Sport

SKISPRINGEN Das Leben der Papiermänner Das Publikum bewundert ihren Mut, die Kunst, durch die Luft zu segeln. Skispringer führen ein Dasein abseits jeder Norm. Sie sind Grenzgänger, die hart trainieren und wenig essen, weil man leicht sein muss, um weit zu fliegen. Manche Sieger hat der Sport am Ende kaputtgemacht.

Gregor Schlierenzauer, Im Januar nahm sein deutscher Kollege Er ist ein Sportler, der keine Zweifel hat. 20, ist auf Durchreise in , 32, eine Auszeit vom Auch nicht, wenn er sich im Spiegel be- , in einer Wo- Wettkampfzirkus. Sein Teamarzt hatte trachtet. Schlierenzauer wiegt 58 Kilogramm che beginnen die Olym- ein „schleichendes Erschöpfungssyndrom“ bei einer Körpergröße von 1,78 Meter. pischen Winterspiele in diagnostiziert. Er fühle sich wie ein al- Skispringer leben auf einem eigenen . Er trägt eine ter Mann, erklärte Schmitt, „müde und Planeten. In Österreich wird gerade die grüne Cordhose, eng an- schlapp“. Das komme von den ständi- schillernde Seite ihrer Welt sichtbar. Das liegend, Haarsträhnen gen Diäten, die ein Skispringer einhalten Land erlebt einen Skisprungboom. Mit be- fallen ihm ins Gesicht. müsse. geisterten Fans in den Stadien, Sponso- Der Österreicher ist Skiflug-Doppelwelt- Schlierenzauer zuckt mit den Schultern. ren, die Millionen bezahlen, hysterischen meister und gehört zu den Favoriten für „Ich verstehe Martin Schmitts Problem Mädchen hinter Absperrzäunen, Rekord- eine Goldmedaille bei Olympia. Er sitzt nicht. Seit ich denken kann, verhalte ich TV-Quoten. kerzengerade auf dem Stuhl, ein junger, mich wie ein Profi“, sagt Schlierenzauer. In Deutschland gab es diese Euphorie selbstbewusster Mann. Wenig essen gehöre eben dazu. vor zehn Jahren auch mal. Ausgelöst wur- Schlierenzauer sagt: „Ich de sie durch kann mir nicht vorstellen, ei- und Martin Schmitt. Sie wa- nen Wettkampf nicht zu ge- ren die Könige des Winter- winnen.“ Er pustet eine Haar- sports, wurden inszeniert wie strähne zurecht. Popstars. Sie waren sich da- Die österreichischen Ski- mals auch sicher, dass alles, springer gelten als die besten was sie für den Erfolg taten, der Welt. Der Tiroler Andreas richtig war. Kofler gewann dieses Jahr die Der Boom ist vorbei. Die Vierschanzentournee. Gregor „Super-Adler“ gibt es nicht Schlierenzauer ist eines der mehr. In Deutschland kann größten Sportidole in seiner man jetzt besichtigen, was Heimat. Im vergangenen Jahr bleibt, wenn der Rausch vor- gewann er den Weltcup. Es über ist. gibt Bilder von ihm inmit- Die Glastür des Nobelre- ten kreischender Teenager. Es staurants Brenner in der Ma- läuft gut für ihn. ximilianstraße in München fliegt auf. Ein modisch geklei-

* Links: im türkischen Belek im Oktober (R.) (L.); QUIRIN LEPPERT MINKOFF SAMMY deter Mann mit Wollmütze 2002; rechts: Hannawald 2010. Teamgefährten Schmitt, Hannawald*: „Das System ist krank“ und Schal tritt ein. Er hat

