen (Hg.), Wahlen in Essen 1946-1976: Ostpolitik 1945-1972“. 1974 (Untersuchungen zur Stadtentwicklung Informationen, Zahlen, Karten und Tabellen, 16), 15; allgemein zu den sozialen Folgen Essen 1979 (Statistisches Sonderheft 1/1979), der Bergbaukrise: Sabine Voßkamp, Der 2. soziale Wandel im Stadtkreis Essen vor dem 22) Zu den Ergebnissen auf KVR-Ebene vgl. Hintergrund der Kohlenkrise 1958-1969, die Graphiken in Rainer Bovermann, Wahlen Magisterarbeit Essen 2001. im Ruhrgebiet in vergleichender Perspektive, 6) Vgl. Ernst Rechmann, Die Wirtschaft in in: Rainer Bovermann / Stefan Goch / Heinz- Essen. Entwicklung, Struktur, Vergleich, hg. Jürgen Priamus (Hg.), Das Ruhrgebiet – Ein vom Amt für Statistik und Wahlen, Essen starkes Stück Nordrhein-Westfalen. Politik in 1973, 26; SPD-Ratsfraktion Essen (Hg.), der Region 1946-1996, Essen 1996, 336-354, Wirtschaftspolitik in Essen, Essen o. J. [1976], hier: 339, 341 sowie 344. 79. 23) Vgl. Wolfgang Jäger, Lohn der 7) Stadt Essen, Volks-, Berufs- und Mühen: Einheitsgewerkschaft und Arbeitstättenzählung 1970, Heft 1, 76ff.; Montanmitbestimmung, in: Peter Friede- Wibera-Untersuchung zur Erstellung mann / Gustav Seebold (Hg.), Struktureller eines Struktur- und Entwicklungsplanes, Wandel und kulturelles Leben. Politische Tabellenband, 18. Kultur in Bochum 1860-1990, Essen 8) Rechmann, Wirtschaft in Essen, 7. 1992, 363-374; Stefan Goch, Endogene 9) Zu den zitierten Zahlen und Berechnungen Potentiale einer Region: Bewältigung von vgl. Voßkamp, Der soziale Wandel, 60ff. Strukturwandel und Strukturpolitik im 10) Vgl. Verwaltungsbericht der Stadt Essen Ruhrgebiet, Bochum 1999 (Ruhruniversität 1969-72, 37-39. Bochum, Habil.). 11) Berechnet nach Handbuch der Essener 24) Vgl. Karl Lauschke, Schwarze Fahnen Statistik 1960 bis 1964, 26 und Handbuch der an der Ruhr. Die Politik der IG Bergbau Essener Statistik 1965 bis 1969, 29. und Energie während der Kohlenkrise 1958- 12) Berechnet nach Stadt Essen (Hg.), Volks-, 1968, Marburg 1984; ders, „...nicht mehr nur Berufs- und Arbeitsstättenzählung 1970, die Partei der Kleinen Leute, sondern die 51-75. Partei der Wirtschaftsumgestaltung“. Der 13) Der Begriff ist von M. Rainer Lepsius Wiederaufbau der SPD im Bezirk Westliches geprägt worden; vgl. ders., Parteiensystem Westfalen, in: Bernd Faulenbach und Günther und Sozialstruktur. Zum Problem der Högl (Hg.), Eine Partei in ihrer Region. Zur Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, Geschichte der SPD im westlichen Westfalen, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Die deutschen Essen 2 1988, 135-141; Christoph Nonn, Die Parteien vor 1918, Köln 1973, 56-80. Zu Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und den Möglichkeiten seiner Verwendung Politik 1958-1969, Göttingen 2001. zuletzt Klaus Tenfelde, Historische Milieus – Erblichkeit und Konkurrenz, in: Manfred Hettling / Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland in Deutschland, Die Autoren München 1996, S. 247-268; und Wilfried Loth, Milieus oder Milieu? Konzeptionelle Wilfried Loth studierte Germanistik, Überlegungen zur Katholizismusforschung, Geschichte, Philosophie und in: Othmar Haberl / Tobias Korenke (Hg.), Erziehungswissenschaften in Saarbrücken. Politische Deutungskulturen. Festschrift für Nach Staatsexamen, Promotion und Karl Rohe, Baden-Baden 1999, 123-136. Habilitation wurde er 1984 auf eine Professur 14) Vgl. Katholische Arbeiterbewegung in der für Politische Wissenschaften an die Freie Stadt Essen, Geschäftsberichte 1961-67, o. O. Universität Berlin berufen. 1985 folgte 15) Ursula Boos-Nünning / Egon der Ruf auf eine Professur für Politische Golomb, Religiöses Verhalten im Wandel. Wissenschaften an der Universität Münster. 44 ESSENER UNIKATE 19/2002 45 Wolfgang Burghardt. Foto: André Zelck Wolfgang 44 ESSENER UNIKATE 19/2002 45

Insgesamt sind die neuen Böden der Ruhrstädte durch zwei Merkmale gekennzeichnet, die in der ursprünglichen Lößlandschaft nicht zu finden waren. Es ist der hohe Steingehalt und der Gehalt an freiem Kalk der Böden. Die Böden der Lößlandschaft waren dagegen steinfrei und schwach sauer. Mit der Entstehung der Städte wandelte sich somit die Bodenlandschaft und bekam den Charakter von Mittelgebirgsböden. In der Forschung sind die Konsequenzen, besonders der Steingehalte, bisher kaum bearbeitet worden. Für ‚steinreiche‘ Städte gibt es in der Forschung noch viel zu tun.

Zwischen Puszta und Tropen

Böden an der Ruhr Von Wolfgang Burghardt

ie braunen Auenböden des der Umwelt der Böden. Das heißt, der Herausbildung der Kulturland- DRuhrtals werden beidseitig Böden sind ein Ergebnis des Zusam- schaft maßgebender Faktor. Um des Flusses von Parabraunerden menwirkens von Gestein, Vegetation die Ernährung der Bevölkerung zu gesäumt. Nach Norden zur Emscher und Fauna, Klima, Relief und Wasser sichern, hat er in Böden derart ein- hin folgen Pseudogleye als Stauwas- nahe der Erdoberfläche. Diese Fak- gegriffen, dass die in ihnen innewoh- serböden. In den Tälern treten die toren der Bodenbildung lösen Pro- nende Fruchtbarkeit nutzbar und vom Grundwasser geprägten Gleye zesse aus, die zu neuen Merkmalen, nachhaltig gesichert wurde. Nach- auf. Die Gleye sind teilweise Relikte, den Bodenmerkmalen führen. Dies haltigkeit war schon im Denken der da das Grundwasser häufig abge- wurde als Kausalkette der Pedo- landwirtschaftlichen Bodennutzung senkt wurde. Im nördlichen Ruhrge- (Boden)genese bezeichnet. des 19. Jahrhunderts ein fest veran- biet nehmen die Flächenanteile der Böden als Körper an der Grenze kertes Ziel und als solches formu- Gleye zu. zwischen der Lithosphäre, Hydro- liert1. Dieser natürliche Bodenbestand sphäre, Biosphäre und Atmosphäre Als Instrumentarium wurde die wurde nun durch Siedlungstätigkeit, sind zugleich Träger allen Lebens, Landeskultur2 entwickelt, die einer- Industrie und Bergbau überprägt der Produzenten, Konsumenten und seits in die Landnahme, ländliche und teilweise ersetzt. Alte Boden- Reduzenten, und somit Ökokom- Siedlungstätigkeit, Landverteilung, landschaften sind so neu gestaltet ponenten. Böden sind aber auch Flächennutzung und den Flächen- worden. Der folgende Beitrag wird Funktionsträger zum Erhalt und zuschnitt eingriff, andererseits als dies an Beispielen zeigen. Schutz der Anthroposphäre, was Technik des Eingriffs in den Boden besonders in der Bodenschutzgesetz- die Kulturtechnik schuf. Mittel der Die Rolle des Menschen bei der gebung zum Ausdruck kommt, die Kulturtechnik waren schon damals Entstehung von Böden die Bodenfunktionen schützt. Dieser Erosionsschutz, Entwässerung, Zusammenhang ist in der Kausal- Bewässerung, Meliorationskalkung, Zum Verständnis der Böden ist es kette der Bodengenese, Ökokompo- Meliorationsdüngung, Tieflockerung wichtig zu wissen, dass Böden nicht nenten und Bodenfunktionen und Tiefpflügen. Der vorhandene von vornherein vorhanden sind. Sie (Abb. 1) dargestellt. Bodenbestand blieb in der Kultur- bilden sich aus dem Gestein, das die Die Kausalkette muss heute um landschaft erhalten, jedoch die Kom- Bodenkunde als Substrat bezeich- die Wirkung des Menschen erweitert bination der Faktoren der Bodenent- net, allmählich unter dem Einfluss werden. Der Mensch war schon bei wicklung wurde neu formiert. Die 46 ESSENER UNIKATE 19/2002 47

Boden als 1. Faktoren 1.1 Faktoren der 1.2 Entstehung anthropogen Ökokomponente natürlichen Landschaft geprägter Faktoren

- Gestein durch Flächennutzung bzw. - Relief - Stoff- und Energieimporte - Wasser - technikgeprägte Objekte - Klima - Stadtplanung - Vegetation - Umsetzung von Technologien 2. Prozesse der Bodenbildung - Fauna - politisch, ökonomisch, verändern Eigenschaften und - Zeit administrativ etc. begründete damit Entscheidungsprozesse - Gesetze, Standards, Richt- und Grenzwerte etc. 3. Potenziale und Qualität Verknüpfungsebene - Nutzungseignung - zur Erfüllung von Funktionen

4. Kritische Einträge, 5. Grundschema der Kompartimente / Zustandsgrößen kritische Eingriffe

- Versiegelung Funktionen unzureichend Prozesse im Boden - Stoffeintrag einschließlich oder überbeansprucht. - Transport Wasser Konsequenz: - Transformation Bodengefügeänderungen kritische Zustände (Umwandlung) - Erosion, Aushub

Kritische Austräge, Pfad zum Menschen und zu anderen Bestandteilen des Ökosystems

(1) Kausalkette der Entstehung, Merkmale, Funktionen, Qualität und kritischen Belastungen von Böden im urbanen Ökosystem. Quelle: W. Burghardt, 1996

Vielfalt, die wir als Kulturlandschaft Ökokomponenten und Pedo- an Potenzialen zur Landschaftsent- kennen und schätzen, ist eine Folge (Boden-)funktionen um die Wirkung wicklung. Sie werden nicht wahrge- des Eingriffs in den Boden. des modernen Menschen zu erwei- nommen, da Böden unsichtbar sind. Die Urbanisierung und Indus- tern3 (Abb. 1). Böden sind daher stark gefährdet, trialisierung kann als Fortsetzung An der Ruhr haben die Böden von uniformen Konzepten der und Steigerung der anthropogenen diesen Prozess der Anthropedoge- Flächengestaltung übersehen und Einflussnahme auf Böden gese- nese auf großer Fläche durchlaufen, beseitigt zu werden. Dies steht im hen werden. Böden werden nicht dafür jedoch selten in der Intensität Gegensatz zum Aufruf der Euro- nur trocken gelegt oder bei Bedarf stark verdichteter Städte. Die Beson- päischen Union zur Verbesserung bewässert, sondern auch durch derheiten wie auch die Großartigkeit der Lebensqualität in den Städten Gesteine natürlichen oder technoge- der Ruhrgebietsbodenlandschaft Europas4. Bodenmanagement auf nen Ursprungs ergänzt, überdeckt liegen in den noch vorhandenen Flä- der Basis einer gründlichen Kenntnis oder ersetzt und werden damit chen der Schwerindustrie und des von Böden ist ein wesentlicher Bei- zurück in einen Ausgangszustand Bergbaues. In den Unterschieden zu trag dazu. einer Bodenentwicklung gebracht. den teils noch natur- und kulturland- Mein Anliegen ist es daher, auf Böden bekommen auch eine neue schaftlich, überwiegend jedoch von die vielfältigen Bodenbestände an der Umwelt in Form von Bauten und der Landwirtschaft produktions- Ruhr aufmerksam zu machen, einen vielfältigsten Typen der Flächen- landschaftlich geprägten Böden des Beitrag für ihren Erhalt in Rahmen nutzung, was so in der natürlichen Umlandes wie auch zwischen den der Dynamik der Stadtentwicklung Umwelt nicht auftritt. Entsprechend städtisch-industriellen-montanen zu leisten und alle zu ermutigen, in ist die Kausalkette der Pedogenese, Flächen liegt ein großer Reichtum dieser Richtung zu wirken. Wir soll- 46 ESSENER UNIKATE 19/2002 47

ten nicht vergessen, die Entwicklung Nutzung PH-Wert n Pflanzenverfügbarer P-Gehalt n Angaben in mg P O /kg Boden der Kulturlandschaft erfolgte über 2 5 den Boden. In Stadtlandschaften Wald Ah, e 2,8-3,3 28 4-39 10 verläuft dies ähnlich. Wir sollten sehr stark sauer sehr gering unser Wissen über die Rolle der Grünland Ah 4,2-5,2 7 70-240 4 Böden schnellstens erweitern. Der stark sauer gering bis mittel Beitrag der Stadtbodenlandschaft zur Acker Ap 5,3-6,7 7 160-460 4 übrigen Bodenwelt sollte nicht über- mäßig sauer bis hoch bis sehr hoch sehen werden. neutral

Schokoladenböden an der Ruhr (2) Bodenmerkmale der Bodennutzungsformen Waldbau, Grünland und Ackerbau.

Vor mir liegen die Bodenkarten tum im südlichen Ruhrgebiet und Haushoch ist der gewaltige Abbruch. L4706, L4506, L4508, L45105 des in den Gemeinden des Bergischen Der Schlamm umspült angrenzende Ruhrgebietes: am Westrand sind Landes vernichtet sie. Damit ver- Häuser und deckt Gärten zu. vielfarbig und kleinflächig wech- schwindet äußerst wertvolles Acker- Die Erosion hatte nicht nur selnd die Terrassenlandschaften von land. Auch wenn wir heute nicht den Ackerbauer, sondern auch die Rhein und Ruhr dargestellt. Nach dringend darauf angewiesen sind, Wohnbevölkerung ereilt. Bisher Osten hin deckt die Kartenblätter so sollte nicht vergessen werden, kennen wir solche extremen Ereig- ein einheitliches Dunkelbraun ab, dass die Weltbevölkerung wächst. nisse von Hangabbrüchen aus Pres- eine Farbe wie von Schokolade. Und Wir leben in einer der produktivsten semeldungen aus Italien, Frankreich diese Böden sind tatsächlich vom landwirtschaftlichen Zonen der Welt, oder Spanien. Doch unsere Städte Besten. Äußerst ertragsreich sind von der wir viele Menschen ernähren dehnen sich immer mehr in die land- sie heute mit Weizen, Wintergerste, können und möglicherweise eines wirtschaftlichen Gebiete und damit Zuckerrüben und Raps bestellt, alles Tages auch ernähren müssen. in Flächen mit Erosionsneigung aus. gute Marktfrüchte. Auch ein zweiter Aspekt unge- Erosionsforschung am Siedlungsrand Es sind Parabraunerden auf Löß, hemmten Städtewachstums sollte wurde zum wichtigen Thema des die eine zusammenhängende Boden- nicht übersehen werden. Das groß- Bodenschutzes in Essen. Hiller6 ent- decke bilden. Der Löß entstand flächige Vorkommen der Parabraun- wickelt dazu Strategien der Flächen- aus Ablagerungen von Stäuben, erde auf Löß prägt die Landschaft an nutzung und Flächengestaltung. Die die einst aus Flächen am Niederr- der Ruhr und damit die Beziehung Ansammlung großer Wassermen- hein ausgeblasen wurden, d. h. zu und Bindungen der Bevölkerung zu gen und ihr erodierender Abfluss Kaltzeiten ohne bodenschützende ihrem Wohnort, ihrem Zuhause. Die über lange Felder soll unterbunden Vegetationsdecke. Die Stäube beste- Ruhrbevölkerung trifft dies beson- werden. Ebenso sind bei Baumaß- hen aus Schluff, einer Korngröße, ders, da sie, obgleich einmal einge- nahmen Hanganschitte zur Flächen- die zwischen dem gröberen Sand wandert, sehr bodenständig ist. gestaltung zu unterlassen. und dem feineren Ton liegt. Locker Die heutige Bundes- und Lan- abgelagerter Schluff ist leicht und Geißel der Böden: Erosion desbodenschutzgesetzgebung tief durchwurzelbar, weist sehr gute fordern den Schutz von Böden Speichereigenschaften für pflanzen- Über 400 Meter erstreckt sich vor Erosion. So verbleibt der mit nutzbares Wasser auf und ist reich an das Feld. Es ist Anfang Sommer 1985 Humus und Nährstoffen angerei- Nährstoffen für die Pflanzen. Folgt in Hösel. Zuckerrüben in langen cherte Oberboden als bester Teil des man der Bodenbewertung nach dem Reihen am flach geneigten Hang Bodens auf dem Acker. Bäche und Punktesystems der Reichsboden- bringen gerade ihre ersten Blätter Wasserrückhaltebecken werden nicht schätzung, in der 100 Punkte den ans Licht. Neues Leben beginnt auf durch Bodenteilchen verschlammt. ertragreichsten Boden kennzeichnen, dem Acker. Ein starkes Gewitter Die hohen Reinigungskosten werden dann erreichen die Parabrauner- entlädt seine Regenmassen. Fluten vermieden. Die oben beschriebene den auf Löß an der Ruhr 70 bis 78 stürzen in den Rillen zwischen den Gefährdung von Gärten und Sied- Bodenpunkte. Rüben herab und spülen den fein- lungen wird abgewendet. Diese guten Böden erstrecken sandigen Schluff des Bodens weg. Die Erosion der Parabraunerden sich von Mülheim bis nach Dort- Tiefe Furchen entstehen. Das Wasser aus Lößlehm ist keine neuzeitliche mund und weiter über die Landes- durchbricht die Zuckerrübenreihen, Erscheinung. Der Abbruch in Hösel grenze Nordrhein Westfalens hinaus. reißt Pflänzchen mit und überdeckt zeigt viele Erosionsablagerungen Es ist äußerst wichtig, die hohe Qua- andere mit Erdmassen. Am Ende des auch in größerer Tiefe. Die auf den lität dieser Böden wahrzunehmen, Feldes ist die Katastrophe perfekt. fruchtbaren Böden im Mittelalter denn ein ungehemmtes Städtewachs- Der durchweichte Hang reißt ab. betriebene Dreifelderwirtschaft 48 ESSENER UNIKATE 19/2002 49 schützte den Boden offensichtlich beeinflusst die Flächennutzung die zu verzeichnen ist. Die Pflugarbeit auch nicht vor Erosion. Wie alltäg- Bodeneigenschaften. Die sauren hat auf Äckern zur Ausbildung von lich Erosion war, spricht aus den Niederschläge führen im Wald bei Pflugsohlen geführt, einer besonde- Berichten älterer Landwirte, die im fehlenden Gegenmaßnahmen, d. h. ren Art der Bodenverdichtung direkt Herbst den Boden der letzte Pflug- ohne Kalkung zu einer einheitli- unter der lockeren Ackerkrume. furche am Unterhang auf den Wagen chen Bodenversauerung. Differen- Zunahmen der Rohdichten in 30 luden und am Oberhang wieder zierungen in ein Nebeneinander bis 40 Zentimetern Tiefe zeigen dies ausbrachten. Zum Erosionsschutz unterschiedlich saurer Waldböden deutlich (Abb. 3). wurden die Felder mit Mist abge- und damit in Lebensräume von Landwirtschaft ist heute im deckt, den es auf den heute viehlos Organismen mit unterschiedlichen wesentlichen ein Transportgewerbe. wirtschaftenden landwirtschaftlichen Ansprüchen an den Boden werden Sie agiert jedoch nicht auf Straßen, Betrieben nicht mehr gibt. aufgehoben zugunsten eines nur sondern auf Böden. Schwere Trak- noch stark sauren Bodenzustandes. toren und Maschinen verdichten Vor der Stadt: drei Kategorien Insgesamt wird das Bodenleben der den Boden. Lockere Böden sind uniformer Böden Waldböden stark zurückgedrängt. daher auf Äckern an der Ruhr selten Es fehlen Organismen, die die geworden. Die von Natur aus schon Unsere Böden der freien Land- Laubstreu in den Boden einarbeiten grobporenarmen Schluffe werden schaft wie auch in der Stadt sind und den Oberboden durchmischen. schlechter belüftet und vernässen in durch Nutzung verändert worden. Laub zersetzt sich nur noch auf der feuchten Jahreszeiten stärker. Ver- Was wir vor den Toren der Stadt Bodenoberfläche. Es entsteht Roh- nässung aber steigert die oben bereits antreffen, sind die Nutzungstypen humus. Im darunter liegenden Mine- beschriebene Erosionsgefahr.

0 Was im Ruhrtal landete

20 Im Winter kann man auch heute noch beobachten, wie Teile des 40 Ruhrtales überschwemmt werden. Nach Rückzug des Wassers sieht 60 man Schlammablagerungen auf den Oberflächen. Dies hat sich seit vielen Wald Jahrhunderten so vollzogen. Das Tiefen, cm Tiefen, 80 Grünland Ruhrtal ist auf diese Weise gewach- Acker sen und weist eine dicke Sediment- 100 schicht auf, aus der sich die braunen Auenböden entwickelten. 120 Die Braunfärbung weist auf Sedi- 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4 1,6 1,8 mente hin, die bereits einmal Boden Rohdichte, g/cm3 waren, d. h. wir haben das von den mit Parabraunerden bedeckten (3) Tiefenverteilungsmuster der Verdichtung von Böden auf Lößlehm bei Nutzung als Hängen aberodierte Oberbodenma- Wald, Grünland oder Acker. Quelle: W. Burghardt, 2001 terial vor uns. Was wir finden sind umgelagerte, während des Transpor- Wald, Grünland und Acker. Was ralboden setzt sich das Bodenma- tes in der Ruhr sortierte und eng mit deren Böden wesentlich unterschei- terial und bildet „plattiges“ Gefüge Humus und Ton vermischte Löß- det, sind der pH-Wert, der Nähr- aus, ein Phänomen der Bodenzer- lehme. stoffgehalt und die Verdichtung. störung, das im Wald auf Lößböden Wir finden jedoch noch mehr: Abbildung 2 fasst dies als Übersicht bisher unbekannt war. reichlich Schwermetalle. Ihr Vor- für die oberflächennahen Ah-, Auf dem Acker gibt es nur noch kommen ist jedoch überwiegend Ae- und Ap-Horizonte zusammen. nährstoffreiche, vor allem phos- kein Ergebnis der Industrialisierung Die pflanzenverfügbaren Phos- phatreiche Krumen. Organismen, die des Ruhrgebietes. Vielmehr sind phatgehalte machen die starken sich nur auf nährstoffarmen Böden zwei Quellen anzunehmen. Südlich Unterschiede der Nährstoffgehalte gegenüber ihren Konkurrenten im Bergischen Land treten Kalk- deutlich. Die Zunahme der Boden- behaupten können, finden keinen gesteine des Oberdevons auf. Sie verdichtung vom Wald zum Acker Platz mehr. Kalkung hat den pH- wurden zur Zeit des Kohlenkalkes ist in Abbildung 3 dargestellt. Wert angehoben, wobei hier ein grö- mit aufsteigenden heißen Wässern Wie diese Beispiele zeigen, ßere Spannbreite der pH-Werte noch durchzogen, die Schwermetalle in 48 ESSENER UNIKATE 19/2002 49

0

20

40

60 OS % Fe g/kg*100 Cd mg/kg*10

Tiefen, cm Tiefen, 80 pH Pb mg/kg (CaCl2) 100 Cu mg/kg Zn mg/kg Ni mg/kg 120 0 3 6 9 12 0 200 400 600 800 1000 0 1000 2000 3000 pH, OS, % Cd, Cu, Pb, Fe, Ni Zn, mg/kg

(5) Tiefenverteilung von pH-Wert, Humus (OS) und der Schwermetalle Eisen, Cadmium, Blei, Kupfer, Nickel, Zink in einem Ruhrauenboden.

den Kalken ablagerten. An einigen Die Schwermetalle aus dem zurück, was ihnen zufließt, sie sind wenigen Gebieten kommen die Kohlenkalk bildeten auch Erzlager- die Abfalldeponie der Natur. Die Kalke an die Oberfläche und ver- stätten. Bleibergwerke südlich der starke Anhäufung von Schwermetal- witterten. Aus den verbleibenden Ruhr trennten an den Bächen mit len in den Auenböden ist somit nicht silikatischen Restbestandteilen ent- Pochhämmern das Bleierz von dem nur ein Indiz für starke Liefergebiete standene Böden sind Rendzinen. In Gestein. Über die Bäche gelangten so im Einzugsbereich der Ruhr, son- diesen wurden die Schwermetalle ebenfalls Schwermetalle in die Ruhr, dern auch Ausdruck für ein starkes um etwa das 5-Fache aufkonzen- wurden mit dem erodierten Boden Rückhaltevermögen der Auenbö- triert. An Hängen wurden diese innig vermischt und abgelagert. den und damit Schutz von anderen Böden teilweise umgelagert und mit Abbildung 5 zeigt die Metallgehalte Gebieten. Lößlehm vermischt. Nach Rodung in diesen Böden. der Wälder brachte die Erosion den Auenböden sind häufig nass, vor Das kulturelle Bodenerbe der schwermetallhaltigen Boden in die allem die von der Ruhr entfernteren Einwanderer: Hortisole Ruhraue. und daher schlechter entwässerten Talflächen. Nässe führt zur Ver- Die Bohnenstangen ragen zum sumpfung und damit zur verstärkten Himmel. Türkische Bergleute bauen Anreicherung von Humus. In den ihr liebstes Gemüse an: Fassou- Ruhrauen sind häufig Böden mit lie. Aber schon zuvor haben alle Abfolgen mehrerer Humusschichten Generationen von Bergarbeitern, zu finden (OS in Abb. 4), die deut- die in das Ruhrgebiet strömten, lich den Wechsel von Bodenbildung sich der Kultivierung ihrer Gärten und Überschwemmung und damit zugewandt. Deutliche Zeugen Sedimentablagerung zeigen. Im dafür sind hinter den Häusern jeder Humus ist das von den Pflanzen aus Bergarbeitersiedlung zu sehen. Die

der Atmosphäre entnommene CO2 humose Bodenkrume ist nicht 20 langfristig gespeichert. Auen sind oder 30 Zentimeter tief. Sie erreicht somit als Feuchtgebiete wichtige 40, 50 manchmal auch 100 Zenti-

CO2-Senken. meter Mächtigkeit. Ein Dokument Humus (OS) ist jedoch auch ein unsäglichen Fleißes von 40 bis über Material, das Schwermetalle stark an 100 Jahren liegt vor uns. Dies ist ein sich bindet. Im extremen Umfang Ergebnis der Kompostwirtschaft, die tritt dies dort auf, wo in Talsenken zu einem allmählichen Anwachsen und Altarmen sich Niedermoore dieser mächtigen Humushorizonte (4) Humusschichten in der Ruhraue. bilden konnten. Sie halten alles führte. Es ist zugleich das wohl 50 ESSENER UNIKATE 19/2002 51 bedeutendste sozialhistorische Die Beispiele zeigen, dass viele hängig von der Bahnnutzung auf Dokument der Einwanderer und der Stadtböden einen deutlich Industriegeländen entstanden war. ihrer Lebensweise, das uns in Form höhere Kohlenstoffmenge gespei- Um aus dem Einfluss von feuchten dieser Gartenböden erhalten ist. chert haben als die Böden der freien und damit wenig tragfähigen Tal- Zugleich verlangt es nach Respekt Landschaft. Eine Ursache liegt in der böden herauszukommen und auch und Würdigung der Mühsal, unter Kompostwirtschaft, eine andere in einen Teil der industriellen Reststoffe der diese Böden entstanden, und der Überdeckung und Konservie- unterzubringen, waren unterschied- der Hoffnung, durch Steigerung der rung bereits mit Humus angereicher- liche Materialien abgelagert worden, Bodenfruchtbarkeit bessere Ernten ter Böden. die nun das Substrat eines neuen und damit Lebensbedingungen zu Die CO2-Speicherung erfolgt Bodens, eines Regosols waren. erzielen. noch durch einen weiteren Prozess. Die obersten Zentimeter enthiel- Die so entstandenen, als Horti- In der Stadt treffen wir häufig junge, ten inzwischen Humus (Ah-Hori- sole bezeichneten Böden übertreffen noch humusfreie Böden an. Der zont, Abb. 7, 8). Darunter folgten in ihrer Ertragsfähigkeit alle sonsti- Vorgang der natürlichen Humusan- Kesselaschen (yC1, yC2), die sich gen Böden. Sie sind eine Kostbarkeit. reicherung aus der Zersetzung der durch das durch Verwitterung frei- Sie sind heute jedoch stark in ihrem alljährlich anfallenden abgestorbenen gesetzte Eisen braun färbten. Der Bestand gefährdet. Sie müssen daher Blatt- und Stängelmasse zieht sich folgende Aschenhorizont ist schwarz dringend einen Schutzstatus erlan- in neuen, noch humusfreien Böden (yC3). Die Aschen von ungezähl- gen. über 20 bis 30 Jahre hin, bis ein End- ten Dampfmaschinen aus mehr als zustand erreicht ist. Auch hier liegt 100-jähriger Industrietätigkeit und

Stadtböden als CO2-Senke? eine Form der Humusanreicherung damit Energiebedarfs waren auch

und damit ein Beitrag zur CO2-Fest- hier deponiert worden. Ein blen- Das Beispiel der Hortisole zeigte legung in Böden vor, die charakteris- dend weißes Band folgte. Es waren schon, dass nicht nur in den feuchten tisch für Stadtgebiete ist. Kalklagen rätselhaften Ursprungs

Flächen der Ruhraue humusreiche (yC4). Vielleicht stammten sie von Böden auftreten, sondern auch in der Reihenschaltung der Schlämmen der Herstellung von Stadt selbst. Der Gedanke erscheint Bodenreaktoren Acetylen ab, das in großen Mengen faszinierend, dass in einer Zeit kaum zum Schweißen benötigt wurde. gehemmter Kohlendioxydemissi- Das verlassene Bahngelände war Erneut wechselten Lagen aus Kes- onen die Stadt selbst einen Beitrag von Holundergebüsch überzogen. selaschen (yC5, yC7), die aber nun zur Verringerung des CO2-Anstieges Halberwachsene hatten ihre Bretter- schwarz waren, und eine Kalklage leisten kann. Wir haben dazu die in bude als Rückzugsort in der Nach- (yC6). Ein dünnes Band aus Löß-

Wald-, Grünland-, Ackerböden und barschaft in die Wildnis gestellt. Am lehm (jC1) als natürliches Bodenma- verschiedenen Stadtböden bis einen Bahndamm hatten wir die Mög- terial und ein mächtiger Horizont

Meter Tiefe gespeicherten Kohlen- lichkeit, eine fast zwei Meter tiefe aus gebranntem Bergematerial (jC2) stoffmengen miteinander verglichen Profilwand anzulegen. Es zeigte sich schlossen sich an. Als unterstes (Abb. 6). ein Boden, wie er häufig und unab- wurde in unserem Bodenanschnitt

(jC3) Bergematerial sichtbar. Prof. Nutzung Bodentyp Substrat C-Menge kg/m2 Diese große Anzahl von schich- Nr. bis 0,5 m Tiefe bis 1 m Tiefe tig aufgetragenen Materialien führte

1 Buchenwald Braunerde Su3 9,4 11,1 zu einer Abfolge der unterschied-

2 Kiefernwald Podsol Su3 11,1 13,0 3 Grünland Parabraunerde Lu 8,3 9,5 lichsten Bodeneigenschaften wie 4 Acker Parabraunerde Lu 6,2 7,8 sie in der Natur kaum vorstellbar 5 Garten Hortisol Lu 20,5 27,8 6 Ruderalflächen Relikter Hortisol Lu 24,5 29,7 ist. Schon der pH-Wert zeigt ein 7 Garten Hortisol Lu 28,5 57,3 ungewohntes Bild. Oberflächennah 8 Garten Hortisol Slu 29,5 37,5 verläuft er wie erwartet. Die Boden- 9 Parkrasen Regosol Lu 7,3 13,8 10 Parkrasen Regosol Lu 7,4 21,9 reaktion steigt mit zunehmender 11 Parkrasen Regosol Lu 27,4 33,1 12 Friedhof Nekrosol Lu 24,7 39,1 Tiefe von mäßig sauer auf schwach 13 Grünanlage Regosol Klärschlamm-Lu 37,6 73,8 alkalisch an. Natürlich treten solche Gemenge alkalischen Böden im Ruhrgebiet 14 Grünanlage Regosol Lu über Ziegel- 11,1 12,1 grus kaum auf. Im Unterboden wird 15 Pferdeweide Regosol Lu - umgelagert 3,9 7,2 16 Ruderale Regosol Asche über tie- 3,9 4,8 der Boden wieder stark sauer, was Bahnfläche fem Bauschutt dem ansteigenden Verlauf in natür- lichen Böden nicht entspricht. Die (6) Merkmale der Böden und ihre Gesamtkohlenstoffmengen. Abnahme des pH-Wertes wird durch Quelle: W. Burghardt, 2001 das Bergematerial verursacht, dessen 50 ESSENER UNIKATE 19/2002 51

0 1 Ah

4 yC 1 Steine 40 5 yC 2 Vol. OS Fe Ton vol 6 yC3 Gew

80 7 yC4 8 yC5 Fe 9 yC pH m 120 6 Tiefe, cm Tiefe, 10 yC7 11 jC Carbo- 1 nate 160 12 jC2 13 jC 190 3

Horizont 0,8 1,6 25 75 10 30 2,5 7,5 5 7 25 75 40 120 10 30 kg/cdm % % % % g/kg g/cdm

(7) Tiefenverteilungsmuster der Bodeneigenschaften eines Regosols aus technogenen Substraten. Quelle: W. Burghardt et al. 1998

0 1 2 3 4 40 5 As Pb vol 6 vol Pb m 80 7 8 Cd Zn m Zn m vol Cd As Ni Ni 120 9 vol m m vol Tiefe, cm Tiefe, 10 11 160 12

13 190

500 1000 150 450 2 6 1 3 300 1200 300 600 50 100 15 30 20 60 10 30 mg/kg mg/cdm mg/kg mg/cdm mg/kg mg/cdm mg/kg mg/cdm mg/kg mg/cdm

(8) Tiefenverteilungsmuster der Schwermetalle Zink, Cadmium, Blei, Arsen und Nickel bezogen auf Feinbodenmasse (durchgezogene Linie) und Feinbodenvolumen eines Regosols aus technogenen Substraten (gestrichelte Linie).

Sulfide offensichtlich zu Schwefel- schriften8 nicht im gesamten Boden boden nicht nur sorbiert, sondern säure oxidiert waren. gemessen worden. Vielmehr waren bewegen sich auch im Feinboden Uns interessierten die Schwer- Kiese, Gruse und Steine, d. h. alles, mit dem Wasserstrom nach unten. metalle. Als Untersuchungsergebnis was größer als zwei Millimeter war, Wird die Feinbodenmenge durch erhielten wir einen eigentümlichen durch Sieben abgetrennt worden. Im Kies oder Ähnliches eingeschränkt, Wechsel von Steigen und Fallen ihrer verbleibenden Feinboden erfolgte dann muss es zu einer Zunahme der Gehalte mit zunehmender Tiefe. Was die Analyse der Metalle. Die Kiese, Konzentration der durch den Boden konnten die Ursachen sein? Gruse und Steine sind jedoch auf den transportierten Metalle kommen. Die Schwermetalle waren ent- Metallgehalt nicht ohne Wirkung, Wurden nun die Ergebnisse dahin- sprechend der üblichen Analysevor- denn die Metalle werden im Fein- gehend korrigiert, dass sie auf den in 52 ESSENER UNIKATE 19/2002 53 einem Liter vorkommenden Fein- Schichten ist komplex und ermög- selten über pH 7 hinausgehen, unbe- boden bezogen wurden, ergab sich licht unterschiedliche Eigenschaften kannt. Erst in Ungarn sind sie unter ein neues Tiefenverteilungsmuster und Funktionen der Böden. Eine der Bedingung der Salzalkaliboden- der Metalle. Dies berücksichtigte Bewertung setzt jedoch ein differen- bildung anzutreffen. auch, dass die Rohdichte (Volumen- ziertes Herangehen an diese Böden Trotz dieser gemeinsamen Merk- gewicht) der einzelnen Substrate voraus, was in der Praxis der Boden- male mit Böden der Puszta hatten unterschiedlich ist. Z. B. wiegt ein untersuchung, die in der Regel zur wir einen neuen Boden entdeckt, der Liter Lößlehmboden etwa 1,2 bis 1,5 Gefährdungsabschätzung erfolgt, zu sich auf Schlacken entwickelt und in Kilogramm und ein Liter Kessel- aufwendig erscheint. Auch aus der der Natur weltweit nicht vorkommt. asche etwa 0,7 bis 0,9 Kilogramm. Wissenschaft fehlen dazu genauere Die Montanindustrie des Ruhrge- Das korrigierte Tiefenvertei- Untersuchungen in ausreichender bietes hat ihren eigenen Boden und lungsmuster zeigte nun deutlich, Anzahl. darin eine Synthese aus industriellem dass in den einzelnen Schichten Reststoff und natürlicher Bodenent- die Schwermetalle unterschiedlich Mischung aus Puszta und Tropen wicklung hervorgebracht. angereichert wurden. Die Anreiche- Wie kam es dazu? Die Calci- rung war dabei nicht für alle Metalle Es war ziemlich mühselig für umsilikate der Schlacken setzen einheitlich. Vielmehr bestanden das junge Studentenpärchen in den Calcium frei, das mit dem Luftsau- in den Substraten Präferenzen für harten Schlackenboden vorzudrin- erstoff zu Calciumoxid oxidiert, bestimmte Metalle. Im Bodenprofil folgten somit mehrere Schichten mit CaCO3 Kruste spezifischen Eigenschaften zur Filte- 0 rung bestimmter Schwermetalle. Der Ca/ Boden bestand somit aus Schichten, 10 löslich CaCO3 die wie in Reihe geschaltete Reakto- ren Schadstoffe herausfilterten und 20 das Sickerwasser reinigten. pH Von oben nach unten folgend 30 Ca/K

wurden zunächst Schwermetalle Tiefe, cm Tiefe, im Oberboden zurückgehalten. Dies ist auf den Humus zurück- 40 zuführen. Die Wirkung war nur schwach ausgeprägt, da der niedrige 50 pH-Wert Metalle wie Zink und 0 3 6 9 12 15 18 21 24 Cadmium in Lösung brachte. In PH, CaCO , %, Ca/KW, %, Ca/löslich, g/kg der ersten Aschenschicht steigt der 3 Nickel- und der Eisengehalt an. (9) Tiefenverteilungsmuster von pH-Wert, CaCO -Gehalt, in Königswasser Eisen bindet andere Metalle, beson- 3 löslichem Ca-Gehalt (Ca/KW) und im 1:5 Boden-Wasserauszug löslichem Ca. ders aber Arsen und Nickel. Ein erneuter Anstieg der Eisengehalte im Unterboden zeigte diese Wirkung gen. Unter einer dünnen, relativ welches dann mit Wasser Kalklauge auch auf Arsen. Zur deutlichsten lockeren Staubschicht an der Ober- entstehen lässt. Die Kalklauge weist Anreicherung kam es aber im Kalk. fläche lag eine feste Kruste. Darun- den oben angeführten hohen pH- Hier wurden wahrscheinlich die aus ter folgten Schlackenstücke und in Wert auf. An der Bodenoberfläche dem Bahnbetrieb und den übrigen etwa 50 Zentimetern Tiefe eine nicht tritt Kohlendioxyd der Luft in den Immissionen stammenden Metalle näher definierbare dunkle Masse an Boden ein und verbindet sich mit ausgeschieden. Auch in der zweiten feinkörnigem Substrat. In etwa 40 der Kalklauge zu Calciumcarbonat, Kalkschicht war dies deutlich fest- Zentimetern Tiefe trat freies Wasser das als harte Kruste (Abb. 9) aus- stellbar, wenngleich die angetrof- im Boden auf. fällt. Der pH-Wert sinkt. Auf diese fenen Metallmengen nicht so hoch Was machte den Boden trotz so Weise entsteht der als Carbonatosol waren, da eine Zufuhr aus Immissio- großer Mühe so interessant? Der bezeichnete neue Boden. nen wohl nicht mehr erfolgte. Boden war extrem alkalisch. Es Aus den Tropen ist bekannt, dass Dieses Beispiel zeigt deutlich, traten pH-Werte von 9 bis 10 auf, bei hohen pH-Werten Kieselsäure wie in geschichteten Industrieböden in den Pfützen der Senken sogar zunehmend gelöst und bei starken eine Vielfalt von Bodeneigenschaften pH-Werte von 10,3 bis 12,3. Solche Niederschlägen aus dem Boden miteinander verbunden sein können. extremen pH-Werte sind in den abgeführt wird. Warum sollten Das Zusammenspiel der einzelnen natürlichen Böden Mitteleuropas, die wir dieses Phänomen nicht auch in 52 ESSENER UNIKATE 19/2002 53

unserem Schlackenboden finden? sind. Auf dem Bahnschotter können gelung auseinandersetzen. Vielmehr Tatsächlich war der Boden reich an daher kaum Pflanzen wachsen. In muss den Bodenkundler auch die Kieselsäure. Darüber hinaus kam es den Hohlräumen fängt sich jedoch Frage bewegen, sind Straßen Böden zur Entstehung von Zeolithen9 und der Staub. Er wird eingewaschen. In oder haben wir es mit Nichtböden somit zu bei uns unbekannten Mine- Laufe vieler Jahre werden die Hohl- zu tun? Treten bei Straßen Vorgänge ralneubildungen, die sonst in den räume soweit aufgefüllt, dass Pflan- der Bodenbildung auf? Wie kann ich Tropen zu finden sind. Unter dem zen wachsen können. Durch die in ein Konzept der urbanen Boden- kühlen und feuchten Himmel des Staubakkumulation hat sich somit bestände und Bodenlandschaften Ruhrgebietes hatte sich ein Boden ein neuer Boden, ein Partikelintru- Straßen einfügen? Dieses Thema ist aus etwas Puszta und etwas Tropen sol, gebildet. sicher nicht ruhrgebietsspezifisch. eingefunden, unscheinbar, kaum Partikelintrusole sind sehr steinig Es ist hier im Ruhrgebiet zum ersten bewachsen, aber bereits stark entwi- und enthalten daher nur wenig, aller- Mal bearbeitet worden. Die Umge- ckelt. dings sehr lockeren Feinboden. Für staltung der Ruhrgebietslandschaft die Vegetation bedeutet dies, dass ist mit einem Rückbau mancher Bahnanlagen: Intrusole nicht hier ein Angebot für anspruchslose Straße verbunden, was die Frage weg-, sondern einplanen! und trockenheitsverträgliche Pflan- nach den Merkmalen und der Bedeu- zenarten vorliegt. Damit bilden Par- tung der verlassenen Straßenflächen Alte Industrielandschaften sind tikelintrusole einen Kontrast zu den als Boden aufwirft. auch Bahnlandschaften. Entspre- vorwiegend aus Feinboden bestehen- Ich möchte zunächst an den chend häufig durchziehen Bahn- den Oberböden der Stadt. Abschnitt über die Böden verlasse- dämme das Ruhrgebiet und nehmen Die Aschen der Begleitwege sind ner Bahnanlagen anknüpfen. Gerade Rangierbahnhöfe große Flächen verdichtet. Sie sind daher schwer im Ruhrgebiet gibt es unzählige ein. Doch diese sehr reizvollen Teile durchwurzelbar. Nicht nur die Ver- nicht genutzte Industrieflächen, in einer vergangenen Industriekultur dichtung, sondern auch der hohe denen auch entsprechend nicht mehr drohen zu verschwinden. Blieben sie Scherwiderstand der scharfkantigen genutzte Straßen liegen. Wer diese erhalten, dann jedoch nur in einer Aschen behindert die Durchwurze- Flächen aufsucht, der ist von dem stark durch landschaftsgärtnerische lung. Diese Aschen weisen zunächst zartgrünen Farbenspiel der sich von Planung überprägten und umgestal- Moosbedeckung auf, die Stäube den Rändern über die Straße aus- teten Form. Es fehlt offensichtlich fängt. Erst der durch Staubablage- breitenden Moosdecken überrascht der Mut, Stücke dieser Flächen mit rungen entstandene Bodenhorizont und begeistert. Wie schottische ihren Schienen liegen zu lassen und ermöglicht eine Entwicklung der Moore über den Fels als Blanket der völligen natürlichen Entwick- Vegetation. Auf den Bahnanlagen Moss ziehen, breiten Moose über lung auszusetzen. Solche Elemente liegt somit ein weiterer Bodentyp den harten Asphalt ihre Decke aus. lassen sich auch kleinflächig in vor, der sehr flachgründig und tro- Für einen Bodenkundler, der ja sein Parks, aber auch in Grünstreifen von cken ist. Er ist als Bodentyp in die Objekt Boden hauptsächlich über Wohn-, Gewerbe- und Einkaufsge- Gruppe der Regosole einzuordnen. das Auge erfasst und somit visuell bieten einfügen. ausgerichtet ist, sind diese Flächen Was macht diese Restflächen Straßen und Gehwege als etwas Wunderbares. der Bahnnutzung so interessant? Boden: Syroseme, Reduktosole, Die Natur erobert somit auch Bahnanlagen bestehen aus zwei lini- Minidünen, Dialeimmasol ohne Rückbaumaßnahmen verlas- enhaft nebeneinander auftretenden sene und damit nicht mehr genutzte Substratschichtungen: der Schotter- Zur Stadt gehören Straßen. Sie und gepflegte Straßenflächen und lage unter den Gleisen und den aus finden als Quelle für Schadstoffe integriert sie in eine landschaftliche Aschen bestehenden Begleitwegen. und als Versiegelungsbauwerke in Entwicklung, deren Faktoren noch Unter dem 20 bis 30 Zentimeter der Umweltdiskussion Beachtung. vom Menschen geprägt wurden, mächtigem Schotter können natürli- Bodenversiegelung ist zur Zeit eines deren Prozesse jedoch natürlichen che Bodenbildungen oder, was häufi- der gravierendsten Probleme. Sor- Gesetzmäßigkeiten unterliegen. ger im Ruhrgebiet zu finden ist, Auf- genvoll wird die Frage gestellt: ist die Was lehrt uns dieses Beispiel? schüttungen von Aschen, Schlacken, Landschaft zwischen Dortmund und In Nutzung befindliche Straßen Bergen, Bauschutt und Schlämmen Köln eines Tages vollständig zuge- stehen am Anfang einer Boden- vorliegen. baut? Wann wird dieses Schicksal entwicklung. Sie verharren dort, Interessant sind nun die Bahn- die gesamte Bundesrepublik ereilt solange der Mensch durch Nutzung schotter. Zwischen den Steinen haben? Insbesondere Straßen tragen jeden Ansatz von Bodenbildung des Schotters bestehen zunächst in starkem Umfang zur Versiegelung wegerodiert, sei es durch Befahren Hohlräume, die frei von Feinboden bei. Ich möchte mich nun nicht mit oder durch Straßenreinigung. Das wie Ton, Lehm, Schluff oder Sand dem Flächenverbrauch durch Versie- Verharren in Initialstadien oder in 54 ESSENER UNIKATE 19/2002 55

