201503_Umschlag_außen.indd 5 Chantal Mouffe Linke echte die und Politik Radikale Barlow Maude Wüste als Welt Die Thomas Piketty im 21. Jahrhundert? Das Ende des Kapitalismus 12’14 Muraca Barbara als konkrete Utopie Degrowth Cockburn Andrew West gegen Ost on: Game Johano Strasser uns unter sind Die Barbaren 2’15

Hans-Jürgen Urban Der Rentner als Retter? Alter: im Flexibel Jaron Lanier Entrechtung die digitale Wider Michael Brie des Parteikommunismus Die Tragödie 11’14 Amirpur Katajun gleich Gewalt? Burckhardt Gisela &Co. Boss Primark, Ohne Skrupel: Sven Beckert der Baumwolle Imperium Das 1’15

Blätter 3’15 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € des Kapitalismus des Wolfgang Streeck nonkonformen Antje Schrupp Antje Feminismus Das Ende Ende Das Für einen internationale deutsche und Blätter für Politik Hans Misselwitz Hans Friedenauf inEuropa 1990: Chance Die vertane Wagner Thomas VormarschDer Robokraten der Oliver Nachtwey Pegida Syndrom autoritäre das oder Bonse Eric deutsch tickt Europa Brock Lothar Die Beharrlichkeit desKrieges Napoleoni Loretta islamistischeDer Phönix 3’15 17.02.15 12:20 Autorinnen und Autoren dieses Heftes

Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Eric Bonse, geb. 1960 in Düsseldorf, Oliver Nachtwey, geb. 1975 in Unna, Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Politikwissenschaftler und Journalist Dr. phil., Politikwissenschaftler und Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power in Brüssel, u.a. für die „tageszeitung“, Soziologe, wiss. Mitarbeiter am Ins- Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl bloggt unter www.lostineu.eu. titut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt. Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß Lothar Brock, geb. 1939 in Lauen- Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester burg/Pommern, Professor em. für Poli- Loretta Napoleoni, geb. 1955 in Rom, Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor tikwissenschaften an der Universität Ökonomin und Journalistin. Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan Frankfurt a. M., Gastprofessor an der Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann Hessischen Stiftung Friedens- und Antje Schrupp, geb 1964 in Weilburg, Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma Konfliktforschung (HSFK). Dr. phil., Politikwissenschaftlerin, Pu- Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich blizistin und Journalistin, bloggt unter Walter Kreck Helmut Ridder Wolfgang Ehmke, geb. 1947 in Gartow, www.antjeschrupp.com. Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling Oberstudienrat, Publizist und lang- Paul Krugman Romani Rose jähriger Sprecher der Bürgerinitiative Joseph E. Stiglitz, geb. 1943 in India- In den „Blättern“ Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. na/USA, Professor für Wirtschafts- Adam Krzeminski Rossana Rossandra wissenschaften an der Columbia Uni- schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer Achim Engelberg, geb. 1965 in Berlin, versity in New York City, Wirtschafts- Jürgen Kuczynski Irene Runge Dr. phil., Historiker, Journalist und nobelpreisträger des Jahres 2001. Charles A. Kupchan Bertrand Russell Buchautor. Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto Wolfgang Streeck, geb. 1946 in Len- Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen Heiko Flottau, geb. 1939 in Wernige- gerich, Prof. Dr. Dr. h.c., Soziologe und Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf rode, Politikwissenschaftler, langjäh- Direktor em. am Max-Planck-Institut Ulrich Beck Sven Giegold Gideon Levy Hermann Scheer riger Nahost-Korrespondent der „Süd- für Gesellschaftsforschung in Köln. Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl deutschen Zeitung“, lebt in Berlin. Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Axel Troost, geb. 1954 in Hagen, Dr. Patrick Hönig, geb. 1966 in Köln, Dr. rer. pol., Volkswirt, MdB (Die Linke), Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer iur., Rechtsanwalt in Köln. Mitglied der Arbeitsgruppe Alterna- Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann tive Wirtschaftspolitik und Sprecher Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan Werner Koep-Kerstin, geb. 1944 in des Instituts Solidarische Moderne. E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Waldbröl, Politikwissenschaftler und Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett Historiker, ehem. Referatsleiter im Maja Volland, geb. 1982 in Bagdad, Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva Bundespresseamt, jetzt Bundesvorsit- Politikwissenschaftlerin, wiss. Mit- Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel zender der Humanistischen Union. arbeiterin beim Bund für Umwelt und Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer Naturschutz Deutschland e.V. Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka Martin Kutscha, geb. 1948 in Bremen, Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern Dr. iur, Professor em. für Staatsrecht Thomas Wagner, geb. 1967 in Rhein- in Berlin, Vorstandsmitglied der deut- berg, Dr. phil., Soziologe, Literatur- Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz schen Sektion der IALANA sowie der redakteur der „Jungen Welt“. Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby Humanistischen Union. Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd Marianne Zepp, geb. in Rockenhau- Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- sen, Dr. phil., Historikerin, Programm- Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin gelheim am Rhein, Jurist und Politik- direktorin für deutsch-israelischen György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Dialog im Israelbüro der Heinrich- Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal Böll-Stiftung in Tel Aviv. Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein Hans Misselwitz, geb. 1950 in Alten- Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter burg, Dr. rer. nat., Biologe, Bürgerrecht- Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler ler, ab März 1990 parlamentarischer Staatssekretär im DDR-Außenministe- Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker rium, bis März 2015 im Referat Grund- Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer satzfragen beim SPD-Parteivorstand. Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will Nina Müller, geb. 1985 in Koblenz, Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf Ethnologin, wiss. Mitarbeiterin und Erhard Eppler Lamya Kaddor Claus Offe Jean Ziegler Stipendiatin an der Hessischen Stif- Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann tung Friedens- und Konfliktforschung Iring Fetscher Petra Kelly Valentino Parlato Moshe Zuckermann (HSFK). Joschka Fischer Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere. Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage des Bund Verlags. Wir bitten um freund- liche Beachtung.

201503_Umschlag_innen.indd 116 17.02.15 12:21 Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 60. Jahrgang Heft 3/2015

Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

Blätter201503.indb 1 18.02.15 10:09 INHALT KOMMENTARE UND BERICHTE 3’15 5 Europa tickt deutsch Eric Bonse

9 Israel: Alles außer Bibi Marianne Zepp

13 Nahost: Der unlösbare Knoten Heiko Flottau

17 Nigeria: Von Boko Haram zum Staatsversagen Nina Müller

21 Verfolgt, aber kämpferisch: Sexuelle Minderheiten in Afrika Patrick Hönig

25 TTIP: Politik gegen den Bürger REDAKTION Maja Volland Anne Britt Arps Daniel Leisegang 29 Atom: Und täglich Albrecht von Lucke grüßt das Restrisiko Annett Mängel Wolfgang Ehmke

BESTELLSERVICE DEBATTE Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] 33 Aus Bündnispflicht zur Kriegsbeteiligung? ANZEIGEN Werner Koep-Kerstin und Tel: 030 / 3088 - 3646 Martin Kutscha E-Mail: [email protected] 37 Rot-Rot-Grün: WEBSITE Aufbruch ohne Denkverbote www.blaetter.de Axel Troost

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 2 18.02.15 10:09 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

45 Der islamistische Phönix Vom Krieg gegen den Terror zum Terror-Kalifat Loretta Napoleoni

57 Die Beharrlichkeit des Krieges Gewalt und Gegengewalt seit dem Ende der Bipolarität Lothar Brock

69 Die offenen Fenster von 1990 Die deutsche Einheit und die vertane Chance auf Frieden in Europa Hans Misselwitz

81 Rechte Wutbürger Pegida oder das autoritäre Syndrom Oliver Nachtwey AUFGESPIESST

91 Raus aus der Defensive 68 Klatsche für Lucke Für einen nonkonformen Feminismus Albrecht von Lucke Antje Schrupp BUCH DES MONATS 99 Wie wird der Kapitalismus enden? 121 Die zarenlose, Wolfgang Streeck die schreckliche Zeit? Achim Engelberg 112 Der Vormarsch der Robokraten Silicon Valley und die Selbstabschaffung EXTRAS des Menschen Thomas Wagner 43 Kurzgefasst 124 Dokumente KOLUMNE 125 Chronik des Monats Januar 2015 41 Griechenland 128 Zurückgeblättert im Schuldgefängnis 128 Impressum und Joseph E. Stiglitz Autoren

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 3 18.02.15 10:09 Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 4 18.02.15 10:09 KOMMENTARE UND BERICHTE

Eric Bonse Europa tickt deutsch

Eine derartige Präsenz hat die Bun- Wachstum noch Stabilität gebracht. Sie deskanzlerin in den bald zehn Jahren tragen daher auch den Keim des Wi- ihrer Regentschaft noch nicht erlebt: derspruchs und des Scheiterns in sich. erst ihr engagierter Versuch der Beile- gung der Ukrainekrise, dann der Poker mit der neugewählten Regierung von Deutsche überall an der Spitze Alexis Tsipras um einen Schulden- nachlass und den Verbleib Griechen- Die deutsche Dominanz beginnt be- lands in der Eurozone. Kein Zweifel: reits bei der EU-Kommission. Heute Angela Merkel ist die dominierende steht der Kommissionspräsident einer Figur der Europäischen Union. Umso Behörde vor, die so deutschlastig ist, mehr taucht bei vielen Bürgern, aber wie nie zuvor. Das fängt schon bei den auch Staaten die argwöhnische Frage Kabinetten an – also in jenen politi- auf: Wer regiert heute die EU? schen Abteilungen der Brüsseler Be- Eigentlich wollte Jean-Claude Jun- hörde, in denen die EU-Gesetzgebung cker mit seiner neuen EU-Kommis- ihren Anfang nimmt. In fast allen Kabi- sion Berlin ja die Führung streitig ma- netten der 27 Fachkommissare ziehen chen. Juncker konzipierte sie bewusst mittlerweile Deutsche die Strippen. als „politische Kommission“, die vor al- 31 deutschen Beratern im „Team Jun- lem in der Wirtschaftspolitik den Ton cker“ stehen nur noch 21 Franzosen angeben soll. Mit der Ankündigung und 18 Briten gegenüber. Aus Luxem- eines milliardenschweren Investitions- burg – immerhin Junckers Heimat – programms setzte er schon in den ers- kommen nur acht. Früher landeten die ten hundert Tagen eine erste Marke Deutschen nur auf Platz drei, hinter gegen den Merkelschen Austeritäts- Briten und Franzosen. Heute geben sie kurs. Doch so sehr Juncker seinen poli- den Ton an. tischen Gestaltungswillen betont, so Beeindruckend ist die deutsche sehr ist er sich auch der Grenzen seiner Präsenz auch bei den Kabinettschefs. Macht bewusst. Neben Juncker haben sich noch drei Denn: Brüssel wird heute stärker Kommissare (Günther Oettinger, Veˇra von deutschen Interessen und Stra- Jourová, Neven Mimica) für Deutsche tegien geprägt denn je. Weitgehend entschieden. Weitere fünf Kommissare unbemerkt von der Öffentlichkeit haben deutsche Vizechefs – darunter hat Deutschland die Schlüsselpos- Währungskommissar Pierre Mosco- ten in den EU-Institutionen erobert vici und Außenvertreterin Federica und Strukturen geprägt, die auch die Mogherini. Damit ist Berlin auch in selbstbewusste Juncker-Kommission diesen strategischen Ressorts bestens binden. Europa spricht heute nicht „vernetzt“. Zwar dienen die deutschen nur deutsch, wie CDU-General Volker Berater und Stabschefs nicht als „Statt- Kauder schon 2011 proklamierte. Es halter“ Deutschlands – dies wäre eine denkt und handelt mittlerweile auch allzu simple Sicht der Dinge. In der Re- deutsch, nach in Deutschland gepräg- gel haben sie eine europäische Karrie- ten Modellen und Regeln. Doch die- re durchlaufen und fühlen sich ihren se Regeln haben der EU bisher weder Kommissaren mehr verpflichtet als der

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 5 18.02.15 10:09 6 Kommentare und Berichte

Bundesregierung. Zu ihren Aufgaben »Alle warten darauf, gehört es jedoch auch, den Draht nach was die Deutschen sagen« Berlin zu halten – um mögliche Kon- flikte mit dem wichtigsten EU-Mit- Im Ministerrat und im Europäischen glied von vornherein zu minimieren. Rat (dem „EU-Gipfel“) gelten andere Regeln; hier gibt es keine große Koa- lition und keine deutsche Dominanz. Das Parlament der Deutschen Doch auch im „Justus Lipsius“, dem Brüsseler Ratsgebäude, gibt Berlin Ganz ähnlich sieht es in den beiden in einem Maße den Takt vor, dass es anderen großen EU-Institutionen aus, selbst deutschen Diplomaten manch- im Parlament und im Rat. Im Europa- mal unangenehm wird. „Alle warten parlament besetzen Deutsche alle darauf, was die Deutschen sagen“ – so wichtigen Schlüsselposten: Martin beschreiben Insider die Lage im Rat. Schulz (SPD) ist Parlamentspräsident, Ohne oder gar gegen Merkel gehe gar Klaus Welle (CDU) ist Generalsekre- nichts mehr. Dabei sollte doch eigent- tär und Manfred Weber (CSU) führt lich der Ratspräsident den Weg weisen. die größte und wichtigste Fraktion, Doch dazu war schon Herman Van die konservative EVP. Auch in den für Rompuy nicht in der Lage; der mitt- die EU-Gesetzgebung entscheidenden lerweile ausgeschiedene Ratspräsi- Ausschüssen geben Deutsche den Ton dent verstand sich eher als Sherpa der an. Sie führen fünf der insgesamt 20 Chefs denn selbst als ein solcher. Von Ausschüsse, so viel wie kein anderes seinem Nachfolger Donald Tusk wird EU-Land. da schon mehr erwartet; vor allem in Damit hat sich Deutschland in der der Außen- und Sicherheitspolitik will legislativen Arbeit von Kommission der Pole eigene, möglichst starke Ak- und Parlament eine herausragende zente setzen. Dass er sich mit Merkel Stellung gesichert. Gesteuert wird die anlegen wird, erwartet in Brüssel in- deutsche Mehrheit genau wie in Berlin des niemand. Schließlich war es die von einer großen Koalition, die außer deutsche Kanzlerin, die sich von An- von EVP-Chef Weber auch von Parla- fang an für Tusk stark gemacht hat. mentspräsident Schulz getragen wird. Beide verbindet nicht nur eine politi- Offiziell wird die sozialdemokratische sche Freundschaft, sondern auch eine Gruppe zwar von dem Italiener Gianni Sprache: deutsch. Tusk beherrscht Pittella geleitet; in der Praxis mischt das Deutsche besser als die in Brüssel sich Schulz aber immer wieder ein und vorherrschenden EU-Amtssprachen stellt so sicher, dass die Große Koali- Englisch und Französisch. Dies dürf- tion in Brüssel und Berlin funktioniert. te auch den Umgang mit Uwe Corse- Schulz kommt damit, genau wie pius erleichtern, dem Generalsekre- Juncker, eine wichtige Scharnier- tär des Rats. Corsepius war früher im funktion im Brüsseler Betrieb zu. Ob- Kanzleramt für die Europapolitik zu- wohl sich beide EU-Präsidenten verbal ständig und hat als erste Amtshand- gern von Kanzlerin Merkel absetzen, lung in Brüssel Merkels damals noch sind sie im politischen Alltagsgeschäft heftig umstrittenen Fiskalpakt umge- doch auch stets darauf bedacht, Rei- setzt. Seitdem läuft alles reibungslos – bungsverluste zu reduzieren und somit im deutschen Sinne. letztlich die deutsche Agenda zu be- Gut läuft auch die Zusammenarbeit dienen. Das erklärt, warum es Juncker mit anderen EU-Institutionen wie der so schwerfällt, sich politisch zu profi- Europäischen Investitionsbank (EIB) lieren und von Merkel abzusetzen. Es und dem Europäischen Stabilitätsme- erklärt aber auch, warum er (noch) so chanismus (ESM). Beide sind in Lu- großen Rückhalt in Berlin hat. xemburg ansässig und werden von

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 6 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 7

Deutschen geführt. In der EIB sorgt im Alleingang das „Casting“ zu be- der FDP-Politiker Werner Hoyer dafür, stimmen. dass das von Kommissionschef Jun- Seine besondere Wirkung entfal- cker geplante Investitionsprogramm tet dieses Casting dadurch, dass ei- nach deutschen Wünschen abgewi- nige Hauptrollen gerade nicht Deut- ckelt wird. Und im ESM wacht der schen vorbehalten sind, sondern der CDU-nahe Klaus Regling über Diszi- Bundesregierung besonders nahe- plin in den Krisenländern, also auch stehende Politiker wie Tusk oder Jun- und nicht zuletzt in Griechenland. cker. Was eigentlich eine europäische Auch bei der neuen Bankenunion Selbstverständlichkeit sein sollte, hat spielt eine Deutsche eine Hauptrolle: im „deutschen Europa“ eine entlasten- Die bisherige Präsidentin der Finanz- de Funktion: Eine allzu offensichtliche dienstleistungsaufsicht BaFin, Elke Dominanz wäre deutschen Interessen König, übernimmt die Leitung des im abträglich. Gleichzeitig sind alle EU- Krisenfall zentralen Abwicklungs-Me- Akteure – nicht nur die deutschen – in chanismus SRM. Damit werden die einen regulatorischen Rahmen einge- drei wichtigsten Institutionen zur Lö- bunden, der sie objektiv zu Schach- sung der Finanzkrise von Deutschen figuren im „deutschen Europa“ macht. gesteuert. Nur in der Europäischen Zentralbank kann sich Deutschland bisher nicht durchsetzen. Bundes- Deutsche Regeln bank-Präsident Jens Weidmann – ein ehemaliger Merkel-Berater – ist sogar Denn: Fast alle EU-Regeln der letz- in der Minderheit. ten Jahre tragen eine deutsche Hand- Aus deutscher Sicht erweist es sich schrift. Das fängt schon beim Lissabon- nun als Handicap, dass die EZB nach Vertrag an, dem bis heute gültigen Pri- dem Vorbild der Bundesbank gestal- märrecht der EU. Er wurde nach dem tet wurde – als politisch unabhängige Scheitern des Verfassungsvertrags bei und föderal organisierte Einrichtung. den Volksabstimmungen in Frank- Allerdings muss auch EZB-Präsident reich und den Niederlanden aufgelegt Mario Draghi Rücksicht auf deutsche – mit der so genannten Berliner Erklä- Befindlichkeiten nehmen. So hat er rung im Jahr 2007, unter deutschem das umstrittene neue Anleihen-Kauf- EU-Vorsitz. Er sichert Deutschland programm („Quantitative Easing“) so unter anderem ein größeres Stimm- angelegt, dass der Bundesbank da- gewicht in der EU; die früher übliche bei eine zentrale Rolle zukommt und Parität mit Frankreich oder Großbri- Deutschland zumindest nicht sofort tannien ist passé. für andere Euroländer haften muss. Im Zuge der Eurokrise wurde der Insgesamt hat es die Bundesregie- Lissabon-Vertrag um die Fiskalunion rung verstanden, sich in den EU-Insti- und um die Bankenunion ergänzt – tutionen eine zentrale Rolle zu sichern. wiederum nach deutschen Vorstel- Die alte Klage über einen „pro-franzö- lungen. Die Fiskalunion macht eine sischen Bias“ in Brüssel hat sich erle- Schuldenbremse nach deutschem Vor- digt; die deutsche Personalpolitik hat bild für alle Eurostaaten zur Pflicht, die ganze Arbeit geleistet. Fast alle stra- Bankenunion enthält weitreichende tegisch wichtigen Positionen werden Ausnahmen für deutsche Geldinstitu- heute von Deutschen besetzt, was ver- te. Auch der Euro-Rettungsfonds ESM ständlicherweise nicht überall auf Be- wurde weitgehend nach deutschen geisterung stößt. Der britische „Eco- Vorgaben ausgestaltet. Die „Feuer- nomist“ machte sich über die „teuto- kraft“ wurde begrenzt und die Inan- nische Union“ lustig und die franzö- spruchnahme an strikte Bedingungen sische „Libération“ warf Merkel vor, geknüpft.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 7 18.02.15 10:09 8 Kommentare und Berichte

Schließlich machte sich die Bundesre- ben keine deutschen Namen und kei- gierung für eine restriktive Economic ne deutschen Pässe. Juncker und seine Governance der Eurozone stark – wie- Kommissare folgen ihnen, ohne dass derum mit Erfolg. Während die deut- Kanzlerin Merkel nachhelfen müsste. schen Leistungsbilanzüberschüsse, die Wenn man so will, sind sie in die euro- viele Experten für die Eurokrise mit- päische DNA eingeschrieben. verantwortlich machen, eine Art Ge- Wer regiert also die EU? Letztlich ist neralabsolution erhielten, werden De- diese Frage falsch gestellt. Das „deut- fizite nun strenger geahndet. Mit „Six sche Europa“ braucht keine Regie- Pack“, „Two Pack“ und dem Europä- rung, um sich durchzusetzen. Es hat ischen Semester wurde die Budgetpoli- sich mithilfe von Personen in Institutio- tik der Eurostaaten in ein enges Korsett nen und Regeln konstituiert – weit über gepresst, das kaum noch Raum für eine das hinaus, was etwa Ulrich Beck vo- antizyklische Politik lässt. rauszusehen vermochte. Der „Merkia- Während es der Bundesregierung vellismus“, den Beck einst anpranger- auf diese Weise gelang, die Krisenlän- te, hat in gewisser Weise ausgedient. der auf eine „wachstumsfreundliche Die Kanzlerin hat es nicht mehr nötig, Konsolidierung“ und die „Steigerung alle gegeneinander auszuspielen – sie der Wettbewerbsfähigkeit“ zu ver- lässt sie für sich spielen. pflichten, scheiterten Frankreich und Allerdings handelt es sich nicht um andere Staaten weitgehend mit ihren ein geschlossenes, konsistentes Sys- Vorstößen. Präsident Francois Hollan- tem. Die doppelte große Koalition, die de konnte den Fiskalpakt nicht, wie vor das „deutsche Europa“ trägt, ist in sich seiner Wahl versprochen, neu verhan- widersprüchlich und wird nicht ewig deln und auch keinen echten Wachs- halten. Das gilt für Schwarz-Rot in Ber- tumspakt schließen. Beide Vorstöße lin ebenso wie in Brüssel. Juncker und scheiterten am Widerstand Deutsch- Schulz, die diese Koalition auf euro- lands; darunter leidet die Eurozone bis päischer Ebene zusammenhalten, ha- heute. ben bestenfalls ein Bündnis auf Zeit Berlin hat zudem den Investitions- geschmiedet. Auch im Rat ist die deut- plan von Kommissionschef Juncker sche Dominanz nicht gesichert. Frank- ausgebremst. Die Bundesregierung reich und Italien versuchen bereits seit verhinderte, dass dieser auf ungenutz- einiger Zeit, ein Gegengewicht zu bil- te Mittel des ESM zugreifen kann. Sie den. Die neue Regierung in Griechen- versucht, die Regeln so zu setzen, dass land sorgt auch hier für zusätzliche Un- die Investitionen nicht politisch ge- ruhe. steuert werden können. Allerdings ist Am Ende wird das „deutsche Euro- das letzte Wort über den Juncker-Plan pa“ also nicht primär von Personen, noch nicht gesprochen. Vor allem das sondern von Regeln zusammengehal- Europaparlament versucht, den Plan in ten – genau so, wie es die ordoliberale eine groß angelegte Wachstums-Initia- Denkschule fordert. Doch diese Regeln tive umzudefinieren. Mit Ergebnissen haben Europa weder Wachstum noch wird jedoch nicht vor Juni gerechnet. Stabilität gebracht. Sie sind deshalb Festhalten lässt sich dagegen schon brüchig, ergänzungsbedürftig oder so- jetzt, dass die EU heute im Wesentli- gar hinfällig. Zudem werden sie längst chen nach deutschen Regeln funktio- nicht mehr von allen EU-Ländern an- niert und auch weiter funktionieren erkannt, im Gegenteil: Griechenland, wird – selbst unter der neuen EU-Kom- aber auch Großbritannien und Ungarn mission. Allerdings ist diese Regulie- fordern sie mehr oder weniger offen he- rung weniger offensichtlich als die raus. Kurzum: Das „deutsche Europa“ massive Präsenz deutscher Berater und ist heute stärker denn je – und gleich- Politiker in Brüssel. Die EU-Regeln ha- zeitig angreifbarer denn je.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 8 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 9

Marianne Zepp Israel: Alles außer Bibi

Am 3. März – und damit genau zwei Mitunter ist dieser Tage in Israel sogar Wochen vor der Parlamentswahl in so etwas wie Wechselstimmung spür- Israel am 17. März – spricht der israe- bar. Als eine der ersten hat diese die lische Ministerpräsident Benjamin Politikwissenschaftlerin und ehemali- Netanjahu vor dem US-Kongress. Ein- ge linke Knesset-Abgeordnete Naomi geladen hat ihn der republikanische Chazan beschrieben: Die Regierung Sprecher des Kongresses, John Boeh- Netanjahu sei gekennzeichnet durch ner, ohne zuvor Rücksprache mit der die Unfähigkeit ihres Spitzenperso- demokratischen Obama-Administra- nals, Krisen zu vermeiden bzw. diese tion gehalten zu haben. Präsident Ba- zu meistern. Folglich bringe die Be- rack Obama machte umgehend deut- völkerung der Politik mehr und mehr lich, dass er den israelischen Minister- Misstrauen entgegen. Wirtschaftliche präsidenten nicht treffen werde: Man Unsicherheit, der Gazakrieg Mitte ver- wolle den Eindruck vermeiden, auf die gangenen Jahres, zunehmende Span- anstehende Wahl Einfluss zu nehmen. nungen zwischen Juden und Arabern, Der Schaden für das ohnehin be- Gewaltausbrüche in Jerusalem und schädigte Vertrauensverhältnis zwi- der systematische Ausschluss von so- schen den Vereinigten Staaten und Is- wie wachsende Vorurteile gegenüber rael ist groß. Netanjahu wird die ihm Minderheiten seien Indikatoren einer gebotene Bühne dennoch nutzen und tiefgreifenden Krise der israelischen vor der Nuklearmacht Iran warnen. Gesellschaft und Politik. Er weiß, dass eine Rede in der Haupt- Ähnlich sieht das Gershon Baskin. stadt des stärksten Verbündeten seine Er ist Politikberater und setzt sich für Chancen auf eine Wiederwahl – trotz eine Konföderation zwischen Israel des zerschlagenen diplomatischen Por- und Palästina ein. Für Baskin ist die zellans – deutlich erhöhen dürfte. Wahl eine Richtungsentscheidung da- rüber, ob Israel in absehbarer Zeit als Regionalmacht zusammen mit seinen Das gelobte Land in der Krise Nachbarn die Initiative für einen sta- bilen Frieden ergreift oder ob das Land In Israel muss Netanjahu um jede Stim- von einer Welle von Sanktionen über- me kämpfen. Wenige Wochen vor dem zogen und international isoliert wird. Urnengang zeichnet sich dort ein Kopf- Allein die Zwei-Staaten-Lösung kön- an-Kopf-Rennen zwischen dem rech- ne das Überleben Israels sichern; al- ten und dem linken Lager ab. Und bei le anderen Probleme seien dieser Fra- dieser Wahl steht besonders viel auf ge nachgeordnet. Die anstehende Wahl dem Spiel: Zum ersten Mal nach mehr eröffne zum ersten Mal diese klare als 20 Jahren – seit der Ermordung Alternative für oder gegen eine Frie- Jitzchak Rabins – sieht sich Israel mit denslösung. grundlegenden Fragen seiner Identität Voraussetzung für einen Politik- und damit seiner Existenz konfrontiert. wechsel, darin sind sich alle Kommen- Wie die Antworten auf diese ausfallen, tatoren einig, ist allerdings, dass Benja- darüber entscheidet maßgeblich die min Netanjahu nicht im Amt bestätigt künftige Regierung. wird. Die Opposition tritt dementspre-

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 9 18.02.15 10:09 10 Kommentare und Berichte

chend mit dem Slogan „Alles außer Die arabische Einheitsliste: Bibi!“ an. Wie aber sehen die Chancen Ausschluss oder Anerkennung? für eine Ablösung Netanjahus aus? Das Zionistische Lager könnte sich mit den arabischen bzw. mit den arabisch- Likud versus Zionistisches Lager jüdischen Parteien zusammentun. In Reaktion auf die höhere Sperrklausel Gemessen an deutschen Maßstäben haben sich die vier in der Knesset ver- sind israelische Parteien fluide Gebil- tretenen Parteien – Chadasch („Neu“), de. Bei jeder Wahl kommt es zu Par- die Vereinigte Arabische Liste, Balad teispaltungen, -neugründungen und („Nationales demokratisches Bünd- Listenverbindungen. In den 90er Jah- nis“) und Ta’al („Arabische Bewegung ren versuchte man, durch eine Reihe für Erneuerung“) – ebenfalls zu einer neuer Gesetze die Parteienlandschaft Einheitsliste zusammengeschlossen. übersichtlicher zu gestalten. Es wurde Das Wählerspektrum des Bündnisses eine Sperrklausel eingeführt, die Ne- reicht von kommunistischen Antina- tanjahu im März 2014 nochmals von tionalisten in den Städten bis zu mus- 2 auf 3,25 Prozent erhöhte. Infolge- limischen Beduinen, die vorwiegend dessen wird sich die Anzahl der in der im Süden des Landes leben. Chadasch Knesset vertretenen Parteien in der und die Vereinigte Arabische Liste ver- nächsten Legislaturperiode voraus- fügen derzeit über je vier Knessetabge- sichtlich verringern. Vor allem bei den ordnete, Balad über drei, und Ta’al ist Oppositionsparteien links des Likud mit einem Sitz vertreten. Umfragen zu- hat dies zu neuen Allianzen geführt. folge könnte die Einheitsliste auf zwölf Einen ersten, spektakulären Vor- Prozent kommen. stoß unternahmen Jitzchak Herzog, Dass die Parteien, in der Religiöse der Vorsitzende der traditionsreichen und Säkulare, Nationalisten, Liberale, Arbeiterpartei, und Tzipi Livni von Marxisten und Kapitalisten vertreten der Partei Hatnua („Die Bewegung“). sind, nun gemeinsam zur Wahl antre- Bereits im Oktober 2014 vereinbarten ten, ist nicht nur eine Antwort auf die beide ein neues Mitte-Links-Bündnis, erhöhte Klausel, sondern geht auch auf um Netanjahu mit geeinten Kräften die wachsenden ethnischen Spannun- zu schlagen: das Zionistische Lager. gen und Ausgrenzungen innerhalb der Schon die Namensgebung soll an die israelischen Gesellschaft zurück. Im Tradition eines demokratischen Zio- Zuge des letzten Gazakriegs 2014 hat- nismus erinnern, an die Idee eines jü- ten rechte Parteien immer wieder laut- dischen Staates, der formal und seinem stark Zweifel an der Loyalität der Ver- Geist nach demokratisch sein sollte. Im treter arabischer Parteien geübt. Zu- Falle eines Wahlsiegs wollen sich die dem betrachten sie Gruppierungen beiden Parteiführer das Amt des Re- wie Balad als Bedrohung für den jüdi- gierungschefs teilen: Die ersten beiden schen Charakter des Staates. Jahre soll demnach Herzog die Regie- Die Anerkennung der Einheitslis- rung anführen, die beiden letzten Jah- te als politische Kraft stellt daher auch re Livni. einen Lackmustest für Israel als demo- Allerdings werden sowohl der Likud kratischen Staat dar. Zudem wäre sie als auch das Zionistische Lager bei der ein deutliches Signal gegen Netanja- Wahl voraussichtlich nur etwa jeweils hus Jewish Nation-State Bill, eine Ge- 25 der insgesamt 120 Sitze erhalten. setzesinitiative aus dem vergangenen Damit werden beide Seiten auf Koali- Jahr, die den jüdischen Charakter des tionspartner angewiesen sein, um eine Staates Israel rechtlich fixieren soll. parlamentarische Mehrheit und damit Das Vorhaben richtet sich insbesonde- eine Regierung bilden zu können. re gegen die arabische Minderheit in

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 10 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 11

Israel, die etwa ein Fünftel der Bevöl- derzeit mit fünf Sitzen rechnen. Ob das kerung ausmacht, und führte im ver- Zionistische Lager allerdings eine Koa- gangenen Dezember maßgeblich zum lition mit Meretz eingehen wird, ist an- Bruch der letzten Koalitionsregierung, gesichts der Stimmungen im Lande der auch Tzipi Livni als Justizministe- derzeit noch ungewiss. rin angehörte. Allerdings sieht es derzeit nicht nach einer Koalition zwischen dem Zionisti- Die angeschlagene Rechte schen Lager und der Einheitsliste aus. Deutlich wurde dies in der hitzigen So bleibt der israelischen Linken der- Debatte um einen Ausschluss der ara- zeit vor allem die Hoffnung, dass die bisch-israelischen Balad-Abgeordne- rechten Parteien derzeit fast durchweg ten Hanin Soabi im Vorfeld der Wahl. an Zustimmung verlieren und Netanja- Im Juni 2014 hatte sich Soabi in einem hu am Ende die erforderliche Mehrheit Interview geweigert, die Entführer zur Regierungsbildung fehlen könnte. dreier jüdischer Jugendlicher als Ter- Avigdor Liebermans Partei Israel roristen zu bezeichnen und die Palästi- Beitenu konnte bisher auf die „rus- nenser aufgerufen, „Israel zu belagern, sischen“ Stimmen zählen, das heißt statt zu verhandeln“. Parteien des Mit- auf die Zustimmung jener Israelis, die te-Rechts-Spektrums, darunter Haba- in den 90er Jahren aus der ehemali- jit Hajehudi („Jüdisches Heim“), Jesh gen Sowjetunion einwanderten. Sei- Atid („Es gibt eine Zukunft“) und Israel ne Anhänger sind zumeist säkular und Beitenu („Unser Zuhause Israel“) hat- unterstützen eine nationalrechte Poli- ten daraufhin ihre Suspendierung als tik. Allerdings ist Liebermans Par- Abgeordnete gefordert. Sie beschul- tei derzeit durch Korruptionsskanda- digten Soabi, terroristische Aktionen le in schwieriges Fahrwasser geraten. zu unterstützen und lösten damit eine Der Imageverlust ist immens: Lieber- öffentliche Kontroverse aus, bei der mans Wähler wenden sich in Scharen sich die rechten Kräfte in Diffamierun- von ihm ab, und noch ist unklar, ob sich gen regelrecht überboten. seine Partei davon überhaupt wieder Überraschenderweise unterstützt erholen wird. Da hilft es nur noch we- das Zionistische Lager die Forderung nig, dass sich Lieberman weiterhin als der rechten Parteien. Offenbar wollen Hardliner zu profilieren versucht. Be- Livni und Herzog auf Nummer sicher reits vor der Wahl propagierte er einen gehen und Stimmen aus dem rechten höchst eigenwilligen Vorschlag zur Spektrum gewinnen. Dieser Schritt Konfliktlösung, der an alte Sowjetzei- hat die Euphorie der Linken über einen ten erinnert: einen Austausch der Be- grundlegenden Politikwechsel zuletzt völkerung, wonach israelische Ara- deutlich gedämpft. ber nach Palästina umgesiedelt und im Als einzige linke jüdische Partei hat Gegenzug jüdische Siedler ins israeli- Meretz gegen den Ausschluss Soa- sche Kernland zurückgeholt werden bis gestimmt. Meretz ist eine milieu- sollen. Der arabische Teil der israeli- gebundene Partei des säkularen welt- schen Wähler zeigte sich schockiert – offenen Judentums. Sie hat das tradi- nicht nur wegen des Vorschlags selbst, tionelle Friedenslager auf ihrer Seite, sondern vor allem, weil keine der an- wirbt für eine Anerkennungspolitik deren israelischen Parteien gegen Lie- von Minderheiten, verurteilt die Sied- bermans offensichtlich rassistische lungspolitik und weist auf die Folgen Haltung protestierte. hin, die diese für das internationa- Auch die Siedlerpartei Habajit Ha- le Ansehen Israels hat. Im Wahlkampf jehudi mit ihrem Parteivorsitzenden hat sich die Meretz-Partei bislang gut Naftali Bennett, bislang ein bevor- geschlagen: Laut Umfragen kann sie zugter Partner Netanjahus, taumelt. In

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 11 18.02.15 10:09 12 Kommentare und Berichte

den Umfragen ist sie in den letzten Wo- spricht sich Kachlon klar für eine Zwei- chen von 17 auf 12 Sitze gefallen. Der Staaten-Lösung aus. Noch ist aller- Rückgang geht möglicherweise auf dings offen, ob er nicht auch bereit wä- die wachsende Skepsis innerhalb der re, dem rechten Lager zu einer Mehr- israelischen Bevölkerung gegenüber heit zu verhelfen. der rigorosen Siedlungspolitik in der Westbank und in Ostjerusalem zurück. Tatsächlich ist nicht auszuschließen, Netanjahu allein zu Haus? dass sowohl die Kosten des Siedlungs- baus als auch der schwindende inter- Es bleibt also spannend. Selbst wenn nationale Rückhalt allmählich einen Netanjahu die Wahl gewinnt, steht er Sinneswandel selbst bei der rechten vor der Herausforderung, ausreichend Mehrheit herbeiführen. Koalitionspartner für eine neue Regie- Die beiden traditionellen religiö- rung zu finden. Hinzu kommt, dass er sen Parteien – die Schas-Partei für die zuvor den Auftrag für die Regierungs- sephardischen Juden und Vereinig- bildung erhalten muss. Hier könnte te Thora für die Aschkenasi, die Juden ihm jedoch Staatspräsident Reuven vorwiegend osteuropäischer Herkunft Rivlin einen Strich durch die Rech- – werden dem rechten Lager zugerech- nung machen. Ihm obliegt es, eine der net. Allerdings unterstützt zumindest großen Parteien mit der Regierungsbil- Schas bereits seit langem die Genfer dung zu beauftragen. Initiative, was auf ihren Gründer und Rivlin ist ehemaliger Sprecher der langjährigen Führer Rabbi Ovadja Jo- Knesset und wurde im Juli 2014 zum sef zurückzuführen ist, der sich früh neuen Staatspräsidenten Israels ge- für eine Zwei-Staaten-Lösung stark ge- wählt – gegen den erbitterten Wider- macht hatte. stand Netanjahus. Zwar gehört Rivlin Damit enden jedoch auch die weni- dem Likud an, er gilt jedoch als eigen- gen Gemeinsamkeiten mit Teilen der williger Kopf. Wiederholt rief er in den israelischen Linken. Denn Schas wie letzten Monaten zur Anerkennung auch Vereinigte Thora sind weitgehend ethnischer Minderheiten in Israel auf. abhängig vom orthodox-religiösen Es- Für das rechte Lager stellt Rivlin daher tablishment. Ihre Wahllisten, auf denen einen schwer berechenbaren Faktor keine Frauen kandidieren dürfen, wer- für die entscheidende Phase nach der den jeweils von einem „Rat der Wei- Wahl dar. Nur eine deutliche Mehrheit sen“ bestimmt. Beide Parteien verfol- für den Likud dürfte sicherstellen, dass gen ihre eigene Agenda – vom Wider- der Präsident Netanjahu mit der Regie- stand gegen die Wehrpflicht für ultra- rungsbildung beauftragt. orthodoxe Männer bis hin zur Vertei- Diese deutliche Mehrheit liegt für digung der Sozialversorgung ihrer Ge- Netanjahu derzeit in weiter Ferne. So- meinden. Ein Faktor der inneren De- mit ist völlig offen, welche Koalition Is- mokratisierung Israels sind sie mit Si- rael in den kommenden Jahren regie- cherheit nicht. Im Zweifel werden sie ren wird. Von ihr hängt ab, ob die Re- daher – wie schon in der Vergangenheit gion wieder einer Friedenslösung nä- – das Zünglein an der Waage zuguns- her kommt und wie die Zukunft der is- ten einer rechten Regierung sein. Der- raelischen Demokratie aussieht – ins- zeit hat Schas Aussicht auf sechs Sitze, besondere für die arabischen Minder- Vereinigte Thora auf sieben. heiten im Land. Fest steht allerdings Bliebe noch die Partei Kulanu („Wir schon jetzt: Die Chance, das Israel ein alle“) von Moshe Kachlon, ehemals demokratischer, säkular geprägter Mitglied des Likud. Sie gilt als Brü- Staat bleiben wird, ist weitaus größer, ckenbauer zwischen dem linken und wenn andere als Bibi die Regierungs- dem rechten Lager. Ebenso wie Livni verantwortung übernehmen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 12 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 13

Heiko Flottau Nahost: Der unlösbare Knoten

Im Frühjahr 2003 schickte der damali- dent Barack Obama, der vom Ableben ge US-Präsident George W. Bush ame- Abdullahs auf einer Visite in Indien er- rikanische Truppen in den Irak, die fahren hatte, leitete seinen Tross flugs dem Land einen Regimewechsel und nach Riad um – nicht aber ohne vorher eine demokratische Ordnung besche- eine weitere Abordnung in Washing- ren sollten. Knapp zwölf Jahre später ton zusammenzutrommeln. Zu diesem wütet in Teilen des angeblich befreiten Großaufgebot gehörten Außenminis- Irak das Hinrichtungsschwert einer ter John Kerry und James Baker, einer scheinbar aus dem Nichts gekomme- seiner Vorgänger, Sicherheitsberate- nen Terrorgruppe namens „Islami- rin Susan Rice mit Vorgängerin Condo- scher Staat“ (IS). Im Februar dieses leezza Rice, CIA-Direktor John Bren- Jahres verbrannten die Mörder des IS nan mit seinen Vorgängern Stephen den jordanischen Piloten Moaz al-Kas- Hadley und Brent Scowcroft sowie Lisa sasbeh. Daraufhin ließ Jordanien zwei Monaco, Obamas Beraterin in Fragen seit Jahren zum Tode verurteilte Dschi- der Terrorismusbekämpfung. hadisten aufhängen. Der neue Krieg Dass die Weltmacht ihre gesamte im Nahen Osten wird mit archaischen Führungsspitze nach Riad schickte, Methoden geführt – mit Schwert, Feu- zeigt, dass die USA die protokollari- er und mit dem Galgen. sche Pflichtvisite zu einer Grundsatz- Nur wenige Tage vor der Ermordung diskussion über die schwerwiegenden des jordanischen Piloten waren Staats- Probleme aufwerteten, die zwischen frauen und -männer aus aller Welt nach beiden Ländern bestehen. Uneins sind Paris gereist, um der Opfer des Atten- sich Washington und Riad über die bei- tats auf das Satiremagazin „Charly den wichtigsten Exportgüter Saudi- Hebdo“ und der Toten des Anschlags Arabiens: über den massenhaften Ex- auf einen jüdischen Supermarkt zu ge- port der auf der wahhabitischen Va- denken. Kurz darauf trafen sich Abge- riante des Islam beruhenden islamis- sandte derselben Länder in Riad, um tischen Ideologie des Landes und über Saudi-Arabien zum Ableben von Kö- den Export von – Erdöl. nig Abdullah zu kondolieren. Der enge Noch immer stützt sich das saudi- zeitliche Zusammenhang der Morde sche Herrscherhaus auf die im 18. Jahr- von Paris, des Mordes am jordanischen hundert vom Prediger Abdul Wahhab Piloten, des Todes des saudischen Kö- im Gebiet des heutigen Riad propa- nigs sowie der Reisen hochrangiger gierte Variante des Islam, wonach Politikerdelegationen nach Paris und Frauen keine Rechte haben, Homo- Riad ist zwar zufällig, der politische sexuelle verfolgt und Todesurteile öf- Kontext ist jedoch evident. Viele Fäden fentlich mit dem Säbel vollstreckt wer- der nahöstlichen Krisen laufen näm- den. Auch die Attentäter von Paris ha- lich in Saudi-Arabien zusammen. ben sich auf die Ideologie des IS beru- Diese nur auf den ersten Blick über- fen, deren Ursprung in Riad liegt. Vor raschende Tatsache belegt die Reise diesem Hintergrund erscheint es gera- einer amerikanischen Delegation nach dezu zynisch, dass sich auch ein hoch- Riad, die „hochrangig“ zu nennen eine rangiges Mitglied des saudischen Kö- Untertreibung darstellen würde. Präsi- nigshauses unter die Trauergemeinde

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 13 18.02.15 10:09 14 Kommentare und Berichte

von Paris gemischt hatte. Und während schiitischen Aufstand gegen das sunni- die politischen Honoratioren aus aller tische Herrscherhaus zu unterdrücken. Welt dem saudischen Herrscherhaus Anfang Februar haben die Huthis ihre Aufwartung machten, den neuen – die zum Zaidi-Zweig der Schiiten ge- König Salman umwarben und Ange- hören – im jemenitischen Sanaa die la Merkel den verstorbenen Abdullah Macht übernommen. Die Bewegung einen klugen Führer nannte, schmach- hatte 1992 der Huthi-Clan im Norden tete der saudische Blogger Raif Badawi des Landes gegründet. Nach der Inva- in einem Kerker, verurteilt zu zehn sion der USA im Irak im Jahre 2003 hat- Jahren Haft und eintausend Peitschen- te sie begonnen, gegen die USA und Is- hieben. Sein Vergehen: Er habe den rael zu agitieren. Vermutlich ist diese Islam und das saudische Herrscher- verhältnismäßig neue religiös-politi- haus verunglimpft. sche Bewegung nicht ohne Unterstüt- Milliarden Dollar geben die Saudis zung des schiitischen Iran geblieben. aus, um einen Ideologieexport zu fi- Das Ergebnis: Heute sieht sich das nanzieren, der solche archaischen Königreich der Saudis eingekreist von Strafen wie die gegen Raif Badawi ver- Mächten, deren religiöse und politi- langt. Der Ideologietransfer hat fata- sche Ambitionen in Riad als hochge- le Folgen in der gesamten islamischen fährlich für den eigenen Machterhalt Welt: Auf die in Saudi-Arabien gelten- angesehen werden. Und bislang fällt de vorzeitliche Rechtsprechung beru- dem saudischen Herrscherhaus nichts fen sich die Terroristen von Al Qaida, anderes ein, als sich durch den Bau die Taliban in Afghanistan und auch eines hoch befestigten Zaunes an sei- der IS. So bestrafen etwa Saudi-Ara- ner Grenze zum Jemen vor dem Ein- bien und der IS Gotteslästerung und dringen von Dschihadisten zu schüt- Homosexualität gleichermaßen mit zen. Diese Dschihadisten waren bis- dem Tode. Ebenso züchtigen Saudi- lang vor allem Mitglieder der sunni- Arabien und der IS Ehebrecher mit 100 tischen Terrorgruppe Al Qaida. Nun Peitschenhieben. Wie in Saudi-Ara- aber fürchten die Saudis auch das Ein- bien, so wird auch im Herrschaftsbe- dringen schiitischer Huthi-Milizen. reich des IS Dieben eine Hand ampu- tiert. Allerdings ist der Tod auf dem Scheiterhaufen, wie ihn der jordani- Der neue große Ölkrieg sche Pilot erleiden musste, in der tradi- tionellen islamischen Rechtsprechung In dieser vertrackten Situation sieht an keiner Stelle vorgesehen. sich die saudische Schutzmacht USA Es gibt weitere Gemeinsamkei- in einer Zwickmühle. Ihr Drohnen- ten zwischen dem IS und dem saudi- krieg gegen Al Qaida in Afghanistan schen Herrscherhaus. Für beide etwa und im Jemen ist auch ein Krieg, der sind Schiiten Ketzer, die es zu bekämp- die Konsequenzen des saudischen fen gilt. Im Irak führt der IS einen gna- Ideologieexports eliminieren soll. denlosen Feldzug besonders gegen Doch Druckmittel gegen die Saudis die schiitische Bevölkerungsmehrheit. haben die USA kaum. Denn seit der Saudi-Arabien beherbergt zwar eine Entdeckung erheblicher Mengen Öls vom Herrscherhaus bis dato weitge- im Jahre 1938 bei Dammam am Persi- hend diskriminierte schiitische Min- schen Golf hat sich eine enge Verbun- derheit. Doch das Königreich zog eben- denheit zwischen den USA und dem falls gegen die Schiiten zu Felde, als Wüstenkönigreich der Familie Saud König Abdullah, den gerade alle Welt entwickelt. Bis in die jüngste Vergan- einen moderaten Herrscher nannte, im genheit waren die USA im hohen Ma- März 2011 seine Truppen in Bahrain ße abhängig von den Lieferungen aus einmarschieren ließ, um den dortigen Saudi-Arabien. Aus Sicht Washingtons

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 14 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 15

war und ist daher die politische Stabili- den Saudis herbeigeführtes Überan- tät des Königreichs oberstes Ziel ihres gebot –, drohen amerikanische Ölfir- Handelns in der Region. Die ständige men in Konkurs zu gehen, wodurch das Verletzung der Menschenrechte im saudische Öl wieder wertvoller wür- Land wurde dabei geflissentlich über- de. Genau dieses Ziel verfolgt offenbar sehen. Hinzu kommt, dass Saudi-Ara- Suhail al-Mazrouei, Ölminister der Ver- bien als Swing-Producer gilt: Fällt der einigten Arabischen Emirate, wenn er, Ölpreis zu sehr, können die Saudis die stellvertretend für alle OPEC-Mitglie- Produktion drosseln, um den Preis zu der, fordert, die USA müssten die Pro- stabilisieren. Umgekehrt ist es ihnen duktion von Energieträgern aus „un- möglich, die Produktion hochzufahren, konventionellen Quellen“ einschrän- um durch ein größeres Angebot hohe ken. „Wir sehen“, so al-Mazrouei, „ein Ölpreise zu deckeln. Seit einigen Mo- Überangebot, primär aus Schieferöl, naten nun weigert sich das Land, seine und das muss korrigiert werden.“2 hohe Fördermenge zu reduzieren, um den freien Fall des Ölpreises zu stop- pen. Das dadurch entstandene Über- Nahost und die Sucht nach Öl angebot hat die Preise drastisch sinken lassen. Fachleute mutmaßen, dies sei Jede Sucht macht abhängig, und die eine gewollte Politik; sie sprechen von Sucht nach Öl hat die USA in Nahost in einem neuen „großen Ölkrieg“. eine Falle geführt. Es war auch das Öl, Tatsache ist, dass niedrige Ölpreise das ein Hauptmotiv beim Einmarsch den saudischen Erzrivalen Iran deut- amerikanischer Truppen in den Irak lich schwächen, auch Russland und im Jahre 2003 bot – und nicht die Su- der Jemen kommen durch die nied- che nach Massenvernichtungswaffen, rigen Preise in wirtschaftliche Nöte. von denen man hätte wissen müssen, Dem IS, der sich auch durch den Ver- dass es diese nicht mehr gab. Die ers- kauf aus den von ihm eroberten Öl- ten Kontingente, die damals Bagdad quellen finanziert, werden ebenfalls erreichten, schützten das irakische die Mittel beschränkt. All diese Er- Ölministerium – während das welt- gebnisse saudischer Überproduktion – bekannte irakische Nationalmuseum einschließlich der damit verbundenen unbewacht blieb und von Plünderern Aufwertung der Weltleitwährung des ausgeraubt wurde. Zwölf Jahre zuvor US-Dollar – können den Vereinigten hatte George Bush sen. noch Saddam Staaten nur recht sein. Husseins Truppen – allerdings mit Allerdings vermutet unter anderem einem Mandat der Vereinten Nationen der Publizist Tomasz Konicz, dass sich – aus Kuwait vertrieben. Zuvor hatte dieser Ölkrieg auch gegen den alten er allerdings – ohne UN-Mandat – in Partner USA richten könnte.1 Die Ver- einem wochenlangen Bombardement einigten Staaten sind durch ihre hoch- die Infrastruktur des Landes lahmge- entwickelte, allerdings hochgradig legt – wohl wissend, dass dieser Irak umweltschädliche Förderung durch damals das am höchsten entwickel- das Fracking selbst zu einem großen te Land der arabischen Welt war. Was Ölproduzenten und damit zum Kon- Vater George H. W. Bush und sein Ge- kurrenten der Saudis auf dem globalen neral Norman Schwarzkopf begonnen Ölmarkt aufgestiegen. Fracking lohnt hatten, vollendete Sohn George W. sich jedoch nur bei einem Ölpreis von Bush 2003: Er löste die staatstragende mindestens etwa 60 Dollar pro Fass. Baath-Partei auf, schickte die Armee Sinkt der Preis – etwa durch ein von nach Hause und schuf so ein Vakuum,

1 Vgl. Thomasz Konicz, Der große Ölkrieg, 2 UAE says OPEC will no longer shore up oil www.heise.de/tp, 27.01.2015. price, Yahoo News, 13.1.2015.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 15 18.02.15 10:09 16 Kommentare und Berichte

in das der IS aus dem Bürgerkriegsland Israel wohl die Bombardierung der ira- Syrien mit Leichtigkeit hineinstoßen nischen Atomanlagen abermals auf die konnte – zumal viele der ehemaligen Tagesordnung setzen. Offiziere Saddams zum IS überliefen. Es gibt die Sage vom Makedonenkö- nig Alexander, genannt der Große, der im Jahre 333 v. u. Z. den am Wagen des Der IS auf dem Vormarsch phrygischen Königs Gordios kunstvoll geflochtenen Knoten mit dem Schwert Dessen Arme reichen inzwischen auch durchschlagen und damit alle Proble- in einen Staat, der bis dato als ein Mus- me gelöst haben soll. Der politische, terland der Stabilität und vor allem ideologische und militärische Knoten, der territorialen Integrität galt: Auch in dem die verschiedenen Akteure der in Ägypten hat der IS längst Fuß ge- nahöstlichen Welt heute verwickelt fasst. Ende 2014 rief die Terrorbande sind, ist allerdings keineswegs kunst- auf dem Sinai einen Kanton namens voll geflochten. Vielmehr ist er durch „Islamischer Staat auf dem Sinai“ aus. die fehlerhafte Politik der Regieren- Unterstützung findet der IS bei den Be- den vor allem in Washington, Bagdad, duinen des Berglandes, die vom Mu- Jerusalem, Damaskus, Teheran und barak-Regime ebenso vernachlässigt nicht zuletzt Riad unentwirrbar gewor- wurden wie vom Wiedergänger Muba- den, so dass eine diplomatische Lösung raks, dem neuen Diktator Abdel Fattah derzeit kaum noch eine Chance hat. al-Sisi. Die ägyptische Armee wird der Was bleibt, sind lokal begrenzte Anschläge auf ihre Truppen auf dem Kriege – nicht als Fortsetzung der Poli- Sinai nicht Herr. Mitte Januar etwa tik mit anderen Mitteln, sondern als starben dort 20 Menschen bei einem pure Notlösungen. Barack Obama, der IS-Anschlag. Anfang Februar explo- kürzlich noch erklärt hatte, jeder Krieg dierte in der Kairoer Innenstadt eine müsse einmal zu Ende gehen, bleibt Bombe, zwei weitere Bomben wurden nichts anderes übrig, als den IS mit auf dem Flughafen entschärft. Die gna- einem Groß-Bombardement zumindest denlose Verfolgung der Muslimbrüder in Schach zu halten. In diesem Bom- durch das Sisi-Regime erzeugt nichts benkrieg haben die USA jetzt einen als Gegengewalt, die sich der IS zu- äußerst engagierten Bundesgenossen nutze macht. (Auch außerhalb Ägyp- bekommen: den jordanischen König tens, wie jüngst die Enthauptung von 21 Abdullah II. Angesichts mancher IS- koptischen Christen in Libyen zeigte.) Sympathisanten unter seinen Unter- Mit der Etablierung des IS auf dem tanen hatte er sich nur zögerlich der Sinai hat die Terrorgruppe die Gren- Allianz mit den USA angeschlossen. ze zu Israel erreicht. Schon sagen Pa- Nun aber hat er keine andere Wahl, als lästinenser, die nicht der Hamas nahe- selbst Kampfflugzeuge gegen die Mör- stehen, voraus, dass der nächste Wider- der seines Landsmannes zu senden. stand gegen die israelische Besatzung Hätte der König dieses Schwert nicht nicht mehr allein von der Hamas, son- gezogen, wäre womöglich sein Thron dern auch vom IS gesteuert werde. Is- in Gefahr geraten. Denn der getötete raelische Gefangene – welch Schre- Kampfpilot kam aus dem einflussrei- ckensszenario – würden dann umge- chen Bararsheh-Stamm in der Nähe hend geköpft oder verbrannt. Und noch der Stadt Karak. Dieser Stamm ist dem eine Horrorvision könnte alsbald Rea- Königshaus besonders verbunden und lität werden: Sollten die Atomverhand- eine Stütze des Regimes. Ein weiteres lungen mit dem Iran endgültig schei- Mal dient somit der Krieg dem Zwecke tern und zudem Benjamin Netanjahu des Machterhalts – auch das ist trauri- erneut zum israelischen Ministerprä- ge Realität in einer von Konflikten und sidenten gewählt werden, dann würde Gewalt geplagten Region.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 16 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 17