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CHRISTOF STACHE / AP leuchtende blaue Augen, lächelt, flüstert Sven Hannawald mit seiner Freundin Ma- nur die Fähigkeit, Ski zu laufen, sondern dem Kellner etwas ins Ohr, der Kellner rie-Therese in München. auch einen gut funktionierenden Stoff- flüstert zurück. Der Laden ist knallvoll, Er sieht gut aus, gesund. Er sagt: Schritt wechsel. Bereits im Alter von neun Jahren aber der Mann bekommt in seinem für Schritt beginne er, das Leben „zu ge- werden beim Skisprungnachwuchs nicht Stammlokal trotzdem einen der guten nießen“. Nur manchmal, erzählt er, sage nur technische Fertigkeiten überprüft, es Plätze direkt am Grill. Er streift die Dau- seine Freundin noch: „Sven, du darfst ru- wird auch auf die Fettverbrennung ge- nenjacke ab und bestellt – den Fisch des hig genauso ausgelassen wie alle anderen schaut. Kinder mit einem hohen Körper- Tages, eine große Gemüseplatte und ei- lachen, lass dich fallen.“ fettanteil haben keine Chance. nen gemischten Salat. Hannawald glaubt, dass sein Absturz In Skiinternaten wie in oder Sven Hannawald hat Hunger. vorhersehbar gewesen sei. Er sagt: „Heu- im österreichischen Stams werden aus den Hannawald, 35, gewann 2001/02 bei der te weiß ich, dass das System krank ist. Es Talenten jene Papiermänner geformt, die Vierschanzentournee alle Springen. Eine hat mich angesteckt.“ im Weltcup wie Modellflieger durch die Sensation, ein bis heute gültiger Rekord. Skispringen ist ein faszinierender Sport. Luft segeln. Es sind dünne Kerle, die ge- Er begann seine Karriere als Jugendlicher, Es geht ums Fliegen. Es gehört Mut dazu, lernt haben, sich beim Essen zu beherr- so wie Schlierenzauer. Seine Fans nann- die gewaltige Schanze herunterzufahren. schen, ihr Leben wird bestimmt von den ten ihn „Hanni“. Er war ein Grenzgänger. Um richtig weit zu kommen, muss ein Uni- Leistungen auf der Schanze, den Werten Es gibt Urlaubsbilder von Hannawald, versum aus Parametern zusammenspielen, auf der Fettwaage. man sieht ihn vor Wasserfällen und am das Material, die Technik, die Athletik, das Es gibt Skispringer, die mit diesem Le- Strand, abgemagert, ausgemergelt. Ein Gewicht. ben klarkommen. Man gewöhnt sich daran, dünner junger Mann, dem man wünscht, Skispringer führen deshalb ein Leben öfter mal Hunger zu haben. Die ständige er würde sich abends mal ein dickes Steak außerhalb jeder Norm. Ihr Körper muss Kontrolle des Gewichts in Verbindung mit gönnen. leicht sein, um weit zu fliegen, aber stark strengen Diäten nimmt manchen jedoch Als er im Februar 2004 beim Weltcup in genug, um der Trainingsbelastung stand- jeglichen Sinn für Genuss. Und einige ver- Park City das letzte Mal oben auf dem zuhalten. Sie bewegen sich ständig an einer lieren dann auch das Gespür für das rich- Schanzentisch auf die Startfreigabe warte- kritischen Grenze. Teilt man das Körper- tige Maß. te, war er 15 Kilogramm leichter als heute. gewicht eines Springers durch die Körper- Sven Hannawald erging es so. Er woll- Nach seiner Rückkehr aus Amerika ließ er größe zum Quadrat, dann muss, so lautet te immer leichter werden, um noch weiter sich wegen eines Burn-out-Syndroms in eine Regel im Skisprung, mindestens ein fliegen zu können. Er habe kein „Früh- eine Spezialklinik einweisen, wurde the- Wert von 18,5 herauskommen, das ist der warnsystem“ entwickelt, das ihn bremste, rapiert, beendete seine Karriere und zog Body-Mass-Index. Ab 18,5 sprechen Ärzte sagt er. Es gab aber auch keinen Trainer, nach Berlin zu seiner Freundin. 2006 wur- von Untergewicht. der ihn aufhielt. de Sohn Matteo geboren. Nach zwei Jah- Zum Skisprungstar muss man geboren „Als Skispringer bereitet man sich das ren trennte er sich von seiner Freundin, sein. Hat man das Glück, in der Nähe einer ganze Jahr auf einen Saisonhöhepunkt vor, zog zurück zu seinen Eltern. Heute lebt Schanze aufzuwachsen, braucht man nicht wie ein Rennpferd wird man auf die Vier-

der spiegel 6/2010 113 „Manche denken, sie seien in ihrer Welt über alles erhaben. Leben die Jungs ihren Status erst mal, kriegt man sie da nicht mehr runter“, sagt Innauer. Es wäre die Aufgabe der Trainer, der Funktionäre, Grenzgänger zu stoppen. Andererseits will jeder Verband Medail- len gewinnen. Also unternimmt man ei- ne Gratwanderung. „Man kann doch kei- nem talentierten Springer befehlen, die gerade begonnene Karriere zu beenden, weil angeblich seine Persönlichkeit nicht für den Leistungssport gemacht ist“, sagt Innauer. Seit einigen Jahren ist es Standard, dass Skispringer auch von Psychologen und Mentaltrainern betreut werden. Deren Job ist es aber nicht, Sportler zu bremsen, son- dern sie noch besser zu machen. Für die deutschen Skispringer ist der Heidelberger Sportpsychologe Jan Mayer zuständig. Er coacht auch die U-21 der deutschen Fußballnationalmannschaft. Mayer zeigt Sportlern, die an der Leis- tungsgrenze stehen, Wege auf, noch mehr aus sich herauszuholen. Er justiert nach für den Sprung in den Extrembereich. So gewinnt man heute Gold. „Machen wir uns doch nichts vor, ein Leben als Leistungssportler ist außerhalb jeglicher Normalität“, sagt Mayer. Er sei „kein Psychotherapeut“. Seine Aufgabe sei das mentale Training, nicht die Diagnose oder Therapie einer psychi- schen Erkrankung. Natürlich versuche er zu beobachten, wann Athleten überfordert sind. Aber es sei schwierig. Manche Leis-