Stadien schwacher Entwicklung und müsste, da kein Regen dorthin gelan- Gasleitungen annehmen. Eine andere geringer natürlicher Differenzierung, gen kann. Dies ist jedoch nicht der und wahrscheinlichere Ursache ist man mag es auch als Merkmal gerin- Fall. Aus hoch anstehendem Grund- der unzureichende Luftaustausch ger Reife ansehen, ist ein generelles wasser kann kapillar Wasser in den unter Straßen. Die durch Diffusion Merkmal von städtischen Ökosys- Boden aufsteigen. Aus tieferen zurückzulegenden Strecken sind zu temen. Bodenschichten und Grundwasser groß, um Sauerstoff, der von Boden- Folgt man dieser Sichtweise, kann Wasserdampf aufsteigen und organismen unter der Straße ver- so ergibt sich für Planer und Inge- unter der Straßendecke in kühlen braucht wird, nachzuliefern. Diese nieure, die sich dem Rückbau von Nächten kondensieren, wodurch Situation wird sich verschärfen, Straßen wie auch der Revitalisierung unter der Straße die Bodenfeuchte wenn unter der Straße der ehemalige von brachliegenden Industrieflächen im Bereich der Feldkapazität liegen humose Oberboden nicht vollstän- widmen, einen zum herkömmlichen wird. dig entfernt wurde und damit Orga- Rückbau alternativen Lösungsvor- Soweit unsere Annahme, als wir nismen einen hohen Sauerstoffbedarf schlag beim Umgang mit nicht mehr zum ersten Mal in die Leitungs- zur Zersetzung des Humus haben. gebrauchten Straßen: sie einfach der gräben hinabstiegen. Die Böden Straßen haben somit eindeutig Natur überlassen. Auch hier können waren zu unserer Überraschung viel Merkmale von Böden und sollten kleinere Restflächen in zu erstellen- feuchter. Aus der Profilwand trat unter bodenkundlichen Gesichts- den Parks, Gewerbe-, Einkaufs- und freies Wasser aus. Wir hatten unter punkten behandelt werden. Die Wohngebiete als Stadtnatur und der Straße einen Stauwasserboden aufgezeigten Phänomene sind für Stadt- und Industriekulturerbe inte- vor uns. Die Erklärung liegt in dem die menschliche Umwelt nicht griert werden. Aufbau des Straßenkörpers. Der ohne erhebliche Bedeutung. Es sind Welche Böden entstehen auf den natürlich anstehende Boden war jedoch die ersten bodenkundlichen Asphaltdecken? Die Moose fangen verdichtet. Darüber befand sich eine Annäherungsversuche an Straßen, Stäube auf. Die Stäube werden poröse Aschen- oder Schlacken- so dass die noch im Bereich der Spe- abgelagert und lassen Bodenhori- schicht. Über dem verdichtetem kulation liegenden Annahmen hier zonte heranwachsen. Bestehen die Boden staute sich das Wasser in der nicht weiter vertieft werden sollen. Horizonte überwiegend aus Humus, porösen Aschenlage. Das Wasser Wie schnell am Straßenrand oder so sind die Böden als Felshumusbö- war vermutlich am Straßenrand ver- auf Mittelstreifen zwischen Fahrbah- den zu bezeichnen, d. h. Böden die sickert und suchte sich seinen Weg nen Böden entstehen können, zeigen ihre Verbreitung in den Hochalpen durch den Straßenkörper. Vor uns kleine Dünenbildungen. Beispiels- haben. Baut sich der sich bildende lag somit ein von einer Asphaltdecke weise dort, wo die Straßenreinigung Bodenhorizont überwiegend aus abgeschlossener Stauwasserboden, nicht hinkommt, kann man inner- Mineralpartikel auf, so handelt es ein Pseudogley.11 halb eines Jahres auf gepflasterten sich um einen Syrosem, in diesem Wir wurden noch von einem oder geteerten Straßenmittelstreifen Fall nicht über einem Fels sondern zweiten Phänomen überrascht. Der Kleindünen von mehreren Dezi- über einer Asphaltdecke. natürliche Boden unter der Stra- metern Länge und drei bis acht Die Eigenschaft von Böden, als ßendecke wies nicht den normalen Zentimetern Höhe beobachten. Im Staubquelle einerseits und als Ort bräunlichen Farbton auf. Vielmehr Bereich stark befahrener Straßen der Staubablagerung andererseits zu war die Farbgebung blaugrau bis müssen daher hohe Mengen an Stäu- dienen, ist ein häufig zu beobach- türkis. Es traten Reduktionsfarben ben entstehen und bewegt werden. tendes Phänomen, das gerade bei auf. Die Messung des Redoxpo- Kleinflächig entstehen so als Locker- von Pflanzen schwer zu besiedelten tenzials ergab tatsächlich unter der syroseme bezeichnete Rohböden, die Böden eine Decke schafft, in der Straße einen Reduktionshorizont. meist auch bewachsen sind. Pflanzenentwicklung möglich wird. Die Tiefbauarbeiter bestätigten eine Die Straße ist ein Körper, der im Allerdings können hierbei auch weite Verbreitung dieser Redukti- Naturhaushalt der Stadt Stoff- und Bodenschadstoffe mit transportiert onshorizonte direkt unter dem Stra- Energieströme unterbricht, ablenkt werden10. ßenkörper. Wir waren somit auf eine und dabei Stoff- und Energiemengen Je nach Aufbau des Straßen- Variante des Bodentyps Reduktosol konzentriert.12 Zu welchen Ergeb- körpers werden auch durch die gestoßen. nissen dies unterhalb des Straßen- Straßendecke Pflanzen dringen und Reduktosole entstehen durch körpers führt, hatten wir bereits bei die Straßendecke in Bruchstücke Sauerstoffmangel, wobei dieser der Entstehung der Reduktosole auflösen, ein Vorgang der nach acht nicht durch die Verdrängung der betrachtet. Kleinräumig tritt dies bis zehn Jahren der Stilllegung der Bodenluft durch Wasser entsteht, auch bei Pflastersteinen und Geh- Straße beginnt. sondern andere Gase verdrängen die wegplatten auf. Ihr Merkmal ist Man ist geneigt, anzunehmen, Bodenluft. Unter Straßen kann man nun, dass je nach Art der Steine in dass es unter der Straße trocken sein dies durch Gasaustritt aus undichten Abständen von fünf bis 50 Zentime- 54 ESSENER UNIKATE 19/2002 55

tern ein Spalt auftritt, der mit Boden winnung, das Bergematerial. Es ist gematerial verringert. Böden auf gefüllt ist.13 Das Besondere ist nun, nicht nur der Stoff vieler Halden, Bergematerial verändern sich somit dass dort die auf den Stein fallenden sondern tritt unsichtbar als Schicht mit der Zeit und durchlaufen einen Niederschläge und Stäube konzen- vieler Industrieflächen, von Bahn- starken Entwicklungsprozess. triert werden und im Boden versi- dämmen und als Deich- und Stra- Als 1998 an der westlichen, zur ckern, bzw. in den Boden eingetra- ßenbaumaterial auf. Innenstadt zugewandten Seite des gen werden. Diese Spalten sind somit Was macht die Begrünung so Essener Hauptbahnhofes gebaut Zonen, in denen das 20fache und mühselig? Die Berge sind zunächst wurde, kamen unter den Gleisanla- mehr an Niederschlägen und Stäu- noch unverwittertes Tiefengestein gen mächtige Bergeschichten zum ben in den Boden eindringt als im und daher sehr steinhaltig. Dies hat Vorschein. Es waren warme und ungepflasterten Boden. Wir haben zur Folge, dass ihr Feinbodengehalt trocken Sommertage. Die Berge somit Böden mit den Merkmalen gering ist und sie daher einen tro- veränderten ihre Farbe. Sie wurden starker Akkumulation und Auswa- ckenen und nährstoffarmen Boden weiß. Mitten in Essen kam ein wei- schung vor uns. Tatsächlich stießen ergeben. Es fehlt nicht nur Stickstoff, teres Kapitel der Kohleentstehung wir unter den verschiedenen unter- sondern durch Verwitterung wird zum Vorschein. Die Sümpfe, aus suchten Beispielen auf Böden mit Eisen frei gesetzt, das zusätzlich denen später die Kohle wurde, waren starken, an der Bleichung des Bodens noch den Pflanzennährstoff Phos- Brackwassersümpfe und daher salz- erkennbaren Auswaschungshorizon- phat unlöslich festlegt. Der Begrü- haltig. Das Salz blühte nun am Esse- ten zwischen den Steinen. Erneut nung der Berge stellt sich noch ein ner Hauptbahnhof an den Anschnit- hatten wir in der Stadt einen Boden weiteres Merkmal in den Weg: Sie ten des Bergematerials aus. Die Salze vorgefunden, den wir in dieser Aus- sind eisensulfidhaltig. Sulfide reagie- lösen sich schnell im Regen und prägung in der Natur nicht kannten. ren als schwefelhaltige Verbindungen werden ausgewaschen. Am Hangfuß Wesentliches Merkmal war die regel- in den belüfteten oberflächennahen von Bergehalden können sie sich mäßige Unterbrechung der Boden- Bodenhorizonten mit dem Sauerstoff anreichern und zur Entstehung von decke durch Steine. der Luft, oxidieren und bilden so Salzböden führen. Wie jedes Kind muss auch jeder mit Wasser Schwefelsäure. Schwe- Der Variantenreichtum der Boden seinen Namen haben. Der felsäure ist eine starke Säure, die Böden auf Bergehalden wird nicht heutigen Tendenz folgend sollte dazu führt, dass das Bergematerial nur durch die Eigenschaften der er altgriechisch sein. Wie kommt versauert. Es entstehen somit Sulfo- Berge bestimmt. Auch der Mensch man zu einem altgriechischen sole als schwefelsaure Böden, die als hat ihnen viele Eigenschaften mit- Namen? Wer kann Altgriechisch? natürliche Böden in der Region nicht gegeben. Ältere bergmännische Ver- Eine gute Universität hat alles; vorkommen. Böden mit ähnlich fahren konnten die Feinkohle nur auch Theologen. Bei einem Anruf niedrigen pH-Werten sind vereinzelt sehr unvollständig von dem Gestein bei meinem Kollegen aus der in den Marschen oder in den Tropen trennen. Älteres Bergematerial weist Theologie der Universität Essen bei Reisböden, den Paddy Soils zu daher einen hohen Restkohlegehalt kamen wir zu dem Ergebnis, dass finden. Der pH-Wert der Berge kann auf. Berge haben daher auch häufiger mein Boden ein Intervallboden ist, bis auf pH 3 absinken, d. h. auf einen gebrannt. Dabei ist der Schwefel in folglich musste er ein Dialeimmasol pH-Wert, bei dem Pflanzenwachs- den Bergen mit verbrannt, so dass sein. So hatte ich einen gut klingen- tum aufhört. an Stelle von stark sauren Sulfosolen den Namen und der Boden einen Alte, d. h. 40-, 50-jährige und sich als Böden Regosole mit pH- echten Taufpaten. ältere Berge sind dennoch begrünt. Werten um 5,2 entwickelten. Ist alles Sulfid in Schwefelsäure Berge umgewandelt, dann wird die Schwe- Zu guter Letzt – steinreich felsäure mit der Zeit ausgewaschen. und Erde wie Brotscheiben Wer in das Ruhrgebiet von Der pH-Wert steigt wieder an, nach Norden kommt, sieht sich wie von unserer Erfahrung auf etwa pH 4,0- Am Ende des Industriezeitalters einem Vorgebirge umgeben. Einst 4,3. Die Böden alter Bergehalden sind in den Städten an der Ruhr eine war es schwarz. Dann wurde es sind weiterhin dadurch in einem Vielzahl neuer Böden entstanden. Sie mühselig begrünt, bis auf die Fälle, besseren Zustand, dass das Gestein sind Dokumente der Entwicklung wo die Internationale Bauausstel- bereits stärker verwittert ist und der Mensch-Umweltbeziehung und lung Emscherpark entschied, dass damit ein höherer Feinbodengehalt Zeugen für die gewaltige Siedlungs- nackt und damit schwarz doch schön auftritt. Ein noch wesentlicherer und Wirtschaftsentwicklung des seien, wenn es nur in der richtigen Beitrag wird von der sich allmäh- Raumes. Die moderne Bodenschutz- Form dargeboten wird. Was wir vor lich entwickelnden Humusdecke gesetzgebung kennt die Funktion uns haben, sind Aufschüttungen des ausgehen, die die Abhängigkeit des des Bodens als Archiv. Sie hat dabei tauben Gesteins der Steinkohlege- Wachstums von Pflanzen vom Ber- an den Naturraum gedacht. Stadt- 56 ESSENER UNIKATE 19/2002 57 böden sind jedoch in gleicher Weise beitet worden.14 Für ‚steinreiche’ there are only three categories of Archive der jüngeren Landschafts- Städte gibt es in der Forschung noch homogenous soils left – forest, entwicklung, die verstärkt auch eine viel zu tun. grassland and arable land areas. Entwicklung der Stadtlandschaft Wie verläuft die derzeitige Ent- The high heavy metal content ist. Die Bewahrung der Böden vor wicklung? Ausgeprägt ist der Auf- of Braune Vega originates from Zerstörung aufgrund der Vorstellung trag von neuen Substraten, häufig metal mining in the hills of the von Archivfunktionen ist in Städ- von Lößlehm, auf Stadtflächen und Bergisches Land south of the river ten aus verschiedenen Gründen nur damit die Zuschüttung vorhande- Ruhr. The human factors in soil begrenzt umsetzbar. Die Bewahrung ner Böden, die zu fossilen Böden formation have increased further in eines Teiles der oben beschriebenen werden. Der Auftrag erfolgt mit recent times, with urbanisation and Bodenvielfalt sollte jedoch nicht schwersten Maschinen, so dass die industrialisation of the Ruhr Valley. völlig unbeachtet bleiben, sondern neuen Böden stark verdichtet sind.15 Some soils show the evidence of ihren Platz als Leitbild in der Stadt- Gräbt man sie auf, dann liegt vor socio-economic development, for planung finden. einem kein gut gekrümelter Boden. example the Hortisols of the miners’ Insgesamt sind die neuen Vielmehr ist der Boden zu Platten village gardens. They are testaments Böden der Ruhrstädte durch zwei gepresst worden, die so grob wie to the hard work of immigrants; Merkmale gekennzeichnet, die in Brotscheiben (Abb. 10) oder Ziegel- they are deep in accumulated humus steine sein können. and very fertile. They are currently Die starke Bodenverdichtung ist under threat of extinction and must

auch auf neu bebauten Flächen zu be protected. In a time of high CO2- beobachten. Die Städte erhalten so sequestration, it is of interest that zunehmend einheitlich und monoton these and many other urban soils are

verdichtete Oberböden. Folgen sind sinks for CO2. schlechte Durchwurzelbarkeit und Urban soils control the effects of geringe Wasserversickerung. Der pollution. Some urban and industrial vorhandene Bodenraum kann nicht soils are composed of layers of very genutzt werden. Das Leistungspo- diverse features. The soil layers tenzial der Stadtböden wird dadurch act as sequences of reactors, which eingeschränkt. Von der Erhaltung immobilise different pollutants. und Erstellung von Böden hoher Other soils are very acid. They occur Qualität sind wir weit entfernt. in park areas where acidification is not to be expected. Heavy metals are mobilised. Summary New soil combinations are in evidence, which do not occur in Soils are a product of their nature. We find Carbonatosols of environment and develop according the extreme alkaline slag and sludge to the factors active in it. The deposits, that is, soils, which have substrate loess of the Ruhr Valley characteristics of semi-arid and (10) Plattengefüge eines stark verdichteten Bodens. generated the very fertile soil type tropical areas. Other soils, which “Parabraunerde” (Luvisols), the form the habitats of the peculiar der ursprünglichen Lößlandschaft chocolate among the soils. But the urban-industrial-mining flora and nicht zu finden waren. Es ist der soil is susceptible to erosion by the fauna, are those of abandoned hohe Steingehalt und der Gehalt an wet climate and hilly slopes and railway lines and sidings and of freiem Kalk der Böden. Die Böden fills the river valley with eroded soil abandoned streets. City planners in der Lößlandschaft waren dagegen material, on which “Auenböden” the diverse urban green areas and steinfrei und schwach sauer. Mit (Braune Vega, Alluvial Soils) in the commercial and industrial der Entstehung der Städte wandelte develop. parks should make use of the new sich somit die Bodenlandschaft und Erosion is mainly a result of the Intrusols and Syrozems. They are bekam den Charakter von Mittelge- arable use of land. That means that good documents of the history of the birgsböden. Wie im obigen Beitrag man has become a factor in soil sites concerned, and of what nature zum Teil gezeigt werden konnte, formation. Apart from erosion, makes with them when abandoned. verändern sich dadurch die Boden- other human effects are acidification, In the streetscape we find a rich merkmale stark. In der Forschung compaction and eutrophication, assortment of soils, such as the sind die Konsequenzen, besonders which result in impoverishment Dialeimmasols on sidewalks, der Steingehalte, kaum bisher bear- of soil diversity. This means that Ekranoliths on sealed roadways, 56 ESSENER UNIKATE 19/2002 57

Bd. 96, im Druck. Danach arbeitete er an der Bundesanstalt Pseudogley (soils of stagnic water – Burghardt, W., B. Böhm, Ch. Dornauf und für Geowissenschaft, Hannover über tables), Syrozems (raw soils), R.Rabearisoa: Verteilung von Stoffen aus Bewässerungseignung von Wüstenböden Reductosols lacking aeration and Einträgen in Stadtböden. Bodenschutz 3/1998, im südlichem Hochland von Jordanien und 92-97. später über Entwässerung von sekundären Aeroliths, soils of small dunes that – Burghardt, W., D. Conce und P. Salzböden im syrischen Euphrattal. 1970 are part of the immediate human Scholten: The formation and occurrence promovierte er an der Universität Gießen über environment. However, not much is of Carbonatosols on slag from iron works. Infiltrationseigenschaften von Wüstenböden. known about them. In: Burghardt, W., Dornauf, Chr. (ed.): Bis 1983 war Burghardt am Proceedings of the First International Bodentechnologischen Institut Bremen The soil cover of many urban areas Conference on Soils of Urban, Industrial, des Niedersächsischen Landesamtes für is not in good condition and has Traffic and Mining areas. Vol.I – The Bodenforschung beschäftigt. Schwerpunkte become more impoverished in unknown urban soil-detection, resources waren Forschungs- und Entwicklungsarbeiten and faces. Working Group SUITMA/SU of über den Wasserhaushalt und über die recent times. The reduction of soils IUSS, co. Fb9., Angewandte Bodenkunde/Soil Verbesserung und Entwicklung der by sealing is not the only problem. Technology, University of Essen, 45117 Essen, Bodenfruchtbarkeit von Moor-, Marsch- und The most dramatic impact is made , 2000, 283-288. Geest-(Sand- und Geschiebelehm-)böden für – European Commission: Towards an eine landwirtschaftliche und waldbauliche by soil compaction and the stone urban agenda in the European Union. Nutzung, zu Maßnahmen zum Moorschutz content. This reduces the soil volume Communications from the Commission. und zur Entwicklung von Dränfiltern. Ebenso available for functions such as media COM(1997)197final. führte er Beweissicherungsverfahren zum for plant growth, absorption and – GLA NRW – Geologisches Landesamt Wasserhaushalt grundwasserbeeinflusster Nordrhein-Westfalen . Bodenkarten von Böden, u. a. beim Bau des Elbe-Seiten-Kanals dilution of pollutants, filtration and Nordrhein-Westfalen 1:50.000. Krefeld. und über den Einfluss von Wasserwerken storage of water and other benefits. – Hiller, D. A., I. Remonatto-Dreyer und durch. Er war Mitglied im Dränausschuss des T. Wieder: Bodenerosion durch Wasser Deutschen Verbandes für Wasserwirtschaft – Erfahrung aus einem Projekt zur Minderung und Kulturtechnik. der Bodenerosion durch unkontrolliert Seit 1983 ist Burghardt Universitätsprofessor Anmerkungen abfließendes Niederschlagswasser aus für Angewandte Bodenkunde in den landwirtschaftlichen Flächen einer Gemeinde Studiengängen Landschaftsarchitektur und 1) Nieschlag, 1969 am Niederrhein. Mitteilg. Dtsch. Bodenkundl. Ökologie an der Universität Essen. 1993 folgte 2) Bohte, 1976 Ges. Bd.92/2000, 119-129. die Habilitation über den Wasserhaushalt 3) Burghardt, 1996 – Höke, S. und W. Burghardt: Erfassung von Moorböden. Er baute das weltweit neue 4) European Commission, 1997 der Staubfreisetzung und -deposition von Forschungsgebiet Böden der Stadt-, Industrie- 5) GLA NRW einer belasteten Brachfläche im Ruhrgebiet. Verkehrs- und Bergbauflächen auf. Seit 1987 6) Hiller, 2001 Mitteilg. Dtsch. Bodenkundl. Ges. Bd.91/II/ ist Burghardt Vorsitzender des Arbeitskreises 7) Müffling, v., 1824-1825 1999, 1025-1028. Stadtböden der Deutschen Bodenkundlichen 8) Schlichting et al. 1995 – Komossa, M., A. Hagedorn und W. Gesellschaft und seit 1998 der entsprechenden 9) Sauer/Burghardt, 2000 Burghardt: Ekranolithe – Böden unter Working Group SU/SUITMA (Soils of 10) Höke und Burghardt, 1999 Straßen. Mitteilg. Dtsch. Bodenkundl. Ges. Urban, Industrial, Traffic and Mining Areas) 11) Komossa, et al. 2002 Bd.99, im Druck. der International Union of Soil Science. 2002 12) Burghardt: Formen und Wirkung der – Müffling, v.: Kartenaufnahme der wurde er zur Chairperson der Division 3 Versiegelung Rheinlande. Landesvermessungsamt – Soil Use and Management der International 13) Wenikajtys und Burghardt, 2002 Nordrhein-Westfalen, Bonn 1824-1825. Union of Soil Science gewählt. 14) Burghardt 1993 – Nieschlag. F.: Der fruchtbare Weitere Schwerpunkte an der Universität 15) Burghardt 2001 Boden. Erhaltung und Mehrung der Essen sind der Bodenwasserhaushalt, Bodenfruchtbarkeit. 2. Auflage, DLG-Verlag, Bodenbelastung, Staub und das Thema Böden Frankfurt/Main 1969. im Naturschutz. Literatur – Richter, D.: Ruhrgebiet und Bergisches Land. Sammlung Geologische Führer 55. Gebr. Bornträger, Berlin, Stuttgart 1977 – Bothe, H.-G.: Landeskultur in Deutschland. – Sauer, D., Burghardt, W. Schnütgen, A. und Berichte über die Landwirtschaft. 193. Zarei, M.: Kieselsäure und Zeolithe in Böden Sonderheft, Hamburg, Berlin 1976. aus technogenen Substraten. Mitteilg. Dtsch. – Burghardt, W.: Formen und Wirkung der Bodenkundl. Ges. Bd.91/III/1999, 1419-1422. Versiegelung. Symposium Bodenschutz 29.- – Schlichting, E., H.-P. Blume und K. 30.6.1992, Zentrum für Umweltforschung der Stahr: Bodenkundliches Praktikum. Pareys Westfälischen Wilhelms Universität, 111-125. Studientexte, Blackwell, Berlin 1995. – Burghardt, W.: Böden auf Altstandorten. – Schroeder, D.: Bodenkunde in Stichworten. In Alfred-Wegener-Stiftung (Hrsg.): Die Ferdinand Hirt, Kiel 1969. benutzte Erde. Ernst, Berlin 1993, 217-229. – Wenikajtys, M., W. Burghardt: Dialeimmasol – Burghardt, W.: Boden und Böden in Ritzenboden von Gehwegpflastern. Mitteilg. der Stadt. In Arbeitskreis Stadtböden der Dtsch. Bodenkundl. Ges. Bd.99, im Druck. Deutschen Bodenkundlichen Gesellschaft: Urbaner Bodenschutz. Springer, Berlin 1996, 7-21. – Burghardt, W.: Zustände der Der Autor Bodenverdichtung bei Wald-, Grünland-, Acker- und städtischer Nutzung. Mitteilg. An der Universität Kiel schloss Dtsch. Bodenkundl. Ges. Bd. 95/2001, 166- Wolfgang Burghardt 1966 das Studium 169. der Landwirtschaft mit Schwerpunkt – Burghardt, W.: Humusmengen in Pflanzenproduktion und Vertiefung in Stadtböden. Miteilg. Dtsch. Bodenkundl. Ges. Bodenhydrologie und Kulturtechnik ab. 58 ESSENER UNIKATE 19/2002 59

Aus einer industriell dominierten Region, die kaum Platz für Natur ließ, ist ein Städteverbund entstanden, in dem auch Natur und Umwelt einen ihnen zustehenden Stellenwert gefunden haben. Der Vegetationscharakter des Ruhrgebietes wird in erster Linie nicht durch die verbliebenen natürlichen oder naturnahen Bereiche geprägt, sondern vielmehr durch das Mosaik anthropogener Lebensräume, die durch die in Umwandlung begriffene Industrielandschaft sowie den Siedlungscharakter im Ruhrgebiet geschaffen wurden.

Der Pott grünt

Betrachtungen zur Vegetation im Ruhrgebiet Von Guido Benno Feige und Randolph Kricke

aum jemand, der das Ruhrge- und in dem auch Natur und Umwelt durch die sieben großen Grünzüge Kbiet noch in seiner Bedeutung einen ihnen zustehenden Stellenwert eine innere Struktur. Doch auch in als großes europäisches Industriege- gefunden haben. den Stadtgebieten selbst finden sich biet mit seinen rauchenden Schorn- Das Konzept der Regionalen immer wieder verhältnismäßig große steinen und übermäßiger Luftbelas- Grünzüge bildet gewissermaßen unbebaute Bereiche, die so zum tung kennt, würde die Vegetation das Rückgrat eines Vegetations- Rückzugsgebiet der Natur und Aus- dieses Raumes für erwähnenswert netzes, wodurch das Ruhrgebiet gangspunkt für die Besiedelung des halten. Doch hat sich das Bild des zu einer außerordentlich „grünen“ bebauten Areals werden. In vielen über 4.000 Quadratkilometer großen Landschaft wird. Immerhin ist der Fällen gibt das Relief derartige Berei- Ballungsraumes in den letzten Jahr- Waldanteil mit ca. 17 Prozent im che vor; so sind beispielsweise die zehnten grundlegend gewandelt: Vergleich zu anderen ähnlich dicht recht engen (Siepen-)Täler etwa in Aus einer durch Schwerindustrie besiedelten Arealen in Europa Mülheim (Horbachtal, Hexbachtal) dominierten Region, die kaum Platz bemerkenswert hoch. Obwohl die oder Essen (Ruthertal, Wolfsbach- für Natur ließ, ist ein Städteverbund Einzelstädte des Ruhrgebietes sich tal) von einer Bebauung weitgehend entstanden, in dem sich neue Bran- immer weiter ausdehnen und allmäh- verschont geblieben und teilweise chen, vornehmlich aus dem Dienst- lich zu einer „Megapolis“1 zusam- als Landschafts- oder Naturschutz- leistungssektor, etablieren konnten, menwachsen, erhält der Gesamtraum gebiete ausgewiesen. Mehr als 4.000 58 ESSENER UNIKATE 19/2002 59 Guido Benno Feige. Foto: André Zelck 60 ESSENER UNIKATE 19/2002 61

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(1) Das Konzept der Regionalen Grünzüge im Emscher-Landschaftspark. Quelle: Hoppe, W./Kronsbein, S.: Landschaftspark Duisburg-Nord. Wohlfarth, Duisburg 1999 z. T. großangelegte Parkanlagen wie einer weitergehenden Entwicklung Hier können, angefangen von den die vielerorts vorhandenen Stadtgär- des Freiraumsystems begonnen, die Ginkgowäldern der Voreiszeit über ten oder alte Friedhöfe (z. B. Alter unter der federführenden Umset- die nacheiszeitliche Haselnuss-Kie- Friedhof in Mülheim) sowie über zungskraft des KVR (Kommunalver- ferntundra bis hin zu den heutigen 650 Kleingartenanlagen bilden grüne band Ruhrgebiet) ein 300 Quadrat- Eichen-Buchenwäldern, ca. 15.000 Inseln inmitten des Häusermeeres. kilometer großes Parksystem, den Jahre mitteleuropäischer Florenge- Als herausragende große Grünflä- Emscher-Landschaftspark von Duis- schichte erlebt werden. chen, die sowohl für die Natur als burg bis nach Bergkamen, zum Ziel Landesgartenschauen, wie z. B. auch für die Erholung des Menschen haben wird. Weitere Aufwertung die 1992 durchgeführte Mülheimer eine bedeutende Funktion besitzen, erfuhr die Region, indem eine Reihe Gartenschau (MÜGA) oder die Lan- seien der Grugapark und die Villa von zumeist ehemaligen Industrie- desgartenschau 1999 in Oberhausen, Hügel in Essen oder die Revierparke standorten aus ihrem „Dornröschen- trugen ebenfalls dazu bei, dass nicht Mattlerbusch (Duisburg), Vonderort schlaf“ erweckt und z. B. in Form nur kulturhistorische Einrichtungen (Oberhausen), Rombergpark (Dort- von Wanderwegen miteinander aufgewertet wurden, sondern auch mund) oder Geysenberg (Herne) verbunden wurden. Meilensteine in die Natur durch Renaturierungs2- angeführt. diesem Verbundsystem, das Natur und andere Pflegemaßnahmen ent- Stellenweise trifft die Metapher und Kultur auf gelungene Weise in wickelt wurde. Dies führte in vielen der „Oasen inmitten der Stadtwüste“ Einklang bringt und in Anlehnung Fällen ebenfalls zu einem Zusam- sicherlich zu. Vielfach jedoch sind an die „Route der Industriekultur“ menschluss bestehender Vegetations- die Grünareale miteinander ver- als „Route der Industrienatur“ gürtel. netzt und stehen so im Austausch. bezeichnet werden kann, ist z. B. der Schließlich sei die Bedeutung Dazu beigetragen hat das bereits Landschaftspark Duisburg-Nord. der Ruhr angesprochen, die nicht angesprochene Konzept der Regi- Auch der kleine, aber eindrucks- nur der Region ihren Namen gab, onalen Grünzüge. Im Rahmen der volle Gehölzgarten Ripshorst an der sondern ganz deutlich in Form IBA (Internationale Bauausstellung) Stadtgrenze von Oberhausen und des Ruhrtales das Landschaftsbild wurde vor etwa zehn Jahren mit Essen kann dazu gezählt werden. prägt. Unverbaute Freiflächen, z. T. 60 ESSENER UNIKATE 19/2002 61

Landschaftsschutz- oder Natur- die ehemaligen Industriestandorte arten konnten im Landschaftspark schutzgebiete, entlang des Fluss- herauszuheben, die eine ganz eigen- Duisburg-Nord angetroffen werden, laufes unterstreichen, dass es nicht ständige Fauna und Flora aufweisen; viele nur deshalb, weil anthropogene nur ein Gewässer ist, das die Region wie Untersuchungen der Vegetation Substrate8 verfügbar sind. durchzieht, sondern mit ihm auch auf Bergehalden oder von Indus- Auch der ehemalige Bahnhof ein grünes Band lebendiger Natur. triebrachen zeigen, kann die Vegeta- Essen-Frintrop kann mit nahezu Leider ist es anderen, kleineren tion außerordentlich reichhaltig sein. 200 Pflanzenarten sowie rund 100 Gewässern, nicht so gut ergangen So wurden z. B. im Rahmen des „3. Arten an Mikropilzen9 und Flechten wie dem großen Fluss, und viele sind GEO-Tages der Artenvielfalt“ im aufwarten. Typischerweise treten auf ihrer Auenvegetation beraubt, begra- Sommer 2001 im Landschaftspark den flachgründigen Böden annuelle10 digt und in Betonhalbschalen gefasst Duisburg-Nord unter maßgeblicher Pflanzen als Pioniere auf, auch wär- worden. Die Umwandlung der Beteiligung der Botaniker der Uni- meliebende Vertreter sind oftmals Emscher in einen offenen Abwas- versität Essen mehr als 450 Arten anzutreffen. Besonders bezeichnend serkanal mag als prominentestes höherer und niederer Pflanzen ist der Anteil an Neophyten11, die Beispiel angeführt werden. Wertvolle gefunden. Die überraschend hohe mit dem im Vergleich zu natürlichen Vegetationszüge sind somit verloren Artendiversität derartiger Gebiete ist Standorten hohen Hemerobiegrad12 und werden mancherorts heutzutage in der großen Vielfalt unterschiedli- derartiger Biotope gut zurechtzu- für viel Geld mühevoll wieder ange- cher Mikrohabitate begründet. kommen scheinen. Als bemerkens- legt (z. B. am Läppkes Mühlenbach). werter Vertreter sei hier das aus Auch die Emscher selber soll rena- Südafrika stammende Greiskraut turiert werden. Glücklicherweise Senecio inaequidens genannt, das – und durch den Bergbau bzw. die sich seit ca. 15 Jahren enorm ausge- Bergsenkungen als Folgen geför- breitet hat. Weitere Neubürger, die dert – blieben wertvolle Bruchwälder nicht nur an ruderalen Standorten in der Emscherniederung3 erhalten, aufgrund der ständigen Präsenz des die somit neben der stellenweise menschlichen Einflusses im Ruhr- ausgeprägten Auenvegetation der gebiet das Florenbild prägen, sind Ruhr bedeutsame Refugialräume4 für Fallopia japonica, Impatiens balsami- eine Reihe von Pflanzen derartiger fera, Solidago canadensis, Heracleum Lebensräume darstellen. mantegazzianum u. a. Der Vegetationscharakter des Neben solchen gibt es aber Ruhrgebietes wird jedoch in erster auch aus der einheimischen Flora Linie nicht durch die verbliebenen „Exoten“. Wer hätte jemals gedacht, natürlichen oder naturnahen Berei- dass es wildwachsende Orchideen che geprägt, sondern vielmehr durch im Ruhrgebiet gibt? Selbst auf dem das Mosaik anthropogener5 Lebens- Campus der Universität Essen wie räume, die durch die in Umwand- (2) Breitblättrige Stendelwurz an vielen anderen Standorten im lung begriffene Industrielandschaft (Epipactis helleborine). Stadtgebiet oder z. B. am ehemaligen sowie den Siedlungscharakter im Gasometer des Hüttenwerkes im Ruhrgebiet geschaffen wurden. Eine So finden sich auf trockenen, flach- Landschaftspark-Nord kommt die auf den ersten Blick unerwartet hohe gründigen, basenreichen und oftmals Breitblättrige Stendelwurz (Epipactis Biodiversität6 ergibt sich durch die nährstoffarmen Böden sowohl wär- helleborine) sehr häufig vor. Neben starke Verzahnung unterschiedlich- meliebende und trockenheitsange- dieser „Stadtorchidee“ finden sich ster Makro- und Mikrohabitate7 wie passte Arten wie z. B. Sedum acris, aber auch andere Vertreter dieser z. B. landwirtschaftliche Nutzflächen Apera interrupta oder Saxifraga seltenen und gefährdeten Familie wie intensiver und extensiver Nutzung, tridactylitis als auch Rohbodenpio- z. B. das Gefleckte Knabenkraut Parkanlagen, Industriebrachen, niere wie beispielsweise Erdflechten (Dactylorhiza maculata) im Ruhr- umfangreiche Bahngelände mit ihren der Gattung Cladonia. Feuchte und gebiet. Schotterwällen, durchgrünte Wohn- kühlere Standorte, wie sie etwa in Obwohl sich über die Vegetation bauflächen, Uferflächen der Ruhr, den schattigen Mauerkomplexen der der Höheren Pflanzen im Ruhrge- kleinere und größere Waldareale mit ehemaligen Kohlebunkeranlage des biet noch vieles schreiben ließe, soll z. T. alten Baumbeständen, Kleingär- Hochofens vorhanden sind, ermögli- auf diese nicht weiter eingegangen ten und private Gartenflächen sowie chen wiederum ganz anderen Pflan- werden (eine Reihe von Aspekten ist Burganlagen. zen wie etwa Farnen (Asplenium beispielsweise bei Wittig13 zu finden). Sicherlich sind als ein prägendes trichomanes) und Moosen das Vielmehr erscheint die ausführlichere Element in diesem Habitatmosaik Wachstum. Mehr als 60 Flechten- Betrachtung der Sporenpflanzen- 62 ESSENER UNIKATE 19/2002 63

avellana), für Deutschland (z. B. Leptosphaeria derasa auf Senecio Flechten – Zusammenleben am Limit inaequidens) oder gar für Europa (z. B. Erysiphe flexuosa auf Aesculus Flechten sind – obwohl auf den ersten Blick nicht zu erkennen – hippocastanum) nachgewiesen Doppellebewesen, die aus einem Pilz- und einem Algenpartner wurden14, 15, 16. bestehen. Der Pilz bildet das äußerlich Sichtbare, das so genannte Dass viele Mikropilze erst in Lager der Flechte. In diesem aus Pilzhyphen aufgebauten Lager jüngster Zeit erstmalig für das befinden sich meist in einer Schicht unter der Oberfläche einzellige Gebiet genannt werden, ist darauf Algenzellen. Dies können Grünalgen und/oder Cyanobakterien sein. zurückzuführen, dass diese Organis- Als photosynthetisch aktiver Part dieser Gemeinschaft produziert men zuvor wenig Beachtung fanden. die Alge Kohlenhydrate, die der Pilz als heterotropher (auf die Nähr- In diesem Zusammenhang darf stoffzufuhr von außerhalb angewiesener) Organismus aufnimmt. Er nicht unerwähnt bleiben, dass dieser schützt seinerseits die Algenzellen bis zu einem gewissen Grade vor Umstand sicherlich auch auf den Austrocknung, zu starker Sonneneinstrahlung und Tierfraß. langen Zeitraum zurückzuführen ist, Bei vielen Flechtenarten wird das Bild einer harmonischen Symbiose in dem das Ruhrgebiet universitäts- (Lebensgemeinschaft zum Nutzen beider) dadurch getrübt, dass der freie Zone war. Erst Gründungen Pilz bis zu 70 Prozent der von der Alge erwirtschafteten Kohlenstoff- wie die der Universität Essen vor 30 verbindungen für sich beansprucht und somit die Alge am Existenz- Jahren ließen den „Ruhrpott“ für minimum leben muss. Kommen zu diesem „systeminternen“ Stress wissenschaftlich spezialisierte Fach- noch äußere Stressfaktoren wie etwa Umweltveränderungen hinzu, leute attraktiv werden. so stirbt die Alge und mit ihr die gesamte Flechte. Bis auf wenige Anders dagegen verhält es sich Ausnahmen reagieren diese Doppelorganismen daher (artspezifisch in vielen Fällen bei der Flechtenve- unterschiedlich) auf anthropogene Störungen, wie etwa auf Luft- getation im Ruhrgebiet: Hier ist eine schadstoffe. Besonders empfindlich reagieren die meisten Arten auf echte Dynamik feststellbar, da eine Schwefeldioxid, aber auch auf andere Komponenten wie oxidierte ganze Reihe von Arten nach langer Abwesenheit erst kürzlich wieder in und reduzierte Stickstoffverbindungen oder Fluorwasserstoff. Somit der Region nachzuweisen sind17,18. können Flechten in Analogie zu den Saprobien (aquatische Organis- So war zur Mitte der 60er Jahre men, die organisches Material abbauen und anhand ihres artspezifi- des vergangenen Jahrhunderts die schen Vorkommens in einem Gewässer Auskunft über den epiphytische19 Flechtenvegetation Belastungsgrad mit organischer Materie geben) als Reaktionsbioin- so weit verarmt, dass lediglich ein dikatoren verwendet werden und in Ergänzung zu physiko-chemi- bis zwei Arten im zentralen Ruhr- schen Messmethoden bei der Umweltüberwachung Verwendung gebiet vorkamen. Weite Areale finden. waren flechtenfrei und konnten mit dem Begriff der „Flechtenwüste“ tituliert werden. Grund für das fast (=Kryptogamen-)Vegetation ange- GEO-Tag 2001 im Landschaftspark- völlige Verschwinden einer ehemals bracht zu sein, da diese Gruppe im Nord) wurden über 140 Arten nach- reichen Flechtenflora – wie aus Rahmen der meisten Werke über gewiesen, und selbst in Kleingärten Bemerkungen von Grimm um 1800 die Vegetation urbaner Räume stark von etwa 300 Quadratmetern Fläche für Duisburg entnommen werden vernachlässigt wird. – wie z. B. in dem des Erstautors – kann – waren die enormen Mengen Dabei ist gerade bei den Grup- sind bislang etwa 800 verschiedene an Schadstoffen, die im Zuge der pen der Moose, Flechten und Mikropilzarten gefunden worden. Industrialisierung ausgestoßen (Mikro-)Pilze überaus erstaunlich, Im Vergleich mit der vorläufigen wurden. Neben partikulären Kom- welche Vielfalt sich im Verborge- Artenliste des Ruhrgebietes ist dies ponenten (Ruß, Grob- und Feinstäu- nen auftut. Während gerade erst jedoch noch verschwindend wenig: ben) war es unter den gasförmigen begonnen wird, die Moosvegetation Über 3000 verschiedene Arten konn- Luftschadstoffen besonders das z. B. auf Industriestandorten in der ten bisher bestimmt werden, und da Schwefeldioxid, welches sich negativ Region aufzunehmen, liegen mitt- das Gesamtareal nur stichprobenhaft auf die Flechtenvegetation auswirkte. lerweile über mehrere Jahre hinweg untersucht wird, ist dies wohl auch Obwohl bereits vor dem Wieder- gesammelte Ergebnisse zur Erfas- nur ein Bruchteil aller vorhandenen aufschwung in der Region hohe sung der Mikropilze und Flechten Arten. Unter den angetroffenen Konzentrationen an Schwefeldioxid vor. Geradezu erschlagend mutet die Mikropilzen sind auch solche, die (SO2) geherrscht haben, wurde die Vielfalt der Mikropilze an: Alleine erstmalig für das Bundesland (z. B. Wirkung des Gases bis in die 60er während eines einzigen Tages (am Phomopsis revellans auf Corylus Jahre hinein durch die ebenfalls 62 ESSENER UNIKATE 19/2002 63

mengenmäßig stark vorhandenen Grobstäube gemindert. Der Grund dafür ist der basische Charakter der Flugaschen (ca. pH 8), so dass sich in der Atmosphäre aus dem

SO2-Molekül durch Reaktion mit Wasser an den Grobstaubpartikeln

Schwefelige Säure (H2SO3) bildete, die mit dem Regen ausgewaschen wurde. So setzte eine allmähliche Versauerung der Substrate ein, die zum Verschwinden säuremeidender Flechtenarten führte. Besonders Arten auf Baumbor- ken, die natürlicherweise einen nied- rigen pH-Wert20 und eine geringe Pufferkapazität besitzen, verschwan- den. Dies lag zum einen an der Sub- (3) Flavoparmelia caperata. stratversauerung selbst, zum anderen aber auch daran, dass sich im sauren

Milieu ein hochtoxisches SO2-Cla- thrat21 bildete, bei dem sechs bis sieben Wassermoleküle ein Schwe- feldioxid-Molekül umgeben. Auf- grund der gesundheitsschädlichen Wirkung der Grobstäube wurden diese ab Mitte der 60er Jahre aus dem Abgasstrom herausgefiltert; als Folge beschleunigte sich das Verschwin- den epiphytischer Arten, da nun das zerstörerische Clathrat bereits in der Atmosphäre vorhanden war. Ledig- lich Flechten, die auf gut abgepuffer- tem Substrat, wie etwa Waschbeton- platten oder Asbestzementziegeln siedelten, konnten (wenn auch vitali- tätsgemindert) überleben. (4) Evernia prunastri. Erst gesetzliche Auflagen führten ab den 70er Jahren dazu, dass mitt- lere jährliche Schwefeldioxidkon- zentrationen von bis zu 200 µg/m³ der Vergangenheit angehörten und eine allmähliche allgemeine Redu- zierung des Schadstoffausstoßes einsetzte. Infolgedessen kehrten auch die borkenbewohnenden Flechten langsam aus der Umgebung zurück. Während bis zum Beginn der 90er Jahre jedoch lediglich die unemp- findlichsten Arten wie z. B. Lecanora conizaeoides, Physcia tenella, P. adscendens, Parmelia sulcata und Hypogymnia physodos zurückkehrten, ist seit ca. fünf Jahren auch die Rückkehr wesentlich anspruchsvollerer Flechten zu (5) Usnea spec. 64 ESSENER UNIKATE 19/2002 65

Art Häufigkeit Art Häufigkeit

Amandinea punctata sehr häufig Parmelina pastillifera extrem selten

Bacidina arnoldiana sehr selten Parmelina tiliacea extrem selten

Candelaria concolor sehr selten Parmotrema chinense selten

Candelariella aurella – * Phaeophyscia nigricans – * Candelariella reflexa/ sehr häufig Phaeophyscia orbicularis sehr häufig xanthostigma Candelariella vitellina – * Physcia adscendens sehr häufig

Cetrelia olivetorum sehr selten Physcia aipolia extrem selten

Evernia prunastri sehr häufig Physcia caesia häufig

Flavoparmelia caperata häufig Physcia dubia extrem selten

Flavoparmelia soredians extrem selten Physcia stellaris sehr selten

Flavopunctelia flaventior extrem selten Physcia tenella sehr häufig

Hypocenomyce scalaris sehr selten Physconia grisea sehr selten

Hypogymnia physodes sehr häufig Physconia perisidiosa extrem selten

Hypogymnia tubulosa sehr selten Platismatia glauca extrem selten

Hypotrachyna revoluta selten Pleurosticta acetabulum extrem selten

Lecanora barkmaniana extrem selten Pseudevernia furfuracea selten

Lecanora chlarotera extrem selten Punctelia borreri extrem selten

Lecanora conizaeoides sehr häufig Punctelia subrudecta häufig

Lecanora dispersa häufig Punctelia ulophylla mäßig häufig

Lecanora expallens sehr häufig Ramalina farinacea selten

Lecanora muralis – * Rinodina gennarii – *

Lecanora sambuci häufig Scoliciosporum chlorococcum selten

Lecanora symmicta extrem selten Strangospora pinicola – *

Lecidella elaeochroma sehr selten Trapeliopsis flexuosa – *

Lepraria incana s.l. sehr häufig Tuckermannopsis chlorophylla extrem selten

Melanelia exasperatula sehr häufig Usnea filipendula sehr selten

Melanelia glabratula selten Usnea hirta sehr selten

Melanelia subaurifera häufig Usnea subfloridana sehr selten

Micarea nitschkeana – * Xanthoria candelaria häufig

Parmelia saxatilis sehr selten Xanthoria polycarpa häufig

Parmelia sulcata sehr häufig Xanthoria polycarpa sehr häufig

* keine Angabe aufgrund unsicherer Datenbasis (6) Häufigkeit epiphytischer Flechten im Ruhrgebiet. 64 ESSENER UNIKATE 19/2002 65

beobachten. So finden sich neben Bestand z. T. drastisch zurückgegan- natürlichen Standorten, z. B. auf Blattflechten wie Punctelia ulophylla gen, darunter die extrem toxitole- Lavafeldern, vorfinden. So schaffen phylla oder Flavoparmelia caperata rante23 Lecanora conizaeoides. künstliche Substrate aus Menschen- auch Strauchflechten wie Ramalina Neben den ca. 60 Arten epiphy- hand Lebensraum für eine Reihe von farinacea oder Evernia prunastri tisch wachsender Flechten finden Arten. Ganz besonders von der Viel- und sogar Bartflechten der Gattung sich – auch durch die gesunkene falt an unterschiedlichem Substrat Usnea (U. hirta, U. filipendula Schadstoffbelastung begünstigt hat die Gruppe der gesteinsbewoh- und U. subfloridana) an Bäumen – zunehmend mehr stein- und auch nenden Arten profitiert. Im Gegen- im Ruhrgebiet. Wiederholte Beo- bodenbewohnende Spezies. Letz- satz zu den rinden- oder bodenbe- bachtungen an Standorten sowie tere sind neben Moosen und auch wohnenden Vertretern konnten viele die geringe Größe der Thalli lassen Cyanobakterien (z. B. Nostoc spec.) auch unter dem Eindruck hoher

tatsächlich auf eine erst kürzlich Pioniere auf Flächen, die der Wie- SO2-Konzentrationen überleben, da erfolgte Rückkehr vieler Arten derbesiedelung durch die Natur die meisten anthropogenen Substrate schließen. Bevorzugte Trägerbäume überlassen werden, wie die zahlrei- aufgrund des Kalkanteils (Beton bei der Wiederbesiedlung sind chen und bereits mehrfach erwähn- oder Mörtel) basisch reagieren und solche, die einen vergleichsweise ten ehemaligen Industriestandorte. somit die Säureeinwirkungen abge- hohen pH-Wert besitzen, wie etwa Gerade auf diesen gestörten Böden, puffert haben. So überdauerten Fraxinus excelsior, Acer platanoides die durch Verfestigung und/oder z. B. Lecanora muralis, Xanthoria oder A. pseudoplatanus. Schadstoffbelastungen nur wenigen parietina, Candelariella vitellina, Obwohl für das Ruhrgebiet Höheren Pflanzen Lebensmöglich- C. aurella, Lecidea stigmatea, nahezu keine Angaben über die his- keiten eröffnen, sind die Niederen Phaeophyscia nigricans und Physcia torische Flechtenflora vorliegen und Pflanzen weitgehend ohne Kon- caesia auf asbesthaltigen Dachpfan- anzumerken ist, dass der Prozess kurrenz – zumindest für so lange nen oder Waschbetonplatten selbst der Rückkehr noch im Gange ist Zeit, bis die Böden durch natürliche Zeiten hoher Immissionswirkungen. und daher hier lediglich vorläufige Prozesse aufgearbeitet sind oder die Heutzutage werden auch andere, Schlüsse gezogen werden können, Flächen saniert und wieder einer weniger gut gepufferte Untergründe kann man herausstellen, dass sich Nutzung zugeführt werden. Eine besiedelt; die Stadt mit ihrer Vielzahl die neuetablierte Flechtenvegetation stärkere Beachtung dieser Sukzessi- an unterschiedlichen Baumaterialien erheblich von derjenigen unterschei- onsstadien24 mit ihren in der Region bietet somit einer weiten Anzahl an det, die durch die Schadstoffimmis- seltenen Erdflechtengemeinschaften Arten Lebensraum. Erwähnt seien sionen ausgelöscht wurde. So domi- wäre daher im Rahmen der kom- in diesem Zusammenhang auch die nieren eindeutig solche Flechten das munalen Planung wünschenswert. unterschiedlichen für Grabsteine auf Bild der urbanen Flechtenvegetation, Neben verschiedenen Vertretern Friedhöfen verwendeten Gesteins- die tolerant gegenüber den heutigen der Becherflechten (z. B. Cladonia typen, die für viele spezialisierte Verhältnissen sind und offenbar humilis, C. pyxidata agg., C. fimb- Flechten weit und breit die einzigen durch die Kfz-bedingten Stickstoff- riata, C. coniocraea, C. portentosa) Besiedelungsmöglichkeiten bieten. immissionen gefördert werden. treten in diesen Erdflechtengesell- An diesem Beispiel lässt sich aller- Zu den als typische Stadtflechten schaften Blaualgenflechten wie z. B. dings auch eine neue Gefährdung einzustufenden Arten gehören Peltigera praetextata und P. rufescens der Flechten darstellen: Die vieler- u. a. Physcia tenella, P. adscendens, auf. Besonders erwähnenswert ist orts deutlich (wieder)auftretenden P. caesia, Phaeophyscia orbicularis, der völlig unerwartete Erstfund von Flechten werden für schädliche Xanthoria parietina, X. polycarpa, Diploschistes muscorum im Ruhrge- Pilze gehalten, die Bäume und Stein- X. candelaria. Hinzu kommen Arten biet. Die Flechte, die Moose über- substrate schädigen und entfernt wie Flavoparmelia caperata, Evernia wächst und von der bislang nur weit werden müssen. So werden Grab- prunastri, Ramalina farinacea, außerhalb des Ruhrgebietes gele- steine, Dächer und Gehwegplatten Punctelia subrudecta/ulophylla und gene Fundpunkte in Kalkgebieten mit der „chemischen Keule“ oder Melanelia subaurifera, die in großer bekannt waren, konnte auf dem ehe- dem Dampfstrahler gereinigt und Häufigkeit und Stetigkeit anzu- maligen Verschiebebahnhof Essen- ein Stück zurückgekehrter Natur treffen sind, wenngleich sie nicht Frintrop nachgewiesen werden. vernichtet. Eine stärkere Sensibilisie- ausdrücklich von den düngenden Schließlich sei noch die Bedeu- rung der Öffentlichkeit durch ent- Einflüssen der Stadtatmosphäre eine tung von Bahnschottern für das sprechende Information könnte hier Förderung erfahren. Acidophyti- Vorkommen von Flechten angespro- für mehr Naturverständnis sorgen. sche22 Arten dagegen, die zur Zeit chen: Die extremen Bedingungen Immerhin haben es die Flechten 25 der hohen SO2-Konzentrationen das dieses trockenen und xerothermen geschafft, dem völligen Verschwin- Bild der urbanen Flechtenvegeta- Habitates ähneln den Verhältnissen, den im Ruhrgebiet zu entgehen, ja tion dominiert haben, sind in ihrem die Stereocaulon-Arten an ihren sogar verloren gegangenes Terrain 66 ESSENER UNIKATE 19/2002 67

zurückzuerobern. Gleiches gilt auch für die Höheren Pflanzen, für die Vegetation allgemein im Ruhrgebiet. Es gilt, derartige grüne Zonen im Ballungsraum durch Unterschutz- stellung und entsprechende Entwick- lung z. B. von industriellen Altstand- orten weiter zu fördern und somit den über elf Millionen Einwohnern des Ruhrgebiets eine (er)lebenswerte Umwelt zu sichern.

Summary

Despite being one of the most densely populated areas in Europe (7) Physcia adscendens. and having a “dirty” history as one of the largest industrialised areas in the world, the Ruhr basin is a surpris- ingly “green” landscape today. This is due for the most part to an econo- mic shifting from heavy industry to non-industrial sectors. In addition, the incorporation of “green islands” within the urbanised areas, with corridors of rich vegetation (called “Regionale Grünzüge”) crossing the conurbation, accomplish a “green network” where nature has its place alongside recreational areas for the population. The agglomeration of different structures (former indus- trial plants, train tracks, housing areas etc.) promotes the development of a surprisingly high biodiversity (8) Xanthoria parietina. which includes rare species as well as many neophytes such as Senecio inaeqidens. The microfungi and the lichens are especially notewor- thy. While detailed studies of the distribution of microfungi in the Ruhr basin have only been under- taken recently, there have already been some remarkable discoveries. Lichens are celebrating a great come- back since the lichen vegetation was seriously impoverished as a result of the high air pollution in the 1950s and 1960s. Nowadays, more and more species can be recognised. In spite of these advances, however, more work needs to be done on the conservation of valuable habitats.

(9) Cladonia pyxidata agg. 66 ESSENER UNIKATE 19/2002 67

Anmerkungen sauer oder basisch eine Lösung ist, d.h. wie PD Dr. Thorsten Lumbsch – sind Träger des viele Wasserstoffionen (H+) sie besitzt. Bei Baedekerpreises. einem pH-Wert von z. B. 7 sind 10-7 mol/l Guido Benno Feige wurde Anfang 2002 1) Megapolis: soviel wie „Riesenstadt“. + 2) Renaturierung: Wiederherstellen eines an H -Ionen vorhanden. Je niedriger der zum Ehrenmitglied der Japanischen pH-Wert, desto größer die Konzentration an Lichenologischen Gesellschaft ernannt. Mit ehemaligen naturnahen Zustandes; vielfach + werden begradigte Bäche „renaturiert“, H -Ionen und desto saurer die Lösung. Für dem Ende des Wintersemesters 2002/03 Festsubstrate kann im Prinzip kein pH-Wert scheidet er aus dem aktiven Dienst an der indem der Bachlauf seine ursprüngliche, + mäandrierende Form zurückerhält. angegeben werden, es sei denn, die H -Ionen Universität Essen aus. 3) Emscherniederung: tiefgelegene Bereiche werden durch ein entsprechendes Elektrolyt Randolph Kricke war einer der ersten im nördlichen Bereich des Ruhrgebietes, (z. B. KCl) aus dem Feststoff herausgelöst und Studenten, der den 1993 gegründeten in dem die Emscher vor ihrem technischen somit nachweisfähig. Integrierten Studiengang Ökologie Ausbau als „Abwasserkanal“ ihr Bett hatte. 21) Clathrat: sog. „Einschlussverbindung“; an der Universität Essen absolvierte. im Falle des SO wird das Gasmolekül von Mit Auszeichnung schloss er 1998 als Aufgrund von Bergsenkungen würde 2 sich in der Emscherniederung heutzutage 6-7 Wassermolekülen umgeben. Es kommt Diplom-Umweltwissenschaftler mit der Grund- und Oberflächenwasser ansammeln nicht zu einer kovalenten Bindung zwischen Spezialisierung Experimentelle Ökologie und weite Bereiche überfluten; daher muss den Atomen der jeweiligen Moleküle. Die sein Studium ab. Schwerpunkte waren die mit hohem Energieaufwand das Wasser räumliche Anordnung wird über Wasser- Bereiche Botanik sowie Stadtökologie und durch Pumpstationen in entsprechende stoffbrückenbindungen stabilisiert, die sich -klimatologie. In seiner Diplomarbeit befasste Gewässersysteme zurückgeleitet werden. aufgrund des Dipolcharakters der beteiligten er sich mit der Verbreitung epiphytischer 4) Refugialräume: Rückzugsgebiete, aus denen Moleküle ausbilden. Flechten in seiner Heimatstadt Mülheim an eine Wiederbesiedlung erfolgen kann. 22) acidophytisch: „säuretolerant“; Arten, die der Ruhr und entwickelte dabei ein neues 5) anthropogen: durch den Menschen mit sauren Bedingungen zurecht kommen. Verfahren zur Bioindikation mit Hilfe von verursacht. 23) toxitolerant: weitgehend unempfindlich Flechten. Seine 1998 am Botanischen Institut 6) Biodiversität: Vielfalt an Lebewesen gegenüber Schadstoffen. der Universität Essen begonnene Promotion (= Artenvielfalt). 24) Sukzession: Aufeinanderfolgen über die Dynamik der Flechtenvegetation im 7) Habitat: charakteristischer Standort bzw. verschiedener Pflanzen- und Ruhrgebiet lieferte wertvolle Erkenntnisse Lebensraum einer Art; vielfach auch synonym Tiergesellschaften über einen bestimmten zur Wiederbesiedlung sog. Flechtenwüsten zu „Biotop“ verwendet. Zeitraum hinweg. Beispielsweise beginnt und wurde im Juli 2002 mit der Ernennung 8) Substrat: Untergrund, auf dem z. B. die S. auf Brachflächen mit dem Auftreten zum Dr. rer. nat. abgeschlossen. Er ist zzt. Flechten siedeln. krautiger Pionierpflanzen, die Lebensraum wissenschaftlicher Assistent am Botanischen 9) Mikropilze: im Gegensatz zu den für eine daran angepasste Fauna bieten. Später, Institut der Universität Essen. bekannten und auffälligen Makrophyten (z. B. nachdem genügend Humus vorhanden ist, Fliegenpilz) sind die M. oft nur mit der Lupe keimen höherwüchsige Pflanzen (Stauden zu erkennen. Viele von ihnen parasitieren als und Sträucher sowie Bäume), die den sog. phytopathogene Pilze auf Pflanzen. Zu niedrigwüchsigen Arten in der Konkurrenz den bekanntesten M. gehören die Rostpilze um Licht, Wasser und Nährstoffe überlegen oder z. B. das Mutterkorn. sind. Im Anschluss an die Strauchvegetation 10) annuell: einjährig. bildet sich in Mitteleuropa auf den meisten 11) Neophyten: Neubürger; Pflanzen, die in Flächen schließlich als sog. Endstadium dem entsprechenden Siedlungsgebiet – hier ist („Klimax“) ein Eichen-Buchenwald aus. Mitteleuropa gemeint – nach der Entdeckung 25) xerotherm: warm und trocken. Amerikas (1492) heimisch geworden sind. 12) Hemerobiegrad: Maß des menschlichen Die Autoren Einflusses auf die Natur; Trittpflanzengesells chaften weisen z. B. einen wesentlich höheren H. auf als naturnahe Wälder. In Salzwedel, in der Altmark, geboren 13) Wittig, R.: Flora und Vegetation. In: studierte Guido Benno Feige Chemie an der Sukopp, H./Wittig, R. (Hrsg.): Stadtökologie. Friedrich-Schiller-Universität Jena. Nach G. Fischer Verlag, Stuttgart, Jena, New York der politisch bedingten Flucht aus der DDR 1993. – 1958 – studierte er in Würzburg die Fächer 14) Ale-Agha, N., Feige, G.B.: Some rare, Biologie, Chemie sowie Geographie und not yet known fungi, in: Germany. Med. Fac. wurde 1967 mit dem Thema „Untersuchungen Landbouww. Univ. Gent 65/2000, 659-672. zum Kohlenstoff- und Phosphatstoffwechsel 15) Feige, G.B./Ale-Agha, N.: Observations der Flechten unter Verwendung radioaktiver of the occurrence of some Erysiphales in the Isotope“ zum Dr. rer. nat. promoviert. Danach Ruhr area. Med. Fac. Landbouww. Univ. Gent war er als DFG-Stipendiat weitere zwei 64/2000, 593-606. Jahre am Botanischen Institut der Universität 16) Feige, G.B., Ale-Agha, N., Wiesejahn, Würzburg tätig. Ab 1970 wissenschaftlicher A. (2000): Investigations on the biology of Assistent am Botanischen Institut der selected rust funghi in the Ruhr area. Med. Universität zu Köln, wo er 1976 habilitiert Fac. Landbouww. Univ. Gent 65, 641-658. wurde und die Venia legendi für Botanik 17) Kricke, R./Feige, G.B.: Untersuchungen erhielt. 1980 wurde er auf den Lehrstuhl zur aktuellen epiphytischen für Botanik-Pflanzenphysiologie an der Flechtenvegetation der Stadt Mülheim an der Universität Essen berufen. 1984 gründete er Ruhr. Nat. Nieder. 14/1999, 39-41. den Botanischen Garten unserer Hochschule, 18) Kricke, R./Feige, G.B.: Biomonitoring der aufgrund seiner Spezialsammlungen große der Luftqualität im Ruhrgebiet mit Hilfe von Anerkennung gefunden hat. Labor- und Flechten – 1966 bis 2000. Gefahrst. – Reinh. Freilandbotanik sind gleichwertige Domänen Luft 61/2001, 163-166. seines Instituts. Eine über viele Jahre laufende 19) epiphytisch: auf anderen Pflanzen (hier Unterstützung der Flechtenforschung und auf der Borke von Bäumen) wachsend. der Stofftransportphysiologie durch die DFG 20) pH-Wert: der pH-Wert gibt an, wie darf nicht unerwähnt bleiben. Zwei seiner Schüler – Frau Dr. Mechthild Geyer und 68 ESSENER UNIKATE 19/2002 69

Die Eigenheiten urbaner Gewässer sind in dem Bewusstsein der Menschen im Ruhrgebiet stärker verwurzelt als die Schönheit der wenigen noch verbliebenen Gewässer-Relikte. Außer naturfremden „Vorflutern“ sind in fast allen Städten – meist in den Parkanlagen und landwirtschaftlich genutzten Flächen – weitaus weniger überformte Wasserläufe erhalten. Nur partiell abwasserbelastet, nicht oder nur teilweise ausgebaut, haben diese „Stadtbäche“ zum Erhalt einer zumindest als „Grundausstattung natürlicher Bäche“ zu bezeichnenden Tier- und Pflanzenwelt beigetragen. Sie stellen Wanderwege für Pflanzen und Tiere dar, über die sich ihre Lebenswelt „auffrischt“ und weiterentwickelt.