Nina Müller Nigeria: Von Boko Haram zum Staatsversagen

Nigeria kommt nicht zur Ruhe. Immer zeit amtierende Präsident Goodluck wieder erschüttern Selbstmordatten- Jonathan die Islamisten nun in einer tate und Entführungen den Nordosten großangelegten Offensive schlagen. des Landes – verübt durch die islamis- Zu diesem Zweck einigten sich Nige- tische Terrororganisation Boko Ha- ria und seine Nachbarländer Benin, ram. Im Vorfeld der ursprünglich für Niger, Kamerun und Tschad mit Unter- Mitte Februar angesetzten Präsident- stützung der Afrikanischen Union An- schaftswahl ist die Gewalt noch einmal fang Februar auf die Schaffung einer eskaliert. Den bisher traurigsten Hö- Eingreiftruppe aus 8700 Soldaten, Poli- hepunkt bildete die Invasion der Han- zisten und Zivilisten. Doch ob diese die delsstadt Baga nahe dem Tschadsee Dschihadisten tatsächlich bezwingen Anfang Januar. Kämpfer von Boko Ha- können, ist mehr als fraglich. ram ermordeten etwa 2000 Menschen Seit nunmehr fünf Jahren wütet und zerstörten zahllose Gebäude – und Boko Haram nun schon in Nigeria, das, obwohl dort die Multinational dem mit 175 Millionen Einwohnern be- Joint Task Force stationiert ist. Die Ein- völkerungsreichsten Land Afrikas.1 heit, die sich aus Soldaten verschiede- Eines ihrer zentralen Ziele ist es, Nige- ner Nachbarländer zusammensetzt, ria vollständig unter das Scharia-Ge- war ursprünglich zur Bekämpfung der setz zu stellen. Zunächst als Alternati- grenzüberschreitenden organisierten ve gegen den korrupten Staat und die Kriminalität gedacht, in jüngster Zeit schlecht funktionierenden staatlichen aber auch mit der Aufgabe betraut, Institutionen gegründet, radikalisier- gegen Boko Haram vorzugehen. Der ten sich die Mitglieder der Bewegung Angriff auf die Stadt Baga zeigt in al- schnell und entwickelten sich nicht nur ler Deutlichkeit das eklatante Versagen zu einer innenpolitischen, sondern in- der Sicherheitskräfte, der terroristi- zwischen auch zu einer internationa- schen Gefahr etwas entgegenzusetzen. len Bedrohung. Anfangs verübten die Zwar gelang es der Armee, die im Terroristen vor allem Anschläge auf Februar gestarteten Offensiven der Bo- staatliche und kirchliche Institutio- ko-Haram-Terroristen auf die im Nord- nen. Mittlerweile werden jedoch auch osten gelegene Millionenstadt Maidu- gezielt Märkte, Schulen, Universitäten guri sowie auf die Großstadt Gombe und Busbahnhöfe angegriffen. Auffäl- vorerst abzuwehren. Doch angesichts lig ist die Verlagerung der Bombenan- der bedrohlichen Lage hat die nigeria- schläge vom Norden in Richtung Sü- nische Wahlbehörde den Termin für den. Seit April 2014 ist der Terror end- die Präsidentschaftswahl kurzerhand gültig in der bis dahin als sicher gel- um sechs Wochen auf den 28. März ver- tenden Hauptstadt angekommen. Die schoben. Man könne den sicheren Ab- Anzahl der Opfer nimmt stetig zu. Seit lauf der Wahl in den von Boko Haram 2009 tötete die Gruppe mehr als 13 000 kontrollierten Gebieten im Norden des 1 Vgl. dazu auch Marc Engelhardt, Boko Haram: Landes nicht garantieren, hieß es zur Nigerias entfesseltes Monster, in: „Blätter“, Begründung. Bis zur Wahl will der der- 6/2014, S. 21-24.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 17 18.02.15 10:09 18 Kommentare und Berichte

Menschen, unzählige weitere wurden einschätzung der innenpolitischen verletzt, Hunderttausende sind auf der Lage im April 2014: Kurz nach einem Flucht. Seit Boko Haram nun erstmals von Boko Haram verübten Bombenan- auch Dörfer in den Nachbarstaaten Ka- schlag auf einen Busbahnhof in einem merun und Tschad überfiel und dabei Außenbezirk Abujas bezeichnete der zahlreiche Menschen tötete, ist die La- Präsident die Terroristen als ein „tem- ge unberechenbarer denn je zuvor. poräres Problem“. Nach fast jedem An- Der Aufstieg Boko Harams fällt schlag verurteilten führende Politiker größtenteils in die Amtszeit des am- die Gewalttaten. Dabei blieb es aber in tierenden Präsidenten Goodluck Jona- aller Regel auch. than. Der promovierte Biologe und An- Auch erste internationale Initiativen, gehörige der ethnischen Minderheit in den Konflikt zu intervenieren, konn- der Ijaw trat sein Amt im Jahr 2011 als ten die Terroristen bislang nicht stop- Hoffnungsträger der People’s Demo- pen: Bereits im Mai 2014, kurz nach cratic Party (PDP) an, jener Partei, die der Entführung von über 200 Schü- seit dem Ende der Militärdiktatur 1999 lerinnen durch Boko Haram im nord- alle Präsidenten stellte. Jonathan ist in östlichen Bundestaat Borno, entsand- der Geschichte der unabhängigen Re- ten beispielsweise die USA Truppen publik erst das zweite Staatsoberhaupt in den benachbarten Tschad, um die ohne militärischen Hintergrund, für Suche nach den Entführten mit mili- viele Beobachter symbolisierte sein tärischer Aufklärung zu unterstützen Amtsantritt daher einen Schritt in – bisher jedoch ohne Erfolg. Noch im- Richtung Demokratisierung. Doch von mer steht auch die Option einer direk- den in ihn gesetzten Hoffnungen ist ten internationalen Militärinterven- nicht viel geblieben, zahlreiche Bürge- tion im Raum, wie sie schon in den Ver- rinnen und Bürger sind von der Bilanz einigten Staaten und Frankreich dis- seiner Regierung enttäuscht. kutiert wurde. Solche und andere Ar- Denn letztlich war der Machtzu- ten denkbarer militärischer Unterstüt- wachs Boko Harams nur möglich, weil zung mögen zwar zu kurzfristigen Er- Jonathan die Sicherheitslage im Nord- folgen im Kampf gegen Boko Haram osten lange nicht ernst genommen hat. führen, langfristig werden die Dschi- Obwohl die Gruppe hier bereits seit hadisten allein militärisch jedoch nicht 2009 aktiv ist, unternahm die Regie- zu besiegen sein – denn Militäreinsät- rung bis vor zwei Jahren nichts, um die ze richten sich zwangsläufig nur gegen Dschihadisten aus dem Gebiet zurück- die Symptome, nicht aber gegen die zudrängen, weder indem sie sie direkt Ursachen der Gewalt. bekämpfte noch indem sie gegen die strukturellen Ursachen des Terrors wie die massive Armut vorging. Über Jah- Symptom einer strukturellen Krise re hinweg ignorierten Regierungsver- antwortliche die Präsenz radikalisla- Boko Haram ist letztlich bloß Ausdruck mischer Kräfte oder redeten sie klein. tieferliegender struktureller Probleme, Dieses Vakuum ermöglichte Boko Ha- die lange nicht beachtet wurden. Die ram nicht nur, sich nahezu ungestört im Lebensbedingungen der Menschen gesamten nordöstlichen Teil des Lan- sind denkbar schlecht, noch immer le- des auszubreiten, sondern auch, sich ben viele unterhalb der Armutsgrenze. großflächig zu vernetzen und zu einer Trotz eines hohen durchschnittlichen transnationalen Formation über die Pro-Kopf-Einkommens müssen viele Staatsgrenzen zu Niger, Tschad und Nigerianer mit weniger als einem US- Kamerun hinweg heranzuwachsen. Dollar pro Tag auskommen. Darüber Besonders deutlich wurden die Pas- hinaus ist das Land in einen vergleichs- sivität der Regierung und ihre Fehl- weise prosperierenden, christlich do-

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 18 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 19

minierten Süden und einen ärmeren, ligiösen Gesetze dieser Bundesstaaten muslimisch geprägten Norden gespal- gegenüber und sorgen für Spannun- ten. Diese Spaltung geht bereits auf die gen, besonders unter den nichtmusli- 1950er Jahre zurück. Damals wurde mischen Beamten und Zivilisten. im südlich gelegenen Nigerdelta Erdöl Die Abgrenzung der religiös, eth- entdeckt. Doch die Gewinne landeten nisch und wirtschaftlich sehr unter- in den Händen einflussreicher politi- schiedlich geprägten nördlichen und scher und wirtschaftlicher Eliten, die südlichen Landesteile Nigerias hat Mehrheit der Menschen blieb von die- auch politische Relevanz. So wird Jo- sem Wohlstand ausgeschlossen. Sozia- nathan vorgeworfen, gegen das unge- le Spannungen, eine flächendeckende schriebene Gesetz verstoßen zu haben, gesellschaftliche Unzufriedenheit so- demzufolge die Regierungsführung wie fehlendes Vertrauen in Politik und zwischen Repräsentanten aus dem in staatliche Institutionen waren die Norden und dem Süden alternieren Folge. soll. Um Wählerstimmen aus dem Nor- Goodluck Jonathan hat es nicht den zu gewinnen, versprach er 2011, vermocht, diese Kluft zu verringern. nur für eine Amtszeit kandidieren zu Zwar verfolgt der Präsident eine wirt- wollen, obwohl rechtlich zwei Legis- schaftsfreundliche Politik – das Land laturperioden von je vier Jahren mög- hat im letzten Jahr Südafrika als größte lich wären. Indem Jonathan nun erneut Volkswirtschaft des Kontinents abge- zur Wahl antritt, hat er sein Wort ge- löst –, allerdings förderte er vor allem brochen. Einige Beobachter in Nigeria die wirtschaftlich ertragreichen Me- sehen das Staatsoberhaupt daher mitt- tropolregionen im Süden, während er lerweile selbst als Verkörperung des den Norden zurückstellte. Gleichzei- Problems. tig vernachlässigte er die staatlichen Grundpfeiler wie Gesundheit, Bildung und Investitionen im Agrarsektor und Der Sicherheitsapparat ließ den Ausbau des Verkehrsnetzes im Dienst der Mächtigen oder die schon lange benötigte lan- desweite Stromversorgung schleifen. Auch international wächst die Kritik Ein Großteil der Bevölkerung macht an Jonathan. So macht etwa Human die Regierung angesichts dessen für Watch die Regierung für die die ungerechte Verteilung des Reich- derzeitige katastrophale Sicherheits- tums verantwortlich. Selbst in seiner situation verantwortlich. Heimatregion im Süden hat Jonathans Tatsächlich sind die Probleme im Politik für Unmut gesorgt. nigerianischen Sicherheitssektor, al- Für das terroristische Netzwerk Bo- so bei Streitkräften, Polizei und Justiz, ko Haram hat sich das Wohlstandsge- gravierend. Doch Nigeria leidet nicht fälle im Land indes als ein begünsti- erst seit dem Erstarken von Boko Ha- gender Faktor erwiesen. Frustrierte ram unter einem Sicherheitsproblem. junge Männer ohne Arbeit und Per- Zwar gilt die nigerianische Armee im spektive lassen sich leicht für den westafrikanischen Vergleich als stark, Kampf gegen den Staat rekrutieren. und das Land engagiert sich seit Jah- Auch die von einigen Gouverneu- ren mit Friedenstruppen innerhalb der ren verschiedener nördlicher Bundes- Staatengemeinschaft ECOWAS (Eco- staaten seit dem Jahr 2000 eingeführ- nomic Community of African States) te Scharia erscheint vielen als attrak- in verschiedenen Krisengebieten Af- tive, da funktionierende Alternative rikas. Doch innenpolitisch gelingt es zum langsamen und korrupten staatli- der Armee keineswegs, Sicherheit zu chen Rechtssystem. Dabei stehen sich gewährleisten. Die unterbezahlten das säkulare Bundesgesetz und die re- Beamten sind oft empfänglich für Be-

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 19 18.02.15 10:09 20 Kommentare und Berichte

stechungsgelder und verschaffen so sammenschloss, um ein Gegengewicht vielen Verbrechern Straffreiheit. Ein zur PDP zu bilden. Es ist bereits das Großteil der Gelder, die in die Bekämp- zweite Duell zwischen Jonathan und fung von Boko Haram investiert wer- Buhari um das Präsidentenamt. Letzte- den, versickert. Zudem kommt es bei rer unterlag bei der Wahl 2011 mit rund Einsätzen der Sondertruppe Joint Task 32 Prozent dem Sieger Jonathan, der Force im Kampf gegen Boko Haram in gut 60 Prozent der Stimmen erhielt. den Bundesstaaten Yobe, Adamawa Buhari, der sich explizit auf die Sei- und Borno, wo seit Mai 2013 ein Aus- te der Regierungskritiker geschlagen nahmezustand herrscht, zu willkürli- hat, spricht sich für die Bekämpfung chen Verhaftungen und Tötungen. Ra- von Armut und Unsicherheit aus. Prio- cheaktionen des Militärs an der mus- rität haben für ihn die Eindämmung limischen Bevölkerung haben die Si- der Korruption und die infrastrukturel- cherheitskräfte in ein schlechtes Licht le Entwicklung in den ländlichen Re- gerückt und tragen nicht zur Befrie- gionen. Damit rechnet er sich Chan- dung der Lage bei. Auch der Polizeiap- cen auf einen Großteil der Stimmen parat befindet sich in einem desolaten aus dem Norden aus. Potentielle Wäh- Zustand. Folter, außergerichtliche Tö- ler erhoffen sich von ihm zudem ein tungen und fehlender Opferschutz sind entschiedeneres Vorgehen gegen Boko an der Tagesordnung. Im Justizbereich Haram. Der 72jährige verfügt als ehe- sind es vor allem Verzögerungen im maliger General nicht nur über mehr Prozessablauf, Klientelismus und feh- militärische Erfahrung als Amtsinha- lende Kooperation mit den Polizeikräf- ber Jonathan, er ist auch auf der politi- ten, die notorisch Probleme bereiten. schen Bühne kein Neuling: Buhari re- Kurzum: Die nigerianischen Sicher- gierte das Land bereits zwischen 1985 heitskräfte sorgen vorrangig für den und 1987 während der Militärdiktatur. Schutz der Mächtigen und Reichen. Doch weder Jonathan noch Buhari haben bislang eine konkrete Strategie im Kampf gegen die Terrorgruppe for- Gegenkandidat Muhammadu Buhari muliert. Darüber hinaus sind umfang- – eine politische Alternative? reiche Hilfsmaßnahmen für die hun- derttausenden Flüchtlinge aus dem Als Hauptgrund für die eskalierende Nordosten des Landes erforderlich. Gewalt sehen viele Beobachter jedoch Damit allein wird es jedoch nicht ge- den fehlenden Willen der politischen tan sein: Um den Zusammenbruch des Eliten, grundlegende Reformen anzu- fragilen Landes abzuwenden, muss die gehen. Nahezu alle Machthaber und neue nigerianische Regierung nach Führungseliten profitieren vom be- der Wahl vor allem gegen die Ursa- stehenden System der Korruption bzw. chen der Gewalt vorgehen. Es braucht gelangten durch dieses erst an ihre der- umfassende strukturelle Reformen so- zeitigen Ämter und wollen diese lukra- wohl im staatlichen Sicherheitssektor tiven Machtposten ungern aufgeben. als auch in der Wirtschafts- und So- Vor diesem Hintergrund stellt sich zialpolitik, die allen Nigerianern eine die Frage, ob der Gegenkandidat Mu- gerechtere Teilhabe am Ressourcen- hammadu Buhari eine Alternative zu reichtum des Landes verschaffen. Die Jonathan darstellt. Der Muslim aus effektive Bekämpfung der Ebola-Epi- dem Norden gilt als der aussichts- demie im Herbst letzten Jahres hat ge- reichste unter den insgesamt 14 antre- zeigt, dass Nigerias Führung durchaus tenden Kandidaten. Er ist Präsident- in der Lage ist, Missstände zu bekämp- schaftskandidat der Partei All Progres- fen. Was ihr bislang jedoch fehlt, ist der sives Congress (APC), die sich 2013 aus politische Wille, die dafür nötigen Re- verschiedenen kleinen Parteien zu- formen tatsächlich anzugehen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 20 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 21

Patrick Hönig Verfolgt, aber kämpferisch: Sexuelle Minderheiten in Afrika

Die Situation sexueller Minderheiten abweichendes Verhalten von der hete- in Afrika ist dramatisch: In 36 der ins- rosexuellen Norm nachgesagt wurde, gesamt 55 Länder steht Homosexuali- noch einmal drastisch zu. Die Nicht- tät unter Strafe. Auf keinem anderen regierungsorganisation Sexual Mino- Kontinent finden sich auf der Weltkar- rities Uganda legte im Mai 2014 einen te der Internationalen Vereinigung von Bericht vor, der eine Vielzahl von Über- Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- griffen dokumentiert. Die Palette der gender und Intersexuellen (LGBTI) Straftaten reicht von Sachbeschädi- so viele rote Flecken – die Farbe steht gung über Nötigung bis hin zu Körper- für lange Freiheitsstrafen oder gar die verletzung und Freiheitsberaubung. Todesstrafe.1 In den letzten Jahren hat Der Bericht schildert außerdem, wie sich die Lage der LGBTI-Gemeinde ein Klima der Angst sexuellen Minder- mancherorts sogar noch deutlich ver- heiten ein normales Leben nahezu un- schärft, insbesondere im Afrika süd- möglich macht.2 lich der Sahara. Gegen diesen Zustand der Straf- In Uganda setzte Präsident Yoweri losigkeit regt sich nun jedoch zuneh- Museveni Anfang letzten Jahres ein mend Widerstand. Eine Allianz von „Antihomosexuellengesetz“ in Kraft, Bürgerrechtlern klagte gegen das das bei „besonders schwerwiegen- „Antihomosexuellengesetz“ – mit Er- den“ Verstößen, etwa bei wiederhol- folg. Schon acht Monate nach dessen ten gleichgeschlechtlichen sexuellen Inkrafttreten hob das ugandische Ver- Handlungen, lebenslange Haftstrafen fassungsgericht das Gesetz wieder auf. vorsieht. Auch für die „Förderung“ von Die LGBTI-Gemeinde feierte, aber ge- Homosexualität lässt das Gesetz dra- bannt ist die Gefahr noch nicht. Denn konische Strafen zu, mithin also für je- das Gericht kassierte das Gesetz aus de Ausübung demokratischer Mitwir- formalen Gründen und nicht etwa, weil kungsrechte, sofern sie als „störend“ es gegen Grundrechte verstieße. Schon für die Verbreitung der herrschen- drohen Politiker insbesondere der Re- den repressiven Sexualmoral empfun- gierungspartei, das Gesetz ein weiteres den werden. Erst drei Jahre zuvor war Mal ins Parlament einzubringen. LGBTI-Aktivist David Kato in seinem Haus nahe Kampala erschlagen wor- den. Er hatte eine gerichtliche Verfü- Homophobe Stimmungsmache gung gegen eine Zeitschrift erwirkt, die Namen und Fotos von Menschen Uganda steht mit dieser diskriminie- veröffentlicht hatte, die angeblich renden Politik nicht allein. Politische homosexuell waren. Nach der Verab- Trittbrettfahrer gehen nun auch in den schiedung des Gesetzes nahmen die Nachbarländern, etwa der Demokra- Gewalttaten gegen Personen, denen tischen Republik Kongo, auf Stimmen

1 Vgl. die Übersicht Lesbian and gay rights in 2 Vgl. Sexual Minorities Uganda, From Torment the world, http://old.ilga.org, 2014. to Tyranny, Kampala 2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 21 18.02.15 10:09 22 Kommentare und Berichte

fang. Verschärfungen der Gesetze dro- wie auch in anderen Teilen der Welt als hen zudem in Kenia. Im westafrikani- Folge sozialer und wirtschaftlicher schen Gambia können seit letztem Jahr Umwälzungen durchlässiger gewor- für „besonders schwere Formen der den sind. Homosexualität“ lebenslange Haft- Propagiert wird die Ausgrenzung strafen verhängt werden. In Nigeria, von LGBTI-Personen von politischen dem bevölkerungsreichsten Land Af- Gruppierungen, die sich auf Kosten se- rikas, gehört die Kriminalisierung von xueller Minderheiten profilieren wol- der Norm abweichender einvernehm- len. Parteien aller Schattierungen ver- licher sexueller Praktiken zwischen folgen in Wahlkampfzeiten Ausgren- Erwachsenen schon lange zum Stan- zungsstrategien, um sich der Wäh- dardrepertoire staatlicher Politik. Prä- lergunst breiter gesellschaftlicher sident Goodluck Jonathan drehte die Schichten zu versichern. Oft beteili- Schraube noch etwas weiter und unter- gen sich Vertreter der Kirchen an sol- zeichnete im Januar 2014 das „Gesetz chen Kampagnen, viele mit Verbin- über das Verbot gleichgeschlechtlicher dungen zu ultrakonservativen christ- Ehen“. Seitdem droht Personen, die lichen Gruppen in Nordamerika. Es eine gleichgeschlechtliche Lebens- wird gepredigt, dass Homosexualität partnerschaft eingehen, eine Strafe ein Import westlicher Lebensart sei, von bis zu 14 Jahren Haft; Unterstüt- vor der es afrikanische Gesellschaf- zungshandlungen, unter Umständen ten zu bewahren gelte. Dies ist inso- also auch bloße Solidaritätsbekundun- fern paradox, als es christliche Missio- gen, können mit bis zu zehn Jahren nare aus dem Westen waren, die in den Haft geahndet werden. Im muslimisch 80er Jahren des 20. Jahrhunderts nach geprägten Norden Nigerias, aber auch Afrika kamen, um homophobes Ge- im Sudan und in Mauretanien droht dankengut zu verbreiten. Die aus Ni- Homosexuellen sogar die Todesstrafe. geria stammende Schriftstellerin Chi- Aber auch in afrikanischen Län- mamanda Ngozi Adichie fand deshalb dern, die sich durch relativ liberale großen Anklang, als sie darauf auf- Gesetze auszeichnen, ist Homophobie merksam machte, dass nicht sexuelle weit verbreitet. In Südafrika, dessen Vielfalt, sondern die dagegen gerichte- Verfassungsgericht 2005 aus dem Ver- ten Gesetze „unafrikanisch“ seien. bot der Diskriminierung aufgrund se- Tatsächlich lassen sich viele der xueller Orientierung das Recht gleich- „Antihomosexuellengesetze“ in Afrika geschlechtlicher Paare auf Eheschlie- bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen. ßung ableitete, fallen Menschen we- Kontrolle über die Sexualität der Ko- gen ihrer sexuellen Orientierung und lonialvölker war stets Teil des Beherr- Identität immer wieder Straftaten zum schungsplanes europäischer Kolonial- Opfer.3 Diese Taten werden aus Hass mächte. Sexualität, die nicht der Fami- gegen vermeintlich anderes und an- lienplanung diente, galt als potentiell dere begangen, aber selten als Hass- subversiv und damit suspekt. Diese verbrechen bezeichnet und bekämpft. Muster wirken bis heute fort. So wird Die reaktionäre Sexualmoral, mit der unter anderem behauptet, Homosexu- solche Übergriffe gerechtfertigt wer- alität sei der Grund für die Ausbrei- den, speist sich aus einer zunehmen- tung von Krankheiten wie HIV/Aids. den Verunsicherung über traditionel- Dabei ist es gerade die Verleugnung le Geschlechterrollen, die in Afrika, sexueller Vielfalt, die den Erfordernis- sen einer umfassenden Gesundheits- 3 Vgl. UN High Commissioner for Human vorsorge entgegenläuft. Rights, Discriminatory laws and acts of violen- Letztlich ist das Streben nach Deu- ce against individuals based on their sexual orientation and gender identity, A/HRC/19/41, tungshoheit darüber, was sexuelle 2011. „Normalität“ ausmacht, Wesenszug

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 22 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 23

eines jeden repressiven Staates. Über Sahara vielerorts zivilgesellschaftliche die Marginalisierung sexueller Min- Initiativen entwickelt, die sich gegen derheiten lassen sich missliebige Dis- Angriffe auf die Rechte sexueller Min- kussionen wie die um das in weiten derheiten entschlossen zur Wehr set- Teilen Afrikas stark defizitäre Gesund- zen. Die deutsche Sektion von Amnes- heitswesen steuern. Wenn etwa HIV/ ty International zeichnete 2014 die aus Aids als das Problem sexueller Minder- Kamerun stammende Anwältin Alice heiten – die an ihrer Ansteckung selbst Nkom für ihren Einsatz gegen die Ver- schuld sind – kleingeredet wird, lassen folgung von Menschen aufgrund ihrer sich Ausgaben für Vorbeugung und sexuellen Orientierung und Identität Therapie mit scheinbar guten Argu- aus. Dies ist ein Zeichen der Anerken- menten einsparen: Dann unterbleiben nung ebenso wie eines der Solidarität. flächendeckende Aufklärung über die Auch in Künstlerkreisen formiert Risiken ungeschützten Geschlechts- sich Widerstand gegen homophobe verkehrs oder die Subventionierung Tendenzen. In ihrem jüngst veröffent- antiretroviraler Therapien zur Behand- lichten Bildband „Faces and Phases“ lung des Virus. In letzter Zeit verdich- gibt die visuelle Aktivistin Zanele Mu- ten sich aber die Anzeichen dafür, dass holi aus Johannesburg der sexuellen gerade in Ländern, die – wie Uganda – Vielfalt ein Gesicht, indem sie Porträts Schauplatz massiver Hetzkampagnen derer zeigt, die Sexualität anders le- gegen LGBTI-Personen waren, diese ben, als es der Norm entspricht.4 Dies Rechnung nicht mehr aufgeht. Zuneh- ist auch deshalb berührend, weil Men- mend fragen sich die Menschen, ob es schen, die sich wie Muholi zu ihren nicht dringlichere Aufgaben gibt, als gleichgeschlechtlichen Neigungen be- Gesetze gegen Homosexuelle zu erlas- kennen, ein schwer kalkulierbares Ri- sen, etwa die Bekämpfung von Korrup- siko eingehen. tion, struktureller Armut oder Jugend- Aufsehen erregte auch der mit dem arbeitslosigkeit. Menschenrechtsorga- Caine Prize for African Writing ausge- nisationen warnen schon lange vor den zeichnete kenianische Schriftsteller gesamtgesellschaftlichen Folgen einer Binyavanga Wainaina, als er im Janu- Kriminalisierung der LGBTI-Gemein- ar 2014 ein, wie er erklärte, verloren- de. Sie verweisen darauf, dass Gewalt gegangenes Kapitel seines auch in gegen Randgruppen nicht isoliert be- deutscher Übersetzung erschienenen trachtet werden kann und nicht ohne Erinnerungsbandes veröffentlichte.5 Auswirkungen für das Rechtsgefüge Darin beschreibt er den nicht mehr in als Ganzes bleibt. Erfüllung gegangenen Wunsch, seiner auf dem Sterbebett liegenden Mutter zu eröffnen, dass er homosexuell ist. In Widerstand der Zivilgesellschaft Kenia, bekannt als Land mit einer le- bendigen Zivilgesellschaft, löste Wai- Liberale politische Strömungen setzen nainas Bekenntnis eine hitzige Dis- daher zunehmend auf Aufklärung. In kussion über Homosexualität aus. Das der Hochschulpolitik sind bereits erste Comingout des Autors ist dabei als eine Erfolge sichtbar. Genderfragen finden klare politische Botschaft zu verstehen. sich auf dem Lehrplan vieler staat- Die „Antihomosexuellengesetze“ in licher Universitäten in Zentralafrika, Uganda und Nigeria seien aus der Zeit und in Seminaren gibt es immer öfter gefallen, erklärte Wainaina in einem Raum für Begegnungen mit Angehö- Fernsehinterview. Frauen und Männer rigen der LGBTI-Gemeinde. So wer- den Verständigungsmöglichkeiten ge- 4 Vgl. Zanele Muholi, Faces and Phases 2006- 2014, Göttingen 2014. schaffen und Vorurteile abgebaut. Zu- 5 Binyavanga Wainaina, Eines Tages werde ich dem haben sich im Afrika südlich der über diesen Ort schreiben, Heidelberg 2013.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 23 18.02.15 10:09 24 Kommentare und Berichte

seiner Generation pflegten einen offe- Orientierung und Identität in afrika- nen Umgang mit Sexualität und ließen nischen Gesellschaften oft nicht in sich nicht vorschreiben, wie sie zu le- westlichen Begrifflichkeiten abbilden ben hätten. Dies ist eine Kampfansage lassen. Ergebnisse empirischer For- insbesondere an jene politischen Eliten schung belegen, dass Sexualität sich afrikanischer Staaten, deren Macht- stets auch im Verhältnis zu den politi- erhaltungswille trotz gravierender Le- schen, wirtschaftlichen und sozialen gitimitätsdefizite ungebrochen ist. Strukturen entwickelt, die den Alltag der Menschen prägen.6 Schon im Ver- such der Klärung des Begriffes der se- Die Rolle des Westens xuellen Minderheit liegt eine gefähr- liche Vereinfachung komplexer Sach- Die jüngsten Verschärfungen der verhalte. Auch ist zu berücksichti- Strafandrohung gegen gleichge- gen, dass allein die Behauptung, es schlechtliche sexuelle Beziehungen sei gegen sexuelle Normen verstoßen unter Erwachsenen sorgten nicht zu- worden, Sanktionen nach sich ziehen letzt auch im Kreis westlicher Geber- kann. Die Verteidigung sexueller Frei- länder für Empörung. So veranlasste heiten ist daher nicht allein ein Anlie- die Verabschiedung des „Antihomo- gen von Minderheiten. sexuellengesetzes“ in Uganda unter Wie ernst die Verfolgung von anderem die Vereinigten Staaten dazu, LGBTI-Personen in afrikanischen Län- Mittel der Entwicklungszusammen- dern mittlerweile auch in Europa ge- arbeit zurückzuhalten. Die Bundesre- nommen wird, zeigt sich nicht zuletzt gierung schwenkte auf diesen Kurs ein in der Rechtsprechung zum Asylrecht. und prüfte, wie Zusagen an staatliche Der Europäische Gerichtshof entschied Stellen zurückgenommen und Gelder 2013, dass Flüchtlinge Anspruch auf zugunsten der Zivilgesellschaft um- Asyl haben, wenn ihnen in ihrer Hei- verteilt werden könnten. Aber genau mat Verfolgung wegen ihrer sexuellen hier zeigt sich eine eklatante Schwä- Orientierung droht. Der Entscheidung che der afrikapolitischen Leitlinien lag der Fall dreier homosexueller Män- der Bundesregierung: Maßnahmen ner aus Uganda, Sierra Leone und dem zum Menschenrechtsschutz und zur Senegal zugrunde, die in den Nieder- Stärkung der Zivilgesellschaft werden landen Zuflucht gesucht und auf ihre nicht aufeinander abgestimmt. Afrika- Anerkennung als Flüchtlinge geklagt nische Nichtregierungsorganisationen hatten. Für die von Verfolgung bedroh- betonen stets aufs Neue, dass ihnen ten Angehörigen sexueller Minder- eine klare Positionierung westlicher heiten ist die Entscheidung ein Erfolg Regierungen im Kampf um eine Ver- – doch letztlich kann das Asylrecht nur besserung der Rechte sexueller Min- im Einzelfall Lösungen herbeiführen. derheiten helfen kann. Das Zurückfah- Die systematische Diskriminierung ren humanitärer oder politischer Pro- gegen Angehörige der LGBTI-Ge- gramme bewirkt jedoch das Gegenteil. meinde muss letztlich dort bekämpft Es trifft die Bevölkerung als ganze und werden, wo sie stattfindet. Politische setzt die LGBTI-Gemeinde der Gefahr Initiativen und Netzwerke zum Schutz aus, auch dafür zum Sündenbock ge- der Menschenrechte haben diese ge- macht zu werden. waltige Herausforderung in vielen af- Schließlich verkürzt die gebetsmüh- rikanischen Gesellschaften angenom- lenartige Wiederholung westlicher Be- men – im Gegensatz zu den politisch lehrungen und Drohungen die Debat- Verantwortlichen. te auf ein „Ja“ oder „Nein“ zu „Anti- homosexuellengesetzen“. Dabei wird 6 Vgl. Sylvia Tamale (Hg.), African Sexualities, außer Acht gelassen, dass sich sexuelle Cape Town u.a. 2011.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 24 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 25

Maja Volland TTIP: Politik gegen den Bürger

Wenn „wir“ keine Spielregeln für die mission in einem kürzlich an die Öf- Globalisierung setzen, tun es andere, fentlichkeit gelangten Entwurf für ein lautet ein beliebtes Argument der Be- TTIP-Kapitel vor, dass der jeweils an- fürworter des geplanten Freihandels- dere Handelspartner zukünftig früh- abkommens zwischen den Vereinigten zeitig in die Gestaltung von Gesetzen Staaten und der Europäischen Union einbezogen werden soll.2 Mindestens (TTIP). Sie argumentieren, mit dem Ab- einmal im Jahr müssen ihm alle Ge- kommen ließen sich „Nachhaltigkeit“ setzesvorhaben vorgelegt werden. und hohe Standards in der globalisier- Äußern entweder die EU oder die USA ten Wirtschaft garantieren.1 Und in der Bedenken bezüglich deren Auswir- Tat: In Anbetracht der kombinierten kungen auf den Handel, können sie Wirtschaftsmacht der EU und der USA unverzüglich eine Konsultation über würde ein gemeinsamer Freihandels- das Gesetz einfordern. Nach Wunsch vertrag globale Standards setzen. der EU-Kommission soll diese Rege- Der Haken ist nur: Aus Sicht der lung auch für Gesetze auf Ebene der Verbraucher ist TTIP völlig ungeeig- EU-Mitgliedstaaten und Bundesländer net, um hohe Normen zum Schutz von gelten. Auch private Akteure wie et- Mensch und Natur zu garantieren. wa Wirtschaftsunternehmen aus dem Das Freihandelsabkommen sieht viel- In- und Ausland sollen bei vielen Ge- mehr umfassende Liberalisierungs- setzesvorhaben konsultiert werden. und Deregulierungsmaßnahmen vor: Das aber wäre ein massiver Eingriff Mit Ausnahme weniger sensibler Wirt- in demokratische Gesetzgebungspro- schaftsbereiche sollen Märkte umfas- zesse: Gesetze müssten dann mitunter send dereguliert und für Konzerne ge- erst mit dem Handelspartner abge- öffnet werden. Wird TTIP in seiner ge- stimmt werden, bevor sie das EU-Par- planten Form umgesetzt, würde das lament zu Gesicht bekommt. Zudem ist Primat der Wettbewerbslogik sich auch absehbar, dass Gesetze verzögert oder in Bereichen durchsetzen, die wichti- ausgebremst werden könnten, wenn ge öffentliche Güter regulieren. Dies sie wirtschaftlichen Interessen zuwi- betrifft nicht zuletzt den Umwelt- und derlaufen. Einen Vorgeschmack auf die Verbraucherschutz. Das allseits ange- Folgen dieses Vorschlags der EU-Kom- führte Chlorhühnchen ist dabei noch mission gibt das Beispiel der Kraftstoff- das geringste Problem. qualitätsrichtlinie der EU. Ursprüng- lich bestand das Ziel dieser Richtlinie darin, Kraftstoffe entsprechend ihrer Nachhaltigkeit als Handelshemmnis Klimabilanz einzustufen und zu be- handeln. Auf Druck der kanadischen Die EU will bereits im Gesetzgebungs- und der US-amerikanischen Regierun- prozess verhindern, dass den Handel gen, für deren Industrie das besonders hemmende Gesetze überhaupt erst klimaschädliche Öl aus Teersanden entstehen. So schlägt die EU-Kom- von hoher Bedeutung ist, wurde die

1 Vgl. etwa , Wir müssen TTIP 2 Vgl. EU-US TTIP Negotiations. Draft proposal, entmystifizieren, in: „Vorwärts“, 22. 8.2014. 28.1.2015, S. 6, www.stop-ttip.org.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 25 18.02.15 10:09 26 Kommentare und Berichte

Richtlinie jedoch stark verwässert; sie Prinzip der Vorsorge. Der Staat hat den ist aufgrund ihres Widerstands bis heu- Auftrag, Regelungen zum Schutz der te nicht in Kraft getreten.3 Umwelt und der Gesundheit zu garan- Setzt sich der Vorschlag der EU- tieren. Er verfügt damit über das Recht, Kommission durch, könnten künftig ein Produkt bei einem Risikoverdacht auch andere Bereiche des EU-Klima- zu reglementieren. Die Nachweis- und Verbraucherschutzes der US-Han- pflicht, dass ein Produkt unbedenklich delspolitik zum Opfer fallen. So mel- ist, liegt bei dem Hersteller bzw. dem dete der US-Handelsbeauftragte, Mi- Importeur. In den Vereinigten Staaten chael Froman,4 in einem Bericht zu dagegen gilt jedes Produkt als unbe- technischen Handelshemmnissen von denklich, bis ein eindeutiger Gegen- 2014 bereits Bedenken an geplanten beweis einer Behörde vorliegt. Diese Regelungen zu potentiell gesundheits- divergierenden Ansätze drücken sich schädlichen Umwelthormonen (soge- in unterschiedlich strengen Vorschrif- nannter Endokriner Disruptoren), zu ten bezüglich Chemikalien, Lebens- Treibhausgasen oder der Richtlinie zu mitteln oder Gentechnik aus. So gibt erneuerbaren Energien an. es in den USA weder verbindliche Re- Zudem möchte die EU-Kommis- geln für die Zulassung noch für die sion auch bereits existierende Stan- Kennzeichnung von Gentechnik in Le- dards mit dem Handelspartner debat- bensmitteln. Fleisch aus Hormonmast, tieren können. Ihr Ziel sind „kompa- von Chlorhühnern und Klontieren darf tible Regelungen“5 – um diese zu er- hergestellt und ohne eine Kennzeich- reichen, sind jedoch tiefgreifende Ein- nung angeboten werden. In anderen griffe in europäisches bzw. nationales Bereichen wiederum sind die Geset- Recht diesseits oder jenseits des At- ze in den USA strenger als in der EU – lantiks unvermeidbar. Denn die Regu- etwa bei der Reglementierung des Fi- lierungsansätze der EU und der USA nanzsektors. Es geht also nicht darum, unterscheiden sich fundamental. US-amerikanische Standards schlicht- In der EU funktioniert der Umwelt- weg abzulehnen, wie dies kritischen und Verbraucherschutz nach dem Stimmen gegen TTIP gerne unterstellt wird. Wenn Standards zwischen der 3 Vgl. Thomas Fritz, CETA: Blaupause der Dere- EU und den Vereinigten Staaten har- gulierung, in: „Blätter“, 1/2015, S. 25-28. monisiert oder gegenseitig anerkannt 4 United States Trade Representative, Report on werden sollen, wird sich im freien Technical Barriers to Trade 2014, Washington D.C. 2014, S. 47, www.ustr.gov. Wettbewerb jedoch der jeweils kosten- 5 Draft proposal, a.a.O., S. 10. günstigere Standard durchsetzen – zu Lasten der Umwelt und der Nachhal- tigkeit.

Freier Handel zu Lasten des Klimas

Ein weiterer Beleg dafür, dass TTIP in erster Linie wirtschaftlichen Interes- Ukraine: Ost gegen West sen dient und nicht der Sicherung ho- Was sind die Hintergründe des Konflikts? her Schutzstandards, ist der Vorschlag Welche Interessen verfolgt der Westen, Foto: Karl-Ludwig Poggemann 2.0) BY (CC der EU-Kommission für ein Energie- welche Russland? und Rohstoffkapitel im TTIP. Dieser sieht unter anderem vor, den Export Das Dossier auf www.blaetter.de: fossiler Rohstoffe aus den Vereinigten 13 »Blätter«-Beiträge für 7,50 Euro Staaten zu erleichtern. Derzeit müs- sen alle US-Exporte fossiler Rohstoffe

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 26 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 27

von den amerikanischen Behörden ge- ermöglichen sie eine auf den Bedarf nehmigt werden. Die EU-Kommission zugeschnittene transparente Planung möchte diese Exportrestriktion aushe- und vermindern großflächige Eingriffe beln und erreichen, dass Ausfuhrlizen- in die Natur. zen zukünftig für alle Energieprodukte Darüber hinaus dürfen Energie- – darunter auch fossile Energieträger – unternehmen dem EU-Vorschlag zufol- automatisch gewährt werden.6 ge nicht gezwungen werden, ihr geisti- Die Folgen einer solchen Deregulie- ges Eigentum zu teilen. Diese Klausel rung wären dramatisch. Nicht nur, dass könnte Programme, die einen Aufbau die EU die Ausrichtung ihrer Energie- von Branchen im Bereich der erneuer- politik auf fossile Rohstoffe damit auf baren Energien in technisch weniger lange Sicht fortschreiben würde. Mit weit entwickelten Ländern fördern sol- dem Wegfall der US-Exportrestriktio- len, behindern. Für diese ist die Bereit- nen würde die Nachfrage nach fossilen schaft zum Wissenstransfer zentral. Energierohstoffen voraussichtlich wei- Damit aber gefährdet die EU-Kom- ter steigen und den derzeitigen Boom mission ihre eigenen klimaschutzpoli- der unkonventionellen Förderung von tischen Ziele wie die Reduktion von Erdöl und -gas mittels Fracking in den Treibhausgasemissionen. Um diese zu USA weiter befeuern. erreichen, bedarf es handlungsfähiger Zugleich würde der Gestaltungs- Regierungen, die ihre Energiepolitik spielraum der Regierungen in der gestalten können und die Förderung Energiepolitik stark minimiert. Denn sowie den Verbrauch fossiler Energie der Vorschlag sieht vor, Preisregulie- beschränken können. rungen zu untersagen und gemein- Statt mit klimapolitischen Zielen wirtschaftliche Verpflichtungen nur deckt sich der Vorschlag der EU-Kom- sehr eingeschränkt zuzulassen. Letzte- mission mit den Zielen der EU-Roh- re ermöglichen es Regierungen, Strom- stoffstrategie – deren Kernstück die Si- versorgungsunternehmen Auflagen im cherung des Rohstoffzugangs bildet. Zu öffentlichen Interesse zu erteilen. diesem Zweck sollen Handelshemm- nisse wie Exportrestriktionen und an- dere preisverzerrende Regulierungen Weder nachhaltig noch demokratisch bei Rohstoffen beseitigt werden. Angesichts all dessen zeigt sich: Auch die Förderung von erneuerbaren TTIP ist nicht als Instrument konzi- Energien würde durch den Vorschlag piert, um „Nachhaltigkeit“ und hohe der EU-Kommission untergraben. So Standards in der globalisierten Wirt- sollen alle Regelungen untersagt wer- schaft zu sichern. Stattdessen droht den, die einen Mindestanteil lokal er- TTIP demokratische und regulieren- zeugter erneuerbarer Energien vor- de Prozesse zurückzuschrauben – zu- schreiben. In vielen Ländern werden gunsten von Konzerninteressen. Wäh- derartige Vorschriften genutzt, um rend die Unternehmen immer mehr einen eigenen Sektor in dem Bereich Einfluss auf politische Entscheidungen aufzubauen. Ein Verbot würde die gewinnen, werden bestehende Stan- Förderung solcher lokaler Programme dards unter die Räder geraten. Eine erheblich erschweren. Dabei sind de- Politik im Sinne von Umwelt und Ver- zentrale und lokale Lösungen für den brauchern müsste die Spielregeln für Ausbau erneuerbarer Energien von den globalen Handel hingegen ganz entscheidender Bedeutung: Im Gegen- anders setzen – nämlich orientiert an satz zu zentralen Versorgungsansätzen den Interessen und Bedürfnissen der Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bür- 6 Vgl. For the attention of the trade policy com- mittee, dok. unter http://big.assets.huffington- ger. Davon aber ist TTIP derzeit mei- post.com/TTIPNonPaper.pdf, S. 3. lenweit entfernt.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 27 18.02.15 10:09 Blätter für deutsche und internationale Politik

Besuchen Sie den »Blätter«-Verlag auf der Leipziger Buchmesse 2015.

Sie fi nden uns vom 12. - 15. März in Halle 5, Stand F 304.

Dokumente auf www.blaetter.de

Die Dokumente zum Zeitgeschehen: online, kostenfrei und zeitnah aktualisiert – auf der »Blätter«-Website.

Weitere Informationen fi nden Sie in dieser Ausgabe, Seite 124.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 28 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 29

Wolfgang Ehmke Atom: Und täglich grüßt das Restrisiko

Bereits zum vierten Mal jährt sich am messbaren Anstieg von Schilddrüsen- 11. März der verheerende Tsunami in erkrankungen bei Kindern.4 Die Re- Japan und mit ihm die Nuklearkatas- aktorkatastrophe in einem hochindus- trophe im Kernkraftwerk Fukushima triellen Land wie Japan zeigt auch nach Daiichi. Während die Betreiberfirma vier Jahren vor allem eins: Diese Tech- Tepco im Dezember 2014 immerhin nologie lässt sich nicht beherrschen. vermelden konnte, dass aus einem der Das gilt nicht nur für die Katastrophe vier Reaktoren alle Brennstäbe ent- selbst, sondern auch für das Krisenma- fernt wurden, bleiben viele weitere nagement im Falle eines Störfalls: Im gravierende Probleme nach wie vor un- Oktober 2014 berichtete die „tageszei- gelöst: Noch immer lagern Brennstäbe tung“ über eine Katastrophenübung in in den übrigen Reaktoren, die ständig Deutschland, bei der Bund und Länder gekühlt werden müssen. Tag für Tag einen atomaren Störfall simulierten. gelangen deshalb Unmengen radioak- Dabei zeigten sich gravierende Män- tiv verseuchten Kühlwassers ins Meer.1 gel in der Zusammenarbeit von Lan- Noch immer ist das Fischen südlich von des- und Bundesbehörden und insbe- Fukushima verboten – zu hoch ist die sondere bei der Information der Bevöl- radioaktive Belastung der gefangenen kerung. Noch immer scheint vor allem Fische.2 Zahllose Container sammeln eine Devise zu gelten: Um Panik zu ver- sich auf dem Gelände des Kernkraft- hindern, werden systematisch Infor- werks, in denen radioaktives Kühl- mationen zurückgehalten. Im Planspiel wasser gesammelt wird, ohne dass zögerten die zuständigen Beamten teil- es für deren Entsorgung ein Konzept weise so lange, bis die fiktive radioak- gäbe. Mit den Aufräumarbeiten sind tive Wolke schon über bewohntes Ge- über viele Unterfirmen schlecht aus- biet gezogen wäre. Das aber hätte im gebildete und schlecht bezahlte Leih- schlimmsten Fall verheerende Auswir- arbeiter beschäftigt, deren Strahlenex- kungen für die Menschen: Denn allein position nicht ordnungsgemäß erfasst der Aufenthalt in Gebäuden verringert wird. Derweil der offizielle UN-Be- die direkte Aufnahme von Radioakti- richt zu den Auswirkungen der Reak- vität um ein Vielfaches. Darüber hin- torkatastrophe keine gravierenden Ge- aus gab es vielfältige Abstimmungs- sundheitsfolgen für die betroffene Be- schwierigkeiten zwischen Bund und völkerung prognostiziert,3 offenbarten Ländern sowie Kompetenzgerangel neueste Reihenuntersuchungen einen zwischen den zuständigen Behörden. Dies macht deutlich: Für einen Störfall 1 Vgl. dazu auch Sebastian Pflugbeil, Tscher- 5 nobyl in Permanenz. Ein Jahr Fukushima, in: ist das Land äußerst schlecht gerüstet. „Blätter“, 3/2012, S. 89-97; Fukumoto Masao, Doch selbst ohne einen gravieren- Drei Jahre Fukushima – verdrängt und verges- den Zwischenfall in einem Kernkraft- sen?, in: „Blätter“, 3/2014, S. 21-24. 2 Vgl. Christoph Neidhart, Die Fischer von Fu- 4 Vgl. IPPNW, Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle kushima bleiben arbeitslos, in: „Tagesanzei- steigt weiter an. Gesundheitliche Folgen der ger“, 9.12.2014, www.tagesanzeiger.ch. atomaren Katastrophe von Fukushima, Presse- 3 Vgl. UNSCEAR, Sources, Effects and Risks mitteilung vom 6.1.2015, www.ippnw.de. of Ionizing Radiation. Report to the General 5 Vgl. Auslegungsüberschreitender Kühlmittel- Assembly with Scientific Annexes, Volume I, verluststörfall, in: „die tageszeitung“ (taz), New York 2014; Volume II, New York 2013. 25.10.2014, S. 8-9.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 29 18.02.15 10:09 30 Kommentare und Berichte

werk kann es jederzeit auch hierzu- kühlt wird, evakuiert die Feuerwehr lande zu einer atomaren Havarie kom- die Gefahrgutcontainer vom Schiff men, selbst an Orten, an denen kaum und schafft es anschließend, das Feu- jemand mit einer solchen Gefahr rech- er zu löschen. Die Summe der unglück- net – wie beispielsweise dem Hambur- lichen Verkettungen liest sich wie ein ger Hafen. Drehbuch für den Endlosfilm „Rest- r isiko“. 6 Auch das Verhalten des Ham- burger Senats fügt sich trefflich in ein Haarscharf an der solches fiktives Drehbuch ein: Wie bei Katastrophe vorbei anderen Störfällen und Problemen wurde die Öffentlichkeit erst zwei Wo- Es ist der Tag der Arbeit 2013. Die chen später und nur aufgrund einer „Atlantic Cartier“ passiert am Vor- Anfrage der Hamburger Grünen über mittag den Hamburger Fischmarkt, die Gefahrgüter auf dem brennenden dort halten die DGB-Gewerkschaf- Frachter informiert. ten ihre Kundgebung ab. Gleichzeitig kommen über 100 000 Besucher zum 34. Deutschen Evangelischen Kirchen- Das Risiko ist keineswegs gebannt tag nach Hamburg. In der Hafencity halten sich deshalb außergewöhn- Der Brand auf der „Atlantic Cartier“ lich viele Menschen auf. Allein 12 000 zählt zu den größten Havarien in der Gläubige besuchen am Strandkai den Geschichte des Hamburger Hafens. Abendsegen, als gegen 20 Uhr auf der Diese Beinahe-Katastrophe wirft ein „Atlantic Cartier“ ein Feuer ausbricht. Schlaglicht auf das bleibende atomare Das Schiff hatte am O‘Swaldkai festge- Restrisiko nach Fukushima: Mit der macht, Luftlinie keine tausend Meter Abschaltung von acht Atomkraftwer- von den Besuchern entfernt. ken ist das Risiko keineswegs gebannt, An Bord des Frachters befinden sich immer noch laufen neun Atomkraft- nicht nur Fahrzeuge, Parfüm und Air- werke in Deutschland. Ganz abgese- bags. Im Schiffsbauch lagern auch zwei hen von den zahllosen Atomkraftwer- Tonnen Raketentreibstoff, drei Ton- ken in den Nachbarländern. Tausende nen Munition, elf Tonnen frische Kern- Nukleartransporte und Atommüllde- brennstäbe und 8,9 Tonnen hochge- ponien überziehen wie ein Spinnen- fährliches Uranhexafluorid. 300 Feuer- netz das Land. Umweltverbände und wehrleute rücken an, es droht die Frei- Anti-Atom-Initiativen verwiesen nach setzung von Radioaktivität wie auch dem Hamburger Vorfall auf den Etiket- von hochgiftiger Flusssäure. Diese tenschwindel des deutschen Atomaus- entsteht, wenn Uranhexafluorid aus- stiegs, denn die Gefahren sind längst tritt und mit Wasser reagiert – dafür nicht gebannt. „Es finden sehr viel reicht schon eine hohe Luftfeuchtig- mehr Transporte radioaktiven Mate- keit. Der Brand kann deshalb nicht rials statt, als wir ahnen“, warnt auch mit Wasser gelöscht, sondern muss mit der Nuklearexperte Wolfgang Neu- Kohlendioxid bekämpft werden. Auf- mann.7 grund undichter Luken reicht jedoch 6 Vgl. Hamburger Hafen. Brennender Frachter die bordeigene Kohlendioxid-Lösch- hatte radioaktives Material geladen, www. anlage nicht aus, um das Feuer zu er- zeit.de, 17.5.2013; Kai von Appen, Schiff mit sticken. Wegen des Feiertags kann die radioaktiver Fracht. Fast Katastrophe beim Kirchentag, in: taz, 17.5.2013 sowie ders. und Feuerwehr allerdings in ganz Nord- Klaus Wolschner, Gefährliches Feuer. Liefer- deutschland kein zusätzliches Kohlen- engpass bei Löschmittel, in: taz, 26.5.2013. dioxid auftreiben und zur Brandstel- 7 Vgl. Maximilian Schäfer, Friedrich Linden- berg und Christina Elmer, Datenlese. Die ver- le transportieren lassen. Während die borgenen Wege der Atomtransporte, www. Bordwand von außen mit Wasser ge- spiegel.de, 29.5.2013.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 30 18.02.15 10:09 Kommentare und Berichte 31

Jährlich rollen rund 500 Transporte 14. Februar 2005 erfolgte die Geneh- von Kernbrennstoffen und sogenann- migung zur Erweiterung des Betriebs- ten radioaktiven Großquellen durch geländes und zum Bau der Trennan- die Republik, genehmigt vom Bun- lage „UTA-2“ mit einer geplanten zu- desamt für Strahlenschutz (BfS). Den sätzlichen jährlichen Kapazität von zahlenmäßig größten Anteil haben je- 2700 Tonnen Urantrennarbeit. Die Jah- doch Transporte radioaktiver Stoffe für reskapazität umfasst nun 4500 Tonnen; Mess-, Forschungs- und medizinische damit können 30 Atomkraftwerke ver- Zwecke, die nicht vom BfS genehmigt sorgt werden. Die Betreiberfirma Uren- werden, sondern anderen Regularien co beliefert 50 Kunden in 18 Ländern. unterliegen. Deren Zahl lässt sich nur In dem zum AREVA-Konzern gehö- abschätzen. Per Schiff, per Bahn, auf renden Unternehmen Advanced Nuc- der Straße – Unfälle mit verheerenden lear Fuels (ANF) in Lingen werden Folgen sind nie auszuschließen.8 Uran-Brennelemente für Leichtwas- Das Bundesamt veröffentlicht zudem serreaktoren hergestellt. Die ANF ver- nur Absender und Empfänger, nicht fügt ebenfalls über eine unbefriste- aber den genauen Weg, den das nuk- te Betriebsgenehmigung. Beide Anla- leare Material nimmt, deshalb taucht gen stehen im Fokus der Kritik. Stör- ein Umschlagpunkt wie der Hambur- fälle, Materialermüdung, mangelndes ger Hafen auf der Seite des Bundes- Altersmanagement und wachsende amtes für Strahlenschutz gar nicht auf. Atommüllhalden sind die Stichwor- „Man will verhindern, dass das Mate- te. Umweltinitiativen und Anti-Atom- rial von Leuten gekapert wird, die da- Gruppen setzen sich auch weiterhin mit Bomben bauen. Oder dass Terroris- für die Schließung der Anlagen ein, ten es mit panzerbrechenden Waffen die vom Atomausstieg nicht betroffen beschießen“, so Wolfgang Neumann.9 sind.10 In Hamburg wird beispielsweise Uran- Öffentlicher Protest hat dazu beige- erzkonzentrat aus /Kanada, tragen, dass das abgereicherte Uran Santos/Brasilien oder Tacoma/USA aus der UAA Gronau nicht mehr als umgeschlagen. Zur weiteren Verarbei- „Wertstoff“ nach Russland transpor- tung geht es auf der Schiene über Ma- tiert wird. Es wird nun stattdessen in schen, Osnabrück, Münster, Hamm, Gronau unter freiem Himmel aufge- Köln, Trier und Woippy nach Narbonne haldet. Die Urenco lässt gerade eine in Frankreich zur Urankonversion. Zwischenlagerhalle für 60 000 Tonnen Dort wird aus dem Uranerzkonzen- Atommüll errichten. trat in zwei Schritten Uranhexafluorid (UF6) hergestellt. Anschließend führt der Weg wieder zurück nach Deutsch- Atommüll überall land, zur Urananreicherungsanlage (UAA) Gronau, dem Zwischenschritt Dieser Müll, früher als „Wertstoff“ de- für die Brennelementeproduktion. Zwei klariert, hat erst jetzt endlich auch Ein- Knotenpunkte der Atomtransporte al- gang in offizielle Bilanzen gefunden. lerdings stehen fest – ebenjenes Gro- Ein Jahr nachdem Bürgerinitiativen nau und Lingen im Emsland, dort wer- und Umweltverbände in ihrem „Sor- den Brennelemente für Atomkraftwer- genbericht“11 eine umfassende Be- ke hergestellt. standsaufnahme des Atommülldesas- Die UAA Gronau ist vom Atom- 10 NDR, 120 Organisationen gegen Lingener ausstieg explizit ausgenommen. Am Atomanlagen, www.ndr.de, 28.1.2015. 11 Ursula Schönberger, Atommüll. Eine Be- 8 Vgl. Bundesamt für Strahlenschutz, Zahlen standsaufnahme für die Bundesrepublik und Fakten: Transporte von Kernbrennstoffen Deutschland. Sorgenbericht der Atommüll- und Großquellen, www.bfs.de. konferenz, Salzgitter 2013, www.atommuell- 9 Vgl. Schäfer/Lindenberg/Elmer, a.a.O. report.de.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 31 18.02.15 10:09 32 Kommentare und Berichte

ters vorgelegt haben, zog das Bundes- die ohne oder erst mit nachträglich er- umweltministerium nach: Im Oktober teilten Betriebsgenehmigungen liefen. 2014 legte es ein Verzeichnis radio- Die Sammlung zeigt Standorte auf, an aktiver Abfälle vor, erstmalig wurden denen Fässer mit Atommüll vor sich Abfälle aus Gronau und der Asse II, die hin rosten wie in Brunsbüttel. zurückgeholt werden sollen, in die Bi- In Jülich ist der Reaktordruckbe- lanz aufgenommen. Das Volumen des hälter so stark verstrahlt, dass nun Nuklearmülls verdoppelte sich damit mit hohem finanziellem und techni- auf 600 000 Kubikmeter.12 schem Aufwand eigens ein Zwischen- In der behördlichen Bestandsauf- lager dafür gebaut werden muss. Für nahme fehlen jedoch noch immer Hin- die Altlasten des Wismut-Bergbaus – weise auf meldepflichtige Ereignis- Uranabbau und -aufbereitung der DDR se und bekannt gewordene Skandale, – gelten bis heute die höheren Grenz- wie sie im „Sorgenbericht“ der Bür- werte der Strahlenschutzverordnung gerinitiativen aufgelistet sind. Dieser der DDR als Sonderkondition. Frag- hingegen liest sich wie ein Kriminal- würdigkeiten wie obsolet gewordene roman. Immer wieder ist von minder- Entsorgungsnachweise, die nicht re- wertigen Baustoffen die Rede, von ver- vidiert werden, sind kein Sonderfall, tuschten „meldepflichtigen Vorfällen“, sondern die Regel. Schließlich ist oft- unsicheren Standorten oder Anlagen, mals die Öffentlichkeit bei Genehmi- gungen ausgeschlossen.13 12 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Über 90 Standorte hat Ursula Schön- Bau und Reaktorsicherheit, Nationales Ent- berger von der Arbeitsgemeinschaft sorgungsprogramm. Programm für eine ver- Schacht KONRAD e.V. in Form von antwortungsvolle und sichere Entsorgung bestrahlter Brennelemente und radioaktiver Datenblättern abgebildet und so den Abfälle, www.bmub.bund.de. Atommüll jetzt in einer interaktiven Karte „sichtbar“ gemacht.14 Die Bestandsaufnahme offenbart: Atommüll betrifft viele Menschen un-

Anzeige mittelbar. Nun muss auch eine Gefah- renabschätzung folgen. Eine realisti- sche Auseinandersetzung ist notwen- dig, um künftigen Generationen kein Desaster zu hinterlassen. Angesichts all der Risiken und der ungeklärten Lagerung des auf hun- derttausende Jahre strahlenden Atom- Weggesperrt – und dann? mülls drängen die Initiativen auf einen Bitte spenden Sie die »Blätter für vollständigen Atomausstieg – ohne deutsche und internationale Politik« Schlupflöcher wie in Gronau und Lin- für Menschen in Haft zum Preis von: gen. Der gesellschaftliche Umgang mit 84,60 jährlich oder überweisen den nuklearen Hinterlassenschaften Sie einen Betrag Ihrer Wahl an: des Atomzeitalters – das zeigt sich vier Freiabonnements für Gefangene e.V. Jahre nach Fukushima einmal mehr Bank für Sozialwirtschaft – ist und bleibt eine Herkulesaufgabe IBAN: DE02 1002 0500 0003 0854 00 sondergleichen. BIC: BFSWDE33BER, Kennwort: Blätter 13 Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dan- nenberg e.V. (Hg.), Entsorgungs-Fiasko. Eine aktuelle Atommüll-Bilanz, Zur Sache Nr. 2, www.freiabos.de August 2013. 14 Vgl. den Sorgenbericht der Atommüllkonfe- Foto: Beate Pundt renz, www.atommuell-report.de, a.a.O.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 32 18.02.15 10:09 DEBATTE

Aus Bündnispflicht zur Kriegsbeteiligung?