AKP / PIXATHLON tungssportler, sagt Mayer, „kaschieren er- Olympiafavorit Schlierenzauer: Ein Sportler, der keine Zweifel hat folgreich ihre Probleme“. Martin Schmitt sitzt in einem Ohrenses- schanzentournee hingetrimmt“, sagt Han- 1500 Kilokalorien am Tag. Zum Frühstück sel aus Leder. Der Sessel scheint seinen nawald. „Gelingt es, die Leistung bei mi- aß Ahonen Müsli mit fettfreiem Joghurt Körper zu verschlucken. Sein Gesicht ist nimalem Gewicht und maximaler Konzen- oder Quark, mittags nichts und abends mager, man muss darauf achten, es nicht tration abzurufen, fällt man nach dem noch eine kleine Portion Müsli. Dazu trank ständig ungläubig anzustarren. Schmitt Wettkampf vor Anstrengung und Überbe- er nur Kaffee und einen Energy-Drink. So kennt die Blicke, er lächelt verständnisvoll. lastung in ein seelisches und körperliches habe er sein Gewicht noch rechtzeitig vor Schmitt war das Gesicht des deutschen Loch. Schafft man es nicht, wird aus dem der Saison von 72 auf 65 Kilo reduziert. Skisprungbooms. Ein Mädchenschwarm, Loch ein Krater.“ Ahonen ist 1,84 Meter groß. „Ich bin wie ein Quotengarant für den Sender RTL, der Experten sagen, jeder Sport verlange ein Zombie meinem Sohn hinterherge- Skispringen mit dem Slogan „Die Formel 1 Athleten eine spezielle Härte ab. Bei Ski- rannt“, sagt Ahonen. des Winters“ zum Massenspektakel mach- springern sei es nun mal dieser unge- Seit drei Jahren wird Österreich als te. Günther Jauch war damals der Mode- wöhnliche Spagat zwischen Athletik und das neue Musterland des Skisprungs be- rator. Es war eine wilde Zeit. 48,5 Mil- Gewicht. Wenn alles kontrolliert ablaufe, wundert. Die Nachwuchsarbeit gilt als vor- lionen Mark zahlte RTL für die Fernseh- gebe es kein Risiko. bildlich, wie einst in Deutschland. Die rechte, die Zuschauer waren wie benebelt. Aber ist es wirklich normal, als Leis- Athleten werden für ihre gute Ausbildung „Da standen Leute acht Stunden vor Be- tungssportler zu hungern? Ist es normal und perfekte Technik gerühmt. Toni ginn des Springens in eine Windel gehüllt, für einen Athleten, wie ein Model nur an Innauer ist der Skisprungdirektor des nur um ihren Platz nicht zu verlieren“, die nächste Diät zu denken? Ist es ver- Österreichischen Skiverbands. Er wur- sagt Jauch. nünftig, wegen des Hungergefühls nachts de 1980 Olympiasieger, nach seiner Kar- Als der Boom vorbei war, dachte man, nicht schlafen zu können und dann tags- riere studierte er Philosophie, Psycholo- Schmitt werde aufhören. Aber er machte über wegen der Müdigkeit antriebslos zu gie und Sportwissenschaften. Sein Sohn immer weiter, auch als er schon nicht mehr sein? Mario hat es kürzlich beim Weltcup-Sprin- zur Weltspitze gehörte. , der erfolgreichste Ski- gen in Innsbruck unter die besten zehn Vor gut vier Wochen diagnostizierten springer des vergangenen Jahrzehnts, be- geschafft. die Ärzte bei Schmitt das schleichende Er- schreibt in seiner Biografie „Königsadler“, Innauer könnte stolz sein. Aber er wirkt schöpfungssyndrom, er nahm eine Auszeit. wie er sich manchmal wochenlang von 200 nachdenklich, wenn er über das Ski- „Das habe ich viel zu selten gemacht“, sagt Kilokalorien am Tag ernährte. Der durch- sprungwunder in seinem Land spricht, Schmitt, „ich konnte nach der Vierschan- schnittliche Bedarf eines Mannes ohne kör- über junge Helden wie Schlierenzauer. Er zentournee im Januar einfach nicht mehr. perliche Betätigung liegt bei mindestens kennt die Gefahren. Eigentlich habe ich schon beim ersten