Das Adersystem

Flüsse und Bäche im Ruhrgebiet Von Petra Podraza, Helmut Schuhmacher und Mario Sommerhäuser

ließgewässer, das heißt Bäche ein frappierend einfaches, überregio- Abflusses aufzunehmen. Denn bei Fund Flüsse, werden zu Recht nales Konzept erzwangen: die beiden einem Gefälle von weniger als einem als das Adersystem der Landschaft Flusssysteme wurden arbeitsteilig Prozent schlängelte sich die Emscher bezeichnet. Dieses Bild trifft für das zur Ver- und Entsorgung des wach- in einer weiten, bei Regenwetter Ruhrgebiet in besonderem Maße senden Industrie- und Ballungsrau- überschwemmten Niederung dem zu, denn hier kann man sogar zwi- mes herangezogen. Rhein entgegen. Eine Begradigung schen Arterien- und Venensystem Die Ruhr erhielt die Aufgabe, und Verkürzung der Lauflänge um unterscheiden. Die Ruhr fungiert als den steigenden Bedarf an Brauch- 22 Prozent und die zweimalige Ver- Arterie und die Emscher als Vene des und Trinkwasser zu stillen. Hierzu legung der Mündung nach Norden Reviers. Konsequenterweise sollte war nur die Ruhr in der Lage mit (von Duisburg nach Dinslaken) es Ruhr-Emscher-Gebiet heißen, ihrem großen, niederschlagsreichen waren erforderlich, um das not- und zwar mit der Betonung auf Einzugsgebiet im Sauerland. Um wendige Gefälle für einen zügigen dem zweiten Namen, denn der weit einen hinreichenden Abfluss ins Abfluss zum Rhein zu erreichen.1 überwiegende Industrie- und Sied- Ruhrgebiet auch während regen- Einen entsprechenden Ausbau lungsraum liegt im Einzugsgebiet armer Perioden zu sichern und um erfuhren auch die Seitenbäche der der Emscher. Es waren zunehmende Hochwasserwellen abzupuffern, Emscher. Eine Abwasserreinigung hygienische und wasserwirtschaftli- wurden zudem mehrere Talsperren erfolgte zunächst nur am Ende der che Kalamitäten im Zuge des Wild- errichtet. Sammelstrecke. Aber auch heute wuchses industrieller Ansiedlungen Der Emscher mit ihren Seiten- noch – nach dem Bau und der Inbe- (Kohlezechen, Hüttenwerke und bächen wurde hingegen die gesamte triebnahme weiterer Kläranlagen zugehörige Arbeitersiedlungen) zwi- Abwasserentsorgung aufgebür- durchläuft die gesamte Emscher vor schen Dortmund und Duisburg, die det. Das kleine Flüsschen war von der Einmündung in den Rhein bei an der Wende des 19. zum 20. Jahr- Natur aus zunächst gar nicht in der Dinslaken die größte Kläranlage hundert schließlich ein im Nachhin- Lage, ein Mehrfaches seines eigenen Europas. 68 ESSENER UNIKATE 19/2002 69 Helmut Schuhmacher. Foto: André Zelck Helmut Schuhmacher. 70 ESSENER UNIKATE 19/2002 71

Die oberflächliche Ableitung flächlich abgeführt werden, sondern angehören und stellen meist eine von Abwasser in glatt ausgebauten wird in einem eigenen Kanalsystem spezielle Akkumulation anthropoge- Gerinnen war im Revier auch dann den zentralen Kläranlagen zugeführt ner Einflussfaktoren dar. noch eine Notwendigkeit, als in werden. Die ehemaligen „Köttelbe- Längszonal untergliedern sich anderen Städten das Kanalsystem cken“ können von ihrem Regelprofil Fließgewässer in Quellen und Quell- längst unterirdisch verlegt worden und ihren Betonschalen befreit und rinnsale (Krenal), Bäche (Rhithral) war. Die Bergsenkungen als Folge nach ökologischen Gesichtspunk- und Flüsse (Potamal). Ballungsge- des Kohleabbaus erforderten eine ten zurückgebaut werden. Platz biete können damit auch alle längs- ständige Inspektion und Nachbes- ist – mehr als in anderen Städten zonalen Abschnitte von Fließgewäs- serung der Gerinnebetten. Über – vorhanden, da die Gerinne aus sern betreffen. 40 Prozent des Einzugsgebietes hygienischen und Unfallsicherheits- Bei größeren Gewässern sind die der Emscher sind zu Polderflächen gründen in der Regel von einem Auswirkungen der Ballungsräume abgesunken; d. h. das Gelände liegt Sperrstreifen begleitet sind. Wissen- zumeist auf morphologische Verän- unter dem Niveau der Emscher, die schaftlich begründete Leitbilder für derungen beschränkt. Diese dienen in einem künstlich erhöhten Deich- die verschiedenen Bäche und Flüsse z. B. dem Hochwasserschutz, der korsett zum Rhein geleitet wird. Die des Reviers sind von uns erarbeitet Ufersicherung oder dem Ausbau zu die Polderflächen entwässernden worden; die hieran orientierten Hafenanlagen. Wasserqualität und Nebenbäche können nur über ein Entwicklungsziele umzusetzen Abflussregime werden dagegen in Pumpwerk in die Emscher münden. wird die limnologische und was- erster Linie durch das oberliegende Ein Abschalten der Pumpen würde serbauliche Herausforderung der Einzugsgebiet geprägt. die Städte zwischen Dinslaken und nächsten Jahre sein. Bei allen anderen Fließgewässern Castrop-Rauxel in ein Groß-Venedig müssen grundsätzlich zwei Situatio- verwandeln. Klassifizierung urbaner nen unterschieden werden: Abgesehen von den bergbau- Fließgewässer • siedlungstangierte Fließgewässer bedingten hydrologischen Beson- und derheiten leiden die Flüsse und Gewässerökologisch werden • siedlungsdominierte Fließgewässer. Bäche des Ruhrgebietes an den mor- Fließgewässer regional und längszo- Siedlungstangierte Fließgewäs- phologischen, hydraulischen und nal klassifiziert. Die regionale Bach- ser befinden sich im Randbereich ökologischen Beeinträchtigungen, typologie beschreibt den potenziell von Siedlungsgebieten oder durch- die für urbane Gewässer typisch natürlichen Zustand der Fließge- schneiden diese nur kurz, um danach sind.2 Sie werden nachstehend näher wässer in einer Fließgewässerland- in der freien Landschaft weiter zu beschrieben. Eine besondere Chance schaft, der geprägt wird durch die verlaufen. Ihr Abflussverhalten und für eine ökologische Verbesserung Höhenlage, Geologie, Pedologie, das die Wasserqualität wird nicht oder ergibt sich jetzt allerdings aus dem Gefälle und die Hydrologie sowie nur geringfügig durch die Siedlungs- Umstand, dass nach der Nordwan- durch die sich unter diesen Bedin- lage beeinflusst, die Morphologie derung des Bergbaus die Senkungs- gungen entwickelnden speziellen, ist jedoch dem geringen Platzange- bewegungen im eigentlichen Revier angepassten Lebensgemeinschaften.3 bot und dem Sicherheitsbedürfnis zum Stillstand gekommen sind. Das Urbane Fließgewässer können somit der Anwohner entsprechend meist Abwasser muss nicht mehr ober- jedem natürlichen Gewässertyp begradigt, befestigt und tiefer gelegt.

(1) Vergleich des Fließgewässernetzes der Stadt Bochum um 1840-1843 mit der Situation 1984-1986. Quelle: Thiesmeier et al. 1988 70 ESSENER UNIKATE 19/2002 71

Trotzdem unterscheidet sich die aquatische Fauna in der Regel kaum 1840-1843 1984-1986 Rückgang von der Besiedlung der oberhalb und (%) unterhalb in der freien Landschaft Gewässer 1. Formation 157 45 71 verlaufenden Gewässerabschnitte. Gewässer 2. Formation 39 5 87 Ungünstige Umfeldstrukturen Gewässer 3. Formation 10 2 80 werden durch konstante Eindrift Emscherzuflüsse ca. 75 km ca. 13 km 83 und Aufwanderung im Gewässer selbst ausgeglichen. Grundvor- Ruhrzuflüsse ca. 86 km ca. 28 km 67 aussetzung hierfür ist jedoch eine Durchgängigkeit des Gewässers und (2) Vergleich des Fließgewässernetzes der Stadt Bochum um 1840-1843 eine naturnahe, unbefestigte Gewäs- mit der Situation 1984-1986. sersohle. Quelle: verändert nach Thiesmeier et al. 1988 Siedlungsdominierte Fließge- wässer werden in ihren morpholo- des Fließgewässernetzes von der vor- halt beeinflussten Abfluss zu einem gischen, chemischen und hydrauli- industriellen Zeit bis heute verdeut- theoretischen, unbewirtschafteten schen Eigenschaften durch die Lage licht die Abbildung 1 am Beispiel der Abfluss. im Ballungsraum und die damit Stadt Bochum.6 Trinkwasser- und Brauchwas- verbundenen Nutzungen geprägt. Abbildung 2 zeigt, dass von dem serbedarf im gesamten Ruhrgebiet Die Besiedlung dieser Fließgewässer dramatischen Rückgang der Anzahl machen diese massive Bewirtschaf- unterscheidet sich in der Regel deut- von Gewässern sowohl kleine als tung notwendig: lich von der der Gewässer der freien auch große Gewässer betroffen sind. - Einwohner im Ruhreinzugsgebiet: Landschaft. Meist sind die Ben- Bezogen auf die Einzugsgebiete 2,2 Mio. thosgemeinschaften artenarm und ist der Verlust an Fließstrecke im - Einwohner im Versorgungsgebiet werden dominiert von Ubiquisten Emschereinzugsgebiet größer als in mit Ruhrwasser: 5,2 Mio. („Allerweltsarten“) bzw. Generalis- dem der Ruhr. - Jährlicher Wasserverbrauch (Haus- ten ohne spezielle Lebensrauman- halte, Industrie): ca. 600 Millionen sprüche.4 Der Grad der Abweichung Qualitätskomponente Kubikmeter, davon Wasserexport in der Besiedlung von naturnahen „Wasserhaushalt“ andere Einzugsgebiete (Emscher-, Bedingungen hängt ab von dem Lippe-, Wupper- und Emseinzugsge- Ausmaß und der Frequenz anthro- Anthropogene Nutzungen beein- biet): ca. 300 Millionen Kubikmeter. pogener Störungen sowie von dem flussen im Ruhrgebiet in vielfältiger Ungesteuert würde die Ent- Wiederbesiedlungspotenzial.5 Die Weise den Wasserhaushalt. nahme den Trockenwetterabfluss der weiteren Kapitel betreffen vor allem Ruhr in einem solchen Maße verän- die Situation in den siedlungsdomi- Veränderung der natürlichen dern, dass nicht nur die Zeit ökolo- nierten Gewässern. Niedrigwassersituation gisch kritischer Niedrigwassersitua- tionen verlängert würde, sondern der Reduktion der Fließlänge Das Niedrigwasserregime der Fluss sogar abschnittsweise trocken Ruhr wird in nachhaltiger Weise fallen könnte. Vor allem der Bedarf an Sied- durch die Wasserstandsaufhöhung Für die kleinen Zuflüsse sowie lungsfläche führte dazu, dass eine aus den 14 Talsperren und den Rück- für die Emscher führt die Versie- Vielzahl von Gewässern in ihrem halt in fünf Flussstauseen beeinflusst. gelung des Einzugsgebietes zu Lauf verkürzt und begradigt oder Abbildung 3 zeigt einen Vergleich einer verringerten Grundwasser- sogar zugeschüttet, verrohrt und des gesteuerten, durch Niedrigwas- neubildungsrate, wodurch sich der überbaut wurde. Die Entwicklung seraufhöhung und Hochwasserrück- Niedrigwasserabfluss im Extremfall

NQ NQ MQ größter Tages- größter Tages- Winter Sommer Jahr mittelwert Winter mittelwert Sommer Gemessener 19,0 7,73 36,2 274 20,0 Abfluss (m3/s) Unbeeinflusster 22,0 0,85 36,7 328 23,1 Abfluss (m3/s)

(3) Geringste, mittlere und größte Tagesmittelwerte am Pegel Mülheim für das Abflussjahr 1999. Quelle: Ruhrverband 1999 72 ESSENER UNIKATE 19/2002 73 bis zum lokalen Trockenfallen des Typ A: Entlastung bei Hochwasser Gewässers reduzieren kann. Ein Entlastungstyp A – Ereignis 41 (13.12.1993) 2000 0 Umdenken, größere Anteile des 1800 1 1600 2 Niederschlages an Ort und Stelle 1400 hN QMS1 QE 3 versickern zu lassen, hat eingesetzt,7 1200 4 1000 5 wenn auch die versiegelten Flächen 800 6 trotz sinkender Bevölkerungszahl im Q (l/s) 600 7 hN (mm) 400 8 Ruhrgebiet noch weiter zunehmen. 200 9 Auswirkungen sind die Verände- 0 10 rung des natürlichen hydraulischen 07:00 07:15 07:30 07:45 08:00 08:15 08:30 08:45 09:00 09:15 09:30 09:45 10:00 10:15 10:30 10:45 11:00 11:15 11:30 11:45 12:00 Regimes und des Sedimenttranspor- Typ B: Große Entlastung tes, die Kolmatierung (Verstopfung Entlastungstyp B – Ereignis 38 (15.09.1993) und Verfestigung des Lückenraumes) 2000 0 des Bachbettes und die Verringerung 1800 1 1600 2 hN QMS1 QE des benetzten Querschnittes, was zu 1400 3 1200 4 einem Verlust an Lebensraum für die 1000 5 aquatische Biozönose führt. Ferner 800 6 Q (l/s) 600 7 hN (mm) gehören zu den Folgen die Abnahme 400 8 der Strömungsvariabilität, der Rück- 200 9 0 10 gang strömungsliebender Arten, die

Aufheizung des Wasserkörpers, die 04:00 04:15 04:30 04:45 05:00 05:15 05:30 05:45 06:00 06:15 06:30 06:45 07:00 07:15 07:30 07:45 08:00 08:15 08:30 08:45 09:00 09:15 09:30 09:45 10:00 Unterbindung der Durchgängigkeit Typ C: Entlastung bei Niedrigwassersituationen durch Wehre sowie durch das Tro- Entlastungstyp C – Ereignis 13 (18.09.1992) 2000 0 ckenfallen der Gewässer selbst oder 1800 1 1600 2 zu geringen Wasserständen und die hN QMS1 QE 1400 3 Eutrophierung mit Algenmassenent- 1200 4 wicklung in den Flussstauseen. 1000 5 800 6 Q (l/s) 600 7 hN (mm) 400 8 Veränderung der natürlichen 200 9 Hochwassersituation 0 10

Durch die Versiegelung des Ein- 21:30 21:45 22:00 22:15 22:30 22:45 23:00 23:15 23:30 23:45 00:00 00:15 00:30 zugsgebietes und gezielte Einleitung Typ D: Kleine Entlastung Entlastungstyp D – Ereignis 25 (28.05.1993) von Niederschlagswasser aus der 2000 0 Misch- und Trennkanalisation kann 1800 1 1600 hN QMS1 QE 2 der resultierende Hochwasserabfluss 1400 3 den natürlichen um ein Vielfaches 1200 4 1000 5 überschreiten. Hierbei können fünf 800 6 Q (l/s) 600 7 hN (mm) verschiedene Einleitungssituationen 400 8 unterschieden werden, die sich in 200 9 0 10 ihrer schädigenden Wirkung für die

Biozönose deutlich unterscheiden 14:00 14:15 14:30 14:45 15:00 15:15 15:30 15:45 16:00 16:15 16:30 16:45 17:00 17:15 17:30 17:45 18:00 18:15 18:30 18:45 19:00

(Abb. 4). Besonders gravierend sind Typ E: Mittlere Entlastung die ökologischen Auswirkungen Entlastungstyp E – Ereignis 32 (31.07.1993) auf die Gewässerbiozönose, wenn 2000 0 1800 1 die anthropogen bedingten Hoch- 1600 2 wasserwellen auf natürliche Nied- 1400 hN QMS1 QE 3 1200 4 rigwassersituationen treffen (Ent- 1000 5 6 lastungstyp C) und die Frequenz Q (l/s) 800 hN (mm) 600 7 ihres Auftretens die natürlicher 400 8 200 9 Hochwässer deutlich überschreitet. 0 10 Einleitungsbedingte Hochwasser- wellen unterscheiden sich zudem 00:00 00:15 00:30 00:45 01:00 01:15 01:30 01:45 02:00 02:15 02:30 02:45 03:00 03:15 03:30 03:45 04:00 04:15 04:30 04:45 05:00 05:15 05:30 05:45 06:00 06:15 06:30 06:45 07:00 von natürlichen Hochwasserwellen durch die plötzliche Abflusszu- (4) Niederschlag und Abfluss für die Entlastungstypen A bis E. nahme, die den Gewässerorganismen (hN: Niederschlagsmenge, QMS1: Abfluss oberhalb der Einleitung, QE: Einleitungsabfluss). 72 ESSENER UNIKATE 19/2002 73

häufig nicht genügend Zeit für eine Fluchtreaktion in Richtung strö- Tagesgang Wassertemperatur mungsgeschützter Uferbereiche oder Lückenraumsystem des Bachbettes 30 lässt. Neben der schädigenden Wir- 25 kung auf die Gewässerorganismen geht jedoch besonders vom Ent- 20 lastungstyp B (Große Entlastung) 15 aber auch vom Entlastungstyp C (Entlastung bei Niedrigwassersitu- 10 Wassertemperatur (°C) Wassertemperatur ation) eine erhöhte Gefährdung für 08:00 11:00 14:00 17:00 21:00 00:00 04:00 08:00 z. B. am Wasser spielende Kinder Uhrzeit aus. Sie können durch die schnell ansteigende Hochwasserwelle erfasst Oberhausener Str. Frintroper Str. Hexbachstr. und weggespült werden, wenn sie die durch technischen Ausbau beding- ten steilen Ufer nicht schnell genug (5) Wassertemperatur im Läppkesmühlenbach am 01.08.1992 im Oberlauf des Gewässers und in zwei künstlichen Pools im ökologisch umgestalteten Mittellauf. erreichen bzw. erklettern können. Quelle: verändert nach Blettgen 1993 Die nachfolgend dargestellte Klassifizierung wurde an einem Regenüberlauf an der Schondelle in Sauerstoff-Tagesgang Dortmund ermittelt. Die quantita- 12 tiven Daten zu den verschiedenen 11 Entlastungstypen beziehen sich auf 10 die spezielle Situation, sind damit 9 nicht direkt auf andere Gewässer 8 (mg/l)

übertragbar, jedoch verdeutlichen sie 2 7 die Unterschiede zwischen den Ent- O 6 lastungssituationen. 5 Die Effekte sind die Tiefen- und 4 Breitenerosion des Bachbettes, die 08:00 11:00 14:00 17:00 21:00 00:00 04:00 08:00 Katastrophendrift der benthischen, Ende Poolstrecke Anfang Poolstrecke Referenz d. h. auf dem Gewässergrund leben- den Wirbellosenfauna durch häufi- (6) Sauerstoff-Tagesgang im Läppkesmühlenbach am 01.08.1992 im Oberlauf des Gewäs- gen Geschiebetrieb der Rückgang sers und in zwei künstlichen Pools im ökologisch umgestalteten Mittellauf. der weniger strömungstoleranten Quelle: verändert nach Blettgen 1993 Arten sowie der Feinsediment- bewohner, da deren Lebensraum verlagert und ausgespült wird. dung von Materialien mit gerin- Vereinheitlichung der Hinzu kommt als Konsequenz die ger Rauigkeit, z. B. Betonplatten), hydraulischen Bedingungen Verarmung der benthischen Lebens- Einengung des Abflussquerschnit- im Jahresverlauf gemeinschaft, wenn die Arten- und tes, Beseitigung natürlicher Quer- Individuenverluste durch Drift bei strukturen (z. B. Sturzbäume) und Hochwasserrückhaltebecken, erhöhter Hochwasserfrequenz und/ Einschränkung der Ausuferungs- Stauseen und Talsperren bewirken oder erhöhtem Hochwasserabfluss möglichkeit durch Uferbefestigung durch ihren punktuellen Retenti- die Reproduktionsraten der Arten und/oder Tieferlegung bewirken onsraum eine Dämpfung der natür- überschreiten.8 ebenfalls einen Anstieg der mittleren lichen und/oder anthropogenen Fließgeschwindigkeit im Profil. Hochwasserwellen in den unterhalb Erhöhung der Konsequenzen sind die Tiefene- gelegenen Fließgewässerabschnitten. Fließgeschwindigkeit rosion des Bachbettes und der Rück- Gleichzeitig wird durch den Aufstau gang der weniger strömungstoleran- der Weitertransport von Geschiebe Gewässerbegradigungen erhöhen ten Arten; vor allem im Tiefland eine und Sedimenten unterbunden. Stau- durch Verkürzung der Lauflänge die den Gewässertypen nicht entspre- seen und Talsperren können zudem resultierenden Fließgeschwindigkei- chende Dichtezunahme strömungs- in Abhängigkeit von ihrer Funk- ten. Technischer Ausbau (Verwen- liebender Arten. tion (z. B. Trinkwasserversorgung, 74 ESSENER UNIKATE 19/2002 75

Parameter ∅ Trockenwetter ∅ Unterhalb RÜ Extremwert zum anderen können strukturelle bei Entlastung bei Entlastung Maßnahmen an Gewässern deren

O2 (mg/l) 11,6 9,1 4,6 (*0,0) Sonnenexposition (z. B. fehlende n=23 n=35 Beschattung durch Gehölze) und/

NH4-N (mg/l) 0,05 1,19 2,87 oder Aufenthaltsdauer (z. B. Auf- n=23 n=37 stauung) verlängern und damit eine NH -N (μg/l) <1 10,3 53,1 3 Erwärmung begünstigen. In Bal- n=23 n=31 lungsräumen wie dem Ruhrgebiet NO2-N (mg/l) 0,01 0,07 0,21 n=23 n=37 sind vor allem Stadtparkteiche, die im Längsverlauf von Fließgewässern BSB5 (mg/l) 2,2 88 457 n=25 n=35 angeordnet sind, oder Hochwas- CSB (mg/l) 16,6 446 4047 serrückhaltebecken im Dauerstau n=5 n=35 Gründe für thermisch anormale AFS (mg/l) 11,4 840 2230 Bedingungen. Aber auch „Renatu- n=5 n=35 rierungsmaßnahmen“ können durch künstliche Gewässeraufweitungen, (7) Mittelwerte der Extremwerte während der Entlastungsereignisse von Juni 1992 bis Oktober 1995 an Probestellen unterhalb des Regenüberlaufes Schondelle (Dortmund) so genannte Pools, die aus Gründen sowie die jeweiligen Extremwerte, die im gesamten Untersuchungszeitraum an dieser der Biotopvielfalt angelegt wurden, Stelle gemessen wurden, im Vergleich zu den Mittelwerten der Trockenwetterdaten in das Temperaturregime negativ beein- diesem Gewässer (zeitverzögertes O2-Defizit). Quelle: verändert aus Podraza 1999 flussen. Abbildung 5 zeigt einen Tagesgang der Wassertemperatur Stromerzeugung im Unterwasser) Diese Bedingungen werden durch im Läppkesmühlenbach (Essen/ auch zu einer Aufhöhung des die Gewässerunterhaltung aufrecht Oberhausen/Mülheim) im Oberlauf natürlichen Niedrigwasserabflusses erhalten. (Hexbachstr.) und im rückgebauten dienen. Hierdurch verringert sich Auswirkung ist ein Rückgang der Abschnitt in dem ersten (Frintroper die natürliche Spannweite zwischen Diversität der aquatischen Lebensge- Str.) und dem letzten (Oberhause- Hoch- und Niedrigwasserführung. meinschaften, da das Mosaik unter- ner Str.) künstlich angelegten Pool Folgeerscheinungen sind die schiedlichster Choriotope (Kleinstle- im Längsverlauf des Gewässers an Eintiefung des Gewässers unterhalb bensräume, die durch Strömungsbe- einem heißen Tag (01.08.1992). der Staubereiche auf Grund des dingungen und Substratzusammen- Erhöhte Wassertemperaturen gestörten Geschiebehaushaltes, die setzung geprägt sind) mit den jeweils verringern die Löslichkeit von Gasen Kolmatierung des Bachbettes und angepassten Lebensgemeinschaften wie z. B. des Sauerstoffs. Selbstrei- damit Verlust des Lebensraumes im Gewässerquerschnitt zu Gunsten nigungsprozesse laufen bei erhöhten Interstitial (Bachlückensystem) und weniger dominierender Choriotope Temperaturen zudem schneller ab die Störung natürlicher, zum Teil verändert sind. Dies kann zum Aus- (RGT-Regel) und können dann aber abflussgesteuerter Reproduktions- fall von Artengruppen führen, die bei Sauerstoffmangelsituationen zyklen von Fischen und aquatischen z. B. auf Totholz als Lebensraum sogar unterbrochen werden. Die Wirbellosen. und/oder Nahrung angewiesen sind. Abbildung 6 zeigt die Auswirkungen der erhöhten Wassertemperaturen Vereinheitlichung der Qualitätskomponente auf die Sauerstoffkonzentrationen in hydraulischen Bedingungen im „physikalisch-chemische den künstlichen Pools des Läppkes- Gewässerquerschnitt Wasserqualität“ mühlenbachs. Alle aquatischen Wirbellosen Technisch orientierter Ausbau Durch die Bewirtschaftung der und Fische haben einen Tempera- und die Unterhaltung von Fließge- Fließgewässer können sowohl die turbereich, in dem sie existieren wässern zielen darauf, durch eine natürlichen Werte bzw. Konzentrati- können. Außerhalb eines häufig sehr Vergleichmäßigung des Durchfluss- onen verändert als auch neue Kom- engen Optimumbereichs verringern querschnittes einen ungehinderten, ponenten den aquatischen Systemen sich Wachstum und Reproduktion, kalkulierbaren Abfluss zu gewähr- hinzugefügt werden. außerhalb des Toleranzbereiches leisten. Durch die Entfernung von sterben die Organismen ab. Im Hex- Totholz und Beseitigung von natur- Wassertemperatur bach traten durch die beschleunigte raumtypischen Längs- und Quer- Selbstreinigung verbunden mit der strukturen (z. B. Inseln, Uferabbrü- Die Wassertemperatur kann zum O2-Zehrung der planktischen Algen che) entstehen häufig Regelprofile einen durch direkte Einleitungen der Pools in der Nacht kritische mit vereinheitlichten Strömungs- erhöht werden (z. B. Kühlwasser, Sauerstoffdefizite auf, die für Fische bedingungen an Ufern und Sohle. Sümpfungswasser des Bergbaus), und Wirbellose zu letalen und suble- 74 ESSENER UNIKATE 19/2002 75

talen Schädigungen führen können. Chloridkonzentration im Ölbachsystem Eine Artenverarmung mit einer Dominanz toleranter Allerweltsarten 2000 war die Folge dieser Poolstrecke. 1800 Zuflüsse Nach dem Verfüllen der Pools und 1600 Ölbach Umwandlung des Bereiches zu einer 1400 reinen Fließstrecke verbesserte sich 1200 die Situation, so dass erste, auf kon- 1000 stant niedrige Wassertemperaturen 800 angewiesene Arten nachzuweisen Cl (mg/l) 600 waren (z. B. eine Art aus der Familie 400 der Heptageniidae, die zur Ordnung 200 der Eintagsfliegen gehört). 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Geogen bedingte Wasserbeschaf- fenheit (inkl. pH-Wert und Säure- Probestellen neutralisierungsvermögen) (8) Chloridkonzentration im Ölbachsystem (Bochum). Quelle: verändert aus Podraza / Schuhmacher 1989 Geochemisch können Fließge- wässer in die zwei Typen ,Silikat- dichten die auf silikatische Bedin- tigung des Wassers mit Sauerstoff gewässer’ und ,Carbonatgewässer’ gungen spezialisierten Arten. kann z. B. bei Fischen zu schweren eingeteilt werden. Beide Typen physiologischen Schäden führen. unterscheiden sich vor allem in Nährstoffgehalt/Trophie Die durch das Nährstoffangebot ihrem Gesamtionengehalt (elektri- gesteigerte Photosyntheseaktivität sche Leitfähigkeit), dem pH-Wert, Diffuse Abschwemmungen vor der Algen und Makrophyten bewirkt der Gesamt- und Carbonathärte allem aus landwirtschaftlich genutz- in silikatischen Gewässern einen (Säureneutralisierungsvermögen) ten Flächen, nährstoffbelastete kritischen Anstieg des pH-Wertes. sowie in der auf den entsprechenden Grundwasserströme (Nitrat-Proble- Schäden können direkt durch das Chemismus spezialisierten Biozö- matik) und punktuelle Einleitungen alkalische Milieu bedingt werden nose. Silikatgewässer sind auf Grund aus Kläranlagen sowie bei Nieder- oder indirekt wirken, in dem das ihres geringen Pufferungsvermögens schlägen aus Einleitungsbauwerken vorhandene Ammonium zu fischto- bei Säureeinträgen (z. B. „Saurer der Misch- und Trennkanalisation xischem Ammoniak umgesetzt wird. Regen“) besonders gefährdet. Aus erhöhen den Nährstoffgehalt in Das herbstliche Absterben der Algen gleichem Grund kann der pH-Wert Fließgewässern. Durch deren Dün- und Makrophyten kann bei hohen bei gesteigerter Trophie jedoch auch gewirkung wird die Produktivität Biomassen zu einer saprobiellen deutlich in den alkalischen Bereich von Algen und Makrophyten gestei- Belastung des Gewässers führen und wechseln und dabei z. B. Ammo- gert; ein Phänomen, dem zumeist den Sauerstoffhaushalt des Gewäs- nium zu giftigem Ammoniak umset- mit Entkrautungsmaßnahmen begeg- sers aus dem physiologisch erträgli- zen. Kalkhaltige Aufschüttungen im net wird. chen Rahmen bringen. Einzugsgebiet sowie Einleitungen Die Auswirkungen sind vielfäl- mit hohen Härtegraden verändern tig: Nährstoffliebende, schnellwüch- Organischer den geochemischen Charakter eines sige Algen (häufig fädige Grünalgen) Gehalt/Saprobie Silikatgewässers zu einem Carbonat- verdrängen die an geringere Nähr- gewässer. stoffgehalte angepassten Algenge- Einleitungen aus Kläranlagen Die Senkung des pH-Wertes meinschaften. Hierdurch verändert und bei Niederschlägen aus Einlei- bewirkt in der Regel das Verschwin- sich auch das Nahrungsangebot für tungsbauwerken der Misch- und den säureempfindlicher Fische und auf bestimmte Algenarten spezia- Trennkanalisation erhöhen punktuell Wirbellosen (z. B. Ausfall vieler lisierte Pflanzenfresser, die dann in den Gehalt an organischen, fäulnis- Eintagsfliegenarten). Die Verände- ihrem Bestand zurückgehen. Hohe fähigen Stoffen um ein Vielfaches, rung des geochemischen Typs des Dichten von Algen und Makrophy- (Abb. 7). Diese Substanzen können Silikatgewässers zu einem Carbonat- ten verursachen erhöhte tagesperi- gelöst oder partikulär vorliegen. gewässer fördert die auf einen gewis- odische Schwankungen des Sauer- Ihr bakterieller Abbau benötigt sen Kalkgehalt angewiesenen Arten stoffgehaltes. Dabei können nicht Sauerstoff, der bei diesem Prozess wie Schnecken und Bachflohkrebse. nur die morgendlichen Minima die verbraucht wird. Die Oxidation von Diese sind häufig konkurrenzstark aquatische Biozönose stressen oder Ammonium und Nitrat sind weitere, und verdrängen in den Individuen- sogar schädigen, auch eine Übersät- den Sauerstoffhaushalt zum Teil 76 ESSENER UNIKATE 19/2002 77

(a) Laufentwicklung Oberlauf (b) Sohlenstruktur Oberlauf 45 60 40 50 35 30 40 25 30 20 15 20 10 10 5 0 0 1 2 3 4 5 6 7 1 2 3 4 5 6 7 Anteil (%) Anteil (%)

(c) Laufentwicklung Mittellauf (d) Sohlenstruktur Mittellauf 40 35

35 30 30 25 25 20 20 15 15 10 10 5 5 0 0 1 2 3 4 5 6 7 1 2 3 4 5 6 7 Anteil (%) Anteil (%)

(e) Laufentwicklung Unterlauf (f) Sohlenstruktur Unterlauf 50 60 45 50 40 35 40 30 25 30 20 20 15 10 10 5 0 0 1 2 3 4 5 6 7 1 2 3 4 5 6 7 Anteil (%) Anteil (%)

(9a-f) Chloridkonzentration im Ölbachsystem (Bochum). Quelle verändert aus Podraza / Schuhmacher 1989 76 ESSENER UNIKATE 19/2002 77

kritisch belastende Stoffwechselpro- wasserähnliche Verhältnisse) und auch auf die Strukturen im Ufer zesse. die Ionenzusammensetzung für (Schlupf, Eiablage) und im Umfeld Diffuse organische Belastungen Binnengewässer unnatürlich verän- (Nahrungsaufnahme, Paarung, entstehen vor allem bei Gülleab- dert (z. B. das Verhältnis von Alkali- Übersommerung, Überwinterung) schwemmungen von den landwirt- zu Erdalkaliionen). Abbildung 8 angewiesen. Das Fehlen oder die schaftlich genutzten Freiflächen des zeigt die Chloridkonzentration im Veränderung standorttypischer Ruhrgebietes (z. B. in den Regiona- Ölbachsystem, in das im Mittellauf Bedingungen durch dicht an das len Grünzügen A bis E) und Abster- Sümpfungswässer in beträchtlichem Gewässer heranreichende Nutzung ben von Algen und Makrophyten Umfang eingeleitet werden. bzw. intensive Bewirtschaftung des vor allem in durch Eutrophierung Die Auswirkungen dieser Sümp- Gewässers selbst, kann diesen Kreis- und Stillgewässer im Hauptschluss fungswassereinleitung verbunden lauf unterbrechen. beeinflussten Gewässerabschnitten. mit den Effekten der Werner Teiche, Während die Emscher und ihre Der oxidative Abbau organischer eines Stillgewässers im Längsverlauf zu Abwassersammlern ausgebauten Substanzen benötigt Sauerstoff und des Ölbaches, zeigen sich im Ausfall Nebenläufe in ihrer Struktur des

belastet damit den natürlichen O2- von strömungsliebenden Arten, die Gewässers und Ufers morphologisch Haushalt des Gewässers. Stenoxibi- für den Gewässertyp spezifisch sind, als völlig verändert (Strukturgüte- onte Arten, d. h. Arten, die auf einen in der Dominanz temperaturtole- klasse 7) einzustufen sind, zeigen die gleich bleibend hohen Sauerstoffge- ranter, häufig Stillgewässer präferie- nicht ausgebauten Emscherzuläufe halt angewiesen sind, gehen zurück render Arten und im Auftreten von sowie die Gewässer im Ruhreinzugs- zu Gunsten verschmutzungstoleran- chloridtoleranten Brackwasserarten gebiet ein differenzierteres Bild: ter Formen. z. B. bei den Ostracoden (Muschel- In den Abbildungen 9 a-f ist krebsen) und Rhodophyceen exemplarisch die Bewertung der Gehalt an spezifischen (Rotalgen).9 Laufentwicklung und der Sohlen- synthetischen und struktur, zwei für die Naturnähe nichtsynthetischen Schadstoffen Qualitätskomponente Morphologie und die Besiedlungsbedingungen für Fische und Makroinvertebraten Die Gruppe der synthetischen Bei der Qualitätskomponente Mor- besonders wichtige Hauptparameter und nichtsynthetischen Schadstoffe phologie müssen folgende Faktoren des Verfahrens zur Bestimmung der umfasst eine Vielzahl chemischer berücksichtigt werden: Strukturgüte, dargestellt. Deutlich Substanzen, die sich in ihrem • die oben genannten, durch mor- wird, dass in der östlich des Ruhr- Ursprung, ihrer Persistenz und phologische Veränderungen den gebietes gelegenen Ober- und Mit- Mobilität aber auch in ihren ökolo- Abfluss bzw. die Fließgeschwindig- tellaufregion der Ruhr naturnahe gischen Wirkungen erheblich unter- keiten beeinflussenden Faktoren, bis naturferne Strukturen zu finden scheiden. • die Durchgängigkeit des Gewässers sind. Im Ruhrgebiet selbst sind Lauf- Die Auswirkungen erhöhter und entwicklung und Sohlenstruktur Konzentrationen in Abhängigkeit • Faktoren, die durch ihre direkte anthropogen verändert, naturnahe von Art des Schadstoffes und seiner Strukturausprägung die Besiedlung Abschnitte existieren nicht mehr. Konzentration können reichen von von Bachbett, Ufer und Umfeld Auswirkungen sind: Verände- der Anreicherung im Gewebe (so beeinflussen. rung von Neigungswinkel, Mate- dass beispielsweise Fische nicht mehr Technisch orientierte Ausbau- rial und Bewuchs der Ufer sowie verzehrt werden dürfen), der Verän- und Unterhaltungsmaßnahmen ver- das Fehlen von Strukturen, die als derung von Wachstums- und Repro- ändern und vergleichmäßigen häufig Schlüsselreize für Wasserinsekten duktionsraten über den Ausfall emp- die natürliche Substratverteilung z. B. für die Paarung oder Eiablage findlicher Arten bis hin zur völligen im Gewässerbett. Fischunterstände notwendig sind (Beschattungsgrad, Verödung des Gewässers. werden bei der Sicherung der Ufer über das Gewässer reichende Äste, Im Ruhrgebiet stellt die Ein- beseitigt, durch die Beseitigung von Moospolster als Eiablagesubstrate) leitung von Grubenwässern eine Gehölzen in der Wasserlinie gehen unterbrechen häufig den Lebenszy- besondere Belastungsquelle dar. deren flutende Wurzeln als Lebens- klus spezieller Arten10 und verursa- Diese Wässer sind zum einen, da sie raum für Wirbellose und Jungfische chen damit das Fehlen der Art auch aus großer Tiefe stammen, wärmer verloren. bei guter Wasserqualität. als die Oberflächengewässer (z. B. Insekten, die ihre Ei- und Larval- Sümpfungswassereinleitung Zentrale entwicklung im Wasser vollziehen, Qualitätskomponente Wasserhaltung Robert Müser in den um als geflügeltes, geschlechtsreifes Durchgängigkeit Ölbach (Bochum): Wassertempe- Tier das Wasser zu verlassen, sind ratur: ca. 25 °C). Zum anderen ist zur Vollendung ihres Lebenszyklus Wasserbauliche Maßnahmen der Chloridgehalt erhöht (brack- sowohl auf das Gewässer selbst als können die Durchgängigkeit sowohl 78 ESSENER UNIKATE 19/2002 79 im aquatischen Bereich als auch im Bauwerke, die einen Rückstau her- Verringerung der Artdiversität und amphibischen und terrestrischen vorrufen, der mangels Strömung die genetische Verarmung der Ober- Bereich einschränken oder völlig nicht durchdriftet werden kann laufgebiete, da keine Zuwanderung unterbinden. (Talsperre, Hochwasserrückhaltebe- erfolgt. Bei hoher Driftintensität und cken). fehlendem Ausgleich durch kompen- Durchgängigkeit Zu den Auswirkungen gehören satorische Aufwärtswanderung kann im aquatischen Bereich der Ausfall der Langdistanzwander- es langfristig zum Erlöschen von fische wie Lachs, Stör oder Maifisch Populationen kommen. Fließgewässer stellen als offene sowie Fluss- und Meerneunaugen, Ökosysteme Transportbänder für die Isolation der Teilpopulationen Leitbilder für die Bäche und Stoffe und Wanderwege für Organis- von Fischen und Wirbellosen mit Flüsse des Ruhrgebietes – welche men dar. Anadrome und katadrome der Gefahr genetischer Verarmung Vision brauchen Wasserwirtschaft, Fische sind als Langdistanzwande- und Verringerung des Wiederbe- Naherholung und Naturschutz? rer für ihre Reproduktion auf den siedlungspotenzials nach Störungen. Wechsel vom marinen Lebensraum Mechanische Verletzungen der Tiere Die Vorstellung von einem ins Süßwasser bzw. umgekehrt erfolgen z. B. an Rechenanlagen oder „typischen“ Bach im Ballungsraum angewiesen. Die anderen Fischarten bei der Passage durch Turbinen. Ruhrgebiet ist immer noch mit sowie die aquatischen Wirbellosen einem vollständig technisch ausge- führen kürzere Wanderungen durch: Durchgängigkeit im amphibischen bauten, betonierten und Rohabwas- • zur Ausbreitung der Art und terrestrischen Bereich ser führenden Gerinne verbunden. • zum Aufsuchen geeigneter Nah- Neben dem raschen Abführen des rungsplätze Fließgewässer, ihre Ufer und (hygienisch bedenklichen) Schmutz- • zur Paarung und zum Aufsuchen Auen stellen Leitlinien in der Land- wassers haben solche „Bäche“ kaum geeigneter Laichhabitate schaft dar, die von einer Vielzahl Funktionen weder für den Menschen • zur Vermeidung von Räubern oder von Arten für ihre Wanderungen noch für die Natur. Aber auch die anderen Stressoren genutzt werden. Amphibien und anderen oben aufgeführten „Eigen- • zur Übersommerung bzw. Über- andere in der Wasserwechselzone heiten“ urbaner Gewässer sind in winterung. lebende Organismen folgen den dem Bewusstsein der Menschen im Bei Wanderhindernissen muss Gewässerläufen bei ihren Wande- Ruhrgebiet stärker verwurzelt als die grundsätzlich unterschieden werden rungen zu geeigneten Nahrungs- Schönheit der wenigen noch verblie- zwischen Aufwanderungshindernis- plätzen, Übersommerungs- bzw. benen Gewässer-Relikte. Denn außer sen und Hindernissen, die sowohl als Überwinterungsquartieren oder diesen naturfremden „Vorflutern“, Auf- als auch als Abwanderungshin- Fortpflanzungsgebieten. Verrohrte wie die Wasserwirtschaft sie bezeich- dernis wirken.11 Aufwanderungshin- Gewässerabschnitte, Durchlässe, net und die häufig Meidungsgebiete dernisse sind Bauwerke wie Wehre die die amphibische Zone nicht mit für die dort lebenden Menschen und hohe Abstürze, die Ortswechsel erfassen oder der Verbau der Ufer sind, haben sich während Aufstieg direkt unterbinden, soweit keine (z. B. Spundwände, Mauern) verhin- und Niedergang der industriellen technischen Vorkehrungen für eine dern diese Ortswechsel und isolieren Hochkultur des Ruhrgebietes in den Passierbarkeit getroffen wurden. An die ehemals über das Gewässer ver- letzten 150 Jahren in fast allen Städ- der mittleren und unteren Ruhr exis- netzten Lebensräume. ten – meist in den in ihrem Flächen- tieren 49 Wehre, die bis heute nicht Insekten mit aquatischer Lar- anteil gar nicht so gering vertretenen alle fischdurchgängig sind und damit valphase kompensieren die gewäs- Parkanlagen und landwirtschaftlich z. B. die Wiederkehr des Lachses serabwärts gerichteten Driftverluste genutzten Flächen – weitaus weniger verhindern. Verschiedene Bauwerke der Larven durch Bachaufwärtsflüge überformte Wasserläufe erhalten. sind teildurchlässig oder nur für der geschlechtsreifen, geflügelten Nur partiell abwasserbelastet, nicht bestimmte Arten passierbar. Hierzu Tiere. Die Orientierung erfolgt dabei oder nur teilweise ausgebaut, haben gehören flachere Abstürze, Sohl- optisch und anhand des feucht- diese „Stadtbäche“ zum Erhalt einer rampen und -gleiten sowie Verroh- kühlen Kleinklimas. Überbauungen zumindest als „Grundausstattung rungen und Gewässerüberbauungen und Verrohrungen unterbrechen natürlicher Bäche“ zu bezeichnenden aber auch viele Fischtreppen. diese Orientierungsmarken und Tier- und Pflanzenwelt beigetragen. Die Aufwanderung kann zusätz- können bewirken, dass die Insekten Da sie mit ihrer linienhaften Struktur lich auch durch anthropogen ver- den oberhalb gelegenen Gewässerab- in der Regel die Außenbereiche der stärkte Niedrigwassersituationen schnitt nicht wiederfinden. Städte mit den eigentlichen industri- eingeschränkt werden. Auf- und Die Konsequenzen sind die ellen, dicht besiedelten Kernzonen Abwanderungshindernisse sind Zerschneidung eines Gebietes in verbinden, stellen sie selbst zugleich Stillgewässer im Hauptschluss sowie genetisch isolierte Teilhabitate, die Wanderwege für Pflanzen und Tiere 78 ESSENER UNIKATE 19/2002 79

dar, über die sich ihre Lebenswelt ter der Gewässer in der jeweiligen einer Allerweltsfauna und -flora „auffrischt“ und weiterentwickelt.12 Landschaft nicht gerecht wird, Lebensraum, die gemessen an natur- Fast in allen Ruhrgebietsstädten aber ein vermeintliches Verständnis nahen Vorbildern stets einen geringe- können hinsichtlich der Nutzungs- von „Bach“ visualisieren soll (z. B. ren ökologischen Wert widerspiegeln intensität und des ökologischen Grobschotter und Abstürze, um ein wird. Gesamtzustandes der Gewässer gebirgsartig turbulentes Fließen in Moderne Verfahren der Beur- grundsätzlich drei Zonen unterschie- Tieflandbächen zu erreichen). Auch teilung der Gewässerqualität, wie den werden: die Gestaltung des Gewässerumfel- sie die auch in Deutschland seit 1. in weiter entfernten Waldgebie- des, der eigentlichen Aue, wurde in Dezember 2000 gültige „Wasser- ten, meist der Ruhrgebietsrand- die Planung von Vielfalt einbezogen: Rahmenrichtlinie“ der Europäischen lagen bei sehr geringer Besiedlung: Trockenrasen, Obstwiesen und Ähn- Union darstellt, orientieren sich häufig naturnahe Bäche; liches wurden zum gestalterischen, jedoch auch bei den stark überform- 2. bereits stadtnäher bei mittlerer aber ökologisch sinnlosen Element ten Gewässern des Ballungsraumes Besiedlungsdichte: landwirtschaft- in der ursprünglich vernässten, an naturnahen Referenzgewässern lich genutzte Flächen mit meist bewaldeten Aue. eines vergleichbaren Gewässerty- teilausgebauten und bereits belas- Bäche und Flüsse, die auf diese pus. Gefordert wird auch hier eine teten Bächen; Weise gestaltet wurden, sind struk- nachhaltige Bewirtschaftung von 3. im eigentlichen Stadtbereich mit turell monotonisiert und in ihrer Oberflächengewässern und Grund- dichter Bebauung und hoher Lebenswelt nivelliert, d. h. sie bieten wasserkörper. Ziel ist es, den beste- Besiedlungsdichte: in der Regel vollständig ausgebauten (oft ver- rohrten) Wasserläufen. Fließgewässertyp Bäche (km) (%) Der Rückgang der intensiven Kiesgeprägtes Fließgewässer der 165,4 5 industriellen Nutzung des Ruhr- Verwitterungsgebiete und Flussterassen gebietes, der Wunsch nach Ver- besserung seines Images und der Löß-lehmgeprägtes Fließgewässer 341,6 11 Lebensqualität der hier wohnenden der Bördenlandschaft Menschen ließen in den letzten 15 Fließgewässer der Niederungen 1.485,6 47 Jahren verschiedene Initiativen zur naturnahen Gestaltung der Wasser- Karstbach 57,3 2 läufe der Region entstehen. Diese betrafen in gleicher Weise die Bäche Sandgeprägtes Fließgewässer der 424,3 13 Sander und sandigen Aufschüttungen der oben genannten Zonen 2 und 3. Die wenigen reliktären Waldbäche Organisch geprägtes Fließgewässer der 50,6 2 blieben in der Regel unbeachtet, Sander und sandigen Aufschüttungen auch in ihrer hervorragenden Eig- nung als mögliche Vorbilder für eine Kerbtalbach im Grundgebirge 172,5 5 naturnahe Umgestaltung. Kleiner Talauebach im Grundgebirge 413,4 13 Aus Stadtbächen wurden daher zunächst häufig semi-artifizielle Grosser Talauebach im Grundgebirge 42,7 1 Wasserläufe, die allen anthropo- zentrischen Ansprüchen und einer Summe 3.153,8 100 möglichst vielgestaltigen Tier- und Pflanzenwelt gerecht werden sollten Fließgewässertyp Flüsse – zu verstehen vielleicht als eine Art Lehmgeprägter Fluss des Tieflandes 74,0 17 Gegenausschlag auf die biologisch (Emscher überwiegend) verödeten, menschenfeindlichen Sandgeprägter Fluss des Tieflandes 186,4 44 Rohabwasserläufe der industriellen Emscher kleine Teilstrecke Hoch-Zeit. Zum so „renaturierten“ Stadtbach gehörten die Integration Schottergeprägter Fluss des 167,0 39 von Stillgewässerelementen (Tei- Grundgebirges (Ruhr) chen, Staustrecken) in das eigentli- Summe 427,5 100 che Fließgewässer, ein erheblicher Mangel an Ufergehölzen und eine (10) Die Fließgewässertypen des Ruhrgebietes. Lauflängen und Anteile am Gesamtgewäs- Ausstattung mit baulichen Elemen- sernetz, getrennt nach Bach- und Flusstypen. ten, die dem eigentlichen Charak- Quelle: Auswertung nach LUA (i. Dr.) 80 ESSENER UNIKATE 19/2002 81 henden Zustand der Gewässer nicht ein Gewässer im Ballungsraum die typen natürlicherweise verbreitet zu verschlechtern und, da eine gute notwendigen, naturraumtypischen (Abb. 10); sie repräsentieren die ökologische Qualität in den meisten Requisiten aufweist, kann sich eine potenzielle Vielfalt der Fließgewäs- Fällen nicht gegeben ist, die Gewäs- Pflanzen- und Tierwelt einstellen ser dieses Raumes. Die große Zahl serqualität in Richtung dieser Ziel- und dauerhaft etablieren, die dem erklärt sich schon aus der Tatsache, vorgaben zu entwickeln. zugrunde liegenden Leitbild bzw. dass das Ruhrgebiet als „Kernstück“ Die Zielvorgabe „Gewässerquali- Gewässertyp entspricht. Anders Nordrhein-Westfalens im Übergang tät“ definiert sich über ausgedrückt: Nur wenn beispiels- vom Norddeutschen Tiefland zur • den chemischen Zustand und weise in einem von sandigen Böden deutschen Mittelgebirgsschwelle • den ökologischen Zustand oder geprägten Raum ein Bach auch eine liegt und zu etwa gleichen Anteilen • das ökologische Potenzial im Fall vorherrschend sandige Sohle erhält, diesen Naturräumen zuzurechnen der künstlichen oder erheblich ver- wird sich aus dem umgebenden ist. Fünf dieser insgesamt zwölf änderten Wasserkörper. Potenzial an noch vorhandenen Fließgewässertypen lassen sich dem Maßstab für die Bewertung des Sandbächen eine angepasste Fauna Mittelgebirge zurechnen, sieben dem ökologischen Zustands ist der Refe- dauerhaft einstellen. Inwieweit sich Tiefland. Die häufigsten Bachtypen renzzustand, der über die Zusam- diese eingefunden hat (Anzahl spe- des Ruhrgebietes sind die Tiefland- mensetzung folgender „biologischer zifischer Sandbewohner etc.), wird typen Niederungsbach (47 Prozent), Qualitätskomponenten“ zu definie- wiederum als „Gütekriterium“ bei Sandbach (13 Prozent), Löß-Lehm- ren ist: der Bewertung benutzt. bach (11 Prozent) und der Kleine • benthische Wirbellosenfauna, Nordrhein-Westfalen hat für Talauebach als Mittelgebirgstypus (13 • Fischfauna, eine solche moderne Bewertung und Prozent). Vorherrschende Flusstypen • aquatische Makrophyten, leitbildentsprechende ökologische sind der Schottergeprägte Fluss des • Phytobenthos und Entwicklung seiner Gewässer die Grundgebirges (die aus dem Sauer- • Phytoplankton besten Voraussetzungen geschaffen. land stammende Ruhr; 39 Prozent) ergänzt durch hydromorphologische Es war eines der ersten Bundeslän- und der Sandfluss des Tieflandes und physikalisch-chemische Qua- der, das für die Bäche und Flüsse des (Lippe, teilweise die Emscher; 44 litätskomponenten. Der Grad der Landes Leitbilder und Handlungsan- Prozent). Abweichung eines Gewässers von weisungen entwickeln ließ. Ziel war Die Leitbilder dieser und der der jeweiligen regionalen Referenz- dabei, die Vielfalt der etwa 10.000 anderen Typen beschreiben defini- situation bestimmt den ökologischen Wasserläufe Nordrhein-Westfalens tionsgemäß den „heutigen potenzi- Zustand. nach ihren Lebensgemeinschaften ellen natürlichen Gewässerzustand Bei einer solchen Bewertung und ihrer strukturellen Ausprägung (hpnG), der sich nach Aufgabe vor- werden nicht nur die verbliebenen zu gliedern und zu typisieren. Auf handener Nutzungen am Gewässer Abwasserläufe, sondern auch die der Grundlage möglichst naturnaher und seiner Aue sowie nach Ent- uniform „renaturierten“ Stadtbäche Referenzgewässer wurden detail- nahme sämtlicher Verbauungen ein- eine schlechte Note erhalten. lierte Leitbildbeschreibungen für die stellen würde. Es schließt durch den Ein besserer ökologischer 14 Bachtypen und sieben Flusstypen Menschen verursachte irreversible Zustand (die Wasser-Rahmenrichtli- des Landes entwickelt.13 Sie geben Veränderungen der naturräumlichen nie verlangt als Mindestanforderung einen Eindruck von der Vielgestal- Rahmenbedingungen ein“. einen „guten ökologischen Zustand“, tigkeit der Landschaftsräume wie Das Leitbild hat also einen dies entspricht der Klasse II von der natürlichen Gewässer und liefern „aktualistischen“ Ansatz und besitzt fünf Klassen) lässt sich jedoch nur wertvolle Hinweise für ihre Bewer- keinen Bezug zu einem konkre- erreichen, wenn eine dem umgeben- tung und Entwicklung. ten historischen Zustand. Auf der den Landschaftsraum und den hier Für die modernen Verfahren der Grundlage des Gewässertyps und der natürlicherweise verbreiteten Was- Gewässerbewirtschaftung, wie sie Ermittlung der irreversiblen anthro- serläufen entsprechende Entwick- die Wasser-Rahmenrichtlinie der pogenen Veränderungen der natur- lungsrichtung eingeschlagen wird. Europäischen Union fordert, sind räumlichen Rahmenbedingungen Erforderlich sind – auch in der Stadt damit frühzeitig essenzielle Grundla- kann das Leitbild für das Gewässer – zunächst so genannte „naturraum- gen geschaffen worden. Diese Typen bzw. einzelne Gewässerabschnitte typische Leitbilder“, die in der Regel und Leitbilder der Bäche und Flüsse beschrieben werden. nur aus dem weiteren Umfeld der fanden in der wasserwirtschaftlichen Für die ökologische Entwicklung Städte gewonnen werden können. Praxis des Landes rasche Aufnahme der Wasserläufe Nordrhein-Westfa- Diese Leitbilder sind nicht etwa als und große Zustimmung über die lens ist also zunächst die Zuordnung nur von akademischem Interesse Landesgrenzen hinaus. zum korrekten Gewässertyp bzw. oder in dichten Siedlungsräumen Im Bereich des Ruhrgebietes Leitbild unerlässlich – dies gilt für als utopisch anzusehen: Nur wenn sind neun Bach- und drei Fluss- die Gewässer der freien Landschaft 80 ESSENER UNIKATE 19/2002 81