Angesichts des anhaltenden Vormarschs von »Islamischem Staat« und »Boko Haram« sprachen sich in den letzten beiden Ausgaben der »Blätter« Albrecht von Lucke und Tom Göller auch für den Einsatz mili- tärischer Mittel als Ultima Ratio aus. Dagegen plädieren Werner Koep- Kerstin, Bundesvorsitzender der Humanistischen Union (HU), und Martin Kutscha, Vorstandsmitglied der HU wie der deutschen Sektion der IALANA, für das absolute Primat politischer Lösungen. – D. Red.

Was spricht eigentlich dagegen, den die Korruption. In Libyen und im Irak blutigen Feldzügen von Mörderban- regiert alltägliche Gewalt die Straßen, den wie dem „Islamischen Staat“ oder und die Bevölkerung lebt in Not und „Boko Haram“ durch gezielte Militär- Elend. Wer angesichts solcher bitte- einsätze von Nato-Staaten entschie- ren Erfahrungen die Beteiligung von den Einhalt zu gebieten? Sollte nicht deutschen Streitkräften an Militär- auch Deutschland durch entsprechen- einsätzen in Krisenregionen ablehnt, de Beteiligung an diesen und anderen sieht sich selbst in den „Blättern“1 mit „humanitären“ Interventionen mehr der Behauptung konfrontiert, Deutsch- internationale Verantwortung über- land sei durch die völkerrechtlichen nehmen? Bindungen – insbesondere durch die Nach diesem Tenor, der zum Bei- Mitgliedschaft in der Nato und der spiel in Reden des Bundespräsidenten UNO – zum Entsenden von Streitkräf- anklingt und inzwischen viele Medien ten verpflichtet. Ein genauer Blick auf beherrscht, scheint es zu solchen mili- den Nordatlantikvertrag sowie auf die tärischen Missionen auf den Krisen- UNO-Charta als den zentralen Rege- schauplätzen der Welt keine vernünf- lungswerken dieser Organisationen tige Alternative zu geben. Dabei fällt zeigt jedoch, dass davon keine Rede eine unvoreingenommene Bilanz der sein kann: Zwar verpflichtet Art. 5 des internationalen Kriegseinsätze des Nordatlantikvertrages die Nato-Mit- vergangenen Jahrzehnts selbst dann gliedstaaten zum „Beistand“ bei einem durchweg verheerend aus, wenn auf Angriff auf einen von ihnen („Bündnis- diese Weise brutale Diktatoren besei- fall“). Die Beurteilung, ob ein solcher tigt werden konnten. Verwiesen sei Bündnisfall überhaupt vorliegt2 und in hier nur auf die Lage im Irak und in 1 Albrecht von Lucke, Thüringen oder die rot- Libyen, aber auch auf Afghanistan: rot-grüne Konfrontation, in: „Blätter“, 1/2015, Dort blühen nach dem Abzug der meis- S. 5-8, hier: S. 8. ten ausländischen Truppen nicht die 2 Das ist beim Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen Afghanistan nach den Landschaften oder die Demokratie, Terrorakten am 11. September 2001 durchaus sondern nur die Schlafmohnfelder und zweifelhaft, vgl. Dieter Deiseroth, Jenseits

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 33 18.02.15 10:09 34 Werner Koep-Kerstin und Martin Kutscha

welcher Weise der Staat jeweils seiner – mit einer Ausnahme: Nach Art. 43 Beistandspflicht genügt, überlässt der der Charta sollen „Sonderabkommen“ Vertrag allerdings den Mitgliedstaaten abgeschlossen werden, in denen sich selbst. Mitgliedstaaten zur Bereitstellung von Streitkräften zur Verfügung durch die UNO-Organe verpflichten. Solche » Die UNO-Charta normiert keine Ver- Sonderabkommen sind bisher freilich pflichtung für die Mitgliedstaaten nicht abgeschlossen worden, weil es zum Einsatz von Streitkräften – den Staaten an der Bereitschaft man- mit nur einer Ausnahme.« gelt, ihre Truppen der Befehlsgewalt der UNO zu unterstellen.6 So gab es zwar in den letzten Jahrzehnten etli- Darauf hat das deutsche Bundesverfas- che Militäreinsätze auf der Grundlage sungsgericht bereits in seinem Urteil eines Mandats des UNO-Sicherheits- zur „Nachrüstung“ vom 18. Dezember rates, zum Beispiel beim ersten Golf- 1984 hingewiesen.3 Bekanntlich hat krieg 1991. Alle diese Interventionen das höchste deutsche Gericht in sei- wurden aber von einzelnen Staaten nem umstrittenen „Streitkräfteurteil“ oder ad hoc gebildeten Staatenkoa- vom 12. Juli 1994 die Zulässigkeit von litionen durchgeführt, nicht aber Einsätzen der Bundeswehr im Rahmen unter einer UNO-Kommandostruktur. von „Systemen gegenseitiger kollekti- Sofern eine „Koalition der Willigen“ ver Sicherheit“, zu denen das Gericht ohne entsprechendes Mandat der UNO sowohl UNO als auch Nato zählte, Kriegshandlungen unternahm wie grundsätzlich bejaht.4 Es ist aber kei- gegen Serbien 1999 oder gegen den neswegs von einer staatsrechtlichen Irak 2003, wurde damit das grundsätz- oder völkerrechtlichen Verpflichtung liche Gewaltverbot der UNO-Charta zur Beteiligung Deutschlands an Mili- verletzt. Dieses Regelwerk, immerhin täreinsätzen ausgegangen – anderen- die Grundlage des modernen Völker- falls wäre der in dem Urteil statuierte rechts, lässt Ausnahmen vom interna- und in der folgenden Rechtsprechung tionalen Gewaltverbot nur unter engen bestätigte Parlamentsvorbehalt für sol- Voraussetzungen zu, nämlich nach che Einsätze gegenstandslos.5 Wäre Art. 51 zur Selbstverteidigung bei die Entsendung deutscher Streitkräfte einem bewaffneten Angriff auf einen rechtlich verpflichtend vorgeschrie- Mitgliedstaat oder „zur Wahrung oder ben, wäre schließlich kein Raum mehr Wiederherstellung des Weltfriedens für eine freie Entscheidung des Bun- und der internationalen Sicherheit“ destages über die Frage, ob ein Kon- nach Maßgabe eines Mandats des tingent deutscher Streitkräfte sich an Sicherheitsrates gemäß Art. 42. einer bestimmten UNO- oder Nato- Die grundsätzliche Absage an den Mission beteiligt oder nicht. Krieg als Mittel zur Lösung interna- Auch die UNO-Charta normiert tionaler Konflikte ist Ausdruck der keine Verpflichtung für die Mitglied- bitteren Erkenntnis, dass sich der Waf- staaten zum Einsatz von Streitkräften feneinsatz eben nicht auf die Bestra- des Rechts. Deutschlands „Kampfeinsatz“ am fung der – jeweils nach politischer Hindukusch, in: „Blätter“, 12/2009, S. 45-54, Opportunität definierten – „Bösen“ hier: S. 50 f. 3 Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen 6 Vgl. Dieter Deiseroth, Das Friedensgebot Bd. 68, S. 1 ff., hier: S. 93. des Grundgesetzes und der UN-Charta – aus 4 Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen juristischer Sicht, in: Peter Becker, Reiner Bd. 90, S. 286 ff. Braun und Dieter Deiseroth (Hg.), Frieden 5 Vgl. Martin Kutscha, Einladung ohne durch Recht? Berlin 2010, S. 37; Carmen Grenzen. Das Bundesverfassungsgericht zu Thiele, Völkerrechtliche Restriktionen mili- Bundeswehreinsätzen, in: „Wissenschaft und tärischer Einsätze der Nato, abrufbar unter Frieden“, 1/2012, S. 22 ff. www.frieden-durch-recht.eu.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 34 18.02.15 10:09 Aus Bündnispflicht zur Kriegsbeteiligung? 35

beschränken lässt, sondern zwangs- net und noch mehr Mittel und Befug- läufig zu zahlreichen Opfern unter der nisse für die Sicherheitsapparate unschuldigen Zivilbevölkerung führt. gefordert. Obwohl die in Frankreich Entgegen der Behauptung mancher bereits praktizierte Vorratsdatenspei- Politiker und Militärs hat sich dies cherung von Telekommunikations- auch nicht durch den Einsatz moder- daten das Massaker in den Redak- ner Waffensysteme geändert, wie bei- tionsräumen von „Charlie Hebdo“ spielsweise Untersuchungen über die nicht verhindern konnte, postulieren Wirkung der angeblich mit chirurgi- Politiker von CDU/CSU unbeirrt die scher Genauigkeit durchgeführten Einführung dieses Überwachungsins- „Luftschläge“ während des Irakkriegs truments auch in Deutschland.8 Wie- 2003 oder die zahlreichen Opfer bei der einmal drängt sich der Eindruck der Bombardierung der Tanklastzüge auf, dass Terroristen dem Gesetzge- bei Kundus 2009 belegen. Im Gegen- ber quasi die Feder führen und durch satz zu Mechanismen ziviler Konflikt- noch mehr Überwachung die dadurch bearbeitung können Waffeneinsätze angeblich geschützte Freiheit Stück auch nicht die häufig komplexen politi- für Stück weiter begrenzt wird. schen und sozialen Ursachen der Aus- einandersetzungen beseitigen, son- dern diese sogar noch verschärfen » Wirklichen Erfolg versprechen nur und die ausufernde Gewaltökonomie langfristige und nachhaltige politi- weiter anheizen. Darauf hat die Frie- sche Antworten.« densforschung immer wieder hinge- wiesen.7 Sie hat inzwischen zahlreiche Vorschläge unterbreitet, auf welche Was konkret den Umgang mit dem IS Weise sich Deutschland als „Zivil- in Syrien und im Irak anbetrifft: An- macht“ bewähren und Initiativen für gesichts schwerster Verbrechen an gewalt- und krisenpräventive Strate- der Zivilbevölkerung verweisen Poli- gien entfalten kann. tik und viele Medien geradezu reflex- Gleichwohl wird nach wie vor ein haft auf die militärische Intervention Vielfaches der Mittel für zivile Kon- als scheinbar alternativloses Mittel, fliktlösungen für Waffen und Militär- während politische Handlungsmög- einsätze ausgegeben. Die Logik dabei lichkeiten kaum thematisiert werden erinnert an die Unerbittlichkeit, mit und Kritiker dieses Kurses als verant- welcher die Mediziner früherer Jahr- wortungslos hingestellt werden. Dabei hunderte den Aderlass als Standard- hat der Wissenschaftliche Dienst des mittel anwandten: Der vom Blutver- Deutschen Bundestages Mitte Januar lust geschwächte Patient wurde eben mit Recht darauf verwiesen, dass die weiter mit derselben Methode behan- Entsendung von Bundeswehrausbil- delt und sein Ableben schließlich als dern in den Irak nicht „nach den Re- unvermeidbar hingestellt. geln“ von UNO oder Nato erfolgen Die Rückkehr der überwunden würde und deshalb mit dem Grund- geglaubten Vorstellung vom „gerech- gesetz schwerlich zu vereinbaren ist.9 ten Krieg“ (bellum iustum) gegen das Es fehlt schlicht an einem tauglichen „Böse“ bewirkt auch innenpolitische Mandat des UN-Sicherheitsrats. Den- Veränderungen: Unter dem Banner noch beschloss der Deutsche Bun- des „Krieges gegen den Terror“ wer- destag am 29. Januar mit übergroßer den die rechtsstaatlichen Trennlinien Mehrheit (der Großen Koalition wie zwischen Polizei und Militär eingeeb- 8 Vgl. Christian Bommarius, Die rechtspoliti- 7 Vgl. etwa Corinna Hauswedell, Frieden ohne sche Lieblingsleiche, in: „Berliner Zeitung“, Primat, in: „Blätter“, 7/2013, S. 71-81, hier: 10./11.1.2015. S. 80. 9 „Süddeutsche Zeitung“, 16.1.2015.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 35 18.02.15 10:09 36 Werner Koep-Kerstin und Martin Kutscha

der Grünen) die Entsendung von 100 nen mag freilich der Einsatz von Streit- Bundeswehrsoldaten in den Nordirak. kräften unverzichtbar sein. Über sol- Erfolgversprechender sind dagegen che Ausnahmen vom Gewaltverzicht allemal langfristige und nachhaltige dürfen jedoch nicht sich jeweils selbst politische Antworten, nämlich insbe- mandatierende Staaten oder Staaten- sondere das Einwirken auf jene Länder gruppen entscheiden, sondern nur der in der Krisenregion, die für das Erstar- UNO-Sicherheitsrat als völkerrechtlich ken des IS mitverantwortlich sind. legitimierter „Gewaltmonopolist“. Dass Dabei muss es vor allem um das Aus- dieser gegenwärtig nur eingeschränkt trocknen der Finanzquellen und um handlungsfähig ist, liegt weniger im die Unterbindung der Waffenlieferun- System der UNO begründet als in den gen an den IS gehen.10 massiven Spannungen zwischen Russ- Statt die Beteiligung der Bundes- land und den Nato-Staaten. Der Schlüs- wehr an militärischen Interventio- sel zur Reaktivierung des Sicherheits- nen in den Krisenregionen der Welt rates liegt deshalb in der Rückkehr zu zur „Normalität“ zu verklären, sollte einer Politik der Verständigung und sich die Übernahme „globaler Ver- der Verhandlung über die widerstrei- antwortung“ durch Deutschland darin tenden Interessen dieser Kontrahenten. bewähren, die Ursachen der Konflikte Nicht der Krieg, sondern der Frieden ist zu ermitteln und geeignete politische der Ernstfall – diese Mahnung Gustav Initiativen zu ihrer Eindämmung zu Heinemanns aus dem Jahre 1969 hat entwickeln.11 In bestimmten Situatio- auch in der heutigen, von zahlreichen Konflikten erschütterten Welt nichts 10 Vgl. dazu den Beitrag von Loretta Napoleoni in von ihrer Aktualität eingebüßt. dieser Ausgabe der „Blätter“. 11 Vgl. Hanna Pfeifer und Kilian Spandler, Außenpolitik und Verantwortung, in: „Wis- The Responsibility to be Responsible. Über senschaft und Frieden“, 4/2014, S. 36 ff. Anzeige 4. Grüner polizeiarbeit ohne generalverdacht. polizeikongress ideen - konzepte - neue ermittlungsmethoden2015

21. März 2015, Universität Hamburg Gebäude ESA-West dEP Veranstaltet von Jan Philipp Albrecht, M Anmeldung & Informationen unter www.gruener-polizeikongress.de Medienpartner:

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 36 18.02.15 10:09 DEBATTE

Rot-Rot-Grün: Aufbruch ohne Denkverbote

In der letzten Ausgabe der „Blätter“ definierte Sahra Wagenknecht ihre engen roten Linien für eine rot-rot-grüne Koalition. Dagegen plädiert ihr Parteigenosse Axel Troost, stellvertretender Bundesvorsitzender der Linkspartei und Sprecher für Finanzpolitik im Bundestag, für das Beispiel Thüringens: intensive Gespräche der drei Parteien mit dem Ziel, die fata- le Blockade der Großen Koalition zu durchbrechen. – D.Red.

Die alte Regel gilt: In Krieg und Krise tagswahl erneut kein Politikwechsel gewinnt die Regierung. Die Zufrie- auf der Tagesordnung. Angesichts denheit einer klaren Mehrheit der dieser fatalen Entwicklung warb Bundesbürger ist gegenüber den Zu- daher Jürgen Trittin in den Oktober- stimmungswerten bei der Bundestags- „Blättern“ 2014 für die Konzeption wahl 2013 sogar noch einmal deutlich eines entblockierten, zukunftsfähi- angestiegen. Dabei profitiert die Große gen und nachhaltigen Deutschlands. Koalition auch von der günstigen wirt- Er entwickelt drei sehr überzeugende schaftlichen Entwicklung in Deutsch- Thesen.2 Erstens: Ökologische Nach- land – und von der großen Popularität haltigkeit ist im allgemeinen Interesse ihrer Spitzenpolitiker. der heute lebenden sowie der künfti- Allerdings: Den politischen Ertrag gen Generationen. Sie bildet die Basis an dieser Hochstimmung in der Ber- einer zukunftsfähigen Wirtschaft. liner Republik heimst allein die CDU/ Zweitens: Gegen den irrig naiven CSU ein. Von einem Aufwärtstrend Wunsch nach einer Wirtschaft ohne der Sozialdemokratie kann nicht ein- Wachstum (bzw. mit Null- oder Minus- mal in Ansätzen die Rede sein. Die wachstum) gilt es das zu definieren, Union liegt in den Umfragen konstant was – aus sozialen und ökologischen bei über 40 Prozent, die SPD wie fest- Gründen – noch weiter wachsen muss. gefroren bei 25. Grüne und Linkspar- Und deshalb bedarf es drittens einer tei liegen jeweils um die 9 Prozent, Strategie der „sozial-ökologischen die AfD verharrt weiter bei 6 Punk- Transformation“. ten. Insgesamt bleibt die Union allein Es geht mir hier nicht im Einzel- somit nur geringfügig schwächer als nen um die von Trittin vorgetragenen das linke Lager aus SPD, Grünen und Argumente. Es geht um die zentrale, Linkspartei zusammen.1 sehr berechtigte Botschaft: Angesichts Wenn diese Entwicklung bis 2017 des Aufschwungs der Rechtspopulis- anhält, steht bei der nächsten Bundes- ten von der Alternative für Deutsch-

2 Jürgen Trittin, Die Koalition der Transforma- 1 Der Anteil der Nichtwähler und Unentschlos- tion und was ihr im Wege steht, in: „Blätter“, senen beträgt rund 27 Prozent. 10/2014, S. 53-63.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 37 18.02.15 10:09 38 Axel Troost

land (AfD) droht die Große Koalition SPD und Grünen für ein Bündnis mit zum Dauerzustand auch für Deutsch- der Linkspartei gibt, finden wir dort land zu werden. Die ökonomische und völlig andere Mehrheits- und Kräfte- politische Stagnation könne letztlich verhältnisse vor, im Parlament und in in eine Rechtsverschiebung münden – der Gesellschaft. Dabei existiert seit verbunden gar mit einer strukturellen 2013 – wie bereits 2005 – zwar eine Unmöglichkeit, überhaupt noch Mehr- arithmetische Mehrheit für Rot-Rot- heiten links der Mitte zu erreichen. Grün. Aber die Differenzen sind der- „Wollen wir eine rechte Mehrheit ver- zeit zu groß, um diese auch politisch hindern“, so Trittin, „müssen wir den wirksam zu machen. Stillstand der Großen Koalition über- Daher wird auch im Bund Rot- winden. Dies ist kein grünes Problem Rot-Grün nicht von selbst kommen. – es ist eine Verantwortung aller Kräfte Susanne Hennig-Wellsow stellt zu der linken Mitte“. Seine zentrale Recht fest: „Wer will, dass sich auch Schlussfolgerung lautet daher: Wenn im Bund auf absehbare Zeit etwas ver- sich politisch etwas ändern soll, muss ändert, muss langfristig denken. Es jetzt ein Diskurs und eine Debatte über braucht praktische Erfahrungen erfolg- den drohenden Stillstand aufgenom- reicher Kooperationen, um irgendwann men werden – unter rot-rot-grünen zusammenarbeiten zu können. [...] Es Vorzeichen. braucht – so wie in Thüringen in den vergangenen Jahren – eine intensive und normale Zusammenarbeit inner- » Die Wahl Bodo Ramelows steht für halb und außerhalb des Parlaments von eine Verschiebung der gesellschaft- SPD, Grünen, Linkspartei, Gewerk- lichen Kräfteverhältnisse. « schaften und Sozial- oder Umweltver- bänden. Es muss deutlich werden, dass eine Zusammenarbeit Erfolge gegen Im Freistaat Thüringen gab es, mit der einen konservativen und neoliberalen Wahl Bodo Ramelows zum ersten Mi- Mainstream haben kann.“ nisterpräsidenten der Linkspartei und dem Start einer rot-rot-grünen Landes- regierung, ebendiese Verschiebung » Ohne Vorarbeit bleiben allgemeine der gesellschaftlichen Kräfteverhält- Appelle an die Zusammenarbeit von nisse. Die alten Konstellationen waren Rot-Rot-Grün blutleer.« nicht mehr in der Lage, die Wähler zu überzeugen und vorhandene parla- mentarische Mehrheiten zu einer Re- Ohne diese Vorarbeit bleiben allge- gierung zu organisieren. „Diese his- meine Appelle an die Zusammenarbeit torische Chance, auf die sich die PDS/ von Rot-Rot-Grün ohne gesellschaft- Die Linke in Thüringen seit langem liche Bindung und daher blutleer. Der vorbereitet hat, mussten wir nutzen Vorschlag von Fraktionschef Gregor – oder sie ungenutzt verstreichen las- Gysi, das Spitzenpersonal der drei sen. Die Zeit war eben reif für Rot-Rot- Parteien solle sich zu regelmäßigen Grün“, so die Landes- und Fraktions- Gesprächen zusammensetzen, um die vorsitzende der Linkspartei in Thürin- Gemeinsamkeiten für ein Bündnis gen, Susanne Hennig-Wellsow.3 auszuloten, verpuffte entsprechend Auch wenn es auf Bundesebene ver- schnell im politischen Raum, zumal einzelte und vorsichtige Signale aus SPD und Grüne keinerlei Interesse zeigten. 3 Susanne Hennig-Wellsow, Anders regieren In den letzten „Blättern“ äußert – Erste Erfahrungen der rot-rot-grünen Lan- desregierung in Thüringen, in: „Sozialismus“, sich nun auch die stellvertretende 2/2015, S. 8-12. Fraktionsvorsitzende der Linkspartei,

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 38 18.02.15 10:09 Rot-Rot-Grün: Aufbruch ohne Denkverbote 39

Sahra Wagenknecht, zu den Perspek- heute sehen: Mit der Zielsetzung des tiven von Rot-Rot-Grün. In ihrer Argu- europäischen Fiskalpaktes und der mentation ist jedoch von einem solchen Schuldenbremse manövrieren die offenen, diskursiven Herangehen, wie politischen Eliten die europäischen es Susanne Hennig-Wellsow am Bei- Gesellschaften immer tiefer in eine spiel Thüringens beschreibt, wenig zu Sackgasse. Auffällig ist die Ignoranz entdecken. gegenüber der wirtschaftlichen Sta- Wagenknecht fragt lediglich apo- gnation, den wachsenden Konjunk- diktisch: „Werden sich in der SPD und turproblemen und den politischen den Grünen jene Kräfte durchsetzen, Konflikten in Europa. Die politischen die sich dem Erbe Willy Brandts ver- Erben dieser miserablen Mängelver- pflichtet fühlen, die sich in der Tradi- waltung sind die rechtspopulistischen tion der Friedensbewegung und der und rechtsextremen Parteien unter- Tradition linker Bürgerrechtsbewe- schiedlicher Couleur. gungen sehen und die bereit sind, Umso mehr muss die Linkspartei – an der Seite der Linkspartei für mehr gerade mit Blick auf die grotesken Ver- Demokratie, Abrüstung, Umverteilung teilungsstrukturen in Deutschland und und soziale Gerechtigkeit zu kämp- Europa – offen für einen Politik- und fen?“4 Für sie geht es darum, „ob eine Regierungswechsel eintreten, mit dem neue Regierung tatsächlich eine poli- eben auch die ökonomische Stagna- tische Alternative verkörpert – oder ob tion zum veränderbaren Problem erho- sie nicht mehr bringt als einen Wech- ben wird.5 sel im Kanzleramt. Eine rot-rot-grüne Regierung, die sich den vermeintli- chen Sachzwängen der Märkte und » Sahra Wagenknecht fordert – der Mächtigen unterwirft und nicht völlig wirklichkeitsfremd – vorab den Mut aufbringt, spürbare Verbesse- den politischen Kotau von SPD rungen für die Mehrheit der Bevölke- und Grünen.« rung durchzusetzen, ist ein Unterfan- gen, das die Mühe nicht lohnt.“ So sehr Sahra Wagenknecht zu Doch auch für Sahra Wagenknecht Recht auf einem inhaltlichen Wandel sind diese dramatischen Zusammen- beharrt: Viel zu wenig, ja mit keinem hänge und Entwicklungen nicht ent- Wort ist von der dafür erforderlichen scheidend. Sie fordert – meines Erach- prozesshaften Entwicklung die Rede. tens völlig wirklichkeitsfremd – vorab Doch ohne eine „intensive und nor- den politischen Kotau von SPD und male Zusammenarbeit innerhalb und Grünen: „Solange SPD und Grüne außerhalb des Parlaments von SPD, mehrheitlich leugnen oder gar darauf Grünen, Linkspartei, Gewerkschaften stolz sind, dass ihre Rentenreformen und Sozial- oder Umweltverbänden“ massenhafte Altersarmut produzie- (Wellsow) werden die Voraussetzun- ren und das Hartz-IV-Zwangssystem gen für einen gesellschaftlichen Wan- zu Lohndumping und einem großen del und damit auch für eine Verän- Niedriglohnsektor beigetragen hat, derung von politischen Positionen in und solange sie das System nicht sub- der Mehrheit der Bevölkerung nicht stanziell verändern wollen, ist eine ge- geschaffen werden. meinsame Regierung unmöglich.“ Die Folgen einer fehlenden poli- Dieselbe radikale Argumentation, tischen Regierungsalternative sind die allein die Gegnerschaft betont, jedoch verheerend, wie wir bereits erfolgt bei der Außenpolitik – aller-

4 Sahra Wagenknecht, Rot-Rot-Grün: Politik- 5 Vgl. auch Axel Troost, Wie politischen Still- statt Personalwechsel. Eine Antwort auf Jür- stand und Stagnation überwinden?, in: gen Trittin, in: „Blätter“, 2/2015, S. 73-81. „Sozialismus“, 12/2014, S. 21-26.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 39 18.02.15 10:09 40 Axel Troost

dings auf beiden Seiten: „Haupthin- die Grünen hineinzutragen – um so dernis einer rot-rot-grünen Koalition herauszufinden, welche Schnittmen- sind große Differenzen in der Außen- gen ein gemeinsamer Gestaltungs- politik. Erst wenn die Linkspartei die wille braucht. Dies gilt nicht nur für die Nato akzeptiere und Kampfeinsätze Innen-, sondern auch für die Europa- der Bundeswehr im Ausland mittrage, und Außenpolitik. Die Vorschläge käme sie als ernsthafter Koalitions- eines notwendigen Politikwechsels partner in Frage, so der übliche Tenor könnten zur Ausgangsbasis für den bei SPD und Grünen. Wer so argu- erforderlichen Verständigungsprozess mentiert, kann an einer rot-rot-grü- unter Linkspartei, SPD und Grünen nen Regierung kein Interesse haben, werden. Dafür ist es erforderlich, inner- denn sie wird zu diesen Bedingungen halb aller drei Parteien für eine ent- nicht nur nicht zustande kommen, sie sprechende Öffnung zu werben. Ohne wäre dann auch nichts wert. Von deut- die Erarbeitung gemeinsamer Positio- schem Boden darf nie wieder Krieg nen wird jede Debatte um ein rot-rot- ausgehen. Diesen friedenspolitischen grünes Bündnis auf die wahlarithme- Grundsatz wird die Linkspartei nicht tische Ebene beschränkt bleiben und über Bord werfen“, postuliert Sahra keine Strahlkraft in die Gesellschaft Wagenknecht. entwickeln. Hierzu bedarf es der Orte und Gelegenheiten, um gemeinsam die unterschiedlichen Erfahrungen » Ein mögliches Reformprojekt wird zu diskutieren und um daraus die not- damit bereits im Ansatz erledigt.« wendigen praktischen Schlüsse zu ziehen. Zu einem dieser Orte ist in den letzten Jahren das Institut Solidarische Gegenwärtig erleben wir – mit der Moderne, ISM, geworden.6 brutalen Herausforderung durch den Fest steht aber auch: Ohne eine sogenannten Islamischen Staat, aber Zustimmung aus der Zivilgesellschaft vor allem mit dem drohenden gro- wird es keinen rot-rot-grünen Politik- ßen Krieg in der Ukraine – eine neue, wechsel geben. Findet dieser nicht hochkomplexe Lage. In dieser Situa- statt, wäre die Konsequenz fatal: Ein tion nicht auf Diskurs, sondern vor al- weiterer großkoalitionärer Stillstand lem auf Abgrenzung zu setzen, mag wird lediglich den Zulauf zu rechts- für Teile der Linkspartei identitäts- populistischen bis rechtsextremen stärkend sein, aber die Interventions- Angeboten erhöhen, von Leipzig über fähigkeit der Partei in Richtung einer Hamburg bis nach Berlin. gesellschaftlichen Reformalternative wird so nicht gestärkt. Bezeichnend für diese reine Abwehrhaltung ist leider 6 Siehe etwa „Keine andere Möglichkeit, als auf diese Kraft zu setzen“, Astrid Rothe-Bein- auch die Tatsache, dass Sahra Wagen- lich und Thomas Seibert im Gespräch, unter: knecht in ihrem Beitrag Argumente www.solidarische-moderne.de. Trittins nicht einmal erwähnt bzw. sich mit diesen Argumenten ernsthaft aus- einandersetzt, geschweige denn die ja bereits existierende Debatte über die- se Thesen innerhalb der Linkspartei aufgreift. Ein mögliches Reformprojekt wird damit bereits im Ansatz erledigt. Dabei ist es für die Linkspartei in der Tat eine Herausforderung, ein solches Projekt zu entwickeln und offensiv in SPD und

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 40 18.02.15 10:09 KOLUMNE

Griechenland im Schuldgefängnis Von Joseph E. Stiglitz

Es kommt nur selten vor, dass demo- Man könnte Griechenland die Schuld kratische Wahlen eine derart klare Bot- an seinen Problemen geben, wenn es schaft aussenden wie just in Griechen- denn das einzige Land wäre, in dem die land. Wenn Europa die Forderungen Medizin der Troika kläglich versagt hat. griechischer Wähler nach einem Kurs- Doch auch Spanien hatte vor der Krise wechsel zurückweist, bringt es damit einen Überschuss und eine niedrige zum Ausdruck, dass Demokratie nicht Schuldenquote und steckt nun in der von Bedeutung ist, zumindest, wenn es Wirtschaftskrise. Es werden nicht so um die Wirtschaft geht. Warum der De- sehr Strukturreformen innerhalb von mokratie nicht gleich das Aus erklären? Griechenland und Spanien benötigt, als Schon als die Eurokrise begann, pro- vielmehr Strukturreformen des Kons- phezeiten Keynesianer, dass die Spar- trukts Eurozone. maßnahmen, die Griechenland und den Zudem hat uns Griechenland erneut anderen Krisenländern auferlegt wur- daran erinnert, wie dringend die Welt den, scheitern würden. Sie würden das ein Verfahren zur Umstrukturierung Wachstum behindern und die Arbeitslo- von Schulden braucht. Übermäßige Ver- sigkeit steigen lassen – und es nicht ein- schuldung hat nicht nur die Krise 2008 mal schaffen, die Schuldenquote zu sen- ausgelöst, sondern auch die Asienkrise ken. Austerität war bereits wiederholt in den 1990er Jahren und die lateiname- gescheitert, angefangen bei ihrem frü- rikanische Krise der 1980er Jahre. In den hen Einsatz unter US-Präsident Herbert USA, wo Millionen von Eigenheimbesit- Hoover, der den Börsencrash zur Großen zern ihre Häuser verloren haben, sorgt Depression werden ließ, bis zu den IWF- Überschuldung weiterhin für unermess- „Programmen“, die Ostasien und La- liches Leid, und gegenwärtig droht Mil- teinamerika in den letzten Jahrzehnten lionen von Menschen in Polen und an- auferlegt wurden. Und doch probierte derswo Unheil, die Kredite in Schweizer man es wieder mit Austerität, als Grie- Franken aufgenommen haben. chenland in Schwierigkeiten geriet. Wenn man das Ausmaß betrachtet, in Griechenland hat sich weitgehend dem übermäßige Verschuldung für Be- erfolgreich an die Weisungen der Troika drängnis sorgt, muss man sich fragen, (aus EU-Kommission, EZB und IWF) ge- warum Einzelpersonen und Länder sich halten: Es hat ein Primärdefizit in einen wiederholt in diese Situation begeben. Primärüberschuss verwandelt. Aber die Schließlich sind solche Schulden Ver- Kürzung der Staatsausgaben hatte ver- träge, also freiwillige Vereinbarungen, heerende Folgen: 25 Prozent Arbeitslo- für die Gläubiger ebenso viel Verant- sigkeit, ein BIP-Rückgang um 22 Prozent wortung tragen wie Kreditnehmer. Tat- seit 2009 und eine Zunahme der Staats- sächlich aber tragen Gläubiger wohl schuldenquote um 35 Prozent. Mit dem sogar mehr Verantwortung: Normaler- überwältigenden Wahlsieg der austeri- weise handelt es sich um spezialisierte tätsfeindlichen Syriza haben die grie- Finanzinstitutionen, wohingegen Kre- chischen Wählerinnen und Wähler nun ditnehmer oftmals weit weniger Erfah- erklärt, dass sie davon genug haben. rung mit den Launen der Märkte besit-

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 41 18.02.15 10:09 42 Kolumne

zen. Tatsächlich wissen wir, dass sich in erster Linie auf die verfehlten Pro- US-Banken ganz gezielt Kreditnehmer gramme der Troika zurückzuführen. ausgesucht und ihre mangelnde finan- Demnach ist nicht die Umschuldung zielle Kompetenz ausgenutzt haben. „unmoralisch“, sondern ihre Abwesen- Jedes (fortschrittliche) Land hat er- heit. Die Zwangslage, in der sich Grie- kannt, dass es notwendig ist, dem Ein- chenland heute befindet, ist im Grunde zelnen einen Neuanfang zu ermögli- nichts Besonderes. Es ist die Struktur chen, damit Kapitalismus funktioniert. der Eurozone, die es erschwert, die Pro- Die Schuldgefängnisse des 19. Jahr- bleme Griechenlands anzugehen: Eine hunderts waren ein Misserfolg – un- Währungsunion bedeutet, dass eine menschlich und nicht gerade hilfreich, Währungsabwertung für Mitgliedslän- eine Rückzahlung sicherzustellen. Was der nicht als Ausweg in Betracht kommt, geholfen hat, waren bessere Anreize für doch das Mindestmaß an europäischer eine gute Kreditvergabe, indem Darle- Solidarität, dass mit diesem Verlust poli- hensgeber stärker für die Konsequen- tischer Flexibilität einhergehen muss, zen ihrer Entscheidungen verantwort- ist einfach nicht vorhanden. lich gemacht wurden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs Auf internationaler Ebene gibt es bis- haben die Alliierten erkannt, dass lang noch kein geregeltes Verfahren, um Deutschland die Möglichkeit eines Ländern einen Neuanfang zu ermög- Neuanfangs braucht. Sie haben verstan- lichen. Schon vor der Krise 2008 haben den, dass der Aufstieg Hitlers viel mit sich die Vereinten Nationen, mit Unter- der Arbeitslosigkeit (nicht der Inflation) stützung fast aller Entwicklungs- und zu tun hatte – eine Folge der Schulden, Schwellenländer, darum bemüht, einen die Deutschland am Ende des Ersten solchen Rahmen zu schaffen. Doch die Krieges aufgebürdet worden waren. Die USA haben dies entschieden abgelehnt. Alliierten haben nicht nur die Schulden Die Idee der Schuldgefängnisse erlassen; sie haben auch Hilfsgelder schwingt im aktuellen Gerede über Ver- gezahlt und ihre in Deutschland statio- antwortlichkeit und fahrlässiges Ver- nierten Truppen haben die Konjunktur halten im Vertrauen auf Rettung von zusätzlich angekurbelt. außen, von Fachleuten moral hazard ge- Wenn Unternehmen in Konkurs ge- nannt, mit. Es gibt Befürchtungen, dass hen, ist ein Debt Equity Swap, die Um- Griechenland erneut in Schwierigkei- wandlung von Verbindlichkeiten in ten gerät, wenn eine Umschuldung auf Gläubigerbeteiligungen, eine faire Staatsebene zugelassen wird. Lösung. Die analoge Vorgehensweise Das ist blanker Unsinn. Glaubt ir- für Griechenland ist die Umwandlung gendjemand, dass ein Land bereitwillig seiner derzeitigen Staatsanleihen in auf sich nehmen würde, was Griechen- Schuldverschreibungen, die an die Ent- land durchgemacht hat, nur um seine wicklung des BIP gekoppelt sind (GDP- Gläubiger zu seinem eigenen Vorteil linked bonds). Wenn Griechenland sei- ausnutzen zu können? Wenn es einen ne Sache gut macht, werden seine Gläu- moral hazard gibt, dann auf Seiten der biger mehr von ihrem Geld bekommen; Kreditgeber – vor allem in der Privat- wenn nicht, weniger. Beide Seiten hät- wirtschaft –, die wiederholt gerettet ten somit einen starken Anreiz, wachs- worden sind. Wenn Europa zugelassen tumsfördernde Strategien zu verfolgen. hat, dass diese Schulden von der Pri- Bleibt nur zu hoffen, dass sich diesmal vatwirtschaft zum öffentlichen Sektor jene durchsetzen, die verstehen, wie verschoben werden, dann sollte Euro- Schulden und Austerität in der Wirt- pa, und nicht Griechenland, die Konse- schaft funktionieren, und die an Demo- quenzen tragen. Die derzeitige Misere kratie und menschliche Werte glauben. in Griechenland, unter anderem der massive Anstieg der Schuldenquote, ist Übersetzung: Sandra Pontow, © Project Syndicate

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 42 18.02.15 10:09 KURZGEFASST

Loretta Napoleoni: Der islamistische Phönix. Vom Krieg gegen den Terror zum Terror-Kalifat, S. 45-55

In aller Regel wird der Islamische Staat nur mit seinen barbarischen Tötungsmethoden assoziiert. Dabei ist er hochmodern und „innovativ“, wie die italienische Terrorismusexpertin und Ökonomin Loretta Napoleoni aufzeigt. Organisiert wie ein multinationaler Großkonzern schafft es der IS wie keine bewaffnete Organisation vor ihm, den Schritt in Richtung des modernen Nation Buildings zu gehen und, mit Peitsche und Zuckerbrot, auch die Zustimmung der Bevölkerung für das Terror-Kalifat zu sichern.

Lothar Brock: Die Beharrlichkeit des Krieges. Gewalt und Gegengewalt seit dem Ende der Bipolarität, S. 57-67

Seien es die Gräueltaten des Islamischen Staates in Irak und Syrien oder der Bürgerkrieg in der Ukraine: Seit dem Ende des Kalten Krieges ist die Welt nicht friedlicher, sondern zusehends gewalttätiger geworden. Lothar Brock, Professor em. für Politikwissenschaften an der Universität Frankfurt a. M., fragt, ob und wie sich diese Gewalt wirksam zügeln lässt. Sein Plädo- yer: Um den Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen, muss sich der Westen wieder auf das positive Völkerrecht besinnen – im Geiste des lange angestrebten, aber stets verdrängten Rechtspazifismus.

Hans Misselwitz: Die offenen Fenster von 1990. Die deutsche Einheit und die vertane Chance auf Frieden in Europa, S. 69-79

Nach allgemeiner Einschätzung war die deutsche Einheit ein großer Erfolg. Doch gerade heute wird auch ihr Scheitern deutlich: bei der Schaf- fung einer dauerhaften europäischen Friedensordnung. Hans Misselwitz, DDR-Bürgerrechtler und 1990 als Parlamentarischer Staatssekretär im DDR-Außenministerium für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zuständig, analysiert die vertanen Chancen von einst. Sein Fazit: Bereits damals wur- den die aus der deutschen Einheit entstehenden Konflikte mit Russland vorhergesehen, aber nicht gelöst. Speziell für Deutschland resultiert des- halb eine besondere Verantwortung für Frieden in Europa.

Oliver Nachtwey: Rechte Wutbürger. Pegida oder das autoritäre Syn- drom, S. 81-89

Das Phänomen Pegida hat Entsetzen, aber vor allem immense mediale Neugierde ausgelöst. Schließlich gingen scheinbar wie aus dem Nichts

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015 44 Kurzgefasst

Zehntausende „normale Bürger“ auf die Straße, um zum Teil stramm rechte Parolen zu skandieren. Der Politikwissenschaftler Oliver Nachtwey nimmt die Bewegung genau unter die Lupe. Sein Befund: Pegida ist nicht in erster Linie rechtsextrem, sondern das Produkt einer hoch nervösen, neoliberal geprägten Mitte, in der die Affektkontrolle immer mehr verwil- dert und die Sehnsucht nach autoritärer Führerschaft wächst.

Antje Schrupp: Raus aus der Defensive. Für einen nonkonformen Femi- nismus, S. 91-97

Professx, #aufschrei, Geschlechterquote: Feministische Diskurse scheinen sich großer medialer Präsenz zu erfreuen. Doch häufig treten dabei poli- tische Inhalte und konkrete Vorschläge in den Hintergrund. Die Politik- wissenschaftlerin und Journalistin Antje Schrupp übt Kritik an der unpro- duktiven Metadebatte über Sinn und Zweck „des“ Feminismus und an der Unterscheidung zwischen „gutem“ und „bösem“ Feminismus. Stattdessen sei ein nonkonformer Feminismus gefragt, der sich nicht mit der Integration von Frauen in das Bestehende zufrieden gibt, sondern dieses hinterfragt.

Wolfgang Streeck: Wie wird der Kapitalismus enden?, S. 99-111

Krisen sind dem Kapitalismus inhärent; dennoch ist er über bald zwei Jahr- hunderte stets erneuert aus ihnen hervorgegangen. Das Neue unserer Zeit besteht nach Ansicht des Soziologen Wolfgang Streeck darin, dass sich der Marktkapitalismus nun tatsächlich auf sein Ende zubewegt. Seit der neoliberalen Offensive der 1970er Jahre hat er sich selbst immer stärker geschwächt und zugleich von demokratischer Einflussnahme abgeschot- tet. Es gelte daher heute über einen Schlusspunkt des Kapitalismus nach- zudenken – ohne direkt die Frage beantworten zu wollen (oder zu können), was an seine Stelle treten soll.

Thomas Wagner: Der Vormarsch der Robokraten. Silicon Valley und die Selbstabschaffung des Menschen, S. 112-120

Noch ist der Mensch ein Lebewesen aus Fleisch und Blut. Doch schon in wenigen Jahren soll es möglich sein, bewusste künstliche Intelligenz zu schaffen, die den Menschen langfristig überwinden und das „überholte Betriebssystem“ der Demokratie ersetzen könnte. Der Soziologe und Pub- lizist Thomas Wagner beleuchtet das unternehmerische und ideologische Umfeld, in dem diese Idee entstand: Silicon Valley. Die eigentliche Gefahr sieht er nicht in einer zukünftigen Maschinenherrschaft, sondern darin, dass deren Propheten von den wirklich relevanten Problemen ablenken – und damit der Demokratie erheblichen Schaden zufügen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015 Der islamistische Phönix Vom Krieg gegen den Terror zum Terror-Kalifat

Von Loretta Napoleoni

ie barbarische Verbrennung des jordanischen Piloten Moath al-Kassas- D beh und die Hinrichtung von 21 ägyptischen Kopten haben das herr- schende Urteil nur bestätigt: Wie im Fall von Al Qaida sehen viele westliche Beobachter im Islamischen Staat eine anachronistische Organisation, die das Rad der Zeit zurückdrehen will. Tatsächlich ist die Herrschaft des IS nach Aussagen von syrischen und irakischen Flüchtlingen von jener der Taliban nicht zu unterscheiden: Per öffentlichem Aushang werden Verbote ausgeru- fen, etwa das Verbot des Rauchens oder das, Kameras zu benutzen; Frauen dürfen nicht ohne einen männlichen Begleiter reisen, sie müssen sich verhül- len und dürfen in der Öffentlichkeit keine Hosen tragen.1 Gleichzeitig scheint der Islamische Staat mittels aggressiver Missionierung eine Art religiöser „Säuberung“ voranzutreiben. Bewohner des IS-Herrschaftsgebiets, die nicht fliehen, müssen sich zum radikalen salafistischen Glauben bekennen, andernfalls riskieren sie die Hinrichtung. Seit der IS-Anführer und Kalif Abu Bakr al-Baghdadi auf der internationalen Bühne aufgetaucht ist, hat man ihn denn auch mit Mullah Omar verglichen, dem Chef der afghanischen Taliban. Doch ironischerweise haben all diese Vergleiche womöglich dazu geführt, dass die westlichen Geheimdienste al-Baghdadi und die Stärke des IS unter- schätzt haben. Denn trotz seiner mittelalterlich anmutenden Anschauungen bezüglich Gesetzesauslegung und sozialer Kontrolle wäre es ein Fehler, den Islamischen Staat als eine im Wesentlichen rückwärtsgewandte Organisa- tion zu verstehen. Während sich die Welt der Taliban auf Koranschulen und das auf den Schriften des Propheten beruhende Wissen beschränkte, dienten dem IS die Globalisierung und moderne Technologien als Keimzelle. Was diese Organisation von allen bisherigen bewaffneten Gruppen unter- scheidet – einschließlich jener, die während des Kalten Krieges aktiv waren – und ihre enorme Durchschlagskraft erklärt, sind ihre Modernität2 und ihr Pragmatismus. Die IS-Führung hat wie sonst kaum jemand erfasst, welchen

* Der Beitrag basiert auf „Die Rückkehr des Kalifats“, dem jüngsten Buch der Autorin, das soeben im Rotpunktverlag erschienen ist; die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Peter Stäuber. 1 Vgl. Nick Paton Walsh, Gul Tuysuz und Raja Razek, Al Qaeda-linked group strengthens hold in northern Syria, www.edition..com, 5.11.2013. 2 Modern zu sein bedeutet in diesem Kontext, die Welt so zu begreifen, dass von ihren heutigen Mög- lichkeiten und von der Dynamik des Wandels hin zu einer volleren Entwicklung Gebrauch gemacht wird. Diese Definition folgt Paul Nadal, What Is Modernity?, www.belate.wordpress.com.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 45 18.02.15 10:09 46 Loretta Napoleoni

Einschränkungen die heutigen Mächte in unserer globalisierten und multi- polaren Welt unterliegen. So ahnte sie beispielsweise schon früh, dass eine gemeinsame Intervention, wie sie in Libyen oder im Irak stattgefunden hat, in Syrien nicht möglich sein würde. Vor diesem Hintergrund gelang es der Führung des Islamischen Staates, den Konflikt in Syrien – eine zeitgenössi- sche Version des traditionellen Stellvertreterkriegs, mit einer Vielzahl von Geldgebern und bewaffneten Gruppen – zu ihrem eigenen Vorteil und fast unbemerkt auszunutzen. In ihrem Bestreben, in Syrien einen Regimewechsel zu erwirken, haben Kuwait, Katar und Saudi-Arabien eine ganze Reihe bewaffneter Gruppen finanziert, von denen der IS nur eine war. Doch anstatt den Stellvertreter- krieg seiner Geldgeber zu führen, hat der Islamische Staat deren Geld dazu verwendet, seine eigenen Stützpunkte in strategisch wichtigen Gebieten zu errichten, etwa in den Ölfeldern im Osten Syriens, die sich oft in den Hän- den kleinerer Rebellengruppen, Milizen und Warlords befanden. Keine andere bewaffnete Gruppe im Nahen Osten hat es bis dato geschafft, sich mit dem Geld ihrer reichen Sponsoren am Golf zu einem neuen Beherrscher der Region emporzuarbeiten. In der Vergangenheit beschränkten sich terroristische Aktivitäten auf kleine Gebiete, die unter der militärischen Kontrolle mächtiger Staaten stan- den: Die PLO kämpfte gegen die Militärmaschinerie Israels, die IRA gegen die britische Armee. Auch den territorialen Ansprüchen dieser Widerstands- organisationen waren notwendigerweise Grenzen gesetzt durch die größe- ren Bündnisse des Kalten Krieges, die einen Einfluss auf Landesgrenzen hatten; zudem gab es lediglich zwei Supermächte, die sich die Finanzierung eines Stellvertreterkriegs leisten konnten. Heute aber leben wir in einer multipolaren Welt mit wechselnden Allian- zen, in der die staatliche Finanzierung von Terrorgruppen gang und gäbe ist. Der Islamische Staat vermochte sein Kalifat innerhalb eines riesigen Gebiets zu errichten, in dem ethnisch-religiös motivierte Konflikte wüten und meh- rere staatliche Geldgeber ihre Finger im Spiel haben. Dabei kämpft der IS gegen mehrere Feinde: die syrische und die irakische Armee, die Islamische Front (eine Koalition dschihadistischer Gruppen), die syrischen Rebellen, die schiitischen Milizen und die kurdischen Peschmerga-Kämpfer – jede dieser Kriegsparteien ist an mehreren Fronten aktiv, und einige werden durch Kor- ruption gelähmt.3 Dieser Unterschied ist entscheidend und erklärt die Tat- sache, dass es dem Islamischen Staat gelungen ist, einen Eroberungsfeldzug zu führen, der die heutigen Staatsgrenzen in einem riesigen Territorium des Nahen Ostens auszulöschen droht.

3 Die Auflösung der 350 000 Mann starken irakischen Armee angesichts der ISIS-Attacke gegen Tikrit und Mossul im Juni 2014 ist nicht nur Feigheit und dem Fehlen von Loyalität geschuldet, son- dern auch weit verbreiteter Korruption. Befehlshaber erhielten Löhne für nichtexistente „Geister- bataillone” und wurden für 600 Soldaten bezahlt, wenn es tatsächlich nur 200 waren. „Trotz der enormen Ausgaben für die Armee, angeblich 41,6 Mrd. Dollar in den letzten drei Jahren, wurden Einheiten ohne ausreichend Munition an die Front geschickt, mit lediglich vier Magazinen für jedes Gewehr. ISIS produzierte Furcht einflößende Videos, in denen er zeigte, wie einfach es für seine Scharfschützen war, Soldaten zu verwunden und zu töten.” Patrick Cockburn, Isis Caliphate has Baghdad worried because of appeal to angry young Sunnis, www.independent.co.uk, 30.6.2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 46 18.02.15 10:09 Der islamistische Phönix 47

Der Schlüssel zum Erfolg der Terrormiliz war die Geschwindigkeit, mit der sie den Terrorismus privatisiert hat. Der IS hat die finanzielle Unabhängig- keit von seinen Geldgebern bemerkenswert schnell erlangt, was damit zu tun hat, dass er zu dem Zeitpunkt, als er diesen wirtschaftlichen Schritt vor- nahm, praktisch keine Gegner hatte. Die Gönner des IS waren machtlos, weil sie keine Stellvertretergruppe finden konnten, die es mit der Organisation hätte aufnehmen können. So hat sich das Sponsoring zugunsten diverser Rebellengruppen als Eigentor erwiesen, weil auf diese Weise eine Vielzahl von kleinen und schwachen Organisationen entstanden ist. Inmitten einer so fragmentierten Dschihadisten- und Rebellenfront war es für den Islami- schen Staat ein Leichtes, sowohl im Irak als auch in Syrien seinen eigenen Eroberungskrieg zu führen und binnen weniger Jahre strategisch wichtige und ressourcenreiche Regionen unter seine Kontrolle zu bringen. Hinzu kommt, dass al-Baghdadi clevere Allianzen mit den lokalen sunni- tischen Stämmen eingegangen ist, um diese Ressourcen auszubeuten und so seine Unabhängigkeit zu festigen. Gemeinsam organisierten sie die Förde- rung und den Schmuggel von Öl, von dem sie einen Teil sogar zurück an die syrische Regierung verkauften. Auf diese Weise konnte al-Baghdadi jegliche Opposition seitens der Lokalbevölkerung verhindern und sich im Vergleich zum Assad-Regime als eine aufrichtigere und gerechtere Macht präsentie- ren. Die Fähigkeit, mit lokalen Anführern zu kooperieren und sie als Part- ner ins Kalifat einzubinden – nicht als Unterworfene, sondern als Bewohner eines modernen Staates –, erlaubte dem Islamischen Staat, exponentiell zu wachsen und sein politisches Ziel – das Kalifat – voranzubringen. Es wäre demnach ein Fehler, die territoriale Basis des IS lediglich als mili- tärischen Stützpunkt anzusehen: Die eroberten Gebiete stellen vielmehr die notwendige tragende Säule eines modernen islamistischen Staates dar, der sich Legitimität durch den Zuspruch der Lokalbevölkerung zu verschaffen versucht.