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Sprung gemerkt, dass mein Körper zu schwach für diese Belastung ist.“ Schmitt hat eine Erklärung für seine Mü- SNOWBOARDING digkeit. Er sagt, er habe sich verkalkuliert und „übertrainiert“. Aus Angst, die gute Form der vergangenen Saison zu verlie- König der Schneekinder ren, habe er im Frühling 2009 durchtrai- niert, statt zu regenerieren. Die Folge sei Shaun White ist der meistgehasste Athlet der Winterspiele. Er hat gewesen, dass sich sein Körper die nötige Energie, die er für die Dauerbelastung seinen Sport an die Grenzen dessen getrieben, was Körper benötigte, aus dem Eiweiß zog, aus dem aushalten – die Rivalen bezahlen den Preis. Von Klaus Brinkbäumer die Muskeln aufgebaut sind. Er habe somit beim Training Muskelmasse verloren, an- statt Fettreserven abzubauen, erläutert Schmitt. Irgendwann war er einfach nur noch platt. Die Erklärung klingt irgendwie schlüssig. Als Schmitt fertig ist, erzählt er dann aber noch eine andere Geschichte. „Es fällt mir schwer, das Gewicht, das ich beim Ausspannen zunehme, wieder ab- zunehmen“, sagt Schmitt. Früher hat er das Problem gelöst, indem er so gut wie nichts zu sich nahm. Vorigen Frühling machte er es anders, er trainierte durch, um gar nicht erst zuzunehmen. Er wollte sich die Radikaldiät ersparen. Schmitt sagt, dass er ständig über Essen nachdenke. Vor allem darüber, eventuell zu viel zu essen. Das mache ihn manchmal verrückt. „Wenn ich ehrlich bin, verfolgt mich dieser Gedanke jeden Tag“, sagt er. Er befindet sich seit Jahren im Krieg gegen den eigenen Körper. An diesem zerrenden Kampf liege es, glaubt Schmitt, dass er sei- ne Leistungsfähigkeit oft nicht mehr voll ausschöpfen könne. „Aber so ist das nun mal in diesem Sys- tem“, sagt Schmitt. Sven Hannawald hat das System verlas- sen, als er so krank war, dass es für ihn nicht mehr weiterging. Schmitt springt und springt. Vorige Woche wurde er 13. beim Wettkampf in , dem ersten nach seiner Auszeit. Am Freitag werden die Olympischen Spiele in Vancouver eröffnet. Er wiegt bereits 63 Kilogramm bei 1,82 Meter Körpergröße, er will auf 62,5 Kilo runterkommen. Warum macht er immer weiter? Schmitt zuckt mit den Schultern. „Ken- nen Sie das Gefühl, beim Start in den Sitz des Flugzeugs gepresst zu werden? Genau

so fühlt sich jeder neue Sprung von der / CORBIS OUTLINE KEVIN ZACHER Schanze an. Ich liebe meinen Sport. Ski- Snowboard-Profi White: „Ich habe ganze Tonnen von Freunden“ springen ist mein Leben.“ sitzt im Gasthof anchmal dauert es eine Weile, bis Kevin Pearce ist Shaun Whites Rivale, in Innsbruck. Er könnte Schlüsse ziehen angemessene Worte sich einstel- oder er war Shaun Whites Rivale, bis vor aus den Geschichten von Hannawald und Mlen, die diplomatischen, die höfli- fünf Wochen. Am 31. Dezember probierte Schmitt. Aber er ist noch sehr jung, bald chen Worte, meistens sind ja die schnellen Pearce einen Sprung, den White eingeführt vielleicht Olympiasieger, er hält sich für und spontanen Worte die ehrlichen. Auch hatte, den Double Cork; wer Gold in Van- unverletzbar. wenn sie schmerzen. couver gewinnen will, braucht den Double Er fährt mit der Hand über die Brust, „Kevin Pearce war ein begabter Fahrer“, Cork. um zu prüfen, ob die drei Werbebuttons, sagt Shaun White, das sind seine sponta- Kevin Pearce liegt nun im Krankenhaus, die er vor dem Gespräch noch schnell auf- nen Worte, Sekunden später sagt er: „Wir mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma, aus geklebt hat, richtig sitzen. Er ist ein Mus- alle müssen halt im Rahmen unserer Fähig- dem Koma zwar erwacht, doch wahr- terschüler. Er sagt: „Mental gibt es nichts keiten fahren.“ scheinlich wird er nie wieder Snowboard mehr zu verbessern. Da bin ich topfit. Er grinst. Es ist jetzt still im Kaminzim- fahren und womöglich behindert bleiben. Dafür bin ich bekannt.“ Cathrin Gilbert mer. Es dauert ein wenig, aber Shaun White

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