2) Schuhmacher 1989 ebenso wie für die zahlreichen einzelnen Stadtbachabschnitt, wie 3) LUA 1999 Nutzungen unterliegenden Bäche dies in der Vergangenheit vielfach 4) Podraza/Schuhmacher 1989 und Flüsse der dicht besiedelten erfolgte. Sie wird erreicht durch das 5) Halle/Podraza 2001 6) aus Thiesmeier et al. 1988 Räume. Nur so kann im konkreten „potenziell natürliche“ Vorkom- 7) Geiger/Dreiseitl 1995 Bewertungs- oder Planungsvor- men sehr verschiedener Bach- und 8) Podraza 1999 haben die richtige Messlatte bzw. Flusstypen in diesem Ballungsraum 9) Podraza/Schuhmacher 1989 Orientierungshilfe zur Verwendung (vgl. Abb. 9), deren Eigenschaften 10) Timm 1994, Lautenschläger/Podraza i. Dr. 11) DVWK 1996, 1997, Halle/Podraza 2001 kommen. am jeweils geeigneten Standort 12) Schuhmacher/Thiesmeier 1991 In den vielen Fällen im Ruhr- zumindest so weit möglich realisiert 13) MURL 1995, LUA 1999, 2002, i. Dr. gebiet, wo aufgrund irreversibler werden sollten, zur Entwicklung 14) Babbitt 1998 15) Zu den ausführlichen Typbezeichnungen anthropogener Veränderungen einer typspezifischen und stabilen vgl. LUA 1999, 2002 (Bergsenkungen, großflächiger Lebensgemeinschaft aus Pflanzen Bodenabtrag und Aufhaldungen) und Tieren und als Erlebnisraum keine typologische Zuordnung auch für den Menschen. Literatur möglich ist, soll im weiteren Pla- Die Umsetzung dieser Vorgaben – ATV: Weitergehende Anforderungen an nungsprozess die Orientierung an erfordert jedoch eine integrative Mischwassereinleitungen – Grundlagen dem Leitbild benachbarter Gewäs- Planung, in der Gewässergütewirt- und Vorprüfung (2.Teil) sowie serabschnitte (ggf. der umgebenden schaft, Gewässermengenwirtschaft, Hinweise zur biologischen Beurteilung mischwasserbelasteter Gewässer, „freien Landschaft“) erfolgen. Im Wasserbau und Gewässerökologie Korrespondenz Abwasser 44 (5) 1997, 922- Vordergrund stehen dabei die Errei- interdisziplinär zusammenarbeiten. 927. chung der Durchgängigkeit für die – Babbitt, B.: Dams are not forever, Remarks vorhandenen bzw. zu erwartenden of Interior Secretary Bruce Babbitt, Ecological Summary Society of America. For release August 4, Organismen (Fische, Wirbellose) 1998 (202) 208-6416. und die Berücksichtigung der gewäs- Rivers and streams in the Ruhr – Blettgen, M.: Zur Ökologie renaturierter sertypischen Strukturen. Valley industrial area are subject Fließgewässer: ein hydrobiologischer Vergleich zwischen Oberlauf und Unterlauf Die dann festzulegenden Ent- to many different human factors. des Hexbaches, Examensarbeit Universität wicklungsziele beschreiben den The hydraulic regime is often Essen, 1993 unveröffentlicht. möglichst naturnahen, unter allen modified according to reduced – BWK (Hrsg.): Ableitungen von Anforderungen an Niederschlagswasserein gegebenen sozio-ökonomischen dry weather flow and accelerated leitungen unter Berücksichtigung örtlicher Randbedingungen und Einschrän- flood conditions. The water quality Verhältnisse, BWK Merkblatt 3, Düsseldorf kungen realisierbaren Zustand eines changes due to inflows from sewage 2001. Gewässers nach den jeweils best- treatment plants, discharges from – DEV (Deutsches Institut für Normung e.V.): Biologisch-ökologische Gewässergüteuntersu möglichen Umweltbewertungskri- combined and separate sewer chung: Bestimmung des Saprobienindex (M2). terien. outlets, and surface runoff and In: Deutsche Einheitsverfahren zur Wasser-, Dies heißt konkret: Auch bei den groundwater, polluted by deposits Abwasser- und Schlammuntersuchung. VCH, Weinheim 1992, 1-13. Bächen des Ballungsraumes Ruhrge- and industrial dusts. As regards the – DVWK (Hrsg.): Urbane Fließgewässer: biet hat eine Orientierung am kor- stream morphology, the meadows I: Bisherige Entwicklung und künftige rekten naturraumtypischen Leitbild are frequently built-up and the städtebauliche Chancen für die Stadt. II: Sicherung und Entwicklung ihrer zu erfolgen; wie weit man dessen riverbed is mostly straightened and Erholungsqualität Materialien 2/1996. Eigenschaften umsetzen kann, wird deeply incised in order to prevent DVWK, Bonn. zum einen durch die „irreversiblen“ flooding. All of these factors reduce – DVWK (Hrsg.): Fischaufstiegsanlagen Veränderungen und zum anderen the ecological quality of the aquatic – Bemessung, Gestaltung, Funktionskontrolle, DVWK Merkblätter zur Wasserwirtschaft durch die sozio-ökonomischen system, decreasing its species 232, Bonn 1996. Zwänge mitbestimmt. Die irrever- diversity and promoting benthic – DVWK (Hrsg.): Fischabstieg – siblen Veränderungen sind allerdings communities of non-specialised, Literaturdokumentation, DVWK Materialien 4/97, Bonn, 245 pp. nur in wenigen Fällen als solche ubiquitous species. Mitigation – DVWK (Hrsg.): Ermittlung akzeptiert: Auch Talsperren sind measures must take into account einer ökologisch begründeten z. B. nicht für alle Zeiten in ihrem the natural stream type, in order Mindestwasserführung mittels Halbkugelmethode und Habitat-Prognose- Bestand „zementiert“ – in den über- to combine technical function Modell, DVWK Schriften 123, Bonn 1999. stauten Tälern können prinzipiell with the ecological demands of the – DVWK (Hrsg.): Gestaltung und Pflege wieder Flüsse in ihren alten Betten typologically characteristic aquatic von Wasserläufen in urbanen Gebieten fließen – wenn dies gewünscht wird. species. – Merkblätter zur Wasserwirtschaft 252, DVWK, Hennef 2000. Die Vielfalt der Bäche und Flüsse – Emschergenossenschaft (Hrsg.): 100 im Ruhrgebiet ergibt sich daher Jahre Wasserwirtschaft im Revier: die Anmerkungen nicht durch die Realisierung vieler Emschergenossenschaft 1899-1999. Bottrop 1999. untypischer Requisiten in einem 1) Emschergenossenschaft 1999 82 ESSENER UNIKATE 19/2002 83

– Geiger, W. F./H. Dreiseitl: Neue Wege für das Regenwasser: Handbuch zum Rückhalt und zur Versickerung von Regenwasser in Baugebieten, München 1995. – Halle, M./P. Podraza: Verfahren zur Ermittlung des Wiederbesiedlungspotenzials von Makroinvertebraten auf der Grundlage von Gewässerstrukturmerkmalen. – Wasserwirtschaft 91 (6) 2001, 296-301. – Lautenschläger, M./P. Podraza: The significance of an impact on stream bank structure for populations of adult insects. Verh. Int. Verein Limnol, (i. Dr.). – LUA (Hrsg.): Leitbilder für kleine bis mittelgroße Fließgewässer in Nordrhein- Westfalen Gewässerlandschaften und Gewässertypen, Merkblätter Nr. 17, Düsseldorf 1999. – LUA (Hrsg.): Leitbilder für mittelgroße bis große Fließgewässer in Nordrhein-Westfalen (Flüsse), Merkblätter 34, Düsseldorf 2002. – LUA: Fließgewässertypenatlas Nordrhein- Westfalen. Gewässerlandschaften und Fließgewässertypen. – Merkblätter, Düsseldorf (i. Dr.). – MURL (Hrsg.): Leitbilder für Tieflandbäche in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1995. – Podraza, P.: Regenentlastungen der Mischwasserkanalisation – Einflüsse auf die Makroinvertebratenzönose, Essener Ökologische Schriften Bd. 10, 1999. – Podraza, P./H. Schuhmacher: Die anthropogene ‚Überformung’ von Fließgewässern im Ballungsraum – dargestellt am Beispiel des Ölbachs in Bochum, Verhandlungen der Gesellschaft für Ökologie 18/1989, 549-555. – Ruhrverband (Hrsg.): Ruhrwassermenge 1999, Ruhrverband Essen – Schuhmacher, H: Stadtbäche als Lebensraum, Naturwissenschaften 76/1989, 505-511 – Schuhmacher, H./B. Thiesmeier (Hrsg.): Urbane Gewässer., Westarp Verlag, Essen 1991. – Thiesmeier, B., J. Rennerich, S. Darschnik: Fließgewässer im Ballungsraum Ruhrgebiet ökologische Grundlagenerhebung in der Stadt Bochum, Decheniana 141/1988, 296-311. – Timm, T.: Die Verteilungsmuster der Larven von Fließgewässerinsekten und ihre Abhängigkeit von Ufer- und Auenstrukturen, Deutsche Gesellschaft für Limnologie E.V (Hrsg.) Erweiterte Zusammenfassung der Jahrestagung 1993 in Coburg, 348-352.

Die Autoren Mario Sommerhäuser. Foto: André Zelck Mario Sommerhäuser.

Helmut Schuhmacher, geb. 1941, studierte in Heidelberg und Kiel von 1960 bis 1966 Mario Sommerhäuser, Jahrgang 1959, studierte Biologie, Ökologie, Germanistik und Philoso- Biologie, Chemie und Mathematik mit dem phie in Essen, Examen über stadtnahe Bäche in Oberhausen, Promotion über die Limnologie Abschluss Staatsexamen; 1969 Promotion und Typologie temporärer und permanenter Bäche des Niederrheins. Wissenschaftlicher Mitar- über ein limnologisches Thema; 1969 bis beiter an der Universität Essen seit 1990, Mitglied verschiedener Gremien der wissenschaftlich- 1971 Stipendiat an der meeresbiologischen technischen Verbände und des Deutschen Instituts für Normung (DIN), Leiter eines Arbeits- Station Eilat (Rotes Meer). 1978 Habilitation kreises „Temporäre Gewässer“ der Deutschen Gesellschaft für Limnologie. Wissenschaftliche an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Mitarbeit und großenteils Leitung bei zahlreichen Forschungsvorhaben im Auftrag der Europä- riffökologischen Arbeit. Seit 1982 Professor ischen Union, des Bundes und der Länder zu Fragen der Gewässertypologie, Leitbildbeschrei- für Hydrobiologie an der Universität bung und Gewässerbewertung, über 50 Veröffentlichungen in nationalen und internationalen Essen. Forschungsschwerpunkte Ökologie Zeitschriften und Kongressberichten. Zurzeit Projektmanager einer Koordinationsstelle für von Stadtgewässern, Typologie von biologische Forschungsvorhaben zur Umsetzung der so genannten EU-Wasser-Rahmenricht- Fließgewässern, Ökologie von Korallenriffen. linie in Deutschland, mit dieser Aufgabenstellung zukünftig auch tätig in Ungarn. 82 ESSENER UNIKATE 19/2002 83 Petra Podraza. Foto: André Zelck

Petra Podraza, geboren 1962 in Bonn, studierte in Essen Biologie und Chemie (Abschluss: Staatsexamen) sowie Ökologie (Abschluss: Diplom). 1996 Promotion in einem limnologischen Thema mit siedlungs-wasserwirtschaftlichem Schwerpunkt. In der Zeit von 1991 bis 1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschungsvorhaben zur Bewertung und ökologischen Bewirtschaftung von Fließgewässern. Seit 1997 Hochschulassistentin mit den Ziel der Habilitation über ein Thema zur Ökologie urbaner Gewässer. Mitglied in diversen Arbeits-Gremien wissenschaftlich-technischer Verbände. Koordination und Leitung mehrerer Forschungsvorhaben im Auftrag der Europäischen Union, des Bundes und des Landes NRW. 84 ESSENER UNIKATE 19/2002 85

Auf der stadtklimatologischen Grundlagenforschung basierend entwickelte sich in den vergangenen Jahrzehnten die angewandte Stadtklimatologie als praxisorientierter Forschungszweig. Durch zunehmende Urbanisierung und gesteigertes Umweltbewusstsein erlangten die Wechselwirkungen zwischen Klima, Lufthygiene und Planung im Städtebau eine immer stärker werdende Bedeutung. Das Ruhrgebiet als Ballungsraum bietet sich für stadt- klimatologische Untersuchungen besonders an.

Mehr als städtische Wärmeinseln

Angewandte Stadtklimaforschung Von Wilhelm Kuttler und Andreas-Bent Barlag

ie Stadtklimatologie untersucht Durch zunehmende Urbanisierung Ursachen und Charakteristika des Dals Teildisziplin der Mikro- und und gesteigertes Umweltbewusstsein Stadtklimas Mesoklimatologie die klimatische erlangten die Wechselwirkungen und lufthygienische Situation in zwischen Klima, Lufthygiene und Die Ursachen des Stadtklimas Städten und industriellen Ballungs- Planung im Städtebau eine immer lassen sich auf drei Faktorengruppen räumen. Die sich in diesen Gebieten stärker werdende Bedeutung. Um zurückführen, die – direkt oder indi- einstellende, vom Menschen nicht dieser Entwicklung Rechnung zu rekt – durch die Art der Bebauung, beabsichtigte Klimabeeinflussung tragen, wurden die Umweltbelange die Flächenversiegelung und die wird allgemein als „Stadtklima“ „Klima“ und „Lufthygiene“ in ver- Nutzung urban-industrieller Gebiete bezeichnet. Dieses tritt weltweit schiedenen gesetzlichen Regelwer- bedingt sind. Es handelt sich hierbei in allen urbanen Agglomerationen um ken, wie dem Baugesetzbuch2, dem auf, die jedoch – nach geographi- • die Umwandlung ursprünglich Bundesimmissionsschutzgesetz3, scher und topographischer Lage, natürlichen Bodens in überwie- dem Umweltverträglichkeitsprü- großklimatischer Prägung sowie gend aus künstlichen Materialien fungsgesetz4, dem Bundesnatur- vorherrschender Wirtschafts- bzw. bestehende, versiegelte Flächen mit schutzgesetz5 bzw. Verordnungen, Infrastruktur – zu unterschiedlichen starker dreidimensionaler Struktu- Stadtklimatypen führen. wie der 23. Bundesimmissions- rierung, 6 Aufbauend auf der stadtklima- schutzverordnung und der Wärme- • die Reduzierung der mit Vegeta- 7 tologischen Grundlagenforschung, schutzverordnung , verankert. tion bedeckten Flächen und deren erste Ergebnisse in einer Der vorliegende Beitrag geht • die Freisetzung von gasförmigen, richtungweisenden deutschspra- im ersten Teil auf die wichtigsten flüssigen und festen Luftbeimengun- chigen Monographie ihren Nieder- Grundlagen und Charakteristika gen sowie von Abwärme aus techni- schlag fanden1, entwickelte sich in der allgemeinen Stadtklimatologie schen Prozessen. den vergangenen Jahrzehnten die ein und stellt im zweiten Teil exem- Die genannten Faktoren beein- angewandte Stadtklimatologie als plarisch Untersuchungsergebnisse flussen die Zusammensetzung der praxisorientierter Forschungszweig. aus dem Ruhrgebiet vor. Stadtatmosphäre, den Strahlungs- 84 ESSENER UNIKATE 19/2002 85 Wilhelm Kuttler. Foto: André Zelck Kuttler. Wilhelm 86 ESSENER UNIKATE 19/2002 87 und Wärmehaushalt der Oberflächen A = langwellige Gegenstrahlung / ergaben z. B. Strahlungseinbußen und der städtischen Grenzschicht W m-2 von bis zu sieben Prozent. Besonders sowie den Luftaustausch zwischen E = langwellige Ausstrahlung / hohe Attenuationen wiesen dabei Stadt und Umland. Sie führen W m-2 Verkehrsknotenpunkte auf8. gemeinsam zu dem Erscheinungs- Auf die urbane Strahlungsbilanz Der kurzwellige Reflexionsgrad bild des Stadtklimas, dessen Einzel- (1) wirken die kurz- und langwelli- (ρs), der von der Beschaffenheit und komponenten exemplarisch für eine gen Strahlungsströme unterschied- Exposition der Oberflächen abhängt, mitteleuropäische Großstadt in Abil- lich stark ein. So führen die Luft- beläuft sich für Großstädte in den dung 1 zusammengefasst sind. inhaltsstoffe der Stadtatmosphäre mittleren Breiten auf bis zu 30 Pro- im Vergleich zum Umland zu einer zent. Demgegenüber spielt der lang-

Urbane Energiebilanz absoluten Strahlungsschwächung, wellige Reflexionsgrad (ρl) mit etwa wobei der relative Anteil der diffu- fünf Prozent für die urbane Strah- Die in der Stadtluft enthaltenen sen Strahlung (D) im Allgemeinen lungsbilanz nur eine untergeordnete Spurenstoffe, die unterschiedlichsten auf Kosten der direkten Strahlung (I) Rolle. Grundsätzlich werden die Quellen entstammen, beeinflussen erhöht wird. Darüber hinaus hängt langwelligen Strahlungsflussdichten den urbanen Energiehaushalt, der die Verminderung der Globalstrah- durch die Temperatur der Oberflä- sich aus der Strahlungs- (1) und der lung (G = I + D) natürlich von der chen und die der Atmosphäre mit Wärmebilanz (2) zusammensetzt. Zenitdistanz der Sonne, der dadurch den darin enthaltenen infrarot- Konventionsgemäß werden vorgegebenen optischen Weglänge aktiven Gasen Wasserdampf und

Strahlungs- und Wärmeflussdich- und auch von den optischen Eigen- CO2 bestimmt. Auf die langwellige ten mit einem positiven Vorzeichen schaften der in der Luft enthalte- Ausstrahlung (E) übt die Horizont- versehen, wenn sie zur Bezugsfläche nen Gase und Schwebeteilchen ab. überhöhung, die in engen Straßen- gerichtet sind. Im umgekehrten Fall Räumliche Unterschiede ergeben schluchten bei hoher Randbebauung sind sie negativ. sich darüber hinaus in Abhängig- extreme Werte annehmen kann, eine Die Strahlungsbilanz (1) einer keit von einzelnen Windrichtungen dominierende Wirkung aus. Fläche setzt sich zusammen aus: wegen der potenziellen Beeinflus- Die Wärmebilanz (2) setzt sich

Q = (I + D) (1 – ρS) + A(1 – ρI) sung durch die städtischen Abluft- unter der Voraussetzung von Advek- + E / W m-2 (1) fahnen. Profilfahrten, die zur Erfas- tions- und Niederschlagsarmut mit sung der solaren Bestrahlungsstärke zusammen aus: -2 -2 I = direkte Sonnenstrahlung / W m mit einem dafür geeigneten Mess- Q + qm + qa + ql + qs + qB = 0 / W m D = diffuse Sonnenstrahlung / W m-2 fahrzeug auf einer durch die Stadt (2)

ρs = kurzwelliger Reflexionsgrad /1 Essen von Nord nach Süd verlau- mit -2 ρl = langwelliger Reflexionsgrad /1 fenden Route durchgeführt wurden, Q = Strahlungsbilanz / W m

qm = metabolische Wärmefluss- dichte / W m-2 Veränderungen gegen- Veränderungen gegen- Einflussgrößen über dem nicht bebau- Einflussgrößen über dem nicht bebauten qa = künstliche Wärmefluss- ten Umland Umland dichte / W m-2 Dauer der Frostperiode bis -30 % ql = turbulente latente Wärmefluss- Globalstrahlung Wind -2 bis -10 % dichte / W m (horizontale Fläche) - Geschwindigkeit bis -20 % - Richtungsböigkeit stark variierend qs = turbulente sensible Wärmefluss- - Geschwindigkeitsböigkeit erhöht dichte / W m-2 Absolute Luftfeuchtigkeit -2 Gegenstrahlung bis +10 % - tags weniger qB = Bodenwärmeflussdichte / W m - nachts mehr Neben der Strahlungsbilanz UV-Strahlung Nebel bestimmen die Terme q , q , q , q im Sommer bis -90 % - Großstadt weniger m a l s im Winter bis -30 % - Kleinstadt mehr und qB die städtische Wärmebilanz Niederschlag Sonnenscheindauer (2). Unter der metabolischen Wär- - Regen mehr (leeseitig) im Sommer bis -8 % - Schnee weniger meproduktion (q ) versteht man im Winter bis -10 % m - Tauabsatz weniger die durch den Stoffwechsel von Sensibler Wärmestrom bis +50 % Bioklima Organismen biochemisch erzeugte Wärmespeicherung bis +40 % Vegetationsperiode bis zu zehn Tage länger Wärme. Ihre flächenbezogenen Lufttemperatur Luftverunreinigungen 1 2 Werte sind allerdings meist sehr - Jahresmittel ~ + 2 K - CO, NOx, AVOC ), PAN ) mehr -2 - Winterminima bis +10 K - Ozon weniger (Spitzen höher) niedrig (Stadt Essen < 1 W m ). 1) = anthropogene Kohlenwasserstoffe - in Einzelfällen bis +15 K 2 ) = Peroxiacetylnitrit Eine für die städtische Wärme- bilanz wesentlich wichtigere Größe (1) Charakteristika des Stadtklimas einer Großstadt in den mittleren Breiten. ist hingegen die künstliche Wärme- Quelle: P. Hupfer, W. Kuttler (Hrsg.): Witterung und Klima, 10. Auflage, Teubner, Leipzig 1998, verändert produktion (qa). Diese beruht auf 86 ESSENER UNIKATE 19/2002 87

der Abwärme von Kraftfahrzeugen, rung der Strahlungs- und Wärmebi- als im Umland. Obwohl Böigkeit Kraftwerken und Industrieanlagen, lanz verursachten höheren Luft- und und Turbulenz erhöht sein können, ergänzt durch den öffentlichen Oberflächentemperaturen. Diese im ist der atmosphärische Austausch und privaten Energieverbrauch. In Vergleich zum Umland positiven insgesamt eingeschränkt, so dass sich summa kann sie Werte von bis zu Wärmeanomalien werden als „städti- die thermische und lufthygienische 100 W m-2 erreichen9, in Einzelfällen sche Wärmeinseln“ bezeichnet. Der Situation aufgrund des verminder- auch mehr. Begriff zielt auf die sich inselartig ten Abtransportes der Wärme und Die turbulenten Flüsse sensibler vom kühleren Umland absetzende, von Spurenstoffen insbesondere

und latenter Wärme (qs, ql) sind je dreidimensional auftretende Über- dort verschlechtert, wo sich urbane nach Oberflächenbeschaffenheit wärmung von Siedlungskörpern Flächennutzungen durch hohe Rau- in Städten höchst unterschiedlich ab. Städtische Wärmeinseln sind igkeiten und/oder niedrig gelegene ausgeprägt. So werden bei starker stark von der Witterung sowie der Emissionsquellen auszeichnen.

Sonneneinstrahlung qs über trocke- Tages- und Jahreszeit abhängig und Als Hauptverursacher erhöhter nen versiegelten Flächen wesentlich unterliegen deshalb einem steten urbaner bodennaher Immissions-

höhere Werte als ql erreicht, weil Gestalts- und Intensitätswechsel. konzentrationen gilt gegenwärtig keine Energie für die Verdunstung So weisen mitteleuropäische Städte der Kfz-Verkehr. Dadurch kommt von Wasser aufgewendet werden z. B. die höchsten bodennahen Tem- es insbesondere in Nähe stark befah- kann. Die Werte des Bowen-Verhält- peraturunterschiede zum Umland rener Straßen, die sich durch hohe

nisses (qs/ql) liegen deshalb deutlich in austauscharmen (autochthonen) Immissionskonzentrationen kfz- über eins und charakterisieren damit sommerlichen Strahlungsnächten bürtiger Spurenstoffe auszeichnen städtisch bebaute Flächen. auf, während sich bei austauschrei- können, zu Luftqualitätsproble- Komplettiert wird die städ- cher (allochthoner) Witterung nur men.10 tische Wärmebilanz durch die eine geringe urbane Überwärmung Eng gekoppelt an die überwie-

Bodenwärmeflussdichte (qB), die an einstellt (Abb. 2). gend nächtlich auftretende städti- Strahlungstagen wegen der hohen sche Überwärmung kann sich bei Wärmeleitfähigkeits- und Wärme- Urbane Windverhältnisse niedriger übergeordneter Windge- kapazitätswerte von Baumaterialien schwindigkeit eine stadteinwärts eine wichtige thermische Speicher- Eine wichtige Rolle für den urba- gerichtete bodennahe Luftströmung funktion übernimmt. In mitteleuro- nen bodennahen Luftaustausch spie- entwickeln. Da sie von der Flur, dem päischen Städten kann dieser Wert len die durch Gebäude beeinflussten Umland, zur Stadt weht, wird sie bei trockenem Wetter bis zu 40 Pro- Windverhältnisse. Im Allgemeinen Flurwind genannt. Ein derartiges zent der städtischen Wärmebilanz ist deshalb in Städten von niedri- Windsystem ist hinsichtlich seiner ausmachen. Diese Energie steht dann geren Windgeschwindigkeiten und Persistenz zwar fragil, kann aber zumindest zeitweise nicht für andere häufigeren Windstillen auszugehen durchaus planungsrelevant sein,

Wärmetransportgrößen, wie für qs, und damit für die Lufterwärmung, zur Verfügung. 4,5 4,5 Zusammenfassend lässt sich fest- 4,0 4,0 stellen, dass sich urban-industrielle 3,5 3,5 Gebiete im Vergleich zu natürlichen Oberflächen im Allgemeinen durch 3,0 3,0 [K] [K] höhere Werte der Strahlungs- und 2,5 2,5 L(S-U) Wärmebilanzglieder D, A, E, q , L(S-U) t a 2,0 2,0 t qB und qs auszeichnen. Hingegen sind die direkte Sonnenstrahlung 1,5 1,5 (I) infolge der atmosphärischen 1,0 1,0

Trübung sowie der latente turbu- 0,5 0,5 lente Wärmestrom (q ) aufgrund der l 0,0 0,0 Reduzierung verdunstungsaktiver 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Flächen in Städten eher unterreprä- t [MEZ] sentiert. Autochthon Allochthon

Städtische Wärmeinseln (2) Mittlerer Tagesgang der Lufttemperaturdifferenzen zwischen einer Stadt- (S) und einer Umlandstation (U) für autochthone und allochthone Wetterlagen der Messperiode 7/1995 bis 6/1996 in Köln. Ein bekanntes Faktum des Stadt- Quelle: D. Dütemeyer: Urban-orographische Bodenwindsysteme in der städtischen Peripherie Kölns. klimas sind die durch die Verände- (=Essener Ökologische Schriften, Bd. 12), Westarp-Wissenschaften, Hohenwarsleben 2000. 88 ESSENER UNIKATE 19/2002 89 wenn es z. B. durch den Transport durchaus für kurze Zeit umkehren. artigen kleinklimatischen Verhaltens von kalter Umlandluft dazu bei- Der höhere Feuchtigkeitsgehalt der erreicht werden. Flächen, die diese trägt, die klimatisch-lufthygieni- Stadtatmosphäre beruht dann u. a. Anforderungen erfüllen, werden sche Situation in den Innenstädten darauf, dass es im Siedlungsbereich Klimatope genannt. In den meisten durch Abkühlung und Erhöhung zu einem geringeren Tauabsatz Fällen kann auf das Datenmaterial der Luftqualität zu verbessern. Am wegen der nächtlichen städtischen der vom Deutschen Wetterdienst Beispiel der Stadt Bochum konnte Überwärmung kommt. Da sich betriebenen Messnetze nicht zurück- ein Flurwindsystem zu zehn Prozent das Umland stärker und schneller gegriffen werden, da diese zur der Jahresstunden nachgewiesen abkühlt, wird dort die Taupunkttem- Beantwortung überregionaler Frage- werden11. peratur eher und länger unterschrit- stellungen eingerichtet wurden und Neben einer gut ausgebildeten ten, so dass Kondensation einsetzt.15 deshalb die mikroklimatischen Pro- Wärmeinsel, also einem möglichst Grundlegend geändert haben bleme weitgehend ausblenden. Die großen horizontalen Temperaturgra- sich in den vergangenen Jahrzehnten Einrichtung von Sondermessnetzen dienten zwischen Stadt und Umland, die Sicht- und Nebelverhältnisse mit hohen Stationsdichten ist des- steigern rauigkeitsarme Ventilations- in mitteleuropäischen Ballungsräu- halb unumgänglich. An derartigen bahnen die Belüftungseffektivität men. Während diese früher eine Feststationen erfolgt zwar mit hoher von Flurwinden, die das Kaltluft- höhere Anzahl an Nebeltagen im zeitlicher Auflösung eine Mess- quellgebiet im Umland mit dem Vergleich zum Umland aufwiesen, werterfassung; diese erlaubt jedoch urbanen Wirkgebiet auf möglichst lässt sich seit etwa 20 Jahren ein streng genommen nur punktuelle kurzem Wege verbinden.12, 13 Rückgang der Nebelhäufigkeit in Aussagen für den entsprechenden Städten erkennen.16 Diese Entwick- Klimatoptyp. Um flächendeckende Niederschlag und Nebel in Städten lung dürfte mit den durchgeführten Daten zu erhalten, sind zusätzlich Luftreinhaltemaßnahmen in Zusam- mobile Messungen (z. B. Messfahr- Stadtgebiete beeinflussen auch menhang stehen, da sich die Kon- ten auf vorher festgelegten Routen, die Niederschlagsverhältnisse. zentration hygroskopischer Kon- Abb. 4) durchzuführen. Eine der- Verantwortlich hierfür sind der densationskerne durch Abnahme des artige Datenerfassung ermöglicht Wärmeinseleffekt, die größere Schwebstaubgehaltes in der boden- die quasi-zeitgleiche Aufnahme der Oberflächenrauigkeit, die Partikel- nahen Atmosphäre verringert hat. wichtigsten klimatologischen und emission und die rauigkeitsbedingte Aber auch die Zunahme des urbanen lufthygienischen Größen. Bei eng- Ablenkung fallender Regentropfen Wärmeinseleffektes, bedingt durch maschig gewähltem Messnetz und im bodennahen Windfeld. Diese verstärkte Bautätigkeit und Flächen- hoher zeitlicher Datenaufnahme ist Faktoren führen allerdings nur in versiegelung, wird hierauf nicht ohne im Allgemeinen eine hohe Interpre- seltenen Fällen zu einer Erhöhung Auswirkung geblieben sein. tationssicherheit gewährleistet. Letz- der absoluten Regenspenden. Hin- tere wird für die flächenbezogene gegen ist es wahrscheinlicher, dass Untersuchungsmethoden der Aussage dadurch erhöht, dass ergän- die Siedlungskörper eine räumliche Stadtklimaforschung zend auf statistische Berechnungs- Umverteilung der Niederschläge verfahren zurückgegriffen wird, verursachen, die insbesondere den Zum Nachweis mikro- und deren Eingangsparameter orts- und leeseitig der Stadtzentren gelegenen mesoklimatischer sowie lufthygieni- bebauungstypische Größen darstel- Flächen zugute kommen. Untersu- scher Unterschiede zwischen Stadt len. chungen zur Niederschlagsvertei- und Umland wird in der Regel auf Die Aufgabe stadtklimatologi- lung im Ruhrgebiet ergaben, dass darauf abgestimmte Untersuchungs- scher Untersuchungen besteht häufig urbanbeeinflusste Standorte um etwa methoden zurückgegriffen, die in auch darin, Ventilationsbahnen zwi- sieben Prozent höhere mittlere Jah- Abbildung 3 zusammengefasst sind. schen Stadt und Umland nachzuwei- resniederschlagssummen aufweisen Voraussetzung der Messungen ist sen, durch die während austausch- als rurale Gebiete14. ferner die Wahl möglichst repräsen- armer Strahlungswetterlagen nachts Auch der Gehalt der bodennahen tativer Mess-Standorte im urbanen Kaltluft aus dem Umland dem Atmosphäre an Wasserdampf unter- und ruralen Gebiet, wo an Feststa- bebauten Raum zugeführt werden scheidet sich zwischen Stadt und tionen mindestens ein Jahr lang die kann. Derartige Kaltlufttransporte Umland, insbesondere während aus- entsprechenden lufthygienischen werden in reliefiertem Gelände gra- tauscharmer Strahlungswetterlagen. und klimatischen Größen gemessen vitativ angetrieben oder entstehen Wegen der geringeren Verbreitung werden sollten. Das kann wegen der in ebenem Gelände thermisch verdunstungsaktiver Flächen ist Heterogenität städtischer Flächen- generiert als Flurwind. die Stadtatmosphäre tagsüber meist nutzungen nur über eine sinnvolle Zum Nachweis der human-bio- trockener. Nachts hingegen können Generalisierung und Aufteilung des meteorologisch wichtigen Kaltluft- sich die Verhältnisse zum Umland Siedlungskörpers in Gebiete gleich- dynamik für Siedlungsgebiete finden 88 ESSENER UNIKATE 19/2002 89

Auswertung vorliegender Daten Datenerhebung im Gelände Modellsimulation

Analyse von Routinemesswerten Einrichtung zeitweilig betriebener Sondermessnetze Physikalische Simulation (Meteorologie, Lufthygiene) (Meteorologie und Lufthygiene) zur Erfassung zeitlich (Grenzschicht- bzw. hochaufgelöster Daten Schichtungswindkanal) Interpretation von topographischen und thematischen Karten, Mikroskalige/mesoskalige Luftbildern und Satelliten- Mobile wetterlagenabhängige Messungen nummerische Simulationsmodelle aufnahmen meteorologischer und lufthygienischer Komponenten (z. B. ASMUS, DASIM, MISKAM, zur Erhöhung der räumlichen Auflösung zur linien- bzw. MUKLIMO, FITNAH, KAMM, Auswertung von flächenhaften Darstellung der Ergebnisse METRAS) Spurenstoffemissions- und Immissionskatastern Nachweis bodennaher Luftbewegungen (z. B. Flurwind,

Kaltluftabfluss) durch Driftballons, Tracer (Rauch, SF6, usw.)

Aufnahme von Vertikalprofilen der bodennahen Atmosphäre (Türme, Fesselballon-, Radiosonden)

Einsatz von Fernerkundungsverfahren (z. B. Infrarotthermo- graphie, SODAR, LIDAR, FTIR, DOAS) zum Nachweis von Strahlungstemperaturen, Luftbeimengungen

Umsetzung der Untersuchungsergebnisse in den Planungsprozess; Synthese und kartographische Darstellung der klimatischen/lufthygienischen Verhältnisse des Untersuchungsgebiets in generalisierter und bewertender Form sowie Darstellung von Planungs- hinweisen

(3) Klimatische und lufthygienische Untersuchungsmethoden für die Stadt- und Regionalplanung. Quelle: VDI-Richtlinie 3787, Bl. 9: Umweltmeteorologie. Die Berücksichtigung von Klima und Lufthygiene in der Stadt- und Regionalplanung, VDI-Verlag, Düsseldorf (Gründruck 2002).

häufig Tracer (engl. Spürstoffe) nalen Analyse von Kaltluftbewegun- eine relative von einer absoluten Verwendung. Tracer sind in der gen eingesetzt werden. Diese Unter- Validierung unterschieden. Bei der Atmosphäre nicht oder nur in sehr suchungen werden insbesondere bei relativen Bewertung werden räum- niedrigen Hintergrundkonzentratio- schwachwindigem Strahlungswetter liche bzw. zeitliche Unterschiede nen enthaltene Spurenstoffe, die man durchgeführt, um Aufschluss über gemessener Größen festgestellt, ohne im Quellgebiet der Kaltluft freisetzt die atmosphärische Stabilität zu dass diese auf Grenzwerte bezogen und ihre Ausbreitung entweder erhalten, die in extremen Fällen, werden.19 Die absolute Bewertung visuell – durch Rauch bzw. Seifen- z. B. bei Vorherrschen von Boden- orientiert sich hingegen an Grenz- blasen – oder messtechnisch, und inversionen, die Durchmischung der werten.20, 21 Bei der Verwendung von zwar bei Verwendung von Schwefel- Atmosphäre behindert und dadurch Mess- und Bewertungsdaten für die

hexafluorid (SF6), Tetrafluormethan einen Abtransport von Luftverunrei- Praxis hat sich seit einigen Jahren

(CF4) und Hexafluorethan (C2F6), nigungen nicht mehr zulässt. das Konzept der „Synthetischen mit Hilfe gaschromatischer Analysen Klimafunktionskarte“ bewährt.22 von Luftproben in den potenziellen Bewertungsverfahren Hierbei handelt es sich um kartogra- Wirkgebieten, verfolgt.17 Hieraus phisch aufbereitete flächenbezogene können Aussagen zur Geschwindig- Um die Ergebnisse stadtklima- Darstellungen geländeklimatischer keit und zum Volumen der Kaltluft tischer Messungen ihrer Bedeutung und lufthygienischer Sachverhalte, sowie über deren Ausbreitung auch nach möglichst objektiv einschätzen die vielfach die Basis bilden für zur Eindringtiefe in bebautes Gebiet zu können, sollten diese bewertet Planungshinweiskarten, in denen abgeleitet werden, wie am Beispiel werden. Die Ziele einer Bewertung Maßnahmenempfehlungen für den der Stadt Mülheim belegt werden liegen vor allem in der Ermittlung Anwender enthalten sind.23 konnte.18 klimatisch/lufthygienischer Belas- Aufschluss über die vertikale tungs- und Ausgleichsräume, im Beispiel einer Gesamtstädtischen Struktur der Stadtatmosphäre erhält Nachweis der Empfindlichkeit einer Klimaanalyse – Gelsenkirchen man am einfachsten durch Fessel- Fläche gegenüber bestimmten Nut- ballonsondierungen und Ferner- zungen oder in der vorausschauen- Seit Jahrzehnten unterliegt das kundungsverfahren (z. B. SODAR, den Optimierung von Bauleitplänen. Ruhrgebiet einem massiven wirt- LIDAR), die auch zur dreidimensio- Bei den Bewertungsverfahren wird schaftlichen Strukturwandel, der 90 ESSENER UNIKATE 19/2002 91 auch in Hinblick auf den Flächenbe- über Detailangaben hinaus der kli- vier bis fünf Geschossen darf Auswirkungen zeigt. Ehemalige matische Ist-Zustand in generalisier- • im Wesentlichen durch Kfz-Abgase Bergbau- und Industriegebiete stel- ter und bewerteter Form als gesamt- verursachte Immissionssituation len z. T. großräumige Brachflächen städtisches Klimagutachten zur Ver- (0,55 Kfz/Einwohner), die mittler- dar, die einer neuen Verwendung fügung gestellt werden konnte. weile für das Ruhrgebiet typisch ist zugeführt werden müssen. Um Fehl- Nachfolgend werden Auszüge • relativ ebene Morphographie mit entwicklungen zu vermeiden und aus der Gesamtstädtischen Klima- der Emscherniederung als tiefstem Planungsstrategien transparent zu analyse Gelsenkirchen24 als ein stadt- Bereich. machen, erstellen Kommunen Flä- klimatologisches Fallbeispiel aus Mit insgesamt sechs Klima- chennutzungspläne (FNP), in denen dem Ruhrgebiet vorgestellt. feststationen, drei nächtlichen im Rahmen der vorbereitenden Lufttemperaturmessfahrten, vier Bauleitplanung für einen Zeitraum Untersuchungsziele tagsüber durchgeführten lufthygi- von 10 bis 15 Jahren die zukünftigen enischen Profilmessfahrten und 19 Nutzungen urbaner Flächen festge- Als primäres Projektziel wurde Vertikalaufstiegen mittels Fesselbal- legt werden. Vor der Neuaufstellung von der Stadt Gelsenkirchen die lonsondierungen (speziell für den eines FNP werden Bereiche, die Untersuchung der klimatisch-luft- FNP) sowie vier über 24 Stunden besondere umweltrelevante Eigen- hygienischen Funktionen einzelner laufenden lufthygienischen Stand- schaften aufweisen könnten, einer Flächennutzungsstrukturen als Beur- messungen und zwei Tracerausbrei- darauf ausgerichteten Bewertung teilungskriterien für die Neuaufstel- tungskampagnen (speziell für die unterzogen. Die angewandte Stadt- lung des FNP formuliert. Darüber Plangebiete), kam ein Messdesign klimatologie greift diesen bedeuten- hinaus sollten vier unversiegelte zum Einsatz, das für die Lösung den Planungsaspekt durch darauf Gewerbe-/Industriebrachen in die klimatischer und lufthygienischer abgestimmte Untersuchungen auf. Untersuchung eingebunden werden, Fragestellungen eine hohe räumliche Entsprechende Ergebnisse werden um Entscheidungshilfen für die wie auch zeitliche Auflösung der häufig in Gesamtstädtische Klima- Festlegung zukünftiger Nutzungen Messergebnisse garantiert. Abbil- analysen integriert, so dass kommu- geben zu können. dung 5 gibt einen Überblick über das nalen Planungsbehörden ein umfas- Die auf diese Aufgabenstellungen Untersuchungsgebiet sowie über die sendes stadtklimatisches Grundla- ausgerichtete Untersuchungsmetho- räumliche Anordnung stationärer genwerk vorgelegt werden kann. dik wurde ferner von klimasteuern- und mobiler Messungen. Innerhalb des Zeitraumes vom den Faktoren des Untersuchungs- 01.11.1998 bis 31.10.1999 wurden in gebietes bestimmt. Im vorliegenden Bodennahe Lufttemperatur- der Stadt Gelsenkirchen klimatisch- Fall waren das: verhältnisse lufthygienische Messungen durchge- • Lage innerhalb des polyzentrisch führt. Die Ergebnisse flossen in eine angelegten Ruhrgebietes Von den gemessenen klimatolo- synthetische Klimafunktionskarte • bipolare Stadtstruktur mit zwei gischen Größen fällt der Lufttempe- sowie in eine Planungshinweiskarte Stadtzentren ratur eine besondere Bedeutung zu, ein, so dass der Stadt Gelsenkirchen • Bebauung mit durchschnittlich da sie über den Wärmehaushalt sehr empfindlich auf stadtklimatische Einflüsse reagiert. Im Wesentlichen bedingt durch Ausstrahlungs- und Austauschprozesse entsteht eine raumtypische Lufttemperaturver- teilung vorwiegend während wind- stiller Strahlungsnächte, aus deren flächenhafter Struktur lokaltypische Besonderheiten des betrachteten Gebietes ableitbar sind. Aufgrund der Bebauungsstruk- tur Gelsenkirchens ist davon aus- zugehen, dass sich eine bodennahe Temperaturverteilung ausbildet, die als Besonderheit eine deutlich aus- geprägte zweikernige Wärmeinsel aufweist. (4) Messfahrzeug der Abteilung Angewandte Klimatologie und Landschaftsökologie der Abbildung 5 zeigt eine aus drei Universität Essen zur Erfassung meteorologischer und lufthygienischer Komponenten. sommerlichen strahlungsnächtlichen 90 ESSENER UNIKATE 19/2002 91

Messfahrten gemittelte und chro- Vergleich zu den Umlandstationen Atmosphärische nologisch korrigierte Verteilung der verringert, im Sommer dagegen Austauschverhältnisse bodennahen Lufttemperatur mit erhöht. Die Ergebnisse sind auf die einem maximalen Temperaturunter- städtische Wärmeinsel zurückzufüh- Die von West nach Ost ver- schied von 6,0 K. Danach bilden sich ren, die im gesamten Jahresverlauf laufende Emscherniederung im in den beiden Stadtzentren (s. Station eine positive Temperaturanomalie Untersuchungsgebiet ist aufgrund 1 und 2) die Bereiche größter Über- bewirkt. Im Winter resultiert daraus der überwiegend unversiegelten wärmung aus, so dass die zweiker- die geringere Anzahl an kalten Tagen Oberflächen als großräumiger Kalt- nige Wärmeinsel zu erkennen ist. sowie an Frost- und Heiztagen, mit luftproduzent, in Verbindung mit Daneben weisen die Nebenzentren der Folge einer Reduzierung des ihrer tiefen Lage aber auch als Kalt- und die Bereiche mit hoher Sied- für die Raumheizung notwendigen luftsammelgebiet anzusehen. lungsdichte ebenfalls deutliche Energieeinsatzes. Dagegen ist in Daraus kann die Gefahr des Überwärmungen auf. Niedrige städtischen Gebieten im Sommer mit Auftretens von Bodeninversionen Temperaturen zeigen die nördlichen einer Zunahme der Wärmebelastung resultieren, die den bodennahen und südwestlichen Randbereiche des für die Bevölkerung zu rechnen. Die atmosphärischen Austausch stark Stadtgebietes sowie der östliche Teil Wirkung der städtischen Wärmeinsel einschränken. Diesem bedeutenden der Emscherniederung. ist somit als durchaus ambivalent Untersuchungsaspekt wird durch die Die Ergebnisse von Temperatur- anzusehen. Auswertung des Datenmaterials von messfahrten dienen zur flächenhaften Abgrenzung einzelner Räume nach thermischen Kriterien. Unter weite- Zunehmend rer Verwendung flächenbezogener städtisch Klimafaktoren wie der Realnutzung beeinflusst und des Reliefs, können somit räum- Zunehmend liche Abgrenzungskriterien zum Station 3 freiraum- bzw. umland- Klimatopentwurf als Grundlage der beeinflusst synthetischen Klimafunktionskarte entwickelt werden. Diese flächenhaften Aussa- gen spiegeln aufgrund der mobi- len Datenerfassung lediglich eine Station 1 Momentaufnahme des Stadtklimas wider. Zur statistischen Absiche- rung und weiteren Differenzierung Station 4 Station 6 der Ergebnisse werden zusätzliche Erkenntnisse z. B. über das tägliche und saisonale Verhalten der boden- Standort Messbus und nahen Lufttemperaturverhältnisse SF-6 Emissionspunkt benötigt. Die über ein Jahr kontinu- ierlich erfassten und zeitlich hoch-

aufgelösten Messwerte der Klima- Station 5 feststationen (3-Minuten-Mittel- Vertikalsondierung werte) erzeugen einen Datenpool, Station 2 der diesen Anforderungen ent- spricht. Emscherniederung Abbildung 6 zeigt dies exempla- risch anhand von klimatologischen Ereignistagen, die Aussagen darüber zulassen, wie häufig fest definierte Schwellenwerte, z. B. der Lufttem- peratur, an den jeweiligen Stations- standorten über- bzw. unterschritten werden.25 (5) Mess-Standorte und Verteilung der bodennahen Lufttemperaturdifferenzen (K) Danach ist die Anzahl der Ereig- bezogen auf den Durchschnittswert von drei strahlungsnächtlichen Messfahrten innerhalb des Untersuchungszeitraums 01.11.1998 bis 31.10.1999 in der Stadt Gelsenkirchen. nistage an den städtisch geprägten Quelle: W. Kuttler, A. Kreft, S. Schaefers, A.-B. Barlag: Gesamtstädtische Klimaanalyse Gelsenkirchen, Endbericht, Flächen in den Wintermonaten im durchgeführt im Auftrag der Stadt Gelsenkirchen, Umweltamt (unveröffentlicht), Essen 2000, verändert 92 ESSENER UNIKATE 19/2002 93

Stadt Vorort Umland Halde Ereignistage Definition St.1: St. 2: St. 3: St. 4: St. 5: Nord- St. 6: Buer Schalke Hassel Sutum sternpark Hoppenbruch

Frosttage tmin ≤ 0°C 36 33 57 44 23 38

Winter kalte Tage tmit < 0°C 19 17 21 20 21 23 Heiztage tmit < 15°C 238 236 255 247 254 241

warme Tage tmit ≥ 20°C 49 47 25 32 31 34 Sommertage tmax > 25 47 45 39 40 37 38

heiße Tage tmit ≥ 30°C 14 8 10 7 6 11 Grillpartytage t21h > 20°C 50 43 22 36 34 34