Der Islamische Staat als Protostaat

In der Vergangenheit haben bewaffnete Gruppen für gewöhnlich keine Beteiligung der lokalen Autoritäten in den von ihnen kontrollierten Proto- staaten vorgesehen. Der Islamische Staat allerdings war ein Pionier auf die- sem Gebiet, und zwar bereits bevor sich al-Baghdadi zum Kalifen ernannt hat. Als der IS im Sommer 2014 auf Bagdad vorrückte, griff er die Ölraffinerie von Baidschi an, die größte im Land. Zur gleichen Zeit nahm er den Haditha- Damm ins Visier, am Euphrat im Nordwesten des Irak gelegen, sowie Teile der Ölpipeline in die Türkei, die 600 000 Barrel Öl pro Tag transportiert und die seit März 2014 nicht in Betrieb war. Wie in Syrien bewirtschaftet der IS diese Ressourcen auch hier gemeinsam mit den lokalen Sunniten-Stämmen, die vom Regime al-Malikis diskriminiert wurden. Dank dieser Taktik ver- mochte der IS nicht nur den Widerstand dieser Stämme abzuwenden, son- dern darüber hinaus ihren Beistand und ihre Zustimmung zu gewinnen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 47 18.02.15 10:09 48 Loretta Napoleoni

In seinem Umgang mit den sunnitischen Stämmen im Irak bediente sich al- Baghdadi erstaunlich moderner diplomatischer Taktiken. So vermied er es in Anbar, schlechte Erinnerungen an die Attacken Al Qaidas gegen Teilneh- mer des „sunnitischen Erwachens“ zu wecken. „Al-Baghdadis Streitkräfte haben die Gläubigen der sunnitischen Stämme in Anbar verschont, darunter auch die Kämpfer der Sahwa-Miliz und sogar der Polizei. Als diese Stämme sich weigerten, in Falludscha die ISIS-Fahnen aufzuhängen, wies er seine Kämpfer an, auf das Hissen der Flagge zu verzichten und stattdessen die Kooperation der Kämpfer bewaffneter Gruppen sowie der Clans und Gläu- bigen zu suchen. [...] Al-Baghdadi hat mit seiner Politik des Appeasement in Anbar erneut einen Pragmatismus zum Ausdruck gebracht, an dem es den früheren Al Qaida-Führern gemangelt hatte.”4 Al-Baghdadis Bereitschaft, mit den lokalen sunnitischen Stämmen solche Bündnisse zu schließen, ist ein Teil seiner Strategie, den Prozess der finanziellen Emanzipation zu beschleu- nigen. Treibende Kraft ist dabei nicht nur der Wunsch, sich von ausländi- schen Geldgebern loszusagen. Vielmehr gibt die Privatisierung des Terro- rismus dem IS die erforderlichen Mittel, um die Loyalität seiner Kämpfer zu sichern. Das heißt, al-Baghdadi erstrebt die finanzielle Unabhängigkeit als eine Art Immunisierung gegen die Korruption seiner Streitkräfte. Denn in der Korruption liegt die Ursache des Niedergangs vieler militärischer Orga- nisationen – und ausnahmslos aller arabischer Regime.

Geschäftssinn wie ein multinationales Unternehmen

Anders als den Taliban oder Al Qaida stehen dem Islamischen Staat inzwi- schen enorme finanzielle Mittel zur Verfügung, die teilweise durch die Über- nahme produktiver Anlagen erzielt werden, wie etwa der Ölfelder oder Elek- trizitätskraftwerke in Syrien. Gemäß dem „Wall Street Journal“ bringt allein der Ölexport zwei Mio. US-Dollar pro Tag ein.5 Darüber hinaus erhebt der IS innerhalb seines Territoriums Steuern auf Unternehmen und den Verkauf von Waffen, militärischer Ausrüstung und Gebrauchsgütern, von denen die meisten über die lukrativen Schmugglerrouten entlang der syrischen Grenze mit der Türkei und dem Irak transportiert werden. Die zufällige Aufdeckung des „Geschäftsberichts” des Islamischen Staates führte vor Augen, was für einen außergewöhnlichen Geschäftssinn diese Organisation im Vergleich nicht nur mit den Taliban, sondern mit allen anderen bewaffneten Gruppen an den Tag legt. Mit Hilfe ausgefeilter Buchhaltungstechnik werden hier die Einkünfte und Ausgaben bis ins kleinste Detail aufgelistet, einschließlich der Kosten jeder einzelnen Selbstmordmission. Der Leser, die Leserin des Berichts könnte leicht den Eindruck gewinnen, es handle sich um die Buch- führung eines florierenden multinationalen Unternehmens.6

4 Mushreq Abbas, ISIS leader al-Baghdadi proves formidable enemy, www.al-monitor.com, 5.2.2014. 5 Vgl. Benoît Faucon und Ayla Albayrak, Complex network smuggles militants’ oil, in: „Wall Street Journal“, 16.9.2014. 6 Vgl. Alex Bilger, ISIS Annual Reports Reveal a Metrics-Driven Military Command, 22.5.2014, www. understandingwar.org.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 48 18.02.15 10:09 Der islamistische Phönix 49

Doch die Fähigkeit des Islamischen Staates, den Terror im Stil eines Groß- konzerns zu professionalisieren, ist allein noch nicht einzigartig – genauso wenig wie seine Fähigkeit, Geldmittel zu generieren oder die Bedeutung strategischer Anlagen wie des Mossul-Damms richtig eingeschätzt zu haben. Die PLO hatte nach Angaben der CIA Mitte der 1990er-Jahre ein Vermögen von 8 bis 14 Mrd. Dollar angehäuft, mehr als das damalige BIP von Bahrain (6 Mrd. Dollar), Jordanien (10,6 Mrd. Dollar) und Jemen (6,5 Mrd. Dollar).7 Mit seinem geschätzten Vermögen von 2 Mrd. Dollar hat der Islamische Staat also noch einen langen Weg vor sich.8 Hingegen stellt der IS frühere bewaffnete Gruppen hinsichtlich militä- rischen Geschicks, Manipulation der Medien, Einrichtung von Sozialpro- grammen und vor allem im Bereich der Nationenbildung in den Schatten. Diese subtilen Vorteile stellen keine genetische Mutation dar, sondern sie lassen vielmehr an eine Weiterentwicklung des alten Terrorismusmodells denken. Diese Verfeinerungen resultieren aus der Fähigkeit des IS, sich dem schnell ändernden Umfeld in einer globalisierten Welt anzupassen.

Die Botschaft des Kalifats

Ebenfalls in scharfem Gegensatz zur Rhetorik der Taliban verbreitet der Isla- mische Staat in der muslimischen Welt eine machtvolle Botschaft: die Rück- kehr des Kalifats, des „Goldenen Zeitalters” des Islam. Diese Botschaft fällt in eine Zeit der hochgradigen Destabilisierung im Nahen Osten: Syrien und der Irak stehen in Flammen, Libyen befindet sich am Rand eines erneuten Stammeskonflikts, im vom Militär regierten Ägypten ist die Lage unsicher, und Israel lieferte sich im Sommer 2014 einen weiteren Krieg mit dem Gaza- streifen. So erscheint vielen Sunniten die Ausrufung des Kalifats durch den neuen Kalifen al-Baghdadi nicht als Selbstermächtigung einer weiteren bewaffneten Gruppierung, sondern als Aufstieg eines verheißungsvollen politischen Gebildes, das sich aus der Asche von Jahrzehnten des Krieges und der Zerstörung erhebt. Die Tatsache, dass der islamistische Phönix seine konkrete Gestalt am ersten Tag des heiligen Fastenmonats Ramadan im Jahr 2014 annahm, muss als ein starkes Omen betrachtet werden, als Zeichen, dass der Islamische Staat die Legitimität aller 57 Länder infrage stellt, deren Bewohnerinnen und Bewohner größtenteils dem islamischen Glauben folgen. Oder wie es IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani ausdrückte: „Mit der Ausdehnung des Herrschaftsgebiets des Kalifen und der Ankunft seiner Truppen wird die Legalität aller Emirate, Staaten, Gruppen und Organisationen hinfällig.” Es ist die Kampfansage eines zeitgenössischen Staates mit einer modernen Armee, der seine Legitimität auf die erste territoriale Ausprägung des Islam im 7. und 8. Jahrhundert zurückführt. Diese allzu echte Bedrohung spüren vor allem jene Staaten, die an Syrien und den Irak grenzen. Im Juli 2014

7 Vgl. GAO, PLO’s Ability to Help Support Palestinian Authority Is Not Clear, www.gao.gov, 1995. 8 Vgl. Die Zerschlagung des IS-Kalifats ist möglich, www.tagesanzeiger.ch, 28.8.2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 49 18.02.15 10:09 50 Loretta Napoleoni

tauchte die Flagge des Islamischen Staates in jordanischen Dörfern auf, und im August strömten Tausende IS-Kämpfer von Syrien in den Libanon, wo sie die Stadt Arsal eroberten. Seit diese Offensive lanciert wurde, fürchten sogar ehemalige Geldgeber die militärische Schlagkraft des Kalifats: Nachdem sich die irakische Armee Anfang Juli aus dem Grenzgebiet zu Saudi-Arabien zurückgezogen hatte, entsandte das saudische Könighaus 30 000 Soldaten an seine Grenze zum Irak. Während der Plan in geographischer Hinsicht die Wiedererrichtung des Kalifats von Bagdad beinhaltet – ein Gebilde, das sich zu seiner Blütezeit von der irakischen Hauptstadt bis ins heutige Israel erstreckte, ehe es im Jahr 1258 von den Mongolen zerstört wurde –, zielt der Islamische Staat in politi- scher Hinsicht darauf ab, eine Inkarnation des Kalifats für das 21. Jahrhun- dert zu schaffen. In seiner ersten Ansprache als Kalif versprach al-Baghdadi, den Muslimen die „Würde, Macht, Rechte und Führerschaft” der Vergangen- heit zurückzugeben, und forderte Ärzte, Ingenieure, Richter und islamische Rechtsgelehrte auf, sich ihm anzuschließen.9 Während er sprach, arbeitete ein Team von Übersetzern auf der ganzen Welt daran, den Text seiner Rede praktisch in Echtzeit auf Dschihadisten-Websites, Facebook und zu verbreiten, und zwar in mehreren Sprachen, darunter Englisch, Französisch und Deutsch.10 Für viele sunnitische Muslime scheint das Hauptziel des Islamischen Staa- tes etwas Ähnliches zu verheißen, was Israel für die Juden symbolisiert: ein Staat im Land der Ahnen, das sie in der heutigen Zeit zurückerlangt haben; ein machtvolles religiöses Staatswesen, das sie beschützt, wo immer sie auch sind. So schockierend und abstoßend dieser Vergleich erscheinen mag – dies ist die mächtige Botschaft, die der entrechteten muslimischen Jugend mit- geteilt wird. Diese jungen Muslime leben in einem politischen Vakuum, das durch eine Reihe beunruhigender Faktoren verursacht worden ist: die Korruption, Ungleichheit und Ungerechtigkeit in vielen modernen arabischen Staaten; die skrupellose Diktatur Baschar al-Assads in Syrien; die Weigerung der Regierung Nuri al-Malikis, die Sunniten im Irak ins politische Leben einzu- binden und deren Verfolgung ein Ende zu setzen; das Versäumnis, die durch den Krieg zerstörte sozioökonomische Infrastruktur instand zu setzen; und nicht zuletzt die hohe Arbeitslosigkeit. Auch auf jene, die im Ausland leben, wirkt die Botschaft des IS bestechend und verführerisch: auf all die jungen Muslime in Europa und Amerika, die sich schwertun mit der Integration in eine westliche Gesellschaft, die jungen Menschen immer weniger Möglich- keiten bietet. „Al-Baghdadi [...] hat unglaublich viel erreicht – er hat Städte erobert, mas- senweise Leute mobilisiert, und er schlachtet im ganzen Irak und in Syrien skrupellos Menschen ab“, sagt Richard Barrett, ehemaliger Leiter der Abtei- lung für Terrorismusbekämpfung beim britischen Auslandsgeheimdienst,

9 Vgl. Hannah Strange, Islamic State leader Abu Bakr al-Baghdadi addresses Muslims in Mosul, www.telegraph.co.uk, 5.7.2014. 10 Vgl. Roula Khalaf, Abu Bakr al-Baghdadi, ISIS Leader, www.ft.com, 4.7.2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 50 18.02.15 10:09 Der islamistische Phönix 51

gegenüber der französischen Presseagentur AFP. „Ein junger Mann, der Action sucht, schließt sich al-Baghdadi an.”11

Gegen die Korruption

Es steht außer Frage, dass der Islamische Staat seine zweifelhafte Popularität der Anziehung verdankt, die seine militärische Durchschlagskraft auf Teile der Bevölkerung in der Region ausübt: auf Menschen, die sich nach jahrzehn- telanger Herrschaft durch skrupellose, vom Westen gestützte arabische Füh- rer betrogen fühlen, die durch die Korruption innerhalb von PLO und Hamas desillusioniert und angesichts der scheinbar endlosen Periode von Krieg, ethnisch-religiösen Konflikten und Sanktionen zutiefst deprimiert sind. Vor der Kulisse des syrischen Bürgerkriegs und eines durch die westliche Intervention weiterhin gelähmten Irak hat der IS auf Fatwas und religiöse Vorträge verzichtet und stattdessen Gefolgsleute hinzugewonnen, indem er eine politische Befreiung durch die Wiedererrichtung des Kalifats versprach. Doch die Anhänger, die sich nach Jahrzehnten des Krieges und der Zerstö- rung nach einer permanenten Lösung sehnen, bezahlen einen hohen Preis für die Akzeptanz dieses neuen Staates: Er verpflichtet seine Untertanen zur Befolgung seiner strikten Regeln, verhängt rabiate Strafen und degradiert Frauen zu Menschen zweiter Klasse. Dazu kommt, dass weder Schiiten noch Anhänger irgendeines anderen Glaubens Platz haben im zukünftigen Staat, es sei denn, sie bekennen sich zum Salafismus. Doch trotz ihrer Brutalität scheinen der Islamische Staat und al-Baghdadi ein Programm vorzulegen, das bei verfolgten Sunniten auf Zustimmung stößt. Zwar stellt dieses neue Gebilde bislang lediglich eine Staatshülle dar, ein Konstrukt, das über die sozioökonomische Infrastruktur eines Staates verfügt, nicht aber über die politische Anerkennung und die Zustimmung der Bevölkerung, die ein wirklicher Staat benötigt. Al-Baghdadi arbeitet daran, das zu ändern – ungeachtet der Tatsache, dass die USA im Herbst 2014 eine auf drei Jahre angelegte Offensive ankündigten, um den Islamischen Staat mittels Luftangriffen zu stoppen. Das Ziel des Islamischen Staates scheint in greifbarer Nähe zu sein. Keine andere bewaffnete Organisation hat hin- sichtlich der politischen Verhältnisse im Nahen Osten und der Frustrationen muslimischer Einwanderer in der ganzen Welt ein solches Gespür und eine solche politische Intuition an den Tag gelegt. Und keine andere bewaffnete Gruppe hat sich beim Versuch der Nationenbildung so erfolgreich um die dazu erforderlichen Faktoren gekümmert. Hinter der religiösen Fassade und der terroristischen Taktik steht eine politische und militärische Maschine- rie, die sich vollständig auf die Nationenbildung konzentriert und die – eher überraschend – im Gefolge der territorialen Eroberung nach Konsens strebt. Bewohner der vom Kalifat kontrollierten Enklaven bestätigen, dass die

11 So Richard Barrett, ehemaliger Leiter der Abteilung für Terrorismusbekämpfung beim britischen Auslandsgeheimdienst, zit. nach: Paul Crompton, The Rise of the new ‚caliph’, ISIS chief Abu Bakr al-Baghdadi, www.english.alarabiya.net, 30.6.2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 51 18.02.15 10:09 52 Loretta Napoleoni

Ankunft der IS-Kämpfer einherging mit einer Verbesserung des täglichen Betriebs in ihren Dörfern: IS-Kämpfer besserten Straßen aus, organisier- ten Suppenküchen für Menschen, die ihre Unterkunft verloren hatten, und setzten die unterbrochene Stromversorgung instand.12 Der IS demonstriert damit zumindest zu einem gewissen Grad seine Einsicht, dass sich heutzu- tage neue Nationen nicht auf Terror und Gewalt allein gründen lassen: Dazu ist auch die Zustimmung der Bevölkerung erforderlich.

In der Tradition des europäischen Terrorismus

Zudem hat die Führung der IS-Miliz die Taktik und Struktur anderer bewaff- neter Gruppierungen studiert und wendet die Lektionen, die sie daraus gezogen hat, in einem neuen Kontext an. Wie europäische Organisationen der 1960er und 70er Jahre, etwa die Roten Brigaden in Italien oder die IRA in Nordirland, ist sich der Islamische Staat der Macht bewusst, die die Pro- paganda der Angst auszuüben vermag. Besonders geschickt weiß er soziale Medien einzusetzen, um professionell inszenierte Videos und Fotos seiner barbarischen Handlungen ans lokale und globale Publikum zu bringen. Dass Angst ein viel wirksameres Eroberungsinstrument darstellt als religiöse Vor- träge, ist ein Umstand, den zu erkennen Al Qaida versäumt hat. Gleicher- maßen hat der Islamische Staat begriffen, dass extreme Gewalt Schlagzei- len macht: In einer mit Informationen überschwemmten Welt verlangt die 24-Stunden-Medienmaschinerie nach immer drastischeren Bildern – daher die Übersättigung mit Fotos und Videos brutaler Bestrafung und Folter in Formaten, die leicht auf einem Mobiltelefon angesehen werden können. In unserer voyeuristischen virtuellen Gesellschaft, so scheint es, ist anspre- chend verpackter Sadismus zu einer beliebten Show geworden. Aber: Der IS legt großen Pragmatismus an den Tag, wenn er die Peitsche der Gewalt und der Scharia mit dem Zuckerbrot der propagandistischen sozialen Medien sowie einer Vielzahl von sozialen Programmen verbindet, die auf die Verbesserung der Lebensumstände der im Kalifat in die Falle geratenen sunnitischen Bevölkerung abzielen. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet er sich von Al Qaida. Sollte diese Strategie aufgehen, wird sich die internatio- nale Gemeinschaft einem neuen Szenario in der Geschichte des Terrorismus und der Nationenbildung gegenübersehen: Der Islamische Staat wird eine praktikable Lösung für das „Dilemma des Terrorismus” gefunden haben. Das wäre die ultimative Kampfansage an den modernen Staat. Ein moderner Staat muss sich entscheiden, ob er terroristische Akte als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit ansieht oder vielmehr als eine Bedro- hung der öffentlichen Ordnung. Dieses Dilemma entspringt der doppelten Verantwortung des modernen Staates, nämlich seine Bürgerinnen und Bür- ger einerseits vor äußeren Feinden und andererseits vor Kriminellen inner- halb des Staates zu beschützen. Bewaffnete Gruppen wollen bestehende

12 Vgl. Diverse Autoren, Life under ISIS: For residents of Raqqa is this really a caliphate worse than death?, www.independent.co.uk, 5.9.2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 52 18.02.15 10:09 Der islamistische Phönix 53

Staatswesen zerstören, sind also eine Gefahr für die nationale Sicherheit; so ist es das Ziel des IS, die Gebiete des alten Kalifats von Bagdad von der in sei- nen Augen tyrannischen Herrschaft der Schiiten zu befreien und Jordanien und Israel zu annektieren, um eine solche Einheit wieder zu errichten. Doch bewaffnete Gruppen bedienen sich krimineller – und im Fall von Al Qaida und dem Islamischen Staat barbarischer – Mittel, um ihre Ziele zu erreichen, etwa Selbstmordattentate oder die Kreuzigung ihrer Gegner. Bevor George W. Bush seinen „Krieg gegen den Terror” vom Zaun brach, wurde der Terrorismus einfach als eine Form der Kriminalität angesehen, also als eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung, und man überließ es der Justiz, sich mit ihm zu befassen. Auch als Bush Al Qaida zu einer Gefahr für die nationale Sicherheit erklärte, blieben ihre Mitglieder unlawful com- batants (ungesetzliche Kombattanten), denen nie der Status von Mitgliedern einer Kriegspartei zuerkannt wurde. Entsprechend konnte Terrorismus als ein Verbrechen definiert werden, dessen Ziel ein kriegerisches ist.13 Wenn es jedoch dem Islamischen Staat gelingen sollte, durch terroris- tische Mittel territoriale Kontrolle zu erlangen, mittels sozialer und politi- scher Reformen den Zuspruch der Bevölkerung sicherzustellen und auf diese Weise einen modernen Staat zu errichten – einen, den die Welt ernst neh- men muss –, wird er genau das beweisen, was alle bewaffneten Gruppen von sich behaupten: dass sie keine Kriminellen sind, sondern Kriegsparteien, die sich in einem asymmetrischen Krieg gegen ein illegitimes, tyrannisches und korruptes Regime befinden. Dabei spielt es keine Rolle, wie barbarisch ihr Handeln war oder noch immer ist: Für die Mitglieder des Islamischen Staates wird ihr Status als Feinde Syriens und des Irak außer Frage stehen. Hier zeigt sich: Der islamistische Terrorismus ist seit dem 11. September 2001 entscheidend vorangekommen und steht in Form des Kalifats mittler- weile vor der Stufe zur Nationenbildung. Das war möglich, weil der Terroris- mus in einer sich rapide verändernden Welt, in der Propaganda und Techno- logie eine immer wichtigere Rolle spielen, mit dem Fortschritt mitgehalten hat. Modernität und Pragmatismus des Islamischen Staates basieren auf einer Mischung aus zeitgenössischer Taktik, Technologie und Kommunika- tionsfähigkeit, psychologischer Propaganda und althergebrachter Kriegs- führung sowie Stammesgebräuchen, wie arrangierten Ehen zwischen den Frauen der sunnitischen Stämme und den Dschihadisten. Dies verdeutlicht, dass der Islamische Staat alle früheren oder zeitgenössischen Versuche der Staatenbildung in den Schatten stellt, und dass ihm etwas gelingen könnte, was allen bewaffneten Organisationen der Nachkriegszeit missglückt ist: Mit Hilfe roher Gewalt eine neue Art von Staat zu schaffen, groß und stark genug und von ausreichender strategischer Bedeutung, um weltweit Auf- merksamkeit zu erregen. Dennoch markiert das ökonomische und militärische Geschick des IS keine neue Gattung des Terrorismus. Genauso wenig lässt sich dies über dessen Vorliebe für die Inszenierung bestialischer Gewalt sagen, von der die west-

13 Vgl. Paul Gilbert, Terrorism, Security and Nationality. An Introductory Study in Applied Political Philosophy, London und New York 1995.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 53 18.02.15 10:09 54 Loretta Napoleoni

lichen Medien fälschlicherweise behaupteten, sie habe sogar die Al Qaida- Führung schockiert. Es war Al Qaida selbst, deren 9/11-Drahtzieher Kha- lid Scheich Mohammed 2002 für die Enthauptung des Journalisten verantwortlich war – ein Akt, der diese Art von barbarischer Exeku- tion zum ersten Mal einem globalen Publikum vorführte. Auf Pearls Hinrich- tung folgte 2004 die Enthauptung des US-amerikanischen Geschäftsmanns Nicholas Berg durch die Gruppe von Abu Musab al-Zarqawi. Im gleichen Jahr gerieten vier Söldner der Firma Blackwater in einen Hinterhalt, und ihre brennenden Körper wurden durch die Straßen von Falludscha geschleift; viele sahen jenes Jahr als den Zenit des Bösen. Die vom Islamischen Staat verübten Gräueltaten sind somit leider nicht ohne Beispiel. Aus der Asche des Krieges gegen den Terror ist der Islamische Staat inmit- ten eines Stellvertreterkriegs also nicht als eine neue Art von Terrorismus auferstanden, sondern als Mutation, als Weiterentwicklung seiner früheren Form. Seine Kraft verdankt er nicht zuletzt dem langen Schatten, den die westliche Intervention von 2003 in Teilen des Nahen Ostens bis heute wirft – nämlich ein Jahrzehnt des Krieges und ethnisch-religiösen Konflikts. Diese Fakten zu ignorieren, ist nicht nur unredlich und oberflächlich, sondern gefährlich. „Kenne deinen Feind” bleibt der wichtigste Wahlspruch bei der Bekämpfung des Terrorismus.

Das soziale Gesicht des Kalifats

Um uns der tatsächlichen Herausforderung bewusst zu werden, die das Kali- fat für die Welt darstellt, ist es erforderlich, sich den Prozess der Staatenbil- dung in der vormodernen Stammesgesellschaft zu vergegenwärtigen. Der Islamische Staat versucht sein Projekt der staatlichen Souveränität nicht nur mittels einer vormodernen Diktatur und Barbarei voranzubringen, sondern auch mit Hilfe der uralten Werte von Haus und Herd: Er ermutigt seine Sol- daten zu heiraten und lässt seine Kämpfer an Siegeszügen in Begleitung von mit Gewehren bewaffneten Kindern aufmarschieren. In Rakka, der Haupt- stadt des Kalifats, rekrutiert ein Propagandawagen aktiv junge Anwohner für Trainingslager, in denen sie den Gebrauch moderner Waffen lernen. An lauen Sommerabenden wird die Bevölkerung eingeladen, den islamischen Festen auf öffentlichen Plätzen beizuwohnen. Hier gibt es Musik, Heiter- keit und Lobeshymnen auf den Kalifen und das Kalifat. Angezogen von der Musik und fasziniert von Waffen und Kämpfern, strömen scharenweise Kin- der zu diesen Veranstaltungen, an denen sie dazu animiert werden, sich der Verteidigung des neuen Staates anzuschließen.14 Zwar erscheint die Welt des Kalifats in den sozialen Medien immer vor dem Hintergrund eines mittelalterlichen Eroberungskrieges – mitsamt abgetrennten Köpfen und gekreuzigten Leichen, die auf öffentlichen Plät- zen zur Schau gestellt werden, und ohne die Anwesenheit von Frauen in der

14 Vgl. Deborah Amos, Islamic State Rule: Municipal Services And Public Beheadings, www.npr.org, 12.9.2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 54 18.02.15 10:09 Der islamistische Phönix 55

Öffentlichkeit. Doch das Kalifat hat auch ein soziales Gesicht – und dieses zeigt sogar Spuren der Humanität. Mit diesem Gesicht muss sich der Westen beschäftigen, wenn er dem Zulauf, den der IS erfährt, Einhalt gebieten will. Im Gegensatz zu den Taliban sucht der Islamische Staat Legitimität und Anerkennung unter der Zivilbevölkerung, indem er Männer, Frauen und Kinder in sein Kalifat integriert. Anders als die PLO, die ETA und die IRA – bewaffnete Organisationen, die sich jeweils nur durch einen Teil der Bevöl- kerung legitimiert fühlten – erstrebt der Islamische Staat die Zustimmung der Umma, der weltweiten Gemeinschaft aller Gläubigen. Entsprechend gehen seine Ambitionen weit über jene früherer bewaffneter Gruppen hin- aus. Nachdem sie dank spektakulärer militärischer Eroberungen für sich in Anspruch nehmen, dass Gott auf ihrer Seite stehe und dass der Erbe des Pro- pheten, der Kalif, tatsächlich zurückgekehrt sei, müssen die Kämpfer des IS jetzt die Unterstützung der Gläubigen – Männer wie auch Frauen – gewin- nen, um so die nächste Generation hervorzubringen. Tatsächlich hat der Islamische Staat bereits mehr Nationen für seine Sache mobilisiert, als seine Gegner aus dem Kreis der G-20-Staaten bislang für seine Bekämpfung gewinnen konnten. Ein offener Krieg, einschließlich der Entsendung ausländischer Truppen, würde große Opfer unter der Zivilbe- völkerung fordern und den Nahen Osten komplett destabilisieren. Zudem wären die langfristigen Erfolgsaussichten dürftig. Gleichwohl kann ein sol- cher Krieg nicht mehr ausgeschlossen werden, seitdem die USA einen Plan für eine längere Kampagne von Luftschlägen und die Bildung einer breiten Koalition gegen den IS angekündigt haben. Was aber wäre die Alternative? Ist es denkbar, dass europäische Staats- oberhäupter al-Baghdadi eines Tages die Hand schütteln? Würde der Wes- ten und der Rest der Welt einen Schurkenstaat an den Toren Europas und vor Israels Haustür zulassen? Und könnte dieser Protostaat, erschaffen durch barbarische Gewalt, dank eines internen Konsenses jemals über die nötige Legitimität verfügen, um den Schritt zu einem modernen Staat zu vollziehen? Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Schurkenstaat und seine despoti- schen Anführer eine solche Transformation vollbringen – Libyens Muam- mar al-Gaddafi beispielsweise war von der Staatengemeinschaft anerkannt. Doch es wäre das erste Mal in der Geschichte der Moderne, dass ein Staat aus reinem Terrorismus und einem vormodernen Eroberungsfeldzug gebo- ren wird. Dies sind die außerordentlichen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen. Egal, wie wir auf sie reagieren, die Ausrufung des Kalifats erin- nert uns daran, dass das, was die Politiker fälschlicherweise für eine neue Gattung des Terrorismus hielten, sich möglicherweise als ein ganz neues Terrormodell entpuppt. In anderen Worten: Der Islamische Staat kann das Dilemma des Terrorismus lösen, wenn ihm der Übergang zur Staatenbildung gelingt – zu einem Staat, in dem den Mitgliedern einer bewaffneten Orga- nisation der Status von Kriegsgegnern und der Zivilbevölkerung der Status von Bürgern zukommt. Auch ohne diplomatische Anerkennung würde die bloße, anhaltende Existenz des Kalifats die internationale Gemeinschaft dazu zwingen, ihre Lesart des Terrorismus grundlegend zu überdenken.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 55 18.02.15 10:09 Anzeige Die Monatszeitung für selbstorganisation MAOISTISCHE KOMMUNEN IN CHINA Drei bestehende Kommunen werden vorgestellt. EIN OFFENES WOHNZIMMER IN KASSEL Das »Fachbeschäft für Interaktion« bietet Raum für Menschen, die sich selbst organisieren. EINSTIEG IN KOMMUNE Wie gelange ich in die Kommune meiner Wahl? FILMREZENSION – PRIDE Schwerpunkt Queers aus London solidarisieren sich mit Erzeuger – Verbraucher – streikenden walisischen Bergarbeitern. Genossenschaften • Solidarische Landwirtschaft QUEER IN KOMMUNEN – • Die Bremer EVG: Ökologisch - Regional - Fair SO EINFACH IST ES NICHT Reicht es, zu proklamieren, mensch sei allge- • Tagwerk eG - Eine regionale mein gegen Diskriminierung? Öko-Unternehmenskooperation • Genossenschaften im Biolebensmittelsektor EIN SCHNUPPERABO 3 MONATE als Pioniere. FREI HAUS GIBT ES FÜR NUR 7,50€! Endet automatisch und muss Probelesen: WWW.CONTRASTE.ORG nicht gekündigt werden! Bestellungen im Internet oder über Gegen Vorkasse: CONTRASTE e.V., Schönfelder Str. 41 A, 34121 Kassel Schein / Briefmarken / Bankeinzung.

D ie »Blätter« vernetzt

facebook.com/blaetterverlag twitter.com/blaetter joindiaspora.com/u/blaetter Blätter

Werden Sie Teil der »Blätter«-Community! Sie erhalten kostenlos aktuelle Hinweise auf Neuerscheinungen, Veranstaltungen und Aktionen. Vor allem aber freuen wir uns auf das Gespräch – und Ihre Meinung. Mehr Informationen auf www.blaetter.de.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 56 18.02.15 10:09 Die Beharrlichkeit des Krieges Gewalt und Gegengewalt seit dem Ende der Bipolarität

Von Lothar Brock

as für ein Jahresauftakt: Infernalischer Terror im Nahen Osten, in W Afrika, aber auch in Paris, im Herzen Westeuropas, außerdem ein Krieg in der Ostukraine durch russische Waffenlieferungen an die Separatisten – und damit, bei Waffenlieferungen des Westens an die Gegenseite, die Gefahr eines neuen Stellvertreterkrieges mit unbegrenztem Eskalationspotential. Diese fatale Entwicklung hätte vor 25 Jahren wohl niemand vorhergesehen. Mit dem Fall der Mauer und dem Untergang der Sowjetunion sahen sich die liberalen Demokratien unvermittelt im Zustand der „Feindlosigkeit“ (Ulrich Beck). Die territoriale Bedrohung, auf deren Abwehr das westliche (wie auch das östliche) Militär ausgerichtet war, existierte nicht mehr. Die Demokratie hatte gesiegt, der Warschauer Pakt löste sich auf – und die Geschichte war angeblich zu Ende. Eine Reihe sogenannter Regionalkriege wurde tatsäch- lich beendet und die Charta von Paris, mit der der Ost-West-Konflikt amtlich geschlossen wurde, breitete ein wunderschönes Morgenrot über Europa aus: „Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Män- nern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlussakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an.“ Was ist heute, 25 Jahre später, daraus gewor- den? Wie sind wir dorthin gelangt, wo wir heute zu sein befürchten müssen: in einem Zustand der Hoffnungslosigkeit, was die Chancen betrifft, die Gewalt zu zügeln und Raum für Kooperation und Interessensausgleich zu schaffen? Und was kann einer solchen Hoffnungslosigkeit entgegengesetzt werden? Meine These lautet: Die internationalen politischen Rahmenbedingungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eröffneten historisch einmalige Mög- lichkeiten der Kritik und Einhegung kollektiver Gewalt, aber zugleich schu- fen sie auch neue Gelegenheiten für die Rechtfertigung von Gewalt. Recht- fertigung und Kritik der Gewalt sind nämlich auf tragische Weise ineinander verwoben: Nur wenn Gewalt als problematisch gilt, muss sie gerechtfer- tigt werden. Eine starke Kritik der Gewalt bietet ihrerseits gute Gründe für Gegengewalt. Das hat unlängst, bei seinem Besuch in der Türkei, sogar Papst Franziskus bekräftigt. Der barbarischen Gewalt des Islamischen Staates, so das päpstliche Diktum, dürfe man mit Gegengewalt begegnen.

* Der Beitrag basiert auf dem einleitenden Vortrag der Römerberggespräche in Frankfurt a. M. vom 13.12.2014. Ich danke Bruno Schoch und Hendrik Simon für Einwände und Rat.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 57 18.02.15 10:09 58 Lothar Brock

Gegengewalt ist jedoch nie nur Gegengewalt: Sie reagiert zwar auf Gewalt, aber indem sie es tut, wird sie zu dem, was sie zum Anlass nimmt, nämlich ihrerseits Gewalt, die dann neue Gegengewalt hervorruft usw. Dieser Teu- felskreis ist zwar kein Naturgesetz; Gegengewalt kann der Gewalt, auf die sie reagiert, durchaus auch ein Ende setzen, wie das im Zweiten Weltkrieg bezogen auf die deutsche Gewaltherrschaft der Fall war. Aber selbst für einen solchen Fall gilt, dass die Gegengewalt nicht von der ursprünglichen Gewalt determiniert wird, sondern eine erhebliche Eigendynamik entfal- tet, die von den Betroffenen als (originäre) Gewalt erfahren wird. Als solche kann sie Rachegelüste und Hass und damit neue Gewalt auslösen. Sich mit dem Thema Gewalt zu befassen, ist daher wie ein Fußmarsch durchs nebelverhangene Moor: Überall lauern morastige Stellen, in denen man versinken kann. Überall tun sich Trugbilder auf, die einen auf die fal- sche Fährte locken. Wenn man glaubt voranzukommen, könnte es doch sein, dass man sich nur im Kreise dreht.

Der Irakkrieg von 1990/91 als Blitzlicht auf die kommende Weltordnung

Die Entwicklung seit 1989 scheint dies zu bestätigen. Der Zustand der Feind- losigkeit nach Ende des Kalten Krieges war jedenfalls nur von kurzer Dauer. Sozusagen über Nacht verwandelte sich die feindlose Gesellschaft in ihrer Selbstwahrnehmung in eine allseits bedrohte Wertegemeinschaft. Denn im August 1990 marschierte der Irak in Kuweit ein und annektierte das Land. Ein halbes Jahr später gingen die USA und die sich ihnen anschließenden Staaten mit massiver militärischer Gewalt und Rückendeckung des UN- Sicherheitsrates gegen den Irak vor. Daraus entwickelte sich ein futuristisch anmutender Krieg, der sich tief in das öffentliche Bewusstsein einfraß: Ganz offensichtlich stellte er kein Überbleibsel der alten Ost-West-Konfrontation dar, sondern wirkte als Blitzlicht auf die kommende Weltordnung, von der George Bush der Ältere sprach. An vielen Orten der Welt brachen innerstaatliche Kriege aus oder spitzten sich zu: in Jugoslawien, Somalia, Ruanda, Angola, Sierra Leone, der Demo- kratischen Republik Kongo, Indonesien, Sri Lanka oder Kolumbien. Solche Kriege, die mit größter Grausamkeit ausgetragen wurden, hatte es zwar auch während und lange vor dem Ost-West-Konflikt gegeben. Sie wurden nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aber anders wahrgenommen. Die in ihnen ausgeübte Gewalt trat nun als „nackte Gewalt“ in Erscheinung, die Entset- zen und zugleich Gefühle der Bedrohung auslöste. Morton Kaplan prophezeite damals das Kommen einer allgemeinen Anar- chie, die, von Westafrika ausgehend, die ganze Welt erfassen würde; Martin van Crefeld konstatierte den Anbruch eines Zeitalters Post-Clausewitziani- scher Kriege mit großem Bedrohungspotential auch für den globalen Norden; Samuel Huntington sah einen globalen „Zusammenstoß der Zivilisationen“ voraus und Karl Otto Hondrich rehabilitierte den Krieg ganz allgemein als vergessenen Lehrmeister der Geschichte. Später kam noch die Vision „neuer

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 58 18.02.15 10:09 Die Beharrlichkeit des Krieges 59

Kriege“ hinzu, auf die das „alte“ Völkerrecht keine Antwort zu bieten schien (Mary Kaldor, Herfried Münkler). Und auch in Deutschland vermittelten bereits die Ausbrüche der Gewalt in Hoyerswerda und Rostock eine Ahnung davon, wie die Konflikte „im Rest der Welt“ in unsere eigenen Lebensumstände eingreifen und sich als Teil dieser Umstände zu erkennen geben könnten. Hans Magnus Enzensberger konfrontierte seine Leser denn auch prompt mit „Aussichten auf den Bürger- krieg“, die heute wieder akut erscheinen, obwohl es bei uns bisher zu keinem terroristischen Anschlag wie in Madrid (2004), London (2005) oder soeben in Paris gekommen ist.

Zonen des Friedens und des Krieges: Die neue Politik der Gefahrenabwehr

Der Chor besorgter Stimmen und Stimmungen, der sich Anfang der 1990er Jahre formierte, bot die Begleitmusik für eine neue, breite Diskussion über fragile Staaten, ethnische Konflikte, die Brutalisierung der Gewalt und ihre Vernetzung durch globale Gewaltmärkte. All dies stellte die globale Geltung von Demokratie und Menschenrechten radikal in Frage, so dass die gerade abhanden gekommene bipolare Sicht der Welt durch eine neue ersetzt wurde: Sie manifestierte sich in der Unterscheidung zwischen Zonen des Friedens und Zonen des Krieges, in denen sich Demokratie und Dikta- tur gegenüberstanden. Mit dieser Unterscheidung wurde – eher angesta- chelt als gedämpft durch das liberale kosmopolitische Denken – ein zivili- satorisches Kompetenzgefälle zwischen Nord und Süd konstruiert, das als Bedrohung verstanden wurde und es nahe legte, die Zonen der Turbulenz im Namen universeller Werte nach dem Bild des siegreich aus dem Ost-West- Konflikt hervorgegangenen liberalen Westens umzuformen. Seither werden die Umwelt-, Wirtschafts-, Kultur- und Entwicklungspolitik als Teil einer Politik der Gefahrenabwehr verstanden, unter der zivile und militärische Maßnahmen ineinandergreifen sollen. So wurde das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) zum Mitglied des Bundessicherheitsrates und der UN-Sicherheitsrat stufte sogar Aids als Bedrohung für Frieden und Sicherheit ein. Die Zivilgesellschaft und die ihr zuarbeitende akademische Welt trugen diese Entwicklung teilweise mit – und zwar gerade deshalb, weil sie den poli- tisch schwergewichtigen Begriff der Sicherheit nicht einfach den Militärs überlassen wollten. Sie verfolgten dabei ein doppeltes Ziel: Zum einen woll- ten sie die eigenen Anliegen durch deren Definition als Sicherheitsprobleme politisch aufwerten, zum anderen die Sicherheitspolitik auf diesem Wege entmilitarisieren. Der Rede von der militärischen Sicherheit wurde folglich fortan die ökologische, ökonomische, kulturelle, Ernährungs- oder auch die Gendersicherheit entgegengestellt und so ein neuer Spannungsbogen zwi- schen staatlicher und menschlicher Sicherheit aufgezogen. An die Stelle des positiven Friedensbegriffs der 1970er Jahre trat auf diese Weise (begleitet von den Analysen der sogenannten Kopenhagener Schule

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 59 18.02.15 10:09 60 Lothar Brock

der Politikwissenschaft über die „Versicherheitlichung“ nicht-militärischer Anliegen) die Leitkategorie der „erweiterten Sicherheit“. Diese sollte nach dem Willen der Zivilgesellschaft mit nicht-militärischen Mitteln (einschließ- lich der Förderung von Demokratie und Menschenrechten) hergestellt wer- den. Das war die Geburtsstunde einer professionellen „zivilen Konflikt- bearbeitung“ und einer regelrechten Friedensindustrie, die sich darauf konzentrierte, den Instrumentenkasten für die praktische Arbeit an der Lösung bzw. Transformation von Konflikten zu erweitern. Aber das Denken in Kategorien der „erweiterten Sicherheit“ ging wiede- rum mit erweiterten Bedrohungsvorstellungen einher. Das wirkte der erhoff- ten Entmilitarisierung der Sicherheitspolitik entgegen, ja mehr noch: Die Ausweitung des Sicherheitsbegriffs bot in Wechselwirkung mit der realen Entwicklung kollektiver Gewalt einen neuen Legitimationsrahmen für den Anspruch der Militärpolitiker, bei der Neugestaltung der Welt ein gewich- tiges Wörtchen mitzureden. Dieser Anspruch wurde in der Auseinanderset- zung mit den „Neuen Kriegen“ und spätestens ab 2001 auch mit dem inter- nationalen Terrorismus kräftig ausgebaut.

9/11: »Neue Kriege brauchen neue Regeln«

Nach dem Motto „Neue Kriege brauchen neue Regeln“ kam es insbesondere den USA als der einzig verbliebenen Supermacht darauf an, den eigenen völkerrechtlichen Ermessensspielraum bei der Anwendung von Gewalt zu vergrößern. Das geschah durch eine enge Interpretation des Gewaltverbots der UN-Charta und die weite Auslegung des Rechts auf Verteidigung. Letz- tere gipfelte in der National Security Strategy der USA von 2002, in der ein Recht auf die (militärische) Abwehr von antizipierten Gefahren formuliert wurde – von Gefahren also, die sich aus bestimmten Entwicklungen (wie bei- spielsweise dem Zerfall von Staatlichkeit oder der Verbreitung von Massen- vernichtungswaffen) ergeben könnten. Damit wurde das Gewaltverbot der UN-Charta faktisch in Frage gestellt und der Weg für eine Rückkehr in den Angriffskrieg geöffnet, wie er dann auch prompt im Jahr 2003 gegen den Irak geführt wurde. Im Anschluss an die Terror-Attacken auf New York und Washington wurde der Rechtfertigungshorizont für die Anwendung von Gewalt auch durch die Identifizierung von „Schurkenstaaten“ und „ungesetzlichen Kombattanten“ erweitert, denen nicht der Schutz der Genfer Konventionen zugebilligt wer- den müsse. Diese fatale Entwicklung fand ihren Höhepunkt in der Rechtfer- tigung bestimmter Formen der Folter als eine mit der amerikanischen Ver- fassung vereinbare Gefahrenabwehr im Kampf gegen den Terror und in der Einrichtung von „Strafräumen“ wie Guantánamo, in denen sozusagen eine rechtlich definierte Rechtsfreiheit herrscht. Die Widersprüche dieser Politik wurden auch von Präsident Obama nicht aufgelöst, im Gegenteil: Sie haben sich durch den Einsatz von Drohnen und die Ausweitung der Überwachung aller Formen elektronischer Kommunikation noch verschärft: Der Schutz der

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 60 18.02.15 10:09 Die Beharrlichkeit des Krieges 61

Freiheit wirkt nach klassischem Muster – jetzt in Wechselwirkung mit dem eskalierenden Terror – an der Zerstörung der Freiheit mit. Diese Wechselwirkung zwischen der Kritik von Gewalt und der daraus resultierenden Rechtfertigung eigener Gewalt als Gegengewalt wurde im Westen selbst kritisch kommentiert. Im Zuge dieser Kritik gerieten auch die in den 1990er Jahren und nach der Jahrtausendwende diskutierten Frie- densvorstellungen unter Druck, die sich auf den „demokratischen Frieden“ (Bruce Russett und John Oneal), die Schaffung einer „globalen Demokratie“ (David Held) oder einer „föderalen Weltrepublik“ (Ottfried Höffe) und die „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ (Jürgen Habermas) bezogen. Der im Rahmen dieser Denkansätze vertretene Kosmopolitanismus kam im Zuge einer postkolonialen Revolte in der Theoriebildung (post-colonial studies) unter den Verdacht, Teil eines hegemonialen Projekts der liberalen Demo- kratien zu sein. Diese Kritik entfaltete sich in mehr oder weniger enger Über- einstimmung mit wachsenden Vorbehalten auf Seiten des globalen Südens gegenüber den liberalen Demokratien und dem von ihnen vertretenen Uni- versalismus. Zu diesen Vorbehalten trug auch die Begründung der Gewalt- anwendung als Gewalt zum Schutz vor Gewalt bei, also die Idee der humani- tären Intervention. Dieses Thema ist nicht neu. Es begleitet die ganze Geschichte des moder- nen Völkerrechts. Die humanitäre Intervention war immer umstritten und schien während des Ost-West-Konflikts zumindest von Teilen des Völker- rechts als obsolet betrachtet zu werden. Nach dem Ende des Ost-West-Kon- flikts wurde das Konzept trotzdem erneut aufgegriffen. Dabei wurde die Gewaltfrage sozusagen von den Füßen auf den Kopf gestellt: In den 1970er Jahren hatte man mit Blick auf die nationalen Befreiungsbewegungen gefragt, ob es erlaubt sei, der Gewalt von oben (also der Gewalt der Herr- schenden) mit emanzipatorischer Gewalt von unten zu begegnen. In den 1990er Jahren verkehrte sich diese Perspektive. Jetzt stellte sich die Frage, inwieweit es zulässig sei, der zerstörerischen Gewalt von unten, also von innerstaatlich operierenden Gewaltunternehmern und des von ihnen mobi- lisierten Mobs, durch eine zivilisierende Gewalt von oben, also durch die internationale Gemeinschaft, zu begegnen.

Kollektive Friedenssicherung als Krieg

Eine mögliche Antwort auf diese Frage gab der Sicherheitsrat der Verein- ten Nationen. Im Nachgang zum Zweiten Golfkrieg (von 1990/91) – konkret: bezogen auf den Schutz der Kurden und Schiiten im Irak – ging er dazu über, gravierende Menschenrechtsverletzungen und den Zusammenbruch der inneren Ordnung von Staaten als Bedrohung des internationalen Friedens auszuweisen. Damit wurden innerstaatliche Konflikte für Zwangsmaßnah- men nach Kapitel VII der UN-Charta geöffnet. Das konnte angesichts der vorherrschenden Konfliktlage durchaus als fortschrittliche Weiterentwick- lung des UN-Instrumentariums gelten, zumal der Sicherheitsrat auch schon

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 61 18.02.15 10:09 62 Lothar Brock

vor dem Ende des Ost-West-Konflikts mit seinen Sanktionen gegen das Apartheid-Regime in Südafrika einen Präzedenzfall für mögliche Eingriffe in innergesellschaftliche Auseinandersetzungen geschaffen hatte. Bei der kollektiven Friedenssicherung nach Kapitel VII der UN-Charta gibt es aber seit seiner Gründung ein zentrales Problem: Die Vereinten Nationen verfügen bisher über keine eigenen Zwangsmittel, obwohl diese in Kapitel VII, Artikel 43 durchaus vorgesehen sind. Sollen Zwangsmaßnahmen ergrif- fen werden, so geschieht das derzeit in der Weise, dass die Mitgliedsländer autorisiert werden, zum Erhalt oder zur Wiederherstellung des Friedens das zu tun, was sie für richtig halten, einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt. Diese Praxis bewirkt, dass Maßnahmen der kollektiven Friedenssi- cherung sich in Kriege der intervenierenden Staaten verwandeln. Die Inter- vention in Libyen bietet dafür ein Beispiel mit dramatischen Folgen: Die von der UNO legitimierte Intervention zum Schutze Bengasis nutzten die krieg- führenden Staaten zum Sturz des Gaddafi-Regimes. Die Verwandlung von Maßnahmen der kollektiven Sicherheit in Kriege der Interventen ist auch ein Grund dafür, weshalb sich die Bundesregierung im Falle der Bombardierung der Tanklaster nahe Kundus so schwertat, ihr militärisches Engagement in Afghanistan beim „richtigen“ Namen zu nennen. Formal war die Bundes- wehr Teil einer UN-Schutzmission, faktisch war sie Teil des Krieges der USA gegen die Taliban.

Das doppelte Skandalon: Kosovo und Ruanda

Natürlich besteht das Problem nicht nur darin, ob militärische Zwangsmaß- nahmen mit formgerechter Autorisierung oder unilateral durchgeführt wer- den. Auch eine ordentlich autorisierte Zwangsmaßnahme kann erhebliche nicht-intendierte Folgen haben; man denke auch hier noch einmal an Libyen. Aber wenn schon die Delegation der Gewaltanwendung an handlungsfähige und handlungswillige Staaten das ganze UN-System der kollektiven Frie- denssicherung unterminiert, so ist das erst recht der Fall, wenn Einzelstaa- ten im Wege der Selbstermächtigung in innerstaatliche Konflikte eingreifen, wie das im Kosovokonflikt geschah. Damals beriefen sich die Befürworter militärischer Eingriffe für humanitäre Zwecke auf ein Recht zur Interven- tion. Das geschah unter anderem mit dem Argument, dass eines der Ziele der UN-Charta darin bestünde, die Menschenrechte zu schützen. Gewaltan- wendung, die diesem Ziel diene, falle also nicht unter das Gewalt- oder das Interventionsverbot der UN-Charta. Ein anderes Argument besagte, dass zwischen dem Friedensgebot der UN-Charta und dem Gebot, die Menschen- rechte zu schützen, eine Lücke bestehe. Diese Lücke müsse bis zu ihrer förm- lichen Schließung (durch eine Reform der UN-Charta) im Einzelfall durch handlungsfähige und -willige Staaten überbrückt werden. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Argumentation den Bezugsrahmen für willkürliche humanitäre Interventionen weit öffnet, zumal das „Recht auf Intervention“ keinesfalls als Rechtspflicht zum Eingreifen verstanden wurde.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 62 18.02.15 10:09 Die Beharrlichkeit des Krieges 63

Aber die Problematik der humanitären Intervention manifestierte sich nicht nur im eigenmächtigen Handeln im Falle des Kosovo, sondern auch in der Nicht-Intervention im Falle Ruandas (1994) und der unzureichenden Inter- vention im Falle Srebrenicas. Es war diese Mischung aus Intervention und Nicht-Intervention, die im Anschluss an den Kosovokrieg den Anstoß dafür gab, den internationalen Schutz von Menschen vor innerstaatlicher Gewalt neu zu durchdenken. Das geschah in Gestalt der Schutzverantwortung, die 2001 konzipiert, 2005 vom UN-Reformgipfel verabschiedet und unmittelbar danach vom Sicher- heitsrat als normativer Bezugsrahmen der internationalen Politik bestätigt wurde. In ihrer heutigen Lesart besagt die Schutzverantwortung dreierlei: Erstens, zur Souveränität eines Landes gehört die Verantwortung der Regie- rungen für den Schutz vor Kriegsverbrechen, Völkermord, ethnischen Ver- treibungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zweitens, Aufgabe der internationalen Gemeinschaft ist es in erster Linie, die Regierungen bei der Wahrnehmung ihrer Schutzverantwortung zu unterstützen. Nicht Zwang, sondern Kooperation steht hier im Vordergrund. Drittens, erst wenn eine Regierung ganz offensichtlich nicht in der Lage oder willens ist, ihrer Schutzverantwortung nachzukommen, kann die internationale Gemein- schaft Zwangsmaßnahmen ergreifen. Die Schutzverantwortung war bei den militärischen Interventionen in Libyen und der Elfenbeinküste 2011 Teil der Begründung für die entspre- chenden UN-Mandate. Dennoch bzw. gerade wegen der Art der Durchfüh- rung des Mandats im Falle Libyens ist es um die Schutzverantwortung inzwi- schen ziemlich still geworden. Gegenüber Syrien dient sie immerhin als normativer Hintergrund für die Forderungen an die Konfliktparteien, huma- nitäre Hilfe zuzulassen, und als Forderung an die internationale Gemein- schaft, humanitäre Hilfe zu leisten.

Recht gegen Gewalt: Das Projekt des Rechtspazifismus

Die Debatte hat sich inzwischen zum Teil auf eine andere Ebene verlagert, nämlich auf einzelstaatliche Aktivitäten zur „atrocity prevention“. Das ist in der Gesamtbilanz nicht eben viel, zumal hier die einzelstaatliche Handlungs- ebene gegenüber der multilateralen erneut privilegiert wird. Trotzdem kann man die Schutzverantwortung in Verbindung mit der Einrichtung des Inter- nationalen Strafgerichtshofes als Etappensieg im Kampf um eine angemessen institutionalisierte Weltordnung verstehen, dem ich mich im letzten Schritt zuwende. Angesichts der wieder wachsenden internationalen Spannungen ist meines Erachtens das aufzugreifen, was Jürgen Habermas in seiner Aus- einandersetzung mit dem Kosovokrieg versucht hat – nämlich das Projekt des Rechtspazifismus als Orientierungslinie für eine reflexive Weltordnungspoli- tik zu retten. Es kommt darauf an, die Idee, Frieden durch Recht zu erreichen, gegen die Rückkehr zu eher naturrechtlichen Begründungen der Gewaltan- wendung zu verteidigen. Denn der Bezug auf naturgegebene Rechte weitet

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 63 18.02.15 10:09 64 Lothar Brock

den Begründungsspielraum für die Anwendung von Gewalt in einer Weise aus, die schon auf die Barrikaden trieb und zu seiner Polemik gegen den „leidigen Trost“ der amtierenden Völkerrechtler veranlasste. Kant war aber ein Freund der Französischen Revolution, was ihn indirekt zum Fürsprecher der notfalls gewaltsamen Aufhebung einer Rechtsordnung im Namen von Freiheit und Selbstbestimmung machte. Insofern kam auch er nicht ohne naturrechtliche Begründungen aus. Das brachte Kant in eine Bredouille, der er in seiner Friedensschrift von 1795 („Zum ewigen Frieden“) dadurch zu entgehen versuchte, dass er das Widersprüchliche der Kombina- tion von Revolutionsverehrung und vernunftrechtlich abgesichertem Rechts- positivismus um der Logik seines Arguments willen einfach ignorierte. Das darin zum Ausdruck kommende Problem möchte ich am Beispiel der Lehre vom gerechten Krieg zumindest andeuten. Sie fand mit den Kriegen im Kosovo und in Afghanistan wieder einen prominenten Platz im öffentlichen Diskurs über Krieg und Frieden. Man kann die Lehre vom gerechten Krieg durchaus als Friedensethik verstehen, da sie die Anwendung von Gewalt unter Begründungszwang stellt. Gewalt soll nur und nur so weit angewendet werden, wie sie den in der Lehre entwickelten Prüfkriterien entspricht.