Sommer heiße Nächte t0h > 20°C 21 15 5 10 8 13

(6) Anzahl klimatologischer Ereignistage im Stadtgebiet von Gelsenkirchen. Messzeitraum: 01.11.1998 bis 31.10.1999. Quelle: W. Kuttler, A. Kreft, S. Schaefers, A.-B. Barlag: Gesamtstädtische Klimaanalyse Gelsenkirchen, Endbericht, durchgeführt im Auftrag der Stadt Gelsenkirchen, Umweltamt (unveröffentlicht), Essen 2000, verändert zwei in unterschiedlichen Gelände- Mischungsschicht stark reduziert tive Auswirkung auf das Stadtklima höhen installierten Klimastationen wird. zugeschrieben werden.26 Stagnierende sowie durch die Interpretation der Für Planungsbelange folgt Kaltluft führt, wie für die Emscher- Ergebnisse von Fesselballonaufstie- daraus, dass innerhalb der Emscher- niederung dargestellt, zu verminder- gen nachgegangen. niederung die bodennahe Freiset- ten Austauschverhältnissen, während Ein Vergleich der Schwellenwerte zung von Luftverunreinigungen nur bodennah in Siedlungsgebiete flie- (Abb. 6), die am tiefstgelegenen bedingt zugelassen werden sollte. ßende Kaltluft zur Ventilation bei- Standort im (Station trägt, wodurch die Frischluftversor- 5, Emscherniederung, 36 Meter ü. Kaltluftdynamik gung und der Abbau der nächtlichen NN) und am Höhenstandort auf der Überwärmung möglich ist. Halde Hoppenbruch (Station 6, 102 Mit den ambivalenten Auswir- Zur Untersuchung der Kaltluft- Meter ü. NN) aufgezeichnet wurden, kungen der städtischen Wärmeinsel dynamik auf einer größtenteils unver- lässt anhand der auf der Halde vergleichbar, kann auch der Kaltluft siegelten Industriebrache erfolgte registrierten geringeren Anzahl sowohl eine negative als auch posi- während einer extrem austauscharmen an Frost- und Heiztagen für den 600 Winter sowie der in der Höhe häu- figer auftretenden „heißen Nächte“ 500 im Sommer, erkennen, dass sich in 21:58 der Emscherniederung ganzjährig Bodeninversionen ausbilden können. 400 Weitere Datenanalysen ergaben, dass innerhalb des Messzeitraumes etwa 05:24 300 zu 50 Prozent des Jahres nächtliche Inversionen auftraten. Abbildung 7 enthält auszugs- 200 Höhe in Metern über Grund 07:22 weise Vertikalprofile der Lufttempe- ratur aus sommerlichen Vertikalson- 07:55 100 dierungen, die bis zu einer Höhe von über 500 Metern ü. Gr. dargestellt sind. Danach sind die stärksten Gra- 0 12,0 14,0 16,0 18,0 20,0 22,0 24,0 dienten unterhalb von 50 Metern Lufttemperatur in °C 21:58 = Uhrzeit des Aufstiegs ü. Gr. zu erkennen. Mit fortschrei- tender Nacht bauen sich jedoch (7) Ausgewählte Vertikalprofile der Lufttemperatur in Gelsenkirchen. Datenbasis: nächtliche Fesselballonsondierungen (17./18.06.1999) im Nordsternpark (Station 5). Bodeninversionen bis zu 200 Metern Quelle: W. Kuttler, A. Kreft, S. Schaefers, A.-B. Barlag: Gesamtstädtische Klimaanalyse Gelsenkirchen, Endbe- ü. Gr. auf, wodurch die bodennahe richt, durchgeführt im Auftrag der Stadt Gelsenkirchen, Umweltamt (unveröffentlicht), Essen 2000, verändert 92 ESSENER UNIKATE 19/2002 93

Strahlungsnacht eine unter Einsatz im Osten und Südosten des Plan- Lufthygienische Situation im des Tracers Schwefelhexafluorid gebietes entlangführende Straßen Straßenraum

(SF6) durchgeführte Kaltluftaus- als Linienquellen in Frage. Daher breitungskampagne. wurden insbesondere die kfz-bürti- Für die Erstellung einer syn-

Abbildung 8 zeigt das mit diesem gen Spurenstoffe CO, NO, NO2 und thetischen Klimafunktionskarte

Tracer nachgewiesene Kaltluftaus- O3 minütlich sowie BTX (Benzol, werden Aussagen zum Flächenbezug

breitungsgebiet, welches vom SF6- Toluol, Xylole) halbstündlich erfasst benötigt. Dies bezieht sich auch auf Emissionspunkt im östlichen Teil und zur Darstellung eines Tages- lufthygienische Komponenten, vor der zu beurteilenden Fläche, dem ganges zu Stundenmittelwerten allem auf diejenigen, die bodennahen geringen Gefälle folgend, etwa drei weiterverarbeitet. Anhand des täg- Quellen entstammen. Die Anzahl Kilometer nach Südwesten reicht. lichen Konzentrationsverlaufes der der Luftqualitätsüberwachungsstati- Bei einer Größe der Industriebrache leicht flüchtigen Kohlenwasserstoffe onen des Landesumweltamtes NRW von 90 Hektar, die aufgrund der (VOC) mit Maximalwerten zwi- weisen eine ihrer Aufgabenstellung unversiegelten Oberfläche als Kalt- schen 13.00 Uhr und 16.00 Uhr bzw. der Landesüberwachung entspre- luftproduktionsgebiet anzusehen 18.00 Uhr, konnten die genannten chende geringe räumliche Auflösung ist, weist die Kaltluftausbreitung ein Linienquellen als Verunreiniger der auf (69 Stationen in NRW, 25 Stati- planungsrelevantes Wirkgebiet von abfließenden Kaltluft ausgeschlos- onen im Ruhrgebiet, eine Station in etwa 360 Hektar auf. sen werden, da diese ausschließlich Gelsenkirchen) und können somit Zur Überprüfung der Luftqualität nachts auftritt. nur ungenügende Eingangsdaten der transportierten Kaltluft wurde Somit kann der unversiegelten für die geforderte hohe räumliche innerhalb des entsprechenden Aus- Industriebrache die Klimafunktion Auflösung liefern. Eine auf den Flä- breitungsbereiches eine lufthygieni- „Kaltluftproduktion“ zugesprochen chenbezug ausgerichtete Methode sche Standmessung bei schwachen werden, die durch die nachgewiesene stellt dagegen die mobile Aufnahme östlichen Winden vorgenommen. großflächige Kaltluftausbreitung mit von Horizontalprofilen dar, deren Als mögliche Verursacher von einer unkritischen Luftqualität Pla- Routenführung die repräsentative Kaltluftverunreinigungen kamen nungsrelevanz erlangt. Flächennutzungsstruktur einer Stadt

26 24 28 4/6/32 30 23 10 33 11 32 9 7 5 29 25 3 1 8 31 20 2 13 22 19 12

21 14 15 16

27 17

Standort Messbus und Emissionsort

18 1-33: Messpunkte mit SF6-Nachweis Kaltluftbildungsgebiet Wirkgebiet 0 1000 2000 m

(8) Kaltluftausbreitungskampagne mittels Schwefelhexafluorid (SF6) in Gelsenkirchen in der Nacht vom 04./05.11.1999. Quelle: W. Kuttler, A. Kreft, S. Schaefers, A.-B. Barlag: Gesamtstädtische Klimaanalyse Gelsenkirchen, Endbericht, durchgeführt im Auftrag der Stadt Gelsenkirchen, Umweltamt (unveröffentlicht), Essen 2000, verändert 94 ESSENER UNIKATE 19/2002 95

350 1,4

NO [µg/m³] 300 1,2

NO2 [µg/m³] CO-Konzentration [mg/m³] 250 1,0 O3 [µg/m³]

CO [mg/m³] 200 0,8 -Konzentration [µg/m³] 3 150 0,6 und O 2 100 0,4

NO-, NO 50 0,2

0 0,0 Bundesstraße BAB 2 und 24 Hauptstraße Hauptstraße Straße Nebenstraße Nebenstraße 224 Wohngebiet Freiraum Gewerbegebiet Wohngebiet Freiraum

(9) Darstellung mittlerer Immissionskonzentrationen verschiedener kfz-bürtiger Spurenstoffe für unterschiedliche Straßentypen Gelsenkirchens. Datenbasis: Streckenabschnittsmittelwerte der lufthygienischen Profilmessfahrten vom 16.06.; 08.07.; 24.08.; 02.09.1999 jeweils zwischen 10.00 und 16.00 Uhr. Quelle: W. Kuttler, A. Kreft, S. Schaefers, A.-B. Barlag: Gesamtstädtische Klimaanalyse Gelsenkirchen, Endbericht, durchgeführt im Auftrag der Stadt Gelsenkirchen, Umweltamt (unveröffentlicht), Essen 2000, verändert berücksichtigt. Die während der städtischer Freiräume beobachtet. nahmenkataloges als Entscheidungs- Fahrt im 1-Sekunden-Takt aufge- Dem chemischen Verhalten des hilfe für stadtplanerische Belange nommenen Komponenten CO, NO, sekundären Spurenstoffes O3 ent- ermöglichen.

NO2 und O3 wurden für charakte- sprechend, sind dessen Konzentrati- ristische Straßenzüge zu Strecken- onen, bezogen auf die dargestellten Synthetische Klimafunktionskarte abschnittsmittelwerten verarbeitet Straßentypen, gegenläufig.28 und Planungshinweiskarte und auf eine Kartengrundlage nach Dieses grob aufgelöste Immis- indizierten Konzentrationsstufen sionsmuster variiert nach lokalem Die Integration stadtklimatischer klassifiziert aufgetragen. Somit erge- bzw. täglichem Verkehrsaufkommen Erkenntnisse in den Planungsvollzug ben sich Bewertungsmöglichkeiten und darüber hinaus in erheblichem mit dem Ziel der Sicherung positiver der Immissionssituation anhand Maße nach den durch die Straßen- klimatischer Funktionen bzw. der eines linienhaften Raummusters der randbebauung beeinflussten Aus- Minimierung von stadtklimatischen erfassten kfz-relevanten Spuren- tauschverhältnissen. Daher ist eine Negativerscheinungen innerhalb ein- stoffe.27 weitere räumliche Differenzierung zelner Flächennutzungsstrukturen Als zusammenfassendes Ergeb- der Immissionssituation in o. g. Stre- erfolgt über das Medium Karte, um nis der insgesamt 470 lufthygienisch ckenabschnitte sinnvoll. der Priorität des Raumbezuges bei quantifizierten Streckenabschnitte Die für das Fallbeispiel auszugs- kommunalen Planungsmaßnahmen zeigt Abbildung 9 eine Darstellung weise und komprimiert dargestellten gerecht zu werden.29 Die Maßstabs- der mittleren Immissionssituation Untersuchungsergebnisse ergeben größe der thematischen Karten wie für typische Straßenzüge Gelsen- unter weiterer Berücksichtigung der Synthetischen Klimafunktions- kirchens. detaillierter Angaben zu den Wind- karte bzw. der Planungshinweiskarte Erwartungsgemäß weisen Auto- und Luftfeuchtigkeitsverhältnissen lehnt sich sinnvollerweise an den bahnen und Bundesstraßen die sowie zur human-bioklimatischen Maßstab der von Planungsbehörden höchsten CO-, NO- und NO2-Kon- Situation fundierte Aussagen zum verwendeten Karten an, in die die zentrationen auf, gefolgt von Haupt- raum-zeitlichen Gefüge des Stadt- Ergebnisse von bzw. Bewertungen straßen in Wohngebieten. Die nied- klimas und der lufthygienischen durch Stadtklimaanalysen einflie- rigsten Spurenstoffwerte werden auf Situation Gelsenkirchens, die eine ßen.30 In der Regel ist das der für die Nebenstraßen in Gewerbegebieten Beurteilung des Ist-Zustandes zulas- vorbereitende Bauleitplanung aufzu- sowie auf Nebenstraßen innerhalb sen und die Erstellung eines Maß- stellende Flächennutzungsplan. 94 ESSENER UNIKATE 19/2002 95

I Die Synthetische Klimafunk- tionskarte der Gesamtstädtischen • Innenstadtklimatop: Sehr stark urban geprägt, hoher Anteil versiegelter Klimaanalyse Gelsenkirchen, die Flächen, sehr deutliche nächtliche Überwärmung, stark eingeschränkte im Maßstab 1:20.000 erstellt wurde, Austauschverhältnisse, erhöhte Belastung durch Kfz-Verkehr. • Klimatop der verdichteten städtischen Siedlungsbereiche und Neben- ist im Sinne einer differenzierten zentren: Dominanz der Bebauung gegenüber den Freiflächen, deutliche Bewertung in die nachfolgend nächtliche Überwärmung, eingeschränkte Austauschverhältnisse, teilweise genannten Ebenen gegliedert: erhöhte Verkehrsbelastung. (1) Abgrenzung von Klimatopen mit • Klimatop des äußeren geschlossenen Siedlungsbereichs und der Neben- dem Ziel der flächenhaften Diffe- zentren: Aufgelockerte Bebauung, höherer Frei-und Grünflächenanteil, mäßige nächtliche Überwärmung, teilweise eingeschränkte Austausch- renzierung von Räumen, die ähnlich verhältnisse. auftretende klimatisch-lufthygieni- • Stadtrandklimatop: Übergangsbereich von mehr oder weniger geschlos- sche Merkmale aufweisen (z. B. sener Bebauung zum städtisch beeinflussten Freiraum, hoher Anteil von Innenstadtklimatop) Frei- und Grünflächen, ausgeglichenes nächtliches Lufttemperaturniveau, in der Regel gute Austauschverhältnisse, bei unversiegelten Oberflächen (2) Darstellung von klimatopüber- potenzielles Kaltluftproduktionsgebiet. greifenden Flächen, denen definierte • Klimatop des städtisch beeinflussten Freiraums: Überwiegend unversie- Klimafunktionen zugesprochen gelte Oberflächen mit geringer Rauigkeit, zunehmende Ausbildung des werden können (z. B. Kaltluftpro- Umlandklimas, ausgeprägte Tagesgänge der Lufttemperatur und Luft- duktionsgebiet) feuchtigkeit, kühle nächtliche Lufttemperaturen, gute Austauschverhält- nisse, bei unversiegelten Oberflächen potenzielles Kaltluftentstehungs- (3) Ausweisung von punktuell auf- gebiet. tretenden Phänomenen (z. B. Wind- • Klimatop der landschaftlich geprägten Freiräume: Umlandgeprägtes feldveränderungen durch Bebau- Klimatop, überwiegend unversiegelte Oberflächen, gute Austauschver- ungsstrukturen) hältnisse, stark ausgeprägte Tagesgänge der Lufttemperatur und Luft- feuchte, kaltes nächtliches Luftemperaturniveau, bei unversiegelten Ober- (4) Markierung lufthygienisch auf- flächen potenzielles Kaltluftentstehungsgebiet. fälliger Straßenabschnitte bezogen • Gewässerklimatop: Wasserkörper mit thermisch ausgleichender Wirkung auf die kfz-bürtigen Spurenstoffe und sehr geringer Rauigkeit. NO, NO2 und CO (z. B. Strecken- • Klimatop der Industrie-und Gewerbegebiete: Hoher Anteil versiegelter abschnittsmittelwerte). Freiflächen, Freisetzung produkt- bzw. prozessbedingter Spurenstoffe und Abwärme, vielfach erhöhter Schwerlastverkehr. Die kartographischen Kriterien der • Waldklimatop: Größere Wald- bzw. Forstgebiete, Bestandsklima: stark Synthetischen Klimafunktionskarte gedämpfter Tagesgang der Lufttemperatur und der Luftfeuchtigkeit; gelten auch für die Planungshinweis- Frisch- und Kaltluftproduktionsflächen mit Filterfunktion für karte. Der inhaltliche Schwerpunkt atmosphärische Spurenstoffe. • Regionaler Grünzug: Zusammenhängende Grünzüge im Westen und liegt bei dieser Karte in der Auswei- Osten Gelsenkirchens mit klimatischen und lufthygienischen Ausgleichs- sung und flächenhaften Abgrenzung und Vernetzungsfunktionen. von: • Erhöhte Inversionsgefahr: Tiefstgelegener Bereich im Untersuchungs- (1) Stadtklimatischen Lasträumen gebiet entlang der Emscher bzw. entlang des Rhein-Herne-Kanals. (z. B. Förderung der Be- und Ent- • Nachgewiesene Kaltluftproduktionsgebiete: Weitgehend unversiegelte Oberflächen ermöglichen effektive Ausstrahlung und führen zur lüftung) Produktion bodennaher Kaltluft, die über geeignete Luftleitbahnen zur (2) Stadtklimatischen Ungunsträu- Belüftung/Abkühlung überbauter Gebiete transportiert werden kann. men (z. B. Verzicht auf weitere Ver- • Kaltluftsammelgebiete: Hohe Kaltluftproduktion oder fehlende Luftleit- siegelung) bahnen bzw. Strömungshindernisse können zu Kaltluftstauung führen, bei bodennahen Emissionsquellen (z. B. Kfz-Verkehr) sind Spurenstoffan- (3) Übergangsbereichen von Last- zu reicherungen möglich. Ausgleichsräumen (z. B. Vernetzung • Nachgewiesene Luftleitbahnen: Geringe Rauigkeiten und breiter Quer- von Flächen mit Klimafunktionen schnitt ermöglichen Luftaustausch auch während windschwacher fördern) Strahlungswetterlagen. (4) Ausgleichsräumen mit der • Nachgewiesene Kaltluftflüsse: Kaltluftabfluss zur Ventilation von Siedlungsgebieten. Funktion der Klimamelioration für • Luftbelastung durch Kfz-Verkehr: angrenzende Räume (z. B. Kaltluft- Mäßig abflussbahnen vom Quell- zum Hoch Wirkgebiet erhalten). Sehr hoch Aus Gründen des Umfanges sowie der in den Originalkarten ent- haltenen Farbgestaltung erfolgt hier lediglich eine gekürzte Wiedergabe der Legendentexte zur Synthetischen (10) Legende für die Synthetische Klimafunktionskarte Gelsenkirchen (I). Quelle: verändert nach: Kuttler, Kreft, Schaefers, Barlag: Gesamtstädtische Klimaanalyse Gelsenkirchen, Klimafunktionskarte und zur Pla- Endbericht, 2000 nungshinweiskarte (Abb. 10, 11). 96 ESSENER UNIKATE 19/2002 97

II Deutlich wird der durch Kausal- verknüpfung beider Legendentexte • Stadtklimatischer Lastraum: Förderung der Be- und Entlüftung, Vernetzung entstandene raumbezogene Infor- mit den Ausgleichsräumen der Regionalen Grünzüge, Steigerung des Grün- mationsgehalt, der zur Integration flächenanteils, Einsatz von Dach- und Fassadenbegrünung, Blockinnenhof- stadtklimatischer Belange in den entkernung, keine weitere Verdichtung der Bebauung und des Kfz-Verkehrs, kommunalen Planungsprozess not- Auflockerung der Randbebauung und Emissionsminderung, insbesondere in wendig ist. Straßen mit eingeschränkten Austauschbedingungen (Straßenschluchten). • Industrieklimatischer und gewerblicher Lastraum: In aktiv genutzten Gebie- ten Erhöhung des Frei- und Grünflächenanteils, wenn möglich Reduzierung Ausblick insbesondere des Schwerlastverkehrs, Gewerbe- und Industriebrachen mög- lichst weitgehend entsiegeln und bei zukünftigen Stilllegungen auf Vernet- Die digitale Erstellung der zungspotenzial zwischen Last- und Ausgleichsräumen achten. beschriebenen Karten ermöglicht die • Stadtklimatischer Ungunstraum: Förderung des Luftaustausches in den Aggregierung der darin enthaltenen Kernen der Nebenzentren, auf weitere Versiegelung möglichst verzichten, Informationen in das von Stadtpla- bei weiterer Verdichtung der Bebauung Frei- und Grünflächenanteil erhalten (Dach- und Fassadenbegrünung, Straßenraumbegrünung), Blockinnenhof- nungsbehörden häufig eingesetzte entkernung, keine Vollversiegelungen, sondern Versickerung und Verduns- Geographische Informationssystem tung ermöglichen, wenn möglich Minderung der Kfz-Emissionen. (GIS). Geographische Informati- • Übergang zwischen Last- und Ausgleichsräumen: Bei weiteren Bebauungs- onssysteme haben sich auch in der maßnahmen auf Vernetzungsfunktionen der betreffenden Flächen achten, Stadtklimatologie als bedeutende vorhandene Bebauungsstrukturen wenn möglich in Teilen entsiegeln um Werkzeuge etabliert, da dadurch Versickerung von Niederschlägen und Verdunstung zu ermöglichen, Grün- die flächenhafte Differenzierung und Freiflächenanteil möglichst erhalten bzw. ergänzen. der bodennahen klimatischen Ver- • Klimatischer Ausgleichsraum (terrestrisch): Stadt- und immissionsklimatisches Ausgleichspotenzial erhalten und ausbauen, keine weiteren Versiegelungen, hältnisse in Verbindung mit den keine weiteren Emissionsquellen, bei unvermeidbaren Bebauungsmaßnah- räumlichen Strukturen der Geofak- men keine Riegelbildungen zulassen, Offenhalten bestehender Luftleitbah- toren erfasst, erklärt und dargestellt nen, keine geschlossenen künstlichen Oberflächen, möglichst großflächige werden kann.31 Versickerung und Verdunstung ermöglichen, nach Möglichkeit Schaffung Dem interdisziplinären Infor- neuer Be- und Entlüftungsschneisen, um die Vernetzung mit stadtklimati- mationsbedarf der Stadtplanung schen Lasträumen zu verbessern, bestehende Strömungshindernisse gerecht werdend, können durch beseitigen oder auflockern. • Klimatischer Ausgleichsraum (hygrisch): Keine abriegelnden Randbebauun- GIS-implementierte Eingangsda- gen zulassen, bestehende Strömungshindernisse beseitigen oder auflockern. ten die Untersuchungsergebnisse, • Wald bzw. Forstgebiete: Erhalt und Erweiterung der vorhandenen Flächen, Bewertungen und Planungshinweise positive Wirkungen (Filterfunktion oder Kaltluftproduktion) durch geeignete von Stadtklimaanalysen weiteren Luftleitbahnen zu den stadtklimatischen Last- und Ungunsträumen sicher- Fachebenen zugeführt werden stellen bzw. schaffen. und gegebenenfalls in kommunale • Regionaler Grünzug: Erhalt und Erweiterung des bestehenden Frei- und Grün- Umweltinformationssysteme einflie- flächenanteils, keine weitere Bebauungsverdichtung oder Flächenversiegel- ßen. Im Sinne einer integrierend aus- ung, keine weiteren Emittenten, kein Ausbau des bestehenden Straßennetzes bzw. Steigerung des Kfz-Verkehrs. gerichteten Stadtökologie, deren Ziel • Austausch und Vernetzungsfunktion fördern bzw. herstellen: Austausch es ist, die Lebensqualität in Städten fördern, Vernetzungsfunktionen durch Schaffung bzw. Freihalten von Luftleit- zu verbessern32, kommt dem Trend bahnen ermöglichen bzw. erhalten. der interdisziplinären Betrachtungs- • Bestehende Strömungshindernisse: Strömungshindernisse beseitigen oder weise kommunaler Planungsstrate- auflockern um Luftaustausch zu ermöglichen bzw. zu verbessern. gien und deren Unterstützung durch • Nachgewiesene Luftleitbahn: Emscherniederung als Be- und Entlüftungs- die beteiligten Fachdisziplinen große schneise erhalten, keine quer zur Strömungsrichtung verlaufende Bebauung (Riegelbildung), keine weiteren Emittenten, Verbindungsfunktion zwischen Bedeutung zu. den Ausgleichsräumen der Regionalen Grünzüge erhalten bzw. ausbauen, Luftaustausch in die angrenzend bebauten Gebiete verbessern. • Immissionsschutz einrichten: Soweit noch nicht vorhanden Immissionsschutz Summary vor Kfz-bürtigen Spurenstoffen einrichten (Immissionsschutzpflanzungen bzw. bei geringem Platzangebot Immissionsschutzwälle). Using the Ruhr valley as an example, this paper deals with the basic principles of urban climatology and demonstrates the differences between conurbations and other (11) Legende für die Planungshinweiskarte Gelsenkirchen (II). Quelle: verändert nach: Kuttler, Kreft, Schaefers, Barlag: Gesamtstädtische Klimaanalyse areas in terms of various physical Gelsenkirchen, Endbericht, 2000 and chemical parameters. 96 ESSENER UNIKATE 19/2002 97

Results from Christchurch, New Sealand. In: (Hrsg.): Stadtklima und Luftreinhaltung, The most common measuring Atmospheric Environment, Vol. 24 B, 1/1990, 2. vollständig überarbeitete und ergänzte methods used for urban climate stu- p. 19-27. Auflage, Springer, Berlin, Heidelberg, New dies are also presented. There are a 16) M. Sachweh: Klimatologie winterlicher York 1999. autochthoner Witterung im nördlichen 32) R. Wittig, H. Sukopp: Was ist number of stages in the process of Alpenvorland. = Münchener Geographische Stadtökologie? In: H. Sukopp, R. Wittig, obtaining climatic and air hygiene Abhandlungen, Reihe A, Bd. A 45, München (Hrsg.): Stadtökologie, 2. Aufl., Fischer, data for specific areas. Examples of 1992. Stuttgart, Jena, New York 1998, S. 1-12. this procedure are described. 17) A. Rühling, A. Lohmeyer: Multitracertechnik zur Untersuchung In a further part of the paper, an überlagerter Kaltluftsysteme. = Wiss. Die Autoren overall climatic analysis is put for- Mitteilungen des Instituts für Meteorologie der Univ. Leipzig und Institut für ward. The Department of Applied Wilhelm Kuttler studierte Physische Geo- Troposphärenforschung, Bd. 13, Leipzig 1999. graphie mit dem Schwerpunkt Meteorologie Climatology, University of Essen, S. 93-97. und Klimatologie sowie Biologie an der Ruhr- recently completed this survey for 18) W. Kuttler: Aspekte der angewandten Universität Bochum. Von 1976 bis 1985 war Stadtklimatologie. In: Geowissenschaften, 6, the city of Gelsenkirchen. er am dortigen Geographischen Institut als Westermann 1996, S. 221-228. wissenschaftlicher Assistent und Privatdozent 19) A. Grätz, G. Jendritzky: Bewertung des tätig. 1978 erfolgte die Promotion über ein Klimas in städtischen Gebieten mit Hilfe von human-biometeorologisches Thema, 1984 UBIKLIM. In: UVP-Report 1, Hamm 1998, Literatur die Habilitation zum Thema „Raum-zeitliche S. 17-19. Analyse atmosphärischer Spurenstoffeinträge 20) VDI-Richtlinie 3787, Bl. 2: 1) A. Kratzer: Das Stadtklima. Vieweg, in Mitteleuropa“. Nach dem Ruf an die Uni- Umweltmeteorologie – Methoden zur Braunschweig 1937. versität Essen im Jahre 1986 richtete er den human-biometeorologischen Bewertung von 2) Baugesetzbuch (BauGB), Bundesgesetzblatt Lehrstuhl für Angewandte Klimatologie und Klima und Lufthygiene für die Stadt- und 8/97, Bonn 1997. Landschaftsökologie im Institut für Ökologie Regionalplanung. VDI-Verlag, Düsseldorf 3) Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG), ein. Der Ruf auf den Lehrstuhl für Klimato- 1998. Bundesgesetzblatt 5/90, Bonn 1990. logie an die Universität Trier im Jahre 1990 21) W. Kuttler: Human-biometeorologische 4) Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz wurde abgewendet. In den Jahren 1993 bis Bewertung stadtklimatologischer (UVPG), Bundesgesetzblatt 9/01, Bonn 2001. 1996 bekleidete Kuttler das Ehrenamt des Erkenntnisse für die Planungspraxis. = Wiss. 5) Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG), Präsidenten der Gesellschaft für Ökologie. Mitteilungen des Instituts für Meteorologie Bundesgesetzblatt 9/98, Bonn 1998. Er ist langjähriger Mitarbeiter im VDI und der Univ. Leipzig und dem Institut für 6) 23. Bundesimmissionsschutzverord- im Rahmen dieser Tätigkeit Vorsitzender der Troposphärenforschung, Bd. 13, Leipzig 1999, nung (23. BImSchV), Bundesgesetzblatt 12/96, Fachausschüsse zur Erstellung der Richtlinien S. 100-115. Bonn 1996. „Lokale Kaltluft“ und „Berücksichtigung 22) VDI-Richtlinie 3787, Bl. 1: 7) Wärmeschutzverordnung (WSchV), von Klima und Lufthygiene in der Stadt- und Umweltmeteorologie – Klima- und Bundesgesetzblatt 8/94, Bonn 1994. Regionalplanung“ sowie Mitglied des Vor- Lufthygienekarten für Städte und Regionen, 8) W. Kuttler, S. Schaefers: On the Detection standes des Fachbereiches II „Umweltmeteo- VDI-Verlag, Düsseldorf 1997. of Intra-Urban Global Radiation Differences rologie“ in der Kommission „Reinhaltung der 23) P. Stock, W. Beckröge, A.-B. Barlag: by Mobile Measurements. In: Proc. of 3rd Luft“. Er ist darüber hinaus Vorsitzender des Klimaanalyse Stadt Bochum. Stadt Bochum Symp. on the Urban Environment, 14. – 18. Fachausschusses „Umweltmeteorologie“ der (Hrsg.), Bochum 1991. Aug. 2000, AMS, Davis, California 2001 p. „Deutschen Meteorologischen Gesellschaft“ 24) W. Kuttler, A. Kreft, S. Schaefers, A.- 147-148. (DMG). B. Barlag: Gesamtstädtische Klimaanalyse 9) W. Kuttler: Stadtklima. In: Guderian, R. Forschungsgebiete: Mikro- und Mesoklima- Gelsenkirchen, Endbericht, durchgeführt im (Hrsg.): Handbuch der Umweltveränderungen tologie unter besonderer Berücksichtigung Auftrag der Stadt Gelsenkirchen, Umweltamt und Ökotoxikologie, Band 1B, Atmosphäre. der angewandten Stadtklimatologie. Es liegen (unveröffentlicht), Essen 2000. Springer, Heidelberg 2000, S. 420-470. zahlreiche Veröffentlichungen zum genannten 25) P. Hupfer, W. Kuttler (Hrsg.): Witterung 10) W. Kuttler, T. D. Wacker: Analyse Forschungsbereich vor. der urbanen Luftqualität mittels mobiler und Klima, 10. Auflage, Teubner, Leipzig 1998. Messungen. In: Österreichische Beiträge zur Andreas-Bent Barlag studierte Physische 26) A.-B. Barlag: Stadtklima – Beispiel einer Meteorologie und Geophysik, H. 27 / Publ.- Geographie an der Ruhr-Universität Bochum planungsorientierten Klimaanalyse. In: Nr. 399, Wien 2001. mit dem Schwerpunkt allgemeine Klimatolo- Geographie und Schule, 21. Jg., H. 118, Aulis 11) A.-B. Barlag, W. Kuttler: The Significance gie. Seit 1987 ist er wissenschaftlicher Mitar- 1999, S. 10-17/Karte im Anhang. of Country Breezes for Urban Planning. In: beiter in der Abteilung Angewandte Klimato- 27) W. Kuttler, A. Straßburger: Analyse kfz- Energy and Buildings 15-16, Vol. 2, Lausanne logie und Landschaftsökologie des Institutes relevanter Immissionen in innerstädtischen 1991, p. 291-297. für Ökologie der Universität Essen. Dort Verkehrs- und Grünflächen. = FAT- 12) A. Matzarakis, H. Mayer: Mapping of wurde er 1992 zum Dr. rer. nat. promoviert. Schriftenreihe Nr. 131, Frankfurt/Main 1997. Urban Air Paths for Planning in Munich. Im selben Jahr erhielt er die Stellung eines 28) W. Kuttler, E. Zmarsly: Bodennahes = Wissenschaftliche Berichte des Instituts akademischen Rates und 1997 eines akademi- Ozon – Enstehung, standortabhängige für Meteorologische Klimaforschung, 16, schen Oberrates in der genannten Abteilung. Tagesgänge und Minderungsmaßnahmen. In: Universität Karlsruhe 1992, S. 13-22. Seit 1993 ist er Schriftleiter der Essener Öko- Entsorgungspraxis 14 (5) 1996, S. 84-93. 13) H. Mayer, W. Beckröge, A. Matzarakis: logischen Schriften und arbeitet vertiefend in 29) A.-B. Barlag: Planungsrelevante Bestimmung von stadtklimarelevanten der angewandten Stadtklimatologie. Luftleitbahnen. In: UVP-Report, 5, Hamm Klimaanalyse einer Industriestadt in Tallage 1994, S. 265-268. – dargestellt am Beispiel der Stadt Stolberg 14) M. Schütz: Anthropogene Nieder- (Rhld.). = Essener Ökologische Schriften, Bd. schlagsmodifikationen im komplex-urbanen 1, Westarp Wissenschaften, Magdeburg 1993. Raum – Ergebnisse einer Untersuchung im 30) H. Schirmer, W. Kuttler, J. Löbel, K. Ruhrgebiet. In: Geowissenschaften, 6, 1996, Weber (Hrsg.): Lufthygiene und Klima – Ein S. 249-252. Handbuch zur Stadt- und Regionalplanung. 15) N. J. Tapper: Urban influences on Kommission Reinhaltung der Luft im VDI boundary layer temperature and humidity: und DIN. VDI-Verlag, Düsseldorf 1993. 31) A. Helbig, J. Baumüller, M. J. Kerschgens 98 ESSENER UNIKATE 19/2002 99 Eckart Pankoke. Foto: André Zelck 98 ESSENER UNIKATE 19/2002 99

Eine kulturgeschichtliche und kulturpolitische Selbstverständigung in der Spannung von „Revierkultur“ und „Kulturregion“ fordert die kritische Auseinandersetzung und die provokative wie produktive Begegnung mit der regionalen Geschichte und fördert die Verständigung auf die strukturellen Probleme und kulturellen Programme. In der Verbindung von industrieller Machbarkeit und der Künstlichkeit kultureller Gestaltung wurden Steinhalden, Hochöfen und Fördertürme zu exponierten Kunst-Punkten. Durch ihre Umwidmung zu „Landmarken“ markieren die einstigen Wahrzeichen großer Industriekultur neue Horizonte regionaler Verbundenheit.

Von der Revier-Kultur zur Kultur-Region

Prozesse, Projekte, Konstrukte und Kontrakte kultureller Entwicklung im Ballungsraum Von Eckart Pankoke

aßt uns den Kohlenpott hen. Erst dann […] hätte der Slogan wirksamen Landesplanung und „Lumfunktionieren!“ – so der ,Ruhrgebiet – Industrielandschaft Landschaftsplanung erkannt und Titel eines frühen Strategie-Papiers der Zukunft’ seine Berechtigung.“ 1 verantwortet wurde. Auch die Kul- aus dem Siedlungsverband Ruhrkoh- Autor war Dietrich Springorum, turlandschaft war hier nicht durch lenbezirk: Gründer der ersten Abteilung für selbstverständliche gewachsene Tra- „Das Ruhrgebiet ist eine artifi- „Öffentlichkeitsarbeit“ im Sied- dition vorgegeben, sondern musste zielle Landschaft. Nirgendwo sonst lungsverband Ruhrkohlenbezirk im Bewusstsein ihrer Künstlichkeit in Deutschland ist eine Industrie- (SVR). Er erklärte die Machbar- planvoll „in Szene gesetzt“ werden. landschaft freilich so willkürlich und keit, die Geschichtlichkeit und die Wohl nicht zufällig waren die großen zweckgebunden artifiziell wie gerade Künstlichkeit dieses Raumes zur Gestalter des Ruhrgebiets Architek- im Ruhrgebiet. Wie wäre es, wenn Identitätsfrage, zum Politikum und ten und Planer, Ingenieure und Kon- sich das Ruhrgebiet anschickte, diese zur Herausforderung planerischer strukteure, die „von außen kamen“ artifizielle Basis endlich bewusst Gestaltung. Künstlichkeit von Wirk- und, fasziniert von der sozialen und zu machen, sie hat neben ihren lichkeit, das galt in den hier ökolo- kulturellen Dynamik dieses Raumes, Schauerseiten auch unstreitig starke gisch höchst belasteten und gefähr- sich hier konstruktiv einbrachten. Faszination. […] Wie wäre es, sich deten Industrierevieren nicht nur Die Geschichte der sozialräumli- Gedanken darüber zu machen, diese für die Naturlandschaft, die schon chen und soziokulturellen Entwick- Landschaft artifiziell zu überhö- früh von einer nachhaltig zukunfts- lung und Steuerung zeigt schon 100 ESSENER UNIKATE 19/2002 101

das alte Revier als einen Raum, der der Entwicklung kulturellen Lebens Systemvertrauens in die große Orga- immer wieder den Willen zu räumli- und in den Versuchen kommunaler nisation von Unternehmen, Verwal- cher Ordnung und baulicher Gestal- und regionaler Kulturpolitik, diese tungen und Verbänden. Auch auf tung wie magisch anzog und immer Entwicklung zu steuern – bis hin dem sozialen Alltag lastete schwer wieder aufs Neue Planer und Bau- zur Aktivierung und Konzertie- die Wucht des Materiellen, ohne dass meister herausforderte: von Robert rung regionaler Kulturpolitik in der sich unter dem funktionalen Druck Schmidt, dem Regierungsbaurat aus „Kultur Ruhr GmbH“ und ihrer industrieller Ballung noch Spielraum Düsseldorf, der hier mit der Grün- Weiterführung in der Projekt Ruhr freier Gestaltung des Lebens und dung des ‚Siedlungsverbandes Ruhr- GmbH. seiner Räume zu öffnen schien. kohlenbezirk’ erstmals der planmä- Heute entwickelt sich – bewusst Das alte Revier gewann sozial- ßigen Steuerung der stadtbaulichen in Auseinandersetzung mit den eins- räumlich Stabilität durch die Festig- und landschaftsgestaltenden Ent- tigen Industriekulturen und quer keit seiner sozialen und regionalen wicklung Bahn brach und Rahmen zu ihren klassischen Zentren und Grenzen: „Vor Ort“, das lag „unter setzte – bis hin zu Karl Ganser, Fronten – eine neue Regionalkultur Tage“. dem Architekten aus Bayern, unter des Ruhrgebiets: Neue Maßstäbe In der Montan-Ära bestimmten dessen Regie der Internationalen einer regionalen Kulturlandschaft Markscheider die unterirdischen Bauausstellung Emscherpark ( IBA) signalisiert die kulturelle Skyline der Reviere der Macht. Auch die Ver- diese Zone industrieller Brache im Landmarken. Diese vermitteln zwi- kehrswege bahnten sich zunächst Sinne ihrer „ökonomischen, ökolo- schen dem Ortsbezug sozialräum- nach der Logistik des Materialflusses gischen wie kulturellen Erneuerung“ licher Nähe und der Offenheit für von Kohle und Stahl, Kapital und nachhaltig und zukunftsweisend auf regionale Netze. Kulturelle Vernet- Arbeit. Dabei waren die Wege der die ganze Region ausstrahlte. zung im regionalen Maßstab eröffnet Arbeit kurz gehalten, woraus sich bis Als „künstliche“ Konstruktion Horizonte für neue Bewegungen heute die Kleinräumigkeit des All- zu gestalten und zu steuern waren und Begegnungen kultureller Identi- tags erklärt, dessen innere Grenzen hier nicht nur die Spannungen von täten und Aktivitäten. zwischen Arbeit und Alltag, zwi- Natur und Technik, sondern auch Die Künstlichkeit kultureller schen Kneipe und Kirche, schwer- die vielfachen Vermittlungen von Umwelten spiegelt der Rückblick industriellem Grau und kleingärtne- Kultur und Arbeit. auf das geschichtliche Vermächtnis rischem Grün eng gesteckt blieben. „Wo Arbeit ist, muß Kultur industrieller Kultur, dies spiegelt sich In den kleinen Welten des Alltags hin!“ So forderte es in den 1920er aber auch in kulturellen Suchprozes- schrumpfte der soziale Raum auf Jahren Essens großer Bürgermeis- sen zu den Sinnfragen einer offenen den Straßenraum im unmittelbaren ter Hans Luther, als er in schwerer Zukunft. Wohnquartier der werkseigenen Zeit das Folkwang-Museum für das „Kolonien“. Planer markierten Ruhrgebiet retten konnte. „Kultur 1950: Das alte Revier: Schwere diesen kleinräumigen Maßstab des und Arbeit“: dieser Zusammenhang Arbeit, große Organisation, starke alten Reviers im engen Lebenskreis blieb Schlüsselmotiv der sozialen Kultur als „Pantoffel-Meile“. und politischen Kultur des Indus- Den Kontrast bildete die Monu- triereviers als Kulturlandschaft. Zu „Union der festen Hand“ (siehe mentalität von großer Industrie: erinnern ist an traditionelles Mäze- hierzu auch den Beitrag von Dirk Eine Revier-Kultur der Stärke fand natentum der Ruhr-Industrie vom Hallenberger und Jochen Vogt in ihre „symbolische Ortsbezogenheit“ Eisengießer Grillo, der seiner Stadt diesem Heft) – unter diesem Titel über die industrielle Skyline, aber Essen das erste Theater schenkte erschien 1932 Erik Regers großer auch über die Glut der Hochöfen, – bis hin zum kulturellen Sponso- Roman des Ruhrgebiets. Schon der die allabendlich den Himmel über ring des Initiativkreises Ruhrgebiet. Titel signalisiert einen Raum, der der Ruhr – wie „Alpenglühen“ – rot Kulturelle Initiative kam aber auch mehr geprägt schien durch Masse einfärbte. Auf den ersten Blick: kein aus Bürgerschaft und Arbeiterbewe- und Macht als durch Sinn und Form. Raum für kreative Offenheit und gung. Legendär wurde der Auftakt Traditionell präsentierte sich diese freie Gestaltung, allenfalls funkti- der Ruhrfestspiele im Austausch von alte Industrielandschaft im Dreiklang onale Zonen industrieller Ballung, „Kunst gegen Kohle“. von „Schwerer Arbeit“, „Großer ohne die befreiende Gestaltquali- Die Orientierungswechsel von Organisation“ und „Starker Kultur“: tät kulturell gewachsener urbaner der Arbeitsgesellschaft zur Aktiv- Starke Kultur (oder ‚strong culture’ Räume. gesellschaft, von der Repräsenta- – wie die Amerikaner sagen) meint Im Blick zurück auf das alte Re- tionskultur zur Reflexionskultur, eine Kultur der Stärke, der Stärke vier, – und seine ‚starke Kultur’ von von Konsenskulturen zu Kultur- des ‚starken Wir’. Dies bewährt sich Masse, Macht und Material – zitieren konflikten, von Wertbindung zu als Solidarität der Arbeit und aber wir nochmals aus dem bereits ge- Sinnfragen manifestiert sich auch in auch in einer festen Solidität des nannten Ruhrgebietsroman „Union 100 ESSENER UNIKATE 19/2002 101

der festen Hand“ den inneren Mono- Lange Zeit blieb die nostalgische verantworten können. […] Ein groß log beim Blick von der Hohensy- Beschwörung der alten Schwerkraft aufgezogener artistischer Apparat burg, also aus der Vogelschau, um industrieller Größe Bezugspunkt läuft leer, er ist unrentabel, weil er die polyzentrale, dennoch amorph von Image-Kampagnen und Identi- unproduktiv ist.“4 bleibende Städtelandschaft dieses fikationsangeboten des Ruhrgebiets Doch im Ruhrgebiet dominierte Ballungsraumes ins Bild zu setzen. als das „starke Stück Deutschland“. für Reger immer noch „ein Kul- „Es war ein Land von gewaltiger Das alte Revier, wie es heute in turmarsch der Stadtverwaltungen, Gegensätzlichkeit und Weitmaschig- stummen Zeugen industrie-archäo- der ein Auf-der-Stelle-Treten ist“, keit, wo seit hundert Jahren alles ein logischer Bewahrung großer Tech- solange städtische Kulturinstitute Anfang war und in hundert Jahren nik erinnerbar bleibt, prägt immer eher aufs Kopieren kultureller nichts abgeschlossen sein konnte; noch die Silhouette des Horizonts. Repräsentation setzen als auf ein auf ein Land nicht schön, nicht häßlich Akzente setzen die einst aktiven, regionale Probleme antwortendes – bloß nützlich […]. nun längst stillgelegten „ehernen eigenes Profil: Es war jetzt noch ein planloses, Gehäuse“. Doch laufende Förder- „All diese Institute stehen auf achsenloses, zielloses Durcheinander, türme, rauchende Schlote, im Gaso- einer Insel, fern vom Leben; sie eine naive Ansammlung barbari- meter gepresste Energie und die weit fungieren […] in den Werbepros- scher Gegensätze, ein von hundert in die Nacht leuchtende Glut der pekten der Verkehrsvereine; aber widerspruchsvollen Fluchtlinienfest- Hochöfen, das bleibt in Erinnerung. die Menschen, […] klar sehende, setzungen ineinandergeschachteltes Was für diese Industrielandschaft des entschlossene Jugend, Angestellte, Straßendickicht, ein von hundert Ruhrgebiets gleichermaßen typisch Arbeiter gehen daran vorbei. […] Es widerspruchsvollen Ideologien ist, sind die wie mahnende Zeige- ist unmöglich, daß es in ihr Bewußt- überschwemmtes und von Heu- finger zum Himmel weisenden neu- sein dringt, es gehört nicht zu ihnen, schreckenschwärmen sogenannter gotischen Glockentürme der dicht es entspricht nicht ihrem Lebensge- Kulturträger heimgesuchtes Men- gestreuten Revier-Kirchen.3 All diese fühl.“5 schenmaterial. Turmbauten aus den hohen Zeiten „Heile Welt“ und „starke Nirgends sonst saßen die Men- industrieller Kolonialisierung stehen Kultur“: Wenn wir den kulturel- schen so dicht zusammen. Aber jeweils nicht nur für große Organi- len Wiederaufbau im Ruhrgebiet nirgendwo sonst waren die Men- sation, sondern auch für die revierty- der 1950er Jahre charakterisieren schen so isoliert in Gruppen, und pisch kleinen Welten sozialräumlich wollen, bieten sich diese schnellen nirgendwo sonst die Städte einer wie sozialkulturell geschlossener Formeln an: Eine bildungsbürgerlich Provinz so weit entfernt von einer Milieus. Beides – die Zechenschlote orientierte Repräsentationskultur wirtschaftlichen, kulturellen und wie die Kirchtürme – werden heute der ,heilen Welt’ begegnete einer verwaltungs- und verkehrstechni- zu Denk- und Mahnmalen, viel- „starken Kultur“ industrieller Stärke. schen Einheit.“2 leicht auch zu Landmarken für „Heile Welt“ steht ironisch für eine Erik Reger wird mit seinem tiefgreifende strukturelle wie auch Kultur, die – abgehoben von den Roman zum Kronzeugen des Erle- kulturelle Krisen dieses Raumes und Zerrissenheiten sozialer Fragen – die bens regionaler Wirklichkeit, die sich seiner absinkenden Kulturen. ästhetische Einbildung des „Edlen, der bildlichen Vorstellung aber auch Erik Reger engagierte sich Wahren und Schönen“ als Hochkul- der baulichen Gestaltung und politi- zugleich auch als kritischer Publizist tur abzukoppeln und als Harmonie schen Steuerung zu entziehen droht. für die politische Kultur einer akti- zu zelebrieren und durch das Rau- Aber die großen Formate ven Kulturpolitik. Kritisiert wurde schen einer solchen symbolischen schwerindustrieller Arbeitswelt, vor allem eine Honoratioren-Politik, Gewalt anders gelagerte Konflikte, wie wir sie heute nur verfremdet die er herunterkommen sah auf den Kontroversen und Diskurse zu über- erfahren über die von der IBA als „zur Permanenz erklärten Stamm- tönen sucht. „Landmarken“ neu erschlossenen tisch“. „Kultur“ schien ihm in die Als ‚starke Kultur’ (,strong Industrie-Ruinen, wie der Gaso- Industrielandschaft „wahllos hinein- culture’) fassen Soziologen den meter in Oberhausen oder das als gestopft“ und damit die kulturellen sinnenfälligen Ausdruck von Stabi- industrieller Landschaftspark künst- und kommunikativen Bedürfnisse litätsdenken und Systemvertrauen. lerisch illuminierte Hüttenwerk im einer aktiven Gesellschaft zu verfeh- Aber gerade die symbolische Gewalt Duisburger Norden – verbanden len: ,starker’ und ,strenger’ Kultur läuft sich mit einer drückenden Enge des „Die Kultur wird, wie ehedem Gefahr, die innovativen und krea- Alltags. Proletarische Entfremdung Fabriken, Häuser und Menschen tiven Entwicklungspotenziale der – „in der Arbeit außer sich, außer wahllos hineingestopft. Die Städte Region zu verfehlen. Dies gilt auch der Arbeit bei sich“ (Marx) – schien strengen sich an, geben für Kultur für eine das Revier lange dominie- gerade in Arbeit und Leben vieler und Kultur-Reklame mehr Geld aus, rende ,starke Kultur’ der ,großen Ruhr-Kumpel Gestalt zu gewinnen. als sie angesichts der sozialen Lage Organisation’: Deren einstige Herr- 102 ESSENER UNIKATE 19/2002 103 schaftskultur erscheint heute als Raumplaner von „Ballung“. Fix- stand sich Kulturpolitik als ,nachho- „versunkene Welt der Bergassesso- punkte regionaler Orientierung lende Modernisierung’. ren“ – so der Ruhrgebietshistoriker wurden bald auch die neuen Hoch- Diese sich auch im Ruhrgebiet Volker Berghahn in „Revier-Kultur“ schulen gleich am Ruhrschnellweg. unter Modernisierungsdruck neu 1986/3. An gleicher Stelle beobachtet Die Großprojekte regionaler Infra- herausbildenden Strukturen und der Sozialhistoriker Klaus Tenfelde struktur aber lagen kaum noch im Kulturen fasste die Formel vom das „Ende der Arbeiterkultur“. Herzen der Städte, sondern zumeist „industriellen Ballungsraum“.6 Typisch für die im alten Revier dazwischen, im Niemandsland der „Ballung“ bedeutete zugleich, dass gesuchte Verbindung von Kultur und „Verbandsgrünstreifen“, wo die solcher Modernisierungsdruck der Arbeit war der von Bildungsbürger- funktionalen Schienen des Massen- „schöpferischen Zerstörung“ des tum und Arbeiterbildungsbewegung verkehrs sich kreuzen. „alten Reviers“ gerade nicht zur gemeinsam bekräftigte Anspruch, die Als Steuerungsinstanz regionaler nachholenden Urbanisierung wurde. Arbeiter zu veredeln, indem sie auf Koordination wurde in den 1960er Vielmehr entstanden post-urbane die Höhen der klassisch-humanisti- Jahren der damalige Siedlungs- Strukturen der Ballung und Streu- schen Hochkultur gehoben wurden. verband Ruhrkohlenbezirk (SVR) ung, die alles ,Urbane’ hinter sich Gerade die Ruhrfestspiele mit ihrem zum Forum und Fokus kulturel- ließen. Gründungsmythos des Austausches ler Modernisierung. Hier gewann In der Zeitdimension verschärft „Kunst gegen Kohle“ und ihrer wei- die Idee Gewicht, die Einheit und sich Tempodruck, wenn die Wege hevollen Monumentalität des Reck- Schlagkraft dieses industriellen weiter werden und ein aufwendi- linghäuser Festspiel-Tempels schie- Ballungsraumes durch regionale ges ,Pendeln’ zwischen den immer nen zunächst von diesem Anspruch Planung zu bündeln. Dies verband weiter auseinander gezogenen funk- bewegt, dass nur höchste Kunst die sich – identitätspolitisch – mit dem tionalen Zonen von ,Arbeit’ und arbeitende Bevölkerung kulturell demonstrativen Abschied vom alten ,Leben’ zwingend wird. Im Wandel (er-)heben werde. Revier. Eine „schöpferische Zerstö- von Raum und Zeit kommen die Weniger spektakulär, aber in rung“ struktureller wie kultureller ,urbanen’ Muster und Werte unter einer Bilanz der kulturellen Ent- „Altlasten“ versprach Aufwind zu Spannung und in Bewegung. wicklung des Reviers gleichermaßen neuen Wegen. In seiner räumlichen Ordnung zu würdigen, ist das dichte Netz Innovationen zielten auf Moder- war das Ruhrgebiet durch den schon kultureller Infrastruktur und sozio- nisierung der Infrastruktur, aber 1920 als regionale Selbstverwaltung kultureller Breitenarbeit, wie es in auch kulturell, im Blick auf einge- gegründeten Siedlungsverband seiner flächendeckenden Ausstattung lebte Muster von Milieu und Men- Ruhrkohlenbezirk (SVR) rich- mit Volks-Bibliotheken und Volks- talität kam das ,alte Revier’ unter tungsweisend planbar. So konnten hochschulen wohl kaum noch zu Modernisierungsdruck. Zukunfts- in der Industrialisierungsphase überbieten ist: „Wo Arbeit ist, da wirksam erwies sich der für alle Wohnflächen, Industrieflächen und muß Kultur hin!“ offene Ausbau des Bildungswesens. Grünflächen nach Plan getrennt Hatte die Jugend in dieser Region werden. Alte Landkarten lassen 1960: Ballung und Streuung: mit ihrer unter dem Durchschnitt diese „Schaschlik-Struktur“ deutlich Modernisierung und liegenden Abiturientenquote und erkennen. Aufgespießt durch die Individualisierung ohne Universitäten bereits in ihren Trassen des Schnellverkehrs haben Bildungschancen ,schlechte Karten’, die kartographisch rot markierten „Ins Funktionale gerutscht“ so begann sich dieses durch einen Ringe industrieller Verstädterung – diese Formel Bert Brechts für ganz gewaltigen Bildungsschub zu (DU und OB, E und BOT, BO und den Formwandel der industriel- verändern. Modernisierung über GE, DO und HA) und dazwischen len Moderne gilt auch für die in Kultur und Bildung manifestierte als grüne Scheiben die vom alten den 1960er Jahren beobachtbaren sich zunächst als Nachholbedürfnis Siedlungsverband Ruhrkohlenbe- Modernisierungsschübe der klassi- in Verbürgerlichung. Engagierte zirk (SVR) planerisch von schwer- schen Industrielandschaften. War das Kulturpolitiker versuchten alles, industrieller Bebauung gezielt frei alte Industrierevier noch bis in die um die ,bildungsferneren Schichten’ gehaltenen „Verbandsgrünstreifen“. 1950er Jahre geprägt durch ,starke’ unserer ,schwerarbeitenden Bevöl- Diese klare Raumordnung von Industriekultur, ,schwere’ Arbeit kerung’, wie es in den Sonntagsreden industrieller Verdichtung und breiten und ,große’ Organisation, aber hieß, kulturell einzubinden. Auch Grünzügen erweist sich bis heute im auch durch unbeweglich machende eine neue Kulturpolitik program- Vergleich zu anderen Industriegebie- Dichte, Nähe und Enge, so weite- mierte über ihre aktiv aufgegriffene ten als spürbarer Standortvorteil des ten die Modernisierungsschübe des Inklusionsformel „Kultur für alle“ Ruhrgebiets. Wirtschaftswunders den Horizont eine ganz beachtliche Kulturleis- Zur aktiven Öffentlichkeit zähl- ins Regionale. Erst jetzt sprachen tungspolitik. Überall im Revier ver- ten damals auch die in der Bürger- 102 ESSENER UNIKATE 19/2002 103

initiativbewegung neu entwickelten ihr Bezugsproblem zunächst in der sene Gesellschaft’ unter sich. Auch Formen einer direkteren Partizipa- Frage der gesellschaftspolitischen wenn diese sich einem breite- tion. „Mehr Demokratie wagen!“ Verantwortbarkeit von Reichwei- ren Publikum zu öffnen suchte, hieß es damals programmatisch. ten und Wirkungstiefen kultureller bestimmte – ganz in der Tradition Dies war nun umzusetzen in neue Infrastruktur: Das infrastrukturelle klassischer Arbeiterbildung – die Formen einer politischen Kultur der Erscheinungsbild der Kulturland- Pflege kulturellen Erbes das Pro- Selbststeuerung des öffentlichen und schaft Ruhr stellte sich dar als ein gramm. Dies fand in den früheren kulturellen Lebens. Allerdings blieb aufwändiges Nebeneinander jeweils Ruhrfestspielen seine hochkulturelle in den kommunalen Großräumen selbstgenügsam abgeschlossener Ausformung. Auf lokaler Ebene des Ruhrgebiets die komplizierte „Stadtkulturen“. Dies kam allerdings wurde aus der Öffnung für ein neues Vernetzung der weit greifenden in kritische Spannung zu den dazu Publikum eher eine populistische Planungsprozesse einer Mitwirkung inkongruenten Perspektiven und Anbiederung an die leichte Muse durch betroffene Öffentlichkeit eher Potenzialen neuer kulturpolitischer gängiger Unterhaltung: Operette verschlossen. Doch die im indus- Zielräume und Zielgruppen. Durch statt Oper, Boulevard statt Tragödie, triellen Ballungsraum ohnehin nur die sich dicht im Raum stoßende Musical statt Musiktheater. schwach entwickelte Tradition bür- Einigelung voll ausgebauter „Stadt“- Dagegen setzte der Dortmunder gerlich-liberaler Öffentlichkeit7 und Kulturen, jeweils orientiert am zen- Kulturdezernent Alfons Spielhoff die Unübersichtlichkeit und Unab- tralörtlichen Leitbild provinzieller seine für damalige Kulturpolitik sehbarkeit der die eigene Situation Zentren, lebten viele Kommunen ketzerische Frage, ob Produktionen betreffenden überörtlichen Deter- kulturpolitisch über ihre Verhält- wie die ,Operette vom Opernhaus’ minanten erklären das zunächst nisse, indem die gerade für subur- und ,Boulevard vom Schauspielhaus’ eher schwache Bild sozialräumlich bane Zonen und sozialkulturelle nicht überbesetzt und so auch über- engagierter Bürgerinitiativen im „Szenen“ nötige Förderung durch teuert seien und ob solche in ihrer Ruhrgebiet.8 Stärker als lokale zentralstädtische Bindung der Mittel Leichtgängigkeit zugkräftigen Pro- Gebundenheit und deren kulturelle an ambitionierte City-Kultur blo- duktionen nicht besser dem freien Gestaltqualität einer ,symbolischen ckiert blieb. Spiel kultureller Märkte zu überlas- Ortsbezogenheit’9 wirkten hier die Industriestädte wie Gelsenkir- sen sind, um dann kulturpolitisch funktionalen Betroffenheiten durch chen oder Oberhausen können es dort aktiv werden zu können, wo der die Systemzwänge der Arbeitswelt. zwar in ihrer Größenordnung mit Markt als Steuerungsmedium ver- Stärker als ökologischer Raumbezug jeder Provinz-Hauptstadt aufneh- sage, also bei Förderung kultureller interessierte deshalb die auf die Welt men, doch fehlt ihnen das provin- Avantgarden und Alternativen, oder der Arbeit bezogene Organisation zielle Hinterland, dem sie „Mitte“ auch bei der Versorgung kultureller sozialökonomischer Interessen. sein könnten. Aber weil sie nicht Randlagen und Problemgruppen. Wenig Beachtung fanden als Mittelpunkt die Mittelschichten Im „Blick zurück nach vorn“ zunächst jene kulturellen Interessen, eines provinziellen Einzugsbereiches erscheinen die Gründungen und die sich – im Unterschied zu den mit Mittelmaß zu versorgen haben, Bewegungen der 1970er Jahre auch im Rathaushorizont befangenen hätten solche Städte im Kontext regi- deshalb so zukunftsweisend, weil Kommunalpolitikern – regional ori- onaler Arbeitsteilung ihre Chance, sich damals auch die Bildungs- und entieren. Dabei könnte ein kulturpo- nicht nur für Gelsenkirchener und Kulturlandschaft des Reviers ent- litischer Regionalbezug nicht nur für Oberhausener, sondern für den scheidend veränderte. Es waren die eine regional abzustimmende Profi- großen Einzugsbereich dieses Bal- Gründerzeiten der Ruhr-Universi- lierung der „Skyline“, sondern auch lungsraumes Profil statt Provinz zu täten: erst Bochum und Dortmund für die sich damals neu aktivierenden bieten. in den 1960er Jahren, dann bald „Szenen“ soziokultureller Alternati- Viel zu lange hemmte lokale aufschließend die Gesamthochschu- ven besondere Entwicklungschancen Selbstgenügsamkeit die Profilierung len Essen und Duisburg in den 70er bieten. und Aktivierung einer regionalen Jahren. Skyline. Längst zeigten empirische Die neuen Universitäten mach- 1970: Kulturpolitik als Bilanzen, dass zwar die Kaufkraft- ten dann das Ruhrgebiet zu einem Gesellschaftspolitik ströme der Konsumlandschaft regi- zentralen Feld ihrer Forschung.10 onal kanalisiert werden, die Planung Dabei wurde bald bewusst, wie sehr „Kulturpolitik ist Gesellschafts- und Verwaltung der kulturellen sich regionale Wirklichkeit verscho- politik“, diese von Alfons Spielhoff Angebote jedoch im Rathaushori- ben hatte. Ganz anders als zunächst für die 1970er Jahre mit Gründung zont befangen blieb. In der Regel erwartet, zeigte sich nicht mehr das der ,Kulturpolitischen Gesellschaft’ blieb das durch Vormiete-Ringe alte Revier mit seinen festen Milieus. ausgegebene Parole eines neuen zusammengehaltene bildungsbürger- Zum Problem wurde eher jene neue kulturpolitischen Engagements fand liche Stamm-Publikum als ,geschlos- entgrenzende Dynamik industrieller 104 ESSENER UNIKATE 19/2002 105