Wann ist ein Krieg gerecht?

Die Lehre vom gerechten Krieg diente im Kosovokrieg und beim amerika- nischen Einmarsch in Afghanistan aber nicht nur als Bezugsrahmen für die Beurteilung, sondern auch für die emphatische Unterstützung der beiden Kriege. Dass zeigte sich insbesondere in den Auseinandersetzungen zwi- schen kontinentaleuropäischen und amerikanischen Intellektuellen über den Afghanistankrieg („What we are fighting for“). Während die amerika- nischen Intellektuellen aus der Gerechtigkeit des Kampfes gegen den Ter- rorismus die Zulässigkeit einer darauf zugeschnittenen Einschränkung des Gewaltverbots der UN-Charta ableiteten (und Jean Bethke Elshtain die Politik der Bush-Administration als Handeln im Sinne der Augustinischen Ethik rechtfertigte), wurde von kontinentaleuropäischer Seite eher der Ver- such unternommen, die Lehre vom gerechten Krieg als Schranke für eigen- mächtiges Handeln zu interpretieren (ohne damit aber die Verknüpfung von Gewaltkritik und Gewaltlegitimation auflösen zu können). Es entbrannte also letztlich ein Streit um eine gerechte Lehre vom gerechten Krieg. Die- ser Disput deutet die Grenzen dessen an, was die Lehre zu leisten vermag, und erinnert an die These vom „beiderseits gerechten Krieg“, die Alberico Gentili an der Schwelle zum 17. Jahrhundert formulierte und damit gleich zu Beginn des modernen Völkerrechts die Überlebtheit der Lehre in einer Welt gleichberechtigter Staaten feststellte. Die Lehre vom gerechten Krieg schließt die unilaterale Gewaltanwen- dung, also die Selbstermächtigung zum Krieg, nicht kategorisch aus. Ob Gewalt zulässig ist, macht sie vielmehr abhängig von Gerechtigkeitserwä- gungen. Die Gerechtigkeitserwägungen, auf die sie sich verlässt, erfolgen

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 64 18.02.15 10:09 Die Beharrlichkeit des Krieges 65

jedoch in einem Umfeld, das von Machtdisparitäten und Interessengegensät- zen geprägt ist. Unter solchen Bedingungen ist davon auszugehen, dass die geforderte Anwendung der Prüfkriterien in der Praxis eher von vorgefassten Legitimationsinteressen für die Anwendung (oder Ablehnung) von Gewalt bestimmt wird als durch das Bemühen, das Für und Wider eines militäri- schen Eingriffs ergebnisoffen abzuwägen. Hinzu kommt, dass keine Regierung irgendwo aus rein humanitären Grün- den eingreift oder eingreifen kann. Es geht immer und notwendigerweise um eine Mischung von Motiven: eine Mischung, in der sich „die Macht der Moral“ (Andreas Hasenclever) offenbaren kann, aber auch der Wunsch nach einem ideologischen Zuckerguss auf kruder Interessenpolitik oder auch nur die banale Notwendigkeit, eine Intervention oder Nicht-Intervention gegen- über der heimischen Klientel zu „verkaufen“. Das entscheidende Problem liegt darin, dass mit der Lehre vom gerech- ten Krieg das Gewaltverbot der UN-Charta als legale Schranke unilateralen Handelns relativiert wird. Legitimität wird gegen Legalität, Gerechtigkeit gegen das positive Recht gesetzt. Diese Vorgehensweise verdichtete sich in der bekannten Formel, dass der Kosovokrieg der Nato zwar möglicherweise illegal, auf jeden Fall aber legitim gewesen sei – als ob damit das Problem erledigt gewesen wäre.

Kant – auch nur ein leidiger Tröster?

Die richtige Antwort auf die Probleme der Lehre vom gerechten Krieg scheint daher auf der Hand zu liegen: Sie besteht in der Stärkung der Institutionen des Rechtspazifismus, die „den einzelnen Akteuren den unmittelbar hand- lungsleitenden Zugriff auf ethische Gründe in Konfliktsituationen entzie- hen“ (Peter Niesen). Das allerdings ist eine Aufgabe, die die Gemüter bereits seit Thomas Hobbes bewegt. Hobbes ging es um Frieden durch Recht auf der innerstaatlichen Ebene, wobei er internationale Kriege eher als Stärkung des von ihm propagierten Gesellschaftsvertrages verstand denn als Hinder- nis. Bei Immanuel Kant, der mit der Verknüpfung von Frieden und Recht an Hobbes anschließt, ging es darum, inneren und äußeren Frieden auf eine konstruktive Weise aufeinander zu beziehen: Der innere Friede sollte auch dem äußeren dienen. In den 1990er Jahren verschob sich das Problem weiter: Nunmehr wurde gefordert, den internationalen Frieden (verstanden als weit- gehende Abwesenheit internationaler Kriege) unter Berufung auf das Recht für den inneren Frieden der Staaten zu nutzen, zwecks Demokratisierung und Schutz vor exzessiver Gewalt. Heute stellt sich die Aufgabe, erneut über die Bedingungen einer Weltfrie- densordnung nachzudenken, in der einerseits die Anwendung von Gewalt im Einklang mit der UN-Charta als „rechtserhaltende Gewalt“ zum Zuge kommt und andererseits der Rückgriff auf die Gewalt im Kampf um Gerech- tigkeit an Bedeutung verliert. Gegenwärtig erscheint das als ein hoffnungs- loses Projekt. Wir sollten es aber im Auge behalten, um unserem Handeln

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 65 18.02.15 10:09 66 Lothar Brock

unter den widrigen Umständen der Gegenwart eine vertretbare Richtung vorzugeben. Diese Richtung scheint in der historischen Entwicklung des Völkerrechts vorgezeichnet zu sein: Einer Ausdifferenzierung des Völkerrechts, die auf Mäßigung im Gewaltgebrauch angelegt war (Hugo Grotius), folgten die Erfindung des humanitären Völkerrechts, der Ausbau des Rechts im Krieg (ius in bello), die Problematisierung des Rechts zum Krieg (ius ad bellum), das Verbot des Angriffskrieges, das generelle Gewaltverbot der UN-Charta und schließlich ein Auf- und Ausbau der internationalen Gerichtsbarkeit, die in die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes mündete. So weit, so eindrucksvoll. Aber die Sache hat zwei Haken: Zum einen ver- leitet die Perspektive auf eine fortschreitende Ausdifferenzierung des Völ- kerrechts dazu, die ungeheuren Brüche in der Entwicklung des Völkerrechts (von Staaten- zu Weltkriegen und zum Holocaust) unter der teleologischen Perspektive einer fortschreitenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen zu verbergen. Zum anderen lässt sich nicht verleugnen, dass man ohne ethische Erwägungen nicht auskommt, wenn man nach der Rolle des Rechts auf dem Weg zum Frieden fragt: Warum wollen wir uns über- haupt auf den Weg des Friedens begeben? Warum geben wir uns nicht damit zufrieden, dass Krieg und Frieden aufeinander verweisen, warum wollen wir zusätzlich noch wissen, was das „Mehr“ des Friedens jenseits der Abwesen- heit des Krieges ausmacht?

Naturrecht im Einklang mit gesetztem Recht

Die UN-Charta bietet in dieser Hinsicht einen Lösungsansatz, den man aus- bauen könnte. Die Charta steht für das Projekt der Verrechtlichung der inter- nationalen Politik. Doch auch dieses Projekt kommt nicht ganz ohne den Rückgriff auf das Naturrecht aus. Art. 51 der UN-Charta erkennt das „naturge- gebene Recht“ der Staaten auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung an. Dieses naturgegebene Recht wird aber an die positive Rechtsordnung der Charta zurückgebunden; denn das Recht auf Selbstverteidigung kann nur so lange in Anspruch genommen werden, bis sich der Sicherheitsrat in geeig- neter Weise der Sache annimmt. Art. 51 kombiniert also ein überpositives Recht mit der intendierten positiven Rechtsordnung. Damit wird die Zuläs- sigkeit der Gegengewalt einer positivrechtlichen Gewaltkontrolle unter- worfen. In diesem Sinne kann man von einer das Recht stützenden Gewalt sprechen, wobei die Umsetzung des Rechts im Wege der Mandatierung von Zwangsmaßnahmen allerdings eine gehörige Portion eigenmächtiger Gewalt hervorbringen kann und das in aller Regel auch tut, wie oben mit Blick auf die Verwandlung von Friedensmissionen in Kriege beschrieben. Dieses Problem könnte dadurch zumindest abgemildert werden, dass die Durchführung von Zwangsmaßnahmen (und nicht nur die Entscheidung über ihre Zulässigkeit) systematisch an die Kontrolle durch den Sicherheitsrat gebunden wird. Zudem muss die Politik der kollektiven Friedenssicherung

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 66 18.02.15 10:09 Die Beharrlichkeit des Krieges 67

sehr viel stärker als bisher auf die Schaffung der strukturellen Voraussetzun- gen für die Einhegung von Gewalt ausgerichtet werden. Die Einbeziehung von Prävention und Wiederaufbau kriegszerstörter Länder in die Schutzver- antwortung bietet hierfür einen konkreten Ansatz. Wie also ist der circulus vitiosus von Gewaltlegitimation und Gewaltkri- tik zu durchbrechen? Es kann bei der Antwort bleiben: „durch das Recht“. Diese Antwort kann aber nur überzeugen, wenn man sich bewusst ist und bleibt, dass die Rechtsetzung immer auch Ausdruck je spezifischer Macht- verhältnisse ist und deshalb selbst eine gewalttätige Seite hat, deren Kritik eine Ethik der Gewaltanwendung voraussetzt. Die Entschlossenheit, die Idee einer Weltfriedensordnung nicht aufzugeben, könnte demzufolge auf die Annahme gestützt werden, dass es moralisch geboten und vernünftig ist, die Gewalt des Krieges durch ein auf weniger Gewalt beruhendes Recht in Kom- bination mit einer generellen Ausrichtung des eigenen Handelns auf zivile Konfliktbearbeitung zu bändigen. Damit würden die Fortschrittserwartun- gen in Richtung Frieden zwar heruntergeschraubt, sie bleiben aber doch im Sinne einer Verringerung von Willkür und Gewalt bewahrt. Gerade in Zeiten des Umbruchs wie den gegenwärtigen kann es schädlich und gefähr- lich sein, vorzeitig überall nur Anzeichen eines Rückfalls in die Barbarei zu sehen. Es kommt vielmehr darauf an, auf Verhandlungskurs zu bleiben, um der Versuchung zu entgehen, gordische Knoten mit einem Handstreich zu zerschlagen. Die russische Politik in der Ukraine, der Kurs Chinas im Südchinesischen Meer und das Auftauchen des „Islamischen Staates“ sind kein bloßes Echo auf das Versagen des Westens. Das Gegenteil behaupten zu wollen, liefe darauf hinaus, den „Anderen“ jegliche Autonomie sowie eigene Handlungs- fähigkeit und Verantwortung absprechen und sie ganz auf den Status von Objekten westlicher Ambitionen reduzieren zu wollen. Das wäre fatal. Aber im Kampf um die normative Ordnung der internationalen Politik ist der Wes- ten zum Opfer seiner eigenen Stärke geworden. Von Karl Deutsch stammt die treffende Formulierung, Macht sei „die Fähigkeit, nicht lernen zu müssen“. Da es aber ohne (konstruktives) Lernen nicht geht, verzehrt sich die Macht selbst. Die Macht des Westens, die globale Attraktivität der von ihm vertrete- nen Werte, hat seine Wahrnehmung der Weltverhältnisse in die Irre geführt. Er glaubte, das Lernen sei Aufgabe der Anderen. Mit den Folgen dieser Hybris wird der Westen heute konfrontiert. Daraus zu lernen heißt, sich dessen zu vergewissern, wofür man selbst steht. Es geht daher nicht nur um die Verteidigung westlich-liberaler Werte gegen deren manifeste Feinde, sondern auch und vor allem um eine ernsthafte Ausein- andersetzung mit der Frage, inwieweit diese Werte für das eigene Verhalten konstitutiv sind. Opportunismus und Pragmatismus liegen im Umgang mit der Gewalt eng beeinander. Den Opportunismus kritisch zu reflektieren und den Pragmatismus in eine normative Ordnung einzubinden, die am Ziel der Eindämmung von Gewalt festhält, ist die Kernaufgabe, die sich im Umgang mit den Krisen und Konflikten der Gegenwart weiterhin stellt.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 67 18.02.15 10:09 AUFGESPIESST

Nein, das war nicht der allzeit strah- lands, Petrys und Adams nahmen den lende Professor Lucke, der sich da am Ball gerne auf – und treiben Zauber- Abend nach der Hamburg-Wahl prä- lehrling Lucke seitdem eifrig vor sich sentierte. Arg gerupft sah der Gute aus. her. Der aber wird die rechten Geister, Und das nicht ohne Grund: 6,1 Prozent die er einst rief, schon lange nicht mehr in seiner Heimatstadt sind fürwahr los. Dabei haben sie ihm den ganzen kein Ruhmesblatt und weit entfernt Schlamassel in Hamburg letztlich ein- von den AfD-Ergebnissen im Osten der gebrockt. Noch Ende letzten Jahres lag Republik. Und was waren das noch für die FDP an der Elbe in sämtlichen Um- Zeiten, als eine Schill-Partei in Ham- fragen konstant bei zwei Prozent. Ihr burg aus dem Stehgreif 19,4 Prozent Aufstieg vollzog sich demnach exakt der Stimmen erzielte. 6,1 Prozent? Die parallel zu dem Techtelmechtel von hätte „Richter gnadenlos“ sogar aus Gauland, Petry und Co. mit Pegida. dem Big-Brother-Container besorgt. Wer wollte da an Zufall glauben! Denn wie denkt der gepflegte Han- seat von Stande? Wenn schon rechts, dann wenigstens ein ordentlicher Klatsche für Lucke Rechter, also am besten – ein strammer Richter. Aber wer lässt sich schon mit einem dahergelaufenen Hitler-Imita- Erleben wir also, nach Pegida, nun tor vom Schlage Lutz Bachmanns ein! auch den Niedergang der AfD? Die Dann wählt man doch lieber das Freude wäre verfrüht. Fest steht zu- neoliberale Original. Da reicht schon mindest eins: Der Höhenflug ist fürs eine ARD-Kamerafahrt über die ele- Erste beendet – und der Richtungs- ganten Beine von Katja Suding, prompt streit umso heftiger entbrannt. landen die enttäuschten Unionswäh- „Ich glaube, es hätte Hamburg gehol- ler in den Armen der aufgehübschten fen, wenn die Partei dort einen Wahl- FDP, während der Zuspruch zur AfD kampf mit Siegern gemacht hätte“, ließ sich vor allem aus den Hamburger sich prompt Luckes Noch-Vorstands- Ghettos speisen muss. Was lernen wir kollegin Frauke Petry vernehmen. Ge- daraus? Wer sich zu Pegida begibt, der meint waren natürlich die drei Muske- kommt darin um – und haucht sogar tiere des Ostens: AfD-Vize Alexander der totgesagten FDP wieder Leben ein. Gauland (11,9 Prozent in Brandenburg), Den Schaden hat nun allerdings Thüringens Landeschef Björn Höcke Bernd Lucke. Derweil reiben sich all (10,6 Prozent) und Frauke Petry höchst- jene die Hände, die ihm den Ärger erst selbst (9,7 Prozent in Sachsen). Was hät- eigebrockt haben: Lucke, das zeige te diese Troika nicht alles reißen kön- Hamburg, mache nichts Halbes und nen! Doch in Hamburg musste sie leider nichts Ganzes. Was fehle, sei umso draußen bleiben. Die drei fabulösen mehr die harte rechte Kante. Ökonomen Lucke, Hans-Olaf Henkel Luckes Kollege Kruse versucht der- und Spitzenkandidat Björn Kruse woll- weil hilflos, den Streit zu schlichten: ten die Hansestadt-AfD lieber stramm „Es gibt ja neben uns zum Glück noch wirtschaftsliberal präsentieren. die NPD.“ Dieses „Glück“ stellt sich Nun aber rächt sich, dass Lucke für Gauland, Petry und Co. allerdings von Anfang an heimlich mit rechts- ganz anders dar: Da sind noch viele außen flirtete. „Wir müssen noch ein- Stimmen zu holen, mit stramm rechter mal einen Tabubruch begehen. Das Rhetorik. Warten wir’s ab – das kann machen wir, indem wir Herrn Sarrazin noch „gnadenlos“ werden – und seien vereinnahmen“, so Lucke schon im Juli wir darauf gefasst. 2013. Sarrazin sagte ab, doch die Gau- Albrecht von Lucke

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 68 18.02.15 10:09 Die offenen Fenster von 1990 Die deutsche Einheit und die vertane Chance auf Frieden in Europa

Von Hans Misselwitz

enn in diesem Jahr der deutschen Einheit vor 25 Jahren gedacht wird, W überwiegen ganz eindeutig die positiven Einschätzungen. Demnach handelte es sich insgesamt um einen überaus gelungenen Prozess, ja um eine „Sternstunde der Diplomatie“.1 Entsprechend selten kommen folglich die den Entscheidungen innewohnenden Alternativen zur Sprache. Dabei sind diese derzeit von erstaunlicher Brisanz: Heute spüren wir, dass manches, was nach dem Umbruch von 1989 liegen blieb, zum Problem wird – und zwar zu einem Problem in und für ganz Europa. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, kehrte eine Frage auf die Agenda der Welt- politik zurück, die für die Zukunft Europas von grundsätzlicher Bedeutung war: An der Grenze, die Deutschland teilte, war eine unerledigte Geschichte eingefroren, die sogenannte deutsche Frage – die Frage, ob und wie ein befriedetes, friedliches Europa ein großes, vereintes Deutschland verkraf- ten könne, nachdem es zuvor den Kontinent zweimal in katastrophale Kriege gestürzt hatte. Dass die „deutsche Frage“ mit der europäischen zusammen- fiel, war unvermeidlich. Dass sie sich als ein Aspekt des überall in Europa mit großer Sympathie begleiteten demokratischen Aufbruchs, des Strebens nach „Rückkehr nach Europa“ stellte, war ein glücklicher Umstand. Dass es von deutscher Seite keine nationalistischen Töne gab, sondern Zurückhaltung, Respektierung der Ängste der Nachbarn, das Bekenntnis zu Europa, galt als Beweis dafür, dass die Lektion aus der Geschichte gelernt wurde. Förmlich war die „deutsche Frage“ am 15. März 1991 gelöst – mit der Hinter- legung der Ratifikationsurkunden des Zwei-plus-Vier-Vertrages. Das Verspre- chen der Herstellung einer Friedensordnung für ganz Europa wurde am 21. November 1990 mit der Charta von Paris für ein neues Europa grundlegend formuliert. Dabei knüpfte man an die 1975 verabschiedete Schlussakte von Helsinki, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, an. Die damalige Chance, auf diesen Grundsätzen aufbauend eine gemein- same, alle Teilnehmerstaaten einschließende, effektive Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu schaffen, ist jedoch nicht wirk- lich genutzt worden. Heute erleben wir, dass sich in Europa eine neue Spal-

1 So die beiden US-Diplomaten und Zeitzeugen Philip Zelikow und Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 69 18.02.15 10:09 70 Hans Misselwitz

tung etabliert, militärisch wie politisch – und zwar aktuell an der Grenze der Ukraine mit Russland. Das ist Anlass genug, sich der Chancen, Versäumnisse und Verantwortlichkeiten von 1989/1990 genau zu erinnern. 1990 hielten formal immer noch die Alliierten des Zweiten Weltkriegs die Schlüssel zur Lösung der „deutschen Frage“ in der Hand. Auch 45 Jahre nach Kriegsende trugen sie die Verantwortung für Deutschland als Ganzes – und damit auch für die Friedensordnung in Europa. Den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und dessen Folgen geschuldet, behandelten sie die „deutsche Frage“ als eine Frage des Friedens in Europa. Seit der am 1. Januar 1942 in Washington verabschiedeten „Declaration by “2 verfolgten sie zwei grundlegende Ziele. Erstens: Sicherheit vor Deutschland, dessen aggressive Politik die Welt 1939 in den blutigsten aller Kriege gestürzt hatte. Das hieß auch: kein zweites Versailles, also keine Demütigung Deutschlands und damit keine Revitalisierung des deutschen Nationalismus. Und zweitens: keinen „Sonderfrieden“ mit Deutschland, kein zweites Brest-Litowsk, der die Siegermächte gegeneinander ausspielte und das Gleichgewicht in Europa auf Dauer stören würde. Diese Ziele bildeten in Verbindung mit der Atlantik-Charta vom 14. Au- gust 19413 die Kernpunkte für den Aufbau einer friedlichen Nachkriegsord- nung in Europa. In den acht Artikeln der Charta wurden unter anderem ein umfassendes System der Sicherheit in Europa gefordert, ein Annexionsver- bot, also der Verzicht auf gewaltsam durchgesetzte Gebietsansprüche, aus- gesprochen, sowie die Achtung der Gleichheit aller Staaten und des Selbst- bestimmungsrechtes wie die wirtschaftliche Zusammenarbeit und soziale Sicherheit. Sie blieben die einzige politische Willenserklärung aller gegen Deutschland Krieg führenden Staaten und wurden zur Basis der UN-Charta vom 26. Juni 1945. Doch trotz der auf der Konferenz von Jalta (4. bis 11. Fe- bruar 1945) abgegebenen „Erklärung über das befreite Europa“, die allen Völkern Europas Selbstbestimmungsrecht und Frieden versprach, versank die Welt nach dem Ende des Krieges am 8. Mai und den schwierigen Gesprä- chen auf der Konferenz von Potsdam (17. Juli bis 2. August 1945) in einer Periode des Kalten Krieges.

Die Ausgangslage von 1989: Vier Mächte mit je eigener Sicht

45 Jahre später waren die beiden deutschen Staaten fest in die jeweiligen west- und osteuropäischen Bündnisse der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit integriert. Die westdeutsche Bundesrepu- blik war der wichtigste Verbündete der westlichen Alliierten und der nord- atlantischen Allianz auf dem Kontinent, eine gefestigte Demokratie und ein zunehmend selbstbewusster Akteur in der europäischen Politik.

2 Die „Declaration by United Nations“ unterzeichneten 26 Regierungen von im Krieg gegen Deutsch- land stehenden Staaten. Bis zum Kriegsende kamen 19 weitere Staaten hinzu. 3 Diesen von Präsident Franklin D. Roosevelt und Premier Winston Churchill formulierten Prinzi- pien stimmte die Sowjetunion am 24.9.1941 auf der zweiten Sitzung des Interalliierten Rates zu – gemeinsam mit neun weiteren von Deutschland besetzten bzw. im Krieg befindlichen Ländern.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 70 18.02.15 10:09 Die offenen Fenster von 1990 71

Für die sowjetischen Interessen in Europa war die DDR von besonderer Bedeutung. Deshalb beharrte Michail Gorbatschow noch Ende 1989 auf dem Status quo, welcher der Sowjetunion auch eine Mitsprache über die Neu- ordnung Europas garantierte. Allerdings sah Gorbatschow in der DDR nicht mehr den einzigen Schlüssel: Seit die westdeutsche Ostpolitik der 1970er Jahre die europäische Nachkriegsordnung de facto anerkannt hatte, war sie mehr und mehr verlässlich für die Sowjetunion geworden. In demselben Maße verlor für sie die DDR eine Säule ihres historischen Rechts in der Nach- kriegsordnung. Der triumphale Empfang in der Bundesrepublik im Juni 1989 zeigte Gorbatschow, dass die Bundesrepublik ein potentieller Partner für die Annäherung der Sowjetunion an Europa war. Für Gorbatschows europäische Vision hatte die „deutsche Frage“ daher gewissermaßen einen instrumen- tellen Charakter; sie verhielt sich zum eigentlichen Ziel – der Einbeziehung der Sowjetunion in das „gemeinsame europäische Haus“ – wie ein Mittel, die deutsche Einheit quasi als Gegenleistung. Für die USA waren die europäischen Ambitionen Gorbatschows eine akute Herausforderung. Der seit Anfang 1989 amtierende amerikanische Präsident George Bush sen. suchte denn auch nach einer Antwort auf Gorbatschows Projekt. Ein Element dieser Antwort bestand darin, die „deutsche Frage“ wie- der auf die Tagesordnung zu setzen. So hieß es in der neuen europapoliti- schen Strategie des Weißen Hauses vom März 1989, dem sogenannten Scow- croft-Memorandum: „Heute sollte die oberste Priorität der amerikanischen Europapolitik das Schicksal der Bundesrepublik Deutschland sein. […] Selbst wenn wir bei der Überwindung der Teilung Europas durch mehr Offenheit und Pluralismus Fortschritte machen, ist keine Vision des künftigen Europas denkbar, die nicht auch eine Stellungnahme zur ‚deutschen Frage’ enthält.“4 Die USA sahen also, genau wie die Sowjetunion, den Schlüssel für die Neu- ordnung Europas in der Lösung der „deutschen Frage“, allerdings mit einer anderen Priorität: Für die USA ging die Lösung der „deutschen Frage“ vor, sie war ein Ziel an sich, weil deren Lösung die europäische in ihrem Interesse am besten präjudizierte, indem sie den USA den Status quo sichern und den Fuß in Europa erhalten konnte. Damit verhielt es sich genau umgekehrt wie bei der Sowjetunion, die mit der Lösung der „deutschen Frage“ etwas anderes als den Status quo anstrebte, nämlich eine stärkere Anbindung an Europa. Anders sah es die britische Regierungschefin Margret Thatcher. Sie hatte die Sorge, dass sich durch ein vereintes Deutschland die Balance in Europa wieder grundlegend verschieben würde. In einem Gespräch mit Gorba- tschow äußerte sie Ende September 1989, weder Großbritannien noch West- europa seien interessiert an der Vereinigung Deutschlands. Der Grund dafür: „Sie [die Vereinigung] würde die Nachkriegsgrenzen verschieben, und das können wir nicht zulassen, weil eine solche Entwicklung die Stabilität der gesamten internationalen Situation unterminieren würde.”5

4 Zelikow/Rice, a.a.O., S. 58. 5 Record of the Conversation between Gorbachov and Margret Thatcher, September 24, 1989, notes of Anatoly Chernyaev, Archive of the Gorbachov Foundation; zitiert bei Mary Elise Sarotte, 1989. The Struggle to Create Post-Cold War Europe, Oxford 2009, S. 28.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 71 18.02.15 10:09 72 Hans Misselwitz

Tatsächlich stand Margret Thatcher in Europa keineswegs allein da mit ihrer Furcht vor einem vereinten Deutschland, das die europäische Nachkriegs- ordnung in Frage stellen würde.6 Auch Präsident François Mitterrand teilte diese Sorge vor einem neuen deutschen Übergewicht in Europa, suchte aber von Anfang an nach einer konstruktiven Lösung. Während seines Besuches bei Gorbatschow in Kiew am 7. Dezember 1989 sagte er: „Die deutsche Frage darf nicht den europäischen Prozess bestimmen, sondern umgekehrt. Und: An erster Stelle – ich wiederhole es – muss die europäische Integration ste- hen, die osteuropäische Entwicklung, der gesamteuropäische Prozess und die Schaffung einer europäischen Friedensordnung [!]. Wenn die USA daran teilnehmen werden, dann gibt uns das zusätzliche Garantien.“7 Im Unterschied zu Thatcher bestand Mitterrands Antwort darin, neben der vertieften europäischen Integration Deutschlands auch einen gesamteuro- päischen Prozess (KSZE) zu einem neuen europäischen Sicherheitssystem zu fördern. Wie aber verhielten sich die Deutschen angesichts der neuen Lage?

Zusammenwachsen: Helmut Kohls »10-Punkte-Programm«

Drei Wochen nachdem die beiden deutschen Staaten ihre Grenzen geöffnet hatten, kam es von westdeutscher Seite zu einer ersten deutschlandpoliti- schen Initiative. Am 28. November 1989 stellte Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag sein „10-Punkte-Programm zur Überwin- dung der Teilung Deutschlands und Europas“ vor. Als Ziel formulierte Helmut Kohl: „Mit dieser Politik wird auf einen Zustand des europäischen Friedens hingewirkt, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann.“ Das Ziel, die deutsche Einheit, ist gekoppelt an eine Bedingung: „ein Zustand des europäischen Friedens“. Die Annäherung beider deutscher Staaten musste in eine gesamteuropäische Entwicklung eingebettet werden, mittelfristig im Rahmen einer Konföderation, langfristig mit dem Ziel der deutschen Einheit. Dazu gehörten der „EG-Beitritt reformorientierter Ostblockstaaten“, eine institutionelle Vertiefung des KSZE-Prozesses, Abrüstung und Rüstungs- kontrolle sowie „die ebenso schwierige, wie entscheidende Frage übergrei- fender Sicherheitsstrukturen in Europa“. Das aber hieß: Der deutsche Eini- gungsprozess muss eingebettet sein in den europäischen, an dessen Ende auch die deutsche Einheit steht. Dieses „10-Punkte-Programm“ stieß bei den Parteien im Bundestag auf breite Zustimmung, obwohl im Nachhinein die Rede von Konföderation und Einheit auf lange Sicht nicht mehr gern erwähnt wurde. Sogar die neue DDR- Regierung unter Hans Modrow erkannte an, dass Kohl damit auch ihr Kon- zept einer „Vertragsgemeinschaft“ zwischen beiden deutschen Staaten auf- genommen hatte. Im Übrigen war das Thema „Wiedervereinigung“ in der

6 Vgl. Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel, Bonn 2002, S.136-144. 7 Zitat bei: Plato, a.a.O., S. 138. Anm. 22 (Gorbatschow-Stiftung, 89DEC06).

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 72 18.02.15 10:09 Die offenen Fenster von 1990 73

DDR-Bevölkerung längst noch nicht allgemein auf der Tagesordnung. Laut „Spiegel“-Umfrage waren sogar noch 71 Prozent dagegen, nur 27 Prozent dafür.8 Die oppositionellen Parteien in der DDR äußerten sich damals zur deutschen Vereinigung ebenfalls eher ablehnend. Ein Beispiel für den damaligen Umgang mit der Frage der Einheit lieferten die ostdeutschen Sozialdemokraten, die eine Woche nach Kohls Rede erklär- ten: „Die Sozialdemokraten in der DDR bekennen sich zur Einheit der Deut- schen Nation. Diese Einheit muss von beiden deutschen Staaten gestaltet werden.“ Das kam der Idee einer Konföderation, die Bundeskanzler Helmut Kohl Ende November vorgestellt hatte, sehr nahe. Allerdings stellte die SDP auch fest, dass die europäische Frage eng damit verbunden sei: „Die Gestal- tung der deutschen Einheit ist nicht allein unsere Sache. Sie muss so gesche- hen, dass der Aufbau einer europäischen Friedensordnung nicht gefährdet, sondern gefördert wird.“9

Übereinstimmung im Vorgehen, Unterschiede in der Bündnisfrage

Schon am Tag nach der Verkündung von Kohls „10-Punkte-Plan“ reagierte Präsident Bush und definierte für die USA „Vier Prinzipien“: Erstens, die „Selbstbestimmung muss vorbehaltlos und ungeachtet des möglichen Aus- gangs angestrebt werden“; zweitens, die deutsche Vereinigung muss „im Rahmen einer weiteren Einbindung Deutschlands in der Nato sowie in eine zunehmend integrierte Europäische Gemeinschaft“ geschehen; drittens, alles muss in einem „friedlichen, graduellen [...] Prozesses“ stattfinden; und viertens, in Übereinstimmung mit der Schlussakte von Helsinki, muss die Unverletzlichkeit existierender Grenzen respektiert werden.10 Auffällig war zu diesem Zeitpunkt ein zentraler Unterschied: Kanzler Kohl erwähnte die Nato nicht, Bush erklärte die Nato-Mitgliedschaft des ver- einten Deutschlands dagegen zur Bedingung der Einheit. Die militärische Bündnisfrage wurde damit zum entscheidenden Faktor dafür, was für eine europäische Friedensordnung angestrebt wurde. Worum es für die Vereinigten Staaten ging, erklärte Condoleezza Rice, damals im Nationalen Sicherheitsrat des Präsidenten, später so: „Es ist rich- tig, dass die USA tatsächlich nur eine Sorge hatten, diejenige nämlich, dass die Wiedervereinigung Deutschlands die Nato zerstören könnte. Denn die Nato war die treibende Kraft für den Frieden in Deutschland, der Anker Amerikas in Europa.“11 Die USA erkannten zwar verschiedene Instrumente der europäischen Integration Deutschlands an, distanzierten sich aber von Anfang an von der Idee, dass die deutsche Vereinigung eine prinzipiell neue Architektur einer europäischen Friedensordnung erfordere.

8 Vgl. „“, 18.12.1989. 9 „Erklärung der SDP zur deutschen Frage“ vom 3.12.1989, Privatarchiv Hans Misselwitz. 10 Robert L. Hutchings, Als der Kalte Krieg zu Ende war. Ein Bericht aus dem Innern der Macht, Berlin 1999. 11 Interview mit Condoleezza Rice vom 17.9.1999, in: Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutsch- lands, a.a.O., S. 29.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 73 18.02.15 10:09 74 Hans Misselwitz

Abgesehen von der (unterschiedlich beurteilten) Bündnisfrage stimmten zu diesem Zeitpunkt die entscheidenden internationalen Akteure jedoch darin überein, dass die deutsche Einheit erst am Ende eines Prozesses stehen sollte – sofern davon überhaupt schon die Rede war. Für die Sowjetunion war die deutsche Einheit jedenfalls bis Februar 1990 kein Thema, und auch Frank- reich und Großbritannien sahen wie die USA einen längeren „friedlichen, graduellen [...] Prozess“ vor sich. Noch am 4. Januar 1990 sagte Helmut Kohl in einem mehrstündigen Gespräch mit Präsident Mitterrand zur Frage der Bündniszugehörigkeit, die angestrebten konföderativen Strukturen bedeuteten, „dass die beiden Län- der in einer Übergangszeit zusammenarbeiten, obwohl sie unterschiedli- chen Blöcken angehörten“. Und Mitterrand mahnte, laut den Akten des Bun- deskanzleramtes, zur Vorsicht: „Die Vereinigung Deutschlands dürfe nicht so erfolgen, dass die Russen sich verhärten.“ Er habe keine Antwort darauf, „wie die Sowjetunion das Aufgeben ihrer militärischen Position akzeptieren werde, wenn nicht die USA und die anderen Mächte ihre Position aufgäben.“ Als Mitterrand am Ende des mehrstündigen Treffens fragte, was Kohl Gorba- tschow gegenüber äußern wolle, antwortete dieser: Er wolle ihm sagen, „dass man Zeit brauche [...], wenn Gorbatschow Vertrauen habe, dass wir kein fait accompli schaffen wollen, sehe er [...] eine Chance für ein Arrangement.“12

Januar 1990, die Wende in Washington: Je schneller, desto besser

Zwei Wochen später vollzieht Washington einen Strategiewechsel. Die 180-Grad-Wende, die das vom National Security Council (NSC) entworfene Konzept vom 19. Januar 1990 bedeutete, definierte das „Fenster der Gelegen- heit“ zu einem Zeitfenster um: Je schneller, desto besser, lautete die Devise. Dieser Entscheidung lag die amerikanische Einschätzung zugrunde, dass „die Alternative einer eigenständigen, demokratischen DDR gar nicht mehr bestand und ein beschleunigter Vereinigungsprozess [...] die Möglichkeit, ihm Steine in den Weg zu legen, nur minimieren konnte“. Die USA fürchteten – so berichtet Robert Hutchings, damals Mitarbeiter im Nationalen Sicher- heitsrat beim Präsidenten der USA –, dass mit fortgesetztem Prozess dieser wegen der bestehenden alliierten Rechte „in völlig unkalkulierbare Rich- tungen führen könnte, etwa zu einer internationalen Friedenskonferenz“, oder „dass Moskau die Deutschen bedrängen könnte [...], etwa auf einen Austritt aus der Nato.“13 Es sollte auf jeden Fall verhindert werden, dass die Deutschen vor die Alternative gestellt würden, zwischen Nato und Einheit wählen zu müssen. Deshalb wollte man „Moskau vor derart viele fait accom- plis stellen, dass die Sowjets nur noch zu hohen eigenen Kosten an Gegen- maßnahmen denken konnten.“14

12 „Deutsche Einheit“, Dokumente zur Deutschlandpolitik, Sonderedition aus den Akten des Bundes- kanzleramtes 1989/90, München 1998, S. 684 ff. 13 Robert L. Hutchings, a.a.O., S. 154 f. 14 Ebd., S. 156 f.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 74 18.02.15 10:09 Die offenen Fenster von 1990 75

Dass sich die deutsche Vereinigung letztlich in jenem engen Zeitfenster bis zum 3. Oktober 1990 vollzog, dazu trugen nicht nur die USA bei, die mit der Idee eines „Sechser-Mechanismus“15 statt einer internationalen Friedens- konferenz Bewegung in den internationalen Verhandlungsprozess brachten und diesen noch Anfang Februar in verabredeten. Auch DDR-Minis- terpräsident Modrow erkannte den Zeitfaktor und warb für das Vorziehen der freien Wahlen auf den 18. März, um mit seiner Initiative „Deutschland einig Vaterland“ vom 1. Februar die Zeit für sich zu nutzen. Und Bundeskanz- ler Kohl nahm Gorbatschows Zusage vom 10. Februar, „dass es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestim- men“,16 als Signal für eine Abkürzung des Weges zur deutschen Einheit: Bei- tritt der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz, Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion mit Einführung der DM in der DDR noch im Sommer 1990. Schließlich galt das Votum der Ostdeutschen bei der ersten und zugleich letzten freien Volkskammerwahl am 18. März als demokratische Legitima- tion für einen kurzen Prozess: 48 Prozent stimmten für Helmut Kohls „Allianz für Deutschland“, der am Tag danach feststellte, die DDR-Bürger hätten sich „ohne jeden Zweifel für die Einheit Deutschlands entschieden“.17 Vor einigen Jahren hat die amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte untersucht, welche Alternativen zur Lösung der „deutschen Frage“ insge- samt in der Diskussion waren.18 Sie unterscheidet dabei vier Modelle. Dass sich von diesen am Ende ein Modell durchsetzte, bedeutet nicht, dass die anderen von Anfang an unrealistisch waren, vielmehr lässt sich daran zei- gen, warum die Entscheidung so und nicht anders erfolgte.

Erstens: Das Restaurations-Modell

Das Restaurations-Modell basiert auf der Wiederherstellung der Zuständig- keiten von 1945. In ihm treten die Siegermächte demonstrativ wieder in ihre Verantwortung für Deutschland als Ganzes ein – solange, bis sie diese durch den Abschluss eines Friedensvertrages mit dem vereinten Deutschland beenden. Diesem Modell entsprach im Dezember 1989 ein Treffen der Vier- mächte-Vertreter in Berlin, das erste seit Jahrzehnten. In der Tat hätte der Fall eintreten können, dass sich die Sowjetunion für die Aufrechterhaltung der Ordnung in der DDR auf ihre Rechte berufen hätte. Aber auch auf die Frage des völkerrechtlich ausstehenden Friedensvertrages mit Deutschland mussten die vier Mächte eine Antwort geben. Für die Sowjetunion gab es als Vorbild einerseits die gegenüber Österreich nach 1945 angewandte Lösung mit dem Ziel: Souveränität durch Neutralität. Andererseits war sie auch für

15 Zelikow/Rice, a.a.O., S. 238 ff. und S. 562, Fußnote 31. 16 Presseerklärung von Bundeskanzler Dr. Kohl zum Treffen mit Präsident Gorbatschow am 10.2.1990, in: „Deutschland Archiv“, 3/1990, S. 474. 17 Ansprache von Bundeskanzler Dr. Kohl zur Eröffnung der Konferenz für Wirtschaftliche Zusam- menarbeit in Europa in Bonn am 19.3.1990, in: „Bulletin“, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 37, 20.3.90, S.285 ff. 18 Mary Elise Sarotte, 1989, a.a.O., Zusammenfassung S. 196-201.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 75 18.02.15 10:09 76 Hans Misselwitz

Verhandlungen über einen Friedensvertrag empfänglich, der zudem im Inte- resse vieler ehemals mit Deutschland im Krieg befindlichen Staaten war, weil damit noch gegenüber Deutschland bestehende Ansprüche hätten gere- gelt werden können. Dafür, dass dieses Modell nicht zum Zuge kam, war sowohl der allge- meine Wunsch, von Bush bis Gorbatschow, verantwortlich, den friedlichen demokratischen Wandel in der DDR zu unterstützen, als auch der innere wie äußere Handlungsdruck, der sich aus der zunehmenden Instabilität der DDR ergab. Auch musste man davon ausgehen, dass Friedensverhandlungen mit den zuletzt 55 Kriegsgegnern Deutschlands zu kaum kalkulierbaren Kom- plikationen führen würden. Vor allem aber lag es im Interesse der USA, eine solche Situation zu vermeiden, weil sie befürchteten, dass Moskau in solchen Friedensverhandlungen einen zu großen Einfluss ausüben könnte. Aus durchaus unterschiedlichen Motiven verständigten sich die vier Mächte darauf, eine Minimal-Lösung für eine notwendige „friedensvertrag- liche“ Regelung zu finden. Sie sollte das immer noch vorhandene Privileg der vier Mächte, aber auch die Beteiligung der Deutschen garantieren. Das For- mat für die Verhandlungen wurde am 12. Februar 1990 in Ottawa anlässlich einer KSZE-Konferenz beschlossen (gegen den Widerspruch einiger euro- päischer Länder). Es hieß „Vier-plus-Zwei“, auf Deutsch „Zwei-plus-Vier“, damit es nicht nach einer Viermächtekonferenz alten Stils aussah. Das Man- dat der Verhandlungen war strikt begrenzt: Es ging um die Bedingungen für die förmliche Beendigung der Siegerrechte in Bezug auf Deutschland, wozu auch die Grenzen und die zukünftige militär- und außenpolitische Verfas- sung des vereinten Deutschlands gehörten, nachdem es seine Souveränität wiedererlangt haben würde.

Zweitens: Das Konföderations-Modell

Schon Helmut Kohl hatte das Konföderations-Modell in seinem 10-Punkte- Programm zumindest als ein Übergangsmodell vorgeschlagen. Die föderative Struktur der Bundesrepublik bot dafür institutionelle Analogien. Auf DDR- Seite gab es mit der Idee der „Deutsch-deutschen Vertragsgemeinschaft“ eine Entsprechung. Die SPD griff in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Formel „zwei Staaten in einer Nation“ von Willy Brandt zurück. Das Konföderations-Modell kam aber auch den französischen Ideen mit Blick auf Europa als Ganzes nahe, dem „Europa der Vaterländer“ (Charles de Gaulle). Den Briten war das Konzept zudem durch ihr Commonwealth ver- traut. Es war insofern nicht ohne Vorbild und hätte dem Modus eines schritt- weisen Konzepts hin zur deutschen Einheit entsprochen. Die Europäische Gemeinschaft, so wie sie bis Maastricht 1992 bestand, hätte zusätzlich den gemeinsamen Rahmen geboten. Dass dieses durchaus vernünftige Modell nicht umgesetzt wurde, wird mit der Instabilität der DDR erklärt, es lag aber vor allem an dem Strategiewechsel, den Washington Anfang 1990 vollzog, als George Bush ganz auf eine baldige Einheit setzte.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 76 18.02.15 10:09 Die offenen Fenster von 1990 77

Drittens: Das Modell einer »Gesamteuropäischen Friedensordnung«

Ab Frühjahr 1990 favorisierte die Sowjetunion die Idee einer „Gesamteuro- päischen Friedensordnung“, sie konkretisierte sie aber nie so weit, dass dar- aus ein praktikables Verhandlungsangebot geworden wäre. Ursprünglicher Protagonist dieser Idee war allerdings Präsident Mitterrand. Er sprach Gor- batschow schon am 7. Dezember 1989 in Kiew auf diesen Gedanken an. Doch Gorbatschow nahm die Idee zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf, Mitterrand war enttäuscht.19 Unterstützung fand dieses Modell im März/April 1990 insbesondere bei den neuen osteuropäischen Demokratien. Sowohl Polens Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki als auch Präsident Václav Havel für die Tschechoslowakei ergriffen konkrete Initiativen für eine Weiterentwick- lung der Kompetenzen der KSZE als Rahmen einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur. Die neue, frei gewählte DDR-Regierung verhan- delte im Mai 1990 zusammen mit Polen und der Tschechoslowakei über eine gemeinsame Initiative, um sie noch im Juni 1990 beim KSZE-Treffen in Prag einzubringen. Diese Initiative lief aber in dem Moment ins Leere, als Gorba- tschow in Washington die freie Bündniswahl der Staaten entsprechend der KSZE-Schlussakte bestätigte – und damit nicht nur für das vereinte Deutsch- land, sondern formell auch für alle KSZE-Mitgliedstaaten. Damit war die Idee eines bündnisfreien Europas faktisch gestorben. Die Besonderheit der von Gorbatschow ebenfalls ab März/April 1990 ver- folgten Linie, auf eine neue gesamteuropäische Sicherheitsstruktur zu set- zen, lag in der Forderung einer Übergangszeit, in der Nato und Warschauer Pakt fortbestehen sollten. Damit schloss er an die im Februar mit den USA verabredete Formel an, dass das vereinte Deutschland Mitglied der Nato sein könne, sofern dies den militärischen Status quo nicht verändere, sprich: kein Nato-Soldat auf DDR-Territorium stationiert würde. Gleichzeitig ging er aber darüber hinaus: In der Übergangsperiode sollte über eine gesamteuropä- ische, blockübergreifende Friedensordnung verhandelt werden. Dieses Sze- nario überschritt jedoch die Kompetenz der vier Mächte, konnte also kein Gegenstand der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen sein, sondern musste der für den November angesetzten KSZE-Vollversammlung vorgetragen und alles Weitere den 35 KSZE-Staaten überlassen werden.

Viertens: Das »prefab model«

Dieses Modell wird von Mary Sarotte prefab genannt – wegen der Übertra- gung „vorgefertigter“, also bereits vorhandener westdeutscher Institutionen auf Ostdeutschland. Zunächst sollte dieses Modell auf Ostdeutschland ange- wandt werden, später dann auf den gesamten neuen, erweiterten postsow- jetischen Bezugsrahmen. Das Hauptargument dafür: Das zunächst rationa- lere und wohl auch kostengünstigere Modell der Konföderation hätte (wenn

19 Von Plato, a.a.O., S. 138.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 77 18.02.15 10:09 78 Hans Misselwitz

auch nur für eine mittlere Übergangsfrist) eine stabile DDR vorausgesetzt. Diese Voraussetzung schien Anfang 1990 nicht mehr erfüllt. So erschien die Übernahme des westdeutschen Institutionen-Modells als die passende Antwort auf die Situation Anfang 1990. Das Argument, die deutsche Ver- einigung möglichst schnell vollziehen zu müssen, diente als Begründung für einen Beitritt der DDR zur BRD nach Art. 23 Grundgesetz, mithin also für die Ausdehnung der westlichen Institutionen. Das damals praktizierte Modell des Institutionen-Transfers von West nach Ost erwies sich später – wie wir bis heute erleben – als ein attraktives, später mehr und mehr normativ ange- wandtes Konzept der Neuordnung des postkommunistischen Europas.

Lösung »Zwei-plus-Vier« und der europäische Frieden als offene Frage

Von den hier genannten alternativen Modellen wurde 1990 schließlich mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ein Mischtypus realisiert, der Elemente des res- toration models mit dem prefab model verband. Dem Restaurations-Modell entsprechen formal das Verfahren und die die Viermächte-Verantwortung betreffenden Entscheidungen, aber auch Elemente des Zwei-plus-Vier-Ab- kommens, die sich auf das vereinigte Deutschland beziehen. Dazu gehö- ren insbesondere die militärisch-politischen Rahmenbedingungen, die das Abkommen für das vereinte Deutschland festlegt (keine ABC-Waffen, Truppenobergrenzen, aber auch: keine territorialen Forderungen, Friedens- pflicht bzw. Kriegsführungsverbot durch die Verfassung). Damit nimmt das Abkommen ausdrücklich Bezug auf Verpflichtungen, die 1945 im Potsdamer Abkommen von den Siegermächten formuliert wurden. Das prefab model, das viel größere Bedeutung für das Ergebnis hatte, betrifft die konkrete Umsetzung. Diese wurde praktisch nicht vorgeschrie- ben, es sei denn unter Erwähnung allgemeiner völkerrechtlicher Prinzipien. Insofern trat mit dem 3. Oktober 1990 in Ostdeutschland in Kraft, was in der Bundesrepublik, aber auch in den Institutionen der europäischen Integra- tion, bereits existierte. Mit einer wichtigen Ausnahme: Militärische Kapazi- täten, Stäbe und Übungen der Nato sollten nicht über das bis 1990 existie- rende Nato-Gebiet auf das Territorium der vormaligen DDR vorrücken. Das am Ende für alle akzeptable Ergebnis – der Zwei-plus-Vier-Vertrag – kam zustande, indem es simultan und zügig auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt wurde. Letztlich wurde das Vertragswerk aber vor allem dadurch zustimmungsfähig gemacht, dass es alle in diesem Format nicht lösbaren Kontroversen auslagerte. Das „enge Zeitfenster“, von dem von Februar 1990 an ständig die Rede war, war politisch das willkommene Argument und praktisch das geeignete Instrument, um den Einfluss der Sowjetunion zu minimieren. Diese 180-Grad-Wende vom Januar 1990 unterlief jedoch die zuvor allgemein akzeptierte Bedingung, die deutsche Frage unter der Bedin- gung eines „Zustand(s) des europäischen Friedens“ zu lösen. Was noch im November 1989 von Helmut Kohl in seinem „10-Punkte-Pro- gramm“ als erklärtes Ziel galt, einen „Zustand des europäischen Friedens zu

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 78 18.02.15 10:09 Die offenen Fenster von 1990 79

schaffen, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann“, also die Schaffung einer gesamteuropäischen Frie- densordnung, wurde mit der im November 1990 verabschiedeten „Charta von Paris“, als der Charta einer europäischen Friedensordnung, zumindest versucht. Sie sah vor, der KSZE als Organisation für Sicherheit und Zusam- menarbeit in Europa (OSZE) ausreichend Kompetenzen für die Konfliktver- meidung und -regelung zu verschaffen. Doch noch bevor diese Kompetenzen installiert waren, entstand ein gefährliches Vakuum in Europa, dessen katas- trophaler Ausdruck der Sezessionskrieg in Jugoslawien war. Bekannterma- ßen begegnete man dem Problem der (bis heute) nicht verwirklichten gesamt- europäischen Friedensordnung stattdessen mit einer sukzessiven Ausweitung der Nato nach Osten – mit der Folge einer zunehmenden Isolation Russlands. Vergleicht man daher das Ergebnis von 1990 mit den beiden Hauptzielen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg hinsichtlich einer künftigen Friedens- ordnung in Europa, so kann man Folgendes feststellen: Das erste Ziel, Sicher- heit vor Deutschland zu schaffen, wurde auf lange Zeit erreicht. Es gab kein zweites Versailles, keine zweite Demütigung Deutschlands. Zur Furcht vor einem aggressiven deutschen Nationalismus besteht derzeit kein Anlass. Das zweite Ziel – kein „Sonderfrieden“ oder „Separatfrieden“ mit Deutsch- land, der die Siegermächte gegeneinander ausspielt – wurde aus der Sicht Russlands hingegen nicht eingelöst. Die Sowjetunion akzeptierte 1990, dass dem ersten Ziel (Sicherheit vor Deutschland) mit der Einbindung Deutsch- lands in eine damals zugesagte reformierte Nato besser gedient sein könnte als mit einem neutralen Deutschland. Sie konnte zudem auch das zweite Ziel, kein Separat- oder Sonderfrieden, in dem im Zwei-plus-Vier-Vertrag noch festgeschriebenen Konsens der Nichterweiterung der Nato nach Osten erfüllt sehen. Hinzu kam das Versprechen der Nato in der Londoner Erklärung vom Juli 1990, wonach das westliche Bündnis den Warschauer Pakt nicht länger als Feind betrachte, und die Zusage, am Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu arbeiten. Dieser Geschäftsgrundlage sämtlicher Ver- einbarungen über Deutschland, den Abzug der sowjetischen Truppen inbe- griffen, wurde jedoch in den folgenden Jahren nicht mehr entsprochen. Deutschland ist heute fest im westlichen Bündnis verankert. Daraus folgt eine besondere Verantwortung des Landes für den Frieden in Europa und nicht zuletzt gegenüber Russland, das weder in die europäischen noch in die atlantischen Bündnisse integriert ist. Jenseits historischer Verantwortung geht es heute um diejenige, die aus der Zustimmung zur deutschen Vereini- gung und zur weiteren Westbindung Deutschlands erwächst, also um den Vertrauensvorschuss von damals, der ohne eine gesamteuropäische Frie- densordnung unter Einschluss Russlands nicht eingelöst ist. Das „Geschenk der deutschen Einheit“ ist somit Grund genug, sich mit allen Kräften dafür zu engagieren, die Fenster für eine Ordnung des Friedens in ganz Europa wie- der zu öffnen – so schwer der Weg dahin auch sein mag.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 79 18.02.15 10:09 Anzeige Die beste Zukunftsanlage ist die Erhaltung der Umwelt. Übliche Geldanlagen ziehen ihre Rendite aus der Zerstörung der Umwelt. Im großen Stil werden die Wälder gerodet, die Meere geplündert, die Gewäser verseucht, die Luft verpestet. ProSolidar verzichtet auf Rendite. Und finanziert stattdessen Einsatz für Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Frieden sowie für Konzernkritik. Es gilt das Prinzip: Leben statt Profit.