Ballung im Übergang vom Revier Kulturarbeit des Landes Nordrhein- Vielleicht ist die derzeit beob- zur Region. Kulturpolitisch erlebte Westfalen“. Von hier aus initiiert und achtbare Erosion der sozialräumlich das Revier gerade in der Doppelstra- koordiniert wurde der orts- wie res- verankerten sozialmoralischen Mili- tegie einer auf kulturelle Skyline wie sortübergreifend vernetzte Diskurs eus und der auch daraus strukturell kulturelle Szenen zielenden aktiven „KULTUR 90“. Zur Diskussion wie kulturell erklärbare Individuali- Kulturpolitik neue Akzente. stand die Erneuerung kommunaler sierungsschub ein Grund, sich nun Quer zur Selbstgenügsamkeit Kulturpolitik angesichts der Heraus- kulturpolitisch neu zu orientieren. der sich etablierenden Stadtkulturen forderungen „einer sich wandelnden Vor allem die jüngere Generation des Ruhrgebiets öffneten sich in den Gesellschaft“. Als Problem bewusst fixiert sich weniger auf die heimatli- 70er Jahren neue Horizonte einer wurde zugleich mit der Berufsnot chen Ligaturen lokaler Verbunden- bewussten Profilierung durch Regi- künstlerischer und kulturwissen- heit, sondern orientiert sich eher an onalisierung. Auch die sich neu for- schaftlicher Intelligenz, dass für viele den Optionen weiträumiger Vernet- mierenden Alternativen soziokultu- der Zusammenhang von Kultur und zung. Vieles spricht dafür, dass sich reller Felder sind bei allem program- Arbeit zur Berufs- und Lebensper- auch in der Umstellung der kultu- matischen Ortsbezug nur denkbar in spektive wurde. Das Problem der rellen Orientierung ein Generations- ortsübergreifenden Koordinaten. Beschäftigungswirksamkeit von bruch abzeichnet: von der Arbeitsge- Wirksames Potenzial der Vernet- Kulturprojekten bedeutet zugleich sellschaft zur ‚Erlebnisgesellschaft’. zung kultureller Felder entwickelte aber auch eine Dramatisierung der Offensichtlich bedeutet die Plurali- sich über ortsübergreifende Bünd- Kostenfrage. Auf der Suche nach sierung und Individualisierung der nisbereiche. Hier zeigte sich, wie Finanzierungsquellen richtete sich Lebensstile auch ein anderes Verhält- Zusammenschlüsse auf regionaler der Blick zum einen auf die ökono- nis zum Raum, der nun bewusster Ebene besondere Schubkraft entfal- mische Produktivität von Kultur- in seinen Optionen akzeptiert und ten konnten. wirtschaft und Kulturmanagement. aktiviert werden kann. Zugleich aber waren die Kräfte der Nehmen wir die jüngere und 1980: Aktionsprogramm Ruhr: Wirtschaft in ihrer kulturpolitischen mobilere Aktivbevölkerung in den Kultur und Wirtschaft Verantwortung anzusprechen. Als Blick, so rückt ein neuer Typ ins produktive Resonanz ist der in den Bild. Ein erlebnisrationales Suchver- In den 1980er Jahren wurde die 1980er Jahren als Antwort auf den halten, das mit Fahrplan, Veranstal- kulturelle Entwicklung bewusster Strukturwandel des Ruhrgebiets tungsplan und Straßenkarte sich eine zum Problem politischer Steuerung. gegründete „Initiativkreis Ruhr- ‚kognitive Kartierung’ bildet, in der Die Schwelle einer ‚neuen Poli- gebiet“ gerade auch in seinem kul- die Region als polyzentral vernetz- tik’ – auch in der Verbindung von turwirtschaftlichen Engagement zu ter Options- und Aktionsraum an Kultur und Wirtschaft – markierte würdigen. Attraktivität gewinnt. Dabei scheint im Vorgriff auf die 1980er Jahre das der ältere Typ des sozialräumlich „Aktionsprogramm Ruhr“ mit der 1990: Steuerung und Selbst- und soziokulturell eingebundenen als eigener Programmbereich ausge- Steuerung zwischen „Skyline“ Milieus längst abgelöst durch poly- wiesenen Entwicklungsperspektive und „Szene“ valent vernetzte ‚Szenen’, deren „Kulturelles Leben im Ruhrgebiet“, Wirklichkeit jeweils konstruiert wird wozu es programmatisch hieß: „Regionalisierung der Kultur- im Bewusstsein einer gesteigerten „Kultur ist nicht die Sahne auf dem politik“: diese Programmformel Künstlichkeit selbstgestalteter Pro- Kuchen, sondern die Hefe im Teig eröffnete in den 1990er Jahren neue gramme und Projekte, Konstrukte dieser Gesellschaft.“11 Horizonte kultureller Entwicklung und Kontrakte, Konsense und Kon- Praktisch stellte sich die Frage, und ihrer Steuerung. Dabei stellt flikte. wie in der Kulturlandschaft Ruhrge- sich die Frage, ob im industriellen Die Wählbarkeit von „Optio- biet die Attraktivität einer regionalen Ballungsraum mit der Pluralisierung nen“ wird für die Definition moder- „Skyline“ mit der Aktivität ihrer und Individualisierung der Lebens- ner „Lebenschancen“ (Dahrendorf) soziokulturellen „Szenen“ zu ver- stile die sozialräumliche Dimension wichtiger als die Verbundenheit in binden sei, ohne dass dabei die „Sky- sozialer Wirklichkeit an Bedeutung verbindlichen „Ligaturen“. Diesen line“ alles an Aufmerksamkeit und und Deutlichkeit verlieren müsse. Wechsel vom ,Milieu’ zur ,Szene’ Zuwendung derart absorbiert und Neue Bezugsprobleme der kulturel- demonstrieren nicht nur die in ihren damit die „Szenen“ sich noch weiter len Konstruktion regionaler Identität Zielgruppen und Zielräumen hoch- in Grauzonen und Schattenlagen weisen zurück auf das klassisch von selektiven soziokulturellen Zentren. abgedrängt sehen. Georg Simmel geschärfte soziologi- Auch die sich neu profilierenden Als treibende Instanz einer regi- sche Problembewusstsein zur räum- Angebote besonderer Kunstereig- onalen Kulturvermittlung wirkten lichen Wirkung des Sozialen und zur nisse und Kultureinrichtungen sind die „Sekretariate für Gemeinsame sozialen Bedeutung des Räumlichen. nur realisierbar im regionalen Hori- 104 ESSENER UNIKATE 19/2002 105

zont, in dem die Regionalisierung gezielt suchenden Publikums setzte bedeutet im Idealfall gerade nicht der je spezifischen Zielgrupppen immer wieder neu das Bochumer Abkopplung von öffentlicher Förde- neue Reichweiten und Maßstäbe Stadttheater, dessen Radikalität und rung, wohl aber die Auskuppelung ermöglicht. Richtungsweisend für Exzentrik für den lokalen Publi- von Eigendynamik und Autonomie. eine neue Regionalität der Angebote kumsgeschmack eher abstoßend als Auch ein „jenseits von Markt und Nachfragen sind kulturelle anstoßend war. Doch gerade das und Staat“ sich neu konstituierender Aktivitäten, die in der gezielten Aus- Kompensations-, Konkurrenz- und „Dritter Sektor“ kultureller Eigen- richtung auf wählerische Zielgrup- Kontrastprogramm kultureller dynamik bleibt auf öffentliche Mittel pen ihr Profil behaupten müssen: Nachbarschaft machte in regionaler angewiesen und damit bezogen auf In Moers profilierte sich das Arbeitsteilung jeweils die Konzen- öffentliche Macht und öffentliche experimentell produktive kleine tration auf künstlerisch gesteigertes Meinung. Dennoch erweist sich Schloßtheater und das in bewusster Profil vertretbar. gerade die institutionelle Autonomie Konzentration auf musikalische Wirksames Potenzial der Vernet- situativer Selbststeuerung als wich- Avantgarde groß aufgezogene Moer- zung kultureller Felder eröffnet sich tige Bedingung für eine unbürokra- ser New Jazz-Festival. In Reckling- über die Solidarisierung gemeinsa- tische Förderung der Entwicklung hausen beeindruckt als kulturelles mer Interessenlagen – sei es für die von kultureller Kreativität und soli- Profil das von Kennern höchst Bewahrung kultureller Errungen- darischem Engagement. Gerade im geschätzte Ikonen-Museum. In der schaften oder auch für die Förderung ,freien Feld’ von kultureller Initiative Bergbaustadt Kamp-Lintfort entwi- kultureller Entwicklungspotenziale. und sozialer Aktion könnte einer ckeln sich um die Abtei Kamp, einst Hier bot regionale Vernetzung orts- aktiven Kulturpolitik kommunaler Brückenkopf europäischer Kulturbe- übergreifende Sympathisantenfelder Selbstverwaltung eine neue Funktion gegnung neue Felder geschichtskul- und Bündnisbereiche. Zu einem zukommen, als Mittler und Makler tureller Auseinandersetzung. ,Neue prominenten wie profilierten Netz- wirksam zu werden. Musik’ in Witten oder ,alte Musik’ in werk kulturpolitischer Kompetenz Entscheidend aber wird, dass Herne werden erst in ihrer regiona- entwickelte sich die ,Kulturpolitische im dicht besetzten Städteschwarm len Resonanz tragbar. Im Ballungs- Gesellschaft’. Ruhrgebietsspezi- nicht alle einheitlich das Gleiche kern gewann das Bochumer Schau- fische Vernetzungen bildeten sich bieten, sondern die Möglichkeiten spielhaus durch Intendanten wie auch über den Zusammenschluss der einer bewusst regionalen Steuerung Zadek und Peymann sein bis in ferne alten Bergarbeitersiedlungen oder von Nachfragen und Angeboten Feuilletons beachtetes Profil, dessen auch über die Arbeitsgemeinschaft zur Chance werden, das Besondere Radikalität und Exzentrik gewiss soziokultureller Zentren. Auf syn- nicht nur zu erhalten, sondern in weniger ein Bochumer Stammpubli- ergetische Effekte regionaler ,Kon- seiner Vielfarbigkeit zu steigern. Erst kum bediente, wohl aber weit in die zertierung’ setzt bewusst das neue die Regionalisierung des kulturel- Region ausstrahlte. Von Gelsenkir- „Netzwerk experimentelle Musik len Lebens eröffnet neue Wege und chen aus setzt das „Musiktheater im und neuer Jazz“. Netze einer Differenzierung und Revier“ nicht nur mit der Avant- Wem es gelingt, sein spezifisches Profilierung. garde seines Ballett-Ensembles regi- Publikum regional zu interessieren Zu lernen wäre deshalb eher von onale Akzente. Überregionale Auf- und zu mobilisieren, der hat gute dem mobilen, flexiblen und reflexi- merksamkeit gewann auch Roberto Aussicht, dass das künstlerische ven Such- und Wahlverhalten eines Ciullis „Theater an der Ruhr“ in Risiko der radikalen Profilierung neuen Kulturpublikums, das sich Mülheim, zugleich Lehrstück dafür, sich tragen wird. Dabei erweist sich bewusst regional zu orientieren und dass freiere Trägerkonstruktionen soziokulturelle Selbststeuerung als zu organisieren beginnt. So wie die zum kommunalen Stadttheater kon- Chance einer neuen Beweglichkeit. kulturell aktiven Szenen sich regi- kurrenzfähig werden. Überörtlich Doch die Ablösung von der kom- onal zu vernetzen wissen, könnte vernetzt ist auch das viele Ruhrge- munalen Ebene gewinnt prekäre kommunale Kulturentwicklung bietsstädte umspannende Klavierfes- Aktualität, wenn die öffentliche neues Profil gewinnen, wenn sie für tival des Initiativkreises Ruhrgebiet. Förderung immer weniger sicher ist. innovative Lernprozesse und für Riskierbar wird Spezialisierung So verschärft sich die Sorge, dass die regionale Netzwerke offener wird. im polyzentralen Spektrum erst Strategie der kulturellen Selbststeu- Schließlich wäre bei aller grenz- durch ein neues regional orientiertes erung, die zunächst der radikalen übergreifenden Dynamik verkehrs- Publikum, das sich in der vitalen und Avantgarde freies Spiel erkämpfte, technischer Erschließung und tele- vielfarbigen Kulturlandschaft der nun eher jenen Sparrezepten entge- matischer Vernetzung im Ruhrgebiet Region lieber selbst bewegt, als sich genkommt, sich aus lästig werden- daran zu erinnern, dass sich die Sozi- von rotierender Tingelkultur bespie- den Betriebs- und Folgekosten abzu- alkultur des alten Reviers gründete len zu lassen. Auf die regionale, ja lösen. Doch Selbststeuerung als Stra- in einer ,starken Kultur’ der sozialen überregionale Mobilisierung seines tegie regionaler Kulturentwicklung Nähe. Davon lebt ein heute immer 106 ESSENER UNIKATE 19/2002 107 noch lebendiges Gemeinschaftsle- blick und Weitblick regionaler ihrer Kuppe die weithin sichtbare ben und Vereinswesen in den sozi- Horizonte. Dies setzt zugleich neue Stahlbramme des Land-Art-Künst- alen Räumen der Wohnquartiere Spielorte und Treffpunkte kulturel- lers Richard Serra. und Stadtteile. Diese Sozialformen len Lebens. Die von ihren industri- Die in ihrem Kontrast zum bürgerschaftlichen Engagements ellen Nutzern geräumten und nun überdimensionierten Konsumzent- gewinnen heute neues Interesse als zunächst als industrielle ,Altlast’ rum CentrO bewusst auf regionale Gegengewicht zur Verknappung der störenden Relikte industrieller Kommunikation setzende Umge- öffentlichen Mittel und zur Veren- Architektur sollen sich nun als Kris- staltung und Aneignung industri- gung kommunaler Spielräume. Im tallisationspunkte kulturellen Lebens eller Gehäuse ist das Gasometer im Sinne einer Sicherung und Weiter- zum öffentlichen Raum öffnen. geräumten Thyssen-Imperium in entwicklung der soziokulturellen In der Verbindung von industri- Oberhausen. Vielleicht wurde gerade Infrastruktur könnte gerade die regi- eller Machbarkeit und der Künstlich- deshalb diese Landmarke zum Wahr- onale Vermittlung und Vernetzung keit kultureller Gestaltung werden zeichen der leitbildhaft von der IBA dazu beitragen, dass die ,endogenen nun Steinhalden, Hochöfen und vorangetriebenen Konversionen und Potenziale’ des ruhrgebietstypischen Fördertürme zu exponierten Kunst- Transformationen dieser alten Indus- Vereinswesen, insbesondere die in Punkten. Durch ihre Umwidmung trielandschaft. lokale Nähe eingebundenen Bür- zu „Landmarken“ markieren die Auf der Suche nach „symbo- gervereine aus ihrer traditionellen einstigen Wahrzeichen großer Indus- lischen Ortsbezogenheiten“13 des ‚Selbstgenügsamkeit’ aufwachen. triekultur neue Horizonte regionaler strukturellen wie kulturellen Wan- Bürgergesellschaftliches Engagement Verbundenheit. Dies gilt gerade für dels verwiesen wir auf den Gaso- könnte sich dann entwickeln und das bauliche Erbe von Kohle und meter-Oberhausen als Wahrzeichen vernetzen zu Aktivposten sozialer Stahl: die Zechentürme, (wie die einer von der IBA kreativ voran- und kultureller Selbststeuerung.12 Zechen ,Carl’ und ,Zollverein’ in getriebenen Erneuerung aktiver Essen, ,Rheinpreußen’ in Moers oder Regionalkultur auf dem verlassenen 2000: Landmarken und die Zeche Zollern in Dortmund als Hüttengelände bei Oberhausen, der Zeitzeichen: CentrO und IBA Sitz des Westfälischen Industriemu- zusammen mit dem zugehörigen seums) und die Hüttenwerke (wie Hüttenwerk abgerissen werden Diese Künstlichkeit der indus- das zum ,Landschaftspark Meide- sollte; doch die Internationale Bau- triellen Wirklichkeit hat aber immer rich’ umgestaltete Thyssen-Hüt- ausstellung Emscherpark (IBA) ver- auch Künstler stimuliert, sich mit tenwerk im Duisburger Norden). rechnete die dazu fälligen Abbruch- dieser Künstlichkeit industrieller Besondere Akzente setzen die als kosten mit Fördermitteln der Lan- Formenwelt auseinander zusetzen: industrielles Produkt durch schwere desplanung und Denkmalpflege. So Hier im Ruhrgebiet entwickelte menschliche Arbeit aufgeschütteten entstand ein imposantes Denkmal sich lebendige Kunst in ihrer Aus- Stein-Halden: wurde doch jeder für die Monumentalität von ,großer einandersetzung mit der radikalen Stein mühevoll aus dem Bergwerk Industrie’, zugleich aber auch ein Künstlichkeit industrielle Wirk- ,unter Tage’ nach oben getragen, riesiger Resonanzkörper für museale lichkeit. Verweisen möchte ich in langwierigen Verfahren von der und musikalische Installationen, in hier auf die längst schon klassische Kohle getrennt und dann als wert- denen die Geschichte dieses Raumes Künstler-Initiative „Junger Westen“ loser und lästiger Abfall aufgeschüt- sich spiegeln kann. Attraktiver für – oder auf die Künstlergruppe „B1“, tet zu künstlichen Bergen. Diese die Bevölkerung erscheint aber die die sich den die Städte und Räume Abraumhalden bestimmen seitdem Möglichkeit aus schwindelnder verbindenden Ruhrschnellweg als das Landschaftsbild des Ruhrkoh- Höhe das Revier als ,Landschaft’ zu verbindendes Band auswählte, – viel- lenbezirks und werden nun als expo- betrachten. leicht weil dieser Ballungsraum keine nierte Träger künstlerischer Gestal- Am Fuße des Gasometers weitete repräsentative Mitte hat, sondern tung zu regionalen Blickpunkten, sich industrielle Brache, des mit dem allenfalls Trassen und Schneisen, die die als künstliche Aussichtspunkte Traditionsnamen ,Gute-Hoffnungs- alles im Fluss halten. erstaunlichen Rundblick eröffnen. Hütte’ auf klösterlich-vorindustrielle Über „Landmarken und Stadt- Weithin sichtbare Attraktion wurde Zisterzienser-Gründung rückver- zeichen. Kunst im öffentlichen so der riesige Bottroper Tetraeder. weisenden Montankomplexes. Die Raum“ werden die Grenzen und Symbolisch bedeutungsgeladen in Aussicht hoch oben vom Gasometer Schwellen der Kulturlandschaft ihrer Verbindung von Kohle und lässt ermessen, wie weit sich in der Rhein-Ruhr neu vermessen und mit Stahl ist im Essener Norden die Montankrise die Industriebrache der Profilierung regionaler Akzente Schurenbach-Halde, die nun zu ausdehnte, zugleich aber erweist sich neu markiert. So fixieren die zuein- künstlerischer Form aufgeschüttet die Brachfläche als neuer Baugrund, ander auf Blickkontakt gesetzten ist. Als Zeichen der Verbindung von mitten in dichtester Besiedlung und Landmarken den Rückblick, Rund- Kohle und Stahl trägt sie nun auf verkehrsmäßig anschließbar an weit- 106 ESSENER UNIKATE 19/2002 107

räumig mobilisierbare Kaufkraft- ströme. Die Zentrierung aller Wege auf die einstigen Produktionszentren soll nun für neue Ziele eine verkehrs- technisch perfekt erschlossene Zen- tralität allseitiger Erreichbarkeit und so ,Neue Mitte’ bieten. Auf diesem Hintergrund ist die Identität dieser Industrielandschaft als Kulturlandschaft neu zu erörtern. Eine kulturgeschichtliche und kul- turpolitische Selbstverständigung in der Spannung von „Revierkultur“ und „Kulturregion“ fordert die kri- tische Auseinandersetzung und die provokative wie produktive Begeg- nung mit der regionalen Geschichte und fördert die Verständigung auf die strukturellen Probleme und kul- turellen Programme: Auf das Innovationsmanagement eines neuen ,kulturellen Unterneh- mertums’ setzte die auf die regionale Kulturförderung zugeschnittene Kultur Ruhr GmbH. Träger sind die drei großen Institutionen regionaler Selbstorganisation: der Kommunal- verband Ruhrgebiet als traditions- reiche Instanz planvoller Raumord- nung und Regionalentwicklung, die

IBA als Kristallisationsfeld regiona- Zeichnung: Katrin Schmuck ler Such- und Lernprozesse und der Verein Pro Ruhrgebiet als regionale Weltkulturerbe Zeche Zollverein. Sammlung und Bündelung bürger- schaftlichen Engagements. Program- und architektonischen Anlagen der Signale für die Stärke und die Leben- matisch forderten die Gesellschafter großindustriellen Produktionsweise. digkeit der endogenen Potenziale in ihrem 1997 veröffentlichten Durch künstlerische Bearbeitung der kulturellen Lebens. Memorandum die kulturelle und Umnutzung können neue Sinnzu- Die Landmarken der IBA spie- künstlerische Auseinandersetzung sammenhänge, ja sogar neue Arbeits- geln zugleich aber auch die Ambi- mit dem epochalen Wandel der plätze für die Menschen geschaffen valenz von „schöpferischer Zerstö- industriellen Moderne: werden.“14 rung“, als Abschied von den großen „Gezielt wird auf die Initiierung, das Formaten industrieller Produktivität Aufspüren und Fördern von Kunst- Ausblick: „Der Pott kocht – Wir und als Aufbruch im industriellen und Kulturprojekten, welche sich in sind das Feuer“ Umbruch zu neuen Horizonten. Inhalten, Methoden und Formen mit Die monumentalen Maßstäbe den ökonomischen, ökologischen, Die zur Jahrtausendwende kul- werden vielleicht jetzt erst bewusst sozialen und kulturgeschichtlichen tivierte epochale Aufbruchs- und durch kulturelle Inszenierung, vor Umbruchsituationen zu Ende des 20. Umbruchsstimmung scheint auch allem durch die zum 1. Mai 1999 Jahrhunderts beschäftigen. Die inno- das Revier mitzureißen: Spektakuläre eröffnete Installation des Verpa- vativen Künste, die – beispielsweise Aufmerksamkeit findet das zu glei- ckungskünstlers Christo, der die in der Musik und in der bildenden cher Zeit inszenierte Finale der IBA: Monumentalität des Gasometers Kunst – auch die Möglichkeiten Abgesang auf die industrielle Epoche durch die hineingepackte monu- neuer Technologien nutzen, sind und zugleich Anstiftung zu einer mentale Mauer aus Ölfässern erst ebenso gefragt wie der künstleri- anderen Zukunft. Dazu setzt eine sinnenfällig nachvollziehbar machte. sche Umgang, die Auseinander- neue, selbstbewusst auf die Region Es sind gewiss leere Fässer, und setzung mit den landschaftlichen setzende Kulturpolitik deutliche damit ein ambivalentes Symbol, um 108 ESSENER UNIKATE 19/2002 109 der Zukunft nachhaltig gerüstet mit Glut-Arbeit im Feuerbereich, dem very artificial, man-made landscape. Energie entgegenzugehen, aber es Allerheiligsten der Krupp-Kultur, The infrastructure, culture and sind zugleich auch bunte Objekte, geleistet wurde, flammte nochmals even the nature in this region are deren künstlerisch komponiertes Feuer auf, nun aber inszeniert durch the result of complex processes of Farbenspiel darauf hinweist, dass es professionelle Feuer-Künstler als strategic planning. This planning neben dem industriellen Grau noch bezahltes Happening. came under the auspices of regional andere Welten gibt. Demonstriert Kurz bevor die Flammenwerfer self-administration: The Association wird eine andere Farbigkeit, als sie sich zum Feuerball trafen, hatte die of Regional Settlement in the Ruhr sich uns aufdrängt im Schatten des Kultur-Ministerin in ihrer Begrü- Coal District (Siedlungsverband Gasometers, wo auf industrieller ßung bestätigt, dass dieses der letzte Ruhrkohlenbezirk (SVR)), which Brache sich nun als „Neue Mitte“ ein Akt für das Hüttenwerk sei, unmit- was established in the 1920s. kommerziell gesteuertes Konsumpa- telbar danach sei die Demontage zu The meticulous planning of the radies ausweitet, dessen globalisierte ihrem Ende zu bringen. Industrieller socio-economic structures had an Erlebniskonfektion die längst indi- Abbruch als Fanal kulturellen Auf- effect on cultural policies. Culture vidualisierten Massen in ihren Kauf- bruchs, da blieb beim Bankett man- became a strategic topic of regional kraftströmen zu binden sucht, ohne chem der Bissen im Halse stecken. governance. dass in der nun nochmals gesteiger- – Oder aber feierte nicht auch dieses In the history of industrial ten „Bedeutung des Geldes für das Spektakel wie schon zuvor „Feuer colonisation, the combination of Tempo des Lebens“ (Simmel) eine und Flamme“ im Gasometer den aus hard work and strong culture has a leer laufende Zeit sich noch kulturell alter Asche auferstehenden Feuer- proud tradition. We are reminded of füllen ließe. vogel „Phönix“ als postmodernen the cultural patronage of the early Demgegenüber setzen die Mythos des Reviers? industrial entrepreneurs. Another bewusst auf regionales Format aus- Weniger poetisch, dafür aber example of enlightened cultural gelegten kulturellen Aktivitäten auf programmatisch operativer formu- policy-making was local politician „aktive Gesellschaft“. Dabei bedeu- lierte dies das oben schon zitierte Mayor Hans Luther, a former mayor ten die Entwicklungspotenziale einer Memorandum Kultur-Ruhr-GmbH of Essen. In the 1920s, he revitalised „Bürgergesellschaft Ruhrgebiet“15 als regionales Selbstbild und Leit- the important Folkwang Museum nicht nur eine Erneuerung von kul- bild: in the centre of the industrial area. turellem Leben. Letztlich soll dieses „In keiner anderen Region He referred to the ideals of the ausstrahlen auch auf neue Horizonte Deutschlands sind die Voraussetzun- Folkwang-Movement: “The ethos sozialer Solidarität und wirtschaft- gen für die kulturell-künstlerische of hard work must influence areas of lich produktiver Aktivität im Ruhr- Bearbeitung dieser Zäsur in der Ent- culture”. gebiet. wicklung einer Industriegesellschaft After the liberation from the terror „Der Pott kocht – Wir sind das so günstig wie im Ruhrgebiet. Die of fascism, which was hostile Feuer“ – so hieß es unter Bezug auf Geschichte des Ruhrgebiets ist ein- to culture, the rebuilding of a die neue Image- und Identitätskam- zigartig. Hier haben sich wirtschaft- cultural infrastructure began in pagne des Kommunalverbandes zum liche, technische, politische, soziale the decimated Ruhr area in 1945. Auftakt des IBA-Finales und des und ökologische Entwicklungen In the first phase, cultural and damit verbundenen „Jahrtausend“- der jüngeren deutschen Geschichte educational policy favoured the Festivals der „Kultur-Ruhr“. So ließ deutlich zugespitzt, hier wurden humanist values of classic German die regionale Theaterlandschaft sich Konflikte ausgetragen und Lösun- and European cultural heritage. The feiern durch ein feurig-festliches gen gefunden, die – im positiven early Ruhr Festivals (Ruhrfestpiele) Bankett in den von industrieller und im negativen Sinne – beispiel- in Recklinghausen represented the Arbeit geräumten Fried. Krupp- haft gewirkt haben. Die Region um traditionalism of cultural classics. Hüttenwerken in Duisburg-Rhein- Ruhr und Emscher war eines der Traditional culture was combined hausen. Man traf sich zum gedeckten ertragreichsten Experimentierfelder with a strong culture of social Tisch unter den hochmodernen, nun der deutschen Industriegesellschaft. integration, corporate identity and aber erkalteten Hochöfen, deren Dieses einzigartige Erbe gilt es, solidarity. Baujahr (1985) an die millionen- für ein neues kulturelles Profil der A new era of cultural renewal began schweren Innovationsinvestitionen Region zu nutzen.“16 in the 1970s initiated by the concept noch unmittelbar vor Schließung of a “Society of Cultural Politics” (1987) erinnerte. Noch während das (Kulturpolitische Gesellschaft). Kultur-Publikum speiste, füllte sich Summary Here, a progressive, often die Halle mit Feuer. Hier, wo seit alternative socio-cultural movement 100 Jahren (Krupp-Rheinhausen The industrial agglomeration of fostered the links between cultural wurde 1899 gegründet) schwerste the Ruhr Valley comes across as a practice and social life. The new 108 ESSENER UNIKATE 19/2002 109

16) Kommunalverband Ruhrgebiet überregionaler Strahlkraft. In: Frankfurter programmatic watchwords were: (KVR), Ministerium für Arbeit, Soziales Allgemeine Zeitung 24.09.1996. “culture for all”, “culture from the und Stadtentwicklung, Kultur und Sport – Simmel, G.: Die Bedeutung des Geldes für bottom” and “culture of everyday (MASSKS) 1998 das Tempo des Lebens, in: Neue Deutsche Rundschau 8/1897, 111-122 (zitiert nach der life”. Edition in: E. Pankoke, Gesellschaftslehre, Particularly in the Ruhr Valley, the Literatur Frankfurt 1991, 776-797) new culture of industrial regions – Simmel, G.: Soziologie des Raums. In: meant alternatives to the urbanity of – Albertin, L., Pankoke, E., Rohe, K.: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung, Kommunale Integration in urbanen Räumen. und Volkswirtschaft in Deutschen Reich, Jg. the cultural middle-classes. 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Mitglied der Berichtsgruppe the post-modern perspectives of a (MASSKS): Programm der Kultur Ruhr „Soziale Ungleichheit und Sozialpolitik“ in contemporary, creative society. GmbH 1998-2000. Auf dem Weg der der Kommission für sozialen und politischen Regionalen Kulturpolitik in der Kulturregion Wandel in den neuen Bundesländern (KSPW). Ruhrgebiet. Düsseldorf, MASSKS 1998/6 Vorstandsmitglied, 1996-1998 Sprecher der – Pankoke, E.: POLIS und REGIO. Sektion „Kultursoziologie“ in der Deutschen Anmerkungen Sozialräumliche Dimensionen kommunaler Gesellschaft für Soziologie. Lehr- und For- Kultur, in: Soziologia Internationalis. schungsschwerpunkte: Gesellschaftlicher Themenband 15/1977, 31-61 Wandel; Industrie- und Organisationssozio- 1) Springorum, 1969/1986, 94 – Pankoke, E.: Passagenland NRW: Bewegung logie, Kultursoziologie. Forschungsprojekte 2) Reger 1931/46, 588f. und Begegnung, in: U. Canaris, J. Rüsen richteten ihr Interesse insbesondere auf die 3) Brakelmann u. a. 1998 (Hg.), Kultur in Nordrhein-Westfalen. Zusammenhänge zwischen Wertewandel, 4) Reger 1929/1986 Zwischen Kirchturm, Förderturm & Organisationskultur und institutionellem 5) ebda. Fernsehturm. Essen 2001: 28-38 Engagement in Unternehmen, Verwaltungen, 6) Lück, Nokielski, Pankoke, Rohe 1973 – Reger, E.: Kulturpolitik an der Ruhr (zuerst Verbänden. 7) Vgl. Rohe 1986 in: Das Kunstblatt Jg.13, 1929, 291-299), Aktivitäten im „Dritten Sektor“ sozialen 8) Borsdorf-Ruhl 1973 Neudruck in: REVIER-KULTUR 1986, H 1, und kulturellen Engagements Mitglied des 9) Treinen 1974 82-90 Ausschusses „Sozialplanung und Organisa- 10) Rohe 1986 – Reger, E.: Union der festen Hand. Roman tion“ im Deutschen Verein für öffentliche 11) Ministerpräsident Johannes Rau in: einer Entwicklung Berlin 1931, Neuauflage und private Fürsorge Mitglied des Beirats der Landesregierung NW; Aktionsprogramm 1946 „Gesellschaft für Organisationsentwicklung“ Ruhr 1979: 158 – Rohe, K.: Vom Revier zum Ruhrgebiet. beim Bundesvorstand der Arbeiterwohlfahrt 12) Vgl. Verein pro Ruhrgebiet 1998 Parteien, Wahlen, Politische Kultur, Essen Mitglied der „Kultur Ruhr GmbH“ Mitglied 13) Treinen 1974 1986 des Beirats des Kulturwissenschaftlichen Ins- 14) Ministerium für Arbeit, Soziales und – Rossmann, A.: Erst kommt die Arbeit, dann tituts im Wissenschaftszentrum NRW. Stadtentwicklung, Kultur und Sport die Kultur. Dem Revier mangelt es nicht an (MASSKS) 1998 Museen, Theatern und Orchestern, aber an 15) Verein pro Ruhrgebiet 1999 110 ESSENER UNIKATE 19/2002 111 Hans-Werner Wehling. Foto: André Zelck André Foto: Wehling. Hans-Werner 110 ESSENER UNIKATE 19/2002 111

Durch hohe Bevölkerungsverluste und die fortschreitende Deindustrialisierung besteht die Chance, im Ruhrgebiet neue Bedingungen zu schaffen. Sowohl in den Jahrzehnten starker Überalterungstendenzen als auch in den Jahrzehnten danach, in denen sich das Ruhrgebiet auf einer niedrigeren Einwohnerzahl wirtschaftlich, sozial und räumlich konsolidieren muss, könnte der ehemalige industrielle Ballungsraum zu einem weitgehend offenen Urbanisations- und Experimentierfeld in allen Bereichen werden.

Die industrielle Kultur- landschaft des Ruhrgebiets

Historische Entwicklungsphasen und zukünftige Perspektiven Von Hans-Werner Wehling

m die Ausbreitung der indus- durchstoßen worden war, begann mehr seitdem in allen Krisenzeiten Utriellen Kulturlandschaft nach- der Übergang von Stollen- zum Tief- von Zechen- und Werksstilllegungen zuvollziehen, wird das Ruhrgebiet bergbau und damit die Wanderung bedroht war, kollidierten entlang des gemeinhin in Zonen gegliedert, des Ruhrbergbaus nach Norden, Hellwegs die neuen Schachtanlagen die sich aus der phasenhaften Ent- vom Ruhrtal in den Bereich der und die Eisen- und Stahlwerke in wicklung der Nordwanderung des vorindustriellen Städte entlang der ihren räumlichen Ansprüchen und Bergbaus ableiten (Abb. 1). In deren mittelalterlichen Handelsstraße des sozialen Auswirkungen recht schnell Verlauf entstanden wirtschaftsstruk- Hellweges. In der Aufbauphase mit den Interessen und Möglichkei- turell unter dem Einfluss neuer Basi- des Ruhrgebietes zwischen 1840 ten der vorhandenen Städte. sinnovationen immer komplexere und 1865 erzeugten innovative Industrielle Unternehmungen industrielle Verflechtungen; wirt- Hüttenverfahren neben einer Nach- – Schachtanlagen sowie Eisen- und schaftsräumlich wurden zum einen frage nach Kohle die nach Koks. Stahlwerke unterschiedlicher Größe vorindustrielle verkehrliche Leit- Der Aufbau des Eisenbahnnetzes und Produktpalette – begannen die linien – Ruhr, Hellweg und Lippe wiederum wurde zum wichtigsten alten Städte zu umzingeln; kom- – neu bewertet, zum anderen neue Motor der Eisen- und Stahlindustrie munale Versuche einen planvollen Leitlinien des Verkehrs – vor allem und erhöhte gleichzeitig die Nach- Ausbau zu realisieren, waren bes- die Köln-Mindener-Eisenbahn und frage nach dem Brennstoff Kohle. tenfalls in Teilen erfolgreich. Denn der Rhein-Herne-Kanal – geschaf- Neben horizontalen entstanden die durch Grunderwerb in der unmit- fen, auf die sich immer ausgedehn- ersten vertikalen Unternehmensver- telbaren Umgebung nahmen die tere Industrieflächen mit immer flechtungen der beiden Montanin- Montanunternehmer bereits in jenen größeren und komplexeren Anlagen dustrien. frühen Jahren Einfluss auf deren hin orientierten. Während die Ruhrzone hin- Entwicklung und auf die Struktur sichtlich Anzahl und Größe mon- der industriellen Kulturlandschaft. Die Entstehung der industriellen tanindustrieller Unternehmen auf Sie schufen zwar gelegentlich Basis- Kulturlandschaft dem Stand vor 1840 stehen blieb, infrastrukturen, initiierten aber spätestens mit dem Niedergang der kaum eine städtebauliche Gestaltung, Als 1837 die den Kohleschichten Ruhrschifffahrt auch keine Erwei- noch war ihnen an einer geordneten aufliegende Mergeldecke erstmals terungen mehr erfuhr, sondern viel- Stadtentwicklung gelegen, sofern sie 112 ESSENER UNIKATE 19/2002 113

Vordergrund gestellt, denen sich alle anderen Raumansprüche unterzu- ordnen hatten. Die industrielle Expansionsphase begann nach der Reichsgründung und reichte bis zum Ersten Welt- krieg. Die Unternehmen entlang des Hellweges expandierten auf eine bisher nicht gekannte Größe. Durch horizontale Konzentration ent- standen Bergbaugesellschaften mit umfangreichem Felderbesitz, Eisen- und Stahlunternehmen wuchsen durch vertikale Konzentration zu

Westlicher, nördlicher und östlicher Saum Großunternehmen von Weltgeltung, alle miteinander verbunden durch Nördliche Emscherzone Südliche Emscherzone das mittlerweile dichteste Eisen- bahnnetz des Deutschen Reiches. Hellwegzone Vom Hellweg aus dehnten sie Ruhrzone sich in den Raum beiderseits der Emscher aus, den Peter Schöller (1960) ein „offenes Urbanisations- (1) Räumliche Gliederung des Ruhrgebiets. feld“ genannt hat, fehlten ihm doch Quelle: Entwurf: H.-W. Wehling, modifiziert nach Schöller 1960 städtische Siedlungen, politisch mächtige Gemeindeverwaltungen und vor allem Menschen. Südlich, vor allem aber nördlich der Emscher entstanden Großzechen und Eisen- und Stahlwerke an planlos verstreu- ten Standorten, unterbrochen durch landwirtschaftliche Flächen mit Streusiedlungen und durchschnit- ten von den Eisenbahntrassen der Regionalstrecken und Werksbahnen. Eine gewisse Leitlinienfunktion übernahm ab 1915 der Rhein-Herne- Kanal mit seinen zahlreichen Werks- häfen. Ab 1900 überschritten die Montanindustrien Lippe und Rhein. Gerade im Bergbau war eine Produktionssteigerung angesichts (2) Bevölkerungsentwicklung in den Städten des Ruhrgebiets 1840-1998, nach Zonen Quelle: nach Wiel 1970, Steinberg 1978, KVR 2000 des geringen technischen Ausbaus unter Tage nur durch eine ständige Steigerung der Belegschaft möglich. nicht für die profitable Entwicklung Hellwegstädte am Südrand der Konnte das Ruhrgebiet bis 1870 ihrer Werke notwendig war. Emscherniederung, weil sie dort seine Arbeitskräfte noch im länd- Die Grundhaltung der Unter- wegen geringer Reliefunterschiede lichen Rheinland und Westfalen nehmer gegenüber einer halbwegs kostengünstiger anzulegen war. Die rekrutieren, so begann danach die planvollen Stadt- und ansatzweise Strecke war eben nicht dazu gedacht, Masseneinwanderung aus den deut- geordneten Regionalentwicklung die Region von den vorhandenen schen Ostgebieten. Die Bevölkerung traf sich mit der des preußischen Städten aus zu entwickeln, sondern stieg von 655.000 (1871) auf über 2,5 Staates, wie sie sich schon bei der sollte neue Produktionsgebiete Millionen (1913) (Abb. 2).1 Planung der Köln-Mindener Eisen- erschließen. So wurden nicht nur Der nicht vorhandene lokale bahn zeigte. Deren Trasse entstand von den regionalen Unternehmern, Wohnungsmarkt machte die Erstel- gegen die Proteste der Kommu- sondern auch vom preußischen Staat lung werkseigenen Wohnraumes nalverwaltungen weit nördlich der die industriellen Ansprüche in den für die Belegschaft ebenso zu einer 112 ESSENER UNIKATE 19/2002 113

betriebswirtschaftlichen Notwendig- wenn sie mit Nachbardörfern eine dann einen produktionstechnischen keit wie die Gründung von betriebs- gewisse Bevölkerungszahl über- Ausbau und eine weitere räumli- eigenen Konsumgenossenschaften zu schritten, zu Städten erhoben. In che Ausdehnung nach Norden und deren Versorgung. Werkssiedlungen den 1890ern entstanden so Städte Westen. Insbesondere an der Nord- und so genannte Wohlfahrtseinrich- wie Hamborn, Walsum, Herne, flanke siedelten sich große Unter- tungen wurden zu weiteren Bestand- Wanne-Eickel oder Castrop-Rauxel4. nehmen der Kohlechemie und der teilen der industriellen Kulturland- Eine städtebauliche Mitte erhielten Elektrizitätserzeugung an, die über schaft, insbesondere beiderseits der diese Städte meist erst in den 1930er die Region hinaus zu einer wichtigen Emscher (Abb. 3). Jahren. Sie blieben aber auch weiter- Wachstumsdeterminante wurde. Die Durch die Masseneinwanderung hin Industrie- und Arbeiterstädte; Bevölkerung stieg bis 1939 auf über aus Ostpreußen, Masuren, Polen und Handel und Dienstleistungen und vier Millionen Einwohner an. Schlesien entstand eine von ihren damit Dienstleistungsbeschäftigte Die montanindustrielle Ruhr- Arbeits- und Lebensbedingungen, waren ebenso unterrepräsentiert wie gebietswirtschaft erreichte in den vor allem aber hinsichtlich ihrer – im Gegensatz zu den Hellwegstäd- dreißiger Jahren einen Höhepunkt in landsmannschaftlichen Herkunft ten – eine an der Entwicklung eines der räumlichen und unternehmeri- völlig neue Bevölkerungsschicht. wirklichen städtischen Lebens inter- schen Verflechtung. Es war, gestützt Die industrielle Verschiedenheit essierte bürgerliche Schicht. auf Kohle und Stahl sowie mittels zwischen der Hellwegzone und dem Die dem Ersten Weltkrieg fol- Erfindungen und ständig verbesser- Emscherraum wurde durch eine genden Krisenjahre brachten bis ter Produktionstechniken, ein fein soziale und landsmannschaftliche 1929 der Ruhrgebietswirtschaft abgestimmter Industriekomplex mit Komponente unterstrichen.2 zunächst im Ruhrtal, dann auch ent- entsprechender Logistik entstanden, Die Industriedörfer, die entstan- lang des Hellweges durch Zechen- für den sich später der Begriff „Ver- den und den Begriff vom „Revier der stilllegungen einen nachhaltigen bundwirtschaft“ einbürgerte. großen Dörfer“3 prägten, wuchsen, Rückgang des Bergbaus. In den Mit dem Erreichen dieses wuchsen zusammen und wurden, 1930er Jahren erfuhr das Ruhrgebiet Höchststandes in der produkti-