� Bitte schickt mir kostenlos und unverbindlich weitere Informationen. Ja, ich zeiche eine Einlage bei ProSolidar � Festeinlage (ab 500 Euro) ...... Euro Fordern Sie das � Spareinlage (mind. 20 Euro/mtl.) ...... Euro kostenlose Anlage- Prospekt an! Bitte deutlich schreiben (falls Platz nicht reicht, bitte Extrablatt beifügen)

Name, Vorname Alter Beruf

Straße, Hausnr. PLZ, Ort

Mail Telefon

Geldinstitut BIC

IBAN Datum, Unterschrift

Bitte ausschneiden und zurücksenden an: ProSolidar / Schweidnitzer Str. 41 / 40231 Düsseldorf

Hinweis: Ich kann innerhalb von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrages verlangen. Es gelten dabei mit meinem DE08PRO00000729847 Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen. Gläubiger-ID: Tel. 0211 - 26 11 210 / Fax 0211 - 26 11 220 / Mail [email protected] / www.ProSolidar.net

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 80 18.02.15 10:09 Rechte Wutbürger Pegida oder das autoritäre Syndrom

Von Oliver Nachtwey

egida hat etwas geradezu Gespenstisches. Es war und ist eine verdros- P sene Menge, die auf den Straßen in Dresden und Leipzig spazierte, aber gefühlt marschierte, und „Wir sind das Volk“ und „Lügenpresse“ skandierte. Bis zur Spaltung des Organisationskomitees, der folgenden Fragmentierung und dem anschließenden Niedergang wurden die Zusammenkünfte wie von Geisterhand über Wochen immer größer und nicht kleiner. Der zwischenzeit- liche Erfolg von Pegida verwundert viele, denn den Deutschen oder auch den Dresdnern geht es doch – gemessen an den europäischen und internationa- len Desastern – relativ gut. Aber genau das scheint das Problem zu sein: Die Proteste spiegeln eine Gesellschaft, in welcher der Reichtum wächst, aber die Teilhabe schwindet. In einem Europa, das ökonomisch und sozial absteigt, politisch taumelt, wirkt Deutschland plötzlich wie ein Hort der Stabilität – der von Muslimen, den europäischen Schuldenstaaten etc. bedroht wird. Dass Pegida sich vor allem in Dresden etablierte, lag an besonderen lokalen Umständen: In kaum einem Bundesland ist die politische Kultur so konserva- tiv, sind die Bürger so entfremdet von der Politik. Gerade bei den Männern ist die Angst vor dem erneuten Abgehängtwerden, wie sie es in den Wendejah- ren erfahren haben, groß. Pegida ist zwar vor allem ein ostdeutsches, säch- sisches Phänomen, aber es ist Ausdruck eines gesamtdeutschen geistigen Klimas,1 einer schon länger gärenden neo-autoritären Strömung. Dass es in Teilen der Bevölkerung brodelt, war bereits durch den erstaunlichen Erfolg der Bücher Thilo Sarrazins oder dem Aufschwung von schrillen, neurechten Hasardeuren wie Jürgen Elsässer klar. Was aber überrascht, ist, dass sich die Ressentiments zu einer lokalen sozialen Bewegung mit bundesweiter Aus- strahlung verdichten ließen. Ganz normale Bürger, die sich sorgen; als das wollen die Pegida-Anhänger gesehen werden. Das ist nicht ganz falsch – und genau das macht es so beängstigend. Denn Pegida ist keine originär rechts- extreme Bewegung, sondern das Produkt einer nervösen Gesellschaft, in der die Affektkontrolle verwildert. Es ist ein Ausdruck einer Radikalisierung der Mitte, eines regressiven Aufbegehrens gegen eine marktkonforme Demo- kratie, in der die Ökonomie zur sozialen Instanz geworden ist. Bei Pegida versammeln sich gewissermaßen rechte Wutbürger.

1 Vgl. Albrecht von Lucke, Terror und Pegida: Gebt uns ein Feindbild!, in: „Blätter“, 2/2015, S. 5-8.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 81 18.02.15 10:09 82 Oliver Nachtwey

Pegidas Vorhut

Pegida hat einige Vorläufer, nicht zuletzt auch in Westdeutschland. Zum einen sind es die verschiedenen lokalen „Pro-Bewegungen“ (beispielsweise Pro-NRW). Diese gaben sich bereits als Bürgerbewegungen aus, vertraten aber im Grunde offen antiislamische Ressentiments und verfügten über erkennbare Übergänge zu rechtsextremen Verbänden. Nur wenige Wochen vor dem Beginn von Pegida gab es mit den „Hogesa“-Krawallen den größ- ten rechtsextremen Mob auf der Straße seit den 1990er Jahren.2 Aber Pegida funktioniert anders: Offiziell grenzt sich Pegida immer wieder von rechts- extremen Positionen ab. Man betont den bürgerlichen Charakter der eigenen Positionen, der sich auf die westlichen Werte der Aufklärung, Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit bezieht. Erst an zwei- ter Stelle, in indirekter Form, kommt der Rassismus. „Ich bin ja kein Rassist, aber ...“ ist das Kennzeichen von Pegida. Bei einigen ist es eine schlichte Lüge, bei anderen entspricht es ihrem tatsächlichen Selbstbild. Gegründet wurde Pegida, das Akronym für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“, das sich in seiner öffentlichen Rheto- rik immer wieder auf den Erhalt des Rechtsstaats bezieht, von einem mehr- fach vorbestraften Mann: dem Dresdner Werbegrafiker Lutz Bachmann. Dem engeren Organisationskreis von Pegida gehörten ferner ein ehemaliger Lokalpolitiker der CDU, der FDP und einige Personen mit Verbindungen zum rechten Milieu an. Über Facebook mobilisierte man zu den Demonstrationen. Im Dezember veröffentlichte der Organisationskreis ein Positionspapier mit 19 Punkten. Man gab sich humanistisch und republikanisch: Man sprach sich für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und ihre menschenwürdige Unterbringung aus. Sogenannte unverdiente und unproduktive Migranten sollten jedoch schneller und effektiver abgeschoben werden können. Die meisten Punkte waren zudem insofern wenig überraschend, als man für fast jede dieser Äußerungen in den letzten zwei Dekaden einen halbwegs promi- nenten Politiker aus den Reihen der CDU/CSU oder der SPD finden kann, der exakt diese Forderung mit großem Aplomb in der Öffentlichkeit vertreten hat.

Normative Unordnungen

Pegida ist ein Protestphänomen normativer Unordnungen und Ausdruck einer Krise der Repräsentation. In der Gegenwartsgesellschaft ist nur noch auf wenig Verlass. Die Parteien haben mit ihren Anhängern zu kämpfen: Diese sind individueller, fragmentierter und volatiler geworden. Die alten Bindungen gelten nicht mehr. Der Loyalitätsentzug der Anhänger trieb wie- derum in den Parteien Bestrebungen voran, sich von der Zustimmung der Bürger unabhängiger zu machen, indem man sein Profil verbreiterte. Die SPD

2 Vgl. Richard Gebhardt, Die Mär vom unpolitischen Hooligan, in: „Blätter“, 1/2015, S. 9-12.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 82 18.02.15 10:09 Pegida: Rechte Wutbürger 83

hat den Arbeitsmarkt liberalisiert, zeitweise die Rente mit 67 eingeführt; die Christdemokraten haben die Familienpolitik modernisiert, die Wehrpflicht abgeschafft und die Energiewende eingeleitet. Von den alten Konflikten ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die Spitzen der Volksparteien sind sich der- art einig in den meisten Fragen, dass jeder politische Konflikt fast immer wie ein Narzissmus der kleinen Differenz daherkommt. Aber auch jenseits der Volksparteien ist der Konsens breit: Den Mindestlohn befürworten alle im Bundestag vertretenen Parteien, die Ministerpräsidenten von Grünen und Linken regieren trotz des großen Getöses ihrer Gegner bisher zahm und alt- landesväterlich. Der Konsens der Parteien ist demokratietheoretisch mit dem Mangel behaftet, dass es kaum noch wahrnehmbare, zugespitzte Alterna- tiven gibt. Wer mit der aktuellen Politik unzufrieden ist, findet im Grunde keine Kanäle der Artikulation für seine Kritik. Die Unterscheidung von links und rechts wird von den Parteien nur noch im Flüsterton ausgesprochen, denn sie wollen alle die Mitte sein. Paradoxerweise fühlt sich genau die Mitte oft nicht mehr hinreichend ver- treten. Die Mitte hat keine Heimat mehr – nicht im geographischen Sinne, sondern im politischen. Denn die Parteien haben ihre Repräsentationsfunk- tion weitgehend aufgegeben, einzig zum Regieren fühlen sie sich berufen. Politische Prozesse erscheinen gleichwohl als so komplex, dass man sie kaum noch durchblickt, die Entscheidungen jedoch postdemokratisch, als in Hin- terzimmern abgesprochen, die Interessen des „kleinen Mannes“ nicht mehr repräsentierend. Am Ende dieses Zirkels steht der subjektive Souveränitäts- verlust der Bürger gegenüber der Politik.3 Die Krise der Repräsentation ließ viele Bürger ratlos zurück, sie flüchteten sich in mitunter aggressive Affekte. Eine häufige Folge ist die Pauschalkritik: Politik, Wirtschaft, Medien – sie alle gehören zu einem vermeintlichen Establishment der „da oben“. Dieses Gefühl verstärkte sich vor allem durch die Schuldenkrise in Europa, als es gerade in der Mittelschicht – medial in voller Laustärke orchestriert – Sorgen um die eigenen Besitzstände gab.

Postdemokratischer Protest

Pegida ist gewissermaßen die regressive Variante neuer politischer Proteste in den letzten Jahren. Trotz der zumeist großen politischen Unterschiede wiesen diese teilweise verblüffende Gemeinsamkeiten auf. Sie wandten sich alle in einer relativ pauschalisierenden Kritik gegen das Establishment und bezogen sich auf die Montagsdemonstrationen der Wendezeit, nicht zuletzt indem man für sich in Anspruch nahm, „das Volk“ zu repräsentieren. All diese Bewegungen verbindet ein tiefer antiinstitutioneller Impuls der Selbst- ermächtigung; selbst bei den mittlerweile fast vergessenen Piraten war dies der Fall. Der Wutbürger, wie man ihn etwa bei den Protesten gegen Stutt- gart 21 traf, demonstrierte gegen ein aus seiner Sicht unnötiges, teures, die

3 Vgl. Peter Mair, Ruling the Void. The Hollowing of Western Democracy, London 2013.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 83 18.02.15 10:09 84 Oliver Nachtwey

Natur und die Stadt zerstörendes Großprojekt; aber es war auch Protest für mehr Bürgerbeteiligung. Von seiner Natur her war der Wutbürger eher links, ökologisch und liber- tär, aber seine soziale Basis, die expert citizens, vertraten ihre Position häufig in einer apodiktischen Weise, die keinen Widerspruch duldete. Hinter seinen plebiszitären, basisdemokratischen Orientierungen lauerte schon damals bei einigen eine „autoritäre Versuchung“, die auf Effizienz und Expertentum setzt.4 Bei den Occupy-Protesten ging es hingegen noch eher hippiesk zu. Man protestierte in den Camps gleichermaßen gegen die ungerechte Verteilung als auch gegen die politischen Asymmetrien unter dem Signum der „99 Pro- zent“. Demokratische und soziale Anliegen waren hier Ausgangspunkt für eine neuartige Protestform, die sich allerdings den traditionellen politischen Formen entzog. Occupy distanzierte sich von den etablierten politischen Akteuren vehement. Man wahrte große Distanz zu den Parteien, verstand sich als jenseits von links und rechts und war programmatisch, abgesehen vom eigenen Repräsentationsanspruch der „99 Prozent“, nicht festgelegt.5 Occupy verschwand auch von der politischen Bühne, es folgten die soge- nannten Montagsmahnwachen. Diese entstanden in Folge des Ukraine-Kon- fliktes. Die Mahnwachen mobilisierten, wie bereits die Occupy-Bewegung, ihre Anhänger vor allem im Internet, den Parteien traute man ebenfalls nicht. Man stellte sich auch bewusst in die Tradition der Montagsdemons- trationen der Wendezeit, und zu Anfang gab man sich ebenfalls basisdemo- kratisch. Auch diese Protestbewegung wurde von einer autoritären Strö- mung bewässert. Seltsame Esoteriker, bizarre Verschwörungstheoretiker und Querfrontparvenüs tummelten sich ganz selbstverständlich zwischen ernsthaft Friedensbewegten. Es handelte sich bei den Montagsmahnwachen nicht um eine rechte Bewegung im engeren Sinn, aber der Schwelbrand des Ressentiments und des Antisemitismus hatte sich ausgebreitet.6

Der Protest aus der Mitte

Pegida entspringt nicht dem gleichen Dunstkreis, ist aber des gleichen Geis- tes Kind. Eine soziale Bewegung verbindet man gemeinhin mit der Arbeiter-, Frauen- oder Ökologiebewegung. Bei vielen handelt es sich um Bewegungen für Gerechtigkeit, Anerkennung und Identität. Pegida ist gewissermaßen eine postdemokratische und identitäre soziale Bewegung: Man sorgt sich um die kulturelle Integration und um die Werte einer aus den Fugen geratenen Welt. Aber dieser Konflikt ist keiner um die Anerkennung ethnischer Diffe- renz, sondern einer um den Erhalt von Etabliertenvorrechten.

4 Franz Walter u.a., Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protestbewegungen?, Reinbek 2013, S. 323. 5 Vgl. Fabienne Décieux und Oliver Nachtwey, Postdemokratie und Occupy, in: „Forschungsjournal Soziale Bewegungen“, 1/2014, S. 75-88. 6 Vgl. Prisca Daphi u.a., Montagsmahnwachen für den Frieden. Antisemitisch? Pazifistisch? Orientie- rungslos?, in: „Forschungsjournal Soziale Bewegungen“, 3/2014, S. 24-31.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 84 18.02.15 10:09 Pegida: Rechte Wutbürger 85

Wer nun eigentlich bei Pegida mitläuft, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Die bisherigen Anstrengungen sozialwissenschaftlicher Untersuchungen stießen in Dresden an ihre Grenzen, da die meisten Anhänger sich verwei- gerten. Jene Teilnehmer, die Auskunft gaben, waren nicht mehr ganz jung, in der großen Mehrheit männlich und überdurchschnittlich gebildet7; sozio- ökonomisch gehörten viele zur (unteren) Mittelschicht. Leider differenzier- ten die Studien nur sehr wenig in Bezug zum Erwerbsstatus. So weit man aus den verschiedenen Quellen schließen kann, ist Pegida tatsächlich die sich selbst als sozial und kulturell bedroht sehende untere Mittelschicht: Selbst- ständige, Erwerbstätige aus den Zwischenzonen von Sicherheit und Unsi- cherheit, deren Leben besonders stark aus dem täglichen Kampf der Selbst- behauptung besteht. Inwieweit die traditionelle Arbeiterklasse oder das abgehängte Prekariat sich Pegida zugehörig fühlten, ist kaum festzustellen.8 In Europa waren es in der Vergangenheit vor allem die Modernisierungsver- lierer aus der alten Arbeiterklasse, die – allerdings nicht in der Mehrheit – anfällig für rechtspopulistische Positionen waren.9 Jetzt scheint dieser Virus auf die Mitte übergesprungen zu sein. Zwar gilt die Mitte normalerweise als Ort von Maß und Mäßigung, als Ort der politischen Integration.10 In der Nachkriegsgeschichte war sie auch tatsächlich ein Ort des Ausgleichs und der Affektkontrolle. Aber gerade wenn die Mitte sich bedroht fühlt, kann sie einen eigenen Radikalismus entwickeln.11 Der Nationalsozialismus war für viele Beobach- ter auch das Resultat eines „Extremismus der Mitte“.12 Von solch einer Kons- tellation sind wir heute weit entfernt, und die Mitte ist nach wie vor ein Stabi- litätsanker der Demokratie. Aber die Mitte fragmentiert. Das Ressentiment ist ihr nicht mehr fremd und Teile der Mitte sind von einem autoritären Syndrom befallen. Dies hat ökonomische, soziale und politische Ursachen. Für viele Bürger ist die soziale Welt immer weniger lesbar, ja mehr noch: hochgradig angstbesetzt. Alle Diskurse und Dispositive der Gesellschaft sind auf Aufstieg ausgerichtet. Doch aus der Gesellschaft des sozialen Aufstiegs der alten Bundesrepublik ist inzwischen eine Abstiegsgesellschaft gewor- den. Die Mitte ist in den unteren Bereichen geschrumpft, Abstiegsängste haben sich ausgebreitet.13 Man trampelt auf der Stelle. Man gibt sich dem Wettbewerb hin, bildet sich fort, arbeitet immer mehr und entgrenzter, ver- dichtet die Poren des Tages immer produktiver im Dienste der Leistung. Man verzichtet auf Ansprüche an das gute Leben, ist pflichtbewusst und verhält sich konformistisch – aber es geht nicht voran.

7 Wobei man auch immer berücksichtigen muss, dass mit steigendem Bildungsgrad auch die Bereit- schaft steigt, an Umfragen teilzunehmen und den eigenen Bildungsgrad preiszugeben. 8 Vgl. Franz Walter u.a. (Göttinger Institut für Demokratieforschung), Studie zu Pegida, 19.1.2015, www.demokratie-goettingen.de; Dieter Rucht u.a. (Institut für Bewegungsforschung), Befragung PEGIDA-Demonstration 2015, protestinstitut.eu. 9 Tim Spier, Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in West- europa, Wiesbaden 2010. 10 Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Reinbek 2010. 11 Theodor Geiger, Panik im Mittelstand, in: „Die Arbeit“, 10/1930, S. 637-656. 12 Seymour Lipset, Political Man. The Social Basis of Politics, New York 1960. 13 Vgl. Oliver Nachtwey, Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Modernisie- rung, Frankfurt a. M. 2015, i.E.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 85 18.02.15 10:09 86 Oliver Nachtwey

Kurzum: Die eigene Sicherheit sehen viele nun zur Disposition gestellt, sei es durch die Eurokrise, die soziale Ungleichheit oder auch den Zuzug von Mig- ranten.

Der Autoritarismus der marktkonformen Demokratie

In der Postdemokratie, so die Diagnose von Colin Crouch, sind die forma- len Institutionen und Prozesse der Demokratie intakt, aber sie erodieren endogen, da die politischen Entscheidungen zunehmend den Interessen der Wirtschaft und der Lobbyisten folgen. In der marktkonformen Demokratie hat sich diese Logik radikalisiert. Hier wird die Demokratie der Wirtschaft untergeordnet, es gilt die vollständige Rationalität der ökonomischen Alter- nativlosigkeit; die Wettbewerbsfähigkeit der Märkte ist eine allseits geteilte Oikodizee.14 Die Märkte werden zur sozialen und politischen Kontrollin- stanz, die keinen Widerspruch duldet, die unsichtbare Hand stellt sich für viele als Faust dar, der Kapitalismus ist autoritär geworden.15 Angela Merkel will künftig stärker im Sinne eines liberalen Paternalismus regieren, der die Menschen über Anreize in das Spinnennetz des Marktes schubst.16 Im Grunde ist der autoritäre Geist in die meisten Politikfelder eingezogen: Die Politik der Austerität ist nicht nur autoritär, weil sie keine ökonomischen Alternativen zum Sparen vorsieht, sondern weil sie alle Ausgaben unter den Vorbehalt der Effizienz stellt. Im Falle der Arbeitsmigration unterscheidet der Diskurs zwischen „nützlichen“ Fachkräften aus dem Ausland und den unproduktiven Belastungen des Sozialsystems durch Flüchtlinge. Die Angst vor dem Abstieg bringt zudem einen ganz eigenen Autoritaris- mus hervor. Die Abstiegsängste, das beständige Bewähren im gesellschaft- lichen Wettbewerb, die Statuskämpfe um Anrechte auf Wohlstand, die enttäuschten Erwartungen an Aufstieg und Sicherheit führen zu einer „Ent- normativierung“ und „Verwilderung“ sozialer Konflikte.17 Die in der alten Bundesrepublik relativ erfolgreiche Regelung und Befriedung sozialer Kon- flikte gerät aus der Bahn. Dies kann zu sozialen und solidarischen Protesten führen, wie es beispielsweise in Spanien seit 2011 der Fall war. Aber dieser Zusammenhang entsteht nicht automatisch, er hängt von vielen Faktoren und Zufälligkeiten ab. Was man jedoch sagen kann: Entstehen in solchen Konstellationen keine sozialen und solidarischen Proteste und Gemeinschaf- ten, steigt die Wahrscheinlichkeit von ressentimentgeladenen Konflikten. Bei Pegida handelt es sich in diesem Sinne um einen Protest, der ein neues autoritäres Syndrom der Mittelklassen reflektiert. Dieses Syndrom resultiert

14 Vgl. Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010. 15 Vgl. Frank Deppe, Autoritärer Kapitalismus. Demokratie auf dem Prüfstand, Hamburg 2013; Ulrich Brinkmann, Die unsichtbare Faust des Marktes. Betriebliche Kontrolle und Koordination im Finanz- marktkapitalismus, Berlin 2011. 16 Philip Plickert und Hanno Beck, Kanzlerin sucht Verhaltensforscher, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 26.8.2014. 17 Axel Honneth, Verwilderung des sozialen Konflikts. Anerkennungskämpfe zu Beginn des 21. Jahr- hunderts, in: Axel Honneth, Ophelia Lindemann und Stephan Voswinkel (Hg.), Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2013, S. 17-39.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 86 18.02.15 10:09 Pegida: Rechte Wutbürger 87

aus der oben skizzierten nervösen Gesellschaft, in der alte Gewissheiten nicht mehr gelten und künftige Erwartungen fragil erscheinen. Sie ist gleich- zeitig unordentlich, instabil und autoritär. Kein Wunder also, dass soziale Pathologien entstehen. Pointiert ließe sich sagen: Die Bevölkerung wurde so lange postdemokratisch regiert, bis sie schließlich selbst postdemokratisch wurde.

Das autoritäre Syndrom – und wo es herkommt

Die bedeutendste Studie zum Autoritarismus stammt von Theodor W. Adorno. Ausgehend von Studien über die Verbreitung antisemitischer Einstellungen, wollten er und die anderen Forscher eines größeren Teams die dafür notwen- digen allgemeinen psychologischen Grundlagen in den Persönlichkeitsdis- positionen der Menschen untersuchen. Die autoritäre Persönlichkeit war für sie der Schlüssel, der Menschen antidemokratisch, ressentimentgeladen und potentiell faschistisch werden ließ. Die autoritäre Charakterstruktur zeichnet sich durch eine Reihe zusam- menhängender Merkmale aus, die sich zu einem Syndrom verknüpfen: unter anderem Konventionalität, Unterwürfigkeit und Aggression, Machtden- ken, Mangel an Empathie, Stereotypisierungen, Zynismus, eine Obsession bezüglich Sexualität und schließlich Projektivität.18 Zum Wesen des Auto- ritarismus gehört, dass man seine Aggressionen nicht gegen die Autorität richtet, sondern auf andere überträgt. Es ist häufig ein doppeltes Moment der Projektion: Einerseits überträgt man die eigenen, aber einem selbst als unakzeptabel erscheinenden Triebe auf andere, um diese dann verurteilen zu können. So wird etwa die Missachtung von Frauenrechten, wie in den 19 Punkten von Pegida, als Grund für die Kritik am Islam aufgeführt – aus- gerechnet von jener Sorte Menschen, die zu Hause in der Regel an sehr tra- ditionellen Rollenvorstellungen festhalten. Denn gleichzeitig gehört zu den 19 Punkten, dass man endlich Schluss mit einer sogenannten Genderisie- rung machen soll. Politik und Wirtschaft erscheinen immer komplizierter – Verschwörungs- theorien sind da ein einfacher Mechanismus der Komplexitätsreduktion. Ressentiments und Stereotype haben auch eine Orientierungsfunktion, primitive Formeln reduzieren die realexistierende Unübersichtlichkeit und bringen Ordnung in das vermeintliche Chaos. Deshalb entsteht andererseits auch das Phänomen, auf Fremdgruppen die eigenen Abstiegssorgen zu proji- zieren. Gerade in Ostdeutschland gibt es häufig stärker ausgeprägte Gefühle der Deprivation, des Zu-kurz-gekommen-Seins. Die Nachwendejahre, als viele ihre soziale Position einbüßten und bis heute nur wenig Aufstiegspers- pektiven dazugekommen sind, haben tiefe Spuren hinterlassen. Deshalb will man aber auch die eigenen (imaginierten) Vorrechte, den eigenen Lebensstil umso erbitterter verteidigen. Der eigene Konformismus schlägt daher um in

18 Theodor W. Adorno u.a., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 1995, S. 45 ff.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 87 18.02.15 10:09 88 Oliver Nachtwey

die Abwertung all jener, die anders und vermeintlich unproduktive Mitesser in einem unter Stress stehenden Sozialsystem sind: Flüchtlinge, Migranten und Muslimen. Autoritäre Haltungen zeichnen sich dadurch aus, dass man sich offizieller traditioneller Ideen und Werte bedient, man gibt ihnen jedoch in Wirklichkeit eine andere Bedeutung. So kritisiert man die Demokratie, weil sie nicht hält, was sie verspricht – ist aber bereit, sie gegen ein System „auszutauschen, das alle Ansprüche auf menschliche Würde und Gerechtigkeit preisgibt“.19 Bei Pegida schlägt die Unzufriedenheit mit den demokratischen Institutionen in eine Verachtung ebendieser um. Den ursprünglich linken Topos vom „Ver- blendungszusammenhang“ kehrt Pegida im Jargon der Nationalsozialis- ten in „Lügenpresse“ um. Statt die Demokratie dafür zu kritisieren, dass sie ökonomische Ungleichheiten immer wieder in Widerspruch zur politischen Gleichheit geraten lässt, neigt die autoritäre Persönlichkeit dazu, die Demo- kratie im Grunde abschaffen zu wollen und eine „direkte Herrschaft derjeni- gen herbei[zu]führen, die sie ohnehin für die Mächtigen [hält].“20 Insofern ist es nur folgerichtig, wenn auf den Demonstrationen der Ruf nach der Hilfe des „lupenreinen Demokraten“ Wladimir Putin erschallt. In der Masse strömen die Individuen im Wunsch nach „Identifizierung“ und „affektiver Gemein- samkeit“ – in Anlehnung an eine Autorität, der man sich auch wider realisti- schen Wissen unterwerfen kann.21 Für einige ist dieser Führer bizarrerweise eben Putin, aber die institutionalisierte Autorität ist heute etwas Abstraktes: das Primat der Wirtschaft. Autoritäre Mentalitäten entstanden für Adorno und Co. nicht im luftleeren Raum. Sie sind Ergebnis der Sozialisation der Individuen, des politischen und ökonomischen Umfeldes, aber vor allem des geistigen Klimas der Zeit. Nicht zuletzt relevante Teile der Mittelklasse wenden sich von einer „egalitär- redistributiven“ Gesellschaft ab.22 Dies zeigt sich empirisch jüngst auch in umfangreichen Studien. In der gesamten Bevölkerung sogar etwas stärker, aber eben auch in der Mitte ist ein „marktkonformer Extremismus“ entstan- den, der in Verbindung mit unternehmerischen Selbstoptimierungsnormen Abwertungen anderer befördert. Vor allem bei jenen, die Angst um ihren Lebensstandard haben, tritt dieser Extremismus mit doppelt so hoher Wahr- scheinlichkeit auf. 23 Gerade die Unterwerfung unter die vermeintliche öko- nomische Alternativlosigkeit setze „autoritäre Aggressionen“ frei.24 In Politik und Medien werden zwar zumeist demokratische Werte ver- mittelt, aber auch eifrig viele Stereotype bedient. Dies schlägt sich auch in den oben zitierten Studien zu Rechtsextremismus und Fremdenfeindlich- keit nieder. Dort kommt man zwar in vielen Einzelaspekten zu unterschied-

19 Ebd., S. 199. 20 Ebd., S. 221. 21 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921], Frankfurt a. M. 1993. 22 Ingolfur Blühdorn, Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin 2013, S. 158. 23 Andreas Zick und Anna Klein, Fragile Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2014, S. 102 ff. 24 Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler, Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstel- lungen in Deutschland 2014, Leipzig 2014, S. 68.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 88 18.02.15 10:09 Pegida: Rechte Wutbürger 89

lichen Ergebnissen, aber in den Grundzügen zu den gleichen Befunden: Der manifeste Rechtsextremismus ist in den letzten Jahren zurückgegangen, die Ressentiments sind jedoch gestiegen. Vor allem Muslimen, Sinti, Roma und Asylbewerbern wird zunehmend mit Vorurteilen begegnet. Jenseits der rea- len Probleme, die bestimmte Teile des in europäischen Gesellschaften bereiten, ist vor allem die Islamfeindschaft in der Regel das neue Gewand des Rassismus, der vor allem die vermeintliche kulturelle Überlegenheit der westlichen Kultur herausstellt. Dazu passt auch das hohe Maß an Konfabu- lation – es leben nur 6 Prozent Muslime in Deutschland, aber in der Bevölke- rung schätzt man ihren Anteil auf 19 Prozent.

Was tun?

Pegida wird als Protestbewegung schon bald ihr Ende gefunden haben, die autoritäre Menge braucht neue Reize, sonst zerfällt sie schnell.25 Aber damit wird der Spuk längst nicht vorbei sein. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die AfD massiv von Pegida profitieren wird.26 Der Einzug der AfD in den Ham- burger Senat hat dies bereits deutlich gemacht, damit ist die AfD endgül- tig auch im Westen des Landes angekommen. Sollte der Vorsitzende Bernd Lucke in einem künftigen Machtkampf „fallen“ oder inhaltlich umfallen, käme Deutschland der europäischen Normalität auch insofern näher, weil es dann schon bald eine rechtspopulistische Kraft geben könnte, die auch für das Prekariat attraktiv wird. Dieses ist Pegida bisher weitgehend fern- geblieben. Diese Mischung wäre die größte Gefahr für alle abendländischen Werte, für die Pegida sich vermeintlich einsetzt. Pegida muss uns deshalb wachrütteln. Die Reaktionen der Politik sind allerdings verblüffend: Angela Merkel, die mit ihrer präsidialen Stilllegung politischer Konflikte die marktkonforme Demokratie erst etabliert hat und damit bedeutenden Anteil an der Entstehung von Pegida trägt, zeigt sich in ungekannter Weise politisch, indem sie Pegida in ungewohnter Schärfe angegriffen hat. Der sozialdemokratische Vizekanzler Sigmar Gabriel, dessen Partei durch die Agenda 2010 erheblich zu den Abstiegsängsten in Deutschland beigetragen hat, erklärt hingegen das Recht auf Rechtssein zum demokratischen Grundrecht. Damit wird er aber keine neuen Wähler für die darbende SPD gewinnen, sondern einzig Ressentiments legitimieren und normalisieren. Aber es wird auch nicht damit getan sein, Pegida mit demokratischer und kultivierter Abscheu zu begegnen. Das wird eher zu einer deutschen Tea-Par- ty-Bewegung führen. Vielmehr muss, auch wenn es schwerfällt, die Gesell- schaft sich selbst befragen, wie es zu Pegida kommen konnte, und endlich bei sich selbst, bei den etablierten Institutionen und Akteuren, ansetzen.

25 Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980. 26 Vgl. Alban Werner, Vor der Zerreißprobe: Wohin treibt die AfD?, in: „Blätter“, 2/2015, S. 83-90.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 89 18.02.15 10:09 Anzeige Studien zur Friedensethik

Studien zur Friedensethik Studies on Peace Ethics |  NEU Kollateralopfer Matthias Gillner | Volker Stümke [Hrsg.] Die Tötung von Unschuldigen als rechtliches Kollateralopfer und moralisches Problem Die Tötung von Unschuldigen als rechtliches und moralisches Problem Herausgegeben von Matthias Gillner und Volker Stümke , Band ,  S., geb., ,– € ISBN  -- -  - Nomos www.nomos-shop.de/ 

In diesem Band gehen Offi ziere, Vertreter von (N)GOs und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen der Frage nach, ob die indirekte Tötung von Unschuldigen in Ausnahmefällen erlaubt sei. Es werden gewaltbelastete Situationen, in denen Unbeteiligte Opfer soldatischen Handelns wurden, aus verschiedenen Perspektiven untersucht.

Studien zur Friedensethik Studies on Peace Ethics | † NEU Frankreich, Deutschland

Brüne | Ehrhart | Justenhoven [Hrsg.] und die EU in Mali Frankreich, Deutschland und die EU in Mali Chancen, Risiken, Heraus forderungen Chancen, Risiken, Herausforderungen Herausgegeben von Stefan Brüne, Hans-Georg Ehrhart und Heinz-Gerhard Justenhoven , Band ,  S., geb., ,– € ISBN  -- - - Nomos www.nomos-shop.de/

Im Oktober  schloss François Hollande den Einsatz französischer Boden- truppen in Mali noch aus, um dann im Januar   einen antiterroristisch begründeten guerre sans merci zu erklären. Dieser mehrsprachige Band untersucht die Gründe für den Meinungsumschwung und fragt nach den politischen Interessen und strategischen Überlegungen für diese Entscheidung.

Bestellen Sie jetzt telefonisch unter  /  - . Bestellungen unter www.nomos-shop.de Nomos Alle Preise inkl. Mehrwertsteuer

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 90 18.02.15 10:09 Raus aus der Defensive Für einen nonkonformen Feminismus

Von Antje Schrupp

ir wollten die Welt verändern, und sie haben uns die Gleichstellung W angeboten“ – so fasst die italienische Philosophin Luisa Muraro das Dilemma der heutigen Frauenbewegung zusammen.1 Und vielleicht kann man die gegenwärtigen Feminismusdebatten tatsächlich so verstehen: Sie handeln davon, wo die Grenze zu ziehen wäre zwischen einem „guten“ Feminismus, der die reibungslose Integration von Frauen in die gesellschaft- lich-ökonomischen Strukturen voranbringt, und einem „bösen“ Feminis- mus, der den Bogen überspannt, zu radikal ist, die Leute vor den Kopf stößt, den Boden des Diskutablen verlässt. Ein Feminismus, der sich, mit anderen Worten, nicht mit der Integration der Frauen in das Bestehende zufrieden gibt, sondern dieses Bestehende grundlegend hinterfragt. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn jemand mit einer Professur für Gender Studies und Sprachwissenschaft, wie Lann Hornscheidt an der Ber- liner Humboldt-Universität, vorschlägt, grammatikalisch nicht mehr nach Geschlechtern zu unterscheiden, sondern neutrale Sprachformen zu ver- wenden – und das nicht nur theoretisch, sondern verbunden mit konkreten Aufforderungen wie etwa der, nicht als Professor oder Professorin, sondern als Professx angesprochen zu werden. Das kann aber auch sein, wenn eine popkulturell-feministische Zeitschrift wie das „Missy Magazine“ Comics druckt, in denen blutige Tampons die Hauptrolle spielen. Es kann der Fall sein, wenn unter Kampagnen wie „#aufschrei“ nicht nur offensichtliche Gewalt gegen Frauen angeprangert wird, sondern gerade die kleinen, alltäg- lichen Sexismen, die wie nebenbei passieren und in den Augen vieler normal und harmlos erscheinen. Oder es kann sein, wenn feministische Blogs, wie beispielsweise „maedchenmannschaft.net“, sich neu ausrichten und mehr intersektional und antirassistisch werden – und damit eben auch radikaler und weiter entfernt vom Mainstream. Das kann sein, wenn Feministinnen im Internet den Kontakt zu Menschen, mit denen sie nichts zu tun haben wol- len, offensiv beenden. Wenn Feministinnen nicht freundlich lächelnd ihre Positionen immer und immer wieder erläutern, sondern selber pampig und aggressiv werden. Oder sich über frauenfeindliche Menschen oder Zustände einfach lustig machen, anstatt sie ernst zu nehmen. Und so weiter und so fort.

1 Luisa Muraro, Macht und Politik sind nicht dasselbe, Interview vom 26.6.2011, www.youtube.com.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 91 18.02.15 10:09 92 Antje Schrupp

»Die Feministinnen sind schuld«

Derzeit sind verschiedene Akteure und Akteurinnen darum bemüht, einen solchen „bösen“ Feminismus disziplinierend in die Schranken zu wei- sen. Da wären zunächst die gutmeinenden Ratgeberinnen und Ratgeber – mehr Frauen als Männer. In Kommentaren oder Leitartikeln beklagen sie diese „Überspitztheit“ des Feminismus, seine Unseriosität oder Aggressi- vität. Dadurch würden viele Menschen, zum Beispiel auch sie selbst, abge- schreckt. Obwohl sie selbstverständlich auch für Emanzipation und Gleich- stellung sind, weisen sie darauf hin, dass man es eben nicht übertreiben darf. Als Referenz wird gerne auch auf den eigenen Bekanntenkreis verwiesen, der aus lauter Frauen und Männern besteht, die durchaus emanzipiert sind, aber eben mit so einem radikalen überspannten Getue, wie es die Feminis- tinnen an den Tag legen, nichts anfangen können. Ihr Fazit: Schuld daran, dass Feminismus unbeliebt ist oder nicht in den gesellschaftlichen Main- stream vordringt, sind die „bösen“ Feministinnen, die die Bemühungen der „guten“ Feministinnen konterkarieren.2 Dieses Narrativ von den Übertreibungen eines radikalen Feminismus, der die gerechtfertigten Forderungen nach Emanzipation und Gleichstellung konterkariert, verträgt sich dabei bestens mit einem karriereorientierten Postfeminismus, der ebenfalls die Schuld für das Scheitern frauenpolitischer Fortschritte bei den Frauen selbst sucht. Für ihn stehen Autorinnen wie Sheryl Sandberg3 oder Bascha Mika4, die die Frauen auffordern, die Möglichkeiten der Emanzipation endlich konsequenter zu nutzen. Frauen sollten sich eben persönlich anstrengen, dann könnten sie auch Karriere machen, anstatt die Schuld für den statistisch weiterhin eindeutig belegbaren weiblichen Miss- erfolg auf dem Weg in die gesellschaftlichen Führungspositionen ständig den Strukturen in die Schuhe zu schieben. Die Botschaft lautet: Die Möglichkei- ten für Frauen sind längst geschaffen, jetzt müssen sie sie nur noch nutzen. Ganz genauso sieht es eine weitere Gruppe von Akteuren, nämlich die Spötter – mehr Männer als Frauen. Sie nutzen den Umstand, dass radikale feministische Positionen quer zum gewohnten Denkrahmen des „gesunden Menschenverstandes“ stehen, um sich darüber lustig zu machen. „Professx, hahaha, Schenkelklopf!“ Meist ist es auch ihnen wichtig, darauf hinzuwei- sen, dass sie nicht prinzipiell etwas gegen emanzipierte Frauen hätten, ganz im Gegenteil. Aber es ist ihnen ein Anliegen, mal klarzustellen, dass eine Frau, die von ihnen ernst genommen werden will, den Rahmen dessen, was sie persönlich für diskutabel halten, keinesfalls verlassen darf. Spätestens in den Kommentarspalten zu solchen Artikeln wird dann deut- lich, dass dieser Diskurs auf der Basis eines an der Oberfläche unsichtbaren

2 Vgl. Hannah Lühmann, Menstruationscomics, nein Danke!, www.zeit.de, 12.12.2014; Kristina Schrö- der, Danke, emanzipiert sind wir selber, München 2012; Theresa Bäuerlein und Friederike Knüpling, Tussikratie. Warum Frauen nichts falsch und Männer nichts richtig machen können, München 2014. 3 Sheryl Sandberg, Lean in. Frauen und der Wille zum Erfolg, Berlin 2013. 4 Bascha Mika, Die Feigheit der Frauen: Rollenfallen und Geiselmentalität. Eine Streitschrift wider den Selbstbetrug, München 2011; auch: dies. in „Blätter“, 3/2011, S. 75-84 sowie Paula-Irene Villa und Sabine Hark, Selber schuld? Feministische Ambivalenzen der Gegenwart – und eine Replik auf Bascha Mika, in: „Blätter“, 4/2011, S. 111-120.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 92 18.02.15 10:09 Für einen nonkonformen Feminismus 93

Untergrundes von tiefsitzendem Frauenhass geführt wird. Übelste Beleidi- gungen, personalisierte Gewaltandrohungen und Vergewaltigungsphanta- sien brechen sich hier zügellos Bahn – und werden leider allzu oft auch ver- öffentlicht. Frauen, die sich mit radikalen und nicht mainstreamkompatiblen feministischen Positionen am öffentlichen Diskurs beteiligen, setzen sich unweigerlich solchen Angriffen aus. Weil manche das nicht ertragen können oder verständlicherweise auch einfach nur nicht ertragen möchten, hat diese „Hass-Sprache“ faktisch zur Folge, dass viele dieser Stimmen verstummen. Regelmäßig kommt es vor, dass Feministinnen ihre Blogs schließen oder zumindest die Kommentare, dass sie ihre Twitter-Konten löschen, zumindest für eine Weile, und dass ihre Stimme so aus der Öffentlichkeit verschwindet.

Medial überrepräsentiert: Organisierte Antifeministen

Während also Feministinnen mit radikalen Positionen im öffentlichen Dis- kurs aus verschiedenen Gründen unterrepräsentiert sind, ist eine andere Gruppe stark überrepräsentiert, und zwar die Maskulinisten, also orga- nisierte Antifeministen. Sie halten Feminismus generell für einen Irrweg und vertreten die Ansicht, dass nicht etwa Frauen, sondern vielmehr Män- ner die wahren Opfer der gesellschaftlichen Strukturen sind. Feminismus ist für sie eine staatlich unterstützte Verschwörung zur Ausbeutung und Unterdrückung von Männern. Anders als die Hass-Sprecher äußern sie sich meist formal sachlich und geben sich pseudowissenschaftlich, indem sie ihre Ansichten mit zweifelhaften Zahlen oder falsch interpretierten Statistiken untermauern.5 Obwohl die Maskulinisten nur eine sehr kleine Minderheit unter den Männern in Deutschland ausmachen, sind sie in Online-Debat- ten unverhältnismäßig stark präsent, denn sie melden sich laut und häufig zu Wort. Und auf diese Weise werden einzelne Versatzstücke ihrer Argumente auch von anderen aufgegriffen: Wenn man etwas nur oft genug gehört hat, glaubt man irgendwann, dass da auch was dran ist. Unterstützt werden die Maskulinisten in ihrer Propagandaarbeit von Frauen, die das feministische Projekt für gescheitert erklären, weil es den „natürlichen“ Geschlechterrollen widerspreche, und die deshalb für eine Rückkehr zur klassischen familiären Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern plädieren. Ebenso wie die „gutmeinenden Ratgeberinnen“ beru- fen auch sie sich auf das, was die „normalen Frauen“ im Gegensatz zu den „überspannten Feministinnen“ angeblich wollen, nämlich, so ihre Behaup- tung, nicht beruflichen Erfolg und gesellschaftliche Führungspositionen, sondern Zeit für Kinder und Haushalt.

5 Es gibt inzwischen eine Reihe von wissenschaftlichen Studien zu Struktur, Bedeutung und Argu- mentationsweisen von Maskulinismus, vgl. Thomas Gesterkamp, Geschlechterkampf von rechts. Wie Männerrechtler und Familienfundamentalisten sich gegen das Feindbild Feminismus radikali- sieren, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2010; Hinrich Rosenbrock, Die antifeministische Männerrechtsbewegung. Denkweisen, Netzwerke und Onlinemobilisierung, hg. von der Heinrich- Böll-Stiftung Berlin 2012; Robert Claus, Maskulinismus. Antifeminismus zwischen vermeintlicher Salonfähigkeit und unverhohlenem Frauenhass, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 93 18.02.15 10:09 94 Antje Schrupp

Eine durchaus problematische Rolle spielen bei all dem auch die Medien, die in Bezug auf das Thema Feminismus weitgehend jede Haltung verweigern. Die großen Redaktionen beziehen in der oben skizzierten Debatte selbst keine Position, sondern drucken mehr oder weniger abwechselnd Beiträge aus dem gesamten Spektrum ab: Da finden sich fundierte analytische Artikel zum Verhältnis der Geschlechter genauso wie – leider in deutlich höherer Fre- quenz – polemisches Vorurteilsgepoltere älterer Herren. Neben dem Essay einer Autorin, die erklärt, was der Feminismus alles falsch macht, erhält kurz darauf die Erwiderung einer solchermaßen Kritisierten ebenfalls Platz, nur um ein paar Tage drauf von einem Experten „wissenschaftlich widerlegt“ zu werden. Ebenfalls gerne gedruckt werden auch allerlei subjektive Betroffen- heitstexte zum Thema „Frauen und Männer“, deren Autoren und Autorinnen von sich selbst auf andere schließen, so als wäre die Schilderung ihrer per- sönlichen Befindlichkeit schon gleichbedeutend mit einer politischen oder gesellschaftlichen Analyse. Wovon sie womöglich sogar ehrlich überzeugt sind, denn es handelt es sich in aller Regel um weiße, bürgerliche, aus dem „irgendwas mit Medien“-Spektrum stammende Autorinnen und Autoren, also um Menschen, deren Selbsteinschätzung, die „Normalität“ zu repräsen- tieren, nur selten in Frage gestellt wird. Dieses Sammelsurium wird gerne als „Debattenkultur“ gerechtfertigt, ist aber in Wirklichkeit Gleichgültigkeit dem Thema gegenüber. Eine Rolle spielen wird wohl auch, dass mit solchen Debatten leicht Aufreger generiert werden können, die sich dann in Auflagenhöhe oder Klickzahlen, also Wer- beeinnahmen, übersetzen lassen. Leider entsteht mit dieser Beliebigkeit in der Berichterstattung über „den Feminismus“ aber auch ein Hintergrund- rauschen, das in seiner Gesamtheit den Eindruck erweckt, die hier diskutier- ten Positionen und Analysen seien bloße Ansichtssache und es sei eigentlich völlig gleichgültig, welche Meinung jemand zu diesem „Frauenthema“ hat. Feministische und antifeministische Positionen werden als „gleichberechtigt nebeneinanderstehend“ gehandelt, als ginge es dabei um Musikgeschmack oder Kleidungsstil. Obwohl es also zahlreiche Akteurinnen und Akteure gibt, die die aktu- elle „Feminismus-Debatte“ in Deutschland vorantreiben, so hat der hier skizzierte Diskurshorizont doch zur Folge, dass im Großen und Ganzen nicht wirklich über politische Inhalte, Theorien und Vorschläge von Femi- nistinnen diskutiert und gestritten wird, sondern sich stattdessen eine Meta- debatte über Sinn und Zweck des Feminismus als solchen entspinnt. Dies ist natürlich umso unsinniger, als es „den Feminismus“ ja überhaupt nicht gibt. 6 Feminismus ist schon immer eine pluralistische Bewegung. Sein verbinden- des Element ist das Eintreten für weibliche Freiheit, wobei die Geschlech- terdifferenz als Analysekategorie zum Verständnis der Welt eine zentrale Rolle spielt. Aber welche inhaltlichen Forderungen, Analysen und Positionen aus einer solchen feministischen Haltung heraus entstehen, das ist nicht nur variantenreich, sondern teilweise sogar gegensätzlich, wie es derzeit bei-

6 Eine aktuelle Übersicht zum Stand der Debatte bei: Yvonne Franke u.a. (Hg.), Feminismen heute. Positionen in Theorie und Praxis, Bielefeld 2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 94 18.02.15 10:09 Für einen nonkonformen Feminismus 95

spielsweise im Hinblick auf das Thema Sexarbeit und Prostitution leicht zu beobachten ist: Hier reicht das Spektrum feministischer Positionen von einer uneingeschränkten Anerkennung der Sexarbeit bis hin zur Forderung eines kategorischen Verbots der Prostitution.7 Verlässt man das Gebiet der konkreten Alltagspolitik und begibt sich auf die Ebene feministischer Theoriebildung, so ist dieser Pluralismus erst recht nicht zu übersehen. Im Internet ist es besonders leicht, sich rasch einen Über- blick über das breite Spektrum unterschiedlicher Positionen zu verschaffen,8 aber dasselbe gilt natürlich auch im analogen Leben. Es ist das Kennzeichen feministischer Debatten schlechthin, dass gestritten wird – um den richtigen politischen Weg, um die richtige Analyse, um die richtige Perspektive. Doch die gegenwärtigen Metadebatten über „den Feminismus“ glänzen mit voll- kommener Unkenntnis über den aktuellen Diskussionsstand. Nicht selten werden in der medialen Darstellung die in feministischen Debatten vertre- tenen Positionen grotesk verzerrt und verfälscht wiedergegeben. Auch dies ist ein Zeichen dafür, dass es nicht wirklich um eine Auseinandersetzung mit feministischen Ideen geht, sondern lediglich darum, die jeweils eigene subjektive Meinung zum Geschlechterverhältnis zu publizieren – und über Männer und Frauen haben schließlich alle irgendwie eine Meinung. Dass seit langem auch wissenschaftlich zu dem Thema geforscht wird, dass es Aktivistinnen gibt, die aus ihren politischen und persönlichen Erfahrungen heraus zahlreiche Texte und Bücher geschrieben haben, scheint da ganz egal zu sein. Kaum jemand, der sich hier in die Debatte einmischt, hat das gelesen. Im Gegenteil: Ein beliebter Vorwurf gegen „den Feminismus“ lau- tet, dass er zu akademisch sei. Feministinnen, die Fremdwörter gebrauchen, müssen sich doch nicht wundern, wenn niemand ihre Texte liest.

Politischer Aktivismus – auch gegen den Mehrheitswillen

Für feministische Aktivistinnen ist es in dieser Situation wichtig, sich von dem Metadebatten-Hype möglichst nicht allzu sehr beeinflussen zu lassen. Es besteht nämlich die Gefahr, viel Kraft und Zeit mit Rechtfertigungen und Klarstellungen zu vergeuden. Hilfreich ist es auch, sich klarzumachen, dass das Hauptargument in diesem Konzert – dass „der Feminismus“ ja gar nicht im Namen „der Frauen“ spricht – überhaupt keines ist: Es ist nämlich nicht die Aufgabe einer Feministin, im Namen anderer Frauen zu sprechen, schon gar nicht im Namen einer Mehrheit der Frauen. Feministinnen waren historisch immer eine Minderheit innerhalb der Frauen. Ebenso wie heute die Mehrheit der Frauen keine geschlechtsneutralen „x-Endungen“ haben möchte, war um

7 Exemplarisch wird es an den gegensätzlichen Positionen der beiden wichtigsten feministischen Zeitschriften in Deutschland deutlich: Während das „Missy Magazine“ eine akzeptierende Hal- tung zur Sexarbeit vertritt hat die „Emma“ einen Appell zur Abschaffung der Prostitution gestartet. 8 Einflussreiche unabhängige feministische Gemeinschaftsblogs – die Aufzählung einzelner Blog- gerinnen würde hier den Rahmen sprengen – sind zum Beispiel: www.maedchenmannschaft.net, www.kleinerdrei.org, www.frau-lila.de (u.a. mit einem „Lila Podcast“), www.bzw-weiterdenken.de, www.editionf.com, www.feminismus101.de u.v.a. Darüber hinaus gibt es inzwischen auch zahlreiche von Parteien, Institutionen oder Organisationen verantwortete Blogs mit feministischer Ausrichtung.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 95 18.02.15 10:09 96 Antje Schrupp

1900 eine Mehrheit der Frauen der Ansicht, das Wahlrecht nicht zu brauchen. Politischer Aktivismus hat die Aufgabe, neue Ideen und Vorschläge zu ent- wickeln. Es kann nicht darum gehen, die eigenen Standpunkte möglichst mit der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung in Übereinstimmung zu bringen – und auch nicht mit der Mehrheitsmeinung von deren weiblicher Hälfte. In gewisser Weise lässt sich die aktuelle Feminismusdebatte dabei auch als ein Fortschritt lesen. Nämlich dergestalt, dass allmählich ein Bewusstsein darüber erwacht – und dann umgehend bekämpft wird –, dass sich der Femi- nismus nicht so leicht einhegen lässt, wie es viele in den 1990er Jahren noch glaubten. Gerade auch jüngere Autorinnen melden sich mit Publikationen zu Wort und finden durchaus ihre Nische. So ist eine der Initiatorinnen von „#aufschrei“, Anne Wizorek, mit ihrem kürzlich erschienenen Buch „Weil ein Aufschrei nicht reicht“ inzwischen durchaus eine gefragte Referentin und Interviewpartnerin. Sie steht für die Vermittlung eines „jungen“ Feminis- mus in den öffentlichen Diskurs hinein, ohne sich dabei gefällig und „main- streamkompatibel“ zu präsentieren. Auch der Buchmarkt bietet eben Platz für beides: nicht nur für Autorinnen, die sich einen Ruf als Nicht-Feminis- tinnen erarbeiten möchten (mit Titeln wie „Tussikratie“ von Theresa Bäuer- lein und Friederike Knüpling oder „Wer will schon Quotilde sein“ von Mona Jaeger), sondern auch für solche, die sich gerade als Feministinnen profilie- ren möchten.9 Möglich ist das auch deshalb, weil sich Aktivistinnen heute mit einer Vernetzung in den sozialen Medien unabhängig von großen Medien- häusern Reichweite verschaffen können – was sie dann für Verlage und Zei- tungen wiederum interessant werden lässt. Auch wer nur einen flüchtigen Blick auf diese Szene wirft, wird jedenfalls sehen, dass sich feministische Positionen nicht so einfach kategorisieren lassen, dass die Übergänge zwi- schen „Mainstream“ und „radikal“ fließend sind, dass Debatten sich über- kreuzen und benachbarte „Szenen“ sich sowohl voneinander abgrenzen als auch gegenseitig beeinflussen.

Die Care-Revolution

Aber der Einfluss von Feministinnen beschränkt sich nicht nur auf die direkte Kommunikation zum Thema „Feminismus“. Fast noch wichtiger ist in den letzten Jahren das themenbezogene Engagement geworden. Inzwi- schen gibt es eine Reihe von Bloggerinnen oder politischen Aktivistinnen, die sich für ein spezifisches Thema einsetzen – Mode, Netzpolitik, Tierethik, was auch immer –, sich aber gleichzeitig als feministisch verstehen und daraus auch keinen Hehl machen. Als eines der wichtigsten Aktionsfelder, in denen Feministinnen sich in letzter Zeit engagieren, hat sich dabei das Thema „Care“ herauskristallisiert.10

9 Neben dem genannten Buch von Anne Wizorek (Frankfurt a. M. 2014) sind hier z.B. die Bücher von Julia Korbik (Stand Up! Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene, Berlin 2014) sowie Leah Bretz und Nadine Lantzsch (Queer_Feminismus, Münster 2013) zu nennen. 10 Vgl. Sebastian Dörfler, Die Care-Revolution. Was ist uns Fürsorge wert?, in: „Blätter“, 4/2014, S. 35-38.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 96 18.02.15 10:09 Für einen nonkonformen Feminismus 97

Auf die Gefahr, dass sich die traditionellen frauenemanzipatorischen Gleich- stellungsforderungen auch sehr gut neoliberal instrumentalisieren lassen – etwa durch die Verfügbarmachung von Frauen als „Human Ressources“11 oder indem politische Maßnahmen wie das Elterngeld eine Einkommensver- teilung von unten nach oben befördern12 –, haben ja schon viele feministi- sche Theoretikerinnen hingewiesen. Auf dem Gebiet des praktischen Enga- gements hat das inzwischen zur Folge, dass sich immer mehr Feministinnen dezidiert in sozialpolitischen Themenfeldern engagieren, wie zum Beispiel im bundesweiten Netzwerk „Care-Revolution“, in dem sich Gruppen, Initia- tiven und Einzelpersonen zusammengeschlossen haben, um Ökonomie aus einer Perspektive der Sorgearbeit neu zu fassen.13 Diese Initiativen sind sehr stark aus feministischen Hintergründen und auch Theorien gespeist; es geht ihnen aber nicht mehr in erster Linie um eine Verbesserung der Situation „der Frauen“, sondern darum, die feministischen Erkenntnisse und Perspek- tiven der vergangenen Jahrzehnte „postpatriarchal“ weiterzuentwickeln und in Projekte einzuführen, die die Welt als solche und das Zusammenleben der Menschen generell im Blick haben.14

Auf der Suche nach einer gerechten und deshalb radikal anderen Welt

Denn eine Welt, die so ungerecht bleibt, wie sie ist, nur dass das Verhältnis von Frauen und Männern überall fifty-fifty beträgt (sowohl bei denen, die davon profitieren, als auch bei denen, die unter die Räder kommen), ist kein Fortschritt, auch kein feministischer. Ungerechte Geschlechterverhältnisse, wie etwa die ungleiche Verteilung bei Einkommen und Vermögen oder die Überrepräsentanz von Männern in gesellschaftlichen Führungspositionen, sind nicht selbst das Problem. Sie sind lediglich Symptome von Ungerechtig- keiten, die viel tiefer liegen. Deshalb können sie auch nicht mit oberfläch- lichen Gleichstellungsinitiativen gelöst werden, sondern verlangen radikale, an die Wurzel gehende Analysen und Aktionen. Gerade den „bösen“ Feminismus, also jenen, der nicht so einfach anschlussfähig ist, brauchen wir heute. Je weniger eine feministische These den Leitartiklern in den Feuilletons unmittelbar einleuchtet, desto interes- santer ist sie vermutlich. Das bedeutet keineswegs, dass alle Thesen und Vorschläge radikaler Feministinnen unwidersprochen bleiben sollen, ganz im Gegenteil: Es bedeutet, ihre Thesen und Vorschläge tatsächlich einmal kontrovers zu diskutieren – anstatt sich bloß darüber lustig zu machen, sie als indiskutabel hinzustellen oder gar zu versuchen, ihre Protagonistinnen zum Schweigen zu bringen.

11 Vgl. u.a. Nancy Fraser, Neoliberalismus und Feminismus. Eine gefährliche Liaison, in: „Blätter“, 12/2013, S. 29-31. 12 Vgl. Antje Schrupp, Umverteilung unter dem Deckmantel Familienpolitik. Next Level, www.antje- schrupp.com, 2.2.2015. 13 Vgl. www.care-revolution.org. 14 Vgl. Ursula Knecht u.a.: ABC des guten Lebens, Rüsselsheim 2012, www.abcdesgutenlebens.de

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 97 18.02.15 10:09 Anzeigen

»Kampagne für Saubere Kleidung«

Die Kette verheerender Unglücke der letzten Jahre macht es deutlich: Der Kampf um menschenwürdige Arbeitsbedingungen in der weltweiten Bekleidungsindustrie muss weitergehen. Mehr denn je ist das Engagement der Kampagne für Saubere Kleidung notwendig.

Doch für unsere Arbeit benötigen wir nicht nur viele helfende Hände. Wir benötigen auch Geld. Darum hier unsere Bitte: Spenden Sie für die

die Kampagnenarbeit. Bei Bedarf können wir Ihnen eine steuerwirksame Kampagne für Saubere Kleidung. Alle Spendengelder �ließen direkt in Spendenbescheinigung ausstellen.

Unser Spendenkonto lautet: INKOTA-netzwerk e.V., Stichwort CCC KD-Bank – Konto:155 500 0029, BLZ 350 601 90

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 98 18.02.15 10:09 Wie wird der Kapitalismus enden? Von Wolfgang Streeck

egenwärtig ist das Gefühl weit verbreitet, dass der Kapitalismus sich G in einem kritischen Zustand befindet, kritischer als irgendwann sonst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.1 Im Rückblick erweist sich, dass der Crash des Jahres 2008 lediglich die jüngste einer langen Abfolge politischer und wirtschaftlicher Funktionsstörungen war, die mit dem Ende der Nach- kriegsprosperität Mitte der 1970er Jahre einsetzten. Von Krise zu Krise nahm deren Schwere zu, Tempo und Ausmaß ihrer Ausbreitung wuchsen in einer immer stärker verflochtenen Weltwirtschaft rapide an. Der weltweiten Infla- tion der 70er Jahre folgte eine wachsende Staatsverschuldung, und die in den 90er Jahren betriebene Haushaltskonsolidierung ging mit einem scharfen Anstieg der Verschuldung im Privatsektor einher.2 Seit nunmehr vier Jahrzehnten sind in der „fortgeschrittenen“ industriel- len Welt sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene Ungleich- gewichte der Normalzustand. Tatsächlich haben die Krisen des Nachkriegs- kapitalismus der OECD-Welt mit der Zeit einen derart prägenden Einfluss gewonnen, dass sie ihrem Wesen nach zunehmend weniger als bloße Wirt- schaftskrisen angesehen werden. Das führte zur Wiederentdeckung der älteren Vorstellung einer kapitalistischen Gesellschaft – einem Verständnis des Kapitalismus als Gesellschaftsordnung und Lebensweise, deren Exis- tenz entscheidend vom ununterbrochenen Fortgang der privaten Kapital- akkumulation abhängt. Krisensymptome gibt es viele, doch ragen unter ihnen drei Langzeittrends in der Entwicklung reicher, hochindustrialisierter – oder besser: zunehmend de-industrialisierter – kapitalistischer Gesellschaften heraus. Da ist erstens der anhaltende, durch die Ereignisse von 2008 noch verschärfte Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums. Zweitens gibt es, verbunden hiermit, einen eben- falls anhaltenden Anstieg der Gesamtverschuldung in führenden kapitalisti- schen Volkswirtschaften, in denen Regierungen, Privathaushalte und Unter- nehmen der Finanz- wie der Realwirtschaft vierzig Jahre hindurch finanzielle Verbindlichkeiten angehäuft haben. Drittens nimmt, während die Verschul- dung ansteigt und die Wachstumsraten sinken, die Ungleichheit sowohl der Einkommen als auch der Vermögen ebenfalls schon jahrzehntelang zu.

1 Dieser Beitrag basiert auf der Anglo German Foundation Lecture 2014 der British Academy in Lon- don; aus dem Englischen übersetzt von Karl D. Bredthauer. 2 Ich habe diesen Zusammenhang ausführlicher behandelt in Buying Time, The Delayed Crisis of Democratic , London und New York 2014 (Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demo- kratischen Kapitalismus, Berlin 2013).

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 99 18.02.15 10:09 100 Wolfgang Streeck

Stetiges Wachstum, stabiles Geld und ein gewisses Maß an sozialer Gleich- heit, um auch jene, die nicht über Kapital verfügen, in den Genuss einiger der Früchte des Kapitalismus gelangen zu lassen, galten lange Zeit als unerläss- liche Bedingung für die Legitimität einer kapitalistischen Wirtschaftsord- nung. Aus diesem Blickwinkel muss besonders beunruhigen, dass die drei genannten kritischen Trends sich womöglich wechselseitig verstärken. Es mehren sich die Belege dafür, dass die zunehmende Ungleichheit eine der Ursachen für das nachlassende Wirtschaftswachstum sein könnte, denn Ungleichheit behindert mögliche Produktivitätsfortschritte, während sie zugleich die Nachfrage schwächt.3 Schwaches Wachstum wiederum ver- stärkt die Ungleichheit, indem es die Verteilungskonflikte verschärft und Zugeständnisse an die Armen in den Augen der Reichen verteuert. Diese beharren deshalb um so entschiedener auf der strikten Einhaltung des freie Märkte regierenden „Matthäus-Prinzips“: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, dass er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“4 (Matth. 25, 29) Darüber hinaus verschlimmert die zunehmende Verschuldung, die den Niedergang des Wirtschaftswachstums nicht aufhalten konnte, durch den mit der Finanzialisierung des Kapitalis- mus verbundenen Strukturwandel die Ungleichheit weiter – ungeachtet des- sen, dass sie zunächst auch zur Kompensation stagnierender Arbeitseinkom- men und zurückgeschnittener öffentlicher Dienstleistungen sowie der durch diese verstärkten Einkommensungleichheit hatte dienen sollen. Kann eine solche Entwicklung, die einem Teufelskreis vergleichbar scheint, immer so weitergehen? Oder gibt es Gegenkräfte, die den Zirkel aufbrechen könnten? Und was passiert, wenn diese, wie jetzt schon fast vier Jahrzehnte lang, nicht in Erscheinung treten? Von Historikern hören wir, dass Krisen für den Kapitalismus nichts Neues und möglicherweise sogar erforderlich sind, damit es ihm auf längere Sicht gut geht. Allerdings bezie- hen sie sich dabei auf zyklische Bewegungen oder zufällige Schocks, nach denen kapitalistische Wirtschaftssysteme, zumindest zeitweilig, zu einem neuen Gleichgewicht finden können. Doch was wir derzeit erleben, erscheint im Rückblick als ein kontinuierlicher Prozess schrittweisen Niedergangs, der sich zwar hinzieht, aber um so unerbittlicher durchsetzt. Die Erholung nach gelegentlichen „Reinigungskrisen“ ist das eine, aber die Auflösung einer Verkettung von Langzeittrends, die einander wechselseitig verstärken, wäre etwas ganz anderes. Wenn wir davon ausgehen, dass immer schwächeres Wachstum, immer größere Ungleichheit und immer höhere Verschuldung nicht unbegrenzt anhalten können und zusammengenommen auf die Dauer in eine Krise münden müssten, die systemischer Natur wäre – eine Krise, deren Beschaffenheit wir uns konkret noch kaum vorstellen können: Gibt es dann irgendwelche Anzeichen dafür, dass eine Umkehr der drei Trends bevorstehen könnte?

3 Siehe die jüngste OECD-Studie zur wirtschaftlichen Situation in Deutschland. 4 Robert Merton hat diesen sozialen Mechanismus als Erster beschrieben: The Matthew Effect, in: „Science“, Bd. 159, Nr. 3810, 5.1.1968, S. 56-63. Ein heute geläufigerer Begriff wäre kumulativer Vorteil.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 100 18.02.15 10:09 Wie wird der Kapitalismus enden? 101

Ein weiterer Notbehelf

In dieser Hinsicht gibt es nichts Gutes zu berichten. Seit 2008, dem bisheri- gen Höhepunkt der Nachkriegs-Krisensequenz, sind mittlerweile gut sechs Jahre verstrichen. Als die Erinnerung an den Abgrund noch frisch war, herrschte kein Mangel an Forderungen nach „Reformen“, die die Welt vor einer Wiederholung bewahren sollten. Internationale Konferenzen und Gip- feltreffen jeglicher Art folgten einander auf dem Fuß, aber über ein halbes Jahrzehnt später zeigt sich, dass sie so gut wie nichts bewirkt haben. Unter- dessen konnte die Finanzindustrie, von der das Desaster ausgegangen war, sich bestens erholen: Gewinne, Dividenden, Gehälter und Boni sind wieder, was sie waren, während die Re-Regulierung im Gestrüpp internationaler Verhandlungen und innerstaatlicher Lobbytätigkeit hängen geblieben ist. Die Regierungen, und insbesondere die der Vereinigten Staaten, befinden sich nach wie vor fest im Griff der Finanzindustrie. Diese wiederum wird großzügig mit billigem Geld versorgt, welches ihre Freunde in den Zentral- banken für sie aus dem Nichts herbeizaubern, darunter der frühere Goldman Sachs-Mann Mario Draghi an der Spitze der EZB. Auf diesem Geld sitzen die Banken jetzt, soweit sie es nicht in weitere Staatsverschuldung investie- ren. Das Wirtschaftswachstum dümpelt derweil vor sich hin, desgleichen die Arbeitsmärkte; beispiellose Liquiditätsspritzen haben es nicht vermocht, die Wirtschaft „anzukurbeln“; und die Ungleichheit nimmt immer erstaun- lichere Ausmaße an, nachdem die Erträge des bisschen Wachstums, das es noch gibt, in die Taschen des obersten Prozents der Einkommensbezieher geflossen sind – und der Löwenanteil in die Taschen eines Bruchteils der- selben.5 Es sieht also nicht so aus, als gäbe es gute Gründe, optimistisch zu sein. Der OECD-Kapitalismus wird seit geraumer Zeit durch großzügige Injektio- nen frei geschöpften Geldes in Gang gehalten, im Rahmen einer Strategie monetärer Expansion, deren Architekten selbst am besten wissen, dass sie nicht beliebig lange fortgesetzt werden kann. 2013 wurde denn auch tatsächlich – in Japan ebenso wie in den Ver- einigten Staaten – mehrfach versucht, zur Entwöhnung überzugehen. Als aber daraufhin die Aktienkurse einbrachen, vertagte man das sogenannte tapering erneut. Mitte Juni erklärte die Bank für Internationalen Zahlungs- ausgleich in Basel (BIZ) – die Mutter aller Zentralbanken –, die Politik des billigen Geldes (quantitative easing, im BIZ-Deutsch „akkomodierende Geldpolitik“ genannt, anderswo auch „quantitative Lockerung“) müsse beendet werden. In ihrem Jahresbericht 2012/13 wies sie darauf hin, dass die Zentralbanken als Reaktion auf die Krise und die schleppende Erholung ihre Bilanzen derart ausgeweitet hätten, dass diese inzwischen „insgesamt auf etwa das Dreifache des Vorkrisenniveaus angestiegen“ seien – und immer

5 Vgl. Emmanuel Saez, Striking It Richer: The Evolution of Top Incomes in the United States, 2.3.2012, verfügbar auf Saez‘ persönlicher Webseite bei der UC Berkeley; und Facundo Alvaredo, Anthony Atkinson, Thomas Piketty und Emmanuel Saez, The Top 1 per cent in International and Historical Perspective, in: „Journal of Economic Perspectives“, 3/2013, S. 3-20.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 101 18.02.15 10:09 102 Wolfgang Streeck

noch wüchsen.6 Zwar sei dies nötig gewesen, um einen „Kollaps des Finanz- systems“ zu verhindern, doch jetzt müsse das Ziel darin bestehen, „die nach wie vor langsam wachsenden Volkswirtschaften zu einem kräftigen und nachhaltigen Wachstum zurückzuführen“. Dies jedoch übersteige die Fähig- keiten der Zentralbanken, welche nämlich „nicht die Strukturreformen im Wirtschafts- und Finanzbereich durchsetzen [können], die notwendig sind, um die Volkswirtschaften zu dem realen Wachstum zurückzuführen, das sowohl die Regierungen als auch die Bürger wünschen und erwarten. Was die akkommodierende Geldpolitik in der Erholungsphase aber bewirkt hat: Es wurde Zeit gewonnen [...]. Allerdings wurde diese Zeit nicht gut genutzt: Die anhaltend niedrigen Zinsen und unkonventionellen Maßnahmen haben es dem Privatsektor nämlich einfach gemacht, den Schuldenabbau auf die lange Bank zu schieben, sie haben es den Regierungen einfach gemacht, Defizite zu finanzieren, und sie haben es den zuständigen Instanzen einfach gemacht, die notwendigen Reformen in der Realwirtschaft und im Finanz- system hinauszuzögern. Billiges Geld macht es eben leichter, Schulden auf- zunehmen anstatt zu sparen, Geld auszugeben anstatt Steuern zu erheben, und weiterzumachen wie bisher anstatt etwas zu verändern.“ Diese Sicht der Dinge teilte offenbar selbst die Federal Reserve (Fed) der USA. Im Spätsommer 2013 schien es, als signalisiere die Fed erneut, dass die Zeit des billigen Geldes zu Ende gehe. Doch schon im September wurde die allgemein erwartete Rückkehr zu höheren Zinssätzen wieder verschoben. Zur Begründung hieß es, „die Wirtschaft“ erscheine weniger „kräftig“, als man gehofft habe. Umgehend stiegen weltweit die Aktienkurse. Der wahre Grund dafür, dass die Rückkehr zu einer konventionelleren Geldpolitik so schwer fällt, ist einer, den eine internationale Einrichtung wie die BIZ unbekümmerter ausbuchstabieren kann als eine – bis jetzt noch – politisch exponiertere nationale Zentralbank. Wie die Dinge liegen, besteht er nämlich darin, dass die einzige Alternative zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus mit Hilfe unbegrenzter Geldversorgung seine Revitalisierung durch neoliberale Wirtschaftsreformen wäre. „Erhöhung der Flexibilität: der Schlüssel zum Wachstum“ heißt das im BIZ-Jahresbericht 2012/13 unmiss- verständlich, in der Überschrift des ersten Unterkapitels. Anders gesagt: Bittere Medizin für die Vielen, verbunden mit stärkeren Anreizen für die Wenigen.7

Schwierigkeiten mit der Demokratie

An dieser Stelle muss eine Erörterung der Krise des heutigen Kapitalis- mus und seiner Zukunft sich der Frage der Demokratie zuwenden. Kapi- talismus und Demokratie hatten lange als Gegensätze gegolten, bevor die

6 Bank fur Internationalen Zahlungsausgleich, 83. Jahresbericht, 1. April 2012 – 31. März 2013, Basel 2013, S. 5. 7 Selbst das erscheint nicht gerade vielversprechend für Länder wie die USA oder Großbritannien, wo unklar ist, welche neoliberalen „Reformen“ dort überhaupt noch umgesetzt werden können.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 102 18.02.15 10:09 Wie wird der Kapitalismus enden? 103

Nachkriegsordnung ihre Aussöhnung bewirkt zu haben schien. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein lebten Kapitaleigner in der Furcht, demokratische Mehrheiten könnten das Privateigentum abschaffen, während Arbeiter und Arbeiterorganisationen damit rechneten, dass die Kapitalisten zur Vertei- digung ihrer Privilegien eine Rückkehr zu autoritären Herrschaftsformen finanzieren würden. Erst in der Welt des Kalten Krieges schienen Kapi- talismus und Demokratie Verbündete geworden zu sein: Der wirtschaft- liche Fortschritt ermöglichte es Arbeitnehmermehrheiten, ein Regime der Marktfreiheit und des Privateigentums zu akzeptieren, was wiederum den Anschein erweckte, als seien die demokratischen Freiheiten untrennbar mit freien Märkten und Gewinnstreben verbunden, ja sogar abhängig von die- sen. Heute aber sind die Zweifel an der Vereinbarkeit einer kapitalistischen Wirtschaftsweise mit demokratischer Politik mit aller Wucht zurückgekehrt. In der breiten Bevölkerung herrscht mittlerweile weithin das Gefühl, dass die offizielle Politik in ihrem Leben keinen Unterschied macht – siehe den allgegenwärtigen Eindruck von Blockade, Inkompetenz und Korruption in einer politischen Klasse, die sich zunehmend „nach unten“ abzuschließen und sich selbst zu bedienen scheint, vereint in dem Anspruch, dass es zu ihr und ihrer Politik „keine Alternative“ gibt. Ein Resultat ist der überall zu beobachtende Rückgang der Wahlbeteiligung, verbunden mit erhöhter Vola- tilität des Abstimmungsverhaltens, was angesichts des Aufstiegs „populisti- scher“ Protestparteien zu immer stärkerer Stimmzersplitterung und verbrei- teter Instabilität der Regierungen oder, alternativ, zu „großen Koalitionen“ der traditionellen „Volksparteien“ führt.8 Die Legitimität der Nachkriegsdemokratie beruhte auf der Prämisse, dass Staaten über die Fähigkeit verfügen, in das Marktgeschehen zu inter- venieren und dessen Ergebnisse im Interesse der Mehrheit ihrer Bürger zu korrigieren. Jahrzehnte zunehmender Ungleichheit und die Ohnmacht der Staaten und Regierungen vor, während und nach der Krise von 2008 haben Zweifel an dieser Annahme wachsen lassen. Regierungen und Parteien in den OECD-Demokratien reagierten auf ihre zunehmende Irrelevanz in einer globalen Marktwirtschaft, indem sie mehr oder weniger entspannt zuschau- ten, wie der „demokratische Klassenkampf“ sich in postdemokratisches Poli- tainment verwandelte.9

Vom Nachkriegs-Keynesianismus zum neoliberalen Hayekianismus

Unterdessen ging die Transformation der politischen Ökonomie des Kapita- lismus aus dem Nachkriegs-Keynesianismus in den neoliberalen Hayekia- nismus der Gegenwart immer weiter: An die Stelle der politischen Formel von Wirtschaftswachstum durch Umverteilung von oben nach unten trat eine neue Doktrin, die sich und anderen wirtschaftlichen Fortschritt als Folge

8 Vgl. Armin Schäfer und Wolfgang Streeck (Hg.), Politics in the Age of Austerity, Cambridge 2013. 9 Walter Korpi, The Democratic Class Struggle, London 1983; und Colin Crouch, Post-Democracy, Cambridge 2004.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 103 18.02.15 10:09 104 Wolfgang Streeck

einer Umverteilung von unten nach oben verspricht. Egalitäre Demokratie, wie sie unter dem Keynesianismus als ökonomisch produktiv angesehen wurde, gilt dem zeitgenössischen Hayekianismus als effizienzschädigend, demzufolge wirtschaftlicher Fortschritt durch Abschirmung der Märkte und des durch sie bewirkten kumulativen Vorteils gegen redistributive politische Verzerrungen erreicht wird. Ein zentraler Topos der antidemokratischen Rhetorik von heute ist die Fis- kalkrise des Staates, wie sie in der erstaunlichen Zunahme der öffentlichen Verschuldung seit den 70er Jahren zum Ausdruck kommt. Die wachsende Staatsverschuldung wird Wählermehrheiten angelastet, die über ihre Ver- hältnisse leben, indem sie die „Allmende“ ihrer Gesellschaften plündern, sowie opportunistischen Politikern, die sich die Unterstützung kurzsichtiger Wähler mit Geld erkaufen, das ihnen nicht gehört und das sie nicht haben.10 Doch dass die Krise der Staatsfinanzen wohl kaum durch einen umvertei- lungsdemokratischen Exzess verursacht worden sein kann, zeigt sich daran, dass der Anstieg der Staatsverschuldung mit einem Niedergang der Wahl- beteiligung, besonders am unteren Ende der Einkommensskala, einher- ging, sowie mit schrumpfenden Gewerkschaften, dem nahezu vollständi- gen Verschwinden von Streiks, Einschnitten bei den Sozialleistungen und einer Explosion der Einkommensungleichheit. In Wirklichkeit hing die Ver- schlechterung der öffentlichen Finanzen mit dem Niedergang des Steuerauf- kommens und dem zunehmend degressiven Charakter der Steuersysteme zusammen, beides Ergebnis von „Reformen“ bei der Besteuerung der Spit- zeneinkommen und Unternehmen. Darüber hinaus steigerten die Regierungen die Ungleichheit noch, als sie Steuereinnahmen durch Staatsverschuldung ersetzten: Denen, deren Geld sie nicht länger konfiszieren konnten oder wollten, so dass sie es sich statt- dessen leihen mussten, boten sie damit sichere Anlagemöglichkeiten. Im Unterschied zum Steuerzahler gehört dem Käufer von Staatsanleihen das, was er dem Staat überlässt, auch weiterhin. Er erhält sogar Zinsen darauf, die in der Regel aus einer immer weniger progressiven Besteuerung aufgebracht werden; zudem kann er es seinen Kindern vererben. Im Übrigen lässt stei- gende Staatsverschuldung sich, wie es ja tatsächlich geschieht, politisch in- strumentalisieren, nämlich als Argument zugunsten staatlicher Ausgaben- kürzungen und der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. So werden die Möglichkeiten umverteilender demokratischer Intervention in die kapi- talistische Ökonomie weiter beschnitten. Die institutionelle Absicherung der Marktwirtschaft gegen demokratische Eingriffe hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht. Die Gewerkschaften befinden sich allenthalben im Niedergang und sind in zahl- reichen Ländern, insbesondere den Vereinigten Staaten, nahezu eliminiert. Die Wirtschaftspolitik ist weithin in die Hände unabhängiger – das heißt demokratisch nicht rechenschaftspflichtiger – Zentralbanken übergegan-

10 Diese Sicht der Fiskalkrise entstammt der Public Choice Theorie, wie sie von James Buchanan und seiner Schule stark gemacht wurde; vgl. u.a. Buchanan und Gordon Tullock, The Calculus of Con- sent: Logical Foundations of Constitutional Democracy, Ann Arbor 1962.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 104 18.02.15 10:09 Wie wird der Kapitalismus enden? 105

gen, denen es vor allem um das Wohlergehen und Wohlwollen der Finanz- märkte zu tun ist und sein muss.11 In Europa wird die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, einschließlich der Lohnfindung und der Haushaltspolitik, zunehmend durch supranatio- nale Einrichtungen wie die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank gesteuert, die sich außerhalb der Reichweite massendemokra- tischer Willensbildung befinden. Das bewirkt eine faktische Entdemokrati- sierung des europäischen Kapitalismus, was natürlich durchaus nicht dessen Entpolitisierung bedeutet.

»Marktkonforme Demokratie« – die politische Utopie des neoliberalen Mainstreams

Dennoch gibt es innerhalb der profitabhängigen Klassen weiterhin Zweifel, ob die Demokratie – selbst in ihrer gegenwärtigen ausgehöhlten Version – die Durchsetzung jener neoliberalen „Strukturreformen“ wirklich zulässt, derer es bedarf, damit ihr Regime sich erholt. Ganz wie normale Bürger, wenn- gleich aus entgegengesetzten Gründen, verlieren die Eliten ihren Glauben an die demokratische Regierungsweise – in ihrem Fall: an deren Fähigkeit, Gesellschaften im Einklang mit Marktimperativen umzugestalten. Die Pub- lic-Choice-Schule verunglimpft demokratische Politik als Verfälschung der Marktgerechtigkeit im Dienste opportunistischer Politiker und ihrer Klien- tel. Im Diskurs der Eliten gilt diese Auffassung mittlerweile als Gemeinplatz – ebenso wie der Glaube, der Marktkapitalismus werde nach seiner Reini- gung von den Auswirkungen demokratischer Einflussnahme nicht nur effizi- enter, sondern auch tugendhafter und verantwortlicher funktionieren.12 Län- der wie China beglückwünscht man, weil ihr autoritäres politisches System soviel besser als die mehrheitsabhängige Demokratie mit ihrem Hang zum Egalitarismus gerüstet sei, die sogenannten Herausforderungen der Glo- balisierung zu meistern. Die einschlägige Rhetorik beginnt verdächtig der Bewunderung zu ähneln, die die kapitalistischen Eliten in den Zwischen- kriegsjahren dem deutschen und italienischen Faschismus (und sogar dem stalinistischen Kommunismus) entgegenbrachten, weil deren ökonomische Regime ihnen überlegen erschienen.13 Die politische Utopie des neoliberalen Mainstreams besteht heute fürs Erste in einer „marktkonformen Demokratie“, die ohne die Fähigkeit zu Marktkor- rekturen auskommt und zu einer „anreiz-kompatiblen“ Umverteilung von

11 Es wird häufig vergessen, dass die meisten Zentralbanken, auch die BIZ, seit langer Zeit und noch immer teils in privatem Besitz sind. So wurden etwa die Bank von England und die Bank von Frank- reich erst nach 1945 verstaatlicht. Die „Unabhängigkeit“ der Zentralbanken, wie in den 90er Jahren in vielen Ländern eingeführt, kann als eine Art von Reprivatisierung verstanden werden. 12 Natürlich ist der Neoliberalismus, wie Colin Crouch gezeigt hat, in seiner tatsächlichen Form eine politisch fest verankerte Oligarchie gigantischer multinationaler Firmen. Vgl. Colin Crouch, The Strange Non-Death of , Cambridge 2011; ders., Das lange Leben des Neoliberalismus, in: „Blätter“, 11/2011, S. 49-62. 13 Vgl. Daniel A. Bell, Beyond : Political Thinking for an East Asian Context, Prince- ton 2006; und Nicolas Berggruen und Nathan Gardels (Hg.), Intelligent Governance for the 21st Century: A Middle Way between West and East, London 2012.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 105 18.02.15 10:09 106 Wolfgang Streeck

unten nach oben führt.14 Obwohl dieses Projekt sowohl in Westeuropa als auch in den Vereinigten Staaten schon weit gediehen ist, sorgen seine Betrei- ber sich weiterhin, dass die aus den Zeiten des Nachkriegskompromisses ererbten politischen Institutionen irgendwann und irgendwie, in einer letz- ten Anstrengung, von Wählermehrheiten zurückerobert werden könnten, um einer neoliberalen Lösung der Krise den Weg zu versperren. Der Druck der Eliten, die egalitäre Demokratie ökonomisch zu neutralisieren, geht deshalb unvermindert weiter. In Europa geschieht dies in Gestalt einer anhaltenden Verlagerung politisch-wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse hin zu supra- nationalen Institutionen, etwa der Europäischen Zentralbank oder dem Europäischen Rat der Regierungschefs.

Der Kapitalismus am Abgrund?

Geht es also mit dem Kapitalismus zu Ende? In den 80er Jahren gab man die Vorstellung auf, der „moderne Kapitalismus“ könne als technokratisch regierte und demokratisch kontrollierte mixed economy betrieben werden. Später, in der neoliberalen Revolution, hieß es, das „freie Spiel der Markt- kräfte“ werde die zugehörige Ordnung, sozial wie ökonomisch, auf wohl- tätige Weise aus sich selbst heraus schaffen. Doch der Crash von 2008 dis- kreditierte die Vorstellung, dass selbstregulierende Märkte von sich aus ins Gleichgewicht gelangen, ohne dass eine plausible neue Formel politisch-öko- nomischer Steuerung in Sicht wäre. Schon dies allein lässt sich als Symptom einer Krise verstehen, die systemisch geworden ist, und dies um so mehr, je länger sie anhält. Ich glaube, es ist höchste Zeit, angesichts der Jahrzehnte nachlassenden Wachstums, zunehmender Ungleichheit und wachsender Verschuldung – wie auch der seit den 70er Jahren aufeinander folgenden Pla- gen von Inflation, Staatsverschuldung und Finanzimplosion – den Kapitalis- mus erneut als historische Erscheinung zu begreifen, das heißt als etwas, das nicht nur einen Anfang hat, sondern auch ein Ende. Um dies tun zu können, müssen wir uns allerdings von irreführenden Modellen gesellschaftlichen und institutionellen Wandels lösen. So lange wir uns sein Ende so vorstellen, als könne es auf leninistische Art durch eine Regierung oder ein Zentral- komitee beschlossen werden, muss uns der Kapitalismus zwangsläufig als immerwährend erscheinen. (Durch Beschluss abschaffbar war nur der Kom- munismus, zentralisiert wie er in Moskau war.) Anders verhält es sich, wenn wir, statt uns seine kollektiv beschlossene Ablösung durch irgendeine vor- ausschauend entworfene Neue Ordnung vorzustellen, die Möglichkeit zulas- sen, dass der Kapitalismus von sich aus, von innen heraus kollabiert.

14 Der Ausdruck „marktkonform“ stammt von Angela Merkel. Die öffentliche Rhetorik der Kanzle- rin scheint bewusst konzipiert, um zu verschleiern und zu verwirren. Ihre Stellungnahme zu dem Thema vom September 2011 lautet in originalem Merkel-Sprech: „Wir leben ja in einer Demokratie und sind auch froh darüber. Das ist eine parlamentarische Demokratie. Deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments. Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestim- mung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.“

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 106 18.02.15 10:09 Wie wird der Kapitalismus enden? 107

Wir sollten – so mein Vorschlag – lernen, über ein Ende des Kapitalismus nachzudenken, ohne uns dabei die Beantwortung der Frage aufbürden zu lassen, was denn an seine Stelle treten solle. Es ist ein marxistisches – oder besser: modernistisches – Vorurteil, dass der Kapitalismus als historische Erscheinung nur dann enden könne, wenn eine neue, bessere Gesellschaft in Sicht ist – und mit ihr ein revolutionäres Subjekt, bereit und in der Lage, diese um des Fortschritts der Menschheit willen zu verwirklichen. Diese Annahme setzt ein Maß an politischer Kontrolle über unser gemeinsames Schicksal voraus, von dem wir nicht einmal mehr träumen können, seit die neoliberal-globalistische Revolution die Fähigkeit zu kollektivem Handeln, ja selbst die Hoffnung darauf, zerstört hat. Es bedarf weder der utopischen Vision einer alternativen Zukunft noch übermenschlicher Voraussicht, um auf den Gedanken zu kommen, dass der Kapitalismus seiner „Götterdämme- rung“ entgegensieht. Genau diese These gedenke ich zu begründen, auch wenn mir bewusst ist, wie oft der Kapitalismus schon früher totgesagt wurde.

Kapitalistischer Fortschritt, der seine stabilisierenden Grenzen zerstört

Tatsächlich haben, seit der Begriff in der Mitte des 18. Jahrhunderts gebräuchlich wurde, alle wichtigen Theoretiker des Kapitalismus dessen bevorstehendes Ableben vorausgesagt. Das gilt nicht nur für radikale Kri- tiker wie Marx oder Polanyi, sondern auch für bürgerliche Theoretiker wie Ricardo, Weber, Schumpeter, Sombart und Keynes.15 Dass etwas nicht eingetreten ist, obwohl es mit guten Gründen vorausge- sagt wurde, bedeutet freilich nicht, dass es niemals eintreten wird; auch hier gibt es keinen induktiven Beweis. Ich glaube, dass diesmal die Dinge anders liegen. Dafür spricht, dass nicht einmal die Oberingenieure des Systems heute eine Vorstellung davon haben, wie der Kapitalismus dazu gebracht werden könnte, wieder rund zu laufen – man lese beispielsweise die mittler- weile veröffentlichten Protokolle der Beratungen im Vorstand der amerikani- schen Zentralbank von 200816 oder denke an die – schon erwähnte – verzwei- felte Suche der Geldpolitiker nach dem richtigen Zeitpunkt zur Beendigung des quantitative easing. Doch das ist nur die Oberfläche des Problems. Tief- erliegend geht es um die Tatsache, dass der kapitalistische Fortschritt mitt- lerweile buchstäblich jede Instanz, die ihn stabilisieren könnte, indem sie ihm Grenzen setzt, mehr oder weniger zerstört hat. Die Stabilität des Kapi- talismus als sozioökonomisches System hing nämlich immer davon ab, dass seine Eigendynamik durch Gegenkräfte gezügelt wurde – durch kollektive Interessen und Institutionen, die die Kapitalakkumulation gesellschaftlichen Kontrollen unterwarfen. Das bedeutet, dass der Kapitalismus sich dadurch selbst den Boden unter den Füßen wegziehen kann, dass er zu erfolgreich ist.

15 Falls mich also der Lauf der Geschichte widerlegt, bin ich zumindest in guter Gesellschaft. 16 Siehe Gretchen Morgenson: A New Light on Regulators in the Dark, in: „New York Times“, 23.4.2014. Der Artikel beschreibt „ein verstörendes Bild einer Zentralbank, die vor jedem drohenden Desaster des Jahres 2008 im Dunkeln tappte“.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 107 18.02.15 10:09 108 Wolfgang Streeck

Ein chronisch funktionsgestörtes Gesellschaftssystem

Das Bild, das ich mir vom Ende des Kapitalismus mache – einem Ende, dem wir uns meiner Auffassung nach gegenwärtig nähern – ist das eines aus sich heraus, und ohne dass es einer funktionsfähigen Alternative bedürfte, chro- nisch funktionsgestörten Gesellschaftssystems. Zwar können wir nicht wis- sen, wann und wie genau der Kapitalismus verschwinden wird und was nach ihm kommt. Entscheidend ist aber, dass nirgendwo eine Kraft zu sehen ist, von der eine Umkehr der drei Abwärtstrends – beim Wirtschaftswachstum, der sozialen Gleichheit und der finanziellen Stabilität – und die Beendigung ihrer wechselseitigen Verstärkung zu erwarten wäre. Anders als in den 1930er Jahren zeichnet sich heute nirgendwo am Hori- zont, ob links oder rechts, eine Formel ab, welche den kapitalistischen Gesell- schaften zu einem kohärenten neuen Regulierungssystem verhelfen könnte. Sowohl die soziale wie die Systemintegration scheinen irreversibel beschä- digt und zu weiterem Niedergang verurteilt zu sein.17 Was im weiteren Ver- lauf am wahrscheinlichsten eintreten wird, ist eine kontinuierliche Akku- mulation kleiner und nicht-so-kleiner Funktionsstörungen – keine davon für sich unbedingt tödlich, die meisten aber irreparabel, und dies um so mehr, als ihre Häufung es unmöglich macht, sie je einzeln zu beheben. Je weiter dieser Prozess voranschreitet, desto weniger werden die Teile des Ganzen noch zusammenpassen; Friktionen aller Art werden sich häufen, unvorher- gesehene Auswirkungen sich ausbreiten und die Kausalzusammenhänge immer undurchsichtiger werden. Ungewissheit wird um sich greifen, Krisen jeglicher Art – Legitimations- oder Produktivitätskrisen oder beide zugleich – werden einander in schneller Folge ablösen, während Vorhersagbarkeit und Regierbarkeit weiter zurückgehen (noch weiter als schon jetzt). Schließlich und endlich werden dann die zahllosen, auf kurzfristiges Krisenmanage- ment hin konzipierten Behelfskonstruktionen unter der Last der alltäglichen Katastrophen zusammenbrechen, die ein in tiefe, anomische Unordnung abgeglittenes Gesellschaftssystem laufend produziert.

Was verstehen wir unter »Kapitalismus«?

Begreift man das Ende des Kapitalismus als Prozess statt als plötzlich ein- tretendes Ereignis, so stellt sich die Definitionsfrage: Was wollen wir unter „Kapitalismus“ verstehen? Gesellschaften sind komplexe Gebilde und sterben anders, als Organis- men sterben: Sieht man von der seltenen Ausnahme einer vollständigen Auslöschung ab, geht jede Diskontinuität stets mit einem gewissen Maß an Kontinuität einher. Wenn wir vom Ende einer Gesellschaft sprechen, meinen wir damit, dass gewisse Merkmale ihrer Organisation, die wir für Wesensmerkmale der betreffenden Gesellschaft halten, verschwunden sind.

17 Zu diesen Begriffen vgl. David Lockwood, Social Integration and System Integration, in: George Zollschan und Walter Hirsch (Hg.), Explorations in Social Change, London 1964, S. 244-257.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 108 18.02.15 10:09 Wie wird der Kapitalismus enden? 109

Andere Merkmale können durchaus überlebt haben. Um also entscheiden zu können, ob der Kapitalismus lebt, stirbt oder tot ist, schlage ich vor, ihn als eine moderne Gesellschaft18 zu definieren, die ihre kollektive Reproduk- tion als unbeabsichtigte Nebenwirkung individuell rationaler, kompetitiver Profitmaximierung zum Zweck privater Kapitalakkumulation sicherstellt – vermittels eines „Arbeitsprozesses“, der privates Kapital mit kommodifi- zierter Arbeitskraft kombiniert, um so die Mandevillesche Verheißung der Verwandlung privater Laster in öffentliche Güter wahr werden zu lassen.19 Ebendiese Verheißung, behaupte ich, kann der gegenwärtige Kapitalismus nicht mehr einlösen – womit er am Ende seiner historischen Existenz als aus eigener Kraft reproduktionsfähige, nachhaltige, vorhersagbare und legitime Gesellschaftsordnung angekommen ist. Auf welche Weise der so verstandene Kapitalismus untergehen wird, dürfte kaum irgendjemandes Blaupause folgen. Mit fortschreitendem Verfall wird er zwangsläufig politische Proteste und vielfältige Versuche kollekti- ver Intervention provozieren. Doch diese werden lange dem Aufbegehren der Maschinenstürmer ähneln: Örtlich begrenzt, verstreut, unkoordiniert, „primitiv“ werden sie die Unordnung vergrößern, ohne eine neue Ordnung schaffen zu können, bestenfalls unabsichtlich deren Zustandekommen befördernd. Man könnte meinen, dass sich im Verlauf einer lang anhaltenden Krise dieser Art immer wieder Gelegenheitsfenster für reformistisches oder revolutionäres Handeln öffnen werden. Es sieht jedoch so aus, als desorgani- siere der desorganisierte Kapitalismus nicht nur sich selbst, sondern gleich- zeitig auch seine Gegenkräfte, wodurch er diese der Fähigkeit beraubt, ihn entweder zu überwinden oder, alternativ, zu retten. Damit der Kapitalismus sein Ende findet, muss er deshalb selbst für seine Zerstörung sorgen – und genau das erleben wir heute.

1989 ff. – ein Pyrrhussieg

Doch warum sollte der Kapitalismus sich – bei all seinen Unzulänglichkei- ten – überhaupt in einer Existenzkrise befinden, wo er doch auf keinerlei Opposition mehr stößt, die den Namen verdient? Als 1989 der Kommunismus implodierte, galt das weithin als Endsieg des Kapitalismus, als „Ende der

18 Oder, mit , eine „progressive“ Gesellschaft – eine, die auf ein im Prinzip grenzenloses Wachstum ihrer Produktivität und ihres Wohlstands, gemessen am Umfang ihrer Geldwirtschaft, aus ist. 19 Andere Definitionen von Kapitalismus betonen beispielsweise die friedliche Natur des kapitalis- tischen kommerziellen Markthandelns, vgl. Albert Hirschman, Rival Interpretations of Market Society: Civilizing, Destructive or Feeble?, in: „Journal of Economic Literature“, 4/1982, S. 1463– 1484. Dies verkennt aber, dass gewaltloser „Freihandel“ typischerweise nur im Zentrum des kapi- talistischen Systems stattfindet, während in dessen historischer und geographischer Peripherie zügellose Gewalt herrscht. Zum Beispiel werden auf illegalen Märkten (Drogen, Prostitution, Waf- fen etc.), die durch private Gewalt regiert werden, enorme Summen an Geld für legale Investitionen angehäuft – eine Art primitiver Akkumulation. Außerdem gehen legitime staatliche und illegale private Gewalt oft ineinander über, nicht nur im kapitalistischen Grenzgebiet, sondern auch bei der Unterstützung des Zentrums für seine Kollaborateure an der Peripherie. Nicht zuletzt muss die staatliche Gewalt im Zentrum gegen Dissidenten und Gewerkschaften, wo diese noch Bedeutung haben, berücksichtigt werden.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 109 18.02.15 10:09 110 Wolfgang Streeck

Geschichte“. Selbst heute, nach der Erfahrung von 2008, bleibt die Alte Linke überall so gut wie bedeutungslos, während eine Neue Linke bisher kaum in Erscheinung tritt. Die Massen – die Armen und Machtlosen ebenso wie die relativ Gutgestellten – scheinen sich fest im Griff eines konsumeristischen Individualismus zu befinden, während kollektive Güter, kollektives Han- deln und kollektive Organisierung gründlich aus der Mode gekommen sind. Warum also sollte der Kapitalismus nicht einfach immer weitergehen, und sei es aus keinem anderen Grund als dem, dass ernst zu nehmende Gegenspie- ler oder Rivalen fehlen? Auf den ersten Blick spricht in der Tat viel dagegen, den Tod des Kapita- lismus auszurufen, ungeachtet aller ominösen Schriftzeichen an der Wand der Geschichte. Was die wachsende Ungleichheit angeht, so gewöhnen die Menschen sich möglicherweise an sie, besonders bei kombinierter Nachhilfe durch öffentliche Unterhaltung und politische Repression. Im Übrigen häufen sich die Fälle, in denen Regierungen wiedergewählt werden, die Sozialaus- gaben gekürzt und öffentliche Dienste privatisiert haben, um den Eigentü- mern von Geld einen stabilen Geldwert bieten zu können. Und die Umwelt- zerstörung schreitet zwar fort, an der menschlichen Lebensspanne gemessen aber nur langsam, so dass man sie leugnen und gleichzeitig lernen kann, mit ihr zu leben. Technische Fortschritte, mit denen sich Zeit kaufen lässt – wie beispielsweise das Fracking – sind niemals ausgeschlossen. Und falls es für die pazifizierende Kraft des Konsumerismus überhaupt Grenzen gibt, schei- nen wir ihnen jedenfalls noch nicht sehr nah gekommen zu sein. Darüber hinaus kann die Anpassung an immer zeit- und lebensraubendere Arbeits- regime auch als eine Art sportliche Herausforderung empfunden werden, als eine Gelegenheit, die eigene Leistungsfähigkeit zu erproben. Kulturelle Definitionen des Guten Lebens sind immer höchst dehnbar gewesen und könnten sich, im Gleichschritt mit der fortschreitenden Kommodifizierung, noch weiter dehnen lassen, zumindest so lange, wie politisch radikale oder religiöse Gegenströmungen gegen die kapitalismusgemäße Umerziehung sich unterdrücken, lächerlich machen oder auf andere Weise marginalisie- ren lassen. Und schließlich beziehen sich die meisten Stagnationstheorien dieser Tage nur auf den Westen oder gar nur auf die Vereinigten Staaten, nicht aber auf China, Russland, Indien oder Brasilien – Länder mit riesigen Flächen unberührten Landes, die nur darauf warten, dem kapitalistischen Fortschritt erschlossen zu werden und in die sich die vorderste Front des Wirtschaftswachstums möglicherweise schon bald verlagern wird.20 Meine Antwort auf all diese Einwände lautet, dass es für den Kapitalismus eher eine Last als ein Vorteil sein könnte, keine Opposition mehr zu haben. Gesellschaftssysteme profitieren von interner Heterogenität – von einer Plu-

20 Allerdings sind aktuelle Einschätzungen ihrer wirtschaftlichen Leistung und Zukunft weniger optimistisch als noch vor zwei oder drei Jahren. In letzter Zeit wich der euphorische „BRICS“-Dis- kurs besorgten Zweifeln an den wirtschaftlichen Aussichten der „Fragilen Fünf“ (Türkei, Brasilien, Indien, Südafrika und Indonesien, in: „New York Times“, 28.1.2014). Auch Berichte über wachsende Probleme im chinesischen Kapitalismus werden häufiger und verweisen u.a. auf die ausgedehnte Verschuldung örtlicher und regionaler Regierungen. Seit der Krimkrise erfahren wir außerdem mehr über die strukturellen Schwächen der russischen Wirtschaft.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 110 18.02.15 10:09 Wie wird der Kapitalismus enden? 111

ralität von Organisationsprinzipien die sie davor bewahrt, sich ganz und gar einem einzigen Zweck zu widmen, unter Verdrängung anderer Zwecke, die gleichfalls realisiert werden müssen, wenn die Gesellschaft überlebensfähig sein soll. Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, hat immer großen Nutzen aus der Präsenz von Gegenkräften gegen eine Alleinherrschaft des Pro- fits und des Marktes gezogen. Sozialismus und Gewerkschaftsbewegung haben, indem sie der Kommodifizierung Grenzen setzten, den Kapitalismus davor bewahrt, seine nichtkapitalistischen Grundlagen zu zerstören – Ver- trauen, guten Glauben, Altruismus und Solidarität innerhalb von Familien und Gemeinschaften, etc. Unter Keynesianismus und Fordismus konnte der Kapitalismus sich darauf verlassen, dass seine mehr oder weniger loyale Opposition ihm, insbesondere in Rezessionszeiten, die nötige Gesamtnach- frage sicherte und stabilisierte. Wenn die Umstände günstig waren, konnte eine organisierte Arbeiterklasse sogar als Produktivitätspeitsche fungieren, indem sie das Kapital zwang, fortschrittlichere Produktionsverfahren einzu- führen. In diesem Sinne hat Geoffrey Hodgson argumentiert, dass der Kapi- talismus nur so lange überleben könne, wie er nicht völlig kapitalistisch ist – wie er sich und die Gesellschaft, die er bewohnt, nicht gänzlich von „not- wendigen Unreinheiten“ befreit hat.21 So gesehen könnte der Sieg des Kapi- talismus über seine Widersacher sich als Pyrrhussieg erweisen, weil er ihn von ebenjenen Gegenkräften befreite, die ihm zwar gelegentlich unbequem, tatsächlich aber seiner Fortexistenz stets dienlich gewesen waren.

Der zweite Teil des Beitrags folgt in der April-Ausgabe.

21 „Jedes sozio-ökonomische System benötigt mindestens ein strukturell verschiedenes Subsystem, damit es funktionieren kann. Es muss immer eine koexistente Pluralität von Produktionsweisen geben, damit die soziale Formation als Ganze die notwendige strukturelle Vielfalt aufweist, um Ver- änderungen zu bewältigen.“ Geoffrey M. Hodgson, The Evolution of Capitalism from the Perspective of Institutional and Evolutionary Economics, in: Geoffrey M. Hodgson u.a. (Hg.), Capitalism in Evo- lution: Global Contentions, East and West, Cheltenham 2001, S. 71 ff. Für eine weniger funktionalis- tische Formulierung derselben Idee vgl. mein Konzept der beneficial constraints: Beneficial Cons- traint: On the Economic Limits of Rational Voluntarism, in: Rogers Hollingsworth und Robert Boyer (Hg.), Contemporary Capitalism: The Embeddedness of Institutions, Cambridge 1997, S. 197–219.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 111 18.02.15 10:09 Der Vormarsch der Robokraten Silicon Valley und die Selbstabschaffung des Menschen

Von Thomas Wagner

urz nach der Jahrtausendwende fielen dem Philosophen Jürgen Haber- K mas „merkwürdige Sachbuchautoren“ auf, „die den Menschen aus Fleisch und Blut zum Auslaufmodell“ erklären.1 Diese provozierten ein „gat- tungsethisches Selbstverständnis“, das mit dem normativen Selbstverständ- nis selbstbestimmt lebender und verantwortlich handelnder Personen nicht mehr in Einklang gebracht werden kann. Nur wenige Jahre später holt sich ein mit der digitalen Zukunft Großbritanniens befasster Ausschuss des Ober- hauses ausgerechnet bei einem dieser Autoren Rat.2 Am 22. Juli 2014 wurde dort ein gewisser Nick Bostrom über das Szenario der Ablösung der Mensch- heit durch eine kommende Computerzivilisation befragt. In seinem ein Jahr zuvor in englischer Sprache erschienenen Buch „Super- intelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution“ zeigt sich der Professor von der Universität Oxford davon überzeugt, dass mit eigenem Willen ausge- stattete Computer zu den größten existenziellen Risiken gehören, mit denen die Menschheit in diesem Jahrhundert zu rechnen habe – gefährlicher noch als Atomwaffen. Das größte Potential zur Entwicklung einer künstlichen Superintelligenz sieht er in der Steigerung der Rechengeschwindigkeit der Prozessoren. Hätte diese erst einmal das menschliche Niveau erreicht, wären die Computer in der Lage, sich ohne Zutun des Menschen mit immer höherer Geschwindigkeit selbst weiterzuentwickeln. Voraussagen über das künftige Geschehen, insbesondere über das Schicksal der Menschheit, seien dann nicht mehr möglich. Für wann er das Eintreten dieser „Intelligenzexplosion“ – andere sprechen von „technologischer Singularität“ – erwartet, lässt Bos- trom offen. Der von dem Erfinder, Unternehmer, Bestsellerautor und Google- Chefingenieur Ray Kurzweil popularisierte Begriff der „technologischen Singularität“ bezeichnet jenen Zeitpunkt, ab dem Maschinen infolge der Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz ein eigenes Bewusstsein erlan- gen und sich ohne Zutun des Menschen selbst verbessern können.

* Der Text fasst Analysen des neuen Buches des Autors, „Robokratie. Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell“, zusammen, das dieser Tage im Papyrossa Verlag erscheint. 1 Jürgen Habermas, Die Zukunft der Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a. M. 2002, S. 75. 2 Vgl. House of Lords, The Select Committee on Digital Skills: Inquiry on Digital Skills. Evidence Session No. 3, Heard in Public. Questions 26-39. Im März 2015 will der Ausschuss seinen Bericht vorlegen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 112 18.02.15 10:09 Der Vormarsch der Robokraten 113

Für die Zeit danach sieht Bostrom, der zu den Gründungsvätern und starken Fürsprechern der transhumanistischen Weltbewegung zählt, jedoch schon jetzt zwei grundverschiedene Entwicklungsmöglichkeiten: Die Technolo- gien könnten entweder eine posthumane Ära einleiten, in der der mensch- liche Geist auf eine neue Stufe gehoben wird, oder aber eine Katastrophe auslösen, in deren Verlauf die Menschheit ausgelöscht wird. So wie das Schicksal der Gorillas heute stärker von den Menschen abhänge als von den Gorillas selbst, „so hinge das Schicksal unserer Spezies von den Handlungen dieser maschinellen Superintelligenz ab“, schreibt Bostrom. Trotz der von ihm benannten Gefahren ist er kein Gegner der Entwicklung superintelligenter Maschinen. Zum einen weil er glaubt, dass der technolo- gische Fortschritt einer Eigendynamik folgt, die nicht gestoppt werden kann. Zum anderen weil er es für möglich hält, mit Hilfe superintelligenter Roboter gleichsam paradiesische Zustände zu schaffen. Dafür gelte es im Hier und Jetzt die Weichen zu stellen.

Leitidee des Silicon Valley: Auf den Spuren Gottes

Der prominenteste Prophet der künftigen Maschinenherrschaft ist Ray Kurz- weil. Er sagt den Zeitpunkt, an dem superintelligente Maschinen befähigt sein werden, sich selbst weiterzuentwickeln, schon für die Mitte dieses Jahr- hunderts voraus. Zu diesem Zeitpunkt technologischer Singularität werde es auch möglich sein, dem menschlichen Geist durch das Hochladen in die Cloud ewiges Leben in einer nichtbiologischen Form zu ermöglichen. Kurzweils Vorhersagen gründen auf der Annahme, dass sich die Komplexi- tät der Computerchips wie in den vergangenen Jahren etwa alle anderthalb bis zwei Jahre verdoppeln werde. Diese Regel ist unter der Bezeichnung „Mooresches Gesetz“ bekannt. Der Elektronikpionier Gordon Moore hatte in den 1960er Jahren eine entsprechende Prognose abgegeben, die sich bis heute erfüllt hat. Für die unmittelbar bevorstehende Zukunft sieht Kurzweil voraus, dass sich das Tempo des wissenschaftlichen Fortschritts in den Bereichen Genfor- schung, Nanotechnologie, künstliche Intelligenz und Robotik überschlagen wird. Einer transbiologischen Phase, in der nichtbiologische Intelligenz noch tief in biologischer Intelligenz verwurzelt sei, folge eine postbiologische, in der das Universum erobert werden könne. Schließlich werde die von Men- schen erschaffene Intelligenz das gesamte Weltall durchdringen. Letztlich geht es um die Gottwerdung des Menschen mittels Technologie. „Wenn wir die gesamte Materie und Energie des Weltalls mit unserer Intelligenz gesättigt haben, wird das Universum erwachen, bewusst werden – und über phantastische Intelligenz verfügen. Das kommt, denke ich, Gott schon ziem- lich nahe.“3 Spätestens mit diesen Äußerungen wird klar, wobei es sich bei der vermeintlich auf rein wissenschaftlicher Erkenntnis fußenden Idee der

3 Ray Kurzweil, Menschheit 2.0. Die Singularität naht, Berlin 2013, S. 385.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 113 18.02.15 10:09 114 Thomas Wagner

Singularität in Wirklichkeit handelt: um die Leitidee einer neuartigen reli- giösen Bewegung. Die meisten Anhänger hat der Gedanke der kommenden Roboterherr- schaft bei Unternehmern, die seit mehreren Jahren mit einigem Erfolg versu- chen, die Welt vom kalifornischen Silicon Valley aus mit digitalen Geschäfts- ideen zu erobern. In seiner am 12. Oktober gehaltenen Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sagte der Softwareent- wickler und Autor Jaron Lanier: „Innerhalb der winzigen Elite der Milliar- däre, die die Cloud-Computer betreiben, herrscht der laute, zuversichtliche Glaube, dass die Technologie sie eines Tages unsterblich machen wird.“4 Im Silicon Valley haben sich solche Ideen zu einer Art unternehmerischem Leit- bild entwickelt, meint Springers Vizepräsident Christoph Keese.5 Wer die Investitionsentscheidungen von Google und anderen Großkonzernen verste- hen wolle, tue gut daran, sich mit dem dort weitverbreiteten Singularitäts- denken zu befassen. Für Kurzweil war die Vorhersage technologischer Entwicklungen der Grundstein für den eigenen Erfolg als Unternehmer. Der Konstrukteur eines nach ihm benannten Synthesizers und eines Lesegeräts für Blinde war sehr erfolgreich damit, seine Produkte genau zur richtigen Zeit auf den Markt zu werfen. Die von den Ökonomen Carl Shapiro und Hal R. Varian in dem bereits 1999 erschienenen Buch „Information rules“ beschriebene Internetökono- mie befördert Netzwerkeffekte, die sich durch ein explosives Wachstum aus- zeichnen. Im Silicon Valley haben fast nur noch solche Geschäftsideen eine Finanzierungschance, für die eine Bewertung in Milliardenhöhe in Aussicht steht. Wenn der Fonds eines Venture-Kapitalisten eine Milliarde US-Dollar in zehn Start-ups investiere, gehen, so Keese, davon allein 900 Millionen durch die statistisch erwartbaren Fehlschläge verloren. Mit den verbliebenen 100 Millionen müssten dann in zehn Jahren zwei Milliarden verdient wer- den, um die angestrebte Verdoppelung des ursprünglich eingesetzten Kapi- tals zu ermöglichen. „Da ein einzelner Fonds aber niemals die ganze Firma besitzt, sondern vielleicht 20 Prozent, müssen diese 20 Prozent zwei Milliar- den abwerfen. Also muss die Bewertung von 100 Prozent der Firma 10 Mil- liarden betragen.“ Ganz besonderer Ehrgeiz gehöre daher zu den wichtigs- ten Kriterien, die Investoren anlegten, wenn sie sich die Idee für ein Start-up anschauten. In der Branchensprache heißt das „Shooting for the Moon“. Bei Start-up-Gründern und Risikokapitalgebern befördert diese Investorenstra- tegie, die bei Unternehmen wie Google, Facebook und einigen anderen funk- tionierte, eine „besondere Form von Größenwahnsinn“, so Keese. Es ist kein Zufall, dass in diesem ökonomischen Umfeld die Nichts-ist-un- möglich-Philosophie der Singularitätsbewegung auf fruchtbaren Boden fällt. In Think Tanks, an privaten Hochschulen, Forschungs- und Lehreinrichtun- gen wird sie von Studierenden sowie Führungskräften aus Wirtschaft und

4 Jaron Lanier, Für einen neuen Humanismus. Wie wir der digitalen Entrechtung entkommen, in: „Blätter“, 11/2014, S. 43-58. 5 Vgl. Christoph Keese, Silicon Valley. Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, Mün- chen 2014, S. 271.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 114 18.02.15 10:09 Der Vormarsch der Robokraten 115

Politik regelrecht eingeübt. Hierhin gehören Organisationen der transhuma- nistischen Bewegung wie Humanity+ sowie Projekte von Superreichen wie die 2045 Initiative des russischen Milliardärs Dmitri Itzkow.