(3) Zeche und Siedlung Bonifacius in Essen-Kray, 1926 1863 begann die Zeche Bonifacius abseits bestehender Siedlungen mit der Kohlenförderung; ab 1873 entstand die mehrteilige Zechensiedlung mit klarer hierarchischer Gliederung. Noch in der Zwischenkriegszeit erscheinen Zeche und Siedlung, zuzüglich einiger spekulativ errichteter Mietskasernen als neues und klar abgrenzbares industrielles Kulturlandschaftselement innerhalb eines landwirtschaftlich genutzten Gebietes. Quelle: Stadtbildstelle Essen 114 ESSENER UNIKATE 19/2002 115 onstechnischen Entwicklung ver- trielles Wirtschafts- und Siedlungs- begannen nach dem Ersten Weltkrieg minderte sich der Raumanspruch gefüge auf, ist in unterschiedlicher einen zweiten suburbanen Siedlungs- der Montanindustrien. In einigen Weise, Intensität und Dauer industri- ring auszubilden. Städten der Emscherzone entstanden ellen Einflüssen unterworfen gewe- • Von einigen Kirchdörfern vereinzelte Großbauten und Ansätze sen und repräsentiert damit mehr abgesehen, mangelt es in der süd- städtischer Zentren; in der Hellweg- oder weniger wirtschaftsstrukturelle lichen Emscherzone an vorindus- zone, vor allem in Essen, wandelten und -räumliche Entwicklungsstände. triellen Siedlungskonzentrationen, sich die Innenstädte zu Konzen- • Die Siedlungsentwicklung des in der nördlichen Emscherzone trationen des Einzelhandels. In Ruhrgebietes, d. h. die Entwicklung fehlen sie völlig; dementsprechend Essen stand diese Umgestaltung im insbesondere der nichtindustriellen fehlen Bevölkerungsgruppen mit Zusammenhang mit dem General- Bebauung folgte dagegen anderen eindeutigen außerindustriellen siedlungsplan, der zur Begründung Leitlinien. Aus Kostengründen und Wirtschaftsinteressen. Unter dem von Eingemeindungsforderungen aufgrund der mangelhaft ausge- ausschließlichen ökonomischen, aufgestellt wurde.5 Dieser Plan sah bildeten nicht-gewerblichen Ver- sozialen und politischen Einfluss der den dann für Jahrzehnte bestehenden kehrswege orientierte sich die Sied- Montanindustrien entstanden neue Gegensatz zwischen den südlichen lungsentwicklung an den Straßen, industrielle Siedlungselemente. Eine Stadtteilen vor, die dem gehobenen die seit vorindustriellen Zeiten von urbane Zentrenbildung und städte- Wohnen und der Erholung vorbe- Süden und Norden auf den Hell- bauliche Verdichtung fehlte bis in die halten sein sollten, und den nördli- weg führen. Jede der wirtschaftsge- Zwischenkriegszeit vollständig. chen, in denen Industrieflächen und schichtlich definierten Zonen wird zugeordnete Werkssiedlungen zum daher von Süd-Nord-Siedlungsach- Der Wandel der industriellen konstituierenden Bestandteil der sen gekreuzt und strukturell in einen Kulturlandschaft Kulturlandschaft geworden waren; Wechsel von bebauten und unbebau- dieses Gliederungsprinzip findet sich ten Gebieten aufgelöst.8 Der Zweite Weltkrieg brachte zeitgleich in den Plänen nahezu aller • Die Ruhrzone hat keine nach- durch flächenhafte Bombardements Hellwegstädte.6 haltige hochindustrielle Prägung zahlreiche Zerstörungen, die unmit- Der Generalsiedlungsplan war erfahren. Disperse vorindustrielle telbaren Nachkriegsjahre den alliier- zugleich ein stadtplanerischer Befrei- Standorte, vor allem des Bergbaus, ten Versuch der unternehmerischen ungsschlag, um die unzureichenden wurden nur zum Teil um- und aus- Entflechtung der Montanindustrien. Wohnverhältnisse im Stadtkern und gebaut. Konzentrations- und Still- Vom Standort Essen abgesehen, hat- den angrenzenden Vierteln zu ver- legungstendenzen begannen in der ten sich die Montanindustrien aber bessern. Bei gleichzeitigem Ausbau Zwischenkriegszeit zuerst hier. Der bis Mitte der 1950er Jahre weitge- des öffentlichen Nahverkehrs löste Arbeitskräftebedarf konnte weitge- hend wieder reorganisiert. Denn der er eine Suburbanisierung aus. hend lokal befriedigt werden, so dass nationale Wiederaufbau erforderte Außerhalb der Einflusssphäre die industrielle Siedlungserweiterung ein leistungsfähiges Industriegebiet, der Großindustrie, d. h. in den begrenzt blieb; unbebaute Flächen und Politik und Wirtschaft trachte- mittleren und südlichen Stadtteilen, überwiegen gegenüber bebauten. ten danach, den Vorkriegsstand so wo es der Kommune möglich war, • Die Hellwegzone weist die schnell wie möglich wieder herzu- Grundbesitz zu erwerben, entstand vorindustriell stärkste Prägung durch stellen. In der nördlichen Emscher- durch Genossenschaften und städ- Städte mit einem eigenständigen zone und in der Lippezone entstan- tische Wohnungsbaugesellschaften Wirtschaftsleben unterschiedlicher den zudem großflächige Industrie- ein äußerer Siedlungsring in aufgelo- Differenzierung auf. Widerstrebende komplexe der chemischen Industrie ckerter Bebauung.7 kommunale und großindustrielle und der Elektrizitätserzeugung. Auf dem Höchststand der wirt- Interessen fanden sich in dieser Zone Somit sind die Flächennutzungs- schaftlichen Entwicklung des Ruhr- zuerst zu neuen Symbiosen zusam- strukturen der 1950er Jahre zum gebiets lassen sich folgende Aussagen men, wie etwa bei der Entwick- einen in weiten Teilen eine Repro- zu seinem räumlichen Aufbau treffen: lung der gemischtwirtschaftlichen duktion der Strukturen der Zwi- • Die Zonierung berücksichtigt Betriebe der Elektrizitätsversorgung. schenkriegszeit. Zum anderen wurde die wirtschaftsräumliche Entwick- Auf der Basis nichtindustrieller das Ruhrgebiet zum Zielgebiet von lung des Ruhrgebietes während Gewerbe und des Handels wurden Zuwanderern, von Flüchtlingen und seiner Aufbauphasen, ökonomische die Innenstädte zu Standorten eines Vertriebenen, und erreichte 1960 Leitlinien sind west-östlich verlau- Einzelhandels von regionaler Bedeu- mit 5,6 Millionen Einwohnern den fende, natürliche und anthropogene tung. Der Mehrgeschossbau nach Höchststand in der Bevölkerungs- Verkehrslinien. Berliner Muster prägte die innen- entwicklung. Der ökonomische Wie- • Jede dieser Entwicklungszonen stadtnahen Wohnquartiere, kommu- deraufbau und der Zustrom neuer wies ein unterschiedliches vorindus- nal geplante geschlossene Siedlungen Einwohner war begleitet von einer 114 ESSENER UNIKATE 19/2002 115

ausgedehnten Suburbanisierung, die einer Bevölkerungsabnahme. Diese strukturell glichen. So wurden die durch Förderung des Eigenheimbaus ökonomisch bedingte regionale meisten städtebaulichen Groß- die zwischenstädtischen Bereiche der Abwanderung war begleitet von projekte in der Hellwegzone ver- Hellwegzone zu füllen begann und einer Kern-Rand-Wanderung, aus- wirklicht; hier wurde weiterhin die beiderseits der Emscher zu neuen gelöst durch die Kritik der Bevöl- Infrastruktur am stärksten in Sied- Werkssiedlungen führte. kerung an den unzureichenden lungsschwerpunkten konzentriert Ab 1957 trat das Ruhrgebiet Wohn- und Umweltverhältnissen in und der Verkehrsverbund am wei- in den Prozess des Zerfalls seiner den Kernstädten des Ruhrgebietes. testen ausgebaut. Die Hellwegstädte industriellen Grundlagen. Der Ab Mitte der 1970er Jahre nahm die waren die entscheidenden Nutznie- zunächst als Absatzkrise begriffenen Gesamtbevölkerung auch aufgrund ßer des Strukturwandels der 1960er Deindustrialisierung suchte man erhöhter Sterberaten ab, Folge der und 1970er Jahre, ihre viel beklagte anfangs mit traditionellen, wenn- generativ selektiven Abwanderung strukturelle Abkoppelung vom übri- gleich in ihren Größenordnungen in den 1960er Jahren. Sie sank in den gen Ruhrgebiet begann.10 bisher nicht gekannten Mitteln 1980er Jahren auf wenig mehr als Selbst die größeren Emscher- zu begegnen. Bis zur Gründung 5 Millionen ab, ist jedoch bis Ende städte wie etwa Oberhausen und der Ruhrkohle (1969) wurden im der 1990er Jahre wieder auf 5,4 Mil- Gelsenkirchen sahen sich zeitgleich Bergbau 54 Prozent der Förderka- lionen Einwohner angestiegen (vgl. einer gänzlich anderen Entwicklung pazität stillgelegt, mehr als 200.000 Abb. 2). gegenüber. Die Produktivität ihrer Arbeitsplätze gingen verloren und Von staatlicher Seite wurde Schachtanlagen war so hoch, dass 133 aufgegebene Zechen- und Koke- der Deindustrialisierung bis in sie die Auswirkungen der ersten reistandorte leiteten in der Ruhr- die 1970er Jahre mit einer Sub- Bergbaukrise überstanden, und und vor allem der Hellwegzone den ventionspolitik begegnet, die den der größte Teil der Gewerbe- und kulturlandschaftlichen Wandel ein.9 Arbeitsplatzabbau sozial abfedern Industrieflächen war im Besitz der Heute hat dieser seitdem andauernde sollte, sich auf der Suche nach Montanindustrien, deren restriktive Prozess betrieblicher Konzentra- Ersatzarbeitsplätzen an fordistischen Bodenvorratspolitik die Ansiedlung tion und Stilllegung die nördliche Industriestrukturen orientierte und neuer Unternehmen ebenso verhin- Emscherzone und den linken Nie- letztlich zur Erhaltung überkom- derte wie eine großflächige städte- derrhein erreicht. mener, wenngleich rationalisierter bauliche Erneuerung. In der Eisen- und Stahlindustrie Strukturen führte. Ab der Mitte der Ihre wirtschaftliche Situation wurden ab den 1970er Jahren die 1960er Jahre wurde diese Politik änderte sich erst Anfang der 1980er Stahlproduktion und die Zahl der von einer Serie von Programmen Jahre, nun aber unter deutlich Beschäftigten reduziert. Dabei hatte begleitet, die die schlechten Wohn- verschlechterten wirtschaftlichen die Stilllegung ganzer Stahlstandorte verhältnisse verbessern und die Rahmenbedingungen. Als die fort- wegen ihrer Größenordnung viel infrastrukturellen Defizite beseitigen schreitenden Zechenstilllegungen durchgreifendere Auswirkungen auf sollten. Ihnen folgten Konzepte zur nun auch die großen Schachtanlagen die Kulturlandschaft als die Aufgabe funktionalen Ordnung, die Auswei- beiderseits der Emscher erfassten, als von Zechenstandorten. Dieser in sung der Revierparks, umfassende die Eisen- und Stahlindustrie in grö- den 1990er Jahren fortschreitende Sanierungspläne und der Bau neuer ßerem Umfang Produktionsanlagen Prozess führte zu einem weiteren Wohnsiedlungen. schloss und die Deutsche Bundes- Abbau der Kapazitäten, zu weiteren Ähnlich wie die wirtschaftspoli- bahn im Gefolge Güterstrecken still- Rationalisierungen, zu Unterneh- tischen Maßnahmen im Grunde an legte, begann sich das ehemals breite mensfusionen und zur räumlichen nationalen Zielen ausgerichtet waren, Band der Gewerbe- und Industrie- Konzentration der Produktions- orientierten sich auch die städtebau- flächen entlang von Emscher und standorte im Raum Duisburg. Die lichen Programme an überregionalen Rhein-Herne-Kanal aufzulösen. Die Arbeitsplatzverluste konnten weder Maßstäben. Verdichtete Großwohn- Kommunen beiderseits der Emscher von den stärker rationalisiert arbei- siedlungen auf der grünen Wiese wurden mit einem Überschuss an tenden neuen Betrieben kompensiert entstanden in ähnlicher Form zeit- Industriebrachen konfrontiert, werden noch durch den sich auswei- gleich im ganzen Bundesgebiet und den sie angesichts eingeschränkter tenden Dienstleistungsbereich. anderen europäischen Ländern. kommunaler Haushalte aus eigener Die massiven Arbeitsplatzver- Außerhalb des Ruhrgebietes und finanzieller Kraft nicht bewältigen luste riefen im gesamten Ruhrgebiet für Räume konzipiert, die stärker konnten.11 eine starke Abwanderung junger, urbanisiert waren als dieses „Revier Für diesen Problemraum erwerbsfähiger Einwohner hervor. der großen Dörfer“, waren sie inner- wurde von 1989 bis 1999 als bisher Die Abwanderung verringerte bis halb des Ruhrgebietes auch nur in einschneidendste Konzeption 1970 zunächst die Geburtenüber- den Teilen erfolgreich anzuwenden, ganzheitlicher Regionalplanung schüsse und führte schließlich zu die anderen Verdichtungsräumen die Internationale Bauausstellung 116 ESSENER UNIKATE 19/2002 117

Emscher-Park durchgeführt, zu das Grundgerüst für Maßnahmen des Statistischen Bundesamtes deren räumlichem Kernstück der der städtebaulichen Erneuerung, wird Deutschlands Wohnbevölke- Emscher-Landschaftspark wurde,12 der funktionalen Ordnung und der rung von den rund 82 Millionen um durch die Rückgewinnung von Verbesserung der regionalen Infra- Einwohnern des Jahres 1998 in 50 Landschaft neben der ökologischen struktur. Jahren auf 70 Millionen, d. h. um 15 und Naherholungsfunktion den • Rationalisierungsmaßnahmen Prozent gesunken sein, wobei sich stadtgestalterischen Rahmen für und Strukturerhaltungspolitik ver- die Reduktion noch in sehr engen einen neuen attraktiven Städtebau zu hinderten bis Anfang der 1980er Grenzen bewegen wird. Das Land schaffen. Innerhalb und außerhalb Jahre eine Deindustrialisierung der Nordrhein-Westfalen wird bis 2015 des Planungsgebietes veränderte die Emscherzonen, jedoch auch eine nach der LDS-Prognose 2,1 Prozent IBA das Bewusstsein hinsichtlich des städtebauliche Erneuerung. seiner Einwohner verlieren.13 Der historischen Erbes der Region und • Die hier seitdem massiv einset- Altersaufbau wird sich zudem über die nationalen und internationalen zende Deindustrialisierung wurde den Bundesdurchschnitt hinaus zu Imagekampagnen erzeugten einen konzeptionell durch die IBA beant- Lasten der 20- bis 60-Jährigen und capital flow in die Region, der zu wortet. Zwar wurden von ihr neue zu Gunsten der über 60-Jährigen Investitionen in Großprojekte und Freiflächen und qualitativ hoch ste- verändern. Negative Effekte werden zur Ansiedlung neuer Unternehmen hende Wohn- und Gewerbegebiete zwar durch Zuwanderung ausge- führte, allerdings insgesamt wenig entwickelt, die zum Teil in Konkur- glichen, der Anteil der Erwerbsper- zur Beseitigung der strukturellen renz stehen zu Gewerbegebieten der sonen wird 2015 mit 46,6 Prozent Arbeitslosigkeit beigetragen hat. Die 1970er Jahre in der Hellwegzone, in jedoch deutlich unter dem geschätz- Vorteile eines gemeinsamen Konzep- beiden Emscherzonen finden sich ten Bundesdurchschnitt bleiben. tes und einer räumlichen Organisa- aber weiterhin die regional höchsten Das Ruhrgebiet wird dagegen tion entfielen mit Beendigung der Konzentrationen sozio-ökonomisch bis 2015 über 370.000, d. h. 7,0 IBA; an ihre Stelle traten alte und mehrfach benachteiligter Bevölke- Prozent seiner Einwohner verlie- neue Konstellationen von Macht und rungsgruppen. ren und damit, vom Bundestrend Einfluss – überkommene partikuläre • Die Hellwegstädte behielten abweichend, früher massive Bevöl- Interessen der Kommunen ebenso auch weiterhin das Übergewicht bei kerungsverluste erleben. Innerhalb wie neue Formen der Einflussnahme den tertiären Arbeitsplätzen; 1998 des Ruhrgebietes treten nach allen von außen und der Ruf nach admi- konzentrierten die Städte Duisburg, Prognosen starke Entwicklungsun- nistrativer Einheit in Form einer Mülheim, Essen, Bochum und Dort- terschiede zwischen den einzelnen Ruhrstadt. mund 51,8 Prozent der regionalen Städten und Kreisen zutage. Mit 13,7 Die Entwicklungen und Prozesse 945.600 sozialversicherungspflichtig Prozent wird Essen am stärksten an nach dem Zweiten Weltkrieg erlau- Beschäftigten der Dienstleistungs- Bevölkerung verlieren, gefolgt von ben die folgenden raumstrukturellen bereiche auf sich. Im Sinne urbaner Hagen und Dortmund mit jeweils Aussagen: Funktionalität hat sich das Städtesys- rund 11 Prozent und Herne mit • Ebenso wie der wirtschaftliche tem des Ruhrgebietes seit den vor- 10 Prozent.14 In Duisburg geht die Aufbau im 19. Jahrhundert folgte industriellen Zeiten kaum verändert. Bevölkerung nach der LDS-Prog- auch die Deindustrialisierung etwa Städte, die vor 1840 von regionaler nose bis 2015 um 7,5 Prozent, nach bis Ende der 1960er Jahre von Süden Bedeutung waren, sind es auch heute der kommunalen Prognose sogar um nach Norden den Strukturzonen. In noch; die regionale Industrialisierung 11,6 Prozent zurück.15 der Ruhr- und Hellwegzone vollzog hat keine neuen voll funktionsfähi- Legt man die Strukturzonen sich zeitgleich eine umfangreiche gen Städte hervorgebracht. zugrunde, so verlieren die Hellweg- Suburbanisierung, hervorgerufen zone und beide Emscherzonen am durch den Zustrom neuer und nicht Bevölkerungsschwund und stärksten an Bevölkerung – bezogen nur industrieller Arbeitskräfte. potenzielle Auswirkungen auf 1998 um 9,4 Prozent bzw. 8,0 • Arbeitsplatzverluste führten zu Prozent, bezogen auf 1961, den regi- Abwanderung, die Unzufriedenheit Die gegenwärtige planerische onalen Höchststand der Bevölke- mit den Wohn- und Wohnumwelt- „Nach-IBA“-Zeit wird überschat- rung, sogar um mehr als 20 Prozent. verhältnissen zu einer Kern-Rand- tet von Prognosen, nach denen der Einzige Gewinner sind mit einem Wanderung der Bevölkerung, die in bundesweite Bevölkerungsrückgang Zuwachs von 1,4 Prozent die westli- der Hellwegzone die Dichtewerte der nächsten Jahre im Ruhrgebiet chen und östlichen Randbereiche, reduzierte. deutlich negativer ausfallen wird und d. h. die Kreise Wesel und Unna • Vorkriegsansätze aufnehmend damit erhebliche strukturelle Ver- (Abb. 4). konzentrierte sich in den Hellweg- werfungen hervorrufen kann. Die schlechte Position wichtiger städten eine wachsende Zahl tertiärer Nach der als wahrscheinlich Ruhrgebietsstädte „ist Ausdruck Dienste in Zentren und legte damit angenommenen Prognosevariante einer ungünstigen Altersstruktur als 116 ESSENER UNIKATE 19/2002 117

Spätfolge lang anhaltender Abwan- derungsprozesse in der Vergangen- heit“.16 Diese Abwanderung der 1960er bis 1980er Jahre gibt dem Ruhrgebiet eine im Vergleich zu Bund und Land NRW ungünstigere Altersstruktur, so dass es tendenzi- ell der gesamtdeutschen Entwick- lung um etwa 25 Jahre vorausläuft (Abb. 5). Insgesamt wird die demogra- phische Entwicklung von wichtigen altersstrukturellen Verschiebungen begleitet, die für Wirtschaft und Stadtentwicklung relevant sein werden. Der Anteil der unter 19-Jäh- rigen wird in allen Teilen des Ruhr- gebietes in den nächsten 15 Jahren zurückgehen: Essen und Bochum werden dabei mit -18,6 Prozent bzw. -17,12 Prozent Rückgänge erfahren, die doppelt so hoch wie der Landes- durchschnitt sind.17 Von den Kreisen Wesel und Unna abgesehen sind aber auch in den Außenbereichen die jün- geren Jahrgänge, die aus den Kern- Rand-Wanderungen der letzten Jahrzehnte gewonnen worden sind, bereits abgeschmolzen. Die Altersgruppe der 19- bis 60- (4) Bevölkerungsentwicklung im Ruhrgebiet 1961-2015, nach Zonen und Teilgebieten (absolut und relativ, 1961=100). Jährigen umschreibt zum einen die Reproduktionsgruppe, zum anderen grob das Arbeitskräfteangebot. Da alterung zu einer relativen Abnahme tische Argumentation sein. Denn diese Gruppe bis 2015 um 234.000 durch erhöhte Sterberaten, während der laufende Strukturwandel kann Personen abnehmen wird, schrumpft in den Umlandkreisen die jetzige sich in Verbindung mit einem Bevöl- das Erwerbsfähigenpotenzial des „aktive“ Bevölkerung den Altersbe- kerungseinbruch und einer Ände- Ruhrgebietes um über 7,6 Prozent. reich relativ ansteigen lassen wird. rung der Altersstruktur zu einem Das entsprechende Potenzial sinkt Hinsichtlich des Umfanges läuft der sich negativ verstärkenden Prozess in Bund und Land dagegen nur um Prozess der „Vergreisung“ im Ruhr- aufschaukeln.19 Dem nicht zu ver- 3,4 Prozent bzw. 2,0 Prozent; denn gebiet schon langsam aus, wenn er hindernden Bevölkerungsrückgang Einbrüche in der Größenordnung im Land erst anfängt. Da aber nach- durch eine unkontrollierte Zuwan- des Ruhrgebietes werden hier erst wachsende Bevölkerungsgruppen derung zu begegnen, ist weder realis- nach 2022 erreicht.18 Zuwachs erfährt fehlen, wird das „Absterben“ der tisch, noch regional zu verkraften, so lediglich der Kreis Unna (1,32 Pro- Älteren die regionale Bevölkerungs- dass eine arbeitsmarktpolitisch rea- zent), während die Kernstädte Essen entwicklung verstärkt einbrechen listische, kontrollierte Zuwanderung (-15,73 Prozent) und Dortmund lassen. angestrebt wird. (-12,6 Prozent) die stärksten Verluste Der dramatische Bevölkerungs- Der Bevölkerungsabbau wird erleben werden. Insgesamt könnten verlust, der von den Kernstädten auf eine Verringerung der Kaufkraft sich daher im Ruhrgebiet abwei- die Umlandkreise übergreift, wird nach sich ziehen und beachtliche chend vom Bundestrend bereits bis in der gegenwärtigen Diskussion Nachfragerückgänge bei Handel, 2015 deutliche Engpässe auf dem gelegentlich als Chance verstan- Handwerk, Dienstleistungen und Arbeitsmarkt ergeben. den, suboptimale Agglomerationen Wohnungsbau hervorrufen und Der Anteil der über 60-Jährigen abzubauen und ökologische Belange damit Beschäftigungseffekte erzeu- wird im gesamten Ruhrgebiet stei- besser zu berücksichtigen. Als aus- gen, die den generellen Trend des gen. In den Kernstädten führt dies schließliche Zielsetzung kann dies Beschäftigungsabbaus verstärken aufgrund der bereits latenten Über- jedoch eine ökonomisch problema- dürften. 118 ESSENER UNIKATE 19/2002 119

werden sich die Leerstände auch Raumeinheit Einwohner (abs. und rel.) auf die Emscherzonen ausdehnen und werden vor dem Hintergrund 1998 2005 2010 2015 unterschiedlicher Nachfragesitu- ationen von Seiten der deutschen 81.998.701 81.705.571 81.421.900 80.909.255 Bundesrepublik Deutschland Bevölkerung, der traditionellen 100 99,6 99,2 98,6 ausländischen Bevölkerung und neu zugewanderter qualifizierter Aus- 17.974.487 18.005.650 17.895.530 17.761.427 Land Nordrhein-Westfalen1 länder neue regionale Konkurrenzen 100 100,2 99,6 98,8 auf dem Wohnungs- und Immobi- 17.960.608 17.852.887 17.740.978 17.590.833 lienmarkt entstehen. Diese Kon- Land Nordrhein-Westfalen2 kurrenzen dürften gute Wohnlagen 100 99,4 98,7 97,9 überstehen, wenngleich Preiseinbrü- 5.414.288 5.281.369 5.160.635 5.039.820 che wahrscheinlich sind. Wohnungs- Ruhrgebiet (KVR-Verbandsgebiet)1 und Immobilienbestand unterhalb 100 97,5 95,3 93 der Rentabilitätsgrenze wird kaum 608.732 573.915 549.174 525.491 noch erneuert, sondern abgerissen 3 Stadt Essen werden. Dazu gehören wiederum 100 94,2 90,2 86,3 Teile der innenstadtnahen Wohn- 594.860 566.945 547.517 529.937 viertel, es könnte aber auch peripher Stadt Dortmund3 100 95,3 92 89,1 verdichtete Wohngebiete wie die Essener Oststadt oder die Siedlung 529.062 511.277 499.658 489.714 in Dortmund-Scharnhorst betreffen. Stadt Duisburg3 100 96,6 94,4 92,5 Neu entstehende Freiflächen werden im gesamten Kernbereich des Ruhr- 529.062 489.900 477.600 467.700 Stadt Duisburg4 gebietes den Anteil der traditionellen 100 92,6 90,2 88,4 suburbanen Siedlungsweise erhöhen, in der Hellwegzone die Siedlungs- 1 Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NW (LDS) struktur auflockern und in den 2 Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) Emscherzonen traditionelle Zentren- 3 LDS/Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR) 4 Bevölkerungsprognose Stadt Duisburg 2000 bildung mit umgebender urbaner Verdichtung der Wohnbebauung (5) Bevölkerungsprognose 1998 bis 2015. behindern. Auf der anderen Seite wird Ebenso wie die Deindustriali- Ruhrzone und in den zwischenstäd- die zunehmende Überalterung die sierung werden die Auswirkungen tischen Bereichen entstanden sind. Nachfrage nach adäquatem Wohn- des Rückganges der regionalen Kommunale Prognosen unterstützen raum in der Nähe leistungsfähiger, Bevölkerung und ihrer strukturellen diese These. Stärkste Bevölkerungs- infrastrukturell entsprechend ausge- Veränderung nur noch eingeschränkt verluste und damit zunehmend statteter und angebundener Zentren zonalen Charakter haben, sondern Leerstände im Immobilienbestand erhöhen. Diese Tendenz wird die sich räumlich gestreut danach rich- werden z. B. in den Duisburger bestehenden Zentren der Hellweg- ten, wann bestimmte Viertel in der Stadtbezirken Meiderich und Mitte zone und ihre Umgebung begünsti- Vergangenheit in den Alterungs- sowie in Essen in Stadtmitte, Essen- gen. Hier werden neue Wohnformen prozess eingetreten sind oder in den West, Huttrop, Bergerhausen und und -viertel alte ersetzen. Zugleich nächsten 15 Jahren eintreten werden. Rüttenscheid, aber auch in Kettwig, stehen die nunmehr ausgedünnten Analog zur zunächst negativen Werden, Heidhausen und Bredeney Wohnviertel in der Nähe der tradi- Beeinflussung der seit den 1970er erwartet.20 Ein hoher Renovierungs- tionellen Dienstleistungszentren der Jahren von Überalterung latent bedarf und geringe Investitionen Region für eine kleinteilige gewerb- betroffenen Kerngebiete auf der regi- von Seiten privater und öffentlicher liche Neunutzung durch den Dienst- onalen Ebene, sind bis 2015 auf loka- Hausbesitzer können zu hohen leistungssektor zur Verfügung. ler Ebene zum einen die citynahen Wohnungsleerständen und mit dem Der Raum beiderseits der Wohngebiete und inneren Siedlungs- Auszug der Versorgungsinfrastruk- Emscher wird seinen industriell ringe der Hellwegstädte betroffen, tur zu sozialem und wirtschaftlichem initiierten suburbanen Charakter zum anderen Wohnquartiere, die im Abstieg dieser Viertel führen. angesichts des weiterhin bestehenden Suburbanisierungsprozess der 1960er Mit dem kontinuierlichen Rück- Anfalls an industriellen Brachflächen und frühen 1970er Jahre in der gang der Bevölkerung nach 2015 noch verstärken. Gleichzeitig stehen 118 ESSENER UNIKATE 19/2002 119

– Knirim, E., Die Verschiebungen der diese umfangreichen Flächen punk- Since the 1960s, however, various Volksdichte im engeren westfälischen tuell für gewerbliche, kulturelle und recessions of these old industries Ruhrgebiet von 1818 bis 1925 und ihre sonstige Großprojekte, aber auch für turned into a structural crisis and geographischen Grundlagen. Münster, Diss. 1928 neue Zentren mit ausschließlicher eventually into de-industrialisation. – Klemmer, P., Steht das Ruhrgebiet vor Versorgungszweckbestimmung zur National and regional programmes einer demographischen Herausforderung? Verfügung. followed, directed at changing and Rheinisch-Westfälisches Institut für Anders als in und um die Innen- improving the economic basis, the Wirtschaftsforschung (RWI), Schriften und Materialien, Heft 7, Essen 2001 städte der Hellwegzone „behindern“ urban structures, and the land use – Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR), hier nicht tradierte Vorstellungen patterns. In the immediate future, the Städte- und Kreisstatistik Ruhrgebiet 1999. von Stadtentwicklung und Stadtkul- Ruhr Valley and the spatial patterns Essen 2000 – Schöller, P., Städte als Mobilitätszentren tur größere funktionale und formale of its landscape will be affected by a westdeutscher Landschaften. In: Verh. d. Dt. Neuanfänge. Bereits zu Zeiten der dramatic loss of population. Geographentages, Bd. 31, Wiesbaden 1960, IBA wurde das industrielle Frei- 158-167 – Spethmann, H., Das Ruhrgebiet im flächenangebot als das wesentliche Wechselspiel von Land und Leuten, Entwicklungspotenzial des Raumes Anmerkungen Wirtschaft, Technik und Politik. 3 Bde., beiderseits der Emscher angesehen. Benin 1933/1939. Unveränderter Nachdruck 1) Steinberg 1978, 31 u. 98 Sowohl in den Jahrzehnten starker herausgegeben und eingeleitet von G. Ihde 2) vgl. Brepohl 1948, Tenfelde 1981 und H.-W. Wehling, Essen 1995 Überalterungstendenzen als auch in 3) Vonde 1989 – Steinberg, H.G., Bevölkerungsentwicklung den Jahrzehnten danach, in denen 4) Spethmann 1995, Wiel 1970 des Ruhrgebietes im 19. und 20. Jahrhunderts. 5) Ehlgötz 1927 sich das Ruhrgebiet auf einer niedri- Düsseldorfer Geographische Schriften 11, 6) vgl. Kastorff-Viehmann/Petz/Walz 1995 Düsseldorf 1978 geren Einwohnerzahl wirtschaftlich, 7) Heinrichsbauer 1936 – Steinberg, H.G., Das Ruhrgebiet im 19. und sozial und räumlich konsolidieren 8) Schöller 1960, Wehling 1982 20. Jahrhundert. Ein Verdichtungsraum im muss, könnte der Emscherraum wie- 9) Steinberg 1985, 116 Wandel. Siedlung und Landschaft in Westfalen 10) vgl. Blume u. a. 1984 16, Münster 1985 derum zu einem weitgehend offenen 11) Wehling 1991 – Tenfelde, K., Sozialgeschichte der Urbanisations- und Experimentier- 12) IBA 1996 Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. feld werden für neue Verkehrssys- 13) Klemmer 2001, 22 Jahrhundert. Bonn 1981 14) Klemmer 2001, 38 teme (Magnetschwebebahn, Regio- – Vonde, D., Revier der großen Dörfer. 15) Bevölkerungsprognose Stadt Duisburg Industrialisierung und Stadtentwicklung im nalflughafen), Konzentrationen des 2000 Ruhrgebiet. Essen 1989 großflächigen Einzelhandels und 16) Klemmer 2001, 39 – Wehling, H.-W., Revising the Urban 17) Klemmer 2001, 44 Logistikzentren mit überregionalen Structure of the Ruhr Region. Geoforum 18) Klemmer 2001, 45 6.5,1982, 409-417 Einzugsbereichen, für Stadtteile mit 19) Klemmer 2001, 51 – Wehling, H.-W., The crisis of the Ruhr: primärer Büronutzung, für Großan- 20) Regionalkonferenz MEO 1996, causes, phases and socioeconomic effects. In: lagen von Kultur und Unterhaltung Bevölkerungsprognose Stadt Duisburg 2000 Wild, T./Ph. Jones (eds.), De-industrialisation 21) Wehling 2000 and new industrialisation in Britain and sowie nicht zuletzt für die Olympi- Germany. London 1991, 325-344 schen Spiele im Jahre 2012.21 – Wehling, H.-W., Das Ruhrgebiet 2056 – ein Szenario. In: Landschaftsverband Rheinland/ Literatur Rheinisches Industriemuseum (Hg.), War die Zukunft früher besser? Visionen für das – Blume, A. u. a., Vom Zentrum zur Summary Ruhrgebiet. Essen 2000, 337-340 Peripherie – Zur Perspektive der – Wiel, P., Wirtschaftsgeschichte des Ruhrgebietskrise. In: W. Gryczan/O. Reutter/ Ruhrgebietes. Tatsachen und Zahlen. Essen This article is concerned with the E. Brunn/M. Wegener (Hg.), Zukünfte für alte 1970 industrial landscape of the Ruhr. Industrieregionen. Raumentwicklungsstrateg It reviews the phases of historical ien in der Diskussion. Dortmunder Beiträge zur Raumplanung 38, Dortmund 1984, 18-35 development and outlines future – Brepohl, W., Der Aufbau des Ruhrvolkes Der Autor perspectives. The pre-industrial im Zuge der Ost-West-Wanderung. Beiträge zur deutschen Spezialgeschichte im 19. Hans-Werner Wehling, Studium der agricultural landscape of the Ruhr Geographie, Anglistik und Pädagogik th Jahrhundert. Recklinghausen 1948 was dramatically changed by the 19 – Ehlgötz, H., Der Generalsiedlungsplan für sowie Promotion in Münster. Seit 1975 century impact of both coal mining den Raum Essen. 2 Bde., Essen 1927 Wiss. Assistent, seit 1995 Professor – Heinrichsbauer, A., Industrielle Siedlung im für Geographische Landeskunde von and the iron and steel industries. Altindustrieländern am Institut für Steel works, industrial housing quar- Ruhrgebiet in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Essen 1936 Geographie der Universität Essen. ters and new infrastructural facilities Internationale Bauausstellung Emscher spread from the Ruhr valley into the Park, IBA, Werkstatt für die Zukunft von areas along the old Hellweg trad- Industrieregionen. Gelsenkirchen 1996 – Kastorff-Viehmann, R./U. von Petz/ ing route as well as into the then M. Walz, Stadtentwicklung Dortmund: sparsely-populated Emscher valley. Die moderne Industriestadt 1918-1946. The development of old industries Dortmunder Beiträge zur Raumplanung 70, Dortmund 1995 reached its peak in the 1930s/1950s. 120 ESSENER UNIKATE 19/2002 121

Meist wird versucht, Stadtautobahnen in Tunnel oder hinter hohen Lärmschutzwänden zu verstecken, während der Fahrgast des ÖPNV mit dem trostlosen Umfeld nicht genutzter Gleisanlagen konfrontiert wird. Der Anspruch, im Verlauf einer Fahrt eine Stadt mit ihren typischen Merkmalen zu erleben, aus Sicht der Kommune Stadtmarketing zu betreiben, kann so nicht erfüllt werden. Verkehrswege als verbindende Elemente einer polyzentralen Struktur wahrzunehmen, die ihrerseits Identifikation durch ihre Gestaltung und die Gestaltung des Umfeldes stiften, ist bisher noch kaum thematisiert worden.

Ausdruck individueller Mobilität

Zur Zukunft des Verkehrs im Ruhrgebiet Von Jörg Schönharting

erkehr und Mobilität stehen in den Einzelnen als Ausdruck von den Nahrungsressourcen folgen und Veinem unmittelbaren Zusam- Lebensqualität empfunden wird, ist Klimaänderungen entfliehen. menhang: Wenn Mobilität die indi- als Massenerscheinung unerwünscht. Mobilität und Mut zum Risiko viduelle Art von Ortsveränderungen Positiv belegt sind Begriffe wie geis- waren auch die Voraussetzung für beschreibt, dann ist Verkehr die tige Mobilität, regionale oder soziale die Entwicklung des weltweiten räumlich-zeitliche Überlagerung Mobilität. Geistige Mobilität meint Handels, der in unserer Zeit durch von individuellen Wegen auf den „die menschliche Fähigkeit, sich von die Globalisierung eine neue Dimen- Verkehrsnetzen. Dem Verkehr als überkommenen Denkmustern zu sion erreicht hat. So kann auch der Massenphänomen steht somit die lösen, sich neuen Denkansätzen zu Güterverkehr als Überlagerung einer Mobilität des Einzelnen gegenüber. öffnen, d. h., geistig neue Wege zu „güterbezogenen Mobilität“ aufge- Mobilität und Verkehr sind kein gehen. Regionale Mobilität bezeich- fasst werden. Der Ortsveränderung Selbstzweck, sie sind vielmehr Folge net die Häufigkeit und Richtung von eines Gutes steht das Massenphäno- von Aktivitäten einzelner Personen Wohnsitzwechseln, soziale Mobilität men des Güterverkehrs auf den Ver- an unterschiedlichen Orten. Wer die Bewegung von Personen inner- kehrswegen und -netzen gegenüber. über die Zukunft des Verkehrs im halb der gesellschaftlichen Struktu- Ruhrgebiet diskutieren will, ist somit ren“. Die Verkehrsentwicklung, ihre unmittelbar mit den Prognosen zur Seit Anbeginn der Menschheits- Ursachen und Problemfelder Zukunft des Ruhrgebiets konfron- geschichte zählte Mobilität im Sinne tiert. Eine sinkende Einwohnerzahl physischer Ortsveränderungen zu Jahr für Jahr zeigen die Statis- oder überalternde Bevölkerung löst den großen Herausforderungen der tiken, dass Verkehr, insbesondere so manches heute existierende Ver- Gesellschaft. In seinem Buch „Mobi- der motorisierte Verkehr, wächst. kehrsproblem. Eine junge, dynami- lität, warum sich alle Welt bewegt“ Dies ist insofern erstaunlich, als die sche, wachstumsorientierte Region erläutert Michael Gleich eindrucks- durchschnittliche Wegehäufigkeit mit Bevölkerungsgewinnen ver- voll, dass Mobilität eine wesentliche (Wege pro Person und Tag) nur schärft hingegen die Probleme, die Überlebensstrategie in der Evolution geringen Änderungen unterliegt. Die sich aus der individuellen Mobilität des Menschen darstellte: Wer mobil Erklärung liefern für den Personen- ergeben. war, hatte größere Chancen zu über- verkehr die Bevölkerungsentwick- Mobilität ist – im Gegensatz zu leben als der Sesshafte, konnte dem lung, die Entwicklung der privaten Verkehr – positiv besetzt. Was für Wechsel der Jahreszeiten begegnen, Motorisierung und die Entwicklung 120 ESSENER UNIKATE 19/2002 121 Jörg Schönharting. Foto: André Zelck 122 ESSENER UNIKATE 19/2002 123

Bevölkerung Motorisierungsgrad (EW*1000) (PKW/1000 Einwohner) 1990 1997 Veränderungen (%) 1990 1997 Veränderungen (%) Kreisfreie 3544,5 3503,5 -1,16 430 453 +5,35 Städte Umgebende 1851,0 1910,8 +3,19 449 490 +9,12 Landkreise Summe (Gebiet des Kommunal- 5396,3 5414,3 +0,33 435 463 +6,44 verbandes Ruhrgebiet)

(1) Bevölkerungs- und Motorisierungsentwicklung 1990 bis 1997 im Ruhrgebiet. der durchschnittlichen Wegelängen. Beschäftigte und Besucher und trug von den Mitgliedstaaten eingeführte Alle Einflussfaktoren sind, bezogen somit zur Verkehrssteigerung bei. Deregulierung, Liberalisierung und auf das Ruhrgebiet, im letzten Jahr- Einzelhandel, Kulturveranstaltun- Privatisierung der Verkehrsmärkte zehnt – zum Teil deutlich – ange- gen oder Sportereignisse verlangen hat den Wettbewerb gefördert und wachsen. (Abb. 1) immer größere Einzugsbereiche. bisher vor allem im Luftverkehr zu Die bedeutendsten Faktoren für Die EU-Integration hat die sinkenden Preisen geführt. Die Folge steigende Fahrtweiten resultieren innereuropäischen Wirtschaftsver- ist eine Veränderung der Urlaubs- aus den Standortentscheidungen der flechtungen mit dem Ziel einer ver- mobilität mit Reisen weltweit für privaten Haushalte sowie dem geän- besserten Wettbewerbsposition auf jedermann. derten Freizeitverhalten. Weitere dem Weltmarkt intensiviert. Auch In bestimmten Politikberei- Aspekte betreffen die Globalisierung die von der EU betriebene Öffnung chen können Ziele nur durch Ver- der Produktionsstrukturen und der Verkehrsmärkte leistete ihren kehrswachstum erreicht werden. die Öffnung der Verkehrsmärkte Beitrag zum Verkehrswachstum. Die Zielsetzungen der Umweltpolitik, für mehr Wettbewerb. Auch die Wiedervereinigung, die politische Integration in Europa und die Wei- = Grenze des Untersuchungsraums terentwicklung der Verkehrsinfra- Corridesign strukturen haben erhebliche Beiträge zur Verkehrsentwicklung geleistet. (Abb. 2) Nach wie vor wirken die Stand- ortveränderungen von privaten Haushalten und Betrieben mit dem Drang in die Fläche verkehrserhö- hend, wobei die gewählten Standorte überwiegend Pkw-affin sind, wäh- rend die Fläche vom öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in der Regel nur schwer erschlossen werden kann. Die Globalisierung der Pro- duktionsstrukturen führte zu gra- vierenden Veränderungen in der

Arbeitsplatzstruktur. In Verbindung Angaben in % mit der Spezialisierung der Arbeits- 1 -4,40 – ,00 welt entstanden neue Ansprüche an 2 ,00 – 4,70 die Berufsmobilität mit der Folge 3 4,70 – 6,40 langer Wege zwischen Wohnung und 4 6,40 – 8,70 Arbeitsplatz. Die Zentralisierung 5 8,70 – 20,00 von Dienstleistungseinrichtun- gen führte zu längeren Wegen für (2) Räumliche Veränderung der Einwohnerzahlen im Ruhrgebiet. 122 ESSENER UNIKATE 19/2002 123

in gewissem Umfang auch der Ver- kehrspolitik, werden durch Zielset- zungen in anderen Politikbereichen konterkariert. Die Entwicklung der Mobilität wurde durch neue Verkehrsmittel DO und Verkehrswege unterstützt. Stets war das Bestreben der Ingenieure/ DU E Ingenieurinnen darauf ausgerichtet, immer entferntere Ziele in immer kürzerer Zeit erreichbar werden zu D lassen. 1991 - 2000 Das Ruhrgebiet erhielt ein Ras- W 1981 - 1990 ternetz von Autobahnen, das in 1971 - 1980 Deutschland seinesgleichen sucht 1961 - 1970 und außerhalb der laststarken Zeiten 1951 - 1960 K sehr günstige Erreichbarkeiten der 1941 - 1950 Oberzentren der Region ermöglicht. 1931 - 1940 Das Schienennetz und die Flughäfen (3) Entwicklung des Autobahnnetzes im Ruhrgebiet. wurden den steigenden Verkehren angepasst. (Abb. 3) lung darstellen. Prognosen zeigen und nach erfolgreich aufgesiedelt Wie wird die Zukunft aussehen? hier einen möglichen Entwicklungs- werden, so z. B. in Essen das so Nach den meisten der auf Bundes-, korridor großer Bandbreite auf, genannte „Universitätsviertel“. Nach Landes- oder regionaler Ebene der auch eine drastische Abnahme dem Willen der politischen Entschei- vorliegenden Prognosen wird das der Bevölkerung im Ruhrgebiet dungsträger sollen hier auf einer motorisierte Aufkommen in den einschließt. Diesem, von einigen Fläche von 11,7 Hektar attraktive nächsten 10 bis 15 Jahren weiter Planern durchaus auch positiv beur- Wohnstandorte, gewerbliche Stand- ansteigen. Für den Luftverkehr, teilten Szenario kann sich der Autor orte und Grünflächen entstehen. aber auch den Schienenfern- und dieses Beitrags nicht anschließen. Es Dem politischen Ziel dieser -nahverkehr werden die höchsten geht ja nicht nur um die Folgen eines Maßnahme, dem anhaltenden Trend Wachstumsraten prognostiziert, der Bevölkerungsrückganges insgesamt, des Einwohnerverlustes entgegen- motorisierte Straßenverkehr soll nur sondern um die damit verbundenen zuwirken und einen Beitrag zum noch moderat wachsen. Doch hier unausweichlichen Strukturverän- Abbau der Arbeitslosigkeit zu ist Vorsicht geboten: Allzu oft haben derungen: Gut ausgebildete, junge, leisten, stehen im Erfolgsfalle nicht sich Prognostiker in diesem Punkt mobile Personen verlassen den nur Einwohnergewinne und neue getäuscht und wurden von der realen Raum, der Rest bleibt. Auf Dauer Arbeitsplätze, sondern auch erhebli- Entwicklung regelmäßig überrollt. hätte dies einen hochgradigen Ver- che zusätzliche Verkehre gegenüber. Sicher erscheint, dass die EU die lust an Kompetenz und Wettbe- Lokale Prosperität ist mit Verkehr Osterweiterung vorantreiben wird. werbsfähigkeit zur Folge. unmittelbar verbunden. Wenn dies Sicher erscheint auch, dass sich die Ein solches Szenario kann auch so akzeptiert werden muss, dann private Motorisierung weiterent- eine Universität, die sich der Aus- ergibt sich die Frage nach der besten wickeln wird: Junge Menschen im bildung hochqualifizierter junger Strategie zur Verminderung der führerscheinfähigen Alter werden Menschen verschrieben hat und die Belastungen, die mit Verkehr als sich stärker motorisieren; Frauen eine aktive Rolle bei der Umstruk- Massenphänomen einhergehen. mit einem Motorisierungsgrad, der turierung des Ruhrgebiets spielt immer noch deutlich unter dem der und weiter spielen will, nicht zur Belastungsfelder des Verkehrs Männer liegt, werden bei steigen- Planungsgrundlage machen. Eine den Einkommen nachziehen. Der Reihe von Anzeichen sprechen indes Die Auswirkungen des Verkehrs Anteil der Personen, die nach dem auch dafür, dass der Umstrukturie- manifestieren sich vor allem in den Ausscheiden aus dem Erwerbsleben rungsprozess voran geht und dass Zielfeldern „Erreichbarkeitsqua- privat motorisiert sind, wird zuneh- die Attraktivität der Region für lität“, „Verkehrssicherheit“ und men. junge, innovative Unternehmen und „Umweltbelastungen“. Sie lassen Neben diesen globalen Einflüs- gut ausgebildete Personen zukünftig sich für eine Reihe von Indikatoren sen wird die Strukturentwicklung wieder steigen wird. quantifizieren. Betrachtet man die des Ruhrgebiets die entscheidende Ein Indikator hierfür ist, dass die zeitliche Entwicklung der Wirkun- Determinante der Verkehrsentwick- Industriebrachen der Region nach gen, so wird deutlich, dass der tech- 124 ESSENER UNIKATE 19/2002 125

Sie äußern sich u. a. in Lärm- und Schadstoffbelastungen, in Trenn- wirkung und Unwirtlichkeit von bebauten Bereichen und in der Beeinträchtigung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Die Belastungen durch Verkehr im Bereich der Schadstoffe weisen im zeitlichen Verlauf unterschiedli- = Netzstellen mit besonders che Entwicklungen auf: hoher Stau- Der Endenergieverbrauch als häufigkeit Indikator für Ressourcenverbrauch = Grenze des und die Emissionen des klimarele- Untersuchungs- vanten Gases CO2 sind bisher stetig raums angestiegen. Appelle an Fahrzeug- Corridesign führer im Hinblick auf umwelt- bewusstes Fahren, Versuche, das (4) Stauhäufigkeit auf den Autobahnen des Ruhrgebiets. Käuferverhalten beim Pkw-Erwerb zu beeinflussen oder die Ökosteuer nische Fortschritt beim Abbau der („Unfallrate“) rückläufig sind. Der waren bisher weitgehend wirkungs- Belastungen eine bedeutende Rolle Kilometer Straßenfahrt wird im los. Der Verkehrsbereich hat mittler- spielt. Durchschnitt immer sicherer. weile die Industrie als Energiever- Die Ursachen für diesen Rück- braucher überholt. Erreichbarkeitsqualität gang der Unfallraten sind vielfäl- Im Bereich der Luftverunrei-

tig. Als Hauptfaktoren gelten die nigung (CO, NOx, HC und Ruß) Die Massenmobilität führt, wie Erhöhung der passiven und aktiven haben zunehmend verschärfte Emis- jeder weiß, der z. B. in den Haupt- Sicherheit von Kraftfahrzeugen sionsgrenzwerte bei Fahrzeugen urlaubszeiten auf den Straßen, in den (Rückhaltegurt, Airbag, ABS), ord- zu einer wesentlichen Reduktion Zügen oder im Luftverkehr unter- nungspolitische Maßnahmen wie der spezifischen Emissionen bei wegs ist, immer häufiger zur Selbst- die Einführung der Gurtanlege- Regelzyklen geführt. Die Zunahme blockade. Das Ruhrgebiet ist trotz pflicht oder die Benutzungspflicht des Verkehrs und die Zunahme von eines in weiten Teilen hervorragend bestimmter Fahrwege, straßenbau- Stauhäufigkeiten und -dauern haben ausgebauten Straßennetzes deutscher liche Maßnahmen (außerorts der diese Vorteile der technischen Ent- Staurekordhalter bei Autobahnen. Autobahnbau, innerorts die Einfüh- wicklungen jedoch teilweise wieder Nirgendwo steht man so häufig (auf rung von Tempo-30-Zonen) sowie aufgezehrt. einzelnen Abschnitten mehr als 1000 Maßnahmen der Verkehrserziehung. Neuere Untersuchungen zeigen, Stunden pro Jahr) im Stau. (Abb. 4) Eine nicht unwesentliche Rolle spielt dass festgelegte Grenzwerte an Die Leistungsfähigkeit der Ver- auch die zunehmende Erfahrung der städtischen Hauptverkehrsstraßen kehrsinfrastruktur ist offenkundig Verkehrsteilnehmer. immer noch erreicht und überschrit- nicht in der Lage, die Überlastungen Nicht verändert hat sich die ten werden, wenn die Stauhäufigkeit auf einem akzeptablen Niveau zu altersbezogene Risikostruktur: Das und der Lkw-Anteil groß sind. Ein halten. Die Folge sind hohe volks- Unfallrisiko in Abhängigkeit des Beispiel für hohe Immissionskon- wirtschaftliche Verluste, die sich Alters verläuft „u-förmig“. Am zentrationen stellt die Gladbecker in einer sinkenden Wettbewerbs- gefährlichsten ist die Verkehrsteil- Straße in Essen dar. Auf dieser Straße fähigkeit der gewerblichen Wirt- nahme beim Eintritt in das Verkehrs- im Essener Norden kommt es, wie schaft manifestieren und erhebliche geschehen und für ältere Verkehrs- auf vielen städtischen Radialstraßen, Umweltbelastungen verursachen. teilnehmer. Dies ist weitgehend ver- während der Hauptverkehrszeiten kehrsmittel-unabhängig und betrifft häufig zu Stauungen. Bei Messungen Verkehrssicherheit Fußgänger ebenso wie Fahrrad- oder an einer ausgewählten Stelle im Zuge Pkw-Fahrer und -Mitfahrer. (Abb. 5) dieser Straße wurden Ruß-Immis- Die Betrachtung der Unfallent- sionskonzentrationswerte ermittelt, wicklung fokussiert in der Regel die Umweltbelastungen die nahe an dem in § 40(2) des BIm- Vorgänge im Straßenverkehr. Hier SchG genannten Grenzwert von 8 zeigt die Unfallstatistik, dass Unfälle Den dritten wesentlichen Aspekt g/m3 (Jahresmittelwert) liegen. Auch mit Personenschäden, bezogen auf stellen die Umweltbelastungen andere Immissionskonzentrations- die gestiegene Verkehrsleistung durch motorisierte Mobilität dar. werte (NOx, HC) lagen auf hohem 124 ESSENER UNIKATE 19/2002 125

Unfallrisiko als Fußgänger Unfallrisiko als PKW-Fahrer Verunglückte pro 1 Mio km Verkehrsleistung Verunglückte pro 1 Mio km Verkehrsleistung inwieweit das städtische Straßen- 4 2,5 netz nachts in der Weise teilgesperrt 2 3 werden kann, dass sensible Bereiche 1,5 2 von nächtlichem Lärm vollständig 1 freigehalten werden. 1 0,5

Alter in 0 0 Jahren 0-5 6-9 10-14 15-17 18-20 21-24 25-44 45-64 65-74 75+ 18-20 21-24 25-44 45-64 65-74 75+ Zur Zukunft Männer 2,78 3,78 2 1,29 1,99 1,29 0,99 0,9 0,64 1,91 2,2 0,7 0,29 0,19 0,26 0,45 des öffentlichen Verkehrs Frauen 1,78 2,65 1,8 1,28 1 0,78 0,48 0,64 0,93 2,8 1,75 0,88 0,61 0,46 0,24 0,57 Männer Frauen Der öffentliche Verkehr steht, (5) Unfallrisiko in Abhängigkeit des Alters für Fußgänger und PKW-Fahrer. nach einer langen Phase der poli-

Niveau. Für den Schadstoff NOx erkennbar, auf eine sukzessive Ver- tischen Obhut, im kommenden wurde eine Dauermessung über ein schärfung hinaus. Berücksichtigt Jahrzehnt vor einer beispiellosen Jahr durchgeführt. (Abb. 6) man ferner die Verkehrsentwicklung Herausforderung. Die Themenfelder Wie der Verlauf der Halbstun- sowie den Umstand, dass Kurzzeit- sind: denwerte zeigt, liegen sowohl der expositionen mit hohen Konzentra- • Gravierende Engpässe in der 98-Perzentilwert als auch der Jah- tionen zukünftig eine größere Rolle Finanzierung. resmittelwert nur knapp unter den bei der Bewertung von Immissi- • Neue Rollenverteilung mit Aufga- Grenzwerten von 160 g/m3 bzw. onskonzentrationen spielen sollten, benträgern (Besteller) und Verkehrs- 80 g/m3 des § 40(2) des BImSchG, so kann von einer Entwarnung auf unternehmen (Auftragnehmer). jedoch deutlich über dem in der EU- absehbare Zeit beim Thema Luftqua- • Wettbewerb bei der Vergabe von Richtlinie vorgesehenen Grenzwert lität keine Rede sein. Linienkonzessionen. für den Jahresmittelwert von 60 g/m3 • Privatisierung der bisher kommu- (2001) bzw. 40 g/m3 (2010). Lärmbelastung nalen Verkehrsunternehmen. Geschwindigkeitsmessungen • Schwindendes Kundenpotenzial. zeigten, dass Staus in den Spitzen- Neben den Auswirkungen auf Der öffentliche Verkehr wird stunden an Werktagen stadteinwärts, die Luftqualität ist der Verkehr derzeit in hohem Maße durch die an Samstagen jedoch auch stadt- Hauptverursacher von Lärmim- öffentliche Hand und damit durch auswärts entstehen. Der Einbruch missionen, die in bebauten Lagen den Steuerzahler subventioniert, in in der samstäglichen Ganglinie ist vor allem nachts zu erheblichen Ballungsräumen in der Größenord- vor allem durch eine ungünstige Beeinträchtigungen führen. Der Stra- nung von 50 Prozent der Kosten, Signalprogrammschaltung bedingt. ßenverkehrslärm, der Straßenbahn-, d. h., nur etwa die Hälfte der Kosten Kleine Ursache, große Wirkung: Zug- und der Luftverkehrslärm des Verkehrs wird durch Fahr- Eine Änderung der Einschaltzeit mindern die Lebensqualität eines geldeinnahmen gedeckt. Auch die des Signalprogramms für Samstag hohen Anteils der Bevölkerung. Oft anderen Verkehrsträger, der private Nachmittag hätte den Stau stadtaus- ist die Lärmbelastung Auslöser für motorisierte und nicht motorisierte wärts vermieden und damit auch zur Standortwechsel in die ruhigere Peri- Verkehr, Güterverkehr, Luft-, Bin- Reduzierung der Immissionskonzen- pherie, was wieder erneut Verkehrs- nenschiffs- und Seeschiffsverkehr trationen beigetragen. (Abb. 7) vorgänge und somit erhöhte Lär- decken ihre Kosten nicht voll und Weitere Verbesserungen sind mimmissionen bei der in den Städten werden in unterschiedlichem Maße durch steuerungstechnische Eingriffe verbliebenen Bevölkerung auslöst. direkt oder indirekt durch staatliche sowie durch Pretrip- und Ontrip- Strategien zur wirksamen Subventionen gefördert oder durch Informationen zur Verkehrslage Bekämpfung des Verkehrslärms sind die Gesellschaft an anderer Stelle erreichbar. Ziel einer situationsab- gegenwärtig nicht zu erkennen. Bei mitfinanziert. Insgesamt trägt der hängigen Steuerung ist es, die vor- Neubaumaßnahmen muss nach- Verkehr seine Kosten nicht und ist handene Grüne Welle vor allem im gewiesen werden, dass die Lärm- damit – volkswirtschaftlich betrach- kritischen Abschnitt auch in Zeiten immissionen für die angrenzende tet – zu billig. starken Verkehrs aufrechtzuerhalten. Bebauung unterhalb definierter Für den öffentlichen Verkehr in Die hierfür notwendigen Investiti- Grenzwerte liegen. Bisher hat die Ballungsräumen, der (derzeit noch) onen in Hard- und Software sind Möglichkeit der Umnutzung von kommunal organisiert ist, sind die nicht unbeträchtlich, sie versprechen Gebäuden kaum eine Rolle gespielt. Finanzierungsprobleme in Verbin- jedoch eine hohe volkswirtschaftli- Verkehrslärm kann auch durch dras- dung mit der Finanzmittelknappheit che Rentabilität. tische Maßnahmen der Verkehrs- der Kommunen besonders evident. Die neuen Vorschläge der EU zu und Geschwindigkeitsreduktion Zunehmend werden die Zuschüsse Immissionsgrenzwerten laufen, wie bekämpft werden. Obwohl nahelie- plafoniert mit jährlich abnehmen- durch die bisherigen Ausführungen gend, wurde bisher wenig geprüft, den Beträgen. Zwar stellt der Bund 126 ESSENER UNIKATE 19/2002 127

Geschwindigkeit Richtung Gladbeck Geschwindigkeit Richtung Essen 70 70

60 60

50 50

40 40

30 30

20 20 Geschwindikeit in [km/h] Geschwindigkeit in [km/h] 10 10

0 0 00:00 02:00 04:00 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00 00:00 02:00 04:00 06:00 08:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00 20:00 22:00

Werktag Samstag Sonntag Werktag Samstag Sonntag

(6) Ganglinien der Geschwindigkeiten auf dem kritischen Abschnitt.