Think Tanks und Universitäten: Roboterherrschaft auf dem Lehrplan

Die bekanntesten Einrichtungen sind jedoch das von Nick Bostrom gegrün- dete Future of Humanity Institute (FHI) an der Oxford University, das 2000 noch unter dem Namen Singularity Institute gegründete Machine Intelli- gence Research Institute (MIRI) sowie die im September 2008 von Ray Kurz- weil und Peter H. Diamandis auf dem NASA-Campus im Silicon Valley mit maßgeblicher Unterstützung von Google ins Leben gerufene Singularity Uni- versity. Die private Lehranstalt erhielt von Anfang an die Unterstützung des tech- nologisch-militärischen Komplexes der USA. Simon Worden, ein Air-Force- General im Ruhestand, der das Nationale Zentrum für Weltraumforschung im kalifornischen Mountain View leitet, vermittelte die Räumlichkeiten. Kern ist ein zehnwöchiges Schulungsprogramm für 80 Universitäts-Absol- venten, das 2009 gestartet wurde und für das sich jährlich zwischen 3000 und 4000 Interessenten aus aller Welt bewerben sollen. Nachdem sie sich für 30 000 Dollar fünf Wochen lang Vorlesungen von Leuten wie Kurzweil, Diamandis, Google-Chef Larry Page oder Wired-Mitbegründer Kevin Kelly angehört haben, arbeiten die Teilnehmer in fünf- bis sechsköpfigen Teams an Geschäftsideen, die innerhalb von zehn Jahren einer Milliarde Menschen helfen und die Grundlage für ein Start-up bilden sollen. Bei der Finanzierung helfen die vier- und sechstägigen Kurse für CEOs, Unternehmer, Hedgefondsmanager und Risikokapitalgeber. 12 000 Dollar muss bezahlen, wer an so einem Workshop teilnehmen will. Seit 2012 inves- tiert die Einrichtung in die Start-ups der eigenen Absolventen. Alljährlich richtet sie eine Konferenz aus, die jedes Mal an einem anderen Ort stattfin- det; zuletzt am 19. und 20. November 2014 in Amsterdam – die Eintrittskarte kostete 2000 Euro. Den rund 15 Vorträgen über Themen wie disruptive Inno- vation, die Zukunft der Medizin, 3-D-Drucker, den technologisch zu errei- chenden Überfluss sowie Robotik und künstliche Superintelligenz war ein äußerst aggressives Motto vorangestellt: „Disrupt or be Disrupted“, was so viel heißt wie: „Zerstöre – oder werde zerstört.“ Zu den Unterstützern der Singularity University gehört der Facebook- Investor und PayPal-Gründer Peter Thiel. In einer 2014 in Deutschland für das Wirtschaftsbuch des Jahres nominierten Schrift singt er das Loblied auf marktbeherrschende Konzerne wie Google, die mit Hilfe ihrer ökono- mischen Mittel technologische Entwicklungen in Gang setzen, „die unsere Vorstellungskraft übersteigen“.6 Seine Zukunftsszenarien entlehnt er den einschlägigen Studien von Bostrom und Kurzweil. Wie die künftige Singu-

6 Peter Thiel, Zero to one. Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet, Frankfurt a. M. und New York 2014, S. 190.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 115 18.02.15 10:09 116 Thomas Wagner

larität genau aussehen wird, sei „weniger entscheidend als die krasse Wahl zwischen den beiden wahrscheinlichsten Szenarien, vor der wir heute ste- hen: nichts oder etwas.“

Demokratie als veraltete Technologie

Die Demokratie dagegen hat für Thiel ausgedient. „Zwischen Politik und Technologie wird ein Kampf auf Leben und Tod ausgetragen […]. Das Schick- sal unserer Welt liegt vielleicht in den Händen eines einzelnen Menschen, der den Mechanismus der Freiheit erschafft oder verbreitet, den wir brau- chen, um die Welt zu einem sicheren Ort für den Kapitalismus zu machen“, schreibt er in seinem Aufsatz „The Education of a Libertarian“.7 Und mit sei- nem Founders Fund unterstützt er das Seasteading Institute, das 2008 der ehemalige Google-Mitarbeiter, Humanity+-Vorstandsmitglied und Milton- Friedman-Enkel Patri Friedman sowie Randolph Hencken in Kalifornien gründeten. Das Institut will schwimmende Inselstaaten fernab der US-ame- rikanischen Küste gründen, um mit neuen Gesellschafts- und Staatsformen zu experimentieren. Abgeschottet von den sozialen Konflikten auf dem Fest- land wollen sie dem „aufgeblähten Wohlfahrtsstaat“ und dem wachsenden „Einfluss der Regierung“ etwas entgegensetzen, ließ Hencken vernehmen.8 Die Demokratie habe zwar das Leben von Milliarden Menschen verbessert, sei aber „eine 230 Jahre alte Technologie“. Und mit „Technologien sollte man doch experimentieren“, sekundiert Friedman.9 Der gleichen Experimentierlust entspringt ein Vorschlag von Justine Tunney, die in den USA als Aktivistin von Occupy Wall Street zu einiger Bekanntheit gelangte und heute als Software-Ingenieurin für Google arbei- tet. Sie sprach sich Anfang 2014 überraschend dafür aus, Eric Schmidt, dem Verwaltungsratschef ihres Unternehmens, das höchste politische Amt der USA anzutragen. Man solle ein Referendum anstrengen, um Barack Obama und seine Regierungsbeamten bei voller Pension in den Ruhestand zu schi- cken.10 Für sie ist das Silicon Valley das Vorbild für eine „postkapitalisti- sche“ Welt und Google eine „wohltätige Firma“, die an der Weltverbesse- rung arbeitet. In den Führungsetagen von Google, Facebook, Amazon und Co. ist man überzeugt, dafür das Handwerkszeug bereitzustellen: „Nur durch Technik, die Leistung und Kosten um ganze Größenordnungen verbessert, können wir die Probleme der heutigen Gesellschaft – wie Armut, Krankheit und Umweltverschmutzung – lösen“,11 schreibt Ray Kurzweil. Die gesellschaft- liche Aushandlung von Konflikten – das heißt: die Politik – erscheint im Zei- chen einer künftigen Singularität dagegen als überflüssig, die Demokratie

7 Zit. nach George Packer, Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika, Frankfurt a. M. 2014, S. 453 f. 8 Vgl. „Süddeutsche Zeitung“, 23.1.2014. 9 Vgl. „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 7.9.2009. 10 Vgl. FAZ, 29.3.2014. 11 Kurzweil, a.a.O., S. 381 f.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 116 18.02.15 10:09 Der Vormarsch der Robokraten 117

als überholt. Darin sind sich ultraliberale Unternehmer und ehemalige Occu- py-Wall-Street-Aktivisten einig. Zudem basiert die kalifornische Ideologie auf zwei Grundüberzeugungen, die Rechte wie Linke in den USA verbindet: Sie glauben, dass der Einsatz neuer Technologien der Königsweg zur Welt- verbesserung und dass der Staat die Ursache allen Übels sei.

Politik als Betriebssystem

Bei der unter vielen Netzpolitikern aus allen politischen Parteien beliebten Idee, die Demokratie durch ein neues „Betriebssystem“ verbessern zu kön- nen, handelt es sich um eine stark abgeschwächte Variante des Postulats, Politik durch Technologie ersetzen zu können. Interessanterweise ist der hierzulande wohl glühendste Anhänger der Idee von der kommenden Robo- terherrschaft seit 2011 in der Piratenpartei engagiert. Es handelt sich um den Physiker Bernd Vowinkel, der sich in seinem bereits 2006 veröffentlichten Buch „Maschinen mit Bewusstsein“ davon überzeugt zeigt, dass die Men- schen schon bald die Möglichkeit erlangen, „mit der künstlichen Intelligenz bewusstes Leben zu schaffen, das uns in jeder Hinsicht überlegen ist“.12 Für das Gemeinwesen gefährlicher als diese hierzulande noch als absei- tig empfundene Auffassung ist die von den Piraten und Netzpolitikern aller Parteien betriebene Engführung der Demokratiediskussion auf die Frage, wie durch eine bestimmte Software mehr Beteiligung erreicht werden kann. Demokratie lässt sich jedoch nicht auf Verfahrensfragen reduzieren. Damit sich alle Staatsbürger an ihr beteiligen können, müssen vielmehr auch bestimmte gesellschaftliche Bedingungen erfüllt sein. So dürfen die sozia- len Unterschiede zwischen den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu groß sein. Damit ist ein zentraler Inhalt demokratischer Politik gesetzt: Die Beseitigung von Machtasymmetrien, die durch kapitalistische Eigentumsverhältnisse blockiert wird. Wer die Demokratiediskussion indes auf Verfahrensfragen beschränkt, bekommt diesen Zusammenhang nicht in den Blick und gerät in Gefahr, einem technizistischen Politikverständnis Vorschub zu leisten. Am Horizont zeichnet sich eine Zukunft ab, in der Politik vollständig durch sozialtechnologische Maßnahmen ersetzt worden ist. Voraussetzung dafür wäre die flächendeckende Bestückung der Oberfläche des Planeten mit Sensoren, wie sie in den IT-Konzernzentralen ausgeheckt und mit großen Schritten vorangetrieben wird. Mit intelligenten Kühlschränken, kommuni- zierenden Fernsehern, Smartphones, selbstfahrenden Autos, sogenannten Wearables, die Körperfunktionen messen, und vielen anderen Gerätschaf- ten baut die Hightech-Industrie den Menschen ein Lebensumfeld, in dem schon sehr bald buchstäblich jede ihrer Bewegungen aufgezeichnet werden kann. Mit Hilfe von Algorithmen können dann Konzerne, Geheimdienste, das Militär und Regierungen diese Daten auswerten. Tatsächlich zeichnet sich schon jetzt unter dem Stichwort „Reality Mining“ (Nathan Eagle/Kate

12 Bernd Vowinkel, Maschinen mit Bewusstsein – Wohin führt die künstliche Intelligenz?, Weinheim 2006, S. VIII.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 117 18.02.15 10:09 118 Thomas Wagner

Green) eine neue Ära manipulativer Sozialtechnologien ab. So will Alex Pentland, der Direktor des Human Dynamics Laboratory am Massachusetts Institute of Technology (MIT), die enormen Datenmengen, die schon heute über das menschliche Verhalten gesammelt werden, für die gezielte Steu- erung der Bevölkerung nutzbar machen. Durch die neue Technologie werde es möglich, die Gesellschaft gleichsam mit dem Auge Gottes zu betrachten, dem bekanntlich kein Detail entgeht. Die Auswertung digitaler Daten soll sich für die Vorhersage von Finanzblasen und von Revolutionen eignen, wel- che, je nach Interessenlage, durch rechtzeitig eingesetzte Maßnahmen der Aufstandsbekämpfung eingedämmt oder durch geeignete verdeckte Aktio- nen beschleunigt werden können.13

Singularitätsideologen als Sicherheitsberater

Gemeingefährlich wird es, wenn sich sogenannte politische Entscheidungs- träger von den Predigern der kommenden Roboterherrschaft beeindrucken lassen. Von Nick Bostroms Auftritt vor dem britischen Oberhaus war bereits zu Anfang die Rede. Sein Future of Humanity Institute wird nach eigenen Angaben zudem vom britischen Unterhaus, vom Büro des Premierministers sowie vom US-State-Department konsultiert. Als Berater in Fragen von Wis- senschaft und Technik ist für den britischen Premier und den US-Präsiden- ten außerdem Eric Schmidt tätig, der Verwaltungsratschef von Google, also jenes Konzerns, dessen führende Repräsentanten zu den wichtigsten Förde- rern der Singularitätsbewegung gehören. Ray Kurzweil wiederum, der als Chefingenieur die Intelligenz von Googles Suchmaschine verbessern soll, hat als eines von fünf Mitgliedern der Army Science Advisory Group (Asag) das Pentagon bei der Auswahl von Forschungsprioritäten in technologischen Fragen beraten. Zudem kooperierte er mit den US-Streitkräften in Sachen Bekämpfung des Bioterrorismus. Er ist Verfechter einer aggressiven Sicher- heitsdoktrin, die den militärischen Erstschlag als geeignetes Mittel der Risi- kominimierung propagiert: Über „Präventivschläge gegen Terroristen mit Zugang zu Massenvernichtungswaffen oder Schurkenstaaten, die solche Terroristen unterstützen“, schreibt er, dass „ihre potentielle Notwendigkeit“ nicht zu leugnen sei. Die größte Gefahr bestehe jedoch darin, „dass sich Sys- teme, die viel gescheiter sind als wir, gegen uns wenden“. Gleichwohl hält Kurzweil die Entwicklung solcher Systeme nicht nur für unvermeidlich, son- dern will sie nach Kräften vorantreiben. Denn mit ihrer Hilfe hofft er, buch- stäblich unsterblich zu werden. Beeinflusst haben Kurzweil und andere Singularitäts-Propheten den in Stanford lehrenden Archäologen und Historiker Ian Morris, dessen letzte zwei Bücher weltweite Bestseller wurden und viel Kritikerlob erfuhren. Dabei münden beide in dem Ausblick, die Menschen seien dabei, „Teil von etwas zu werden, das vom Homo sapiens so weit entfernt ist, wie wir es von

13 Alex Pentland, Social Physics. How good Ideas spread – The Lessons from a new Science, New York 2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 118 18.02.15 10:09 Der Vormarsch der Robokraten 119

unseren einzelligen Urahnen sind“.14 Er hofft auf den Beginn des Zeitalters des „ersten postbiologischen Mensch-Maschine-Wesens“.15 Denn: „Eine sich selbst vervollkommnende Singularität wäre das Ende der Biologie, wie wir sie kennen – und damit auch das Ende von Faulheit, Angst und Gier als Motoren der Geschichte.“ Schritte in diese Richtung würden längst gegangen, „zumindest nehmen Regierungen und Militärs diese Aussichten so ernst, dass sie mit entspre- chenden Planungen begonnen haben“, schreibt Morris, der nach eigenem Bekunden bei Besuchen auf dem Luftwaffenstützpunkt Creech Airforce Base in Nevada sowie dem Trainingszentrum der US-Army im kalifornischen Fort Irwin auf Tuchfühlung mit den US-Streitkräften gegangen ist. Zudem hat er auf Einladung von Mat Burrows, dem Berater des Chefs des amerikanischen Geheimdienstes NSA, und von Banning Garret, dem Leiter der Strategic Foresight Initiative im Atlantic Council, Vorträge gehalten und an Beratun- gen dieser Organisationen im Silicon Valley teilgenommen. Dokumentiert ist der in militärischen Kreisen gepflegte Glaube an die kommende Superintelligenz in der 2011 veröffentlichten „Joint Doctrin Note“ des britischen Verteidigungsministeriums. Dort heißt es: „Wahre künstliche Intelligenz, durch die eine Maschine eine ähnliche oder größere Fähigkeit besitzt, wie ein Mensch denken zu können, wird zweifellos die Spielregeln vollständig verändern, nicht nur im militärischen Bereich, sondern in allen Aspekten des modernen Lebens.“16 In „mehr als fünf und weniger als 15 Jah- ren“ soll dieser Zeitpunkt erreicht werden. Sicherheitsexperten wie der ehemalige Vizechef der European Defence Agency, Hilmar Linnenkamp, und Marcel Dickow von der Stiftung Wissen- schaft und Politik (SWP), warnen, mit der Einführung von Kampfrobotern „begäbe sich die Kriegsführung auf einen abschüssigen Weg, der – technisch bedingt – zwangsläufig im automatischen Einsatz tödlicher Mittel endet.“17 In der Tat genügt ein Blick in die Geschichte, um schlimmste Befürchtun- gen zu wecken: Im Zusammenhang mit militärischen Projekten hat die scien- tific community in der Vergangenheit mehr „Vernichtungswissen“ produziert als darüber, wie ein besseres Leben möglich wird. Das beste Beispiel dafür ist die Entwicklung atomarer, chemischer und biologischer Waffen. Fast scheint es, als sei diese Forschungspraxis in der Vorstellung von der Ablösung des Menschen durch superintelligente Maschinen nun zu sich selbst gekommen. In der Wissenschaft, der Industrie und in der Militärpolitik sind somit Denkweisen auf dem Vormarsch, die den Menschen als Maschine betrach- ten. All jene, die nicht darauf beharren, dass „der Mensch keine Maschine ist“ (Joseph Weizenbaum), leisten jedoch einer gesellschaftlichen Entwick- lung Vorschub, in deren Verlauf sich der Mensch selbst abschaffen würde.

14 Ian Morris, Krieg. Wozu er gut ist, Frankfurt a. M. und New York 2013, S. 465. 15 Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, Frank- furt a. M. und New York 2011. 16 Zit. nach Noel Sharkey, Die Automatisierung der Kriegsführung, in: Peter Strutynski (Hg.), Töten per Fernbedienung. Kampfdrohnen im weltweiten Schattenkrieg, Wien 2013, S. 153. 17 Marcel Dickow und Hilmar Linnenkamp, Killing Drones. Ein Plädoyer gegen die fliegenden Auto- maten, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), High-Tech-Kriege. Frieden und Sicherheit in Zeiten von Drohnen, Kampfrobotern und digitaler Kriegsführung, Berlin 2013, S. 66 f.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 119 18.02.15 10:09 120 Thomas Wagner

Expansion nach Europa

Einst ließ die Beobachtung, dass Naturwissenschaftler und Techniker, die bei der Entwicklung und Propagierung potentiell hochgefährlicher Projekte wie der Nutzung von Atomenergie erheblichen Einfluss hatten, „Technokra- tie“ zu einer Bezeichnung für fragwürdige Positionen im Hinblick auf Fragen der Produktivkraftentwicklung werden. Weil es den Anhängern der Idee der Maschinenherrschaft nicht um eine bessere Naturbeherrschung durch den Menschen für den Menschen geht, sondern um dessen Selbstabschaffung, könnte man hier statt von Technokratie von Robokratie sprechen. Die eigentliche Gefahr besteht derzeit allerdings weniger in der sehr unwahrscheinlichen Entwicklung von Maschinen mit eigenem Bewusstsein, sondern darin, dass die Robokraten von den wirklich relevanten gesellschaft- lichen Problemen und Widersprüchen, ihren Ursachen und realistischen Lösungswegen ablenken – und dass sie der Demokratie selbst erheblichen Schaden zufügen. Darüber hinaus ist zwar nicht davon auszugehen, dass Maschinen in absehbarer Zeit die Menschheit werden vernichten wollen, doch birgt die Verselbstständigung informationstechnologischer Prozesse im Zeichen zunehmender Vernetzung unter Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz zwischen Konzernen und Staaten ein immer schwerer einzuschätzendes Risiko von nicht beabsichtigten Kettenreaktionen. Je mehr beispielsweise Energieversorgung und die Transportinfrastruktur von menschlicher Kon- trolle abgekoppelt werden, desto größer wird bei unbemerkten Fehlern die Gefahr katastrophaler Folgen. Dass die Anhänger der Roboterherrschaft hierzulande noch auf vergleichs- weise wenig Resonanz stoßen, hat sicher damit zu tun, dass die Start-up-Kul- tur hier noch „nicht sehr weit entwickelt“ ist, so Hal R. Varian am 25. August 2014 im Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Er ist zum Chefökonomen von Google avanciert und bemüht sich bereits, diese Ideologie nach Europa zu exportieren: „Wir haben einen Venture-Capital- Fund in Höhe von 100 Millionen Dollar aufgesetzt, mit dem wir in europä- ische Unternehmen investieren wollen. [...] Dabei kann es um alle möglichen großartigen Ideen oder Technologien gehen.“ Offenbar sind die Robokraten also längst dabei, auch bei uns Fuß zu fassen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 120 18.02.15 10:09 BUCH DES DES MONATS

Die zarenlose, die schreckliche Zeit? Von Achim Engelberg

Über Orlando Figes‘ 1996 erschienenes Werk „Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924“ schrieb der höchst sachkundige Eric Hobsbawm, es „wird mehr zum Verständnis der Russischen Revolution beitragen als irgendein anderes Buch, das ich kenne“. Nach weiteren groß angelegten Studien wie „Die Flüsterer“ über die Stalinzeit, in denen Figes nicht nur alte Quellen neu deutete, sondern viele neue erschloss, gibt er nun mit „Hundert Jahre Revolution“ einen überaus lesenswerten, kompakten Überblick über Russland im 20. Jahrhundert, der als luzide Vorgeschichte der heutigen Krise gelesen werden kann. Der Autor unterteilt die 100 Jahre in drei Phasen. Er beginnt mit der Hungersnot von Orlando Figes, Hundert Jahre Revo- 1891, wobei er sich auch auf Trotzki als bedeu- lution. Russland und das 20. Jahrhun- dert. Aus dem Engl. von Bernd Rullkör- tenden Akteur wie Chronisten beruft (im ter, Hanser Berlin 2015, 384 S., 26 Euro. Gegensatz zu seinem britischen Landsmann Robert Service, der diesen in seiner Biogra- phie nicht kritisch analysiert, sondern lediglich diffamiert). Nach Trotzkis Ansicht reichen objektive Umstände – etwa bedrängendes menschliches Elend – für eine revolutionäre Gärung allein nicht aus, daneben bedarf es sub- jektiver Faktoren, das heißt besonderer Ereignisse und des Verhaltens Einzel- ner, damit es zum Aufstand kommt. Weder das Elend des Landlebens noch die zahlenmäßig geringe Arbeiterbewegung oder Abspaltungstendenzen an den Rändern des russischen Reiches führten denn auch laut Figes zwingend in ein revolutionäres Zeitalter, sondern erst die Weigerung des Zaren, Kompro- misse zu schließen. Der Lauf der Dinge wurde entscheidend geprägt durch den „Konflikt zwischen einer dynamischen öffentlichen Kultur und einer ver- knöcherten Autokratie, die den politischen Forderungen der Allgemeinheit nicht entgegenkam oder sie auch nur verstand“. So verbindet Figes Struktur- geschichtliches (den Beginn der modernen kapitalistischen Welt in Russland) und Ideengeschichtliches (wie etwa der Westen und seine neuen Ideen zum Leitbild der Intelligenzija wurden) mit agierenden Personen: Schockierend

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 121 18.02.15 10:09 122 Buch des Monats

wirkte die russische Niederlage gegen die Japaner, es war die erste einer europäischen Macht gegen eine asiatische seit dem Mittelalter, erregend der „Blutsonntag“ vom Januar 1905, an dem der Zar in eine friedliche Demonstra- tion schießen ließ. Der erste, bald niedergeschlagene Aufstand begann. Hoch aktuell wirkt es, wenn Figes das Scheitern notwendiger Reformen als das immer wiederkehrende Thema in der Geschichte des alten Russ- lands beschreibt. Und die Demonstranten bezeichnete man bereits 1905 als „ausländische Agenten“. Lenin entwickelte die „bolschewistische Haupt- idee (eine Ketzerei für orthodoxe Marxisten)“, dass eine „Avantgarde“ der Arbeiterklasse die Macht ergreifen könne, ohne dass das Land zuvor eine „bourgeoise demokratische“ Revolution durchlaufen habe. Dass diese Idee in der heraufziehenden gesellschaftlichen Krise Massen ergriff, liegt laut Figes darin begründet, wie reformresistent Russland den Ersten Weltkrieg führte – nämlich wie einen Feldzug des 19. Jahrhunderts. So verschwendete man unzählige Menschenleben für eine veraltete Kavallerie. Mit Geschick, Entschlossenheit und Brutalität errangen die Bolschewiki – nach dem Intermezzo der Februarrevolution – im Oktober 1917 die Macht und wähnten sich dabei als Vorboten westeuropäischer Um- und Aufbrüche. Das Phantasma der Weltrevolution spukte bereits herum. So entstand, was weder Marx noch Engels vorhersehen konnten: „In Sowjetrussland gab es doppelt so viele Funktionäre wie Arbeiter, und sie bildeten die maßgebliche soziale Basis des neuen Regimes. Dies war keine Diktatur des Proletariats, sondern eine Diktatur der Bürokratie.“ Wie konnten die Bolschewiki den- noch im Bürgerkrieg siegen und immerhin einen Vielvölkerstaat errichten, der schließlich zur Weltmacht wurde und als Phantasma noch immer wirkt? Die von internationalen Armeen unterstützten Weißen verloren vor allem deshalb, weil sie die Bauernrevolution nicht akzeptierten und als Rache- truppen der Grundbesitzer angesehen wurden. Das Zarentum war jedoch so abgewirtschaftet, dass selbst viele Konterrevolutionäre sich nicht offen dazu bekennen konnten. Trotzki formulierte es für Figes treffend, wenn auch in „seiner üblichen Schroffheit“: „Das Land hatte die Monarchie so radikal erbrochen, dass sie dem Volk nicht mehr durch die Kehle gehen wollte.“ Dass die Traditionen der Leibeigenschaft und Unterwürfigkeit gleichzeitig noch immer zu stark waren, dass gesellschaftlich gesehen zu wenige selbst- bewusste Menschen agierten, nennt Orlando Figes die „Tragödie des ganzen russischen Volkes“. Sie scheint noch immer nicht zu Ende zu sein. Wäre, wenn Lenin nicht bereits 1924 mit 54 Jahren verstorben wäre, die Russische Revolution anders verlaufen? Orlando Figes spart nicht mit Kritik an Lenin, dem „Diktator“, glaubt andererseits aber, dieser „hätte niemals zugelassen, dass sich die Kollektivierung der Landwirtschaft so brutal voll- zog, wie es unter Stalin der Fall war“. Immerhin erwirtschafteten die Bauern in der Blütezeit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) höhere Erträge als vor dem Ersten Weltkrieg. Doch mit Lenins Tod und dem Machtantritt Stalins begann die zweite Phase der Revolution. Durch die Kollektivierung starben Millionen von Bauern, ohne die der Bürgerkrieg für die Bolschewiki zuvor nicht zu gewinnen gewesen wäre. Das ruinierte die Landwirtschaft – bis

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 122 18.02.15 10:09 Buch des Monats 123

heute. Da dieser Massenmord, dieser Krieg gegen Bauern und Nomaden in einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion – vor allem in der Ukraine, aber auch in Kasachstan – zum Gründungsmythos wurde, zeigt er bis heute politi- sche Wirkung. Als Holodomor wird dieses Verbrechen sprachlich in die Nähe zum Holocaust gerückt (obwohl ein Völkermord an den Ukrainern nicht geplant war). Orlando Figes spricht dagegen von einem „sozialen Holocaust“. Dabei ist schon die Verwendung für die Ermordung der europäischen Juden problematisch, worauf so profunde Kenner wie Gitta Sereny hingewiesen haben. „Holocaust“, aus dem Griechischen stammend, bezeichnete nämlich ursprünglich ein vollständig auf Altären verbranntes Tieropfer. Erst seit 1600 wird das englische Wort Holocaust auch für Feuertode verwandt, seit etwa 1800 auch für Massaker und seit 1895 auch für ethnische Massaker (etwa für den Völkermord an den Armeniern vor exakt hundert Jahren). Einen guten Überblick gibt Figes beim Großen Terror, der wiederum Mil- lionen das Leben kostete, manchmal nach jahrelanger Gulag-Haft, und der die Gemeinschaften in Familie, im Beruf und in der Nachbarschaft zersetzte. Lebensgefährlich waren Witze, die dennoch den neuen Umbruch zeigten: Ein Bolschewik erklärt einer alten Frau den Kommunismus. „Es wird alles im Überfluss geben. Lebensmittel, Kleidung, alle möglichen Waren. Man wird ins Ausland reisen können.“ – „Oh“, erwiderte sie, „wie unter dem Zaren!“ Tatsächlich agierte Stalin in gewisser Weise wie ein rotlackierter Zar. Und wie nach dem Tod eines Zaren üblich, gab es auch nach dem Tode Stalins 1953 eine große Amnestie der Verbannten. Die Heimkehrenden lösten starke Gefühle aus: Keiner der Denunzianten und Gehilfen hatte erwartet, seine Opfer je wiederzusehen. Chruschtschows „Geheimrede“ von 1956, die bald bekannt wurde, läutet für Figes die dritte und letzte Phase der Revolution ein, den bleiernen Abstieg bis zur Implosion. War dieser Abstieg alternativlos? Aufschlussreich argumentiert Figes, dass die Chinesen in den 1970er Jah- ren die Landwirtschaft entkollektivierten und ein NÖP-ähnliches Genossen- schaftswesen als Grundlage ihres Wiederaufstiegs errichteten; in der Sow- jetunion unterblieb das, und als ein Jahrzehnt später – 1985 – Gorbatschow an die Macht kam, erschien er vielen Linken ebenso als Hoffnungsträger für einen demokratischen Sozialismus, wie er heute von Enttäuschten als Ver- räter gebrandmarkt wird. Ideell wie wirtschaftlich war die Sowjetunion aber schon damals am Ende. Orlando Figes ist überzeugt, dass es „viele Jahr- zehnte dauern (wird), bis die Russen von den sozialen Traumata und Patho- logien des kommunistischen Regimes geheilt sind“. So erschien vielen die neue, chaotische Zeit der 1990er Jahre wie bei Friedrich Schiller als „die kai- serlose, die schreckliche Zeit“ – bis Wladimir Putin 1999 die Macht ergriff. Ein Jahr später sprach der Moskauer Patriarch die Zarenfamilie heilig. Putin beruft sich auf diese Tradition. Damit ist Russland wie im 19. Jahrhundert die autoritäre, aber unterentwickelte Variante einer neuen Phase des kapita- listischen Weltsystems geworden. Eine hoffnungsvolle Idee des Zusammen- lebens, die Freiheit und Gleichheit vereint, wird dagegen wieder dringender gesucht denn je – das sowjetische Beispiel lehrt uns, wie ein solcher Versuch scheitern kann, aber nicht unbedingt scheitern muss.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 123 18.02.15 10:09 DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »In Deutschland besitzt das reichste Prozent ein Drittel des Privatvermögens« Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), 11.2.2015

• »Die USA und die EU haben die Eskalation der Ukrainekrise befördert« Rede des russischen Außenministers Sergej Lawrow auf der 51. Münchner Sicherheits- konferenz, 7.2.2015 (engl. Originalfassung)

• »Wir wollen Sicherheit in Europa gemeinsam mit Russland gestalten« Rede von Kanzlerin Angela Merkel auf der 51. Münchner Sicherheitskonferenz, 7.2.2015

• »Die neue Regierung braucht finanzpolitischen Spielraum« Aufruf internationaler Ökonomen zur Unterstützung von Griechenlands neuer Regie- rung, 5.2.2015

• »Individuelle Forderungen können nach wie vor geltend gemacht werden« Offener Brief des Rechtsanwalts Joachim Lau an Bundespräsident Joachim Gauck be- züglich offener Entschädigungsforderungen aus dem Zweiten Weltkrieg, 4.2.2015

• »Der politische Erdrutsch in Griechenland ist eine Chance« Erklärung der Initiative »Europa neu begründen« zum Wahlausgang in Griechenland, 2.2.2015

• »Menschenrechte sind kein Luxusgut für bessere Zeiten« World Report 2015 von , 29.1.2015 (engl. Originalfassung)

• »Es geht im Kern um einen kaum verhüllten Rassismus« Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung zu den Dresdner Pegida-Demonstrationen, 28.1.2015

• »Depressionen könnten 2030 zur häufigsten Krankheit werden« Depressionsatlas der Techniker Krankenkasse, 28.1.2015

• »Eine Kriminalisierung der Prostitution wäre kontraproduktiv« Offener Brief verschiedener Verbände zur Reform des Prostituiertenschutzgesetzes, 27.1.2015

• »Aus dem Erinnern ergibt sich ein Auftrag« Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, 27.1.2015

• »Immer mehr gewalttätige Angriffe auf Flüchtlinge in Deutschland« Chronik rechter Gewalt gegen Flüchtlinge im Jahr 2014 von der Amadeu-Antonio-Stif- tung und Pro Asyl, 26.1.2015

• »TTIP und CETA sind verfassungswidrig« Expertise des ehemaligen Verfassungsrichters Siegfried Broß zu den in den Freihan- delsabkommen der EU geplanten Schiedsgerichten, 19.1.2014

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 124 18.02.15 10:09 Chronik des Monats Januar 2015

1.1. – EU. Lettland übernimmt erstmals den dokumente zu 16 Konventionen, darunter halbjährlich rotierenden Ratsvorsitz, Litau- dem Römischen Statut des Internationalen en übernimmt den Euro. Damit gehören 19 Strafgerichtshofs (IStGH). – Am 4.1. bekräf- der 28 EU-Staaten der Währungsunion an. tigt Ministerpräsident Netanjahu, Israel wer- In Brüssel erklärt Regierungschefin Laim- de nicht zulassen, dass seine Soldaten vor dota Straumjuna, Lettland wolle die geo- das Haager Gericht gezerrt würden. graphische und historische Nähe zu Russ- 5.1. – Ukraine. Bei der Übergabe weiterer land nutzen, um einen Ausgleich zu finden. Kampfjets, Haubitzen und Panzer an die Man werde weder eine prorussische noch Streitkräfte bezeichnet Präsident Poroschen- eine antirussische Politik verfolgen. – Am ko 2015 als „das Jahr unseres Sieges“. Die 13.1. legt Kommissionspräsident Juncker Ukraine brauche „eine starke patriotische den Entwurf einer Verordnung über den und gut ausgerüstete Armee“. – Am 13.1. geplanten Europäischen Fonds für strate- erreichen die Kämpfe im Donbass-Gebiet gische Investitionen (EFSI) vor. Der Fonds trotz des geltenden Waffenstillstands einen soll innerhalb der Europäischen Investi- neuen Höhepunkt. Auf der Fahrt von der tionsbank (EIB) arbeiten und mit Kapital Hafenstadt Mariupol nach Donezk wird ein und Garantien im Umfang von 21 Mrd. Euro Passagierbus von einer Granate zerfetzt. Elf ausgestattet werden. Investitionen sind vor Personen werden getötet und 18 verletzt. Auf allem in die Infrastruktur geplant. Juncker einer Trauerkundgebung erklärt Poroschen- fordert die Mitgliedstaaten zur Beteiligung ko am 18.1. auf dem Maidan in Kiew, man auf. – Am 19.1. berichtet die EU-Außenbe- werde kein Stück des Landes aufgeben, son- auftragte Mogherini nach einer Zusammen- dern den Donbass wieder zurückerobern. kunft der Außenminister in Brüssel über die Die Organisation für Sicherheit und Zusam- Entscheidung, die EU-Delegationen vor Ort menarbeit in Europa/OSZE konstatiert eine durch Militärattachés zu verstärken. Die „deutliche Verschlechterung“ der Lage und Mitgliedstaaten müssten nicht nur unterei- ruft alle Konfliktparteien zu äußerster Zu- nander Geheimdienstinformationen austau- rückhaltung auf. – Am 21.1. verhandeln in schen, sondern auch einen Austausch mit Berlin die Außenminister der Ukraine, Russ- der Türkei, Ägypten sowie den Staaten der lands, Frankreichs und Deutschlands erneut Golfregion und des Maghreb anstreben. über die Voraussetzungen für Einhaltung – Eurasische Union. Der Vertrag und Umsetzung des Minsker Abkommens zwischen Russland, Weißrussland und Ka- vom September v.J. (vgl. „Blätter“, 11/2014, sachstan (vgl. „Blätter“, 7/2014, S. 127) tritt S. 125 f.). – Am 24.1. beginnen die Separatis- in Kraft. Damit entsteht ein Wirtschaftsraum ten mit einer neuen Offensive, um das von mit 170 Millionen Einwohnern. ihnen kontrollierte Gebiet weiter auszudeh- – Korea. Der Staats- und Parteichef nen. Unmittelbares Ziel ist die Stadt Mariu- der Demokratischen Volksrepublik Korea pol am Asowschen Meer, die über einen der (Nordkorea) Kim Jong-un regt „Gespräche wichtigsten Häfen verfügt. – Am 27.1. stuft auf höchster Ebene“ mit der Republik Korea das Parlament (Rada) Russland als „Aggres- (Südkorea) an. Die „tragische“ Teilung Ko- sorstaat“ ein, die „Volksrepubliken“ Donezk reas dürfe nicht hingenommen werden. Die und Lugansk seien Terrororganisationen. südkoreanische Präsidentin Park Geun-hye 6.1. – USA. In Washington konstituiert sich hatte Ende Dezember v.J. ebenfalls Gesprä- der 114. Kongress, in beiden Kammern ver- che über die Wiedervereinigung der beiden fügen die Republikaner über die Mehrheit. Staaten vorgeschlagen. Zusammensetzung des Senats (100 Sitze): 2.1. – Naher Osten. Nach Ablehnung ihres 54 Republikaner, 46 Demokraten; Repräsen- Resolutionsentwurfs im UN-Sicherheitsrat tantenhaus (435 Sitze): 247 Republikaner, (vgl. „Blätter“, 2/2015, S. 127) hinterlegt die 188 Demokraten. Palästinensische Autonomiebehörde bei den – Türkei. Staatspräsident Erdogan (zur Vereinten Nationen in New York die Beitritts- Wahl vgl. „Blätter“, 10/2014, S. 126) kriti-

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 125 18.02.15 10:09 126 Chronik

siert die zunehmende Fremden- und Islam- keinesfalls die geringste Entschuldigung für feindlichkeit in Europa. Rassistische und die Anschläge der letzten Wochen suchen, diskriminierende Vorfälle könnten „nicht doch dürfe man die Augen nicht vor der Rea- länger versteckt werden“. Erdogan wirft der lität verschließen. Europäischen Union vor, den Beitrittskandi- 14.1. – Nato. Der neue Generalsekretär daten Türkei hinzuhalten. – Am 19.1. leitet Stoltenberg (vgl. „Blätter“, 12/2014, S. 110) Erdogan erstmals eine Kabinettsitzung, an lobt bei seinem Antrittsbesuch in Berlin die der Ministerpräsident Davutoglu und die 25 Rolle Deutschlands in der Allianz. Nach Minister teilnehmen. Die Opposition spricht einem Meinungsaustausch mit Bundeskanz- von einem weiteren Schritt in Richtung lerin Merkel heißt es, beide seien sich darin eines Präsidialsystems. einig, dass Entschlossenheit und Dialog im 7.-8.1. – BRD/Ukraine. Regierungschef Ja- Konflikt mit Russland einander nicht aus- zenjuk erhält bei einem Besuch in Berlin die schließen. Man suche nicht die Konfronta- Zusage über deutsche Kreditgarantien in Hö- tion, aber Moskau müsse die fundamentalen he von 500 Mio. Euro für den Wiederaufbau Prinzipien des Zusammenlebens in Europa in der Ostukraine. Bundeskanzlerin Mer- und seine Nachbarn und deren Grenzen res- kel verspricht weitere Hilfen, um die Ukra- pektieren. – Am 22.1. informiert Nato-Ober- ine auf ihrem Weg zu unterstützen. befehlshaber US-General Bredlove die Pres- 11.1. – Frankreich. Zur Verteidigung der se über eine Sitzung der Generalstabschefs Meinungsfreiheit und zum Gedenken an die in Brüssel. Die Allianz sei besorgt über die 16 Opfer der Terroranschläge vom 7.1. und Verschlechterung der Lage im Osten der Uk- 9.1 auf die Redaktion des Satire-Magazins raine. Die Kämpfe seien so intensiv wie vor „Charlie Hebdo“ sowie auf einen jüdischen dem Minsker Abkommen, „zum Teil inten- Supermarkt demonstrieren in Paris fast zwei siver“ (vgl. „Blätter“, 11/2014, S. 125 f.). Auf Millionen Menschen. Nach Ansicht von Be- eine Frage über die Anwesenheit von 9000 obachtern handelt es sich bei der Demons- russischen Soldaten im Kampfgebiet ant- tration, an der auch zahlreiche Regierungs- wortet Breedlove: „Ich kann die Zahlen von vertreter aus dem Ausland teilnehmen, um Präsident Poroschenko nicht bestätigen“. die größte Manifestation seit Ende des Zwei- 16.1. – IStGH/ICC. Die Chefanklägerin des ten Weltkriegs. Viele Demonstranten tragen Internationalen Strafgerichtshofs Bensouda Transparente oder Anstecker mit der Auf- teilt in Den Haag mit, das Gericht werde Vor- schrift „“ (Ich bin Charlie). ermittlungen wegen möglicher Kriegsver- Beim Sturm auf die Redaktion von „Charlie brechen in den palästinensischen Autono- Hebdo“ richteten die Angreifer ein Blutbad miegebieten aufnehmen. Zunächst würden an und skandierten „Allah ist groß“ und die vorliegenden Informationen sowie die „Wir haben den Propheten gerächt“. Unter juristischen Zuständigkeiten geprüft (vgl. den Todesopfern sind die fünf führenden dazu „Blätter“, 2/2015, S. 126). Karikaturisten des Blattes. Die flüchtigen 20.1. – Iran/Russland. Die Verteidigungs- schwerbewaffneten Attentäter werden spä- minister Hossein Dehqan und Sergej Schoigu ter bei einem Schusswechsel mit der Polizei unterzeichnen in Teheran ein Abkommen erschossen. Die Redaktion hatte wegen ihrer über militärische Zusammenarbeit, u.a. bei islamkritischen Haltung und wegen der Ver- der Terrorismusbekämpfung. Gemeinsam öffentlichung von Mohammed-Karikaturen wolle man gegen äußere Interventionen in schon in den vergangenen Jahren mehrfach der Region vorgehen. Drohungen mit islamistischem Hintergrund 22.1. – Bundesregierung. Vor dem Welt- erhalten und im November 2011 einen wirtschaftsforum in Davos (Schweiz) äußert Brandanschlag überstanden. Die Regierung sich Bundeskanzlerin Merkel zu Anregun- kündigt einen verstärkten Kampf gegen den gen von Präsident Putin, Gespräche über Terrorismus an. Die Geheimdienste sollen Kooperationen in einem gemeinsamen zusätzliche Kompetenzen und Mittel für die Handelsraum „zwischen Lissabon und Wla- Überwachung verdächtiger Personen erhal- diwostok“ zu führen. Voraussetzung für Ver- ten. Premierminister Valls beklagt am 20.1. einbarungen zwischen der Europäischen auf einem Neujahrsempfang für die Medien Union und der Eurasischen Union sei eine die in Frankreich herrschende „territoriale, umfassende Friedenslösung in der Ukraine. soziale und ethnische Apartheid“. Er wolle Auch Vizekanzler Gabriel setzt sich in Da-

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 126 18.02.15 10:09 Chronik 127

vos für „eine Diskussion über eine Freihan- der Ukraine war den 18 Abgeordneten das delszone“ ein: „Wir sollten Russland einen Stimmrecht entzogen worden. Ausweg anbieten.“ 27.1. – Bundestag. Bundespräsident Gauck – EZB. Der Rat der Europäischen Zen- erklärt auf einer Gedenksitzung aus Anlass tralbank verabschiedet mit großer Mehrheit des 70. Jahrestages der Befreiung des Kon- ein Programm, das der Bank den Ankauf zentrationslagers Auschwitz am 27. Januar von Staatsanleihen der Eurozone erlaubt. 1945, nie zuvor habe „ein Staat ganze Men- Ab März d.J. sollen monatlich Aktiva im schengruppen so systematisch stigmatisiert, Wert von 60 Mrd. Euro erworben werden. separiert und vernichtet“. Auschwitz sei – Anti-IS-Koalition. Außenminister das Symbol für den Holocaust: „Es gibt kei- aus 21 Ländern beraten in London über das ne deutsche Identität ohne Auschwitz“. Die weitere Vorgehen gegen die Terrormiliz Is- Erinnerung bleibe „eine Sache aller Bürger, lamischer Staat. US-Außenminister Kerry die in Deutschland leben“. Vor den Sowjet- und sein britischer Kollege Hammond äu- soldaten, „die allein bei der Befreiung von ßern sich gedämpft optimistisch. Im vierten Auschwitz 231 Kameraden verloren, ver- Monat der Militäroffensive sei es gelungen, neigen wir uns auch heute in Respekt und den Vormarsch der Dschihadisten im Irak zu Dankbarkeit“. stoppen und den Zugang zu Ressourcen zu – Italien. Der Senat verabschiedet mit beschneiden. Es müsse jedoch noch mehr 184 gegen 66 Stimmen ein neues Wahlge- getan werden. setz, das die Partei mit den meisten Sitzen 25.1. – Griechenland. Bei den vorgezogen- künftig bevorzugt, um klare Mehrheiten zu en Parlamentswahlen (vgl. „Blätter“, 2/2015, ermöglichen. Die Annahme des Gesetzes S. 127) wird das Bündnis der Radikalen Lin- wird durch die Zustimmung der Forza Italia ken (Syriza) mit ihrem Vorsitzenden Alexis von Berlusconi ermöglicht. – Am 31.1. wird Tsipras stärkste Partei, verfehlt jedoch mit 149 der Verfassungsrichter Sergio Mattarella von 300 Sitzen knapp die absolute Mehrheit. neuer Staatspräsident und löst den am 14.1. Die Nea Dimokratia, die mit Antonis Sama- nach langer Amtszeit zurückgetretenen ras bisher den Regierungschef stellt, muss Giorgio Napoletano ab. Mattarella erhält im in die Opposition. Tsipras erhält vom noch vierten Wahlgang 665 von 1009 Stimmen amtierenden Präsidenten Karolos Papoulias des zuständigen Gremiums, das aus Par- den Regierungsauftrag, verabredet mit dem lamentariern und Vertretern der Regionen Vorsitzenden der Unabhängigen Griechen besteht. In den ersten drei Wahlgängen war (ANEL) Panos Kammenos eine Koalition und eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. wird unmittelbar danach vereidigt. Die Partei 30.1. – AU. Der Gipfel der Afrikanischen ANEL, die als rechts-populistisch gilt, ver- Union in Addis Abeba (Äthiopien) einigt fügt im Parlament über 13 Mandate. Tsipras sich auf die Bildung einer Eingreiftruppe bildet ein Kabinett, dem Kammenos als Ver- im Rahmen einer „Multinational Joint Task teidigungsminister angehört. Zu den ersten Force“ (MNJTF). Die Truppe mit einer Stär- führenden Politikern aus der Europäischen ke von bis zu 7500 Mann soll die Rebellenar- Union, die nach der Wahl Athen besuchen, mee „Boko Haram“ bekämpfen, die in wei- gehören Parlamentspräsident Martin Schulz ten Teilen des Nordostens von Nigeria und und der Vorsitzende der Euro-Gruppe, der auch im benachbarten Kamerun ein Gewalt- niederländische Finanzminister Jeroen regime ausübt und in den von ihr besetzten Dijsselbloem. Der neue griechische Finanz- Gebieten einen „Gottesstaat“ errichten will. minister Janis Varoufakis wiederholt vor der 31.1. – Spanien. Das im Vorjahr gegründe- Presse in Anwesenheit von Dijsselbloem die te linke Bündnis „Podemos“ ruft zu einem Forderung aus dem Wahlkampf nach Rück- „Marsch des Wandels“ auf, an dem sich in nahme der rigorosen Sparvorgaben und Madrid nach Schätzungen zwischen 100 000 lehnt die Kooperation mit der Troika von IWF, und 300 000 Menschen beteiligen. Die Par- EU-Kommission und EZB nachdrücklich ab. tei strebt nach den Parlamentswahlen im 26.1. – Europarat. Die Parlamentarische September d.J. ein Ende der „alten Politik“ Versammlung in Straßburg stimmt mit gro- und den Beginn einer „neuen Ära“ an. Der ßer Mehrheit für die Fortsetzung der im Ap- Parteigründer Pablo Iglesias verurteilt auf ril v.J. gegen die russische Delegation ver- der Abschlusskundgebung den herrschen- hängten Sanktionen. Nach der Annexion den „Totalitarismus der Austerität.

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 127 18.02.15 10:09 Zurückgeblättert... Vor 30 Jahren hielt der soeben im Alter von 94 Jahren verstorbene Alt- Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine bedeutendste Rede, in der er den 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung« definierte. Die Debatte wurde jedoch bereits zuvor geführt, u.a. in den »Blättern« – mit 21 pointierten Stellungnahmen unter der Überschrift: Der 8. Mai: Historische Katastrophe oder Befreiung? (»Blätter«, 3/1985, S. 307-340).

Die Texte finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

Die Blätter für deutsche und internationale Politik erscheinen als Monatszeitschrift.

Verlag: Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, Torstraße 178, 10115 Berlin; Postfach 540246, 10042 Berlin Amtsgericht Berlin Charlottenburg HRB 105991 B Finanzamt für Körperschaften II, Berlin St.-Nr. 37/239/21010 Gesellschafter: Daniel Leisegang, Albrecht von Lucke, Annett Mängel, Dr. Albert Scharenberg Geschäftsführerin: Annett Mängel, Telefon 030/30 88 - 36 43, Fax 030/30 88 - 36 45 Bankverbindung: Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Kto. 147 993-502 IBAN: DE54 3701 0050 0147 9935 02, BIC: PBNKDEFF Vertrieb: Berit Lange-Miemiec, Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 54 02 46, 10042 Berlin

Telefon 030/30 88 36 44, Fax - 36 45 (wochentags außer Mittwoch von 10:30 bis 17 Uhr) E-Mail: [email protected], Internet: www.blaetter.de Redaktion: Anne Britt Arps, Daniel Leisegang, Albrecht von Lucke, Annett Mängel Anschrift: Torstraße 178, 10 115 Berlin; Postfach 54 02 46, 10 042 Berlin Telefon 030/30 88 - 36 40 (Zentrale), - 36 41 (Arps), - 36 42 (v. Lucke), - 36 43 (Mängel), - 36 46 (Leisegang) Fax 030/30 88 - 36 45, E-Mail: [email protected] Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung des Verfassers wieder und stellen nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion dar. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Bücher etc. keine Gewähr. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Auflage: 10 000 Anzeigen: Telefon 030/30 88 - 36 46. Es gilt Anzeigenpreisliste Nr. 25. Druck: LOCHER Print + Medien GmbH, Lohmar

An dieser Ausgabe wirkten als Praktikanten Kai Schlüter und Tom Vörkel mit.

Blätter-Gesellschaft: Die gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V., vormals abgekürzt „Blätter-Förderverein“, gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die Blätter für deutsche und internationale Politik heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Christoph Wagner vor. Die „Blätter“ erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 54 02 46, 10042 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 10 Euro, im Abonnement jährlich 84,60 Euro (ermäßigt 67,20 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint jeweils im Dezemberheft. Heft 4/2015 wird am 27.3.2015 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015

Blätter201503.indb 128 18.02.15 10:09 Autorinnen und Autoren dieses Heftes

Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Eric Bonse, geb. 1960 in Düsseldorf, Oliver Nachtwey, geb. 1975 in Unna, Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Politikwissenschaftler und Journalist Dr. phil., Politikwissenschaftler und Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power in Brüssel, u.a. für die „tageszeitung“, Soziologe, wiss. Mitarbeiter am Ins- Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl bloggt unter www.lostineu.eu. titut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt. Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß Lothar Brock, geb. 1939 in Lauen- Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester burg/Pommern, Professor em. für Poli- Loretta Napoleoni, geb. 1955 in Rom, Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor tikwissenschaften an der Universität Ökonomin und Journalistin. Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan Frankfurt a. M., Gastprofessor an der Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann Hessischen Stiftung Friedens- und Antje Schrupp, geb 1964 in Weilburg, Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma Konfliktforschung (HSFK). Dr. phil., Politikwissenschaftlerin, Pu- Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich blizistin und Journalistin, bloggt unter Walter Kreck Helmut Ridder Wolfgang Ehmke, geb. 1947 in Gartow, www.antjeschrupp.com. Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling Oberstudienrat, Publizist und lang- Paul Krugman Romani Rose jähriger Sprecher der Bürgerinitiative Joseph E. Stiglitz, geb. 1943 in India- In den „Blättern“ Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. na/USA, Professor für Wirtschafts- Adam Krzeminski Rossana Rossandra wissenschaften an der Columbia Uni- schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer Achim Engelberg, geb. 1965 in Berlin, versity in New York City, Wirtschafts- Jürgen Kuczynski Irene Runge Dr. phil., Historiker, Journalist und nobelpreisträger des Jahres 2001. Charles A. Kupchan Bertrand Russell Buchautor. Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto Wolfgang Streeck, geb. 1946 in Len- Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen Heiko Flottau, geb. 1939 in Wernige- gerich, Prof. Dr. Dr. h.c., Soziologe und Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf rode, Politikwissenschaftler, langjäh- Direktor em. am Max-Planck-Institut Ulrich Beck Sven Giegold Gideon Levy Hermann Scheer riger Nahost-Korrespondent der „Süd- für Gesellschaftsforschung in Köln. Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl deutschen Zeitung“, lebt in Berlin. Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Axel Troost, geb. 1954 in Hagen, Dr. Patrick Hönig, geb. 1966 in Köln, Dr. rer. pol., Volkswirt, MdB (Die Linke), Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer iur., Rechtsanwalt in Köln. Mitglied der Arbeitsgruppe Alterna- Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann tive Wirtschaftspolitik und Sprecher Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan Werner Koep-Kerstin, geb. 1944 in des Instituts Solidarische Moderne. E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Waldbröl, Politikwissenschaftler und Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett Historiker, ehem. Referatsleiter im Maja Volland, geb. 1982 in Bagdad, Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva Bundespresseamt, jetzt Bundesvorsit- Politikwissenschaftlerin, wiss. Mit- Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel zender der Humanistischen Union. arbeiterin beim Bund für Umwelt und Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer Naturschutz Deutschland e.V. Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka Martin Kutscha, geb. 1948 in Bremen, Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern Dr. iur, Professor em. für Staatsrecht Thomas Wagner, geb. 1967 in Rhein- in Berlin, Vorstandsmitglied der deut- berg, Dr. phil., Soziologe, Literatur- Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz schen Sektion der IALANA sowie der redakteur der „Jungen Welt“. Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby Humanistischen Union. Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd Marianne Zepp, geb. in Rockenhau- Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- sen, Dr. phil., Historikerin, Programm- Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin gelheim am Rhein, Jurist und Politik- direktorin für deutsch-israelischen György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Dialog im Israelbüro der Heinrich- Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal Böll-Stiftung in Tel Aviv. Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein Hans Misselwitz, geb. 1950 in Alten- Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter burg, Dr. rer. nat., Biologe, Bürgerrecht- Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler ler, ab März 1990 parlamentarischer Staatssekretär im DDR-Außenministe- Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker rium, bis März 2015 im Referat Grund- Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer satzfragen beim SPD-Parteivorstand. Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will Nina Müller, geb. 1985 in Koblenz, Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf Ethnologin, wiss. Mitarbeiterin und Erhard Eppler Lamya Kaddor Claus Offe Jean Ziegler Stipendiatin an der Hessischen Stif- Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann tung Friedens- und Konfliktforschung Iring Fetscher Petra Kelly Valentino Parlato Moshe Zuckermann (HSFK). Joschka Fischer Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere. Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage des Bund Verlags. Wir bitten um freund- liche Beachtung.

201503_Umschlag_innen.indd 116 17.02.15 12:21 201503_Umschlag_außen.indd 5 Chantal Mouffe Linke echte die und Politik Radikale Barlow Maude Wüste als Welt Die Thomas Piketty im 21. Jahrhundert? Das Ende des Kapitalismus 12’14 Muraca Barbara als konkrete Utopie Degrowth Cockburn Andrew West gegen Ost on: Game Johano Strasser uns unter sind Die Barbaren 2’15

Hans-Jürgen Urban Der Rentner als Retter? Alter: im Flexibel Jaron Lanier Entrechtung die digitale Wider Michael Brie des Parteikommunismus Die Tragödie 11’14 Amirpur Katajun Islam gleich Gewalt? Burckhardt Gisela &Co. Boss Primark, Ohne Skrupel: Sven Beckert der Baumwolle Imperium Das 1’15

Blätter 3’15 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € des Kapitalismus des Wolfgang Streeck nonkonformen Antje Schrupp Antje Feminismus Das Ende Ende Das Für einen internationale deutsche und Blätter für Politik Hans Misselwitz Hans Friedenauf inEuropa 1990: Chance Die vertane Wagner Thomas VormarschDer Robokraten der Oliver Nachtwey Pegida Syndrom autoritäre das oder Bonse Eric deutsch tickt Europa Brock Lothar Die Beharrlichkeit desKrieges Napoleoni Loretta islamistischeDer Phönix 3’15 17.02.15 12:20