Immissionskonzentrationen im Winter Immissionskonzentrationen im Sommer 350 350

300 300

250 250 ) 200 ) 200 3 3

150 150 (µg/m (µg/m 2 2 NO 100 NO 100

50 50

0 0 00:00 01:00 02:00 03:00 04:00 05:00 06:00 07:00 08:00 09:00 10:00 11:00 12:00 13:00 14:00 15:00 16:00 17:00 18:00 19:00 20:00 21:00 22:00 23:00 00:00 01:00 02:00 03:00 04:00 05:00 06:00 07:00 08:00 09:00 10:00 11:00 12:00 13:00 14:00 15:00 16:00 17:00 18:00 19:00 20:00 21:00 22:00 23:00

(7) Immissionskonzentrationen NO2 1997 in Essen, Gladbecker Straße, Sommer- und Winterhalbjahr. den Ländern erhebliche Mittel zur kommunalen Unternehmen sehen Gründen auf die jeweiligen kommu- Finanzierung des öffentlichen Ver- diese Entwicklung ebenfalls und sind nalen Zentren ausgerichtet und ent- kehrs bereit („Regionalisierung“), dabei, sich völlig neu aufzustellen. sprechen immer weniger den poly- jedoch betrifft dies nur den Schie- Bisher konnten die Aufgabenträ- zentralen Strukturen der Region. nenpersonennahverkehr. Busse, Stra- ger vor allem Erfolge im schienen- • Die im Verkehrsverbund Rhein- ßenbahnen, Stadt- und U-Bahnen gebundenen Personennahverkehr Ruhr organisierten Verkehrsunter- sind von den Aufgabenträgern mit (SPNV) durch bessere Fahrzeuge, nehmen der Region könnten erheb- zu finanzieren. Integrale Taktfahrpläne, durchgän- liche Synergiepotenziale wecken, Auf diese Situation trifft nun gige Fahrscheine und höhere Pünkt- wenn sie sich zu einer großen das neue Wettbewerbsrecht der lichkeit erzielen. Die Folge lässt sich „Verkehrsgesellschaft Ruhrgebiet“ EU, das im Prinzip die europaweite an den Zuwächsen des SPNV unmit- zusammenschlössen. Ausschreibungspflicht und Vergabe telbar ablesen. Eine Erhöhung der Der Faktor 2 – bezogen auf von Linienkonzessionen bei gemein- Qualität des ÖPNV im Ruhrgebiet, die Fahrzeit –, den der ÖPNV im wirtschaftlichen Verkehren vorsieht ja eine völlige Neustrukturierung auf Haustür-Haustür-Vergleich mit und sukzessive in nationales Recht allen Ebenen, von der Organisation dem Individualverkehr aufholen umzusetzen sein wird. Obwohl bis zur Angebotsgestaltung, ist aber muss12, erfordert Maßnahmen auf über Moratorien und zahlreiche auch dringend erforderlich, will der allen Ebenen. Dabei spielen kurze Einzelheiten noch intensiv gerun- ÖPNV auf den sich verändernden Taktzeiten, die Maximierung der gen wird, ist nach Auffassung des Markt antworten und vor allem neue Direktfahrten (kein Umsteigen), die Autors dieses Beitrags das Wettbe- Kunden gewinnen: Vernetzung der Verkehrssysteme werbsprinzip im ÖPNV nicht mehr • Die klassische Klientel des ÖPNV (kurze Übergangszeiten) sowie die aufzuhalten: Es greift die Wünsche geht zurück, die Anzahl der „captive Ergänzung der Liniendienste durch des Bürgers ebenso auf wie die des riders“ (verkehrsmittelgebundene flexible Zu- und Abbringersysteme Aufgabenträgers und wird mittel- Fahrgäste) nimmt ab. die entscheidende Rolle. fristig zu einer höheren Qualität bei • Die Liniennetze des ÖPNV im Der geplante Metrorapid wird geringeren Kosten führen. Die bisher Ruhrgebiet sind aus historischen einen wichtigen Baustein innerhalb 126 ESSENER UNIKATE 19/2002 127

des neuen ÖPNV im Ruhrgebiet darstellen, der die Angebotsqualität durch kurze Reisezeiten zwischen den Hauptbahnhöfen und vor allem durch kurze Taktzeiten sprunghaft verbessert. Er muss jedoch ergänzt werden durch eine hochwertige Ver- netzung im Zu- und Abgang, weil sonst die Reisezeitvorteile durch den erhöhten Umsteigeaufwand verspielt werden. (Abb. 8) Für den schnellen Zu- und Abgang sind neue Ansätze zu unter- suchen. Möglichkeiten bestehen in der effizienten Integration von Park and Ride (P+R). Das Netz des Schie- (8) Der Metrorapid im Bahnhof Flughafen-Düsseldorf. nenverkehrs im Ruhrgebiet wird von zahlreichen Autobahnen gekreuzt. Zeitvorteile aufweist. Auch wenn das testens seit Sten Nadolnys Bestseller (Abb. 9) Fahrrad nur von einem begrenzten „Die Entdeckung der Langsamkeit“ An diesen Stellen, aber auch bei Kollektiv von Verkehrsteilnehmern wird die Frage, ob „immer schneller Parallelführungen, können neue nutzbar ist und Randbedingungen und immer weiter“ auch ein Mehr P+R-Plätze in Kombination mit wie Wetter oder Gepäcktransport an Lebensqualität bedeutet, kritisch einer bedarfsorientierten Steuerung die Nutzbarkeit einschränken, geht gestellt. „Slowly is beautiful“ ist ein des ÖPNV untersucht werden. die Entwicklung in Richtung einer Leitsatz, der inzwischen im Stadtbe- Eine weitere Variante des Pkw- Ausstattung des Fahrrads mit High- reich Konsens erzielt und Eingang in Einsatzes besteht in der Nutzung Tech-Komponenten wie Ortung, die städtischen Entwicklungsplanun- von Mehrfahrgasttaxen in Kombi- Kommunikation und Zielführung, gen gefunden hat. nation mit dem ÖPNV. Aufgrund die den Einsatzbereich des Fahrrads Die Stadt der kurzen Wege, die des zeitlichen und räumlichen Ras- für den schnellen Zu- und Abgang „Entschleunigung“ des motorisierten ters des liniengebundenen ÖPNV erweitern und für eine neue Klientel Verkehrs in bebauten Bereichen und können zahlreiche Fahrgastwünsche attraktiv machen. die Förderung der Verkehrsmittel nicht direkt erfüllt werden. Diese Die Potenziale für einen neuen des so genannten Umweltverbundes zeitlichen und räumlichen Lücken ÖPNV im Ruhrgebiet sind zweifel- sind nicht nur Schlagworte, sondern können durch die Mehrfahrgasttaxen los vorhanden. Sie zu nutzen und die kennzeichnen das Bemühen von gefüllt werden, die mit dem ÖPNV erforderlichen Entwicklungen vor- Stadt- und Verkehrsplanern, neue korrespondieren und aktuell güns- anzutreiben, wird die Aufgabe der Rahmenbedingungen für das Leben tige Haltestellen anfahren. nächsten Jahre sein. in der Stadt zu schaffen. Hauptproblem ist hier die Frage, Auf der anderen Seite wurden die wie viele Fahrgäste je Fahrauftrag Die Stadt hat mit dem Verkehr in Szenarien erarbeiteten Aussagen zusammenkommen und wie Fahrt- noch keinen Frieden geschlossen zur verkehrsdämpfenden Wirkung wünsche und Taxen am besten von Maßnahmen nicht Realität, zugeordnet werden. Für dieses so Die kommunale Verkehrspo- teils, weil die vorgeschlagenen Maß- genannte Fahrgastmatching gibt litik benutzt seit geraumer Zeit als nahmen nicht in Kraft traten, teils, es bei reinem Taxiverkehr bereits Leitvorstellung ihres politischen weil die erhofften und vorausgesag- Lösungen. In der Kombination mit Handelns Begriffe wie Verkehrsver- ten Reaktionen ausgeblieben sind. dem ÖPNV sind bisher jedoch noch meidung, Verkehrsverlagerung, Ver- Beständig hingegen war die Fehlein- keine Ansätze verfügbar, so dass es netzung der Verkehrssysteme oder schätzung in den Verkehrsprognosen erforderlich ist, entsprechende Kom- Ähnliches. Zwischen Anspruch und zum motorisierten Individualver- binationsansätze zu entwickeln und Wirklichkeit klaffen jedoch entschei- kehr, die von der realen Entwicklung zu implementieren. dende Lücken. Auf der einen Seite überholt worden sind. Auch die Rolle des Fahrrads zeichnet sich ab, dass die Geschwin- So bleibt es bei der Aufgabe, kann in diesem Zusammenhang digkeit, in der sich Entwicklungen Mobilität zu akzeptieren und über neu überdacht werden. Untersu- gesellschaftlicher Art vollziehen, von die Möglichkeiten, Verkehr für die chungen haben gezeigt, dass das vielen Menschen nicht mehr bewäl- Stadt zu nutzen, nachzudenken. Fahrrad gegenüber dem ÖPNV bei tigt wird. Goeudevert spricht von Dabei geht es um den schnellen, Fahrtweiten bis zu fünf Kilometern der Beschleunigungsfalle und spä- motorisierten Verkehr auf Straßen 128 ESSENER UNIKATE 19/2002 129

Münster A 43 Inanspruchnahme der Universitäten A2 RE zur Lösung aktueller Problemstel- Amsterdam Münster GE A42 A43 lungen in gewissem Umfang bereits A42 A45 Hamm A3 A42 nutzen, dass aber noch zusätzliches BO OB A40 DO A44 E A40 A45 Potenzial vorhanden ist, das zur A59 A40 A40 A40 A45 Zeit nicht abgerufen wird. Aus Sicht DU A3/ A40 Hamm A40 A52 A52 A1 der Universitäten ist die direkte KR Konfrontation mit den kommu- A57 A3 HA D-Flg. B224 nalen Tagesproblemen von hohem A44 A1 A57 A44 Kreuzungspunkte zwischen Auto- Interesse, weil dies den Nährboden Aachen W bahn- und Schienennetz A46 für weitere Entwicklungen und Aachen A3 Kreuzungspunkte zwischen Autobahn- und Schienennetz Forschungen darstellt. Wenn diese (potenzieller Standort für P+R) Kooperation verstärkt werden kann, Köln ICE-Bahnhof ICE-Strecke wird sich die Umstrukturierung der IC-Strecke Region beschleunigen. Die vielen S-, RB-, RE-Strecke brachliegenden Flächen bieten her- Metrorapid-Korridor vorragende Chancen, neue Ansätze (9) P+R-Standortpotenziale im Ruhrgebiet. zur Planung der Stadt im Hinblick auf Struktur, Mobilität und Verkehr und Schienenwegen, der eigene, gesi- verbindende Funktion auch psy- zu entwickeln und zu erproben. cherte Verkehrswege benötigt. Die chologisch erfüllen kann? Die Stadt Chancen, die im Umstand bestehen, hat ihren Frieden mit dem Verkehr dass diese Verkehrswege täglich bisher noch nicht gefunden. Aber Summary von zehntausenden von Personen das Ruhrgebiet stellt einen einzigar- benutzt werden, wurden bisher vom tigen Experimentierplatz dar, für den Year after year statistics show that Stadtmarketing nicht erkannt. Meist Ideen als Vorbild für andere Regi- human traffic, and in particular wird versucht, Stadtautobahnen in onen in Deutschland und Europa traffic due to motorised vehicles, is Tunnel oder hinter hohen Lärm- generiert, untersucht, verworfen und on the increase. This appears to be schutzwänden zu verstecken, wäh- realisiert werden können. happening in spite of the fact that rend der Fahrgast des ÖPNV mit individual mobility, measured as dem trostlosen Umfeld nicht genutz- Schlussbemerkung journey frequency per unit of time, ter Gleisanlagen konfrontiert wird. has changed little. The explanation Der Anspruch, im Verlauf einer An der Zukunft des Ruhrge- lies in journey lengths, which have Fahrt eine Stadt mit ihren typischen biets wirken viele Institutionen, so increased consistently and which Merkmalen zu erleben, aus Sicht der auch die Universitäten in Duisburg, continue to increase. Kommune Stadtmarketing zu betrei- Essen, Bochum und Dortmund mit. As a result, blockages in mass trans- ben, kann so nicht erfüllt werden. Der Eindruck ist, dass die Städte portation systems are ever more Verkehrswege als verbindende Ele- der Region die Möglichkeiten einer frequent occurrences. There are fur- mente einer polyzentralen Struktur wahrzunehmen, die ihrerseits Iden- tifikation durch ihre Gestaltung und die Gestaltung des Umfeldes stiften, ist bisher noch kaum thematisiert worden. (Abb. 10) Eine mit einer Hochstraße über- baute A40 als „silberne Schlange“ auf dem alten Hellweg wäre ein sol- cher Versuch. Wie aber müsste das hierzu passende Umfeld aussehen? Wie kann sich eine Stadt an einem solchen Verkehrsbauwerk mit ihrer Geschichte, ihrer Industrie oder ihren zentralen Einrichtungen prä- sentieren? Welches Umfeld müsste geschaffen werden, damit z. B. der geplante Metrorapid seine städte- (10) A40-Überbauung durch eine Hochstraße. 128 ESSENER UNIKATE 19/2002 129

bewegt, Hoffmann und Campe, Hamburg VDI, Reihe 15: Umwelttechnik Nr. 194, ther repercussions concerning traffic 1998. Düsseldorf 1998. safety, pollutants and noise. – Goeudevert, D.: Mit Träumen beginnt die – Schönharting, J., Bruckmann, D. u. a.: Higher standards in the quality of Realität, aus dem Leben eines Europäers. Grundlagen einer Differenzierung der RAS- Rowohlt, Berlin 1999. N, Teil: Stadtregionen; Forschungsprogramm mobility, transportation and the – Hangleiter, S., Jendryschik, W., Kroen, Stadtverkehr, FE-Nr. 77416/97; Schlußbericht; environment cannot be achieved in A., Kühne, R., Ziegler, B.: Bestandsanalyse Bergisch Gladbach, November 2001. this way. Grüner Wellen in München. In: – Schönharting, J., Bruckmann, D.: Solution strategies involve public Straßenverkehrstechnik, Heft 10/1997. Schweben und Vernetzen, Optimierung des – Hautzinger, H., Tassaux-Becker, B., Zu- und Abgangs beim Transrapid, in: Der transportation services that, in the Hamacher, R.: Verkehrsunfallrisiko in Eisenbahningenieur 2/2002, Hamburg. next few decades, will be confronted Deutschland, Berichte der Bundesanstalt für – Schönharting, J., Tetzner, St., Korte, by unprecedented challenges in the Straßenwesen, Bergisch Gladbach 1996. H., Schmidt, A., Schmidt, H., u. a: – Kommission der Europäischen Endbericht zum Projekt „Möglichkeiten face of new EU competition rules. Gemeinschaften: Vorschlag für eine zur Verbesserung des Verkehrsflusses und However, competition will give Verordnung des Europäischen Parlaments der städtebaulichen Einbindung der A40 impetus to necessary performance und des Rates über Maßnahmen der zwischen Essen und Dortmund durch eine Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit Hochstraßenlösung“, Auftrag der Projekt and quality offensives. The planned gemeinschaftlichen Anforderungen und der Ruhr GmbH, Essen 2001. Metrorapid will be an important Vergabe gemeinschaftlicher Verträge für – Thompson, J. & Partners: cornerstone of the new public trans- den Personenverkehr auf der Schiene, der Perspektivenwerkstatt Essen: Wie geht es portation services on offer in the Straße und auf Binnenschifffahrtswegen vom weiter am Berliner Platz? Auftrag der Stadt 26.7.2000. Essen, Essen 1999. Ruhr Valley. In addition, the system – Kühne, R., Linden, V., Schönharting, – Universität Essen, Fachgebiet Verkehrs- needs to be complimented by a supe- J.: Erfahrungsbericht über Verkehrs- wesen und Verkehrsbau (Auftragnehmer): rior arrival and departure transfer managementsysteme in Ballungsräumen Ausgestaltung regionaler Mobilitätsdienst- – Eine Wirkungsanalyse, Auftrag der leistungen für Nahverkehr und Tourismus network, otherwise the reductions in Senatskanzlei der Freien und Hansestadt (ARMONT), Teilprojekt Fahrradinformati- travel time and service time intervals Hamburg, Essen 1998. onsdienste; gefördert vom Bundesministerium will be lost through long transfer – Limbourg, M., Flade, A., Schönharting, für Bildung und Forschung im Rahmen der J.: Mobilität im Kindes- und Jugendalter. Forschungsinitiative Personennahverkehr in delays. Opladen, Leske + Budrich 2000. der Region, 2002. The question of how cities will deal – Ministerium für Umwelt, Raumordnung with transportation issues in the und Landwirtschaft des Landes Nordrhein- future is also of critical importance. Westfalen: Erlass vom 28.08.1995 btr.: § 40 Abs. 2 Bundes-Immissionsschutzgesetz Der Autor Past measures undertaken to prevent (BImSchG) hier: 23. Verordnung traffic congestion have not brought zur Durchführung des Bundes- Jörg Schönharting, Jahrgang 1941, Studium des Bauingenieurwesens an den Technischen about the expected reductions in Immissionsschutzgesetzes ( Verordnung für die Festlegung von Konzentrationswerten Universitäten Stuttgart und Aachen, Diplom traffic. In accepting the idea of indi- – 23. BImSchV) 1966, Promotion an der TH Wien (1970), 21 vidual mobility in principle, new – Nadolny, St.: Die Entdeckung der Jahre beratender Ingenieur, zuerst in Wien, ways of integration of usage, traffic, Langsamkeit. Piper 1983. zuletzt als Gesellschafter und Geschäftsfüh- – Nehren, U., Schönharting, J., Stöcker, K., rer der Steierwald Schönharting und Partner and transportation routes in the city Rieken, V.: Untersuchung der Auswirkungen GmbH (heute SSP Consult, Beratende Inge- need to be considered. ausgewählter politischer Entscheidungen nieure GmbH), 1996 Ernennung zum Uni- auf Verkehr und Umwelt, Schlussbericht. versitäts-Professor an der Universität Essen, Auftrag des Instituts für Mobilitätsforschung Leiter des Fachgebietes Verkehrswesen und der Bayerischen Motorenwerke BMW, Berlin Verkehrsbau. Literatur 1999. Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind – Official Journal of the European Verkehrsplanung, -technik und Entwurf – 23. Verordnung zur Durchführung Communities: Council Directive 1999/30/EC von Verkehrsanlagen für den Straßen- und des Bundes-Immissionsschutzgesetzes of 22 April 1999. Brüssel. Schienenverkehr. Im Bereich Forschung stellt (Verordnung über die Festlegung von – Planungsgemeinschaft Metrorapid Innovativer Schienengüterverkehr einen Konzentrationswerten – 23. BImSchV) in der – Transrapid (Hrsg.): Machbarkeitsstudie für Schwerpunkt dar. Fassung der Zustimmung des Bundesrates Magnetschnellbahnstrecken in Bayern und Schönharting ist Mitglied der Ingenieurkam- vom 18.03.1994. Nordrhein-Westfalen, Teil III – Teilprojekt mer Baden-Württemberg, der Forschungs- – Bundesamt für Bauwesen und Nordrhein-Westfalen, Erläuterungsbericht, gesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen Raumordnung (Hrsg.): Aktuelle Daten Düsseldorf 2002. (FGSV), Mitglied des VDI sowie Mitglied der zur Entwicklung der Städte, Kreise und – Rode, S.: Endbericht zum Gruppe der Eisenbahn-Professoren Deutsch- Gemeinden Ausgabe 1999, Bonn. zitiert im Forschungsprojekt „Nächtliche lands. International ist er an EU-Forschungs- Rahmen des Projekts Corridesign 2000. Freizeitmobilität junger Erwachsener in projekten beteiligt und als EU-Evaluator tätig. – Bundesminister für Verkehr, Bau und Ballungsgebieten – Möglichkeiten zur Wohnungswesen (BMVBW): Verkehr in Erhöhung der ÖPNV-Nutzung auf Disco- Zahlen 2000, Bonn 2001. Wegen“, Essen 2002. – Forschungsgesellschaft für Straßen- und – Rode, S., Schönharting, J.: Maßnahmen zur Verkehrswesen (FGSV) Stadt und Verkehr Verbesserung der Luftqualität in Gemeinden, – die nächsten 15 Jahre, Köln 1997. aufgezeigt am Beispiel der Stadt Essen. – Forschungsgesellschaft für Straßen- und Straßenverkehrstechnik. Straße + Autobahn Verkehrswesen (FGSV): Handlungsansätze 7/2002. zur Verkehrsvermeidung und – Schönharting, J.: Umweltbelastungen durch Verkehrsverlagerung, Ausgabe 1998. Verkehr – Möglichkeiten und Grenzen der – Gleich, M.: Mobilität, warum sich alle Welt Verkehrsbeeinflussung. Fortschrittberichte 130 ESSENER UNIKATE 19/2002 131 Karl Rohe. Foto: André Zelck 130 ESSENER UNIKATE 19/2002 131

Regionsneubildung statt Provinzialisierung: Die Pflege einer Ruhrgebietskultur bedarf zukünftig mehr denn je einer Offenheit und einem wachen Blick für die veränderte und sich stetig verändernde Wirklichkeit in der Region. Wer sich mit Sozialkulturen befasst, und zwar durchaus in zukunftszugewandter Perspektive, kann über die „Großväter/Großmütter“ und die Erfahrungen und Einflüsse, denen sie ausgesetzt waren, nicht schweigen.

„Libertas Ruhrgebietiensis“?

Eine sich verändernde Wirklichkeit und die Zukunft der Region Von Karl Rohe

I. ein Geringerer als Heinrich Böll bevor der Sturm begann, mögen Genau betrachtet geht es bei Böll, Khat im Jahre 1958 in der Ein- Venus und Dionysos ihre Katakom- wenn von einer „neuen Rasse“, die leitung zu einem Bildband über das ben haben. […] Die Christen tänzeln in „Tonfall und Umgangsformen Ruhrgebiet ein einfühlsames Kurz- dort nicht auf der Rasierklinge der Gemeinsames“ hat, oder wie bei portrait dieser Landschaft gezeich- Paradoxie: Gott ist Gott, und Sünde Brepohl, von einem „Ruhrvolk“ net. Darin heißt es unter anderem: ist Sünde. […] Die Leute waren ein- gesprochen wird, jedoch gar nicht „Da unten, da oben, da im Westen fach, herzlich und hilfsbereit. Eine um einzelne Menschen und deren – sagen die Deutschen – riecht es neue Rasse hat sich hier gebildet, Charakterzüge, sondern um die Art nach Russ und Geld, nach Hütte die in Tonfall und Umgangsform und Weise, wie die Menschen im und Kohlenstaub, nach den Abgasen Gemeinsames hat. Alle Vorzüge und Ruhrgebiet miteinander verkehren und Kokereien, den Dämpfen der Nachteile der Jugend, Frische mit und miteinander umgehen. Beide Chemie und es riecht nach Macht unbekümmerter, fast ‚kolonialer Bar- interessieren sich, mit anderen […] Aber es riecht vor allem nach barei‘, gemischt“. Worten, für die Kultur, oder genauer: Menschen, nach Jugend, Barbarei Böll kommt in seinem Text in die Sozialkultur der Region wie sie und Unverdorbenheit. Venus hat immer neuen Wendungen auf die sich im „Sturm“, wie Böll sagt, her- dort keine Tempel, Dionysos keine Menschen im Ruhrgebiet zu spre- ausgebildet hat. heimlichen Anbeter. Nur in den chen, die ihn in ihrer Direktheit und Gewiss, Kultur ist mehr als Städten, die schon Städte waren, Offenheit an die Berliner erinnern. Sozialkultur; aber sie ist es stets 132 ESSENER UNIKATE 19/2002 133 auch. Wenn man die Sozialkultur nerung gerufen werden, sei es, dass bemerkenswerte Integrationskraft aus unserem Kulturverständnis kollektive Zugehörigkeiten über- entwickelte. streicht, verliert die Kultur im prüft oder neue Identitäten gestiftet Galt das und gilt das auch für engeren Sinn, die Deutungskultur werden. Fremde unterschiedlicher Religion, einer Gesellschaft, ein Gutteil ihres Kulturen entstehen nicht über unterschiedlicher Nationalität und Sinns. Konstitutiv für die folgenden Nacht. Um gemeinsamen Sinn zu unterschiedlicher Kultur, vor allem Überlegungen ist jedenfalls, dass entwickeln, um ohne viel Gerede dann, wenn sie geballt auftreten? Es Sozialkultur und Deutungskultur als zu wissen „was Sache ist“, um den ist gar nicht zu bestreiten, dass es in zwei aufeinander bezogene Aspekte unausgesprochenen Denk- und Ver- der Einwandererregion Ruhrgebiet, von Kultur, als die zwei Seiten der haltenscode einer Gesellschaft zu vor allem zur Zeit der Massenein- gleichen Medaille begriffen werden. verstehen, muss man in aller Regel wanderung um die Jahrhundert- In beiden Fällen geht es im Prinzip einen Sack Salz gemeinsam verzehrt wende, zu Spannungen kam, die um die gleiche Sache, nämlich um die haben. Aus dem gleichen Grunde gelegentlich auch gewaltförmigen Sinn- und Wertbezüge einer Gesell- vergeht aber auch Sozialkultur nicht Charakter annahmen. Ebenso wenig schaft und deren Sinnenfälligkeit, über Nacht. Sie hat einen anderen kann man in Abrede stellen, dass um Ideen, Designs, Entwürfe und historischen Rhythmus als Politik zwischen den „hochmütigen Pohl- Muster. Der Unterschied ist, dass oder Wirtschaft. Wer sich mit Sozial- bürgern“ auf der einen und dem sich diese Muster und Entwürfe, bei kulturen befasst, und zwar durchaus „fremden Gesocks“ in den „Kolo- dem, was wir Sozialkultur nennen, in zukunftszugewandter Perspektive, nien“, wie es in der zeitgenössischen mental und/oder habituell zu Denk-, kann deshalb über die „Großväter/ Terminologie hieß, lange Zeit eine Rede- und Lebensweisen auskristal- Großmütter“ und die Erfahrungen von wechselseitigem Misstrauen lisiert haben. Sozialkultur ist damit, und Einflüsse, denen sie ausgesetzt bestimmte große Distanz existierte. wenn wir die Uralt-Formel von waren, nicht schweigen. Und dennoch zeigt gerade ein ver- „Basis“ und „Überbau“ noch einmal gleichender Blick auf das Einwan- benutzen, Bestandteil der „gesell- II. dererland USA, dass die historische schaftlichen Basis“, während die Inwieweit gab es eine Ruhr- Bilanz des Ruhrgebiets auf diesem Deutungskultur ohne Zweifel zum gebietskultur in diesem doppelten Sektor nicht schlecht aussieht. Es ist gesellschaftlichen „Überbau“ gehört. Sinne von Sozialkultur und einer nicht von ungefähr, dass gerade ame- Kulturen, insbesondere Sozi- auf sie bezogenen Deutungskultur? rikanische Sozialhistoriker die große alkulturen, entstehen nicht einfach Das historische Ruhrgebiet ist keine Integrationsleistung der historischen in der Klause eines Künstlers oder nivellierte kulturelle Einheitsland- Ruhrgebietsgesellschaft herausgear- Intellektuellen; sie sind im Kern schaft gewesen. In gewisser Weise beitet haben. Irgendwie arrangierte kollektive Erfindungen, denen kol- ähnelte das alte Revier einem Fli- man sich nach einiger Zeit und ent- lektive Erfahrungen zugrunde liegen. ckenteppich, der aus ethnischen, wickelte unter der Maxime „Leben Dabei spielt der „Kleine Mann“, konfessionellen, landsmannschaft- und Leben lassen“ eine alltagsprak- der sich stets auch seinen eigenen lichen und lokalen Eigenarten und tische Toleranz, die nach wie vor Vers auf seine Erfahrungen mit der Identitäten gewebt war. Denn von für das Ruhrgebiet kennzeichnend Welt macht und diesen verarbeiteten den Zuwanderern wurde zumeist ist und dem Leben in dieser Region Erfahrungen gegebenenfalls auch nur eine Anpassung an die Gesetz- seine Unangestrengtheit, Unbeküm- eine ästhetische Form zu geben lichkeiten der Industriewelt gefor- mertheit und Großzügigkeit verleiht. vermag, eine wichtige Rolle. Aber: dert, nicht eine Preisgabe der mitge- So wie es eine libertas Bavariae gibt, Reichtum und Raffinesse einer brachten Identitäten. Dennoch kam die von „Nordlichtern“ zumeist Sozialkultur, ihre Bewusstheit und es allmählich unter dem homoge- nicht begriffen wird, so auch – in Zivilisiertheit und ihr Intellektuali- nisierenden Einfluss von Bergbau, freiem Küchenlatein – eine libertas sierungsgrad hängen stets wesentlich Groß- und Schwerindustrie, Technik Ruhrgebietiensis. davon ab, ob und inwieweit – auch und Massenzuwanderung zur Aus- Freilich entfaltete sich in der in einer regionalen Gesellschaft –, bildung übergreifender regional- Gesellschaft des alten Reviers kaum eine entwickelte Deutungskultur kultureller Gemeinsamkeiten, die etwas, was man mit einem etwas existiert, die die etablierten Werte das Ruhrgebiet gleichzeitig immer modisch gewordenen Terminus eine und Sinnbezüge immer aufs Neue stärker von ihrer westfälischen und „Streitkultur“ nennen könnte. Man thematisiert, sei es kritisch oder rheinischen Umwelt abhoben. Das lernte in dieser Einwandererregion zustimmend, sei es dadurch, dass meint auch Böll, wenn er von einer in der Regel relativ schnell, ohne neue Denk- und Handlungsmöglich- neuen „Rasse“ spricht, die in Tonfall viel zu reden, milieuübergreifende keiten erschlossen werden und/oder und Umgangsformen gemeinsames lebenspraktische Gewohnheiten zu in Vergessenheit geratene Lebens- hat. Was an der Ruhr entstand, war entwickeln, die den Alltag trugen weisen und Maxime wieder in Erin- eine neue Sozialkultur, die eine und eine Koexistenz auch von 132 ESSENER UNIKATE 19/2002 133

ideologisch verfeindeten Milieus Regionalbewusstsein ist, mehr als rische Studie des RWI: „Gibt es noch ermöglichten. Nicht von ungefähr regionale Sozialkultur insgesamt, auf ein Ruhrgebiet?“, d. h. einen Raum, gibt es für die Weimarer Zeit eine regionale Eliten angewiesen, die sich der hinreichend wirtschaftliche und ganze Reihe von Don Camillo- und seiner annehmen und es hegen, pfle- kulturelle Gemeinsamkeiten besitzt Peppone-Geschichten. So wenn ein gen und inszenieren. und sich gleichzeitig von Nachbarre- örtlicher Parteiboss der Kommunis- Genau hier lagen die Probleme gionen deutlich abhebt. ten mit seinen Genossen – Ideologie im alten Revier. Das Bürgertum ins- Dass diese Frage nicht mehr hin, Ideologie her – zur Beerdigung gesamt war schwach und nicht in der uneingeschränkt bejaht wird, ja, dass eines beliebten Pfarrers anrückte. Lage, kulturelle Maßstäbe zu setzen. sie im Grunde eher verneint wird, Was man jedoch weniger lernte, das Hinzu kam, dass die Lehrer und gibt Anlass, grundsätzlicher nach- war intellektuelle Flexibilität und die Pfarrer, üblicherweise die Hauptträ- zudenken. Brauchen wir neue poli- Fähigkeit, über die Milieugrenzen ger eines regionalen Heimatbewusst- tisch-administrative Strukturen und hinaus Meinungen und Argumente seins, nach Herkunft, Mentalität neue räumliche Zuschnitte, die den auszutauschen. und realen Lebensvollzügen auf die gewandelten und sich wandelnden Sozialkulturen spiegeln nicht Provinzen Rheinland oder Westfalen Verhältnissen Rechnung tragen? nur die kollektiven historischen hin orientiert waren und oft bewusst Drei Raummodelle lassen sich Erfahrungen der „Großväter/Groß- eine rheinische oder westfälische in der gegenwärtigen Diskussion mütter“, sondern stets auch die spe- Identität kultivierten. idealtypisch unterscheiden, auch zifisch ideellen Prägungen und For- wenn sie den jeweiligen Akteuren mungen, denen die „Großväter“ und III. nicht immer bewusst sind. Da ist „Großmütter“ in der Vergangenheit Und heute? Die Verhältnisse einmal das gegenwärtig vieldisku- ausgesetzt waren. Auch hier ergibt haben sich fast umgekehrt. Die Deu- tierte Ruhrstadt-Modell, unter dem sich im Ruhrgebiet eine für urbane tungsklassen sind – wie noch nie freilich Unterschiedliches verstanden Industrieregionen atypische Konstel- in der Vergangenheit –, bereit, sich werden kann, vom kommunalen lation. Da ist einmal, namentlich in auf die Ruhrgebietskultur und eine Zweckverband bis hin zur integrier- der Frühphase, der große kulturelle Ruhrgebietsidentität einzulassen; ten Großstadtkommune. Es setzt Einfluss der Kirchen, besonders der gleichzeitig bröckeln aber die mate- bewusst oder unbewusst voraus, dass katholischen Kirche. Da ist zum riellen Grundlagen der übernomme- nach wie vor hinreichend Gemein- anderen das Fehlen einer stilbilden- nen Sozialkultur. Kohle und Stahl, samkeiten existieren, die das über- den und kulturprägenden breiten in der Vergangenheit weit mehr als nommene Raummodell tragen. bürgerlichen Schicht. Der bürgerli- ein bloß ökonomisches Band, fun- Genau dort setzen Kritiker an, che Liberalismus kam, wenn Sie so gieren nicht mehr als Bindeglied nicht zufällig vor allem aus den Flü- wollen, nicht bis Eboli, wo immer der Region; und die Fördertürme, gelstädten Dortmund und Duisburg, Sie Eboli in der Emscherzone ansie- in dessen Schatten sich die Lebens- die von einem in Teilregionen zerfal- deln mögen. Und da ist schließlich formen des Ruhrgebiets entfalteten, lenden und zerbröselnden Ruhrge- eine sozialistische Arbeiterbewegung werfen keine Schatten mehr. biet ausgehen und deshalb jede Zen- die, von lokalen Ausnahmen abge- Vor allem an den Rändern tralisierung von Kompetenzen für sehen (Dortmund-Wittener-Raum), machen sich Erosionen bemerk- kontraproduktiv halten. Was einst- erst relativ spät im Ruhrgebiet Fuß bar. Der westliche Teil verschmilzt mals, so das zugrunde liegende Denk- fassen konnte und deshalb wenig mehr und mehr mit dem Raum muster, als es wirtschaftlich und kul- kultur- und mentalitätsprägend war. Düsseldorf zu einer Großar- turell gesehen noch unbezweifelbar Ob und seit wann mit solchen beitsmarktregion „Niederrhein“, ein Ruhrgebiet gab, eine rationale kulturellen Gemeinsamkeiten in der während im östlichen Ruhrgebiet und progressive Strategie gewesen sei, Region auch ein Regionalbewusst- Ausweitungstendenzen in Richtung um die heillose politische und admi- sein einherging? Die vergleichende Sauerland zu beobachten sind. Teil- nistrative Zerklüftung des Raumes Regionalforschung zeigt, dass beides räume des Ruhrgebiets haben sich zu überwinden, sei heute eher zu nicht notwendigerweise zusammen- zu eigenen Interessenverbänden einem die Entwicklung hemmenden gehen muss. Objektiv vorhandene zusammengeschlossen. Dahinter Überhangsphänomen geworden. regionale Gemeinsamkeiten, wie steht die unbestreitbare Tatsache, Und da ist schließlich – drit- beispielsweise eine besondere Spra- dass beispielsweise die Kommu- tens – das Modell einer Großregion che, eine besondere Geschichte, nen der Hellweg-Zone und die der Rhein-Ruhr, das sich noch stärker eine besondere Geographie oder Emscher-Lippe-Zone zumindest als das Teilungsmodell, von der besondere Lebensweisen und Men- teilweise unterschiedliche Probleme Vorstellung verabschiedet, dass das talitäten, müssen stets – damit Regi- und unterschiedliche Interessenlagen Ruhrgebiet in seinem alten räumli- onalbewusstsein entsteht –, auch besitzen. Vor diesem Hintergrund chen Zuschnitt auch die gemeinsame entsprechend ausgedeutet werden. fragt eine unlängst erschienene empi- regionale Zukunft dieses Raumes 134 ESSENER UNIKATE 19/2002 135 darstellt. Der Grund dafür sind unabdingbar hält, wenn man die rheinisch oder westfälisch zu inter- nicht nur die oben angesprochenen neuen Herausforderungen annehmen pretieren, als die sozialkulturelle regionalen Binnendifferenzierun- und am Spiel der Weltmetropolen Wirklichkeit schon „ruhrgebietlich“ gen und Fliehkräfte und die damit teilnehmen will, erübrigt es sich geworden war. verbundene Schwächung des intra- dann nicht, noch groß über das Erbe regionalen Zusammenhalts, sondern des Ruhrgebiets und die Kultur des auch Veränderungen auf nationaler, alten Reviers nachzudenken? Ich Summary globaler und europäischer Ebene, die glaube, dass das Gegenteil zutrifft, neue Probleme und Interessenlagen vor allem aus zwei Gründen: Das The article deals with different schaffen und – vielleicht – auch neue Ruhrgebiet hat, trotz mancher „Alt- aspects of culture in the Ruhr Valley regionale Antworten verlangen. lasten“, eine lebenswerte und lebens- – past, present and future. The Eine mögliche Antwort, um der fähige Sozialkultur hervorgebracht, author argues that the economic Gefahr einer internen „Kolonisie- wie sie hier nur ansatzweise skizziert and social foundations of Ruhr rung“ und „Provinzialisierung“ zu werden konnte. Sie weiter zu entwi- culture are being eroded, whereas entgehen, ist dabei Regionsneubil- ckeln, wo immer das geht, oder aber at the same time there is a greater dung. Das Ruhrgebiet, das ja selbst wenigstens im historischen Gedächt- willingness than ever before on ein historisches Beispiel dafür dar- nis aufzubewahren, könnte auch für the part of the educated classes to stellt, wie allmählich aus Beständen Wissenschaftler eine Herausforde- identify themselves with the region. anderer Regionen eine neue Region rung sein, die als Einwanderer in entstanden ist, muss sich deshalb diese Region gekommen sind. fragen, ob es allein aus sich heraus Und der zweite Grund: Nur ein Der Autor genügend Masse und Klasse besitzt, sich seiner selbst bewusstes Ruhrge- um einen globalen Konkurrenz- biet, das sich in seinen Stärken und Karl Rohe gehört der Universität Essen seit ihrer Gründung an. Nach dem Studium in kampf zwischen den Regionen zu Schwächen kennt und anerkennt, Freiburg und Münster und der Promotion bestehen. Falls die Antwort negativ nur ein Ruhrgebiet, das nicht in eine zum Dr. phil. 1964 in Münster war er von ausfällt, fällt der Blick zwangsläu- neue Identität flüchtet, weil es sich 1965 bis 1967 Stipendiat der Deutschen For- fig auf den Rhein-Ruhr-Raum, den seiner alten Identität schämt, nur schungsgemeinschaft am St. Antony College in Oxford. 1969, als Assistent an der Uni- stärker zu beachten erst unlängst der ein Ruhrgebiet, dass seine kulturel- versität Münster, erhielt er den Ruf auf die Bochumer Regionalforscher Paul len Potenziale weiterentwickelt, ist Professur für Politikwissenschaft an der Päda- Klemmer empfohlen hat. ein potenziell willkommener Part- gogischen Hochschule Ruhr, einer Vorgänger- einrichtung der späteren Universität-Gesamt- In die gleiche Stoßrichtung zielte ner und nicht der arme Vetter aus hochschule Essen. Von 1972 bis 1982 gehörte der Staatsminister im Auswärtigen Dingsda. Nur ein solches Ruhrgebiet Rohe hier dem Gründungssenat an. 1987/88 Amt Christoph Zöpel, wenn er wie- bietet eine Chance, dass gegebe- nahm er eine einjährige Gastprofessur am St. Antony College in Oxford wahr. In den derholt eine Rhein-Ruhr-Region nenfalls neue, tragfähige, regionale Jahren 1990 bis 1992 war er an der Universität forderte, weil nur sie in der Lage Identitäten und fruchtbare kulturelle Potsdam für den Aufbau der Sozialwissen- sei, in der Liga der Weltmetropolen Synthesen entstehen können. Die schaften verantwortlich. Dafür zeichnete ihn mitzuspielen. Die Ruhrgebietsstädte Entwicklung würde also, selbst wenn die Fakultät 1994 mit der Ehrendoktorwürde aus. 1995 übernahm Rohe den Vorsitz in der stünden deshalb vor der Alternative, sie auf die Dauer weg vom Ruhr- Deutschen Gesellschaft für Politikwissen- entweder eine Ansammlung provin- gebiet führen würde, doch durch schaft. Von 1996 bis zum Januar 2000 war zieller Industriestandorte zu bleiben, das Ruhrgebiet gehen müssen. So Rohe Rektor der Universität Essen. In seiner Forschungstätigkeit beschäftigt sich oder aber durch ein dauerhaftes gesehen ist eine bewusste Pflege der Karl Rohe vor allem mit dem politischen Städtebündnis mit den rheinischen Ruhrgebietskultur, wie sie in den System Großbritanniens, der politischen Städten in der Weltliga zu spielen. letzten Jahren in Gang gekommen Gesellschaft des Ruhrgebiets, der Parteienfor- schung und der Politischen Kulturforschung. Vielleicht könnte sich auch mit ist, nicht zuletzt durch ein Projekt einem solchen Projekt, das die Kapa- wie Historama, auch für eine eventu- zitäten des klassischen Ruhrgebiets elle territoriale Neugestaltung dieses überfordern dürfte, die Vision ver- Raumes nicht kontraproduktiv, binden, den Raum zwischen Dort- sondern geradezu eine ihrer Ermög- mund und Bonn, die Kernlandschaft lichungsvoraussetzungen; unter einer der alten Bundesrepublik, als Gegen- Bedingung: dass sie offen bleibt und gewicht zum neuen Gravitations- den Blick für veränderte und sich zentrum Berlin aufzubauen und mit verändernde Wirklichkeiten nicht entsprechenden identitätsstiftenden verliert. Geschähe das, würde man Symbolen zu versehen. mit veränderter Stoßrichtung einen Falls man solche regionalen „Fehler“ der „Großväter“ wieder- Entwicklungen für möglich und für holen, nämlich sich unverdrossen 134 ESSENER UNIKATE 19/2002 135 Zeichnung: Katrin Schmuck

Tetraeder in Bottrop. 136 HINWEISE

Die ESSENER UNIKATE ihren Originalbeiträgen und -berichten. Die auf jeweils ein Fachgebiet oder ein interdiszi- Ausgaben orientieren sich dabei an den Her- plinär ausgeleuchtetes Thema können wissen- Seit 1992 verfolgt die Universität Essen das ausforderungen, vor denen einzelne Fächer schaftliche Sachverhalte breiter dargestellt Konzept, die Öffentlichkeit mit der Heraus- gegenwärtig stehen, wie auch an aktuellen und komplexe Zusammenhänge fächerüber- gabe der ESSENER UNIKATE tiefergehend wissenschaftlichen Zeitfragen, zu denen eine greifend verständlich erläutert werden. über die an der Hochschule erzielten Ergeb- Universität insgesamt und nicht zuletzt auf Die ESSENER UNIKATE werden vom nisse in Forschung und Lehre zu informieren. Grund ihres öffentlichen Auftrags Stellung Rektorat der Universität Essen in einer Aufla- In einer Zeit, in der sich Wissenschaft wie beziehen sollte. ge von derzeit 4.000 Exemplaren herausge- auch akademisch interessierte Leserschaft Die ESSENER UNIKATE erscheinen geben. Ansprechpartner für alle redaktionel- in hohem Maße ausdifferenziert haben, soll ausschließlich in Form von Themenheften; len Belange sowie für Vertrieb und Anzei- dieses Magazin für Wissenstransfer die an der bisher hat sich die Reihe u. a. mit der Krebs- genverwaltung ist die FET - Zentralstelle Universität Essen erarbeiteten Informationen behandlung, den Entwicklungen im Kommu- für Forschungs- und Entwicklungstransfer in differenzierter Weise widerspiegeln und nikations- und Industrial Design, den globa- der Universität. Das Magazin ist zum Preis – klassisch aufbereitet – der Öffentlichkeit len ökologischen Risiken, dem Kräfteverhält- von 7,50 Euro im Buchhandel erhältlich. themenzentriert und verständlich zur Verfü- nis zwischen Bildung und Wissenschaft, der Im Abonnement (zwei Ausgaben pro Jahr, gung stellen. Chaosphysik, den Materialwissenschaften und 12,50 Euro) sind die ESSENER UNIKATE Im Mittelpunkt jeder Ausgabe stehen die der sich herausbildenden europäischen Gesell- über die Heinrich-Heine-Buchhandlung, Wissenschaftler der Universität Essen mit schaft beschäftigt. Durch die Konzentration Viehofer Platz 8, 45127 Essen zu beziehen.

Bisher erschienen: ESSENER UNIKATE Ausgaben 1992 bis 2002

1 Medizin 10 Medizin 16 Erfahrung Krebsforschung (1992). Federführung: 25 Jahre Transplantationsmedizin in Essen Über den wissenschaftlichen Umgang mit Manfred F. Rajewsky. 69 Seiten (vergr.). (1998). Federführung: Friedrich W. Eigler. einem Begriff (2001). Federführung: Paul ISBN 3–934359–01–9 113 Seiten. Münch. 104 Seiten. ISBN 3–934359–10–8 ISBN 3–934359–16–7 2/3 Kommunikation Design (1993). Federführung: Vilim Vasata. 11 Naturwissenschaften 17 Design & Neue Medien Physik: Unordnung und Selbstähnlichkeit Kommunikationsgestaltung für eine global 121 Seiten. (1999). Federführung: Fritz Haake. 108 Seiten. vernetzte Gesellschaft (2002). Federführung: ISBN 3–934359–02–7 ISBN 3–934359–11–6 Norbert Bolz. 100 Seiten. 4/5 Naturwissenschaft 12 Wirtschaft ISBN 3–934359–17–5 Umweltforschung: Globale Risiken (1994). Die Europäische Union im Zeichen des Euro 18 Wirtschaftsinformatik Federführung: Günter Schmid. 117 Seiten. (1999). Federführung: Dieter Schmitt. 120 Wissensmanagement und E-Services (2002). ISBN 3–934359–04–3 Seiten. Federführung: Heimo H. Adelsberger. ISBN 3–934359–12–4 88 Seiten. 6/7 Geisteswissenschaft 13 Materialwissenschaft ISBN 3–934359–18–3 Fremdsein: Historische Erfahrungen (1995). Grundlagen für die Technik der Zukunft Federführung: Paul Münch. 173 Seiten. (2000). Federführung: Günter Schmid. 130 ISBN 3–934359–06–X Seiten. ISBN 3–934359–13–2 8 Geisteswissenschaft 20 Jahre “poet in residence” (1996). 14 Europäische Gesellschaft Federführung: Jürgen Manthey. 90 Seiten. Annäherung an einen Begriff (2000). Feder- ISBN 3–934359–08–6 führung: Wilfried Loth. 96 Seiten. In Vorbereitung ISBN 3–934359–14–0 9 Bildung durch Wissenschaft? 15 Klinische Onkologie 20 Herz- und Kreislaufmedizin Ein Kolloquium (1997). Federführung: Justus Fortschritte in der Tumorbekämpfung (2001). Experimentelle und klinische Kardiologie Cobet, Klaus Klemm. 137 Seiten (vergr.). Federführung: Herbert Rübben. 56 Seiten. (2003). Federführung: Gerd Heusch. ISBN 3–934359–09–4 ISBN 3–934359–15–9 ISBN 3–934359–20–5 136 INSERENTEN ABONNEMENT

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ESSENER UNIKATE Federführender Autor der Ausgabe 19: Einzelverkaufspreis (Buchhandel): 7,50 Euro Prof. Dr. Wilfried Loth Abonnement (2 Hefte/Jahr, inkl. Versand): Herausgegeben mindestens zweimal jährlich vom Koordination: Dr. Ali-Akbar Pourzal (verantw.) 12,50 Euro Rektorat der Universität Essen, 45117 Essen. Redaktion: Barbara Bigge, Carsten Sohn Die ESSENER UNIKATE finden Sie im Internet Korrektorat: Susanne Rauschen unter: Layout: Katrin Schmuck Grafik: Barbara Bigge, Katrin Schmuck, www.uni-essen.de/unikate Auflage: 4.000 Carsten Sohn Redaktions- und Verlagsanschrift: Gestaltungskonzept: Prof. Vilim Vasata ESSENER UNIKATE Fotografie und Bildbearbeitung: André Zelck, Universität Essen / Wissenschaftsverlag Bullmannaue 13, 45327 Essen FET - Zentralstelle für Forschungs- und Druck: DZS Druckzentrum GmbH Entwicklungstransfer und Wissenschaftliche Bamler Str. 20, 45141 Essen Gedruckt auf chlorfreiem Papier. Nachdruck und Weiterbildung, 45117 Essen. Anzeigenverwaltung: Vera Dietrich-Baumann Reproduktion von Text, Fotos und Grafiken nur Tel.: 02 01/1 83–22 23/–39 83/–32 54, Universität Essen, FET - Zentralstelle für nach Abstimmung mit der Redaktion. Die Redak- Fax: 02 01/1 83–21 34; Forschungs- und Entwicklungstransfer und tion bemüht sich regelmäßig, die Rechteinhaber von E-Mail: [email protected] Wissenschaftliche Weiterbildung, 45117 Essen; veröffentlichten, jedoch nicht selbsterstellten Bild- Wissenschaftlicher Beirat: Tel.: 02 01/1 83–22 23; Fax: 02 01/1 83–21 34; und Grafikbeiträgen zu ermitteln und die Rechte Prof. Dr. Norbert Bolz, Prof. Dr. Fritz Haake, E-Mail: [email protected] abzugelten. Bei nicht zu ermittelnden oder inkorrekt Prof. Dr. Wilfried Loth, Prof. Dr. Klaus Mann, Buchhandels- und Abonnementvertrieb: angegebenen Nachweisen bitten wir um Nachsicht. Dr. Ali-Akbar Pourzal, Prof. Dr.-Ing. Werner Heinrich-Heine-Buchhandlung, Viehofer Platz 8, Alle Rechte vorbehalten. Richwien, Prof. Dr. Günter Schmid, Prof. Dr. Dieter 45127 Essen; Tel.: 02 01/820 70–0; Fax: 820 70–15; ISBN 3–934359–19–1 Schmitt, Prof. Dr. Elke Winterhager. E-Mail: [email protected] ISSN 0944–6060 © Universität Essen